Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag am 11. Juli 1992 [Reprint 2015 ed.] 9783110894868, 9783110128895


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German Pages 910 [916] Year 1992

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Table of contents :
Gegen Unrecht und Unvernunft - Günter Spendei zum 70. Geburtstag
Kohlhaas transcendentalis (Versuch einer rechtsphilosophischen Rekonstruktion)
Unser indeterministisches Strafrecht
Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht?
Gibt es eine national unabhängige Strafrechtswissenschaft?
Gibt es Rechte der Natur?
Naturrechtliche Grenzen strafwürdigen Verhaltens
Law and Literature als Herausforderung von Law and Economics
Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten
Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie“
Autobiographie oder Schattenbild? Zur „Selbstbeschreibung“ P.J. A. Feuerbachs
Nachlese zu einem Würzburger Strafverfahren der NS-Zeit
Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht
Gedanken zur actio libera in causa: Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat“ (§§ 16,20,34 StGB)?
Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf“?
§ 40 Abs. 2 und 3 StGB - in Steuerstrafverfahren bedeutungslos?
Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich
Rose — Rosahl redivivus
Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille
Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts
Zur Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte
Bewußte Beteiligung, ungewollte Folgen
Einwände gegen die Lehre von der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Betäubungsmittelstrafrecht
Die Strafrahmenmilderung beim Versuch
Strafzumessung und Folgenorientierung
Zur Bedeutung von Modellen in der Dogmatik des Strafzumessungs- rechts („Punktstrafe“, „Spielraumtheorie“, „Normalfall“)
Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgründe
Der Richter und das übergesetzliche Recht
Gustav Radbruchs Vorstellungen zum Schwangerschaftsabbruch: Ein noch heute „moderner“ Beitrag zur aktuellen Reformdiskussion
Verfolgung Unschuldiger (§ 344 StGB)
Mitleid von (und mit) „Todesengeln“. Zur Strafbarkeit der eigenmächtigen Euthanasie
Über die Rechtsfolgenlösung des Bundesgerichtshofes beim Heimtückemord
Gedanken zur Nötigung und Erpressung durch Rufgefährdung (Chantage)
Zum Gefährdungsmerkmal „(fremde) Sachen von bedeutendem Wert“ im Umwelt- und Verkehrsstrafrecht
Nehmen oder Geben, ist das hier die Frage?
Alkohol und Fahrsicherheit. Bemerkungen zur Geschichte und Begutachtung
Zur Geschichte eines Straftatbestandes des ungenehmigten Rüstungsexportes
Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Neuregelung des Abtreibungsrechts im geeinten Deutschland
Unrecht durch DDR-Rechtsprechung
Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht
Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme des Carl von Ossietzky-Prozesses nach 60 Jahren
Prozessuale Wahrheit und Revision
Bemerkungen zu den Beweisverboten im Strafprozeß
Zur Relativierung der gerichtlichen Aufklärungspflicht durch Verständigung im Strafverfahren
Zivilrechtliche Beweisinteressen im Strafprozeß
Zur sogenannten Staatsanwaltsdiversion im Jugendgerichtsverfahren
Aufgabenwandel der Jugendgerichtshilfe als Folge kriminologischer Erkenntnisse über abweichendes Verhalten Jugendlicher
Schuld und Prävention im österreichischen Jugendstrafrecht
Das Schweizerische Bundesgericht im Vergleich zum Deutschen Bundesgerichtshof
Der Allgemeine Teil des Entwurfs eines polnischen Strafgesetzbuchs von 1990 in rechtsvergleichender Sicht
Der rechtshilferechtliche Grundsatz der Spezialität
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN VON GÜNTER SPENDEL
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Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag am 11. Juli 1992 [Reprint 2015 ed.]
 9783110894868, 9783110128895

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Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag

Festschrift für GÜNTER SPENDEL zum 70. Geburtstag am 11. Juli 1992

Herausgegeben von

Manfred Seebode

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1992 Walter de Gruyter · Berlin · New York

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erfüllt.

CIP-Einheitsaufnahme

Festschrift für Günter Spendel zum 70. Geburtstag am 11. Juli 1992 / hrsg. von Manfred Seebode. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1992 ISBN 3-11-012 889-6 N E : Seebode, Manfred [Hrsg.]; Spendel, Günter: Festschrift

© Copyright 1992 by Walter de Gruyter & Co., D-1000 Berlin 30. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Ubersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz und Druck: Saladruck, D-1000 Berlin 36. Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer GmbH, D-1000 Berlin 61.

GÜNTER SPENDEL zum 11. Juli 1992

G Ü N T E R BEMMANN

KLAUS LAUBENTHAL

ALEXANDER B Ö H M

KLAUS LÜDERSSEN

JOACHIM BOHNERT

HEINZ

EDUARD DREHER

U L F R I D NEUMANN

UDO

EBERT

HARRO

MÜLLER-DIETZ OTTO

ALBIN ESER

R A I N E R PAULUS

WOLFGANG FRISCH

INGEBORG PUPPE

FRIEDRICH GEERDS

O T F R I E D RANFT

GERD

RUDOLF RENGIER

GEILEN

KLAUS GEPPERT HANS-LUDWIG

CLAUS ROXIN

GÜNTHER

ROBERT HAUSER

ELLEN SCHLÜCHTER R U D O L F SCHMITT

R O L F DIETRICH HERZBERG

HANS SCHULTZ

MICHAEL HETTINGER

JOHANNES SCHÜTZ

R E I N H A R D VON H I P P E L

W O L F G A N G SCHWERD

HANS JOACHIM HIRSCH

MANFRED SEEBODE

ALEXANDER HOLLERBACH

U L R I C H SIEBER

BURKHARD JÄHNKE

J Ö R G TENCKHOFF

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK

KLAUS TIEDEMANN

A R T H U R KAUFMANN

HERBERT TRÖNDLE

ULRICH

THEO VOGLER

KLUG

GÜNTER KOHLMANN FRIEDRICH-WILHELM

HANS WALDER KRAUSE

R U D O L F WASSERMANN

KRISTIAN K Ü H L

ULRICH WEBER

WILFRIED

HEINZ ZIPF

KÜPER

Inhalt

Münster/Würzburg: Gegen Unrecht und Unvernunft - Günter Spendel zum 70. Geburtstag . .

1

Berlin: Kohlhaas transcendentalis (Versuch einer rechtsphilosophischen Rekonstruktion)

7

MANFRED SEEBODE,

JOACHIM BOHNERT,

Bonn: Unser indeterministisches Strafrecht

13

Marburg: Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht?

23

Köln: Gibt es eine national unabhängige Strafrechts Wissenschaft?

43

München: Gibt es Rechte der Natur?

59

Gießen: Naturrechtliche Grenzen strafwürdigen Verhaltens

75

Frankfurt a. M . : Law and Literature als Herausforderung von Law and Economics

99

EDUARD DREHER,

REINHARD VON HIPPEL,

HANS JOACHIM H I R S C H ,

A R T H U R KAUFMANN,

KRISTIAN KÜHL,

KLAUS LÜDERSSEN,

UDO EBERT, M a i n z :

Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten

115

Freiburg: Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

141

ALEXANDER HOLLERBACH,

Heidelberg: Autobiographie oder Schattenbild? Zur „Selbstbeschreibung" P . J . A. Feuerbachs 153

WILFRIED KÜPER,

VIII

Inhalt

Bayreuth/Bamberg: Nachlese zu einem Würzburger Strafverfahren der NS-Zeit

173

Tübingen: Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht

189

JOHANNES SCHÜTZ,

HANS-LUDWIG GÜNTHER,

Bochum: Gedanken zur actio libera in causa: Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat" (§§16,20,34 StGB)? 203

ROLF DIETRICH HERZBERG,

Würzburg: Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf"? 237

MICHAEL HETTINGER,

Köln: § 40 Abs. 2 und 3 StGB - in Steuerstrafverfahren bedeutungslos?

GÜNTER KOHLMANN,

Bayreuth: Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

257 «

HARRO OTTO,

271

München: Rose - Rosahl redivivus

289

Bern/Thun: Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille

303

Münster/Würzburg: Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts

317

Augsburg: Zur Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte

347

Bern: Bewußte Beteiligung, ungewollte Folgen

363

CLAUS ROXIN,

HANS SCHULTZ,

MANFRED SEEBODE,

JÖRG TENCKHOFF,

HANS W A L D E R ,

Tübingen: Einwände gegen die Lehre von der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Betäubungsmittelstrafrecht 371

U L R I C H WEBER,

Freiburg: Die Strafrahmenmilderung beim Versuch

381

Saarbrücken: Strafzumessung und Folgenorientierung

413

WOLFGANG FRISCH,

HEINZ MÜLLER-DIETZ,

Inhalt

IX

Saarbrücken: Zur Bedeutung von Modellen in der Dogmatik des Strafzumessungsrechts („Punktsträfe", „Spielraumtheorie", „Normalfall") 435

ULFRID NEUMANN,

Bonn: Die verschuldeten Folgen der Tat als Strafzumessungsgründe

INGEBORG PUPPE,

Günter Bemmann, Hagen: Der Richter und das übergesetzliche Recht

451

469

Freiburg: Gustav Radbruchs Vorstellungen zum Schwangerschaftsabbruch: Ein noch heute „moderner" Beitrag zur aktuellen Reformdiskussion 475

ALBIN ESER,

Frankfurt a. M . : Verfolgung Unschuldiger (§344 StGB)

FRIEDRICH GEERDS,

503

Bochum: Mitleid von (und mit) „Todesengeln". Zur Strafbarkeit der eigenmächtigen Euthanasie 519

GERD GEILEN,

Karlsruhe: Uber die Rechtsfolgenlösung des Bundesgerichtshofes beim Heimtückemord 537

BURKHARD JÄHNKE,

Würzburg: Gedanken zur Nötigung und Erpressung durch Rufgefährdung (Chantage) 547

FRIEDRICH-WILHELM KRAUSE,

Konstanz: Zum Gefährdungsmerkmal „(fremde) Sachen von bedeutendem Wert" im Umwelt- und Verkehrsstrafrecht 559

RUDOLF RENGIER,

Freiburg: Nehmen oder Geben, ist das hier die Frage?

RUDOLF SCHMITT,

575

Würzburg: Alkohol und Fahrsicherheit. Bemerkungen zur Geschichte und Begutachtung 583

WOLFGANG SCHWERD,

Freiburg: Zur Geschichte eines Straftatbestandes des ungenehmigten Rüstungsexportes 591

KLAUS TIEDEMANN,

Inhalt

Χ

Freiburg/Waldshut: Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Neuregelung des Abtreibungsrechts im geeinten Deutschland 611

HERBERT TRÖNDLE,

Goslar: Unrecht durch DDR-Rechtsprechung

RUDOLF WASSERMANN,

629

Berlin: Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht 655

KLAUS GEPPERT,

Köln: Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme des Carl von Ossietzky-Prozesses nach 60 Jahren 679

U L R I C H KLUG,

Würzburg: Prozessuale Wahrheit und Revision

687

Bayreuth: Bemerkungen zu den Beweisverboten im Strafprozeß

719

RAINER PAULUS,

OTFRIED RANFT,

Würzburg: Zur Relativierung der gerichtlichen Aufklärungspflicht durch Verständigung im Strafverfahren 737

ELLEN SCHLÜCHTER,

Würzburg: Zivilrechtliche Beweisinteressen im Strafprozeß

U L R I C H SIEBER,

757

Mainz: Zur sogenannten Staatsanwaltsdiversion im Jugendgerichtsverfahren . . . . 777

ALEXANDER B Ö H M ,

Würzburg: Aufgabenwandel der Jugendgerichtshilfe als Folge kriminologischer Erkenntnisse über abweichendes Verhalten Jugendlicher 795

KLAUS LAUBENTHAL,

Salzburg: Schuld und Prävention im österreichischen Jugendstrafrecht

HEINZ ZIPF,

811

Zürich: Das Schweizerische Bundesgericht im Vergleich zum Deutschen Bundesgerichtshof 825

ROBERT HAUSER,

Inhalt

XI

Freiburg: Der Allgemeine Teil des Entwurfs eines polnischen Strafgesetzbuchs von 1990 in rechtsvergleichender Sicht 849

H A N S - H E I N R I C H JESCHECK,

Gießen: Der rechtshilferechtliche Grundsatz der Spezialität

T H E O VOGLER,

VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN VON GÜNTER SPENDEL

871

891

Gegen Unrecht und Unvernunft Günter Spendel zum 70. Geburtstag MANFRED SEEBODE

D e r Würzburger Strafrechtler Günter Spendel wurde in Herne/Westfalen geboren. Die Schulzeit erlebte das einzige Kind eines schlesischen Bergingenieurs und einer aus Ostpreußen stammenden Lehrerin zunächst an der Saar, die Gymnasialjahre in Frankfurt am Main. So wundert es nicht, daß der gebürtige Westfale das gängige Bild v o m Menschen dieser Landschaft Lügen straft, wie jeder weiß, der seine spontane Art, sein offenes Zugehen auf Kollegen und Studenten, seinen lebhaften Geist, seine rege Anteilnahme an der Entwicklung vieler seiner Studenten und D o k t o r a n d e n und seine Fähigkeit kennt, auch die wortkargste R u n d e binnen kurzem zu einem angeregten Gespräch und einem anregenden Gedankenaustausch zu veranlassen. Sein Wesen und seine betont rationalistische Geisteshaltung 1 , die der Vernunft und d e m D e n ken bewußt Vorrang vor der nicht gering geschätzten Intuition einräumt, glaubt der Jubilar, wie er zuweilen äußerte, mehr seiner Mutter und ihrem Einfluß als dem des Vaters und dessen Erbteil zu danken. „Ihr kritischer und klarer Verstand, ihr fester und rechtschaffener Charakter, ihr unbestechliches und untrügliches Urteil" 2 beeindruckten den Schüler und jungen Studenten „in den zwölf Jahren des Ungeists und Unrechts tief" 2 . D e m Andenken der Mutter widmete der Jubilar denn auch 1984 sein B u c h „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung", eine Sammlung justizkritischer und konkrete NS-Justizverbrechen charakterisierender Arbeiten. Zunächst mehr der Philosophie zugetan, entschied sich der 18jährige Absolvent des Frankfurter Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums nach einigem Schwanken für die Jurisprudenz. Dies danken wir nicht zuletzt Gustav Radbruch. D e n n dessen klassische „ E i n f ü h r u n g in die Rechtswissenschaft", die philosophischen Geist atmet, erleichterte dem zögernden Abiturienten die Wahl des Studienfaches, die im H e r b s t 1940 zur Immatrikulation an der Juristischen Fakultät in Frankfurt/Main führte.

1 2

S. Radbruch-Festschrift, 1948, S . 6 8 f f ; Schwinge-Festschrift, 1973, S. 21 ff. Spendel im Vorwort zu seiner „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung", 1984.

2

Manfred Seebode

Noch unter dem NS-Regime suchte der an die Freiburger Universität gewechselte Student den schon 1933 von den Nationalsozialisten aus dem Lehramt vertriebenen Gustav Radbruch auf, wozu ihn eine Bemerkung seines Zivilrechtslehrers Gustav Böhmer veranlaßte, der im Kolleg mutig erwähnt hatte, der bedeutende Rechtslehrer lebe jetzt völlig zurückgezogen und selbst von Kollegen ängstlich gemieden in seinem Heidelberger Haus. Dort seit Mitte des Krieges und bis zum Tode Radbruchs häufig Gast gewesen zu sein, zählt der Jubilar zu den nachhaltigen Eindrücken seines Lebens. Sein Lehrer im Strafrecht war aber zunächst der Frankfurter Kriminalist Wilhelm Claß, den der angehende Jurist schätzen lernte, weil Claß eines rechtsstaatlichen Denkens im Strafrecht wegen „scharfsinnig die klassische Deliktssystematik und die objektivistische Verbrechenstheorie" vertrat3 und „NS-Provokationen in den Vorlesungen mit Gleichmut zu widerstehen" vermochte3. Näher verbunden fühlte sich der Student in Frankfurt auch dem Zivilrechtler Fritz von Hippel, der in den Vorlesungen „klarer und unbeirrter als so mancher an verantwortlicher Position stehende Jurist dem Ungeist des NS-Regimes widerstanden hat"4, und in Freiburg den Professoren Erik Wolf und Adolf Schänke. Die zentrale Gestalt aber wurde für Günter Spendel ein Gelehrter, den er nie als Dozenten, aber häufig im privaten Gespräch erlebte, Gustav Radbruch. Bei ihm promovierte er als Frankfurter Gerichtsreferendar 1947 in Heidelberg summa cum laude mit einer Arbeit über die Conditio-sinequa-non-Formel. Korreferent der Doktorarbeit war Radbruchs erster Nachfolger im Heidelberger Lehramt, Karl Engisch. Ende 1948 wurde der 26jährige Assessor ins Hessische Justizministerium gerufen. Die damit eröffnete Laufbahn in der obersten Justizverwaltung eines Landes gab er aber nach einem halben Jahr zugunsten eines unbesoldeten einjährigen Studienurlaubs auf, um die Habilitationsschrift „Zur Lehre vom Strafmaß" in Angriff zu nehmen. Fertiggestellt wurde sie während des im Sommer 1950 beim Landgericht Frankfurt a. M. angetretenen Richterdienstes. Die in der 1954 veröffentlichten Habilitationsschrift entwickelte Aufgliederung der Strafmaßbestimmung in reale, finale und rationale Strafzumessungsgründe wurde für die Strafzumessungslehre wegweisend und, wie Jescheck in seinem Lehrbuch bemerkt, „grundlegend"; H.J. Bruns übernahm die Systematik weitgehend in sein gewichtiges Werk „Strafzumessungsrecht" (1967, 2. Aufl. 1974), und neben diesem wurde Spendeis „Lehre vom Strafmaß" zum „Standardwerk" (Tröndle). Nach der im Februar 1953 und im Alter

3 4

Spendel, Zum Tode von Wilhelm Claß, NJW 1974, S.685. Sprendel, Fritz von Hippel zum 80. Geburtstag, JZ 1977, S. 446 f, 447.

Gegen Unrecht und Unvernunft

3

von 30 Jahren an der Universität Frankfurt a. M. bei Wilhelm Claß abgeschlossenen Habilitation für die Fächer Straf- und Strafprozeßrecht, die die Fakultät später von sich aus um Rechtsphilosophie erweiterte, und nach der Ernennung zum Landgerichtsrat und Richter auf Lebenszeit am 1. Mai 1953 trug Spendel über Jahre die Doppellast der akademischen und richterlichen Tätigkeit. 1958 wurde er zum apl. Professor an der Universität Frankfurt a. M. ernannt. 1961 erhielt er den Ruf als Nachfolger von Ulrich Stock auf das Ordinariat für Straf- und Strafprozeßrecht an der Universität Würzburg, das früher Friedrich Oetker innegehabt hatte. 1968/69 war er Dekan der Würzburger Juristenfakultät, 1970 Vertreter Würzburgs im Fach-, 1971 im Berufungsausschuß der zu errichtenden Juristischen Fakultät der neugegründeten Universität Augsburg. Die Möglichkeit, einen Lehrstuhl an der jungen Hochschule zu übernehmen, hat er nicht ergriffen und auch 1974 der Universität Würzburg die Treue gehalten, als der ehrenvolle Ruf an ihn erging, an der Universität Köln die Nachfolge Richard Langes anzutreten. Versucht man, Spendeis akademische Lehre, seine wissenschaftlichen Anschauungen und wesentlichen Arbeiten kurz zu charakterisieren, so läßt sich sagen: Seine Studenten hat er über die Jahrzehnte und bis zu den letzten Lehrveranstaltungen im Winter-Semester 1990/91 mit der Klarheit, Eindeutigkeit und Folgerichtigkeit der Erläuterung strafrechtlicher Fragen angezogen, die auch seinen Schriften eigen ist, mit der ihm eigenen Lebendigkeit des freien und nicht selten pointierten Vortrages, mit einer lebens- und praxisnahen Darstellung, der die rund zehnjährige Tätigkeit als Strafrichter einer Großstadt zugute kam, und nicht zuletzt mit einer Strafrechtslehre, die deren philosophische, historische, soziale und kulturelle Hintergründe aufzeigte und den angehenden Juristen verdeutlichte, daß Rechtskenntnis noch nicht die für die Rechtspflege erforderliche Bildung ausmacht. Entsprechend hat sich Spendel in seinen wissenschaftlichen Werken, früher Neigung folgend, bemüht, strafrechtsdogmatische Probleme möglichst auch unter rechtsphilosophischen Gesichtspunkten zu sehen und rechtsphilosophische Themen zugleich im Hinblick auf konkrete Fragen und praktische Fälle zu behandeln. Beispiel für das erstere ist etwa seine Begründung der „Spielraumtheorie" zur Strafzumessung 5 oder seine Studie zur Stellung des Unrechtsbewußtseins im Verbrechenssystem 6 , Beispiel für das letztere etwa sein Aufsatz „Rechtspositivismus und Strafjustiz nach 1945"7. Rechtsfragen

5 6 7

Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, S. 168 ff. Tröndle-Festschrift, 1989, S. 91 ff. JZ 1987, S. 581 ff.

4

Manfred Seebode

durch logische Untersuchungen zu lösen, unternahm er schon in seiner Heidelberger Dissertation über die Anwendung der Kausalitätsformel, vor allem in seiner „logisch-juristischen" Studie, die dem zur Stützung der subjektiven Versuchstheorie verwendeten sog. Umkehrschluß aus der Irrtumsregelung die Plausibilität nahm8, und auch in seiner Abhandlung über den Gebrauch der „Goldenen Regel" als Rechtsprinzip 9 . In Zentralfragen seines Faches erweist sich Günter Spendel als ein von herrschenden Auffassungen unabhängiger und von Zeitströmungen unbeeinflußter Gelehrter. Er ist Anhänger der klassischen Strafrechtsschule, vertritt also primär ein Tat- und Repressionsstrafrecht, das den (realen) Grund der Strafe in der begangenen Tat, den (finalen) Zweck in der Vergeltung sieht, ohne damit eine Ergänzung durch ein Täter- und Präventionsrecht auszuschließen. Auch hier kann er sich auf seinen bedeutenden Mentor Radbruch berufen, der, selbst Verfechter der modernen oder soziologischen Schule, die Vergeltungsstrafe als eine anerkannte, die man „mit besonderem Rechte als,Rechtsstrafe' bezeichnen kann, weil sie in ihrer Bestimmtheit durch Tat und Schuld der Strafbemessung einen greifbareren Maßstab bietet als eine Erziehungsund Sicherungsstrafe in ihrer Abhängigkeit von der dem Irrtum ungleich mehr ausgesetzten Auffassung der Täterpersönlichkeit" 10 . Nach 1945 bekannte Radbruch, daß „man auch starke Abstriche machen muß von dem, was man bisher als Fortschritt begrüßte: von der Individualisierung, der Psychologisierung, von allem dem, was man Täterstrafrecht nennt" 11 . In der Verbrechenslehre vertritt Günter Spendel im Anschluß u. a. an den von ihm und Wilhelm Claß gleichermaßen geschätzten großen Systematiker Ernst Beling aus rechtsstaatlichen und rechtsphilosophischen Gründen einen konsequenten Objektivismus in den Strafvoraussetzungen 12 und hält nach wie vor wissenschaftlich z.B. eine objektive Versuchs- und Teilnahmelehre für richtig13, wobei es ihn so wenig überrascht wie frühere Kritik, daß heute dafür wieder Verständnis erwächst. Auch in dieser Grundfrage könnte er sich auf einen der Referenten seiner Doktorarbeit beziehen: Karl Engisch, zu dem der Jubilar bis zu dessen Tode 1990 näheren Kontakt hielt, bemerkte 1935 zur ursprünglichen Versuchsregelung, daß die objektive Theorie anzuer-

8 ZStW 69. Bd., 1957, S. 441 ff. ' Fritz v. Hippel-Festschrift, 1967, S.491, 506 ff. 10 Radbruch, Einf. in die Rechtswissenschaft, 1929, S. 103 = Radbruch-Gesamtausgabe, l.Bd., 1987, hrsgg. v. Arthur Kaufmann, S.302. 11 Radbruch in: Ztschr. „Die Wandlung", 1947, S. 14. 12 So schon in seiner Frankfurter Antrittsrede, ZStW 65. Bd., 1953, S. 519 ff. 13 S. NJW 1965, S. 1881 ff; Stock-Festschrift, 1966, S.89; zur Notwehr s. Leipz. Komm., 10. Aufl., Bd. 1, 1985, §32, Rdn.24ff, 6 0 f f , 138ff.

Gegen Unrecht und Unvernunft

5

kennen (und die subjektive abzulehnen) sei, „weil sie sich harmonisch in das im Ganzen objektive System des Strafgesetzbuches einfügt", aber „dem Rechtsdenken des Nationalsozialismus die subjektive Versuchstheorie entspricht" 14 . Eingehend und eindeutig wie kein anderer Strafrechtler hat sich Günter Spendet mit NS-Verbrechen, insbesondere mit NS-Justizverbrechen und ihrer häufig unzureichenden Aburteilung durch die Nachkriegsjudikatur strafrechtlich auseinandergesetzt. Statt nur pauschaler und oft unverbindlicher Verdammung der NS-Untaten hat er in zahlreichen Arbeiten nähere Analysen konkreter Fälle vorgelegt, so in Aufsätzen über die Geisteskranken-Morde 15 und die Giftgas-Lieferungen für die Judenvergasungen 16 und vor allem in Abhandlungen zu den NSJustizverbrechen 17 . Der Aufsatz „Zur strafrechtlichen Verantwortung des Richters" 18 hat dazu beigetragen, daß das Haftungsprivileg nicht Gesetz wurde, das sich die Rechtsprechung mit der Beschränkung des Rechtsbeugungsvorsatzes auf die Form des direkten, also mit dem Ausschluß des bedingten, verschafft hatte. Von Spendeis dogmatischen Leistungen sind hervorzuheben die durch Systematik, Konsequenz und Praktikabilität ausgezeichneten Erläuterungen in der 10. Auflage des Leipziger Kommentars zum Strafgesetzbuch. Mit ihrem jeweils geradezu monographischen Umfang gehören sie zu den eingehendsten des Gesamtwerkes. Die besondere Liebe Günter Spendeis gehört biographischen Arbeiten. In zwei kleineren Monographien, denen auch rhetorisch beeindrukkende Reden zugrunde liegen, zeichnet er ein Bild seines Lehrers Gustav Radbruch, das nicht nur die lichten Seiten eines „der bedeutendsten Juristen unserer Zeit"19 erkennen läßt20, in einer dritten das des berühmten Universaljuristen Josef Kohler, der von Würzburg seinen Ausgang nahm 21 . Jüngst hat Spendel für das von dem Germanisten Walther Killy herausgegebene 15bändige Literatur-Lexikon acht Würdigungen von Juristen, die auch für die allgemeine Literatur- und Geistesgeschichte bedeutsam geworden sind, wie P.J. Anselm Feuerbach, Rudolf von Jhering, Hermann Kantorowicz, beigesteuert. In diese Richtung seiner

14

Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 90/91. Engisch-Festschrift, 1969, S. 509 ff. 16 Bruns-Festschrift, 1978, S. 249 ff. 17 Zum Teil zusammengefaßt in: „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung", 1984. 18 Heinitz-Festschrift, 1972, S. 445 ff. 19 Engisch, Recht und Gnade, in: Freudenfeld, Hrsg., Schuld und Sühne, 1960, S. 1 0 7 ff, 116. 20 Spendel, Gustav Radbruch, Lebensbild eines Juristen, 1967; ders., Jurist in einer Zeitenwende. Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag, 1979. 21 Spendel, Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, 1983. 15

6

Manfred Seebode

schriftstellerischen Tätigkeit geht auch die Mitarbeit des Jubilars an der 20bändigen Radbruch-Gesamtausgabe. Die beiden bisher, 1988 und 1991, von ihm herausgebrachten Bände „Biographische Schriften" und „Briefe I (1898-1918)" bieten in ihren mit kaum vorstellbarem Arbeitseinsatz erstellten Editionsberichten, d. h. in den jeweils einen Großteil des Bandes ausmachenden Erläuterungen und ergänzenden Hinweisen zu Personen und Ereignissen eine Fundgrube von Daten, die Radbruchs Werk erschließen und für die Wissenschaftsgeschichte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts von besonderem Wert sind. Die Klarheit und durch eine deutliche Gedankenführung geförderte Lesbarkeit, die Spendeis strafrechtlichen Untersuchungen eigen sind, kennzeichnen auch seine anregenden Arbeiten, die über das engere Fach hinausgreifen, ob sie nun den Würzburger Fürstbischof Julius Echter von Mespelbrunn und die Idee der Universität22 oder Julius Hermann von Kirchmann und damit ein Stück preußischer Justizgeschichte betreffen23, das Deutschland-Lied als Nationalhymne 24 oder „Schillers .Wilhelm Teil' und das Recht" 25 zum Gegenstand haben. Mit auch nach der Emeritierung unverändertem Elan und der ihm eigenen Gründlichkeit führt der Jubilar, weiter verständnisvoll und anteilnehmend unterstützt von seiner Gattin und zur Freude aller, die ihm diese Festgabe widmen, seine wissenschaftlich-literarische Arbeit fort, u. a. an der Radbruch-Gesamtausgabe und an der Neuauflage des Leipziger Kommentars. Möge der Jubilar wie bisher seiner Leitlinie folgen, die von der Vernunft geführte Feder unmißverständlich für das als richtig Erkannte einzusetzen, gegen Unrecht und Unverstand, getreu dem von ihm einmal zitierten26 Worte Lessings: Wer „die Wahrheit sucht, darf nicht die Stimmen zählen"!

22 23 24 25 26

Echter-Gedenkschrift, 1973, S. 149 ff. Krause-Festschrift (Recht und Kriminalität), 1990, S. 3 ff. J Z 1988, S. 744ff; s. auch Ztschr. „ M u t " 1991, N r . 2 9 1 , S. 18ff. SchweizZStR 107. Bd., 1990, S. 154 ff; Zeitschr. „ M u t " 1991, N r . 287, S. 32 ff. N J W 1965, S. 1881.

Kohlhaas transcendentalis Versuch einer rechtsphilosophischen Rekonstruktion JOACHIM

BOHNERT

I. Vorausgesetzt, Kants und Fichtes Lehre sei wahr und im Handeln sei, angesichts des Kategorischen Imperativs, Freiheit möglich, so heißt das: Freiheit ist unbedingter Anfang, hinter dem nichts zu suchen ist. Bei ihr verbleibend geschähe nichts. Handeln ist Herausgehen aus der Freiheit, selbstbestimmendes Bestimmen, Anfang einer Kette der N o t wendigkeit. So ist Freiheit kein (subjektives) Vermögen, frei zu sein, sonst lägen Subjekt und Vermögen vor der Freiheit und diese wäre nicht absoluter Anfang. Freiheitshandeln ist ursprünglicher Vollzug der Setzung von Kausalität. Also muß im Ursprung die Notwendigkeit, als das absolute Gegenteil des Ursprungs, enthalten gewesen sein, und die Tat bringt das Notwendige mit sich. Der selbstbestimmende Akt der Freiheit begründet das Bestimmte, auf das gehandelt wird, und das Bestimmte und Notwendige ist nur darin der Freiheit zugehörig, als es ihr Ur-Bestimmtes ist, welches der Akt der bestimmten Tat heraussetzt. Der Punkt der Freiheit sei „Ich" genannt, die Notwendigkeit „NichtIch". Das Ich setzt sich als frei und ists nur im actus der Selbst-Setzung, und die Bedingung der Freiheitssetzung ist es, daß das Ich das Nicht-Ich gleichzeitig mit seiner Selbstsetzung sich gegenübersetzt. Das Nicht-Ich ist das kausalverknüpfte Bestimmte. Dem freien Ich gegenübergesetzt ist das Bestimmte es selbst und wirkt aus der Gegenübersetzung gleichzeitig auf die Freiheit als das Andere. Die Gegenübersetzung wird als Begrenzung erfahren. Wir treffen an: die Identität des ursprünglichen unbestimmten Aktes der Freiheit und in der Differenz der Entgegensetzung die Entfremdung des Gesetzten. Im ursprünglichen Setzen aber kommen beide vor; beide sind wesenhaft im Setzen der Tat enthalten, und wir nennen diese Enthaltenheit: das Gesetz. Das Wissen des Gesetzmäßigen ist die Vernunft. Ihr Gegenteil ist das Entsetzliche der Unvernunft. Vernunft ist die ordnende Entsprechung von Erkenntnisvermögen und Erkenntnisgegenstand. Daß sich Erkennen und Erkanntes über-

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haupt entsprechen können, verweist auf frühesten Zusammenhang, wo im actus primus et purus beschlossen war, daß das Andere der Freisetzung, das Sekundäre und Begrenzende, auch gegenüber der Unbestimmtheit sein Recht hat und die ursprüngliche Freiheit an die Grenzen der Welt bindet. Kausalität (als die Anknüpfung der Notwendigkeit an ein Nichtkausales) gibt nicht nur die Reihung notwendiger Bestimmtheiten; sie gibt notwendig die einzige Notwendigkeit, nur diese, keine andere. Sonst wäre Vernunft unmöglich. Weil aber Vernunft möglich sein soll, weil sie aus der Leere ihrer Tautologie hinauswill, weil sie aus der Freiheit auf die Begrenzungen der Notwendigkeit hinausgeht und dann auf Kausalität notwendig angewiesen ist, und weil Kausalität notwendig ist, wie sie ist und wie die Welt sie vorführt, kann sich das ursprünglich freie Ich trotz seiner Verluste von Anbeginn vernünftig finden, in freier fortwährender Bestimmung, im freien Handeln, in seiner Umschau auf das Vorhanden-Bestimmte. In vorgefundener, mitgesetzter Vernunftlimitierung, in Bedrängtheit und Bestimmtheit durchs Nicht-Ich leidend erinnert sich das tätige Ich dennoch im Hinblick auf das Außere der Urentsprechung von Vernunftgesetz und Gesetzesvernunft. Nun kommt es vor, daß die Vernunftentsprechung gestört wird. Ein vereinzelt Freies vermag die Entfernung, so daß sich die Entsprechungen des Gesetzes lockern. Es tritt aus der Entsprechung heraus, tritt dem Ich gegenüber und gebärdet sich unter ungehörigen Setzungen von Kausalität so, als wäre es selbst Naturgesetz. Das bewirkt, daß das Andere auf das vernünftige Ich bestimmend wirken will wie vordem die vernünftige Notwendigkeit. D a findet das Ich im Nicht-Ich sich nicht mehr, wird fremdbestimmt, wird von frecher Frei-Notwendigkeit außer sich gesetzt und aus dem Gesetz auf die andere Seite der Bestimmung und Kausalität gezerrt. Das Ich ist selbst das unvernünftig Andere geworden. Es ist außer sich. Das Ich ist das Entsetzliche. Sich selbst verloren muß es, um nicht an und für sich zu verderben, zu sich zurück. Will sagen: So lange das Andere sich im Vernunftgesetz hält, ficht seine Andersheit das Ich nicht an. Das Ich erkennt im Entgegengesetzten sich selbst und sein Gesetzesanliegen. Wenn aber das Andere aus dem Gesetz fällt, verfällt das Ich ins Andere. Denn so frei es war und noch ist, so ist es doch nicht frei, sich fern der Bestimmtheit vorzuenthalten und muß, abhängig jetzt von Unvernunft, aus sich heraus, um gegen das fremd Bestimmende auf dem Feld schierer Empirie für Vernunft zu sorgen, so lang und so nachhaltig und so empirisch wie nötig. In der entsetzlichen Umgebung rettet sich das Vernünftige nur durch die Rücksetzung des Entsetzlichen ins Gesetz. Doch herrscht im status corruptus nicht das Anti-Gesetz, die blasse Verneinung, die Gegenvernunft. Der ist die Würde absoluter Gesetzge-

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bung nie geworden. Denn die Würde ist verbraucht und als absolute Totalität endgültig und restlos in Ich und Nicht-Ich aufgeteilt. Was herrscht im Entsetzlichen? Es herrschen das Zufällige, Unvorhergesehene, das Planlose, die Antriebe der Sinnlichkeit, Attraktion hier, Repulsion dort, das niedrige Hin und Her des bunten Alltags, durcheinandergeworfene Unvorhersehbarkeit. Im Reich des Zufalls herrscht die Verschiedenheit, das Plötzliche - Mannigfaltigkeit in jeder Hinsicht.

II. Gesetzt also, das alles sei im Großen und Ganzen wahr. Und gesetzt, es käme ein junger Mann, der, ohne eigentliche Vorprägung zum Dichtergeschäft, sich, gleichviel auf welchem Zugangswege, zum Äußersten entschlossen hätte: zu Siegerkranz und olympischem Göttertempel. Und gesetzt, der würde sich an dieser Wahrheit anklammern. Oder gesetzt, ein Publikum wäre von diesen Wahrheiten bis zur Durchdrungenheit überzeugt, und der Dichter wollte, um der Geisteskönig der Zeit zu werden, dem Publikum aus dem Herzen sprechen, so daß es seine Wahrheiten poetisch wiedererkennen könnte - wie sähe es aus, das Werk über den Widerstreit zwischen Ich und Nicht-Ich, über Vernunftwelt und empirisch-bunte Ungesetzlichkeit? Über Gesetzlichkeit und Entsetzlichkeit? Zuerst müßte doch wohl die Ur-Vernünftigkeit zum poetischen Vorschein gebracht werden, ein Ich im Frieden mit dem Nicht-Ich, in realer Gestalt beides, ein vernünftiger, rechtlicher Mensch in vernünftiger, rechtlicher Umgebung. Darin ein unstetes empirisches Ich störend auftreten zu lassen, wäre nicht genug; denn auch die Umgebung muß kontradiktorisch sein, am klarsten als Gegenland zum Vernunftland beschrieben. Das wäre in der Zeit darstellbar: Das gute Reich besiegt das ungute oder umgekehrt; doch das wäre zu lahm. Sichtbarer bringt der gleichzeitige räumliche Widerspruch die Kontradiktion zur Anschauung. Also muß ein Land her, wo die Vernunft herrscht. Von diesem Land ist wenig zu sehen; denn die Vernunft hat keine Bilder, sie geht diesen voraus. Im Gesetzesland ist das Ich vernünftig vorhanden, unangefochten in wechselseitiger Anerkennung mit den anderen und freut sich des Gesetzes. Es wird einen Vernunftberuf ausüben, der das Wechselverhältnis der Vernünftigen untereinander repräsentiert, Kaufmann, Handelsherr oder dergleichen; zur Seite ihm eine gute Ehefrau, gute Kinder, alles gut jedenfalls. Das andere Land aber: nicht un-gut, kein Teufelsstaat durch und durch, wie gesagt, nicht direkte Negation. In ihm herrscht das Böse nicht, nicht Umkehrung und absolute Negation. Es herrscht das Andere,

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die Gesetzlosigkeit, die blinde, vernunftlose Mannigfaltigkeit; es toben die Antriebe der Sinnlichkeit, in Kants Begriffsverständnis und im anderen. Von dieser bunten Welt ist leicht erzählen, von Kleiderpracht, Trinkgelagen, Schmaus und Jagdvergnügen, von Frauenliebe, Bosheit, Zorneswallung, Niedertracht, unverhofften Anwandlungen der Güte, dann von Ängstlichkeit, Ohnmachtsanfällen, tastenden Beratschlagungen, ruckartigen Aktionen im Anschluß an fahles Abwarten, mit einem Wort: vom vernunftlosen Hin und Her der haltlosen, jedem Andrang der Phänomene ausgesetzten reaktiven Subjektivität. Und im Gegensatz zum Vernunftreich, das der Zeit, die nur Apriori seiner Existenz selbst ist, nicht achtet, ängstigt das liederliche Land die einzige Sorge, es könne mit dem leidenschaftlich vermengten Gemeinwesen ein Ende haben und wann dieses Ende drohe. Denn das Zufällige ist auch das Vergängliche. U m zu zeigen, was es mit dem Gegensatz der Welten auf sich hat, muß die Grenze der Weltländer aufgesucht werden, muß das Ich über die Grenze, trifft dort, wie im Urakt seiner Freisetzung, aufs Nicht-Ich, wird durch dieses bestimmt, erst wenig, dann mehr und mehr, und versucht seinerseits, dieses frei-vernünftig zu bestimmen. Aus gesetzmäßigen Verhältnissen tritt es heraus, das Ich, wird den Zufälligkeiten, Vernunftwidrigkeiten, dummer Kleinlichkeit, der Niedertracht, Gleichgültigkeit, wenn es gut geht auch unvermuteter Freundlichkeit ausgesetzt, und das Ich, mit dem Gesetz in der Brust, bemißt am Gesetz das andere, muß den Gesetzesverlust befürchten und nun selber empirisch werden gegen das Empirische. Muß es, das Ich? War es nicht als frei bezeichnet worden, so daß es gerade nicht muß? Es muß doch! Denn frei zu sein, heißt gar nichts und ist an und für sich bloß Unbestimmtheit und Vorbehalt. Sich als frei zu setzen heißt, um es zu wiederholen, das Unfreie, Notwendige gleichzeitig hervorzusetzen, weil es nicht anders geht. Wenn aber das Notwendige nicht zu verwirklichen ist, tritt das Schlimmste ein; das Ich selbst regrediert aus seiner Freiheits-Wirklichkeit ins bloße Vermögen, bei günstiger Gelegenheit frei zu sein, und das ist nicht viel. Denn wo sich das Ich nicht äußert, ist es nicht etwa innerlich oder privat; es ist reines Abwesen, überhaupt nicht Ich, überhaupt Nichts, allenfalls, wenn es viel ist, der fremdbestimmte Abdruck des externen Anderen. Darum muß das Ich ins Jenseits des vernunftlosen Gebiets und muß das bunte NichtIch zur Räson bringen und muß sich mit der angetroffenen Notwendigkeit beschmutzen. Man könnte es zugleich rechtschaffen und entsetzlich nennen. Das Schwerste ist da, den Grund zusammenzubringen, warum sich der Vernünftige bei seinem Grenzübertritt verstricken läßt, so daß er, der Rechtliche, den ganzen Widerspruch der Welt erfährt. Hier war das

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Transzendens poetisch sinnfällig zu machen, daß der Gegensatz zum Recht nicht einfach das Un-Recht ist. Es war ein Unrecht zu zeigen, das nur etwas Unrecht ist, doch gleichzeitig das Andere, Umtriebige, Zufällige, Mannigfaltige vorbringt; dazu noch ein Vernunftgrund, an der Grenze nicht heimzukehren, wohin die Schmach nicht reicht. Das war das Schwerste, und wieviel Dichterstunden dafür wohl nötig sind, am Meeresstrand in Ostpreußen, gestikulierend auf der Halbinsel des Thuner Sees oder zurückgesunken in der Postchaise, matt brütend während der Reisen, das weiß der Dichter allein. Ein Schaden an kleinem Gut, an der Handelsware des Kaufmanns, wäre nicht genug; zu groß der Verlust am Größten, am Menschsein, an der Freiheit, an deren Selbstbewußtsein, Ehre genannt. Dazwischen müßte der Tort liegen. Verbinden wir, wenn nichts Plausibleres zur Hand liegt, das Zukleine mit dem Zugroßen: Das Ich soll Pferde ein wenig einbüßen und die Ehre ein wenig - ein Kompromiß zugestandenermaßen und nicht ganz schlüssig, aber immerhin beschreibbar und genug, das Ganze vorwärts zu bringen. Man muß sich nur entschließen, die Unklarheiten durch höchstes Dichtertum und Regensturm in dramatisches Naturgewölk zu hüllen. Wie der aufgeworfene Widerspruch zwischen Ich und Nicht-Ich thematisch durchgeführt werden könnte, sei hier nicht weiter erforscht. N u r so viel: Ein Durcheinander muß es sein, im Ich, aber im Nicht-Ich auch, Tätigkeit, Leiden, Gelingen und Mißlingen, Vernunft und Unvernunft aufeinanderstoßend, wechselnd, streitend. Im Gewirr bliebe als einzig Gewisses nur der Gegensatz als solcher beständig, daß sich das Gesetzte und das Entgegengesetzte wechselseitig bestimmen. Sie werden tätig gegeneinander, heißt: Der Vernünftige wird unvernünftig, das Unvernünftige gewinnt Züge der Vernunft. Ordentliches zeitigt Unordnung, Unordentliches faßt sich im geordneten Widerstand. D a s Ich, anfangs mit sich im Reinen, wird affiziert, muß sich hinsichtlich seiner Vernunft teilen und ist teils freundlich, teils verrückt, teils großmütig, vertrauensvoll, gesetzesbewußt, teils niederträchtig, grausam und albern - rechtfühlend, zugleich Räuber und Mörder. Erst am Ende solcher Durchführung tritt sich das Wesen des Vernünftigen und des Un-Vernünftigen wieder einseitig und rein entgegen. Unvernunft, Unordnung und Gesetzlosigkeit rücken zusammen, um das Ich unrecht und endgültig und doch wieder halb planvoll und halb zufällig zu vernichten. Schinden, Zwicken und Rädern und die Verurteilung zum schmählichsten Tod sollen das Ich vernichten und zur reinen Vorhandenheit herabdrücken. Das Ich endgültig zum Nicht-Ich zu machen, mehr fällt der Unvernunft nicht bei. Und dann das Rücküberschreiten der Grenze! Angefordert von der Vernunft selbst, keinem anderen Zweck gehörig als der Gesetzlichkeit

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allein, gewinnt sich das Subjekt auf dem Weg ins Rechte Schritt für Schritt wieder, wird angesprochen, wird vernünftig, findet aufs Neue Sprache und Umsicht, sein wahrhaftes Ich. Von gesetzlicher Umgebung sich selbst zurückgegeben, erhebt es das Haupt, und wo es um sich schaut, ist schönste Ordnung, treue Haltung und Rechtlichkeit bis ans Ende. Und es glich nichts der Ruhe und Zufriedenheit seiner letzten Tage.

Unser indeterministisches Strafrecht EDUARD DREHER

Die Strafe soll einen gerechten Ausgleich für eine schuldhafte Tat darstellen. Günter Spendel

In meinem 1987 erschienenen Buch über die Willensfreiheit habe ich auf Grund einer eingehenden Analyse die These aufgestellt, daß unser geltendes Strafrecht nur indeterministisch verstanden werden könne. Diese These erscheint von großem dogmatischen Gewicht und in der noch immer laufenden Diskussion um den Schuldbegriff von beträchtlicher Tragweite. Sollte sie sich als falsch herausstellen, könnte man zwar erleichtert oder bedauernd zur Tagesordnung übergehen. Erweist sich die These aber als richtig, und davon bin ich überzeugt, so könnten das die relativ wenigen Indeterministen mit Befriedigung aufnehmen, die zahlreichen Agnostiker könnten pragmatisch akzeptieren, daß sich unser Strafrecht für den Indeterminismus entschieden habe und entsprechend auszulegen sei. Für die Deterministen jedoch und diejenigen, die mit Hilfe einer Umfunktionierung des Schuldbegriffs wenigstens insoweit der in dieser Hinsicht eindeutigen Begriffsbildung des StGB gerecht zu werden versuchen, entstände eine mißliche Lage. Sie könnten sich freilich wie schon die Agnostiker auf die Behauptung zurückziehen, daß unser Strafrecht eben auf einer falschen oder nicht beweisbaren Grundlage aufgebaut sei, aber sie könnten nicht mehr für sich in Anspruch nehmen, innerhalb des geltenden Systems mit ihrer Ablehnung oder ihrem Zweifel zu argumentieren. Bei dieser doch brisanten Situation hätte man eine lebhafte Diskussion um meine These erwarten dürfen. Aber sie ist ausgeblieben. Fast durchweg nahm man die These überhaupt gar nicht erst zur Kenntnis. Ihre Tragweite schien man nicht zu erkennen oder wollte sie nicht erkennen. Lediglich zwei Autoren äußerten sich kurz. Der eine ist Griffel, der positiv Stellung nahm1. Der andere ist Tiemeyer, der in einem 1988 erschienenen Aufsatz meine These mit folgenden Worten widerlegen zu 1

G A 89, 194; M D R 9 1 , 110.

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können meinte2: „Angesichts des hier entwickelten Freiheitskonzepts ist die jüngst besonders nachdrücklich von Dreher vertretene These, dem geltenden Strafrecht sei die Weltanschauung des Indeterminismus immanent, nicht mehr belegbar. Keines der von Dreher angeführten Beispiele deutet auf indeterministische Prämissen des Gesetzgebers hin. Ein Anknüpfen an Verhaltensspielräume, wie etwa an die Freiwilligkeit des Rücktritts, postuliert noch nicht Indeterminismus. Die Behauptung, für den strafrechtlichen Schuldbegriff sei die klassische Vorstellung von Willensfreiheit unverzichtbar, kann nur mit Hilfe von weltanschaulichen Annahmen aufgestellt werden, die außerhalb der Systematik des Gesetzes liegen. Für die Rechtsanwendung ist ein Postulat der Willensfreiheit ohne Bedeutung." Kurz danach heißt es: „Das Strafgesetz steht dem Gedanken, daß ein Schuldurteil von empirisch feststellbaren Fakten abhängen soll, erkennbar sehr viel näher als dem Postulat einer metaphysisch begründeten oder fingierten absoluten Freiheit." So einfach, wie Tiemeyer sich das vorstellt, läßt sich meine These, die übrigens, soweit ich sehe, vorher von keinem anderen Autor in dieser Form vertreten worden ist, nicht widerlegen. Zunächst möchte ich feststellen, daß die Bezeichnung des Indeterminismus als einer Weltanschauung zum mindesten unscharf ist. Genau genommen geht es um die Struktur der menschlichen Psyche und einer ihrer herausragenden Fähigkeiten. Vor allem aber muß, wenn man Tiemeyers Kritik beurteilen will, geklärt werden, was man unter Indeterminismus zu verstehen hat. Tiemeyer versteht darunter, wie noch gezeigt werden wird, absoluten Indeterminismus. Es ist mir aber unerfindlich, wie er, der nach verschiedenen Bemerkungen von ihm mein Buch mit einiger Aufmerksamkeit gelesen zu haben scheint, mir das „Postulat einer metaphysisch begründeten oder fingierten absoluten Freiheit" unterstellen zu können meint. Mein Freiheitsbegriff ist, wie aus dem letzten Abschnitt meines Buches ganz deutlich wird, aus Erkenntnissen der modernen Physik und der Gehirnforschung gewonnen worden, womit sich noch die evolutionäre Erkenntnistheorie von Konrad Lorenz verbindet. Mit Metaphysik hat sie überhaupt nichts zu tun. Um so erstaunlicher ist es, wenn Tiemeyer schreibt, daß „bei den herkömmlichen Vorstellungen die Berücksichtigung erfahrungswissenschaftlicher Erkenntnisse auf prinzipielle Grenzen gestoßen zu sein scheint"3. Von einem absoluten Freiheitsbegriff habe ich mich schon in meiner Einleitung distanziert und dargelegt, daß ein solcher „puristischer Indeterminismus" unhaltbar ist. Tiemeyer hebt

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ZStW 100, 527 (546). Wie Anm.2, 528.

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das selbst lobend hervor 4 . Wie kann er mir dann wenig später vorwerfen, daß ich für „absolute Freiheit" plädierte? Stets habe ich den relativen Indeterminismus vertreten, der anerkennt, „daß sich der Wille des Menschen keineswegs in einem luftleeren Raum bildet, sondern vielfältigen Einflüssen ausgesetzt ist, die sowohl von außen als auch aus der Psyche kommen können, meist von beiden Seiten kommen und ihren Einfluß ausüben. Meine These geht jedoch dahin, daß diese Einflüsse, von seltenen Ausnahmen abgesehen, den Menschen in einer bestimmten Alternativsituation nicht zu einem bestimmten Willensentschluß zwingen, sondern ihm dann, wenn objektiv eine Wahlmöglichkeit nach verschiedenen Richtungen besteht, ihm auch subjektiv eine letzte freie Entscheidung bleibt" 5 . Mit anderen Worten: Freiheit bedeutet die Fähigkeit, sich auch anders, als man sich letztlich entscheidet, entscheiden zu können. Ich habe nun an einer Reihe markanter Beispiele (Fahrlässigkeit, mit erfolgsqualifizierten Delikten, unechte Unterlassungsdelikte, Verbotsirrtum, zumutbares Verhalten, freiwilliger Rücktritt), wie ich meine, nachweisen können, daß das Strafrecht einen Menschen voraussetzt, der imstande ist, sich auch anders zu entscheiden, und der die Fähigkeit hat, einen Erfolg oder einen Irrtum zu vermeiden, also einen freien Menschen im Sinne meiner Definition. Ich möchte diesen Beispielen noch zwei weitere hinzufügen. Das erste liefert § 2 0 StGB mit der Beschreibung der Schuldunfähigkeit, ein Fall, den in meinen Katalog aufzunehmen ich seinerzeit gezögert hatte. Meine Meinung hat sich aber in diesem Punkt gefestigt. Wenn das Gesetz, das von der Unfähigkeit eines Täters spricht, sich nach gewonnener Unrechtseinsicht gemäß dieser Einsicht für das als Recht Erkannte zu entscheiden, so bedeutet das doch nichts anderes, als daß der geistesgesunde Mensch nach dem Gesetz die Fähigkeit hat, sein Verhalten nach seiner Unrechtserkenntnis zu steuern, und dieses doch entweder für oder gegen das Recht. Damit ist aber wieder ein Fall des Andershandelnkönnens und damit ein Fall des gesetzlichen Indeterminismus gegeben 6 . Tiemeyer, der sich eingehend mit § 20 StGB, befaßt, nennt Gedankengänge wie den meinen „ungenaue und an der Oberfläche bleibende Erwägungen", kommt dann aber zunächst zu dem Satz: „Schuldfähig-

4 a) Die Willensfreiheit, ein zentrales Problem mit vielen Seiten; 1987, 4 f.; b) Tiemeyer wie A n m . 2 , 537. 5 Wie Anm. 4 a, 5. 6 Die Frage ist allerdings sehr str. Wie hier u. a. Lange, Bockelmann-Festschrift, 261; Rudolpbi, Systemat. Komm. z. StGB, 5.Aufl., 4 a zu § 2 0 ; anders die h . M . , u.a. Tröndle in: Dreher/Tröndle, 45. Aufl. Rdn. 5; Lackner, StGB, 19. Aufl., Rdn. 12, jeweils zu § 20 mit weiteren Nachw.

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keit setzt nach geltendem Recht eine bestimmte, erfahrungswissenschaftlich feststellbare relative Freiheit voraus, bei der es darauf ankommt, ob bestimmte Gegebenheiten . . . Auswirkungen auf die Fähigkeit zum rechtlichen Verhalten gehabt haben." Das scheint durchaus auf meiner Linie. Um so verwunderter ist man, wenn man kurz danach bei Tiemeyer liest: „Die Abgrenzung von schuldfähig zu schuldunfähig anhand des Kriteriums der relativen Freiheit kann wissenschaftstheoretisch einwandfrei auch von streng deterministisch eingestellten Sachverständigen durchgeführt werden, weil die Ursachenzusammenhänge, die im Gesetz gemeint sind, nicht mit jenen Verursachungen vergleichbar sind, die im Determinismus zur Begründung der Notwendigkeit allen Geschehens behauptet werden"7. Das ist nichts als ein Widerspruch in sich selbst. Der Indeterminismus kennt nämlich keinerlei Freiheit, auch keine mit ihm vereinbare relative; dafür kennt er keinerlei verschiedenartige Ursachen, sondern nur solche ein und derselben Art, die zwingend wirken. Das zweite, besonders aussagestarke Beispiel für den Indeterminismus des Gesetzes findet sich in §213 StGB. Wenn es dort von einem Totschläger heißt, daß er ζ. B. durch eine „schwere Beleidigung von dem Getöteten zum Zorn gereizt und hierdurch auf der Stelle zur Tat hingerissen worden" war, so wäre doch für den Deterministen gar kein Zweifel, daß dieser Täter unter Handlungszwang stand, dem er nicht ausweichen konnte. Das Gesetz hingegen mutet ihm trotz dieser psychischen Ausnahmesituation bei Strafe zu, anders zu handeln und den Totschlag zu unterlassen. Selbst bei dieser extremen Situation unterstellt also das Gesetz die Fähigkeit zum Andershandelnkönnen. Die Beispiele ließen sich noch vermehren. Schießlich und endlich kann jeder Tatbestand mit Strafdrohung nur indeterministisch verstanden werden. Denn nur solches Verhalten kann das Gesetz mit Strafe bedrohen, das der Betreffende vermeiden kann. Meine Ausführungen zeigen, daß entgegen Tiemeyer das Postulat der Willensfreiheit sehr wohl von Bedeutung ist, und zwar von grundlegender Bedeutung. Von „weltanschaulichen Annahmen, die außerhalb der Systematik des Gesetzes liegen", kann dabei keine Rede sein. Vielmehr durchzieht der Indeterminismus die gesamte Systematik des Gesetzes. Daß diese meine These nicht dadurch entkräftet werden kann, daß Tiemeyer ein eigenes Freiheitskonzept entwickelt, das übrigens dem meinen gar nicht so fern steht, braucht nicht weiter begründet zu werden. Wenn er schreibt, „Keines der von Dreher angeführten Beispiele deutet auf indeterministische Prämissen des Gesetzgebers hin", so ist das nichts als eine unsubstantiierte Behauptung. Wenn Tiemeyer zum

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Wie Anm. 2, 554, 557.

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Fall des freiwilligen Rücktritts meint, daß damit Indeterminismus nicht postuliert werde, so ist dazu zu sagen: Wie schon der bloße Wortsinn aussagt, billigt das Gesetz nur dem Freiwilligkeit vom Rücktritt ζ. B. des Versuchs zu, dem die Möglichkeit offenstand, den Versuch zu Ende zu führen8. Diese Möglichkeit, zwischen zwei Verhaltensweisen zu entscheiden, bedeutet aber nichts anderes als Indeterminismus. Und wenn Tiemeyer dem Menschen „Verhaltensspielräume" zugesteht, so kann doch wohl nichts anderes damit gemeint sein als eben die Fähigkeit, sich so, aber auch anders entscheiden zu können. Freilich muß bei alledem von einem richtig verstandenen Begriff von Indeterminismus ausgegangen werden. Tiemeyer fehlt dieser Begriff offensichtlich. Denn er schreibt, daß die „objektiv absolute Freiheit" „das Weltbild des Indeterminismus prägt" 9 . Daß davon keine Rede sein kann, daß vielmehr nur ein relativer Indeterminismus, wie ich ihn beschrieben habe, zur Debatte stehen kann, ist außer Zweifel. Wie steht es aber mit dem Begriff der Freiheit, den Tiemeyer vertritt? Er erkennt entgegen anderen Konzeptionen, die in der ungelösten Freiheitsproblematik keine Schwierigkeit zu sehen vorgeben, richtig, „daß die Freiheitsproblematik durchaus noch zentrale Bedeutung für jedes einzelne Konzept besitzt . . . ein ,künstliches' Ausweichen beschneidet quasi die Realität und führt damit zu Erkenntnisverlusten, die sich zwangsläufig in allen Bereichen der Rechtsanwendung auswirken" 10 . Dem kann ich nur zustimmen. Nicht hingegen kann ich Tiemeyer folgen, wenn er behauptet, Willensfreiheit bedeute Durchbrechen des Kausalprinzips. Wenn jemand vor einer Alternativentscheidung steht, so läuft eine auf Anlage, Umwelt, konkrete Entscheidungssituation usw. beruhende Kausalkette auf die Entscheidung des Menschen zu. Dessen Wille, sich so oder so zu entscheiden, ist dann aber ein weiterer Faktor in der Kausalkette, der sie so oder so abschließt. Causa bleibt dieser Wille auch, wenn er nicht durch Vorausgegangenes erzwungen wird. Das Kausalprinzip wird also nicht durchbrochen. Interessanterweise schreibt Tiemeyer: Es „ist die Freiheit, wenn sie im relativen Sinne aufgefaßt wird, durchaus eine tatsächlich vorhandene, alltägliche Erscheinung, die nicht nur das Ergebnis unüberlegter Redeweise ist, sondern jeder wissenschaftlichen Uberprüfung standhält. Denn die Existenz der relativen Freiheit widerspricht in keiner Weise der Allgemeingültigkeit ilcs Kausalprinzips"11. Dem kann ich nur zustimmen. Unverständlich bleibt dann aber, wie Tiemeyer vorher ganz allgemein behaup-

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BGHSt. 4, 59; 7, 299. Wie Anm.2, 543. Wie Anm.2, 529. Wie Anm.2, 544.

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ten konnte, daß Willensfreiheit Durchbrechung des Kausalprinzips bedeute. Sollte relative Willensfreiheit, wie ich sie verstehe, etwas anderes sein als relative Freiheit im Sinne von Tiemeyer? Es scheint nicht so, wenn er relative Freiheit als Andershandelnkönnen in eins setzt12. Das deckt sich mit meiner Freiheitsdefinition. Dann aber ist es mir unverständlich, wenn Tiemeyer später im Zusammenhang mit seiner relativen Freiheit schreibt: „In keiner Phase der Untersuchung", ζ. B. einer psychischen Zwangslage, „wird das Problem berührt, ob der einzelne durch die unüberschaubare Gesamtheit aller noch so winzigen und entfernten Determinanten in seinem Verhalten festgelegt war" 13 . Aber gerade das ist doch der springende Punkt, das entscheidende Problem der Freiheit, auch einer relativ verstandenen! Wie Tiemeyer diesen Begriff versteht, bleibt danach unklar. Er wird nicht dadurch klarer, daß Tiemeyer, und zwar entgegen anfänglichen anderslautenden Erklärungen, ziemlich spät bekennt, es könne die These, daß „ein an der Freiheit des einzelnen orientierter Schuldbegriff lediglich ein metaphysischer, nicht aber ein empirisch deutbarer Begriff sei, in dieser Allgemeinheit nicht aufrechterhalten werden"14. Wenn er dann Schuld als Vermeidbarkeit definiert15, so ist das ein indeterministischer Ansatz; ebenso wenn es später heißt: „Die Unterscheidung der Handlungen in ,frei' oder ,unfrei'... erscheint nicht nur zweckmäßig, sondern auch praktisch durchführbar"16. Und schließlich: „Vom Durchschnittsbürger als gerecht empfunden wird aber . . . nur eine strafrechtliche Haftbarmachung, die davon abhängig ist, ob dem Täter eine rechtmäßige Verhaltensalternative offengestanden hatte." 17 Das ist nichts als Indeterminismus. Inkonsequent ist es aber dann, wenn Tiemeyer es ablehnt, auf feststellbare Vermeidbarkeit eine individualethische Vorwerfbarkeit zu gründen18. Will man nach alledem seinen theoretischen Standort bestimmen, so ist er mit seinem Begriff von relativer Freiheit trotz aller Unklarheit und Widersprüchlichkeit von meiner Theorie des relativen Indeterminismus gar nicht so weit entfernt. Sicher ist jedenfalls, daß Tiemeyers Freiheitsbegriff, wie schon gesagt, meine These vom indeterministischen Charakter unseres Strafrechts in keiner Weise in Frage stellen kann. Ich bin im übrigen überzeugt, daß es auch anderen Autoren nicht gelingen kann, sie zu widerlegen.

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Wie Wie Wie Wie Wie Wie Wie

Anm.2, 552. Anm. 11. Anm. 2, 559. Anm.2, 561. Anm.2, 562. Anm.2, 565. Anm.2, 566.

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Die Tragweite dieser These habe ich schon angedeutet. Theoretiker wie Achenbach und vor allem Jacobs19 können nicht mehr behaupten, unser Strafrecht zu interpretieren. Ihre eigenwilligen Gedankengänge, die mit einem auf Zweckmäßigkeitserwägungen gegründeten „funktionalen" Schuldbegriff, der in Wirklichkeit ein Begriff ohne Schuld ist, die Grundlagen unseres Strafrechts umzudeuten versuchen, bewegen sich außerhalb unseres Systems, dessen klare Unterscheidung zwischen Strafen und Maßregeln sie zum Verschwinden bringen würden 20 . Für agnostische Autoren wie z . B . Roxin könnte es beruhigend wirken, wenn sie pragmatisch auf einem indeterministischen Strafrecht bauen und sich auf seiner Grundlage bewegen könnten. Vor allem könnte die Vorstellung, daß unser Strafrecht allenthalben von der Möglichkeit des Menschen zum Andershandelnkönnen durchdrungen ist, Bedenken in diesem entscheidenden Punkt beschwichtigen 21 . Die Erkenntnis, daß unser Strafrecht nur indeterministisch verstanden werden kann, liefert auch eine sichere Grundlage für den Begriff der Schuld, der aus dieser Grundlage herauswächst, und damit für das gesamte Schuldstrafrecht. Leferenz erklärte 1976 sehr dezidiert: Es „erscheinen alle Versuche, die Freiheitsfrage zu umgehen, einem echten Schuldstrafrecht nicht angemessen zu sein" 22 . Das gilt auch heute. Schon 1892 hat es der bedeutende Schweizer Strafrechtslehrer H . Pf'enninger mit folgenden Worten in aller Kürze auf den Punkt gebracht: „Ohne Schuld kein Verbrechen, ohne Verbrechen keine Strafe, ohne Freiheit keine Schuld" 2 3 . Daß der Täter, obwohl er sich anders entscheiden konnte, für das Unrecht entschied, macht ihn dafür verantwortlich und kann ihm zum sozialethischen Vorwurf gemacht werden. Schuld ist nach einer gängigen, auch vom B G H verwendeten Formel Vorwerfbarkeit. Anstelle dieser Formel, welche die Schuld in die Kompetenz eines neutralen Beurteilers verlegt, ziehe ich die Definition vor: Schuld ist das Belastetsein mit der Verantwortung für eine rechtswidrige Tat. In diesem Zusammenhang weise ich darauf hin, daß ich nicht nur die These vom indeterministischen Charakter unseres Strafrechts aufgestellt, sondern gleichzeitig nachzuweisen unternommen habe, daß ein deterministisches Maßregelrecht als Gegenkonzept zum Schuldstrafrecht in einer dem StGB entsprechenden Form nicht durchführbar wäre. Sehr mit Recht schreibt Tiemeyer, es konnte „bisher kein geschlossenes

19 Achenbach bei Schiinemann, in: Grundfragen des modernen Strafrechtssystems, 1984, 135 ff; Jacobs, Schuld und Prävention, 1976; Allgem. Teil 1983, 392 ff. 20 Vgl. Dreher/Tröndle wie Anm. 6, Rdn. 28 vor § 13 mit ausführlichen Nachw. 21 Vgl. meine Auseinandersetzung mit Roxin; wie Anm. 4 a, 52 ff. 22 ZStW 88, 40. 23 Grenzbestimmungen zur Criminalistischen Imputationslehre, 1892, 63.

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Konzept vorgelegt werden, das als Alternative zum bestehenden Schuldstrafrecht überzeugt" 24 . Das liegt in der Natur der Sache. Für ein deterministisches Maßregelrecht kommt es nämlich nicht auf den Schweregrad einer Tat an, sondern allein darauf, ob der Täter für die Zukunft gefährlich ist. Es kann jemand, der in einer Konfliktsituation einen Mord begeht, künftig ganz ungefährlich sein, während ein anderer, der Bagatelldelikte begeht, nach einem Prognosegutachten als künftiger Gewohnheitsverbrecher anzusehen ist. Die Tatbestände unseres geltenden Strafrechts sind für eine Gefährlichkeitsprognose untauglich. Ein Maßregelrecht kann mit solchen Tatbeständen nichts anfangen. Das berühmte Wort des Deterministen v.Liszt, daß das Strafgesetzbuch die Magna Charta des Verbrechers sei, erweist sich als nicht zu Ende gedachte Illusion. Gefährlichkeit eines Menschen kann sich überdies auf ganz andere Weise als durch Begehung von Taten im Sinne des Strafrechts zeigen, etwa durch eine geistige Erkrankung. Ob jemand gefährlich ist, der nach der bisherigen Terminologie schuldfähig oder schuldunfähig ist, kann keinen Unterschied machen. Ein Maßregelrecht kann aus dem einzigen Satz bestehen, daß gegen denjenigen, der für die Gesellschaft gefährlich ist, angemessene Maßnahmen zu ergreifen sind. Dem wäre dann ein Katalog der möglichen Maßnahmen anzufügen, der von einem bloßen Verweis über Geldbußen bis zur unbefristeten Verwahrung reichen würde. Jede Verwahrung müßte unbefristet sein, weil sich bei der Entscheidung nicht voraussagen läßt, wie der Verurteilte sich im Laufe der Verwahrung und ihrer zahlreichen Einflüsse entwickeln wird. Der Zeitpunkt, an dem er entlassen werden kann, weil er nicht mehr gefährlich erscheint, bleibt ungewiß. An rechtsstaatlichen Maßstäben gemessen wäre das alles nicht nur unerträglich, sondern auch grundgesetzwidrig. Schon 1910 hat Kohlrausch mit Recht erklärt, daß ein konsequenter Determinismus dem Strafrecht das Todesurteil spreche25. Nun gibt es eine große Zahl von Autoren, die da sagen: Die Frage der Willensfreiheit interessiert uns nicht, sie kann offenbleiben, das Strafrecht bedarf keiner Antwort. Die Zahl dieser Autoren ist sehr groß und stellt die herrschende Meinung dar26. Ich habe mich mit dieser Auffassung in meinem Buch eingehend auseinandergesetzt und meine, sie widerlegt zu haben27. Sie geht vor allem darauf zurück, daß Strafrechtler ein Unbehagen gegenüber einem Begriff empfinden, der ihnen unscharf, metaphysisch und unbeweisbar erscheint, ein Unbehagen, das sich bis

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Wie A n m . 2 , 529. Güterbock-Festschrift 1910, 23 (10). Vgl. die Ubersicht bei Lackner wie Anm. 6 Rdn. 26 vor § 13. Wie Anm. 4 a, 30 ff.

Unser indeterministisches Strafrecht

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zum Horror steigern kann. Die Strafrechtler atmeten auf, als es 1933 nach vergeblichen Entwürfen endlich gelang, das Wort Willensfreiheit aus dem Text des damaligen §51 StGB zu entfernen. Man wiegte sich in dem Glauben, den prekären Begriff damit in die Philosophie abgeschoben zu haben. Welch ein Irrtum. Meine These zeigt nun, daß das Strafrecht sehr wohl zu dem scheinbar ominösen Begriff Stellung nimmt, zwar nicht ausdrücklich, aber konkludent und deutlich genug und eindeutig im Sinn des Indeterminismus. Wenn dem aber so ist, hat es keinen Sinn mehr, die Frage nach der Willensfreiheit weiter als für das Strafrecht irrelevant zu erklären. Wie steht es nun mit den überzeugten Deterministen? Müßten sie zur Kenntnis nehmen, daß das geltende Strafrecht nur indeterministisch verstanden werden kann, so würden sie wohl mit einem Achselzucken erklären, daß es dann eben auf einer falschen Grundlage aufgebaut sei und revidiert werden müsse. Wohin eine solche Revision mit dem Ziel eines deterministischen Maßnahmenrechts führen müßte, habe ich bereits gezeigt. Bei manchen Vertretern des Determinismus mag noch nachwirken, daß er während des 19. Jahrhunderts eine dominierende Rolle in der Naturwissenschaft gespielt hat. Heute aber ist gerade dieser Determinismus tot 28 und damit einer wesentlichen Grundlage für einen psychologischen und strafrechtlichen Determinismus der Boden entzogen. In meinem schon mehrfach angeführten Buch habe ich nicht nur das dargelegt, sondern habe mich vor allem bemüht, den Determinismus zu widerlegen und dem Prinzip Willensfreiheit eine tragfähige Unterlage zu geben. Mein Gedankengang ist dabei im zusammenfassenden maßgeblichen Ergebnis der folgende: Der Mensch ist, wie vor allem die Gehirnforschung ergibt, nicht in der Lage, die Dinge in ihrem objektiven Wesen zu erkennen. Jedes Erkennen bleibt subjektiv. Denn „Jeder von uns lebt innerhalb des Universums des Gefängnisses - seines eigenen Gehirns" (Mountcastle). Es hat sich auch der Erkenntnisapparat des Menschen im Lauf der Evolution darauf hin entwickelt, das Uberleben in der Umwelt zu sichern, nicht aber darauf, eine objektive Erkenntnis der Dinge zu gewinnen (Lorenz). Weiter hat die moderne Physik gezeigt, daß bei dem Erkenntnisvorgang der Erkennende auf das zu erkennende Objekt einwirkt. Es besteht eine Wechselwirkung zwischen dem erkennenden Subjekt und dem erkannten Objekt, die wiederum eine objektive Erkenntnis ausschließt. Wir leben mit den Dingen in einer intersubjektiven Gemeinschaft. Das bedeutet letztlich: Die Wirklichkeit, so wie wir sie erkennen und erle-

28 Tiemeyer irrt, wenn er das bestreitet (wie Anm. 2, 532, Anm. 21).Vgl. die eingehende Darstellung in meinem Buch (wie Anm. 4 a, 185 ff).

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Eduard Dreher

ben, ist die Wirklichkeit für uns schlechthin. Es gibt für uns keine andere. Unser Erleben ist unsere Wirklichkeit. Deshalb ist aber auch unser Freiheitserlebnis, das wir, von seltenen Ausnahmen abgesehen, nicht nur an uns, sondern auch an unseren Mitmenschen beobachten, ein Teil der von uns allen erlebten Wirklichkeit. Es ist ein uns von vornherein gegebenes Essentiale unseres Menschseins, von dem wir uns gar nicht befreien können und das deshalb auch keines Beweises bedarf. Mein Freiheitsbegriff ist danach, weit davon entfernt, ein metaphysischer zu sein, ein anthropologischer. Tiemeyer meint, meine Auffassung stehe im Widerspruch zur Möglichkeit einer subjektunabhängigen Realität29. Das trifft nicht zu. Selbstverständlich gibt es diese reale Welt. Es ist dieselbe, die wir zu erkennen versuchen. Im Gegensatz zu Kant, für den das Ding an sich außerhalb der realen Welt existierte, ist diese objektive Welt an sich durchaus real. Ich behaupte nur, daß uns ihr Wesen verborgen bleibt. Es gibt für uns keine erkenntnisunabhängige Welt. Selbst die Welt, die wir als eine vor den Menschen existierende paläologische annehmen, erkennen wir in ihrem damaligen Sein nur durch unseren heutigen subjektiven Erkenntnisapparat. Tiemeyer verweist weiter auf einen Satz von Bunge, der behauptet: „Die in Rede stehende empirische Unbestimmtheit bezieht sich ausschließlich auf physikalische, durch Operatoren repräsentierte Variable" 30 . Das ist nicht richtig. Wie schon mein Zitat von Mountcastle zeigt, bezieht sich die Subjektivität (nicht Unbestimmtheit) unseres Erkennens auf sämtliche Dinge, mit denen wir zu tun haben. Außerdem: Wenn man Unbestimmtheit schon im physikalischen Bereich einräumt, wie will man dann Determination im psychischen behaupten? Selbstverständlich räume ich ein, daß meine Theorie kritischer Uberprüfung bedarf. Aber sie scheint mir doch gewichtig genug, um diskutiert zu werden. Tiemeyer schreibt zwar: „Der Versuch, Schuld auf eine unbewiesene und unbeweisbare Willensfreiheit zu gründen, ist nicht mehr zeitgemäß"31. Das mag zutreffen. Aber ist der Zeitgeist auch das Richtige? Auch er kann irren. Letztlich kommt es darauf an, nicht, was zeitgemäß, sondern was richtig ist. Und ich halte meine Theorie, die zeigt, daß die Willensfreiheit für uns besteht und als menschliches Existentiale keines Beweises bedarf, für richtig. (Das Manuskript wurde im April 1991 abgeschlossen)

29 30 31

Wie Anm.2, 532, Anm.21. Wie Anm.24. Wie Anm.2, 560.

Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht? R E I N H A R D VON H I P P E L

Der Straf-Prozeß ist kein wissenschaftliches Experiment, sondern eine Einrichtung zur Erreichung praktischer Staatszwecke. In ihm sollen nicht abstrakte Sätze aus logischen Prämissen abgeleitet, nicht sog. „Prinzipien" bis zu ihren äußersten Konsequenzen verfolgt, sondern es soll praktischen Bedürfnissen durch positive Auswahl der zweckmäßigsten Mittel und Vorkehrungen abgeholfen werden.

Leonard Jacobi*

Dedicatio Günter Spendel hat gegenüber den auch in der Rechtswissenschaft vorkommenden Moden und mit einer gewissen Plötzlichkeit weitgehend akzeptierten Axiomen immer einen kühlen Kopf und klaren Blick bewahrt. Die Einführung von Handlungslehren konnte ζ. B. zum Potential des Justizrechts nichts beitragen1, und die axiomatisch gesetzte Notwendigkeit der Strafbarkeit des untauglichen Versuchs erweist sich in einem fragmentarischen Strafrecht als nicht begründbar: Wer die Tat begeht, muß die Strafdrohung auf sich beziehen, wer sie realiter von Grund auf verfehlt, kann auch bei Straflosigkeit die Präventivwirkung der Strafe nicht mindern. Personalisierungen und Materialisierungen als Trend sind bei Spendel stets auf nüchterne Skepsis gestoßen. Deshalb ist es passend, ihm eine Abhandlung zu widmen, mit der versucht wird, aus den Bedingtheiten des Kriminalrechts als materiellem Justizrecht in einer

* Der Rechtsschutz im Deutschen Strafverfahren, 1883, S. 83. 1 Wir müssen wissen und begründen können, was keine die Zurechnung begründende Handlung ist, die Handlung kann Undefinierte Restmenge in einem iterativen Arbeitsprogramm bleiben.

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Reinhard von Hippel

zunehmend diffus werdenden Szenerie 2 unmittelbar und damit notwendig punktuell Kriterien zu entwickeln zur Uberprüfung der Brauchbarkeit von abstrakt-konzeptuell gewonnenen Produkten. I.

Materielles Strafrecht ist materielles Justizrecht; seit 1905 haben wir diesen treffenden Ausdruck zur Kennzeichnung eines wichtigen Sachverhaltes 3 : Strafrecht ist statisch-definitorisch nicht zureichend zu begreifen, wie es etwa der Ausdruck „staatlicher Strafanspruch" 4 suggeriert, sondern etwas, was „als solches keine unmittelbare Wirkung hat" 5 , vielmehr „im Strafprozeß . . . erst seine nähere Ausgestaltung" 6 findet. Folgerichtig überschreibt Karl Peters das zweite Buch seines Strafprozesses7 mit „bewegende Kräfte und Mittel". Für den Strafrechtler heute stellt sich die Frage, ob aus Stellungnahmen zu finalen/sozialen Handlungslehren, negativen Tatbestandsmerkmalen, personalem Unrecht, materieller Rechtswidrigkeit usw. abgeleitete Ergebnisse den Anforderungen, die der Prozeß stellt, noch standhalten. Die viel beklagte Kommunikationsstörung zwischen Theorie und Praxis wird viele Gründe haben. O b darunter einer auch nur partielle Abkehr strafrechtstheoretischer/strafrechtsdogmatischer Diskussionen vom Justizrecht ist, die den Produkten aus der Sicht der Praxis nur einen exotisch-dekorativen Wert zuordnete, ist zumindest kasuistisch überprüfbar, und bei positiven Ergebnissen wird man die Möglichkeit auch in nicht untersuchten Fällen in Betracht ziehen müssen.

II. 1. Irrtum

über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes a)

Irrtumslehren

Wenig macht den Studenten so viel Kopfzerbrechen wie die Behandlung dieser Irrtumskonfiguration, denn verschiedene Lehren führen bei 2 Nach Entfernung von sozialtherapeutischer Anstalt und Rückfall aus dem StGB und ersatzloser Streichung der relativ unbestimmten Jugendstrafe im J G G stellt sich ζ. B. die Frage, was denn nun mit der bezugslos gewordenen Parteinahme des Gesetzgebers zugunsten subjektiver Versuchstheorien und der Strafbarkeit der beiden wichtigsten Fälle des untauglichen Versuchs in den §§ 22, 23 StGB werden soll. 3 James Goldschmidt, Materielles Justizrecht. Rechtsschutzanspruch und Strafrecht, in: Festgabe für Hübler, Berlin 1905, S. 85 ff = SA Berlin 1905, S. 1 ff. 4 Auf den der Staat durch Begnadigung oder Amnestie „verzichten" kann; kritisch dazu schon Eberhard Schmidt, Begnadigung und Amnestie, in: Anschütz/Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts Bd. II, 1932, S. 663 ff. 5 Karl Peters, Die strafrechtsgestaltende Kraft des Strafprozesses, 1963, S. 10. 6 Karl Peters, aaO. 7 4. Aufl. 1985, S. 105 bis 524!

Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht?

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Fahrlässigkeitsstruktur zu verschiedenen Ergebnissen: Für den Finalisten handelt der sich unbegründet angegriffen Fühlende vorsätzlich und ist bei Vermeidbarkeit des Verbotsirrtums, also rechtsfahrlässiger Annahme der Anwendbarkeit eines „Erlaubnissatzes", die über § 1 7 StGB zu behandeln ist, unter Berücksichtigung von § 49 I StGB wegen Vorsatztat zu verurteilen. Bei ζ. B. Deutung des „Erlaubnissatzes" als „negatives Tatbestandsmerkmal" fehlt es insoweit am Vorsatz, und über § 1 6 12 StGB führt das Arbeitsprogramm - so es einen entsprechenden Fahrlässigkeitstatbestand gibt und nach § 265 StPO verfahren ist8 - zur Verurteilung wegen Fahrlässigkeitstat, sonst zum Freispruch. Fehlt ein Fahrlässigkeitstatbestand, so macht der Unterschied in der theoretischen Deutung zugleich den zwischen Freispruch und Verurteilung aus; und gibt es ihn, so hat bei gleicher Strafzumessung u. U. der unterschiedliche Urteilstenor schicksalhafte Bedeutung: Man bedenke die unterschiedlichen Einstellungschancen als Mitarbeiter z . B . in einer Baukolonne bei Verurteilung wegen vorsätzlicher, meist gefährlicher, u . U . schwerer oder undifferenziert fahrlässiger Körperverletzung 9 . Die Vorlage eines polizeilichen Führungszeugnisses kann bei den Einstellungsverhandlungen verlangt werden, seit die Erteilung z. Hd. des Antragstellers aus mißverstandenen Gründen des Datenschutzes nach §28 B Z R G möglich ist. Die Deutung der Rechtfertigungsgründe als „Erlaubnissätze" oder „negative Tatbestandsmerkmale" bewegt also zumindest auf dem Papier und ad usum delphini Welten. Man sollte deshalb eine eindringliche Stellungnahme der Rechtsprechung in diesem Streit erwarten. Statt dessen hat sich die Rechtsprechung selbst gegenüber Änderungen des Gesetzestextes als völlig resistent erwiesen: Solange es ihn gab, wendeten die Gerichte § 59 I a. F. entsprechend an, und seit es § 16 n. F. gibt, diesen wiederum analog. Wie ist das nach einer die finalistische Terminologie einführenden Gesetzesänderung möglich? Sogar nach der Einführung des Wortes Irrtum10!

Str., vgl. die Nachweise bei Kleinknecht/Meyer, StPO, 39. Aufl. 1989, §265 Rdn.9. Der rechtsethische und psychologische Unterschied zwischen Vorsatz- und Fahrlässigkeitstat ist in der Rechtsprechung bei der Wahlfeststellung scharf herausgearbeitet: BGHSt. 9, 390 [394/395], Großer Senat; 17, 210 [211 f]; einmaliger rein terminologischer Ausrutscher wegen historisch begründeter systematischer Schwierigkeiten bei den Aussagedelikten: BGHSt. 4, 340 ff; sachlich handelt es sich um eine Entscheidung zur Funktion des Fahrlässigkeitstatbestandes als Auffangtatbestand. 10 In § 59 StGB a. F. kommt das Wort Irrtum nicht vor. Der Text hatte den Vorteil klarzustellen, daß es um Probleme von Vorsatz und Fahrlässigkeit und die rechtliche Bewertung von Nichtwissen geht, lgnorantia ist nicht error, kann aber error determinieren. 8 9

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Reinhard von Hippel

Verweigern hier die rechtsanwendenden Instanzen als Normadressaten den Gehorsam? Wer ist bei dem Streit nun Sieger? Oder gibt es keinen, weil es keinen geben kann? Bevor wir diese Fragen beantworten können, brauchen wir zumindest einen skizzenhaften Aufriß der Bedeutung wichtiger Elemente der Verbrechenslehre im Justizrecht. b) Das justizrechtliche Problem: Die

Grundlagen

Die Justiz hat es mit zwei Arbeitsprogrammen zu tun: Dem des Gesetzgebers, dessen Produkt zur Anwendung steht, und dem Justizrecht, in dem sich das Produkt gesetzgeberischer Arbeit nicht nur punktuell bei der Frage historischer Auslegung als aufhellungsbedürftig erweist. Zur Frage der Rechtfertigungsgründe gibt es einen von der Rechtsprechung erarbeiteten Aufriß der gesetzgeberischen Probleme, der lange vor der speziellen Irrtumsproblematik ansetzt. Ihn gilt es zunächst einmal kurz anzuskizzieren: „Die Berücksichtigung allgemeiner..." Auslegungsregeln fällt nicht in das Gebiet der durch §261 StPO dem Tatrichter vorbehaltenen Beweiswürdigung und der hierauf gestützten Feststellung von Tatsachen, da jene Sätze eines Beweises nicht bedürftig sind; sie gehören vielmehr zur .richtigen' Anwendung der Rechtsnormen auf die festgestellten Tatsachen, die das Revisionsgericht nach § 337 StPO nachzuprüfen hat" 1 2 .

Die Bedeutung der Sachrüge im (Sprung-)Revisionsverfahren für die praktische Strafrechtspflege braucht hier sicher nicht näher dargelegt zu werden. Ihre Behandlung kann über § 121 II, § 136 I, § 136 II GVG in extremis vom Einzelrichter bis zu den Vereinigten Großen Senaten gelangen. „Außer der Tatbestandsmäßigkeit g e h ö r t . . . zum Begriff des Verbrechens die Rechtswidrigkeit [,] und zwar auch dann, wenn dieses Merkmal in der gesetzlichen Verbrechensform nicht ausdrücklich erwähnt ist (vgl. u. a. RGSt. Bd. 2 S. 377). . . . Unter welchen Voraussetzungen Handlungen, die den äußeren Tatbestand einer Straftat erfüllen, als nicht rechtswidrig zu erachten sind, ist nicht nur aus dem Strafrecht, sondern aus dem Ganzen der Rechtsordnung zu entnehmen. . . . Die Rechtssätze, aus denen [!] sich die Gründe [!] für die Rechtmäßigkeit oder - negativ ausgedrückt - für den Ausschluß der Rechtswidrigkeit (Rechtfertigungsgründe, Unrechtsausschließungsgründe [!]) ergeben, können dem gesetzten oder ungesetzten Recht angehören. Sie können insbesondere im Wege der Auslegung unter Berücksichtigung des Zwecks und des gegenseitigen Verhältnisses der geschriebenen Normen ermittelt werden" 13 .

11 Die Auslassung der „Allgemeinen Erfahrungssätze" und „Allgemeinen Denkgesetze" ist gerechtfertigt, weil sich die Aussage auf jedes der drei Glieder der Aufzählung bezieht und hier nur eines interessiert. Probleme bei den anderen Gliedern sind deshalb in diesem Zusammenhang unerheblich. 12 RGSt. 61, 151 [154 oben], 13 RGSt. 61, 242 [247], Hervorhebungen im Original.

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Erläuterungen: Rechtssätze verschiedenster Herkunft können die Gründe liefern, aus denen der abstrakte Unrechtstypus als zu weit geschneidert erscheint und eingeschränkt werden muß. Diese Gründe sind nicht die Rechtssätze verschiedenster Quellen, also keine „Erlaubnissätze", „Gewährungen" oder dergl., sondern „Rechtfertigungsgründe" = „Unrechtsausschließungsgründe", also Elemente des im Einzelfall anzuwendenden Rechtssatzes 14 . Deshalb bedeutet „Rechtfertigung" oder „Unrechtsausschluß" als terminologisch austauschbare Vokabel nicht in irgendeinem Sinne „an sich" Rechtfertigung oder Unrechtsausschluß, sondern lediglich: diese Handlung/Unterlassung ist strafrechtlich nicht als rechtswidrig aussagbar, nicht mit Strafe bedroht. Darüber hinaus scheidet sie als Anknüpfung für Notwehr (§ 32 StGB), Anstiftung (§26 StGB), Beihilfe (§27 StGB), Begünstigung (§257 StGB), Strafvereitelung (§§258, 258 a StGB), Hehlerei (§259 StGB) usw. aus, die alle eine „rechtswidrige Tat" voraussetzen. Nach dem Gesetz und der Rechtsprechung ist also die Tatbestandsmäßigkeit keine selbständige Bewertungsstufe. Ihre Feststellung ist vielmehr ein notwendiges Element im strafrechtlichen Arbeitsprogramm, an dessen Anfang und Ende immer und immer nur die Frage nach der Strafbarkeit einer bestimmten Person in bezug auf ein bestimmtes Geschehen steht. Es gibt in unserem Staat kein Gesetz, nach dem strafrechtliche Sanktionen aufgrund tatbestandlichen Verhaltens i. S. bloßer Deliktstypizität ohne darauf bezogenes Rechtswidrigkeitsurteil verhängt werden können. „Der praktische Unterschied zwischen den Fällen, in welchen das Strafgesetzbuch die Rechtswidrigkeit [ζ. B.] des Vorsatzes in den Thatbestand aufgenommen hat, und den Fällen, in welchen dies unterlassen ist, besteht lediglich darin, daß der Richter in den Fällen der ersten Art die Rechtswidrigkeit ausdrücklich feststellen muß, während er es in den Fällen der zweiten Kategorie unterlassen kann, insofern nicht die Lage der Sache und insbesondere ein auf den Mangel der Rechtswidrigkeit gestützter Einwand des Angeklagten ihn dazu nötigt" 15 .

Erläuterungen: Der gesetzgebungstechnische Unterschied hat keinerlei materiellrechtliche, sondern ausschließlich prozessuale Bedeutung: Ist z . B . bei § 2 4 0 StGB das Moment „rechtswidrig m i t . . . " (dazu die Legaldefinition des § 2 4 0 II StGB) oder bei §242 S t G B das Moment „Absicht rechtswidriger Zueignung" nicht in den Entscheidungsgründen (§267 StPO) ausdrücklich geprüft, so begründet das regelmäßig die Sachrüge nach § 337 StPO 1 6 mit der Folge, daß die Entscheidung (§ 353 I StPO) nebst zugrundeliegenden Feststellungen (§ 353 II StPO) aufzuhe-

14 Zu dem Arbeitsprogramm der Bildung des konkret vollständigen Strafrechtssatzes im Strafprozeß ausführlich mein Beitrag in der FS für Dietrich Oehler, 1985, S. 43 ff. 15 RGSt. 2, 376 (377 f], Hervorhebung im Original. 16 Vgl. dazu z.B. Kleinknecht/Meyer (o. Fn.8) Rdn.20ff zu §337.

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ben und die Sache an einen anderen Spruchkörper (§ 354 II StPO) zur erneuten Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen ist. Läßt dagegen der wegen Einbruchdiebstahl Verurteilte im Wege der Revision rügen, das Gericht habe es unterlassen, sich mit dem Problem der Notwehr zu befassen, obwohl doch bereits Eigentum Diebstahl sei und er sich nur gegen „strukturelle Gewalt" gewehrt habe, so kann das Gericht auf Antrag der Staatsanwaltschaft sogar ohne Verhandlung durch Beschluß die Revision gem. § 349 II StPO als offensichtlich unbegründet verwerfen. Diese Unterschiede sind von großer praktischer Bedeutung, aber ohne materiellrechtlichen Gehalt, der es erlaubte, zwischen „nicht tatbestandsmäßig" und „bloß gerechtfertigt" zu unterscheiden. Diese modische Unterscheidung läßt sich aus dem Gesetz nicht begründen. Der Gesetzgeber regelt also die an die Urteilsgründe zu stellenden Forderungen nicht nur abstrakt in §267 StPO, sondern wesentlich konkreter und damit qualifizierter im materiellen Strafrecht bei der Formulierung eines jeden Tatbestandes: Er setzt kraft Zuständigkeit materielles Justizrecht17. Eine Analyse des gesetzgeberischen Arbeitsprogramms und Gewichtung von dessen Möglichkeiten und Unmöglichkeiten in bezug auf das Produkt hat zudem die Zulässigkeit der Formulierung eines Rechtfertigungsgrundes durch die Rechtsprechung gebracht, hier: den übergesetzlichen Notstand als Einschränkung des § 218 StGB a. F. 18 . Ob ein bestimmtes Gesetz sich gleichfalls als zu weit geschneidert erweist, ob und gegebenenfalls unter welchen konkreten Vorgaben der Gedanke des übergesetzlichen Notstandes paßt, bleibt in dieser Entscheidung notwendig offen: geometrische Zwänge, insbesondere Systemzwänge, kennt die Rechtsprechung nicht: die Gerichte haben zu entscheiden und Entscheidungen zu begründen. „Ebenso wenig wie bloße Verwaltungsanordnungen einen Rechtfertigungsgrund schaffen, d. h. den Geltungsbereich des Strafgesetzes einengen können, haben sie die Kraft, einen das U n r e c h t tatbestandsmäßigen Verhaltens ausschließenden Rechtssatz, mag er auf materiellem Gesetz oder Gewohnheitsrecht beruhen, aufzuheben und damit ein Verhalten, das bisher nicht strafbar war, zu kriminellem [!] U n r e c h t zu erklären" 1 9 .

Erläuterungen: Es geht nicht um „personales" oder sonst irgendwelches allgemeines Unrecht, sondern ausschließlich um strafrechtliches. „Strafrechtliches Unrecht" ist deckungsgleich mit „rechtswidrige Tat". 17 U m Fehlinterpretationen vorzubeugen: E s geht hier nur um den Partikel „rechtswidrig" ζ. B . in § 2 4 2 S t G B hinsichtlich der Zueignungsabsicht, die ihrerseits als subjektives Unrechtselement (oder wie immer benannt) die materiellrechtliche Vollendung des Delikts vorverlagert; daß dies bei der Gesetzgebung gesehen ist, beweist § 2 5 2 S t G B . 18 R G S t . 61, 242 ff, verfassungsrechtlich unbedenklich, da das Feld der Strafbarkeit einschränkend. 19

B G H S t . 11, 241 [252],

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Rechtfertigungsgründe schränken das Feld der Strafbarkeit ein. Dazu sind Verwaltungsbehörden nicht befugt, weil dadurch gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung verstoßen würde. Das Aufheben eines Rechtfertigungsgrundes bedeutete in dessen Umfang Begründung von Strafbarkeit, die nur dem Gesetzgeber zusteht 20 . „Durch die Heranziehung des Begriffs der Zumutbarkeit sollte keineswegs... ein über die gesetzlich umschriebenen Fälle hinausreichender übergesetzlicher Entschuldigungsgrund der Nichtzumutbarkeit anerkannt werden. Der erkennende Senat vertritt vielmehr im Hinblick auf die Entstehungsgeschichte der Vorschriften über die Entschuldigungsgründe den Standpunkt, daß nach geltendem Recht dem Täter bei vorsätzlichen Straftaten andere als die im Gesetz umschriebenen Entschuldigungsgründe nicht zugebilligt werden können" 21 .

Erläuterungen: Bei den Rechtfertigungsgründen geht es um eine Korrektur von gesetzgebungstechnisch wegen der Vielfalt von Lebensvorgängen ζ. T. zu weit geratenen abstrakten Deliktstypen. Deshalb ist auch nur die rechtswidrige Tat strafrechtlich Unrecht. Bei den Entschuldigungsgründen geht es dagegen um immer dieselben deliktsunspezifischen menschlichen Schwächen und Bindungen, die sich prinzipiell abschließend aufzählen und gewichten lassen. § 323 a StGB ist gegenüber dem Bezugsdelikt Auffangtatbestand. „Nicht anders liegt es in den Fällen, in denen der Gesetzgeber sich nicht damit begnügt hat, die vorsätzliche Verletzung eines bestimmten Rechtsguts unter Strafe zu stellen, sondern in einer weiteren Strafvorschrift [!] auch die bloß fahrlässige Verletzung dieses Rechtsguts erfaßte... Er hat damit zugleich zu erkennen gegeben, daß auch die Fälle erfaßt werden sollen, in denen die vorsätzliche Tat nicht nachgewiesen werden kann, aber für den Fall, daß dem Täter vorsätzliches Handeln nicht zweifelsfrei nachzuweisen ist, zumindest eine fahrlässige Verletzung des geschützten Rechtsguts außer Zweifel steht" 22 .

Erläuterungen: Der Gesetzgeber schafft Felder der Strafbarkeit mit Elementen des Besonderen wie des Allgemeinen Teils. D e r Bundesgerichtshof bestimmt zwar Fahrlässigkeit im Verhältnis zum Vorsatz als aliud2*, die Funktion des Fahrlässigkeitstatbestandes aber im Ergebnis in Ubereinstimmung mit der gesetzlichen Anweisung des § 4 0 2 P r C r O 1805 als Auffangstatbestand: Es kommt dann auf die (partielle) begrifflich-definitorische Unvereinbarkeit von Vorsatz und Fahrlässigkeit nicht an, wenn feststeht, daß sich der Täter strafbar gemacht hat und er entweder seiner Schuld entsprechend oder geringer, als seiner Schuld entspräche, bestraft wird. Zur begrifflich-definitorischen Unvereinbarkeit nimmt die Entscheidung überhaupt nicht Stel20 Entgegen BGH aaO reichte eine Rechtsverordnung dazu nicht aus, es brauchte ein formelles Gesetz, vgl. dazu BVerfGE 14, 254 f. 21 RGSt. 66, 397 [399], 22 BGHSt. 17, 210 [212], 23 Vgl. insbesondere BGHSt. 4, 340 [341]; zur Deutung von RGSt. 41, 339 s. meinen Beitrag zur Festschrift für Dietrich Oehler, 1985, insbesondere S. 59.

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lung: Es fehlt jeder Anlaß dazu. Die Beweisfrage

nicht und die Funktion des Auffangstatbestandes

betrifft

die

Definitionen

ebensowenig.

c) Die justizrechtliche Frage des Irrtums über die tatsächlichen Voraussetzungen eines Rechtfertigungsgrundes Nach dem kurzen Aufriß sollten jetzt die Fragen nach dem Gesetzesgehorsam usw. beantwortbar sein. Der benannte Irrtumsfall enthält phänomenal eine Irritation: Der sich angegriffen Wähnende will zu seiner/fremder Rettung verletzen/töten . . . Er will dies aber nur unter der Annahme von Umständen, die sein Tun vor der Prädikation als rechts widrig/mit Strafe bedroht bewahren. Hier stellt sich für den Strafrechtswissenschaftler ernsthaft die Frage nach dem Verhältnis von Strafrechtssatz und Norm und damit die Frage nach der Adressiertheit der Strafrechtssätze 24 . Für die Justiz ist es einfach: Der zuständige Richter ist unbestreitbar Adressat des Strafrechtssatzes. Die Analyse des Sac^problems auf der Realebene ergibt: Wenn nach einem Beschreibungsansatz z.B. auch „ein besonnener Mensch" einen hier und jetzt notwendig zu brechenden Angriff erlebt hätte, dann kann es kein strafbares Tun sein. Wenn es kein Angriff war, so kann die Gegenwehr des Opfers vermeintlich notwendiger Verteidigung nicht mit Strafe bedroht sein. War die Fehldeutung des Geschehens vermeidbar, so haben wir es mit der klassischen Fahrlässigkeitsstruktur in der Schreibweise des Bundesgerichtshofes zu tun, für den die Vorhersehbarkeit ein Element der Vermeidbarkeit ist 25 . Insofern kann sich durch Austauschen von Terminologien sachlich nichts ändern. Eine Lösung über § 1 7 scheidet wegen der Fahrlässigkeitsstruktur aus. Maßgebend sind letztlich dieselben Gründe, die bei der Wahlfeststellung zum Kriterium rechtsethischer und psychologischer Vergleichbarkeit geführt haben 26 . Es bleibt die Suche nach den besten Darstellungsmethoden für die Entscheidungsgründe: Die Begründung soll klar sein, insbesondere für den Angeklagten wie gegebenenfalls Nebenkläger als Laien nachvollziehbar. Hier bleibt die Irritation: Der Angeklagte wollte den Nebenkläger verletzen, aber nur, weil dieser aus der Sicht des Angeklagten als Räuber die alter Dame auf der Parkbank würgte.

Dazu näher unten sub 4. Vgl. B G H S t . 2, 2 2 6 [228]. 26 D e r Sache nach ohne den Ausdruck bereits die Plenarentscheidung R G S t . 68, 257, inzwischen auch in der terminologischen Kodierung einheitliche ständige Rechtsprechung seit der Entscheidung des G r o ß e n Senats B G H S t . 9, 3 9 0 [ 3 9 2 f f ] ; 11, 26 [28]; 16, 184 [187]; 20, 100 [101]; 21, 152 [154]; 22, 154 [156]; 23, 203 [204]; 25, 182 [123]; 30, 77 [78], 24

25

Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht?

31

Negative Tatbestandsmerkmale erlaubten, das auf eine nicht mit Strafe bedrohte Rettungshandlung zielende Wollen des Täters scharf zu markieren; die Beschreibung des auf Körperverletzung des Nebenklägers gerichteten Wollens unter der Annahme weiterer Elemente wird jenem besser einleuchten. Der Angeklagte ist notwendiger Verfahrensbeteiligter und kommt in jedem Verfahren vor. Nebenkläger müssen zugelassen werden und kommen nur ausnahmsweise vor. Die Häufigkeit der Nebenklage in Fällen sog. Putativnotwehr ist statistisch nicht erfaßt: also (leichte) Präferenz besserer Verständlichkeit für den Angeklagten? Die bisher noch offengelassene Frage findet für die Justiz eine einfache Antwort, die sich aus sachlichen Unterschieden der Arbeitsprogramme der Gesetzgebung und der Rechtsprechung ergibt: Rechtfertigungsgründe sind vom Arbeitsprogramm des Gesetzgebers aus als das Feld der Strafbedrohung korrigierend und damit determinierend zu beschreiben. Da das Feld der zunächst zu weit gesteckten Strafdrohung eingeschränkt wird, ergibt es Sinn, die Strafeinschränkungsgründe rein materiellrechtlich als negative Tatbestandsmerkmale zu deuten. Justizrechtlich ist diese Deutung dagegen nicht zu halten: Wenn ein Rechtfertigungsgrund — ζ. B. Notwehr — negatives Tatbestandsmerkmal ist, dann sind es alle, bisher unbekannte eingeschlossen. Dann müssen bei jedem beliebigen Strafrechtssatz alle bekannten und unbekannten negativen Tatbestandsmerkmale in den Entscheidungsgründen explizit wenigstens kurz ausgeschlossen werden. Das wäre unmöglich, formelhaft, verwirrend. Verzichtete man darauf, könnte erfolgreich Revision gem. §337 StPO mit unvollständiger und damit unrichtiger Anwendung des Strafgesetzes als justizrechtlicher Norm begründet werden. Das ist die Benutzung eines aus der Sicht des Richters im übrigen vielleicht vorteilhaften, aber letztlich abstrakt-theoretischen Beschreibungsansatzes nicht wert: Die Aufgabe sowohl sachgerechter wie auch gegenüber Querulanten revisionssicherer Entscheidungsbegründung läßt sich sehr einfach lösen durch analoge Anwendung von § 59 StGB a. F . / § 16 StGB n . F . d) Die

Antworten

Zurück zu den Fragen am Ende von a): Im dogmatischen Streit um negative Tatbestandsmerkmale kann es also weder Sieger noch Verlierer geben, denn die Raison des Justizrechtes liegt jenseits der ganzen Diskussion. Da diese im entscheidenden Punkt prozessual determiniert ist, kann auch Einwirkung auf die materiellrechtliche Gesetzesterminologie keine Stellungnahme erzwingen. Es fehlt also auch nicht am Gesetzesgehorsam. Auch erweist sich die Rechtsprechung im Längs- wie Querschnitt (Wahlfeststellung) als konsistent, also willkürfrei. Selbst ein

32

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justizrechtliches Konzept ist vorhanden, das eine Verortung des Problems erlaubt. Trotzdem ist in diesem Umfeld eine umfängliche Teilbibliothek entstanden, die für gute Richter bedeutungslos und für unsichere ebenso verwirrend ist wie für Studenten, die zusätzlich zu oder gar statt einer erhellenden Einführung in Determinanten des Justizrechts eine Fülle von „Theorien" und daraus abgeleiteten „Lösungen" für jede erdenkliche Fallkonstellation lernen müssen. Abwendung vom Justizrecht kommt also vor, und die Folgen sind tragisch: Mit dem Ausklammern der rational diskutierbaren Probleme und Relevanzkriterien des Justizrechts sind die konkurrierenden normativen Systeme auf ein Bekenntnis zum System oder das Interesse am Erhalt des Systems fundiert, also gegenüber kritischen Argumenten immunisiert 27 . Deshalb erscheint ebenso notwendig jeder, der anders argumentiert als man selbst, als böswillig und/oder dumm: Kommunikation ist unmöglich 28 , weil das Verbindende abhanden gekommen ist: Die Sache der Justiz 29 .

2.

„Doppelkausalität"

Ein beliebtes Unterrichtsbeispiel: Α und Β schütten, ohne voneinander zu wissen, jeder eine tödliche Dosis desselben Giftes in C's Tasse Kaffee. C stirbt an dem Gift. Frage: Sind Α und Β wegen versuchten oder vollendeten Mordes zu bestrafen? Die Sponsoren der Vollendungslösung rechnen wie folgt zu: Jede der einzelnen der Giftmengen kann hinweggedacht werden, ohne daß der Erfolg entfällt, aber es ist unmöglich, beide hinwegzudenken, ohne daß die Vergiftung des C ausbleibt. Deshalb sei das Tun des Α wie des Β kausal für den Tod des C 3 0 .

27 Vgl. dazu Albert, Wertfreiheit als methodisches Prinzip, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 1. Ausg. 1965, S. 181 ff, insbes. in der Zusammenfassung S . 2 0 0 f Nrn. 3, 6, 8 d und e. 28 Vgl. dazu ausf. auf empirischer Basis: Watzlawick/Beavin/Jachson, Pragmatics of Human Communication. Α study of Interactional Patterns, Pathologies and Paradoxes. N Y 1967 und öfter. Deutsche Ausgabe: Menschliche Kommunikation. Formen, Störungen, Paradoxien. Bern, 1969 und öfter. 29 Titel einer Publikation von Eberhard Schmidt, 1961. 30 Ebenso aufschlußreich wie repräsentativ die auflagenstärkste Darstellung „Strafrecht, Allgemeiner Teil" von Wessels, 20. Aufl. 1990, S. 47: „,Von mehreren Bedingungen, die zwar alternativ, aber nicht kumulativ hinweggedacht werden können, ohne daß der Erfolg entfiele, ist jede erfolgsursächlich' (vgl. Ebert, Jura 79, 561, 568; Wenzel, Lb S. 45)." - Der in Anführungszeichen gesetzte Satz wird als Quelle behandelt ohne Urheber, ohne Erklärung, und sei es auch nur der Bedeutung von „erfolgsursächlich" im Gegensatz zu „ursächlich"; vgl. weiter ζ. B. Schänke/Schröder/Lenckner, 23. Aufl. 1988, Rdn. 82 vor § 13 m. w. N.

Abkehr der Strafrechtswissenschaft vom Justizrecht?

33

1. Frage: Was hat das mit Kausalität zu tun? Wie soll der Zurechnungsmodus jenseits notwendiger Teilnahme (C trinkt den Kaffee) bei Mittäterschaft (zwischen Α und B , § 2 5 II StGB) begründet werden? 2. Frage: Ist diese Emanzipation von anerkannten Grundsätzen notwendig? Solange es beim Versuch nur eine Kannmilderung der Strafe gibt (§ 23 II S t G B ) und es beim Tod des Opfers keine rationale Begründung gibt, sie anzuwenden, unterscheiden sich die Lösungen der Kontrahenten im Ergebnis nicht: Es gibt lebenslängliche Freiheitsstrafe für Α und B, sollte ein solcher Fall je vorkommen und das Verfahren auch beide einbeziehen. 3. Frage: Läuft nicht die Justiz bei einer Kausalitätsprüfung, aus der im Ergebnis Bestrafung wegen „nur" versuchten Mordes folgt 31 , Gefahr eines ihrem Ansehen abträglichen und zugleich sinnlosen Wiederaufnahmeverfahrens, wenn zunächst nur A's Tat bekanntgeworden, er wegen vollendeten Mordes verurteilt ist und zehn Jahre später der angetrunkene Nebentäter Β in der Wirtschaft damit renommiert, Α habe man gefangen, der sei ja blöd, aber ihn habe man nicht einmal verdächtigt?

Die Antwort auf diese justizrechtlich

ernst zu nehmende

Frage ist

eindeutig: Wiederaufnahmeverfahren sind zwar bei neuen Beweismitteln, darunter dem Geständnis eines Nebentäters, gem. § 3 5 9 Ziff. 5 S t P O grundsätzlich zulässig, aber nur, wenn eine geringere Bestrafung zu erwarten ist. Dies ist aber aus denselben Gründen nicht der Fall, die die Anwendung der Kannmilderung des § 2 3 II S t G B ausschließen. Die im Einklang mit klaren Grundlagen der Zurechnung stehende Versuchslösung birgt also keinerlei justizrechtliche Risiken für den Fall einer Verurteilung wegen vollendeten Delikts bei latenter Nebentäterschaft. Das Beispiel wurde aufgegriffen, weil es u. a. das Aufgeben justizrechtlicher Bezüge besonders deutlich zu machen erlaubt, auch wenn es sehr konstruiert ist. Die Uberprüfung gilt zudem auch für die Justiz immer wieder beschäftigende praktische Fragen, wie ζ. Β.: Versuchte vorsätzliche Tötung und anschließende fahrlässige Tötung oder vollendetes vorsätzliches Delikt 32 .

3. Idealkonkurrenz

ja oder nein?

Jeder, der die Vorlesung „Strafrecht, Besonderer Teil" gelesen hat, kennt die immer wiederkehrende Konstellation bei Konkurrenzproblemen: Idealkonkurrenz ja, die Lehre; Idealkonkurrenz nein, die Rechtsprechung. Auch dahinter verbergen sich die Relevanzkriterien zweier verschieden determinierter Arbeitsprogramme:

B G H N J W 1966, 1823 ff. Nicht immer braucht die Lösung über vorsätzliches vollendetes Delikt so tragfähig zu sein wie im Falle der - kontroversen - Entscheidung BGHSt. 14, 193 f. 31

32

34

Reinhard von Hippel

Das Arbeitsprogramm des Dozenten hat zum Gegenstand, die Studenten anzuleiten, den Unrechtsgehalt der Tat so vollständig wie möglich zu erfassen. Das ist in der materiellrechtlichen auf die Tatbestandsseite des Rechtssatzes beschränkten Universitätsausbildung hilfreich bis hin zur Entwicklung von Begriffsnetzen im Gehirn. Aus der Sinnhaftigkeit eines Arbeitsprogramms folgt aber noch nicht, daß divergierende Ergebnisse aus einem anderen Arbeitsprogramm einen diskutierbaren Meinungsstreit ergeben. Hier wäre eine Diskussion unmöglich: Das Arbeitsprogramm des Praktikers umfaßt immer den vollständigen Strafrechtssatz, also auch die Rechtsfolgenseite, zu der im akademischen Gutachten keine Ausführungen zu machen sind, und die prozessualen Filter 33 . Hinsichtlich der Rechtsfolgenseite sehen die Alternativen so aus: Idealkonkurrenz ja Strafzumessung i. e. S. 34

Strafbemessung i. e. S. 35

nein

Strafzumessung i. e. S.3
wn-Fragments wird der Grundsatz, daß bei nachträglicher Genehmigung eines ermächtigungslosen fremden Handelns der Genehmigende das fremde Handeln so gegen sich gelten lassen muß und dessen Konsequenzen ihn so treffen, wie wenn er den Handelnden zuvor ermächtigt hätte - ratihabitio mandato comparatur 27 - , auf die deiectio

24 Ulp. D. 46,8,12,1; id. D. 46,3,12,4; id. D. 3,5,5,11 f; Paul. D. 12,6,6 pr-2. Vgl. Käser I (Fn. 23), 264 ff. - Unmittelbare Stellvertretung kennt das römische Recht nicht; siehe Käser I (Fn. 23), 260 ff. 25 Käser I (Fn. 23), 265; Vincenzo Arangio-Ruiz, II mandato in diritto romano (1949; Neudruck 1965), 200 ff. 26 Zur Frage, ob bei dieser die ratihabitio auch im Innenverhältnis wirkt, indem sie die negotiorum gestio nachträglich in ein schuldrechtliches mandatum verwandelt, siehe Arangio-Ruiz (Fn.25), 197 ff; Alfredo Calonge, Ratihabitio mandato comparatur, in: Estudios de derecho romano. Homenaje al Profesor Don Carlos Sanchez del Rio y Peguero, = Temis 21 (1967), 260 ff; Käser I (Fn.23), 577, 589; Zweiter Abschnitt, 2. Aufl. (1975), 603. 27 In dieser Formulierung des Grundsatzes, die sich außer in D. 43,16,1,14 auch anderswo in den Digesten findet (D. 46,3,12,4; D. 50,17,152,2), ist mandatum - entgegen Arangio-Ruiz (Fn.25), 200 und Calonge (Fn.26), 254f, 257 - nicht im technischen Sinne des schuldrechtlichen Vertrages, sondern im Sinne von Ermächtigung (iussum) zu verstehen; so zutreffend Cristoforo Cosentini, «Ratihabitio mandato comparatur», Annali del Seminario Giuridico dell'Universitä di Catania 1 (1947), 240 ff, 248 ff, 257 ff; Giovanni Nicosia, Studi sulla «deiectio» (1965), 107 Anm.44; Renato Quadrato, Labeo 20 (1974), 218 Anm.43.

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angewendet 28 . Mit dem Bezug auf die gewaltsame Besitzstörung (deiectio) ist das Institut der ratihabitio bereits nahe an den deliktischen Bereich herangerückt. J a im letzten Satz des § 14 - rectius enim dicitur in maleficio ratihabitionem mandato comparari - wird, wenn man ihn streng auf das Vorangegangene bezieht, die deiectio geradezu als maleficium, also als Delikt, bezeichnet. Eben dies freilich begründet, da die deiectio zwar nach justinianischer, nicht aber nach klassischer Auffassung ein Delikt darstellt, den Verdacht, daß der Satz rectius enim dicitur in maleficio ratihabitionem mandato comparari zumindest in dieser Form nicht klassisch, sondern justinianisch ist 29 . Doch ob klassisch oder nachklassisch, ulpianisch oder justinianisch, echt oder interpoliert: Für die Wirkungsgeschichte des Satzes, um die es im folgenden gehen wird, spielt diese Frage keine Rolle. Und weiter: Mag der Satz in maleficio ratihabitionem mandato comparari (D. 43,16,1,14 i. f.) auch eigentlich die deiectio meinen, so läßt er sich bei wörtlichem Verständnis doch auch auf die wirklichen klassischen Delikte (furtum, damnum iniuria datum, iniuria etc.) beziehen, für die der Ausdruck maleficium in den römischen Quellen gebräuchlich ist 30 . Der nachträglichen Genehmigung (ratihabitio) zugänglich wären demnach auch deliktische Handlungen wie Diebstahl, Sachbeschädigung, Körperverletzung und Beleidigung 31 . Der Bereich des Privatrechts wäre damit allerdings noch immer nicht verlassen. Denn es handelt sich um Delikte im privatrechtlichen Sinne, also Unrechtstaten, aus denen ein Anspruch des privaten Verletzten auf Zahlung einer Geldbuße (poena privata) entspringt. Den Satz rectius enim dicitur in maleficio ratihabitionem mandato comparari in D. 43,16,1,14 über die Privatdelikte hinaus auf kriminelle, das heißt öffentlich strafbare Taten 32 zu beziehen, was nach Wortsinn und sonstigem Gebrauch des Ausdrucks malefi-

28 Cosentini (Fn.27), 249 f, 259; Käser I (Fn.23), 579; Heumann/Seckel, Handlexikon zu den Quellen des römischen Rechts, 10.Aufl. (1958), s.v. «Ratus»; siehe auch Arangio-Ruiz (Fn. 25), 204 f; Calonge (Fn. 26), 256 ff. - Der damit angesprochene Teil des §14 - bis et hoc verum est - ist entgegen manchen Verdächtigungen echt; so zutreffend Nicosia (Fn.27), 106ff Anm.43^16; Calonge (Fn.26), 257f. 29 Arangio-Ruiz (Fn. 25), 205 ff; Giannetto Longo, La complicitä nel diritto penale romano, Bullettino dell'Istituto di diritto romano 61 (1958), 199; Nicosia (Fn.27), 108 Anm. 46; Calonge (Fn. 26), 258. 30 Siehe etwa Inst.Iust.4, 1 pr; D. 47,6,1 pr. 31 Contardo Ferrini, Diritto penale romano (1902; Nachdruck 1976), 118 meint freilich, der Grundsatz ratihabitio mandato comparatur beziehe sich insoweit nicht auf die Genehmigung einer abgeschlossenen Tat, sondern auf die während des Delikts vor seiner Beendigung erteilte und damit als gewöhnliche Teilnahme zu beurteilende Genehmigung. 32 Zum Unterschied zwischen delicta privata und crimina publica im römischen Recht siehe Käser I (Fn.23), 609f.

Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten

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cium an sich möglich wäre33, verbietet der eindeutig privatrechtliche Zusammenhang der Stelle34. N u n haben jedoch Justinians Kompilatoren den hier in Rede stehenden Satz noch an einer anderen Stelle der Digesten verwendet, nämlich im Titel De diversis regulis iuris antiqui. Hier lautet er lapidar: Ulp. D. 50,17,152,2. In maleficio ratihabitio mandato comparatur.

Und hier, wo er aus dem besitzrechtlichen Zusammenhang gelöst als allgemeingültige Regel erscheint, kann der Satz in der Tat dahin verstanden werden, daß nicht nur bei besitzstörenden und bei deliktischen, sondern auch bei kriminellen Handlungen die nachträgliche Genehmigung dem vorher erteilten Mandat gleichsteht35. Die Kompilatoren dürften dies freilich bei D. 50,17,152,2 nicht im Sinn gehabt haben, und auch objektiv ist der Zusammenhang von D. 50,17,152,2 mit dem interdiktalen Besitzschutz nicht zu verkennen 36 . Der römischrechtliche Satz in maleficio ratihabitio mandato comparatur, sei er nun klassischer oder justinianischer Herkunft, betrifft die deiectio und zielt jedenfalls auf privatrechtliche Folgen, nicht auf kriminalrechtliche Verantwortlichkeit37. So kann es auch angesichts von D. 43,16,1,14 und D. 50,17,152,2 bei der Feststellung bleiben, daß das römische Recht die öffentliche Strafbarkeit der nachträglichen Billigung oder Genehmigung eines von einem anderen verübten Verbrechens nicht kennt 38 .

33 Gegen die gelegentlich behauptete Beschränkung von maleficium auf Privatdelikte siehe die bei Käser I (Fn.23), 609 Anm. 2 zitierte Literatur. Vgl. auch Heumann/Seckel (Fn. 28), s. v. «Maleficium». 34 Zutreffend München (Fn. 17), 89 f. 35 Vgl. Rein (Fn. 17), 194 f; Heinrich Luden, Abhandlungen aus dem gemeinen teutschen Strafrechte, Zweiter Band (1840), 255 Anm. 2. 36 Der Zusammenhang ergibt sich aus der inscriptio des Fragments 152 - Ulp. libro 69 ad ed.; siehe Otto Lenel, Palingenesia iuris civilis (1889; Nachdruck 1960), Vol. alt., Sp. 814, 815 - und aus dem vorangehenden § 1 (Deicit et qui mandat). 37 Mommsen (Fn. 17), 101 Anm. 3; Ferrini (Fn.31), 118; Gioffredi (Fn. 19), 118; München (Fn. 17), 88 ff. - Anderer Ansicht Luden (Fn. 35), 253, 255 Anm. 2; Rein (Fn. 17), 194 f. 38 Zum selben Ergebnis kommt auf fragwürdigem Wege Luden (Fn. 35), 253 ff. Ausgehend von der (hier abgelehnten) Voraussetzung, daß D. 50,17,152,2 kriminalrechtliche Bedeutung hat, zugleich geleitet von der Annahme, daß dem römischen Strafrecht die Strafbarkeit der Genehmigung begangener Verbrechen - ein Grundsatz, „dessen Ungerechtigkeit und Unbrauchbarkeit dem gesunden Verstände von selbst einleuchtet" - nicht zuzutrauen sei, will Luden den Satz in maleficio ratihabitio mandato comparatur in D. 50,17,152,2 dahin interpretieren, daß in ihm „nicht von der Genehmigung eines bereits verübten Verbrechens . . . , sondern nur von der Genehmigung des verbrecherischen Planes, den ein Anderer entworfen und mitgetheilt hatte" die Rede ist; so werde der Genehmigende „zum wirklichen conscius und socius des eigentlichen Thäters", zum Komplottanten und Gehilfen. Gegen diese durch nichts begründete Auslegung des Textes bereits Rein (Fn. 17), 194 f.

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2. α) Bereits die Glossatoren beziehen indessen den Satz der römischen Quellen, daß bei maleficia die ratihabitio dem mandatum gleichsteht (D. 43,16,1,14 und D. 50,17,152,2), nicht nur auf Besitzschutz und privatrechtliche Deliktshaftung, sondern unter Berufung auf die allgemeine Fassung jenes Satzes auch auf die kriminalrechtliche Verantwortlichkeit. Ausgenommen werden nur solche Taten, die ihrer Natur nach einen eigenen körperlichen Akt erfordern und daher in mittelbarer Täterschaft auch durch Mandat nicht begangen werden können, wie der Ehebruch 39 . Accursius, Glossa in Digestum novum, Glosse „deiecit" zu 1. Hoc iure (D. 50,17,152) §§ 1-2: an idem in ceteris delictis meo nomine commissis, ut possim ratum habere et tenear? quidam non: et in hoc speciale, quia possessio violenta ad me pervenit. sed dicas idem in omnibus: quia lex generaliter dicit, ergo generaliter intelligenda est. quae modo per alium possunt fieri, in adulterio ergo secus.

In der Sache wird damit anerkannt, daß, wie im Zivilrecht, „das Willensinteresse einer Person durch einen anderen, als Stellvertreter ohne Auftrag, auch in einer verbrecherischen Tat verfolgt und befriedigt werden" kann und daß die Genehmigung dieser Tat durch den Interessenten auch diesen für die Tat strafrechtlich verantwortlich macht 40 . Konstruktiv geschieht dies - da auch die italienischen Juristen nicht verkennen, daß ein Verbrechen durch nachträgliche Gutheißung nicht real verursacht werden kann - durch Fiktion: durch die Fiktion eines Mandats 41 . Daß diese Konstruktion, und die Strafbarkeit der Ratihabition überhaupt, auch in der Praxis Anerkennung findet 42 , beruht nach Engelmann43 auf einem prozeßpraktischen Bedürfnis: In den zu jener Zeit häufigen Fällen, in denen Gewalttaten und insbesondere Tötungen durch beauftragte (gedungene oder bedienstete) Personen ausgeführt werden, ist es ebenso entscheidend wie schwierig, das Mandat und damit die Täterschaft des Mandanten nachzuweisen. Daß jemand das Verbrechen eines anderen, etwa seines Bediensteten, im nachhinein ausdrücklich billigt, ist ein Indiz für Mandat, das aber als solches nicht zur Verurteilung (sondern nur zur Folter) ausreicht. Die Fiktion, die aus einer nachträglichen Gutheißung ein vorher erteiltes Mandat macht, erspart in dieser Situation den Beweis des letzteren. Sie wirkt praktisch als unwiderlegliche Vermutung für ein Mandat. Rechtlich bedeutet sie

Hierzu näher Engelmann (Fn. 14), 464 ff, 534 ff. Engelmann (Fn. 14), 519. 41 Engelmann (Fn. 14), 519, 525. 42 Vgl. dazu Engelmann (Fn. 14), 520, 524, 528 f. 43 Engelmann (Fn. 14), 520 ff. Ihm folgt Schaff stein, Die allgemeinen Lehren vom Verbrechen in ihrer Entwicklung durch die Wissenschaft des gemeinen Strafrechts (1930; Neudruck 1973), 187. 39

40

Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten

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freilich viel mehr: Durch die Gleichstellung mit dem Mandat wird die nachträgliche Billigung, sonst nur ein Indiz für Mandat, selbst zu einer strafbaren Beteiligungsform. b) Im Anschluß an die Glossatoren erkennen auch die Konsiliatoren die Strafbarkeit der Ratihabition an, und zwar unter zwei - ebenfalls bereits von der Glosse aufgestellten44 - Voraussetzungen: (1) Der unmittelbare Täter hat das Verbrechen nomine ratum habentis, d. h. im Willensinteresse des Ratumhabenten45, ausgeführt; (2) der Ratumhabent hat die Tat tamquam suo nomine gestum, d. h. als für ihn in seinem Willensinteresse begangen, anerkannt und gebilligt. In diesem Sinne äußert sich etwa Bartolus (gest. 1357)46: Bartolus, Comment, in Digestum novum, De vi et vi armata 1. 1 § sed et si cum quis, Nr. 1: . . . quia ad hoc, ut quis teneatur de maleficio propter ratihabitionem, duo requiruntur. primum, quod sit gestum nomine meo. secundum, quod habuerim ratum tanquam nomine meo gestum. et si aliquod istorum deficit, ex ratihabitione non teneor.

Eine Gegenposition zu dieser communis opinio vertritt Baldus (gest. 1400). Er erklärt die Strafbarkeit der Ratihabition für ausgeschlossen, weil der Ratifikant für die Tat nicht ursächlich sei, und hält die Ratifikation eher für ein Mentaldelikt, das allenfalls eine leichtere poena extraordinaria verdiene: Baldus, Comment, in Digestum vetus, De offic. proconsul. 1. Observare § post haec, Nr. 16: . . . quaeritur, numquid de ratificatione quis possit criminaliter puniri? et videtur, quod non. . . . , quia delictum dat causam ratificationi, non autem ratificatio delicto; ergo ratificans non punitur. . . . item qui ratificat, non est princeps delicti, sed sequax. item ex suo ratificare vel non, non augetur nec minuitur effectus rei. ergo non tenetur, quia non est causa delicti ipse. . . . item istud est potius delictum mentale quam actuale, et si qua poena deberet imponi, deberet esse levior et extraordinaria, non a u t e m ordinaria. et ilia est ipsa Veritas, licet communis opinio sit in

contrarium.

Zweifel, ob die Strafbarkeit der Ratihabition der Billigkeit entspreche und ob nicht die Gleichstellung der ratihabitio mit dem Mandat auf die privatrechtliche Deliktshaftung zu beschränken sei, äußert aus ähnlichen Gründen Salicetus (gest. 1412): Salicetus, IX. C. De accusat. 1. 5, Nr.33: . . . quandam iniquitatem, quae videtur insurgere, si ratum habens puniatur, ac si mandasset, cum mandans sit autor et promotor hujus maleficii, ideo merito debet puniri, sed ratum habens non est promotor, ideo non saltern sit puniendus, cum poenae debeant commensurari delicto . . . cogitabam dicere, quod in maleficiis, in quibus agitur ad rei persecutionem vel interesse, ratum habens obligetur ad interesse, sed non in poenis . . .

44 45 46

Luden (Fn.35), 254, m . N . Zu dieser Bedeutung des nomine ratum habentis siehe Engelmann Weitere Quellennachweise bei Engelmann (Fn. 14), 525 f.

(Fn. 14), 525.

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Udo Ebert

Die Einwände des Baldus und des Salicetus47 haben die communis opinio nicht zu ändern vermocht. Noch im 16. Jahrhundert wird die herkömmliche Meinung über die Strafbarkeit der Ratihabition von den bedeutendsten StrafJuristen, so von Clarus (gest. 1575) und Decianus (gest. 1582), ohne Bedenken vertreten48. IV. Entwicklung im deutschen gemeinen Recht Die Wissenschaft des deutschen gemeinen Kriminalrechts steht in ihren ersten Zeiten ganz unter dem Einfluß der mittelalterlichen italienischen Doktrin. Insbesondere in der Lehre von Täterschaft und Teilnahme folgen die deutschen Autoren zunächst geradezu sklavisch den italienischen Vorbildern. Das betrifft auch die hier in Rede stehenden Beteiligungsformen, das Mandat und die Ratihabition49. Erst als die deutsche Strafrechtswissenschaft aus dem Schatten der italienischen Vorbilder heraustritt und vom Einfluß des Naturrechts erfaßt wird, wandelt sich die Auffassung von den Beteiligungsformen und besonders von der Ratihabition50. 1. Das Mandat wird in den ersten beiden Jahrhunderten des gemeinen Rechts im Anschluß an die Italiener nicht als eigentliche Teilnahme, sondern als mittelbare Täterschaft aufgefaßt51. Dem Mandanten wird die Tat, weil er sie im eigenen Interesse verursacht und den anderen dabei als Werkzeug benutzt hat, ebenso zugerechnet wie dem die Tat ausführenden Mandatar52. Ebenso wie diesen trifft daher den Mandanten die für das betreffende Verbrechen vorgesehene poena ordinaria53. Für den Ratihabenten bedeutet dies, daß im Falle seiner Gleichstellung mit dem Mandanten auch er mit der poena ordinaria belegt wird. Was nun die Ratihabition selbst betrifft, so findet sie in der deutschen gemeinrechtlichen Literatur zwar nicht die gleiche Beachtung wie bei Zu deren Positionen im übrigen siehe Engelmann (Fn. 14), 530 ff. Engelmann (Fn. 14), 532 f, mit Quellennachweisen. 49 Schaffstein (Fn.43), 3 ff, 169 ff, 174 ff, 182 ff. 50 Schaffstein (Fn.43), lOff, 173, 187f, 189ff; Gottfried Boldt, Johann Samuel Friedrich von Böhmer und die gemeinrechtliche Strafrechtswissenschaft (1936), 299ff, 307f. 51 Erst als im 18. Jahrhundert die Begriffe Täterschaft und Teilnahme an sich und in ihrer Abgrenzung voneinander neu konzipiert werden, ändert sich die Ansicht über das Mandat; es gilt nun als Teilnahme an fremder Tat. Vgl. Schaffstein (Fn.43), 183ff. 52 Antonius Matthaeus, De criminibus, ad lib. XLVII et XLVIII Dig. commentarius (1644), Proleg. Cap. I Nr. 12: cum quis alicui mandat scelus, mandantem quidem caput esse, mandatarium vero manum et instrumentum mandantis. - Benedict Carpzov, Practica nova imperialis Saxonica rerum criminalium (1635), Qu. 4 Nr. 13: mandans tenetur ex ipso delicto propter mandatum, non tarnen principaliter ex mandato. Zur Bedeutung dieses traditionsreichen Satzes siehe Engelmann (Fn. 14), 452 f. 53 Matthaeus (Fn.52), Proleg. Cap.I Nr. 12. Vgl. Schaffstein (Fn.43), 183. 47 48

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den Italienern 54 . Manche Strafrechtler, wie Carpzov, ignorieren sie ganz. Im übrigen folgt man aber zunächst auch hier der italienischen Doktrin: Die ratihabitio wird kriminalrechtlich dem mandatum gleichgestellt. So erklärt Theodoricus den Ratihabenten dann für strafbar, wenn die Tat für ihn, wie wenn er ein Mandat erteilt hätte, begangen worden ist55. Im einzelnen stellt Theodoricus für die Strafbarkeit der Ratifikation die gleichen Voraussetzungen auf wie die Italiener: (1) quod maleficium gestum sit nomine ratificantis; (2) deinde ut ille, in cujus gratiam delictum commissum fuit, postea ratificet tanquam suo nomine et per se gestum et factum 56 . Weitergehend erkennt Petrejus die Strafbarkeit der ratificatio selbst für den Fall an, daß das Verbrechen vom unmittelbaren Täter nicht nomine ratihabentis begangen wurde 57 . Die Strafe des Ratihabenten ist die gleiche wie die des Mandanten, also die poena ordinaria des betreffenden Verbrechens 58 . 2. Mit der zunehmenden Emanzipation der deutschen Strafrechtswissenschaft von den italienischen Vorbildern 59 ändert sich die Einschätzung der Ratihabition. Bereits Matthaeus bestreitet im Gegensatz zu den genannten Autoren der ratihabitio jede kriminalrechtliche Relevanz 60 mit der Begründung: qui ratum habet, neque ipse sua manu deliquit, neque causam sceleri dedit 61 . Das hier genannte Kausalitätsargument gewinnt durchschlagende Bedeutung, als mit Pufendorfs Imputationslehre die naturrechtliche Methode das gesamte Strafrecht ergreift und eine grundlegende Wandlung namentlich der Beteiligungslehre herbei-

54

Schaffstein (Fn.43), 187. Petrus Theodoricus, Criminale collegium (1618), Disp. I, Thes.28: Et tum demum quem (seil.: ratihabentem) teneri assero, si suo ipsius nomine, non secus ac si mandasset, delictum fuerit commissum. 56 Petrus Theodoricus, Judicium criminale practicum (1671; = 2. ed. des Criminale collegium), Cap. I, Aphor. 28 Nr. 1. 57 Theodorus Petre(j)us, Thesaurus controversarum conclusionum criminalium (1598), C o n d . 211. 58 Petrejus (Fn. 57), C o n d . 209, 211; siehe auch Theodoricus (Fn. 55), Disp. I, Thes. 28. Letzterer erwägt allerdings unter Berufung auf den Einwand des Salicetus, daß die Bestrafung des Ratihabenten gleich dem Ausführenden unbillig wäre (iniquum foret, eum, qui non deliquit operando, puniri pari poena cum delinquente et operante), den Ratihabenten nur mit einer milderen poena extraordinaria zu bestrafen: Theodoricus (Fn. 56), Cap. I, Aphor. 28 Nr. 2. 59 Dazu Schaffstein (Fn.43), 10ff. 60 Matthaeus (Fn. 52), Proleg. Cap. I Nr. 14: Homicidium quoque meo nomine perpetratum si ratum habuero, adstringi me legi Corneliae, non desunt qui scribant. Verum rigidior est, meo quidem judicio, haec sententia; nec in foro, sed in templis et pro concione laudanda. 61 Matthaeus (Fn.52), Proleg. Cap. I Nr. 14. 55

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Udo Eben

führt 62 . Die bisher einzeln und voneinander isoliert behandelten Beteiligungsformen werden nun unter einem allgemeinen Gesichtspunkt erfaßt. Als wesentliches Merkmal jeder Beteiligung an der verbrecherischen Handlung eines anderen wird der kausale Einfluß auf die fremde Tat erkannt 63 . Da der Ratihabition dieses Merkmal fehlt, muß sie aus dem Kreis der strafrechtlichen Beteiligungsformen ausscheiden. Die bedeutendsten Vertreter der naturrechtlich geprägten Periode der gemeinen Strafrechtswissenschaft lehnen denn auch die Strafbarkeit der ratihabitio als Tatbeteiligung eben mit der Begründung ab, daß die Ratihabition auf die fremde Tat, da sie deren Vollendung nachfolge, keinen ursächlichen Einfluß habe; so insbesondere Cocceji, Kress und Boehmer*''·. Das Ergebnis wird von Kress noch mit dem kriminalpolitischen Argument unterstrichen, daß die Ratihabition nicht sozialschädlich sei (ratihabitione publico non noceatur) 65 . Bei Boehmer findet sich weiter der Hinweis, daß die Strafbarkeit der Ratihabition auf einer rückwirkenden Fiktion (fictio retroactiva) beru-

« Hierzu Schaffstein (Fn.43), 11 ff, 189 ff; Boldt (Fn.50), 299 ff. 63 Samuel Pufendorf De jure naturae et gentium libri octo (1672), Lib. I Cap.V §14: Porro imputari homini solent non propriae duntaxat, sed et alienae actiones. Quod tarnen ut recte fiat, necessum est, ut ad eas iste aliquo modo efficaciter concurrent. Alias enim ratio non fert, ut effectus actionis moralis de persona in personam transeant, nisi ad eandem quis influxerit, aliquid agendo vel omittendo. 64 Henricus Cocceji, De socio criminis (1701), Sect. I Thes. X X I V : Quid vero si comperiatur, aliquem delictum postmodum ratum habuisse, an sie connumerandus erit inter socios criminis? Resp. neg. quia consummato sceleri nihil addit vel detrahit ratificans; et licet alias ratihabitio etiam in maleficio mandato comparetur, 1. 152 §2 de R. J. 1. 1 § 14 de vi et vi arm., quia tarnen ad delictum non concurrit ullum, sed deinde demum accedit ratificantis factum, . . . talem effectum hic non producit. Sect. II Thes. X X X V I I I : Nec ille qui delictum jam perpetratum postmodum ratum habet, poena aliqua corporis afflictiva puniri potest, cum per solam ratihabitionem delicti non fiat partieeps ac socius, quia non est causa damni antea dati. - Joann. Paul. Kress, Commentatio succincta in Constitut. Criminal. Caroli V. Imperatoris, 3. ed. (1736), Nota 2 ad Art. 177: Non incommode a philosophis res ita exprimitur: quicunque realiter in actum influit; vel quicunque antecedenter se ad crimen habuit, tanquam concausa, ut crimen aliquatenus ab ipso processerit. Dico antecedenter, i. e. antequam facinus peragitur. Unde, qui ex post facto scelus ratihabet, laudat, approbat, . . . , non est hujus loci. . . . pro sententia mea de nuda ratihabitione stat regula Pufendorfii L. I. V. § 14 pr. J . N. seil, ratio non fert, ut effectus alienae actionis ad nos transeat, nisi ad eandem influxerimus agendo vel omittendo. - Io. Samuel. Frider. de Boehmer, Meditationes in Constitutionem Criminalem Carolinam (1770), Art. 177 § I X : Praeter hos, quotquot consummato sceleri accedunt; a concursu . . . proprie alieni, et ex indole facti proprii, non criminis ab altero commissi, sunt puniendi,... Multo minorem speciem veri habent, quae vulgo de ratificantibus allegantur. . . . Num vero ideo in foro criminali causa delicti alterius videntur? . . . cum delicto commisso nil commune habet. 65

Kress (Fn. 64), Nota 2 ad Art. 177.

Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten

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hen würde, für die im Strafrecht kein Raum sei66. Damit wird ein Gesichtspunkt angesprochen, in dem die zur Eigenständigkeit gelangte deutsche gemeinrechtliche Kriminalistik sich besonders klar von der im italienischen ius commune herrschenden Ansicht absetzt: das Verhältnis zwischen zivilrechtlicher und strafrechtlicher Haftung. Haben die Italiener die Ratihabition als strafrechtliche Figur mit einer Analogie zum Zivilrecht - nämlich zur zivilrechtlichen Gleichstellung von ratihabitio und mandatum im Corpus iuris - begründet67, so wird nunmehr die Berechtigung eben dieser Analogie bestritten. Unter Berufung auf die wesentliche Verschiedenheit von Privatrecht (Deliktsrecht) und öffentlichem Strafrecht (Kriminalrecht) wird die ratihabitio auf ihren ursprünglichen, privatrechtlichen Anwendungsbereich reduziert. Nur in bezug auf das Privatrecht wird dem Satz in maleficio ratihabitio mandato comparatur (D. 43,16,1,14; D. 50,17,152,2) nach wie vor Geltung zuerkannt: Wer eine Übeltat (maleficium) nachträglich genehmigt, begründet damit gegen sich unter Umständen wie ein Mandant privatrechtliche Ansprüche aus Delikt - Ansprüche auf pekuniäre Leistungen wie die Zahlung einer Geldbuße er macht sich aber nicht im kriminalrechtlichen Sinne wegen Beteiligung an der genehmigten Tat strafbar. Es sind Matthaeus und Struv, die bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts derart die Beurteilung der ratihabitio mit der Einsicht in den Unterschied zwischen Strafrecht und Privatrecht verbinden 68 , und es sind namentlich Cocceji, Berger und Boehmer, die im 18. Jahrhundert diese Auffassung bekräftigen 69 .

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Boehmer (Fn.64), Art. 177 § IX: Si ratihabitio iis fraudi esse posset, id per meram fictionem retroactivam fieret, cuius in foro criminali nulla habetur ratio. 67 Engelmann (Fn. 14), 519 f. Vordergründig wendeten die Italiener allerdings die Regel D.50,17,152,2 unmittelbar an; s.o. III 2 a . 68 Matthaeus (Fn.52), Proleg. Cap.I Nr. 14: Regula vero juris, quae vult ratihabitionem in maleficiis quoque mandato comparari, hactenus vera videtur, ut pecuniarie conveniri possit, qui maleficium privatum ratum habuit; non etiam accusari criminaliter. Georg. Adam. Struvius, Dissertationes criminales (1671), Diss. I Thes. I Nr. 11: Ratihabitio in maleficiis mandato comparatur. 1. 1 § 14 1. 3 § 10 d. vi et vi arm. 1. 152 § 2 d. R. J. Quod intelligendum, quoad actionem ex delicto rei persecutoriam . . . Secus est in criminibus, ad quae quis per nudam approbationem post consummatum istum actum nullo concurrit modo. 69 Cocceji (Fn. 64), Sect. II Thes. XXXVIII: Et licet ratihabitionis in jure nostro tanta sit efficacia, ut fiat negotium ejus, cujus antea non fuerat . . . imo et mandato aliquando comparetur . . . hoc tarnen solummodo verum est in contractibus et negotiis civilibus. . . . Dictum est supra . . . ratihabitionem etiam in delictis mandato comparari . . . hoc verum est quoad interesse, ut loquuntur, civile sive pecuniarium. - lo. Hernie. Berger, Electa iurisprudentiae criminalis, 2. ed. (1721), Cap.I Abschn.V N r . 3 : Quoties agitur ad persecutionem interesse pecuniarii; toties ratihabens habetur pro mandante: quoties autem agitur de poena criminali, sive ad persecutionem interesse publici; toties ratihabens pro mandante non habetur. - Boehmer (Fn.64), A n . 177 § IX: Multo minorem speciem veri

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Der Einwand, sie gehöre als genuin zivilrechtliches Institut mit ihrer spezifisch zivilrechtlichen (Rück-)Wirkung nicht ins Strafrecht, gilt für die ratihabitio (Genehmigung). Dagegen gilt der Einwand in dieser Form nicht für vergleichbare, ihrer Natur nach aber rein tatsächliche Handlungen wie die nachträgliche approbatio (Billigung), laudatio (Belobigung) und assentatio (Zustimmung). Wer solchen Formen nachträglicher Gutheißung einer Tat die Bedeutung als strafbare Tatbeteiligung absprechen will, ist auf strafrechtsimmanente Argumente wie das Kausalitätsargument angewiesen. Mit dem Fehlen des erforderlichen kausalen Einflusses auf die Tat begründen denn auch Pufendorf, Cocceji und Kress, daß laudatores, assentatores und approbatores ebensowenig wie ratihabentes Beteiligte an dem zum Zeitpunkt ihres Handelns bereits vollendeten Verbrechen sein könnten 70 . Wie ein halbherzig, nur aus Respekt vor der Tradition und gegen eigene bessere Einsicht unternommener Versuch, die überlieferte Rechtsfigur zu retten, mutet es an, wenn Autoren, die der ratihabitio bzw. laudatio mangels Kausalität die rechtliche Qualität als Beteiligung am Verbrechen absprechen, sie gleichwohl wenigstens einer leichten poena extraordinaria unterwerfen wollen71. Vereinzelt wird noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts sogar die Meinung vertreten, daß „wer nach begangenem Verbrechen solches gelobt (oder) genehmigt... hat", wegen „Theilnehmung" an dem Verbrechen mit einer (geringen) Strafe zu belegen sei72. In Wahrheit ist mit der naturrechtlich beeinflußten Erneue-

habent, quae vulgo de ratificantibus allegantur. Quid enim hoc, quod mandatoribus, vi 1.152 de R. 1.1. 1 § 14 de vi, in maleficiis comparentur, aliud est, quam, quod aut turpiter agant, aut in causa civili, ob quam interdictum unde vi, comparatum est, vim intulisse videantur, 1. 1 § 14 de vi et vi armat.? Num vero ideo in foro criminali causa delicti alterius videntur? 70 Pufendorf (Fn. 63), Lib. I Cap.V §14: Minus principales autem causae alieni facti habentur, qui consilium dant, qui laudant, et assentantur ante patratum facinus, et ita, ut ipsorum consilium, laus, et assentatio ad facinus suscipiendum aliquod momentum attulerit. Alias enim, qui laude sua ad pravum facinus nihil contulit, non ipsum facinus, sed pravam suam voluntatem luere potest. - Cocceji (Fn. 64), Sect. I Thes. X X V : Hue quoque spectant delictorum laudatores, qui socii criminis non sunt, quia laudando delicto causam non dant. . . . nec per eam (seil.: laudationem) constituitur quis socius criminis,... quia non potest dici causa furti, quod jam factum est: per naturam enim causa non potest esse posterior effectu. - Kress (Fn. 64), Nota 2 ad A n . 177 (Text s. o. Fn. 64). 71 Cocceji (Fn. 64), Sect. II Thes. X X X V I I I : Nec ille qui delictum jam perpetratum postmodum ratum habet, poena aliqua corporis afflictiva puniri potest, cum per solam ratihabitionem delicti non fiat partieeps ac socius, quia non est causa damni antea dati, sed summum levi poena extraordinaria. Siehe ferner Sect. II Thes. X X X I X . - Berger (Fn. 69), Cap. I Abschn.V Nr. 3: Quoties quis ratihabet delictum, ab alio commissum; toties extra ordinem plectitur, etsi ex delicto lucrum sentiat: . . . quia is, qui ratum habet, neque ipse sua manu delinquit, nec causam sceleri dat. 72 Christian Gottlieb Gmelin, Grundsätze der Gesetzgebung über Verbrechen und Strafen (1785), 114 f. - Nach einer anderen Meinung sollen als Teilnehmer (socii delinquen-

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rung der Beteiligungslehre im jüngeren gemeinen Recht der Genehmigung oder Billigung einer begangenen Straftat als kriminalrechtlicher Beteiligungsform die Grundlage entzogen 7 3 . In der gerichtlichen Praxis hat sie offenbar ohnehin keine Rolle gespielt 74 . So steht am Ende der gemeinrechtlichen Entwicklung als Fazit, was schon Mattbaeus und Pufendorf erkannt haben und was dann Kress und Boehmer festschreiben: Die Billigung einer begangenen Straftat zeigt zwar eine schlechte Gesinnung und ist moralisch verwerflich; eine rechtliche Strafbarkeit (wegen eines Verbrechens) w i r d dagegen durch sie nicht begründet 7 5 . Doch das alles betrifft nur die retrospektive Seite. Weder eine prospektiv noch eine unmittelbar begründete Strafbarkeit 7 6 der Billigung begangener Straftaten w i r d durch das Gesagte ausgeschlossen, beide werden im Gegenteil von der jüngeren gemeinen Strafrechtswissenschaft ausdrücklich anerkannt. Daß die ratihabitio im Sinne einer unmittelbaren Strafbarkeitsbegründung selbst eine Straftat darstellen kann, hebt mit Anführung eines Beispiels Kress hervor 77 . Vor allem aber gelangt im gleichen Maße, in dem eine retrospektive Strafbarkeit der Ratihabition verworfen wird, eine prospektive Strafbarkeitsbegründung zur Geltung. Ratumhabentes und laudatores sollen, w i e namentlich Kress und Engau ausführen, z w a r nicht wegen Beteiligung an der gebilligten Tat, wohl aber dann und deshalb bestraft werden, wenn und weil sie den, dessen begangene Übeltat sie gutheißen, hierdurch zu weiteren Taten verleiten 78 . Strafgrund ist hier die Mitursächlichkeit der Billigung für künftig

tium) ausnahmsweise diejenigen gelten, die fremde Taten genehmigen, ut lucrum ex iis perciperent; so etwa lo. Rudolph. Engau, Elementa iuris criminalis Germanico-Carolini, 2. ed. (1742), Lib. I Tit. II §29. 73 Vgl. auch Schaffstein (Fn.43), 188. 74 Kress (Fn.64), Nota 2 ad Art. 177: Pro nostra sententia laudamus . . . praxin forensem, quae nullibi poenam criminis decernit in merum et nudum crimen ratihabentem. Siehe auch Carl August Tittmann, Handbuch der Strafrechtswissenschaft und der deutschen Strafgesetzkunde, Erster Band, 2. Aufl. (1822), 220 Anm. a, m.w. N. 75 Matthaeus (Fn.52), Proleg. Cap. I Nr. 14: Gaudet quidem improbe alieno scelere, qui ratum habet: verum improbitas gaudii non obligat poena sceleris. Pufendorf (Fn. 63), Lib. I Cap. V § 14: Alias enim, qui laude sua ad pravum facinus nihil contulit, non ipsum facinus, sed pravam suam voluntatem luere potest. - Kress (Fn. 64), Nota 2 ad Art. 177: Ut ut enim scelesta approbans morali aestimatione pro insigniter malo habeatur, nihilominus in foro a poena immunis est. - Boehmer (Fn. 64), A n . 177 § IX, spricht von der pravitas mentis, quae sola in ratificante spectatur. 76 Zu den Begriffen s. ο. I. 77 Kress (Fn. 64), Nota 2 ad Art. 177: Imo ratihabitio omnino punibilis est, si continet crimen injuriarum. Ut si ratihaberem piagas meo nomine Titio inflictas. 78 Kress (Fn.64), Nota 2 ad Art. 177: Quod si tarnen exinde fit, ut novum crimen occasione malitiosae ratihabitionis committatur, tunc aliter dicendum. Sic Cicero alicubi refert, de homine potenti, quod quidem servos suos delinquere non jusserit, non antecedenter instigaverit, attamen peracto facinore laudaverit, defenderit, pro illis causam dixerit,

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begangene Verbrechen 79 . Nicht auf eine prospektive, sondern auf eine unmittelbare Strafbarkeitsbegründung läuft dagegen die Meinung Coccejis hinaus, bei den laudatores finde Zurechnung insoweit statt, als sie durch ihr nachträgliches Lob den Übeltäter noch weiter korrumpieren 80 . Zwar ist mit letzterem gemeint, daß die wegen ihrer begangenen Tat Belobigten zur Begehung weiterer Verbrechen geneigter gemacht werden; doch sollen die laudatores offenbar nicht - prospektiv - wegen Beteiligung an den weiteren Verbrechen, sondern - unmittelbar - wegen der Korrumpierung der Belobigten strafbar sein81. V. Entwicklung im 19. Jahrhundert 1. Die Wendung von der retrospektiven zur prospektiven Strafbarkeitsbegründung vollendet sich in der Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts. Von dogmatischen Fortschritten bei der wissenschaftlichen Behandlung des Themas in dieser Zeit kann gleichwohl kaum die Rede sein. Nicht nur, daß die retrospektive Betrachtungsweise sich noch eine Zeitlang hält und, als sie fällt, die Argumente gegen sie im wesentlichen den alten gleichen. Es bleiben vor allem die Begründungen für eine prospektiv orientierte Strafbarkeit der Billigung von Straftaten großenteils unklar und diffus. a) In den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wird die Billigung einer begangenen Straftat immer noch als strafbare Beteiligung an der gebilligten Tat angesehen. Stübel qualifiziert sie (1805) als - wenngleich „entfernte nicht volle" - „Theilnahme" an dem gebilligten Verbrechen 82 . In seinem 1816 veröffentlichten „Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Strafen" behandelt Erhard die „Billigung des erfolgten Verbrechens" im Allgemeinen Teil unter der Rubrik „Antheil an den Verbrechen Anderer", und zwar dergestalt, daß er die Billigung als einen

atque hac ratione animum sceleratis ad delicta futura addiderit. - Engau (Fn. 72), Lib. I Tit. II §29: Denique in delinquentium sociis non erunt qui delicta ab aliis commissa habent rata. Excipias tarnen velim eos . . q u i ratihabitione sua delinquentes magis magisque ad delinquendum invitarunt. 79 Kress (Fn. 64), Nota 2 ad Art. 177 (in Fortsetzung des oben Fn. 78 zitierten Textes): Hie sane callidum et malignum patrocinium, criminum illud sequentium utique concausa fuit. 80 Cocceji (Fn.64), Sect. I Thes. XXV: Eatenus tarnen ipsis (seil.: laudatoribus) imputandum, quod malum alterius propositum laudaverint, et sie alterum deteriorem fecerint. 81 Dies wird durch den Text bestätigt, auf den Cocceji (aaO) sich bezieht: Ulp. D. 11,3,1,4-5. Er entstammt dem Digestentitel De servo corrupto und behandelt die seelische Entwertung eines fremden Sklaven durch Bestärkung seiner verbrecherischen Neigungen. Siehe hierzu Käser I (Fn.23), 629. 82 Christoph Carl Stübel, Ueber den Thatbestand der Verbrechen, die Urheber derselben . . . (1805), 50 f.

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Fall von Begünstigung (Art. 126) und diese wiederum als Form der Mitwirkung an der Tat des Begünstigten (Art. 120) qualifiziert 83 . Den gleichen Weg einer retrospektiven Strafbarkeitsbegründung geht, auf dem Boden des seinerzeit geltenden Rechts, Tittmann (1822), indem er die Billigung eines begangenen Verbrechens zwar nicht als „wahre Theilnahme" (Beihilfe) gelten läßt, wohl aber den Billigenden zu den Begünstigern (fautores) rechnet, die ihrerseits wegen des begangenen Verbrechens, auf das ihr Verhalten sich bezieht, in Anspruch genommen werden können 84 . Danach jedoch beherrschen die ablehnenden Stellungnahmen das Feld. Die Argumente, mit denen die Qualifikation der Billigung oder Genehmigung einer begangenen Straftat als strafbare Beteiligung an derselben verworfen wird, sind nach wie vor die fehlende Kausalität und - speziell auf die römisch-gemeinrechtliche Tradition der ratihabitio gemünzt - der Wesensunterschied zwischen Bürgerlichem Recht und Strafrecht. Der dem römischen Aktionensystem entstammende Satz in maleficio ratihabitio mandato comparatur (D. 50,17,152,2; D. 43,16,1,14) läßt sich, stellt Jarcke fest, nicht auf das moderne Kriminalrecht - im Sinne der Strafbarkeit bloßer Genehmigung und Billigung eines Verbrechens - übertragen 85 . Eine nähere Begründung gibt Henke: Wegen der „gänzlichen Verschiedenheit bürgerlicher Geschäfte und verbrecherischer Handlungen" sei es bereits unangemessen, auf den Auftrag zu einem Verbrechen die römischrechtlichen Bestimmungen über das privatrechtliche Mandat anzuwenden; ebensowenig aber könne „nach der Analogie des bürgerlichen Rechtes die Genehmigung eines bereits vollendeten . . . Verbrechens einem Auftrage zu demselben gleichgeachtet werden", denn „die auf eigenen Betrieb angefangene That kann nie als von dem Genehmigenden verursacht angesehen werden" 86 . Wenn also das römische Recht (D. 50,17,152,2; D. 43,16,1,14) den Satz ausspreche in maleficio ratihabitio mandato aequiparatur, so lasse sich

83 Christian Daniel Erhard, Entwurf eines Gesetzbuches über Verbrechen und Strafen für die zum Königreiche Sachsen gehörigen Staaten, hrsg. von Chr. G. E. Friederici (1816), 29 f. 84 Tittmann (Fn. 74), 2 0 0 f , 2 1 9 f . - Zur Einbeziehung der nachträglichen Billigung von Straftaten in den Begriff der Begünstigung durch einzelne Strafrechtswissenschaftler im 19.Jahrhundert siehe auch Gisela Dersch, Begünstigung, Hehlerei und unterlassene Verbrechensanzeige in der gemeinrechtlichen Strafrechtsdoktrin bis zum Erlaß des Reichsstrafgesetzbuchs (1980), 126, 129 f. 85 Carl Ernst Jarcke, Handbuch des gemeinen deutschen Strafrechts, Erster Band (1827), 237 und Anm. 12. Vgl. auch Martin, Lehrbuch des Teutschen gemeinen CriminalRechts, 2. Aufl. (1829), 586 f. 86 Eduard Henke, Handbuch des Criminalrechts und der Criminalpolitik, Erster Theil (1823), 267-269.

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dies „nur auf die privatrechtlichen Folgen des Verbrechens" beziehen 87 . Auch die Möglichkeit, der Billigung auf dem Weg über die (ihrerseits als Beteiligung an der begangenen Tat begriffene) Begünstigung den Charakter strafrechtlicher Teilnahme zuzuerkennen, wird nunmehr verworfen: „Als eine Förderung des geschehenen Verbrechens" 88 , welche die Begünstigung ihrer Natur nach erfordert, kann - so Bauer - die Billigung „an sich nicht betrachtet werden" 89 . b) Auch nach der endgültigen Uberwindung der retrospektiven Strafbarkeitsbegründung läßt es die Wissenschaft indessen nicht beim „unsittlichen" Charakter 90 der Billigung begangener Straftaten bewenden. Vielmehr wird der Billigung oder Genehmigung strafrechtliche Bedeutung unter verschiedenen anderen Aspekten zuerkannt: Sie könne ein Indiz für eine vorhergegangene Verbrechensverabredung (ein Komplott) sein 91 . J a in Anbetracht der durch sie bewiesenen „Gefährlichkeit der Gesinnung" könne sie sogar dann, wenn der Billigende später „wegen eines ähnlichen Verbrechens in Untersuchung kommen sollte", ein Beweisanzeichen gegen ihn bilden 92 . Auch könne die Genehmigung oder Billigung selbst eine Straftat darstellen 93 , wie etwa im Falle der Genehmigung oder Billigung einer Injurie 94 oder bei Staatsverbrechen 95 . Vor allem findet, wie schon in der vorangegangenen Epoche 96 , auch im 19. Jahrhundert eine prospektive Strafbarkeitsbegründung Befürworter. Köstlin und Bauer weisen darauf hin, daß die Billigung einer begangenen Straftat als Aufmunterung zu neuen Verbrechen anzusehen sein und damit die Natur einer Anstiftung haben kann 97 - ob einer Anstiftung des Vortäters zu weiteren Taten oder einer Anstiftung Dritter zu derartigen Taten, wird dabei nicht deutlich. Die Gefahr künftiger Taten sowohl des Vortäters als auch dritter Personen als Folge der Billigung hat Erhard im Auge, wenn er in Art. 550 seines bereits

Henke (Fn. 86), 269. In der Art etwa der Strafvereitelung, der Vorteilssicherung oder der Beförderung der Fortdauer des Verbrechenserfolges. 89 Anton Bauer, Abhandlungen aus dem Strafrechte und dem Strafprocesse, Erster Band (1840), 476 ff (478). Ebenso Jarcke (Fn. 85), 237. 90 Bauer (Fn. 89), 478. 91 Jarcke (Fn. 85), 237; Martin (Fn. 85), 587 Anm. 4. 92 Bauer (Fn. 89), 478. 93 Im Sinne der hier sog. unmittelbaren Strafbarkeitsbegründung (s. ο. I). 94 Christian Reinhold Köstlin, System des deutschen Strafrechts, Allgemeiner Theil (1855), 263; Tittmann (Fn. 74), 220; Bauer (Fn. 89), 478 Anm. 2. 95 So - ohne nähere Erläuterung - Jarcke (Fn. 85), 237. 96 Oben IV 2. 97 Köstlin (Fn. 94), 263; Bauer (Fn.89), 478 Anm. 1. 87 88

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erwähnten Entwurfs die „durch Worte oder Handlungen ausgedrückte Billigung des Verbrechens" für den Fall unter Strafe stellt, daß sie „eine Ermunterung zur Wiederholung oder Nachahmung des Verbrechens enthält" 98 . Eine eigenartige Ansicht vertritt auf dem Boden des geltenden gemeinen Strafrechts Tittmann. Nach ihm soll der Billigende deshalb zu bestrafen sein, weil er durch die Billigung „eine gefährliche Gesinnung verrathen hat" 99 . Diese auf der Spezialpräventionstheorie beruhende 100 Konzeption darf nicht so verstanden werden, als solle der Billigende wegen seiner in der Billigung zum Ausdruck gekommenen Gesinnung bestraft werden 101 . Eine Anknüpfung der Strafe an die rechtswidrige Gesinnung wäre auch vom Standpunkt der spezialpräventiven Straftheorie nicht zu begründen 102 . Einer solchen Anknüpfung begegnen wir dagegen im kanonischen Recht 103 , in dem die strafrechtliche Haftung des Ratumhabenten aufgrund von Vorschriften des Liber Sextus in den Titeln De sententia excommunicationis 104 und De regulis iuris 105 bis zur Ablösung des Corpus iuris canonici durch den Codex iuris canonici 1918 in Geltung ist 106 . Die genannten Vorschriften des Liber Sextus, welche die ratihabitio dem mandatum strafrechtlich gleichstellen 107 , verdanken zwar ihre Existenz nicht einer eigenständigen Entwicklung im kanonischen Recht, sondern entstammen ihrerseits den römischen Quellen und den Lehren des italienischen ius commune (oben III) 108 . Sie erfahren aber in der kirchenrechtlichen Literatur namentlich des 19. Jahrhunderts eine spezifische Interpretation. Der Grund für die Bestrafung des Ratumhabenten wird nicht in einer Beteiligung an der genehmigten Tat (die auch nach kanonistischer Auffassung

98 Erhard (Fn. 83), 132. - Nach Art. 551 des Entwurfs soll dann „eine nach dem Grade der Strafbarkeit des gebilligten Vergehens, und nach dem Umfange und der Wirksamkeit der Billigung . . . bestimmte Strafe Statt finden". 99 Tittmann (Fn. 74), 200 f. 100 Martin (Fn.85), 587 Anm.5. 101 Anders Martin (Fn. 85), 587 Anm. 5. 102 Vgl. dazu Paul Job. Anselm Feuerbach, Ueber die Strafe als Sicherungsmittel vor künftigen Beleidigungen des Verbrechers (1800; Nachdruck 1970), 25 ff. 103 Herrn Kollegen Udo Wolter (Mainz) bin ich für wertvolle Hinweise auf das kanonische Recht dankbar. 104 VI, 5,11,23: Si percussionem, in clericum sine meo mandato, tarnen nomine meo factam, ratam habeam: excommunicatus sum; secus, si meo nomine non sit facta. 105 Regula 10: Ratihabitionem retrotrahi, et mandato non est dubium comparari. Zum strafrechtlichen Charakter dieser Regel siehe Thiemo Bader, Bonifaz VIII. und seine Regulae iuris (unveröff. rechtswiss. Magisterarbeit Würzburg 1977), 49 f. Ich bin Herrn Bader für die freundliche Erlaubnis, diese Arbeit einzusehen und zu verwenden, zu Dank verpflichtet. 106 Zum Anwendungsbereich der strafrechtlichen Ratumhabentenhaftung im kanonischen Recht des 19. Jahrhunderts siehe Paul Hinschius, System des katholischen Kirchenrechts mit besonderer Rücksicht auf Deutschland, Fünfter Band (1895), 935. 107 Zu den Voraussetzungen der Gleichstellung im einzelnen siehe Hinschius (Fn. 106), 746 Anm. 12, 935. 108 Engelmann (Fn. 14), 398 f, 523 f; Bader (Fn. 105), 49 ff, 51.

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mangels Kausalität nicht gegeben ist), sondern in der Genehmigung selbst und hier bezeichnenderweise u. a. darin gesehen, daß der Ratumhabent durch die Genehmigung die gleiche Gesinnung wie der Täter kundgibt 109 .

Vielmehr entspricht es spezialpräventiver Anschauung, den Täter wegen seiner Gefährlichkeit, d. h. wegen der Gefahr künftig von ihm zu begehender Verbrechen, zu bestrafen 110 . Die durch die Billigung dokumentierte rechtswidrige Gesinnung ist hiernach nicht Rechtsgrund der Strafe, sondern lediglich Erkenntnisgrund für die - allein den Rechtsgrund der Strafe bildende - Gefährlichkeit des Billigenden 111 . Daß diese es ist, an welche die Strafe anknüpfen soll, läßt Tittmann auch selbst erkennen 112 . Dann erscheint es freilich inkonsequent, daß der Autor dem Billigenden nicht dessen eigenes Verhalten zurechnen will 113 , sondern die gebilligte fremde Tat 114 . Auf diese Weise werden retrospektive und prospektive Betrachtungsweise miteinander vermengt. Im übrigen bleibt an der Konzeption Tittmanns bemerkenswert, daß sie bei der prospektiven Strafbarkeitsbegründung nicht, wie bei dieser sonst üblich, den Beitrag des Billigenden zu künftigen Taten des belobigten Vortäters oder dritter Personen im Auge hat, sondern künftige Taten des Billigenden selbst — womit diese Konzeption zugleich über die Ansicht hinausgeht, nach der die Billigung für spätere Taten des Billigenden selbst lediglich ein Beweisanzeichen darstellt115. c) Die schillernde Vielfalt der Billigungskonzepte in der Wissenschaft des 19.Jahrhunderts und die Unklarheit oder Widersprüchlichkeit zumindest einiger von ihnen weisen auf die innere Brüchigkeit der Billigung als dogmatischer Figur hin. Nicht aus dem Bewußtsein rechtlicher Notwendigkeit, wohl auch nicht aus dem Empfinden eines praktischen Bedürfnisses, sondern aus Traditionsbewußtsein scheint die Strafrechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts ein altes Rechtsinstitut, nachdem dessen ursprüngliche (retrospektive) Begründung sich als unhaltbar erwiesen hat, mit neuer (insbesondere prospektiver) Begründung am Leben erhalten zu wollen.

München (Fn. 17), 92 f; siehe auch Bader (Fn. 105), 50. Feuerbach (Fn. 102), 27 f. 111 Vgl. Feuerbach (Fn. 102), 27f. 112 Tittmann (Fn. 74), 201: Zurechnung „nach dem Grade der geäußerten . . . Gefährlichkeit" des Billigenden. 113 So fragwürdig die Zurechnung seines künftigen Verhaltens und so schwer begründbar (gerade vom Standpunkt der Spezialpräventionstheorie) die Zurechnung seines gefahrindizierenden Billigungsverhaltens auch wäre. Vgl. dazu Feuerbach (Fn. 102), 28 f, 36 ff. 114 Tittmann (Fn. 74), 200 f: Inanspruchnahme des Billigers wegen des gebilligten Verbrechens (!); Zurechnung der gebilligten Tat (!) zum Billigenden nach dem Grade der geäußerten Gefährlichkeit. 115 Siehe oben vor Fn.92. 109

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2. Dieser Eindruck wird durch die Gesetzeslage bestätigt. Die Ansichten, die in der Wissenschaft des gemeinen deutschen Strafrechts im 19. Jahrhundert über die Strafbarkeit der Billigung begangener Straftaten vertreten werden, haben auf die Strafgesetzgebung keine Auswirkung. Keine der deutschen partikularstaatlichen Strafrechtskodifikationen des 19. Jahrhunderts weist im Allgemeinen oder im Besonderen Teil eine Vorschrift auf, die eigens die Billigung einer begangenen Straftat unter Strafe stellt 116 . Auch das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kennt eine besondere Billigungsbestimmung nicht. Als Rechtsfigur besaß die Billigung begangener Straftaten nicht die dogmatische Stringenz, die ihr unabhängig von einem akuten praktischen Bedürfnis Eingang in eine Strafrechtskodifikation hätte verschaffen können. Ein akutes praktisches Bedürfnis aber nach Pönalisierung der Billigung begangener Straftaten bestand offenbar nicht.

VI. Einführung des gesetzlichen Billigungstatbestandes 1. Ein solches Bedürfnis entstand erst nach dem Inkrafttreten des RStGB von 1871, als Fälle öffentlicher Billigung und Verherrlichung politisch motivierter Verbrechen die Gesellschaft und die staatlichen Instanzen zunehmend beunruhigten. Das „zu Zeiten auf einen hohen Grad" gestiegene einschlägige „Treiben in einem Teil der Tagespresse und in öffentlichen Versammlungen", das „namentlich in bezug auf eine Anzahl im Auslande verübter Morde an Fürsten und Staatsmännern in weiten Kreisen der Bevölkerung Anstoß und Entrüstung erregt" hat, bildete das Motiv dafür, daß der Vorentwurf zu einem neuen Strafgesetzbuch von 1909 die Verherrlichung begangener Verbrechen unter Strafe stellte 117,118 . Die prospektive Intention dieser Strafbestimmung

116 Immerhin annäherungsweise geschieht dies allerdings in den folgenden Fällen. Das Badische StGB von 1845 bedroht in § 6 3 1 c , im Zusammenhang mit der öffentlichen Aufforderung zur Begehung von Straftaten, auch denjenigen mit Strafe, der „Feierlichkeiten f ü r Verbrechen oder deren Urheber . . . veranstaltet". Die Sächsischen Strafgesetzbücher von 1855 und von 1868 enthalten jeweils in Art. 127 eine Strafdrohung gegen den, der Handlungen, die das Gesetz verbietet, als ehrenvoll oder verdienstlich oder „Personen wegen dergleichen Handlungen als lobenswerth darstellt". 1 1 7 Vorentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch mit Begründung, bearbeitet von der hierzu bestellten Sachverständigen-Kommission, veröffentlicht auf Anordnung des Reichs-Justizamts (1909), § 1 3 1 . Das Zitat entstammt der Begründung, 481. - Eine entsprechende Vorschrift enthielt dann auch der Kommissionsentwurf zu einem Deutschen Strafgesetzbuch von 1913, in § 2 1 2 . 118 Bereits 1875 und 1894 vorgelegte Entwürfe von Novellen zum RStGB hatten die Bestrafung desjenigen vorgesehen, der eine strafbare Handlung als verdienstlich oder erlaubt darstellt, dies jedoch, wie der Kontext jeweils ergibt, nicht auf bereits begangene, sondern nur auf künftig zu begehende Straftaten bezogen. Siehe Stenogr. Berichte über die

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wird daran deutlich, daß der Verherrlichungstatbestand mit dem Tatbestand der Aufforderung oder Aufreizung zu Straftaten in einer Vorschrift kombiniert war 119 und daß er laut Entwurfsbegründung der Schwierigkeit abhelfen sollte, bei agitatorischer Glorifikation (Verherrlichung begangener Straftaten) deren provokatorischen Charakter (Aufforderung oder Aufreizung zu weiteren Straftaten) in concreto nachzuweisen 120 . Zugleich spielten aber auch Erwägungen unmittelbarer Strafbarkeitsbegründung eine Rolle: „ . . . nirgends tritt", so heißt es in der Entwurfsbegründung ferner, „die Verachtung der gesetzlichen Ordnung (!) und die grundsätzliche Auflehnung gegen sie schärfer zutage, als in der die gesetzliche Ordnung bewußt gefährdenden Verherrlichung von begangenen Verbrechen, nirgends ist es daher folgerichtiger, wenn der Staat dieser Negation der Grundlagen seiner Ordnung (!) mittels des Strafgesetzes entgegenwirkt" 121 . 2. Erstmals Gesetzeskraft erlangte die Strafbarkeit der Billigung oder Verherrlichung begangener Straftaten in der Weimarer Republik. Vor dem Hintergrund der politischen Unruhen jener Zeit mit ihrer nicht abreißenden Kette extremistischer Gewalttaten und veranlaßt unter anderem durch die Zustimmung, welche die Ermordung des Zentrumpolitikers Erzberger in rechtsgerichteten Zeitungen erfahren hatte, erklärte das Gesetz zum Schutze der Republik vom 21. 7.1922 1 2 2 in § 7 I Nr. 3 denjenigen für strafbar, der bestimmte politisch motivierte Verbrechen nach deren Begehung öffentlich oder in einer Versammlung „verherrlicht oder ausdrücklich billigt" 123 . Eine ähnliche Strafvorschrift enthielt später das Republikschutzgesetz vom 25.3.1930 1 2 4 in § 5 I N r . 4 . Zur Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung in das Strafgesetzbuch kam es nach Gründung der Bundesrepublik. Durch das Dritte Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. 8.1953 1 2 5 (Art. 1 Nr. 23) wurde die Verhandlungen des Deutschen Reichstags, 2. Legislaturperiode, 3. Session 1875/76, Anlage Nr. 54, Art. I, § 111; 9. Legislaturperiode, 3. Session 1894/95, Anlage Nr. 49, Art. I, § 111 a. 119 §131 Vorentwurf 1909 lautete: „Wer die gesetzliche Ordnung dadurch gefährdet, daß er öffentlich oder durch Verbreitung von Schriften, Abbildungen oder Darstellungen zur Begehung von Verbrechen oder Vergehen . . . auffordert oder aufreizt oder begangene Verbrechen verherrlicht, wird . . . bestraft." 120 Vorentwurf 1909, Begründung, 481. 121 Vorentwurf 1909, Begründung, 481. 122 RGBl. I, 585. 123 Zu Anlaß und Entstehungsgeschichte des Gesetzes (und der ihm u. a. aufgrund des genannten Ereignisses bereits vorangegangenen Schutzverordnungen, die ebenfalls Bestimmungen gegen Billigung politischer Gewalttaten enthielten) eingehend Gotthard Jasper, Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922-1930 (1963), 34 ff, 56 ff, 69 ff. i» RGBl. I, 91. 125 BGBl. I, 735.

Zum Bedeutungswandel der Billigung begangener Straftaten

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Vorschrift über Belohnung und Billigung von Straftaten als § 140 in das Strafgesetzbuch eingefügt. Das 14. StrAG vom 22.4.1976 1 2 6 gab dem Tatbestand des § 140 StGB im wesentlichen seine heutige Gestalt 127 . Indem § 140 StGB mit seinem Billigungstatbestand zum einen die Aufreizung zu weiteren gleichartigen Taten, zum anderen den Angriff auf grundlegende Wertauffassungen der Gemeinschaft treffen will (s. o. II 2), liegt er auf der Linie jener beiden Strafbarkeitsbegründungen, die übriggeblieben waren, nachdem die retrospektive Strafbarkeitsbegründung ihre dogmatische Legitimation verloren hatte: der prospektiven und der unmittelbaren. Doch kann dabei nicht übersehen werden, daß es nicht Lehrmeinungen der Wissenschaft über die strafrechtliche Relevanz der Billigung begangener Straftaten, sondern aus politischen Umständen erwachsene akute Strafbedürfnisse waren, denen § 140 StGB und seine gesetzlichen Vorgänger in unserem Jahrhundert ihre Existenz verdanken.

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BGBl. I, 1056. Näher dazu Hanack (Fn. 8), § 140, vor Rdn. 1, m. w . N .

Notizen zu Radbruchs Vorschule der Rechtsphilosophie" ALEXANDER

HOLLERBACH

I. Dem Kenner und Liebhaber Radbruchs sind die Namen Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg vertraut. Es sind die Namen der beiden „Studenten der Rechte", welche die Nachschrift von Radbruchs Vorlesung „Rechtsphilosophie", die er im Wintersemester 1946/47 gehalten hat, besorgt und herausgegeben haben. Man wird aber im Schrifttum vergeblich nach näherem Aufschluß über die beiden Personen suchen. Auch die Edition der „Vorschule" im Rahmen der Radbruch-Gesamtausgabe 1 läßt sich darüber nicht aus. Eine glückliche Fügung hat mich auf die Spur der beiden RadbruchSchüler gebracht. Was sie mir von sich und über ihr Verhältnis zu Radbruch berichtet haben2, darf ich - verbunden mit eigenen Nachforschungen - mit ihrem Einverständnis in der folgenden Weise weitergeben: 1. Harald Schubert wurde am 25. September 1921 in München geboren. In Herrsching aufgewachsen, legte er 1939 am Gymnasium in Pasing die Reifeprüfung ab. „Nach 5 '/^jährigem ununterbrochenem Kriegsdienst, meist an der Ostfront, kehrte ich im Mai 1945 nach Hause zurück" 3 . Schubert begann das Studium der Rechtswissenschaft in Heidelberg im Januar 1946 und beendete es nach sechs Semestern mit der im September 1948 abgelegten Ersten Juristischen Staatsprüfung. Energisch wurde auch das Ziel der 1 Band 3: Rechtsphilosophie III, bearbeitet von Winfried Hassemer, Heidelberg 1990, S. 121-227. Der Editionsbericht wiederholt lediglich das Titelblatt der ersten Auflage von 1948 mit der Angabe der beiden N a m e n (S. 294), nimmt aber keine N o t i z von der SchlußSeite, w o neben Daten zur Biographie Radbruchs immerhin Geburtstage und Geburtsorte der beiden Herausgeber verzeichnet sind. Vgl. im übrigen zu dieser Edition meine Besprechung in J R 1991, S.395.

2 Harald Schubert in einem Brief vom 10. O k t o b e r 1991, Joachim Stoltzenburg in einem Brief vom 25. Juli 1991. 3 So die Formulierung des Autors in der seiner Dissertation beigegebenen Vita. Vgl. dazu sogleich Anm. 4.

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Promotion verfolgt. Schubert erreichte es 1950 aufgrund der nach dem Tod Radbruchs von Eberhard Schmidt betreuten Dissertation über „Die Bedeutung von Geständnis und Leugnen für die Strafe" 4 . Sie trägt die Widmung „In memoriam Gustav Radbruch". Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen (1951) fand Harald Schubert zunächst eine Anstellung bei der Deutschen Bank München, trat aber 1956 als Beamter in das Bundeswirtschaftsministerium ein, wo er insbesondere als Referent für Ausfuhrbürgschaften und Garantien tätig war und als Mitglied des Interministeriellen Ausschusses (des sog. Hermes-Ausschusses) fungierte. 1964 wechselte er zur freien Wirtschaft über und war bis zu seiner Pensionierung im Jahre 1986 kaufmännischer Direktor und Justitiar der Firma J. M. Voith GmbH in Heidenheim an der Brenz. Harald Schubert faßt seine Erinnerungen so zusammen: „Letztlich war es Radbruchs ,Einführung in die Rechtswissenschaft' (erste Aufl.) 5 , die mir mein Vater zum Lesen gegeben hatte, in Verbindung mit einem Kriegserlebnis, um mich zum juristischen Studium zu bewegen. Die Zeitungsnachricht, daß Radbruch zum Juristischen Dekan der wiedereröffneten Universität Heidelberg ernannt wurde 6 , war für mich ein Signal, unbedingt die Zulassung für Heidelberg zu bekommen (obwohl ich bereits die Zulassung für München, meine Heimatstadt, in Händen hatte). - Die Einführungsvorlesung von Radbruch1 war für mich ein Erlebnis, weil sie den Blick in eine völlig neue Welt öffnete. Die Verbindung klarer und strenger juristischer Diktion mit weit übergreifender kultureller Sicherheit und hohem ethischen Anspruch war über4 Diss. iur. masch. Heidelberg 1950, 74 S. Das Diplom trägt das Datum vom 15. Februar 1951. 5 Wiederabdruck jetzt in der Radbruch-Gesamtausgabe Band 1: Rechtsphilosophie I, bearbeitet von Arthur Kaufmann, Heidelberg 1988, S. 91-209. Vgl. dazu meine Besprechung in JR 1988, S.130f. 6 Zur Geschichte der Universität Heidelberg in der unmittelbaren Nachkriegszeit vgl. Renato de Rosa, Der Neubeginn der Universität 1945. Karl Heinrich Bauer und Karl Jaspers, in: Semper Apertus. Sechshundert Jahre Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg 1386-1986, Bd. III, Heidelberg 1985, S. 544-568. Siehe auch Frank R.Pfetsch, Neugründung der Universität nach 1945?, in: Auch eine Geschichte der Universität Heidelberg, hrsg. v. Karin Buselmeier, Dietrich Harth, Christian Jansen, Mannheim 1985, S. 365-380. Allgemein zur Heidelberger Juristenfakultät vgl. die nach wie vor wertvolle Arbeit von Günter Dickel, Die Heidelberger Juristische Fakultät. Stufen und Wandlungen ihrer Entwicklung, in: Ruperto-Carola, Sonderband: Aus der Geschichte der Universität Heidelberg und ihrer Fakultäten, Heidelberg 1963. Speziell zu Gustav Radbruch im Heidelberger Kontext siehe Wilfried Küper, Gustav Radbruch als Heidelberger Rechtslehrer. Biographisches und Autobiographisches (1978), in: ders. (Hrsg.), Heidelberger Strafrechtslehrer im 19. und 20. Jahrhundert, Heidelberg 1986, S. 225-241, und Adolf Laufs, Gustav Radbruch, in: Semper Apertus (s.o.) S. 148-166. 7

Einführung in die Rechtswissenschaft.

Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

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wältigend, zumal sie getragen war von menschlicher Wärme und Toleranz. Im Sommersemester 1946 hörte ich seine Vorlesung über Strafrecht Allgemeiner Teil und im darauffolgenden Wintersemester die rechtsphilosophische Vorlesung 73 . Zusammen mit meinem damaligen Studienfreund Joachim Stoltzenburg wollten wir diese Vorlesung im Detail mitschreiben und anschließend als Vorlesungsskriptum herausgeben, um dem Büchermangel abzuhelfen. Wir baten Radbruch um Genehmigung hierzu. Nach einer Prüfung des erarbeiteten Textes über die ersten Vorlesungen erklärte Radbruch sein Einverständnis mit der Maßgabe, die Ausarbeitung so zu fassen, daß sie nach einer Korrektur durch ihn als Buch veröffentlicht werden könne. Dies war ein sehr hoher Anspruch an Studierende im dritten Semester. Nach jeweils einigen Vorlesungen diskutierten wir mit ihm das Arbeitsergebnis. Es war ein Erlebnis für uns, als gleichberechtigte Diskussionspartner angesehen zu werden und auch von uns aus etliche Formulierungsvorschläge einbringen zu können, die letztlich auch akzeptiert wurden. Etwa vier Wochen nach Semesterende war die Nachschrift veröffentlichungsreif fertig 8 . - Wir durften auch beide an den abendlichen Diskussionen in seinem Hause über rechtsphilosophische und staatspolitische Probleme teilnehmen. Er wurde für uns zum Idealbild eines großen Lehrers. Er selbst empfand es wohl als eine wesentliche Aufgabe, die vom Krieg heimgekehrten Studenten, alle wesentlich älter als heute, die sich zum Teil als verlorene oder betrogene Generation vorkam, hinzuführen zu Recht und Staat in seinem S i n n e . . . Ergreifend war seine Abschiedsvorlesung im Juli 1948 in der Aula der Alten Universität 9 . - In der Feierstunde zum 40. Jahrestag der Wiedereröffnung der Juristischen Fakultät in der Aula der alten Universität 1986 hielt ich eine kurze Ansprache zur Erinnerung an Gustav Radbruch." 2. Joachim Stoltzenburg erzählt: „Ich bin 1921 in der damals noch ganz überschaubaren, mittelgroßen Beamtenstadt Schwerin in Mecklenburg zur Welt gekommen und in einer Familie aufgewachsen, in der von Wissenschaft überhaupt nicht, sondern nur von Musik, Theater und Natur gesprochen wurde. Ich besuchte wie die Söhne der vorhergehenden Generation das Humanistische Gymnasium, aber im Schatten des Nationalsozialismus. 1939 bestand ich die Reifeprüfung - Lichtjahre von 71 Im Personal- und Vorlesungsverzeichnis für das Winter-Semester 1946/47 war die (dreistündige) Vorlesung bemerkenswerterweise so angekündigt: „Rechtsphilosophie (Naturrecht)"! 8 Das Vorwort von Gustav Radbruch ist verfaßt „im August 1947". Erschienen ist das Bändchen freilich erst 1948. ' Zu Radbruchs Abschiedsvorlesung vgl. den eindrucksvollen Bericht von Edwin Kuntz in der Rhein-Neckar-Zeitung vom 15. Juli 1948: Gustav Radbruchs Abschied von seinem Lehrstuhl.

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Reife und Menschenkenntnis entfernt, erfüllt von idealistischen Gesinnungen des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Von der Schulbank ging es im April 1939 in den Arbeitsdienst und Krieg, den ich als Obergefreiter überstand. — Kaum daß ich im Juli 1945 heimgekommen war, wurde Schwerin der Sowjetischen Besatzungszone zugeschlagen. Ein totalitäres Regime genügte mir. Ich überquerte im Dezember 1945 die Elbe bei Nacht in Richtung Westen. Auf der Suche, immatrikuliert zu werden, landete ich über Göttingen und Frankfurt in Heidelberg. Am 30. Januar 1946 wurde ich inskribiert. Ich stürzte, in ständiger Begleitung eines leeren Magens, in eine auf der Oberstufe zwar erahnte, mir aber völlig unbekannte Welt und begann meine Odyssee, um die Leuchtfeuer zu finden, die mir den Weg weisen sollten". Joachim Stoltzenburg absolvierte das Referendarexamen im Winter 1949/50. Auch er wollte verständlicherweise bei Gustav Radbruch promovieren: „In meinem letzten Semester (1949) gab es die erste Erwähnung eines Dissertationsthemas. Radbruch dachte, für mich sehr erstaunlich, an ein völkerrechtlich-außenpolitisches Thema (in Erinnerung an 1936/38?): Die Intervention im Völkerrecht. Bevor wir auch nur den Faden dieses Gedankens aufnehmen konnten, nahm ihn der Tod Gustav Radbruch aus der Hand - so wie er es gewünscht hatte: ,in den Sielen Sterben'. An seinem Grab sprach ich für die Studenten. Ich Schloß mit dem Wort Augustins: Cor meum inquietum donec requiescat in Te, auch als Ausdruck einer nach der deutschen Katastrophe neuen Aufgeschlossenheit Radbruchs gegenüber christlicher Religiosität" 10 . Die Promotion erfolgte dann 1953 aufgrund der Arbeit „Das Problem des Uberzeugungsverbrechers bei Gustav Radbruch" 1 1 . Eberhard Schmidt war der Erstreferent. Nach dem Zweiten Juristischen Staatsexamen (1953) schlug Joachim Stoltzenburg die Bibliothekslaufbahn ein. Nach dem Referendariat war er bis 1964 an der Landesbibliothek in Stuttgart tätig. Danach übernahm er die große Aufgabe, die Bibliothek der neugegründeten Universität Konstanz zu planen und zu leiten. Darüber hat er eingehend berichtet 12 . 1986 trat er in den Ruhestand. Uber die Entstehung von Radbruchs „Vorschule" heißt es in dem Bericht von Joachim Stoltzenburg: „Harald Schubert kam auf die Idee wir waren im zweiten (!) Semester eine Nachschrift seiner Vorlesung Text im Anhang (II). Diss. iur. masch., V I , 167 S. Als offizielles Datum ist der 17. Juli 1953 angegeben. 12 Ein R ü c k b l i c k nach vorn. Zum Entstehen einer N e u e n Universitätsbibliothek, in: Zwischenbilanz. Festschrift für Lothar Späth anläßlich der Fertigstellung des Mischkreuzes der Universität Konstanz, hrsg. v. Rudolf Leibinger u. H o r s t Sund, Konstanz 1988, S. 1 6 7 204. M i t kleinen Varianten auch in: D i e Neugründung von wissenschaftlichen Bibliotheken in der Bundesrepublik Deutschland, 1990, S. 1 2 1 - 1 6 8 . 10 11

Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

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,Einführung in die Rechtsphilosophie' zu vervielfältigen. Er war verwegen genug, meine Bedenken zu überrollen. So gingen wir zu Radbruch, unserem Dekan. Auch er war erst einmal überrascht und zögerte. Wir verwiesen darauf, daß viele Kommilitonen eine Nachschrift entbehrten. Dann glitt ein feines, zartes Lächeln über sein Gesicht: ,Also gut, wenn Sie einverstanden sind, daß wir es miteinander machen'. Dieses Miteinander' bestand dann natürlich weithin in der Vorgabe des Textes für uns, von dem wir allenfalls Teile zureichend verstanden. Zumal wir in der NS-Zeit zur Schule gegangen waren und herzlich wenig von philosophischen Denkkategorien oder auch nur Philosophiegeschichte gehört hatten. Und anschließend ging es sofort in den Krieg, aus dem wir gerade erst in Heidelberg wieder aufgetaucht waren". 3. Die Schilderung der konkreten Entstehung des Textes in dem „Miteinander" zwischen den beiden damaligen Studenten einerseits, Radbruch andererseits, weicht bei Schubert und Stoltzenburg in Nuancen voneinander ab. Radbruch selbst hat es im Vorwort zur ersten Auflage so formuliert: „Zwei Hörer meiner rechtsphilosophischen Vorlesung baten mich, sie zur Vervielfältigung der Nachschrift dieser Vorlesung zu ermächtigen. Ich gestattete ihnen die Drucklegung. Ich habe den Text revidiert, ihm jedoch den Charakter einer Vorlesungsnachschrift erhalten"13. Als die Schrift 1959 in einer zweiten Auflage erschien, hat übrigens Joachim Stoltzenburg ein relativ umfangreiches Vorwort dazu beigesteuert14, das sich freilich zum Entstehungsprozeß nicht äußert, um so mehr, mit Engagement und Sachkunde, zur Sache. An der Herausgabe der dritten Auflage waren die beiden Ur-Herausgeber nicht mehr beteiligt. Sie wurde von Arthur Kaufmann besorgt; das Vorwort stammt von Frau Lydia Radbruch15. II. Es ist längst deutlich geworden, daß es in diesen „Notizen" nicht nur um Radbruch und seine Vorschule geht, auch nicht nur um die Kenntnis der Biographien der beiden damaligen studentischen Herausgeber. Es geht vielmehr letztlich um einen Beitrag zur Erhellung der Zeitsituation, abgelesen und exemplifiziert an der Begegnung zweier Angehöriger der Zitiert nach dem Abdruck in Band 3 der Gesamtausgabe, S. 123. AaO S. 123-125. Von Joachim Stoltzenburg vgl. im übrigen auch: Gustav Radbruch, in: Ruperto-Carola. Mitteilungsblatt der Freunde der Studentenschaft der Universität Heidelberg, Nr. 2, Februar 1950, S. 14-16. 15 AaO S. 126. Die dritte Auflage enthielt „Ergänzende Schrifttumshinweise" (in der Originalausgabe S. 115-123). Der Abdruck in Band 3 der Gesamtausgabe macht darauf nicht aufmerksam. 13

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sog. typischen Kriegsgeneration mit einem Gelehrten, in dessen Schicksal sich seinerseits die turbulenten Zeitläufte der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Deutschland widerspiegeln. So legt sich in dieser allgemeineren Perspektive nahe zu hören, wie - über den konkreten Bezug zur „Vorschule" hinaus - die Begegnung mit Radbruch erfahren wurde. Ich zitiere aus dem Brief von Joachim Stoltzenburg: „Ich will gerne meine Erfahrungen mitteilen, die sich mir von Gustav Radbruch eingeprägt haben. Allerdings glaube ich kaum mit Grund annehmen zu können, daß ich besondere, also andere Erfahrungen als die eines jeden Studenten machte, der ihn nach 1945 kennenlernte: die Erfahrung eines wissenden und gütigen Menschen; von einer gütig-zugewandten Art, von der jeder spürte, daß sie auf der summa seiner in einem weit gespannten bewegten Leben gewonnenen Einsichten beruhte, die ich mit einem schönen Wort Immanuel Kants bezeichnen möchte: ,Wissen, das Wahn ist, blähet auf, Wissen bis an die Grenzen desselben, machet demütig'16. Und dieses vom Geist Gustav Radbruchs erfüllte und ausgebreitete, aber seiner eigenen Grenzen so bewußte Wissen war getragen von einer so liebevollen, für sich selbst nichts wollenden Zuwendung zu den ihm begegnenden Menschen, wie ich sie sonst nur ein einziges anderes Mal in sieben Jahrzehnten erlebt habe. Seine, in seiner Bescheidenheit ruhende Güte trug seine nicht endende Geduld mit seinen Studenten, mochten sie auch töricht fragen oder antworten. Dem Bild aus jener Zeit von Tina Binz ist diese gelebte humanitas abzulesen17. Ich hatte - ich weiß nicht wodurch - das unverdiente Glück, zu einem kleinen Kreis von Studenten zu gehören, den er, ich glaube vierwöchentlich, zu sich in seine Wohnung am Friesenberg einlud. Und Frau Lydia Radbruch reichte uns Tee. So erlebte ich noch ein Stück wohl letzter Verwirklichung der Humboldtschen Universitätsidee. Unvergeßlich ist mir der Eindruck, daß wir, aus dem Kriege heimgekehrte Menschen dieses Kreises, abgrundtief skeptisch waren gegen jede Orientierung in der Welt verheißende Idee, so sehr wir sie gleichzeitig fast verzweifelnd suchten - und wie von Radbruch ein Licht erhellender, ja heiterer Gewißheit ausging. Nicht die Gewißheit einer (materialen) Lehre, die uns sagte, wohin wir gehen, sondern wie wir suchen sollten. Es war vermutlich von unserer Seite aus kaum oder selten ein sokratischer Dialog, aber Radbruch war ein sokratischer Lehrer. - Zur 600-Jahr-Feier der Universität Heidelberg (1986) war ich zuletzt wieder in der Alten 16 Zitiert nach Kurt Rossmann, Uber die Begrenzung von Glauben und Wissen in der Kritik der reinen Vernunft Immanuel Kants, in: Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie, Heidelberg 1948, S. 66 = Akademie-Ausgabe. Handschriftlicher Nachlaß Bd. III, Nr. 2446 (S.371f). 17 Gemeint ist das Photo in Gustav Radbruch, Der innere Weg, Stuttgart 1951, neben S. 192; in Band 16 der Gesamtausgabe S. 276.

Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

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Aula, in der Gustav Radbruch las und wir ,zu seinen Füßen saßen', die wir uns, wenn er die Aula betrat, erhoben hatten (wenn dies keine heutige Wunschvorstellung von mir ist). Ich denke, es waren anfangs vielleicht 100 Studenten. Der verhältnismäßig kleine, zarte Mann, mit dem großen, fast kahlen runden Kopf und den warmherzigen Augen, mit einer Schüttellähmung im linken Arm, ging mit kleinen Schritten zum Katheder, und seine nicht weit tragende Stimme hatte Mühe, den großen Raum zu füllen. Absolute Ruhe unter den Zuhörern war geboten und wurde gewahrt. Zwei oder drei winzige Zettel mit Krickelkrackel legte er vor sich hin - und schaute sie 45 Minuten lang nicht an, sondern nur uns, seine Hörer. Und so trug jede Welle seiner Sätze und Worte, die so, wie sie erklangen, hätten gedruckt werden können, den Zauber der durchsichtigen Klarheit seines kultivierten Geistes und Wesens zu uns. Ich will nicht von dem sprechen, was Gustav Radbruch an seine Hörer in diesen ersten Nachkriegsjahren zur Bildung ihres Urteilsvermögens herantrug. Doch bin ich mir sicher, daß nicht wenige von ihnen durch Radbruchs (neu)kantianischen Denkansatz, den er mit Max Weber teilt, zu den Grundlagen ihres wissenschaftlichen Denkens, und durch den von dorther entfalteten erkenntnistheoretischen Wert-Relativismus auch zu denen ihres moralisch-politischen Denkens fanden - und so die Chance hatten, sich im geistigen Raum frei zu orientieren und ihrer innersten Uberzeugung, ihrer Art von Menschsein gemäß sich zu entscheiden. Und wer, obwohl (!) er Jurist werden wollte, dafür empfänglich war, erlebte sich selbst gegenüber einer kristallklaren logischen Präzision der Aussage und einer schlichten, unendlich wohltuenden, von künstlerischem Geist und Formwillen kultivierten und von lebendiger Anschauung geprägten Sprache, an der der Hörer die eigene bilden konnte. Radbruch war ein großer Lehrer - und ein Glücksfall sondergleichen für den, der ihm begegnen durfte. Und nicht nur für die Formung seiner geistigen Welt. Radbruchs Zuwendung zu seinem Nächsten ließ ihn auch aktiv-praktisch für ihn handeln. Mit der Währungsreform 1948 war auch ich vom häuslichen Geldnachschub jäh abgeschnitten. Und es gab nichts zu ,jobben', allenfalls Schwarzmarktgeschäfte. So sorgte Radbruch als erstes dafür, daß ich in der ,νοηThadden-Mädchen-Internatsschule' 18 für mehrere Monate einen freien Mittagstisch erhielt. Und außerdem bat er mich, ob ich ihm wohl den Gefallen täte, seine private Bibliothek von mehreren tausend Bänden zu katalogisieren (damit er mich mit der neuen D-Mark ,entlohnen' konnte!). - Seine letzte Vorlesung in der von seinen Kollegen und Studenten überfüllten Aula am Ende des Sommersemesters 1948. Es gab

18 Dazu Marie Baum, Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950, S. 310 ff, 345 ff. Vgl. im übrigen unten bei Anm. 23.

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wohl kaum einen Zuhörer, der nicht die Ambivalenz der Stunde empfand, zwischen Dankbarkeit für die im Wohlklang der Sätze aufsteigende Transparenz eines luziden Geistes und dem Schmerz des Abschieds von diesem gütigen Menschen. Ich durfte, dicht unter dem Katheder stehend, den Dank der Studenten an Gustav Radbruch sprechen" 19 . Joachim Stoltzenburg war es auch, der bei der Akademischen Feierstunde, welche die Universität Heidelberg am 28. Januar 1950 zum Andenken an ihren großen Lehrer hielt, ausgewählte Stücke aus Radbruchs Schriften las20. III. Durch die Namen der beiden studentischen Herausgeber von Radbruchs „Vorschule" fällt auch Licht auf eine bemerkenswerte studentische Vereinigung, die im Heidelberg der unmittelbaren Nachkriegszeit eine beachtliche Rolle gespielt hat21. Harald Schubert war nämlich Gründungsmitglied und Erster Vorsitzender im Sommersemester 1947, Joachim Stoltzenburg Mitglied und im Wintersemester 1947/48 Erster Vorsitzender des „Friesenberg". In dieser, wie sie offiziell hieß, „Vereinigung Heidelberger Studenten e.V." wurde von Studenten und Studentinnen der Versuch unternommen, eine im Verhältnis zu den überkommenen studentischen Korporationen neue, zeitgemäße Form des Gemeinschaftslebens zu pflegen22. Der Name „Friesenberg" wurde gewählt, weil man sich in der Gründungs- und Entstehungsphase im Hause Friesenberg 1 a in der Wohnung von Marie BaumP traf - im 19 Text im Anhang (I). In dem Bericht von Edwin Kuntz (vgl. oben Anm. 9) heißt es: „Eine schöne, das Wesentliche treffende Ansprache eines Kommilitonen faßte den Dank der Studenten zusammen. Es war mehr als richtig gesehen, wenn dabei zum Ausdruck gebracht wurde, daß man dessen, was man Gustav Radbruch alles zu danken hat, erst nach Jahren ganz gewahr werden könne". 20 Nachweis dafür bei Michael Gottschalk, Gustav Radbruchs Heidelberger Jahre 1926-1949, Diss. iur. Kiel 1982, S. 141. Merkwürdigerweise wird übrigens in dieser Arbeit die „Vorschule" an keiner Stelle erwähnt, noch nicht einmal im Literaturverzeichnis. 21 Vgl. dazu die ausgezeichnet dokumentierte und höchst aufschlußreiche Darstellung von Walter Schmitthenner, Studentenschaft und Studentenvereinigungen nach 1945, in: Semper Apertus (wie Anm. 6), Band III, 1985, S. 569-616 (590-598). Herr Schmitthenner, emeritierter Ordinarius für Alte Geschichte an der Universität Freiburg, war auch so freundlich, mir die Broschüre zur Verfügung zu stellen, die aus Anlaß des 10jährigen Bestehens des „Friesenberg" in hektographierter Form herausgebracht wurde: Vereinigung Heidelberger Studenten e.V. Friesenberg 1946-1956. 22 Zu der Diskussion darüber vgl. den Beitrag von Joachim Stoltzenburg, „Bewährtes Gedankengut"?, in: Die Heidelberger Studentenschaft 1949, Nr. 8 vom 15.Juli 1949, S.6f. Ώ Zu ihr vgl. ihre eigene Darstellung: Rückblick auf mein Leben, Heidelberg 1950. Für die vorliegenden konkreten Zusammenhänge unentbehrlich auch ihre Darstellung unter dem Titel „Nachspiel: Erfüllung, 1945-1949" in: Gustav Radbruch, Der innere Weg,

Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

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gleichen Hause, in dem auch die Radbruchs wohnten. „Bald ergab es sich, daß auch Studenten einer Gesprächsrunde um Gustav Radbruch . . . an den Beratungen im oberen Stockwerk teilnahmen" 24 . Auf diese Weise wurden Marie Baum und, so lange er lebte, Gustav Radbruch die „natürlichen Häupter" des Freundeskreises, aus dem der „Friesenberg" herauswuchs 25 . Von beiden ging eine starke Prägung aus, Harald Schubert und Joachim Stoltzenburg bekunden es in ihren Mitteilungen. Sie haben ihrerseits die Vereinigung in der Zeit ihres Studiums aktiv mitgetragen: Von Harald Schubert ist festgehalten, daß er im Winter 1947/ 1948 Ski-Aufenthalte auf der Zugspitze vorbereitet und organisiert hat26. Joachim Stoltzenburg gehörte zur ersten Gruppe von „Friesenbergern", die im Januar 1948 einen vierwöchigen Aufenthalt bei Kopenhagener Familien antreten durften und damit eine intensive Verbindung nach Dänemark schufen 27 . „Die Worte, mit denen Radbruch, der verehrungswürdige, vom Leiden gezeichnete Mann . . . seine Genugtuung darüber ausdrückte, daß er diese Studentengeneration des Nachkriegs noch erlebt habe, wird keiner vergessen, der sie gehört hat" 28 . Zu dieser Generation gehört auch der um die Radbruch-Forschung hochverdiente Jubilar, dem dieser Beitrag dankbar gewidmet ist. Es ist nicht zuletzt die intensive Beschäftigung mit den beiden von ihm mustergültig bearbeiteten Bänden der Radbruch-Gesamtausgabe 29 , die für diese Studie motivierend gewesen ist30.

Stuttgart 1951, S. 196-212, in Band 16 der Gesamt-Ausgabe S. 287-296. Dort S. 408 f auch weitere Hinweise zu Marie Baum. 24 Schmitthenner, aaO S.591. 25 AaO S. 595. 26 Vgl. dazu im einzelnen die Angaben in der in Anm. 18 verzeichneten Broschüre. 27 Schmitthenner, aaO S. 597. 28 Auch insoweit darf Walter Schmitthenner als authentischer Zeitzeuge zitiert werden: aaO S. 595. 29 Band 16 (Biographische Schriften), 1988, und Band 17 (Briefe I 1898-1918), 1991. Vgl. dazu meine Besprechungen in JR 1988, S.481 und JR 1992. 30 Nach Abschluß des Manuskripts und der Korrektur wurde mir das Werk von Waldemar Krönig / Klaus-Dieter Müller, Nachkriegs-Semester. Studium in Kriegs- und Nachkriegszeit, Stuttgart 1990, bekannt. Auf dieses materialreiche Buch sei im Hinblick auf die Erhellung der allgemeinen Zeitsituation mit Nachdruck hingewiesen.

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Anhang I. Text der von Joachim Stoltzenburg am 13. Juli 1948 vorgetragenen Abschiedsrede Verehrter Herr Professor! Wohl heißt es: Wem das Herz voll ist, dem fleußt der Mund über. Es gibt aber darüber hinaus eine Fülle der Empfindung, die durch keine Worte in rechter Weise vermittelt werden kann. So bitte ich Sie, diesen Versuch eines Dankes der Studenten aufzufassen, als die Andeutung dessen, was in Wirklichkeit in unserem Herzen dahinter steht. Aus zwei Gründen sind wir heute morgen zu Ihnen gekommen: Noch einmal wollten wir Ihre mahnenden und weisenden Worte in gesammelter Konzentration in uns aufnehmen. Wir wollen sie bewahren, eingedenk, daß diese Sätze die Frucht eines reifen und reichen Lebenswerkes sind. Wir wollen Ihre Worte, die aus einem großen und gütigen Herzen kommen, mit auf unseren Weg nehmen, der in wenigen Jahren uns als Akademikern eine außergewöhnliche große Verantwortung für unsere Mitmenschen auferlegen wird. Noch einmal wollen wir uns die Worte dieser Stunde einprägen, von denen wir wissen, daß sie an der furchtbaren Realität zweier Weltkriege immer und immer wieder überprüft sind. Aber nicht nur, um zu nehmen, wie schon in so unzähligen Collegstunden zuvor, sondern um einmal auch zu geben, unseren Dank zu bringen, sind wir heute hierher gekommen. Dank wollen wir Ihnen sagen, lieber Herr Professor, für all die unzähligen Anstrengungen und Mühen, die Sie unseretwegen immer wieder auf sich genommen haben. Dank dafür, daß Sie sich trotz größter persönlicher Belastungen seit Herbst 1945 bereit fanden, in unermüdlicher Uberwindung von Hindernissen sich täglich neu für den Wiederaufbau unserer Universität einzusetzen. Aber hinter diesen nüchternen Worten „Wiederaufbau unserer Universität" steht Ihr aus tiefstem Verantwortungsbewußtsein geführtes unablässiges Ringen um jene Studenten, von denen mancher an Leib und Leben zerschlagen aus dem Kriege heimkehrte. Ihre ganze Schaffenskraft der letzten drei Jahre galt diesen Studenten, die sich oft ehrlich quälen, ihren eigenen Weg durch das geistige Chaos unserer Zeit zu finden. Ihnen zeigten Sie mit immer gleicher Geduld und Güte die Möglichkeit eines gangbaren Pfades. Und dies sei nun der eigentliche Kern unseres Dankes, den wir Ihnen, Herr Professor, am heutigen Morgen aus vollem Herzen bieten wollen: Dank, daß wir durch Ihre Collegs durch 6 Semester hindurch das Recht nicht als eine tote Maschinerie ineinandergreifender Normen gelehrt bekamen, sondern das Recht als eine Kulturerscheinung und Kulturmacht begreifen lernten, in deren Mitte unverrückbar der Mensch steht, dessen äußerer Friede bewahrt werden soll. Dank, daß wir in immer wieder neuem juristischen Gewände ein Menschenbild kennenlernten, in welchem die Macht des Willens gebunden ist an das Gewissen des Entscheidenden, dessen Freiheit der Entscheidung jedoch unbenommen, dessen Verantwortlichkeit für seine Entscheidung unbestritten bleibt. Dies ist das Menschenbild, das aus dem kostbarsten Strom des abendländischen Geistes gespeist ist: aus dem humanistischen Denken zweier Jahrtausende. In einem Zeitalter, in welchem die Krise des Rechtsdenkens im totalen Staat durch Erhebung des Unrechts zum System ihre offenkundige Wirklichkeit gefunden hat, ist die Frage nach den Grundlagen eines Neubaus als die Frage der Gegenwart unausweichlich geworden. Und daß Sie uns in dieser bedrohlichen Situation immer wieder die Idee des Rechtes und der Gerechtigkeit als unverrückbaren Maßstab einer menschlichen sozialen Ordnung bewiesen haben, dafür wollen wir Ihnen mit dem Versprechen unseres Verpflichtetseins auf diesem Weg unsere Dankbarkeit begründen.

Notizen zu Radbruchs „Vorschule der Rechtsphilosophie"

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Aber nicht nur der Inhalt dessen, was Sie sagen, Herr Professor, sondern daß Sie leben, was Sie sagen, bedingt immer wieder die Wirkung Ihrer Worte. Denn jeder spürt, w o er auch immer mit Ihnen zusammentrifft, daß niemals Lehre und Leben, Denken und Handeln in zwei getrennte Bereiche auseinander fallen, sondern stets der Wissenschaftler im Menschen wie der Mensch im Wissenschaftler lebendig ist. Durch diese reiche Synthese wurden alle Vorlesungen geprägt, in denen die Sicherung und Pflege des Humanum des Menschen als die zentrale Aufgabe des Geistes in immer neuen Formen zum Ausdruck kam. In unsere Arbeit und unser Leben wollen wir diese Aufgabe hineinnehmen als jene Studenten, die aus einem Kriege zurückgekehrt sind, der alles Menschliche in den Menschen zu vernichten drohte und in den Menschen aller Nationen furchtbare Verheerungen zurückgelassen hat. So sind sich die Studenten dieser Fakultät bewußt, welch einen tiefen Verlust sie durch Ihr Ausscheiden aus dem Lehrkörper der Fakultät erleiden. Wir bitten Sie aber, das Wissen in Ihren Lebensabend mithinüber zu nehmen, daß Ihre Lehrtätigkeit in diesen 6 Semestern seit Kriegsschluß in der Erinnerung der Studenten stets lebendig bleiben wird. Später erst werden wir recht erkennen, wie sehr wir durch Sie mitgeformt wurden. Wenn wir in wenigen Wochen oder Monaten in den Strom des Lebens hinausgehen, werden unsere Gedanken stets mit Dankbarkeit und allen unseren guten Wünschen für einen reichen, frohen und friedlichen Lebensabend zu Ihnen gehen.

II. Text der von Joachim Stoltzenburg bei der Trauerfeier für Gustav Radbruch gesprochenen „Abschiedsworte der Studenten" Ich stehe hier im Namen der Generationen von Studenten, die zu Füßen dieses großen Lehrers saßen, und spreche für sie alle die Worte der Liebe und des Dankes, die sie ihm stets von neuem entgegenbrachten. Ich spreche vor allem aber auch für die Studenten, die, aus dem Chaos des letzten Krieges heraus, zu ihm kamen; für uns, die wir ihm für immer Dank wissen, daß er uns half, den Schrecken vor den auseinander stiebenden Trümmern der geistigen Welt zu bannen. Er durchdrang uns mit dem lebendigen Wissen, noch in der großen, von vielen Jahrhunderten geschaffenen geistigen Uberlieferung zu stehen. Ihm gilt unser Dank, daß er uns das Recht als einen Kosmos zeigte, wie er unablösbar verflochten ist mit allen menschlichen und außermenschlichen Bezirken des Lebens. Dank aber sagen wir ihm vor allem, daß er von seinem Licht Funken in uns warf, von seiner Güte und Liebe, von seinem Glauben an das Gute im Menschen. Inmitten einer Welt, die diesen Glauben und diese Verbindung zur geistigen Uberlieferung zunehmend verliert, stand unser Lehrer als Vorbild, dem w i r uns für immer verpflichtet wissen. Was er in unsere Herzen legte, können wir nimmermehr verlieren. Bis zum letzten Tage brachte er jedem von uns seine Liebe und Güte entgegen; bis zuletzt war er für jede Frage und Sorge, die wir zu ihm brachten, mit Rat und Tat zur Hilfe bereit. In jedem Problem, das uns bewegte, suchte er gemeinsam mit uns in immer neuer Bemühung die Wahrheit zu fassen, die für ihn nie Besitz war, sondern unaufhörlich neues Ziel. So war er unser großer Lehrer und unser guter Gefährte zugleich - und sein Leben überstrahlt von dem unveränglichen Worten Augustins: C o r meum inquietum, donec requiescat in Te.

Autobiographie oder Schattenbild? Z u r „Selbstbeschreibung" P . J . A .

Feuerbachs

WILFRIED KÜPER

Dem

verehrten Jubilar,

Autor

zahlreicher

wichtiger

Leben und W e r k bedeutender Juristen1, Herausgeber der s c h e n S c h r i f t e n " Gustav

Radbruchs2

Arbeiten

zu

„Biographi-

u n d B e t r e u e r einer z w e i b ä n d i g e n

A u s g a b e d e r R a d b r u c h - B r i e f e 3 , sei als Z e i c h e n b e s o n d e r e r W e r t s c h ä t z u n g dieses T e i l s seines r e i c h h a l t i g e n w i s s e n s c h a f t l i c h e n CEuvres auf d e n f o l g e n d e n Seiten ein kleiner B e i t r a g z u r „ j u r i s t i s c h e n A u t o b i o g r a p h i k " 4 g e w i d m e t . D e r B e i t r a g betrifft eine aus v e r s c h i e d e n e n G r ü n d e n s o n d e r bare „ S e l b s t b i o g r a p h i e " des g r o ß e n R e c h t s d e n k e r s - w i e m a n ihn m i t Erik

Wolf n e n n e n darf 5 - P a u l J o h a n n A n s e l m F e u e r b a c h

(1775-1833),

j e n e r f a s z i n i e r e n d e n J u r i s t e n g e s t a l t des 1 9 . J a h r h u n d e r t s , die a u c h d e n J u b i l a r in ihren geistigen u n d b e g e i s t e r n d e n B a n n g e z o g e n hat.

„Über

alle r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e n u n d r e c h t s p o l i t i s c h e n G e g e n s ä t z e h i n w e g " - s c h r i e b Günter

Spendet

v o r fast 3 5 J a h r e n a m S c h l u ß e i n e r W ü r d i g u n g

1 Vgl. Günter Spendel, Gustav Radbruch, Lebensbild eines Juristen, Hamburg 1967; Jurist in einer Zeitenwende, Gustav Radbruch zum 100. Geburtstag, Heidelberg/Karlsruhe 1979; Josef Kohler, Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983; Zum Tode Gustav Radbruchs, NJW 1950, 17f; Paul Johann Anselm Feuerbach, NJW 1958, 815ff; Der Rechtsgelehrte Josef Kohler und die Universität Würzburg, in: Vierhundert Jahre Universität Würzburg, Neustadt a. d.Aisch 1982, S. 461 ff; Individualität durch Universalität, Universitas Bd. 43 (1988) S. 691 ff; Feuerbach, Paul Johann Anselm, in: Walther Killy (Hrsg.), Literaturlexikon, Autoren und Werke deutscher Sprache, Bd. 3, Gütersloh/ München 1989, S. 364 f; Julius Hermann von Kirchmann - Zugleich ein Stück preußischer Justizgeschichte, in: Recht und Kriminalität, Festschrift für Friedrich-Wilhelm Krause, Köln/Berlin/Bonn/München 1990, S. 3 ff. 2 Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe, hrsg. von Arthur Kaufmann, Bd. 16, Biographische Schriften, bearbeitet von Günter Spendel, Heidelberg 1988. 5 Gustav-Radbruch-Gesamtausgabe, Bd. 17, Briefe I (1898-1918), bearbeitet von Günter Spendel, Heidelberg 1991. Bd. 18, Briefe II, ist in Vorbereitung. 4 Uber Juristen-Autobiographien vgl. Wilfried Küper, Siebzig Jahre Jurisprudenz Max Gutzwillers Autobiographie, in: In memoriam Max Gutzwiller (1889-1989), Heidelberg 1990, S . 5 I f f , mit weit. Hinw.; zu Wesen und Problematik der „Autobiographie" überhaupt vgl. auch Spendeis Betrachtungen in seiner Einführung zu Radbruchs Biographischen Schriften (oben Fn. 2), S. 7 ff. 5 Erik Wolf, Große Rechtsdenker der deutschen Geistesgeschichte, 4. Aufl. Tübingen 1963, S. 543 ff (Paul Johann Anselm von Feuerbach).

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Wilfried Küper

des F e u e r b a c h s c h e n L e b e n s w e r k s 6 - „ragt die G e s t a l t A n s e l m F e u e r bachs als eines d e r G r o ß e n u n s e r e r W i s s e n s c h a f t , dessen G e n i u s B e w u n d e r u n g u n d V e r e h r u n g erheischt." U b e r das w e c h s e l v o l l e Leben dieses g r o ß e n J u r i s t e n sind w i r nicht n u r d u r c h die n o c h i m m e r u n ü b e r t r o f f e n e F e u e r b a c h - B i o g r a p h i e Gustav Radbruchs7 gut orientiert. Es gibt auch eine F ü l l e a u t o b i o g r a phischer D o k u m e n t e . V i e l e v o n ihnen hat F e u e r b a c h s S o h n L u d w i g , d e r P h i l o s o p h , n a c h d e m T o d e seines V a t e r s gesammelt u n d als dessen „Biographischen N a c h l a ß " 1852/53 herausgegeben 8 . D a s Ludwig Feuerbach nicht z u g ä n g l i c h e o d e r v o n i h m nicht v e r w e r t e t e , w e i t v e r s t r e u t e B r i e f m a t e r i a l h a r r t f r e i l i c h noch genauerer E r f o r s c h u n g u n d z u s a m m e n f a s s e n d e r P u b l i k a t i o n 9 ; es w a r t e t auf einen so g e w i s s e n h a f t e n u n d spürsinnigen H e r a u s g e b e r , wie ihn der B r i e f s c h r e i b e r Radbruch in Günter Spendel g e f u n d e n hat. A u t o b i o g r a p h i s c h e Z ü g e soll auch die w o h l f r ü h e s t e L e b e n s - u n d W e r k d a r s t e l l u n g tragen. Sie erschien 1 8 2 3 a n o n y m in d e r v o n F. A. Brockhaus herausgegebenen R e i h e „Zeitgenossen - B i o g r a p h i e n u n d Charakteristiken" 1 0 . N a c h d e r V e r m u t u n g Julius Eduard Hitzigs hat d e r 47jährige Feuerbach, der damals i m Zenit seines R u h m e s stand, w e s e n t l i c h e Partien dieses a u s f ü h r l i c h e n u n d detailge-

Vgl. Spendel, NJW 1958, 815 ff (817). Gustav Radbruch, Paul Johann Anselm Feuerbach - Ein Juristenleben, Wien 1934, Nachdruck mit Zusätzen (3. Aufl. Göttingen 1969), hrsg. von Erik Wolf (dazu Spendel, NJW 1958, 815ff). Vgl. ferner z.B. Eberhard Kipper, Paul Johann Anselm Feuerbach Sein Leben als Denker, Gesetzgeber und Richter, Köln/Berlin/Bonn/München 1969, Nachdruck (2. Aufl.) 1989; Erik Wolf, Große Rechtsdenker, S. 443 ff. Die ältere biographische Literatur über Feuerbach ist nachgewiesen bei Joseph Breuer, Die politische Gesinnung und Wirksamkeit des Kriminalisten Anselm Feuerbach, Halle 1905, S.Vff, und bei Max Grünhut, Anselm v. Feuerbach und das Problem der strafrechtlichen Zurechnung, Hamburg 1922, S. 6 ff. Vgl. ferner die Hinw. unten Fn. 10, 11, 56. 8 Der „Biographische Nachlaß" erschien zuerst unter dem Titel „Anselm Ritter von Feuerbach's weiland königl. bayerischen wirkl. Staatsraths und Appellations-GerichtsPräsidenten Leben und Wirken, aus seinen ungedruckten Briefen und Tagebüchern, Vorträgen und Denkschriften veröffentlicht von seinem Sohne Ludwig Feuerbach", 2 Bde., Leipzig 1852, sodann als zweite, ergänzte Auflage unter dem neuen Titel „Anselm Ritter von Feuerbach's . . . Biographischer Nachlaß...", 2Bde., Leipzig 1853. - Diese Ausgabe ist inzwischen als Bd. 12 der Gesammelten Werke Ludwig Feuerbachs (hrsg. von Werner Schuffenhauer) unter dem ursprünglichen Titel neu ediert worden: Paul Johann Anselm Ritter von Feuerbachs Leben und Wirken (usw.), 2. Aufl. Berlin 1989, bearbeitet von Wolfgang Harich; dort S.Vff Hinw. zur Entstehungsgeschichte. In der vorliegenden Arbeit wird der „Biographische Nachlaß" nach der 1853 erschienenen Ausgabe zitiert. ' Briefe Feuerbachs an Savigny neuerdings bei Herbert Kadel (Hrsg.), Paul Johann Anselm Feuerbach / Friedrich Carl von Savigny - Zwölf Stücke aus dem Briefwechsel, Lauterbach 1990, S. 6 ff. 10 Paul Johann Anselm v. Feuerbach, in: Zeitgenossen, Biographien und Charakteristiken, Neue Reihe, hrsg. von F.A. Brockhaus, Bd.3, Heft 11, Leipzig 1823, S. 159ff. 6

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nauen Brockhaus-Artikels „selbst niedergeschrieben", „da nicht leicht ein Dritter solche Spezialien von ihm wissen konnte" 11 . Doch vielleicht existiert außerdem noch eine „wirkliche" Autobiographie Feuerbachs, eine Lebensskizze von eigener Hand. In seinem Buch „Die Familie Feuerbach in Bildnissen" hat Herbert Eulenberg 1924 einen Text veröffentlicht, in dem Paul Johann Anselm Feuerbach nur wenige Wochen vor seinem Tod über sein Leben und seine Tätigkeit berichtet 12 . Mit diesem „Versuch einer Selbstbeschreibung" beginnt Eulenbergs Schrift, deren Aufmerksamkeit im übrigen hauptsächlich Ludwig, Henriette und Anselm Feuerbach - dem Maler - gilt. Cay Brockdorff hat den Text fünfzig Jahre später in den Anhang seiner kommentierten Auswahl-Neuausgabe von Feuerbachs „Aktenmäßiger Darstellung merkwürdiger Verbrechen" übernommen 13 . In seinen Vorbemerkungen schreibt Brockdorff zu diesem „klassisch-schönen und lange nicht mehr veröffentlichten Versuch einer Selbstdarstellung" u. a.: „Aus ihm spricht ein feuriger und freimütiger Geist, ein Mensch von hohen Gaben, starkem Charakter und unbeugsamem Willen, seine Erkenntnisse in der gesellschaftlichen Praxis seiner Zeit verwirklicht zu sehen. Die autobiographische Skizze verwandelt sich dem, der zu lesen versteht, unter der Hand in eine mutige Bekenntnisschrift. Auch im Alter hatte Feuerbach nichts zurückzunehmen . . . Durch die wahrheitsgetreue, ausführliche Schilderung seines strafrechtlichen Wirkens bewies er in ihr noch einmal Folgerichtigkeit und Notwendigkeit seines Eintretens für entscheidende politische Veränderungen in seinem Vaterland" 14 . Uber den Inhalt dieser Lebensskizze, die bei Eulenberg etwa 35 Druckseiten umfaßt, kann hier nur kursorisch berichtet werden. Aber einiges sei in Form eines kurzen Streifzuges doch hervorgehoben, um von Substanz und Stil des Lebensberichts einen Eindruck zu geben. Der Autor - nennen wir ihn Feuerbach - leitet den „Versuch einer Selbstbe-

" Vgl Julius Eduard Hitzig, Erinnerung an Feuerbach, in: Annalen der deutschen und ausländischen Criminal-Rechts-Pflege, hrsg. von J. E. Hitzig, Bd. 15 (1833) S. 399. In gleicher Richtung etwa Breuer, Die politische Gesinnung Feuerbachs, S. V f; Radbruch, Feuerbach, S. 19, 217; Eugen Wohlhaupter, Anselm Feuerbach in Kiel, in: Festschrift für Adolf Zycha, Weimar 1941, S. 386 Fn. 2. - Die späteren Artikel über Feuerbach im Konversationslexikon von Brockhaus (1844/1852) stammen dagegen von Ludwig Feuerbach·, wieder abgedruckt in dessen Gesammelten Werken, Bd. 2, Berlin 1972, S. 3 ff. 12 Herbert Eulenberg, Die Familie Feuerbach in Bildnissen, Stuttgart 1924, darin: „Anselm Feuerbach, Der Strafrechtslehrer, der Alte — Versuch einer Selbstbeschreibung", S. 7-43. 13 Cay Brockdorff (Hrsg.), Paul Anselm Feuerbach, Merkwürdige Verbrechen, Berlin 1974, S. 407-419. Der Text erscheint hier unter dem Titel „Paul Anselm Feuerbach, Der Strafrechtslehrer - Versuch einer Selbstdarstellung"; Brockdorff hat ihn bei der Wiedergabe erheblich gekürzt. 14 Brockdorff, Merkwürdige Verbrechen, S. 11; Kommentierung S. 4 1 9 ff.

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Schreibung" mit dem Satz ein: „In den nachfolgenden Zeilen will ich es unternehmen, mir selber mein Leben zu erzählen und mir damit vor meinem Tode, den ich in manchen schmerzhaften Anzeichen herannahen fühle, meinen Spiegel vorzuhalten." Im Bewußtsein des nahenden Todes: In der Tat reicht die „Selbstbeschreibung" inhaltlich-chronologisch bis in die „schlichte Menschlichkeit" 15 der letzten Lebensmonate Feuerbachs hinein. Feuerbach erwähnt gegen Ende die Versöhnung mit seiner Schwester Rebekka, an die seine letzten, im „Biographischen Nachlaß" enthaltenen Briefe aus dem Frühjahr 1833 gerichtet sind 16 . E r spricht von der „in diesem Frühling" beabsichtigten Reise zur Schwester nach Frankfurt und in „eines der Taunusbäder, vielleicht das angenehme Wiesbad". Auf dieser Reise, die er dann erst im April unternehmen konnte, ist Feuerbach, von einem Ausflug nach Königstein zurückgekehrt, am 29. Mai 1833 im 58. Lebensjahr in Frankfurt gestorben 17 . Von Krankheit und vom nahen Ende ist auf den letzten Seiten der „Selbstbeschreibung" viel die Rede. Es herrscht eine düstere, todesschwangere Stimmung. Im Gefühl seiner „seit zwei Jahren täglich abnehmenden Kräfte" schreibt Feuerbach an Rebekka „mit schwacher zitternder Hand"; er hat seitdem „nicht eine gesunde Stunde gehabt", ist „nur mehr ein halb toter Mann". Auch das Gedächtnis „hat gänzlich abgenommen". „Und nun sieche ich, ein doppelt Gebrochener, dem Ende entgegen." Solche Klagen kennen wir aus den überlieferten Feuerbach-Briefen der letzten Lebenszeit. Aber so eindeutig-düster wie in der „Selbstbeschreibung" ist Feuerbachs Gemütslage dort nicht. Der „halb tote Mann", der sein Ende ahnt, hat die schwankende Hoffnung „auf Wiedergenesung und auf noch einige frohe Lebenstage" 1 8 noch nicht aufgegeben, und seine Niedergeschlagenheit ist bisweilen durchsetzt mit einer eigentümlichen Heiterkeit und Gelassenheit des Geistes, die manchmal ironisch aufblitzt. Im raschen Wechsel der Gefühle zeigen Feuerbachs letzte Mitteilungen, die zu den schönsten und bewegendsten Zeugnissen deutscher Briefliteratur gehören, eine seltsame Verschränkung von matter Resignation und heimlicher, nie ganz versiegender Zuversicht in die Möglichkeit leidlicher Gesundung 19 : Die beiden Krankheitsübel des

15 Von der „schlichten Menschlichkeit der allerletzten Monate" spricht Edwin Baumgarten, Das bayrische Strafgesetzbuch von 1813 und Anselm v. Feuerbach, in: GS Bd. 81 (1913) S. 98 ff (149). 16 Biographischer Nachlaß, Bd. 2, S. 340 ff. 17 Vgl. dazu etwa die Darstellung bei Radbruch, Feuerbach, S. 207 ff. 18 Brief an die Schwester Rebekka vom 12.3.1833, Biographischer Nachlaß, Bd. 2, S. 343. 19 Vgl. zu den folgenden Zitaten die Briefe Feuerbachs an Rebekka vom Februar und März 1833, Biographischer Nachlaß, Bd. 2, S. 341 ff.

Autobiographie oder Schattenbild?

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Vorjahres (Lähmungserscheinungen am rechten Arm und Sprachstörungen), so schreibt er im Februar 1833 an die Schwester Rebekka, seien „gemindert, doch bei weitem nicht gehoben", und er fügt hoffnungsvoll hinzu: „Eine Badekur gibt mir vielleicht meine Gesundheit wieder. Die Seligkeit, meine Schwester wiederzusehen und die Versöhnte an das versöhnte, liebende Herz zu drücken, wird vielleicht mehr als andere Mittel mir heilsam sein." Auch heißt es: „Mir ist, als könne ich jetzt wieder freier atmen und als dürfe ich jetzt eher und sicherer auf meine Wiedergenesung hoffen." In Frankfurt will er, „solbald das erste Frühlingslüftchen weht", „vielleicht auch einen Teil meiner verlorenen Gesundheit wieder finden". Feuerbach führt seinen schlechten Gesundheitszustand im Grunde auf „die Nerven" zurück: „Der Sitz meines Übels sind allein die Nerven; alles Übrige an mir ist kerngesund, aber freilich, Nerven sind die leibliche Seele des Menschen". Nicht zuletzt Beruhigung der Seele verspricht er sich von der Wiederbegegnung mit der geliebten Schwester: „Meine Körperkrankheit kam aus vielfachen Krankheiten des Gemüts, auf das mehr eingestürmt hat, als ich mit meinen schwachen Nerven vertragen konnte. Wenn wir beisammen sind, wollen wir die ganze Vergangenheit mit allen ihren Leiden und Sorgen hinter unserm Rücken lassen und von der Gegenwart das Beste nehmen, was sie uns bietet." Aber Feuerbach stellt sich Rebekka auch als „bleierner Vogel" vor, „der aus sich selbst sich nicht bewegen kann und wo man ihn hinschiebt, liegen bleibt". Er bereitet die Schwester auf sein verändertes Aussehen vor, klagend und mitleiderregend, aber am Ende doch so geistreich-sarkastisch, daß an der apostrophierten „Mattigkeit" des Intellekts wieder Zweifel aufkommen: „Du wirst Dich wundern, liebe Rebekka, wo nicht erschrecken, wenn Du mich wiedersiehst, mit altem Gesicht, hohler Stimme, matt an Geist und Körper, oft so schwach, daß ich nur schleichen und wankend mich von einer Stelle zur andern fortbewegen kann. Das alte Feuer hat ganz ausgebrannt, und nur schlechte Kohle ist zurückgeblieben. Von allem, was sonst mich freute, hat nichts mehr einen Reiz für mich, nicht mehr die Bücher, nicht mehr die Frauen und Mädchen. So ganz und gar bin ich ein anderer geworden. Der neue Mensch aber, den ich, wie die Herren Pastoren rühmen mögen, angezogen habe, taugt mir ganz und gar nicht; ich hätte an dem alten mehr Freude und möchte ihn gern haben, wenn er nur zu haben wäre." Diesen Ton hören wir in der „Selbstbeschreibung" nicht mehr: Zeigt sich hier, wo er nicht an andere schreibt, sondern „sich selber sein Leben erzählt", die wahre Gemütslage des „dem Ende entgegensiechenden" Feuerbach?

Doch zurück zum Anfang der Lebensskizze 20 . Feuerbach beginnt mit seiner Geburt am H . N o v e m b e r 1775 „in dem kleinen Flecken Hainichen bei Jena", „einem lieblich gelegenen Dörfchen"; er erwähnt die Eltern und mütterlichen Vorfahren, seine Jugend in Frankfurt und charakterisiert seinen Vater, „Doktor der Rechte und Advokat zu Frankfurt am Main". Er sei „der strengste und zugleich eigentümlichste Mensch gewesen, den ich in meinem Leben kennen gelernt habe". Das „Recht der väterlichen Gewalt" habe er „im härtesten Sinn" ausgeübt. „Ich entfloh seiner mir unerträglich gewordenen Herrschaft im Alter

20

Alle folgenden Zitate bei Eulenberg,

Die Familie Feuerbach, S. 7 ff.

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von siebzehn Jahren." An der Universität Jena warf Feuerbach sich „mit glühender voller Seele der Philosophie in die Arme" 21 . Er spricht von einem zu jener Zeit noch „heftigen inneren Widerwillen gegen die Rechtswissenschaft". Nach dem Erwerb des philosophischen Doktorgrades „im Alter von neunzehn Jahren" folgt jedoch das juristische Studium. Die Wendung wird herbeigeführt „durch das natürlichste Ereignis von der Welt", Ergebnis der „zärtlichen Beziehungen" zu seiner späteren Frau. Deren Schwangerschaft nötigt ihn, dem „sokratischen Beruf, zu dem man reich oder ein freiwilliger Bettler sein muß", Valet zu sagen und „ein Fach zu ergreifen, das schneller als die Philosophie Amt und Einnahmen erbringt". Mit dem „Mut der Verzweiflung" stürzt sich Feuerbach „in das Studium der Pandekten, des Kirchen-, Staats-, Feudal- und Kriminalrechts" und promoviert „in kürzester Zeit als juristischer Doktor". Wieder kommt - wie auch sonst öfter in der Selbstbeschreibung - das Verhältnis zu seinem „gefürchteten und verehrten" Vater zur Sprache, dem er zunächst seine Heirat verschweigt. Anläßlich der „Hungerjahre" als Jenaer Dozent werden frühe Schriften genannt: die „Kritik des natürlichen Rechts" (1796) und der „Anti-Hobbes" (1798)22. Diese „freimütige Schrift" bringt Feuerbach „in den Verdacht des Demokraten, um nicht zu sagen Demagogen". Eine politische Seitenbemerkung gilt „jenen grauenvollen Jahrzehnten geistiger Verfinsterung nach dem Wiener Frieden". Die folgenden Jahre in Kiel23, nunmehr als „ordentlicher Professor der Rechte, Mitglied des Spruchkollegii und Syndikus der Universität", bezeichnet der Autor „als die glücklichste oder doch wenigst unglückliche Periode meines Lebens". Inzwischen wird sein Name „in der Schriftstellerrepublik ehrenvoll genannt". Vor allem „mein Lehrbuch des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, das von mir 1801 veröffentlicht worden war, hatte mir viele Freunde gewonnen". Aber „der Drang, eine größere Rolle zu spielen, und eine gewisse Unstetheit, die mir besonders in jungen Jahren im Blute lag", führen zum Wechsel an die neu errichtete Universität Landshut. Hier erwarten Feuerbach höchst unerfreuliche Verhältnisse: „Aus dem Kreise durchweg biederer und offener akademischer Kollegen sah ich mich nun 21 Zu Feuerbachs Jenaer Zeit vgl. außer den Biographien namentlich den materialreichen Aufsatz von Brigitte Heilbron, Die Beziehungen Anselm Feuerbachs zu Jena, in: ZStW Bd. 54 (1935) S. 177 ff, sowie Wolfgang Müller, Paul Johann Anselm Feuerbach Leben und Wirken in Jena (1792-1802), in: Wissenschaftliche Zeitschrift der FriedrichSchiller-Universität Jena Bd. 32, Heft 4 (1984) S. 441 ff. 22 Zu Feuerbachs Jenaer Schriften vgl. jetzt Gerhard Haney, Naturrecht bei P . J . A . Feuerbach in seinen Jenenser Schriften, in: Rechtsstaat und Menschenwürde, Festschrift für Werner Maihofer, Frankfurt a.M. 1988, S. 1 5 9 f f . 23 Dazu v o r allem Woblhaupter, Festschrift für Zycha, 1941, S. 385 ff.

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plötzlich in den Kreis einer Gesellschaft von Teufeln versetzt. Die höllische Bosheit, Abgefeimtheit, Niederträchtigkeit und Gemeinheit der meisten, die in Landshut als Jugendlehrer wirken sollten, ging über alle Grenzen." Nachdem Feuerbach zunächst versucht, „tapfer dem Übel zu widerstehen und mir durch erhöhten Fleiß, verdoppelte Hingabe meiner Kräfte meine Stellung zu wahren", veranlassen ihn die fortdauernden „Ränke und Machenschaften" schließlich zur Flucht „aus diesem Netz von Listen und Schlichen". Er flieht zu seinem „selbstherrlichen Vater" nach Frankfurt. Nicht zuletzt dank der Fürsprache Jakobis wird er jedoch alsbald in eine „führende Stelle im geheimen Justizministerialdepartement" Bayerns berufen. „Froh, den vertrocknenden Beruf des akademischen Lehrers und den steten Umgang mit schweinsledernen Bänden, durch den nach und nach unsere Seele selber schweinsledern wird, los zu sein, willigte ich ohne Säumen ein." Bei seiner Tätigkeit im Justizministerium verweilt Feuerbach länger. E r geht u. a. auf das Bayerische Strafgesetzbuch (1813) ein, „zum größten Teil mein eigenstes W e r k " , das „seitdem von vielen deutschen wie außerdeutschen Staaten übernommen oder doch nachgeahmt worden ist". D a z u heißt es auch: „ I m übrigen stehe ich in diesem meinem Hauptwerk in der Strafgesetzgebung auf dem Standpunkt, daß man Gerechtigkeit mit Milde und Strenge mit Humanität geschickt vereinigen muß. Strafen müssen streng sein, denn sie sollen schrecken. A b e r die Strenge wird ungerechte Grausamkeit, sobald sie durch zweckloses Quälen das M a ß der Notwendigkeit überschreitet, wird Barbarei, sobald sie nicht bloß der Sinnlichkeit des Verbrechers empfindlich ist, sondern auch seinen besseren Teil, seine höhere moralische N a t u r v e r l e t z t . . . Richtiges E b e n m a ß der Verbrechen und der Strafen ist das zweite Haupterfordernis der Strafgerechtigkeit. U n d schließlich darf meiner Ansicht nach eine Gesetzgebung nicht die richterliche Willkür begünstigen oder möglich machen, muß aber dem vernünftigen richterlichen Ermessen innerhalb bestimmter Grenzen die gehörige Freiheit lassen." Erwähnt wird die „Hydra der F o l t e r " , deren Abschaffung er, Feuerbach, schließlich durchgesetzt habe. Die Todesstrafe freilich sei noch aufrecht erhalten worden, „wenngleich ich mich nunmehr, w o ich mich der Grenze meiner Erdentage nähere, überzeugt habe, daß sie baldmöglichst als ein unrechtmäßiges Strafmittel abzuschaffen sei". Ohnehin sei er stets „für ihre möglichst humane Vollstreckung eingetreten": durch das Fallbeil als „schnellste, sicherste und darum mildeste F o r m der Enthauptung". Allerdings: „Selbst mein Strafgesetzbuch, das man in seinen Hauptgrundlagen nicht antasten konnte, wurde im Geheimen Rat, in dem es durchgesprochen wurde, noch stark eingeschränkt. U n d meine schönsten, glänzendsten Ideen, wodurch mir die schwere Aufgabe, den finstern Inquisitionsprozeß zu humanisieren und die Vorzüge des öffentlichen Verfahrens mit den V o r z ü gen des alten Untersuchungsprozesses zu kombinieren, zu lösen geglückt war - sie stürzten zuletzt wieder im Geheimen Rat in München. Auch mein Versuch, die Prügelstrafe in Bayern abzuschaffen, scheiterte nebst manchem andern R e f o r m v o r schlag."

In München kommt es bald zu „Hofränken und Zettelungen" gegen Feuerbach, den „Landfremden und noch dazu Protestanten". Die Arbeit am Zivilgesetzbuch, von ihm „ganz allein übernommen" und in „weniger als sechs Monaten" beendet, bleibt deswegen erfolglos, und Feuerbach verliert schließlich die Gunst des Königs. Der Schreiber beklagt

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sich, daß er für alle seine Arbeiten zum Besten des bayerischen Staates „so gut wie gar nichts" erhalten habe: „Ich hatte das Verdienst, andere suchten und erhielten zum Teil schon den Lohn dafür. Ich hatte die Last, andere die Ehre und den Dank." Nach Veröffentlichung der Schrift „Die Weltherrschaft das Grab der Menschheit" wird um Feuerbach „die politische Luft schwüler", und er merkt, „daß sich Gewitter zusammenziehen". Seine Publikationen werden „unter Zensur gestellt", er wird „von der Polizei bewacht und belauert", man entzieht ihm „fast alle Geschäfte". Schon will er, den man als „deutschen Jakobiner" und „preußischen Emissär" denunziert hat, seine Dienste Preußen anbieten da kommt wie eine Erlösung die Ernennung zum zweiten Präsidenten des Appellationsgerichts in Bamberg. „Meine dermaligen höchsten Wünsche waren damit erfüllt. Und ich vertauschte froh das unruhige, ränkesüchtige und unsichere Hofleben mit einem friedlichen ehrenvollen Wirkungskreis in der schönsten Stadt des Königreichs". Hier geht Feuerbach daran, seine Sammlung merkwürdiger Kriminalrechtsfälle fortzusetzen; im übrigen lebt er „ein wahres Klosterleben". Doch abermals beschert ihm sein „gern Widrigkeiten bereitendes Schicksal" häßliche Auseinandersetzungen, diesmal mit dem ersten Präsidenten des Gerichts. Aus „fast dreijähriger Verbannung" befreit ihn dann die Berufung zum Gerichtspräsidenten in Ansbach. „Ich wurde, nachdem man in München eine Weile erwogen hatte, mich als Beamten nach Osterreich abzuschieben, zum wirklich ersten Präsidenten des Appellationsgerichts für den Rezatkreis in Ansbach ernannt." Nun beginnt Feuerbachs letzter Lebensabschnitt. Die Selbstbeschreibung wendet sich sogleich ausführlich dem „merkwürdigsten Kriminalrechtsfall" zu, den Feuerbach jetzt erlebt: das „ungeheuerliche Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben eines Menschen". Der Autor erwähnt sein Buch über Kaspar Häuser und skizziert dessen Inhalt24. Auch über das „Memoire" für Königin Karoline von Bayern wird eingehend berichtet25. „Schließlich", so heißt es in diesem Zusammenhang, „habe ich mit ziemlicher Sicherheit den Beweis geführt, daß Kaspar Hauser der

24 Feuerbach, Kaspar Hauser - Beispiel eines Verbrechens am Seelenleben des Menschen, Ansbach 1832. Zu dieser Schrift jetzt eingehend Wilfried Küper, Das Verbrechen am Seelenleben - Feuerbach und der Fall Kaspar Hauser in strafrechtsgeschichtlicher Betrachtung, Heidelberg 1991, insbes. S. 65 ff, 95 ff, sowie Küper, Das „Verbrechen am Seelenleben" und das „Verbrechen gegen die Geisteskräfte", in: Heidelberger Jahrbücher Bd. 35 (1991) S. 35 ff. - Feuerbachs Schrift ist, außer in vielen Nachdrucken, auch als fotomechanische Reprint-Ausgabe des Originals zugänglich: Armin Forker (Hrsg.), P.J.Anselm Feuerbach, Erkenntnisse über Kaspar Hauser, Leipzig/Heidelberg 1983 (3. Aufl. 1987). 25 Das „Memoire über Kaspar Hauser - Wer möchte wohl Kaspar Hauser sein?" ist später von Ludwig Feuerbach veröffentlicht worden: Biographischer Nachlaß, Bd. 2, S. 318 ff (abgedruckt auch im Reprint von Forker).

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zweite Sohn des in Baden regierenden Großherzogs Karl Ludwig Friedrich und seiner Gemahlin Stephanie, einer von Napoleon angenommenen Tochter des Generals Beauharnais, ist" 26 . Die Darlegungen zum Fall Kaspar Hauser schließen mit den Sätzen: „Man hat diese meine Behauptungen von beteiligter höherer Seite als Hirngespinste brandmarken wollen. Darum bleiben sie trotzdem als Wahrheit zu Recht bestehen." Viel ist anschließend von persönlichen Verhältnissen und Beziehungen die Rede, von der „Leidenschaft" zu Nanette Brunner, von Elisa Gräfin von der Recke, der „himmlischen Freundin", vom Schicksal der Söhne und nicht zuletzt vom eigenen Charakter. „Ich bin nicht stolz, wenn ich auch manchmal so wirken mag. Aber ich habe ein rauhes, starkes und herrisches Wesen... Ich leide an gewissen Stimmungen, wo alle Menschen, selbst meine Freunde, mir verhaßt s i n d . . . Bald bin ich übermäßig freudig, so daß ich ausgelassen bin und ein läppisches Kind zu sein scheine, bald über die Maßen traurig. Dann kann ich kein Wort vorbringen und auch nicht den leichtesten Gedanken denken. Der Übergang von der lebhaftesten Freude zu der schrecklichsten Traurigkeit und von dieser zu jener ist oft so schnell, daß ich in dieser Minute einem Bacchanten und in der nächsten einem Anachoreten gleiche..." Der „Versuch einer Selbstbeschreibung" klingt aus mit Klagen über Krankheit und Alter, die „seit zwei Jahren täglich abnehmenden Kräfte": „Wissenschaftliches kann ich nicht mehr treiben, vermag keinen abstrakten Satz mehr zu denken und nur noch über die Dinge hinzustreifen". Angesichts des Todes wandern Feuerbachs Vorstellungen zuletzt „in das Reich der Antike"; er sieht sich als Totenrichter im Hades. Wie Minos oder Rhadamantys „möchte ich wohl noch als Richter in der Unterwelt die Taten der Schatten, die täglich dort nahen, zu richten haben. Um der Milde willen, die ich in jenen grausamen Gerichts)ahrzehnten Deutschlands, da man die Freiheit verfolgte und kerkerte, stets beobachtet habe, sei mir eine solche Machtstellung gegönnt!" - Dies sind die Schlußsätze der Selbstbeschreibung. Eulenberg hat dem Text noch ein „Nachwort" hinzugefügt, in dem es u. a. heißt: „Der seltene Mann, der diese Lebensbeichte schrieb, einer der wenigen bei uns, die Gesetze schaffen können, wurde ein paar Wochen nach der Abfassung dieser Seiten vom Tode ereilt. Dieser riß ihn auf einer Spazierfahrt, die er zusammen mit seiner aufs liebevollste mit ihm wieder ausgesöhnten Schwester nach den Schloßtrümmern von Königstein im Taunus unternahm, zur Unterwelt, wo Minos und Rhadamantys schon seiner warten mochten. Bei der Leichenöffnung, die er selbst noch im Sterben verlangt hatte, zeigten sich alle edlen Teile ohne Fehler."

26 Zu Feuerbachs „Indizienbeweis" im Memoire über Kaspar Hauser aus prozeßgeschichtlicher Sicht eingehend Küper, Das Verbrechen am Seelenleben, S. 19 ff, 58 ff.

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Wir haben den Verfasser des von Herbert Eulenberg publizierten „Versuchs einer Selbstbeschreibung" bisher - vorläufig - Feuerbach genannt. Aber ist er auch der Autor des Lebensbildes, oder ist dies Eulenberg selbst? Eulenberg hat keine Quelle angegeben, dem Leser nicht verraten, woher der Text stammt. Einleitung und Nachwort erwecken den Eindruck der Authentizität, eine Vermutung, die auch bei dem mit Feuerbachs Sprache vertrauten Leser noch durch das deutliche Gefühl unterstützt wird, in der „Selbstbeschreibung" - jedenfalls an vielen Stellen - Feuerbachs eigene Stimme zu vernehmen, die Stimme eines wortmächtigen Prosaisten, „geübt, die schwere Waffe des Geistes, die Sprache, leicht und kräftig zu handhaben"27. So ergibt sich denn auch für Cay Brockdorff die „Echtheit und Originalität der Selbstdarstellung" nicht zuletzt „zweifelsfrei" aus dem „eigenen und unverwechselbaren Stil" des großen Juristen28: „Seite um Seite dokumentieren Anselm Feuerbachs leidenschaftliches Engagement, seine bei aller Abgeklärtheit des Altersstils - geistreiche Erhabenheit." Und Brockdorff geht noch weiter: „In Feuerbach dem Alten verbindet sich der Esprit der Aufklärung Frankreichs glücklich mit dem satirischen Denken eines Lessing und den tiefschürfenden Satzperioden eines Immanuel Kant. Die feurige Polemik und das hohe Pathos der französischen Revolutionäre, die monumentale Einfachheit von deutschem Sturm und Drang, ja - Schillers objektive Idealität verschmelzen in Feuerbachs Stil zur echten Verbindung"29. Auch wenn man Geist und Stil der „Selbstbeschreibung" nüchterner beurteilen mag - sollte dies alles am Ende nur auf Täuschung beruhen, auf dem verführerisch echt wirkenden Raffinement einer geschickten Imitation der Sprache Feuerbachs ? Brockdorff ist nicht der einzige gewesen, der auf die Echtheit der Darstellung vertraut und ihre „gesicherte Herkunft aus Anselm Feuerbachs Nachlaß" angenommen hat. Auch sonst wird der Text bisweilen für eine Autobiographie Feuerbachs gehalten, wenngleich man der „Selbstbeschreibung" in der Feuerbach-Literatur nur selten begegnet30. So greift etwa der Rechtshistoriker Eugen Woblhaupter in seinem gründlichen Beitrag über „Anselm Feuerbach in Kiel" an zwei Stellen

27 So Feuerbach - in Anspielung auf eigene Fähigkeiten — in einem Brief vom 2 0 . 1 1 . 1 8 1 3 , Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S . 2 6 7 (268). 28 Brockdorff, Merkwürdige Verbrechen, S. 420 f. 29 Auch nach Radbruch ähnelt Feuerbachs Stil „mit seiner antithetischen Spannung" dem Stil Schillers; vgl. Gustav Radbruch, Eine Feuerbach-Gedenkrede, hrsg. von Eberhard Schmidt, Tübingen 1952, S . l l . 30 Die folgenden Angaben, mehr Zufallsfunde als Ergebnisse systematischer Nachforschung, dürften sich wahrscheinlich noch ergänzen lassen.

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auf diese „Quelle" zurück, die er ausdrücklich als „Feuerbachs Versuch einer Selbstbeschreibung" bezeichnet und mit dem Hinweis „Selbstbiographie bei Eulenberg" zitiert 31 . Wohlhaupter sieht in ihr einen Beleg dafür, daß die Kieler Jahre „die einzige Zeit glücklicher Geborgenheit" in Feuerbachs ungestümem Dasein waren und Feuerbach damals seiner Frau, von der er sich später trennte, noch „von ganzem Herzen zugetan" war. Auch in Wolfgang Nauckes Aufsatz zur 200. Wiederkehr des Geburtstages von P . J . A. Feuerbach wird - freilich ebenfalls mehr am Rande - auf den „Feuerbach-Text" der „Lebensbeschreibung aus dem Jahre 1832" Bezug genommen, der bei Eulenberg „am besten zugänglich" sei32. Naucke entdeckt in Feuerbachs „Selbstbeschreibung gegen Ende seines Lebens" eine gegenüber anderen Formulierungen „deutlichere" Nuance der Feuerbachschen Auffassung, daß das Strafgesetz den Bürger vor dem Staat schützen, ihm aber auch „drohen" und ihn „anpassen" solle. Er zitiert aus der „Selbstbeschreibung" den Satz: „Strafen müssen streng sein, denn sie sollen schrecken." Nach Lothar Reuter verdanken wir überhaupt „vieles an Kenntnissen über das Leben Feuerbachs" auch „seinem Versuch einer Selbstbeschreibung" 33 , und Gerhard Haney hat sich erst unlängst wieder auf Feuerbachs „Selbstbeschreibung" bei Eulenberg bezogen 34 . Schließlich verweist Armin Forker in seinen Erläuterungen zur Neuausgabe der Kaspar-Hauser-Schrift auf Feuerbachs Stellungnahme im „Versuch einer Selbstbeschreibung" 3 5 ; Forker sieht darin offenbar eine Bestätigung dafür, daß Feuer-

31 Wohlhaupter, Festschrift für Zycha, 1941, S. 385 ff (386 Fn.2, 390 mit Fn. 16, 391 mit Fn. 23). 32 Vgl. Wolfgang Naucke, Paul Johann Anselm von Feuerbach - Zur 200. Wiederkehr seines Geburtstages am 14.11.1975, in: ZStW Bd. 87 (1975) S. 861 ff (876 Fn.48, 881 mit Fn. 65). 33 Vgl. Lothar Reuter, Gedenkrede für P . J . A . Feuerbach, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Friedrich-Schiller-Universität Jena, Bd. 32, Heft 4 (1984) S. 429 ff (437). 34 Vgl. Gerhard Haney, Paul Johann Anselm Feuerbach - Prägung und Wirkung, in: Heinz Mohnhaupt, Rechtsgeschichte in den beiden deutschen Staaten (1988-1990), Frankfurt a.M. 1991, S. 74ff (85 Fn.29 zur positiven Bewertung/. Α Ulrichs). 35 Forker (Hrsg.), Erkenntnisse über Kaspar Hauser, S. IX f. - Bei Forker wird der „Versuch einer Selbstbeschreibung", den er im Anschluß an Brockdorff „Versuch einer Selbstdarstellung" nennt, auf „Februar 1832" datiert, obwohl der Text nach Eulenberg wenige Wochen vor Feuerbachs Tod, also im Frühjahr 1833, abgefaßt ist. Herr Professor Dr. Armin Forker (Jena), dem ich für Anregungen und Hinweise zu Dank verpflichtet bin, hält die Selbstbeschreibung inzwischen nicht mehr für echt, sondern für eine von Eulenberg stammende „dichterisch-freie Bearbeitung eines historischen Stoffes in angepaßter Sprache" (briefliche Mitteilung an den Verf. vom 10.6.1990). Zweifel an der Echtheit auch bereits bei Küper, Das Verbrechen am Seelenleben, S. 29 f Fn. 67, sowie bei Michael Hettinger, Carl Joseph Anton Mittermaier - Jurist zwischen zwei Reichen, in: ZRG (GA) Bd. 107 (1990) S.453 Fn. 120 („Nachdichtung" Eulenbergs).

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bach an seiner These vom badischen Prinzentum bis zuletzt festgehalten habe36. Gustav Radbruch freilich, profunder Kenner der Feuerbach-Literatur seiner Zeit und des Feuerbachschen Nachlasses, hat in seiner Biographie auf den „Versuch einer Selbstbeschreibung" nirgends zurückgegriffen, obwohl auch er ihn kannte. Eulenbergs Schrift erwähnt Radbruch nur kurz im Nachwort 37 , die darin enthaltene „Selbstbeschreibung" erwähnt er überhaupt nicht38. Zu ihr hat er sich auch sonst ersichtlich nicht geäußert. Mittelbar aufschlußreich ist jedoch ein Hinweis in Radbruchs Anmerkungen zu seinem Essay „Die Feuerbachs - Eine geistige Dynastie". Das Thema dieses Aufsatzes, so merkt Radbruch dort an, habe bereits Herbert Eulenberg in seinem Buch über die Familie Feuerbach (1924) behandelt: „es mischen sich aber bei ihm untrennbar Dichtung und Wahrheit" 39 . Unter dem Stichwort „Selbstcharakteristik" (Feuerbachs) verweist Radbruch im übrigen lediglich auf den von Ludwig Feuerbach herausgegebenen „Biographischen Nachlaß", ohne wiederum die „Selbstbeschreibung" zu nennen40. Das Schweigen Radbruchs und seine Andeutungen zu Eulenbergs Buch machen stutzig. Beides läßt nur den Schluß zu, daß Radbruch den „Versuch einer Selbstbeschreibung" nicht als Werk Feuerbachs betrachtete; dies war für ihn offenbar so klar und selbstverständlich, daß er darüber kein Wort verlor. Aber was ist die

36 Vom „Versuch einer Selbstbeschreibung" hat sich offenbar auch Ricarda Huch inspirieren lassen. In ihrem Buch „Alte und neue Götter — Die Revolution des 19. Jahrhunderts in Deutschland", Berlin/Zürich 1930, S. 192 f, findet sich eine poetische Charakterisierung Feuerbachs, nach Radbruch „ein großartiges Bild der unbändigen Urgewalt, die in Feuerbach ein Leben lang um ihre Form ringen sollte": „Will man sich ausmalen, wie der alte Feuerbach aus der Werkstatt des menschenschaffenden Gottes hervorging, so sieht man etwa die Hände des Herrn in Lehm und Feuer wühlen, einen ungestalten feuchten Flammenkloß eilig mit dem Namen Anselm bezeichnen und auf die Erde werfen." Die Fortsetzung ist dann deutlich von den Schlußsätzen der „Selbstbeschreibung" beeinflußt: „Sein höchster Wunsch vor seinem Tode war, im Jenseits als ein Minos oder Rhadamant die Toten richten zu dürfen, und er glaubte, daß Gott ihm vielleicht um seines berühmten Strafgesetzbuches willen diese Gnade gewähren würde." (Wieder abgedruckt in: Ricarda Huch, Gesammelte Werke, Bd. 9, hrsg. von Wilhelm Emrich, Köln 1968, S.1215f). 37 Vgl. Radbruch, Feuerbach, S. 218 (mit dem Hinw. auf die dortige Wiedergabe eines in Familienbesitz befindlichen Gemäldes). 38 Als wichtige Quellen für Feuerbachs Lebensbeschreibung werden in Radbruchs Nachwort genannt: der „Biographische Nachlaß" (1852/53), die Vita in Feuerbachs Dissertation sowie die biographische Darstellung in den „Zeitgenossen" (vgl. oben Fn. 10), die nach Radbruch „offenbar auf Feuerbach selbst zurückführt" (S.217). 39 Gustav Radbruch, Die Feuerbachs - Eine geistige Dynastie, in: Gestalten und Gedanken, Zehn Studien, 2. Aufl. Stuttgart 1954, S. 125ff, Anmerkungen S.217. 40 Bei Erik Wolf wird Eulenbergs Buch im Schrifttumsverzeichnis angeführt; doch ist der „Versuch einer Selbstbeschreibung" im Text der Darstellung ersichtlich nirgends berücksichtigt (Große Rechtsdenker, S. 543 ff, 588).

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„Selbstbeschreibung" dann: eine künstlerische Fiktion in der Sprache Feuerbachs, ein Arrangement aus anderen, „echten" Quellen - mehr Dichtung als Wahrheit, oder umgekehrt? Am „Versuch einer Selbstbeschreibung" fällt nicht nur auf, daß der Text allem Anschein nach - zumindest über weite Strecken - in der Diktion Feuerbachs verfaßt ist. Auffällig ist andererseits auch ein gewisser Mangel an wesentlichen Neuigkeiten, die man von einer „echten" Feuerbach-Autobiographie eigentlich erwarten sollte. An Fakten und Aussagen enthält die Darstellung kaum etwas, das man nicht so oder ähnlich dem bisher bekannten Quellenmaterial entnehmen könnte, insbesondere dem veröffentlichten „Biographischen Nachlaß". Dieser Nachlaß erweist sich im Gegenteil als die weitaus ergiebigere und reichhaltigere autobiographische Quelle; ihr gegenüber wirkt die „Selbstbeschreibung" eher wie eine flüchtige, eklektische und fragmentarische Zusammenstellung von der Hand eines Dritten. Bezeichnend ist es denn auch, daß die ohnehin spärlichen Hinweise auf diesen Text, denen man in der Literatur begegnet, fast nur marginale Ergänzungen des Feuerbach-Bildes vermitteln; „Aufregendes" enthalten sie im Grunde nicht. Daß etwa Feuerbachs Jahre in Kiel eine Zeit „glücklicher Geborgenheit" auch in familiärer Hinsicht waren, wie Wohlhaupter im Blick auf die „Selbstbeschreibung" bemerkt hat 41 , erfahren wir unmittelbarer und lebendiger aus Feuerbachs temperamentvollen Briefen an seinen Vater und aus der resümierenden Tagebuchaufzeichnung „Über meinen Aufenthalt in Kiel" (1804) 4 2 ; dort werden freilich auch die Schattenseiten der Kieler Periode nicht verschwiegen 43 . Der von Naucke aus dem Eulenberg-Text zitierte „verdeutlichende" Satz über die notwendige „Strenge" der Strafen als Voraussetzung ihrer abschrekkenden Wirkung 44 findet sich ebenso lapidar und sogar wörtlich in Feuerbachs Plenarvortrag über den „Geist des Strafgesetzbuches von 1813": „Strafen müssen streng sein, denn sie sollen schrecken" 4 5 . Allerdings enthält die Selbstbeschreibung einige Mitteilungen, die aufhorchen und Neuigkeiten vermuten lassen. Was der Autor ζ. B. zur Kaspar-Hauser-Affäre schreibt, ist zwar größtenteils schon aus Feuerbachs Buch über das „Verbrechen am Seelenleben" und aus dem im Biographischen Nachlaß veröffentlichten „Memoire" über Kaspar Hauser bekannt. Wäre der Autor jedoch Feuerbach selbst, so wüßten wir

Vgl. oben bei Fn. 31. Biographischer Nachlaß, B d . l , S.70ff, 90 ff. 43 Feuerbachs Resüme im Tagebuch (12.3.1804): „Ich habe in Kiel einiges gewonnen. Ich glaube, daß ich etwas geselliger geworden bin, doch war ich sehr oft melancholisch und betrachtete meinen hiesigen Aufenthalt als ein Exil." (Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 92). 44 Vgl. oben bei Fn. 32. 45 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S.213. 41

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entgegen anders lautenden, freilich wenig substantiierten Vermutungen, daß er seine These vom badischen Prinzentum des Findlings auch später nicht zurückgenommen hat 46 . Interessant ist überdies ein weiterer Punkt: Feuerbachs Haltung zur Todesstrafe. Bisher war nicht gesichert, daß Feuerbach die vorher stets befürwortete Todesstrafe47 schließlich doch als „unrechtmäßiges Strafmittel" verworfen hat, welches „baldmöglichst abzuschaffen" sei. Für Vermutungen in dieser Richtung48 fehlte jeder Nachweis; der „Versuch einer Selbstbeschreibung" würde ihn, Echtheit des Dokuments vorausgesetzt, nunmehr erbringen. Außerdem ist darin von Feuerbachs gescheitertem Versuch die Rede, in Bayern auch die Prügelstrafe abzuschaffen. Dies ist bisweilen ohne Quellenbeleg behauptet worden49, widerspricht indessen der Tatsache, daß für Feuerbach noch im Entwurf von 1824 ein völliger Verzicht auf die Strafe körperlicher Züchtigung nicht zur Diskussion stand50. Hat der Autor, der sich in der Selbstbeschreibung über die „gänzliche Abnahme seines Gedächtnisses" beklagt, hier etwa seine spätere Einsicht in die Vergangenheit zurückprojiziert?

Stellen wir nunmehr genauer die Frage nach der möglichen Quelle oder vielleicht auch: den potentiellen Quellen - des „Versuchs einer Selbstbeschreibung", so ist zunächst die leichtfertige Behauptung Brockdorffs zu korrigieren, diese Lebensdarstellung stamme „aus Anselm Feuerbachs nachgelassenen Schriften, die sein vierter Sohn, der Philosoph Ludwig, 1853 der Öffentlichkeit zugänglich machte"51. Damit kann nur der von Ludwig Feuerbach — zunächst unter dem Titel „Leben und Wirken" (1852) 52 - herausgegebene „Biographische Nachlaß" (1853) seines Vaters gemeint sein. Schon ein flüchtiger Blick in diese Sammlung von Briefen, Tagebuchaufzeichnungen, Vorträgen und Denkschriften hätte indessen Brockdorff darüber belehren sollen, daß man hier die von Eulenberg veröffentlichte „Selbstbeschreibung" vergeblich sucht53. Der 46 Zu den Spekulationen über einen angeblichen „Wideruf" der Prinzenthese und der Kaspar-Hauser-Schrift überhaupt vgl. zuletzt Küper, Das Verbrechen am Seelenleben, S. 27 ff, mit weit. Nachw. 47 Uber Feuerbachs Stellung zur Todesstrafe vgl. z.B. Grünhut, Anselm v. Feuerbach, S. 214 ff, und zuletzt Werner Schubert, Feuerbachs Entwurf zu einem Strafgesetzbuch für das Königreich Bayern aus dem Jahre 1824, Berlin 1978, S.56ff, mit weit. Nachw. 48 Vgl. die Anmerkung Ludwig Feuerbachs im Biographischen Nachlaß, Bd. 1, S.232. — Wegen Feuerbachs im Prinzip „variabler Grundposition" zur Todesstrafe hält Schubert die Vermutung für glaubwürdig, daß sich Feuerbach in seinen letzten Lebensjahren gegen diese Strafe ausgesprochen habe; vgl. Schubert, Feuerbachs Entwurf, S. 58. 49 Vgl. August Geyer, Festrede zu Paul Joh. Anselm v. Feuerbachs hundertjährigem Geburtstage, München 1875, S. 15; Carl Ludwig von Bar, Handbuch des Deutschen Strafrechts, Bd. 1, Berlin 1882, S. 175 Fn. 719; vgl. auch Grünhut, Anselm v. Feuerbach, S. 224. 50 Vgl. Schubert, Feuerbachs Entwurf, S. 69 f; dort auch weit. Nachw. zu Feuerbachs Auffassung über die Züchtigungsstrafe. 51 Vgl. Brockdorff, Merkwürdige Verbrechen, S. 420. 52 Vgl. die Hinw. oben Fn. 8. 53 Brockdorffs „Verteidigung" Ludwig Feuerbachs gegen den angeblichen Vorwurf, er habe den Lebensabriß „radikal demokratisch verfärbt", geht daher ins Leere; gegen den „Versuch einer Selbstbeschreibung" ist ein solcher Vorwurf nie erhoben worden.

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„Biographische Nachlaß" enthält keine solche Selbstbiographie Anselm Feuerbachs, er ist vielmehr - mit den hellsichtigen Worten des Herausgebers - selbst „Autobiographie" insofern, als „die indirekte Autobiographie aber gerade die wahre Autobiographie" darstellt54. Nach den Angaben Ludwig Feuerbachs ist in das Werk nur zuvor noch Unveröffentlichtes aufgenommen worden. Im übrigen sei es ihm, so schreibt er im Vorwort, bisher nicht möglich gewesen, „etwas aus seinem (P.J. A. Feuerbachs) Nachlaß für den Druck herzurichten", ausgenommen allerdings „eine ganz kurze, für O.Wigand's Conversationslexikon 1847 verfertigte Lebensskizze von meinem Vater"55. Eine zwischen 1833, Feuerbachs Todesjahr, und 1852/53 bzw. 1847 veröffentlichte Selbstbiographie Feuerbachs existiert nicht; sie kann daher auch nicht Eulenbergs Vorlage gewesen sein. Sollte es sich aber etwa bei der von Ludwig Feuerbach erwähnten „ganz kurzen Lebensskizze von meinem Vater" (1847) um den später von Eulenberg publizierten „Versuch einer Selbstbeschreibung" handeln? Dies ist nicht der Fall. Die „Lebensskizze" läßt sich unschwer identifizieren: sie ist keine Autobiographie, geschweige denn die bei Eulenberg wiedergegebene, sondern ein von Ludwig Feuerbach (anonym) verfaßter Lexikon-Artikel über seinen Vater und dessen Söhne56. Zu erwägen bleibt die Möglichkeit, daß Eulenberg eine Handschrift aus Feuerbachs Nachlaß entdeckt und erstmals 1924 veröffentlicht hat. Aber diese Möglichkeit ist so unwahrscheinlich, daß sie ausgeschlossen werden muß. Man hätte es dann mit einem Manuskript zu tun, das sowohl Ludwig Feuerbach als auch der gesamten Feuerbach-Forschung bisher entgangen war, einem Text zudem, den selbst ein so intimer Kenner Feuerbachs wie Gustav Radbruch noch nach der Eulenberg-Publikation mit Schweigen überging. Eine absurde Hypothese! Der Jurist und Schriftsteller Herbert Eulenberg (1876-1949), der jenen „klassisch-schönen Text" (Brockdorff) der Nachwelt hinterlassen hat, war kein Feuerbach-Forscher, von dem angenommen werden könnte, daß er ein unbekanntes autobiographisches Manuskript Feuerbachs aufgespürt hat. Wer war überhaupt Her-

54 So Ludwig Feuerbach im Vorwort zum Biographischen Nachlaß, Bd. 1, S. XXIV, wo er auch anmerkt, daß er ursprünglich dem Werk den Titel „Anselm Feuerbachs Autobiographie" geben wollte. 55 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, Vorwort S.X. 56 Vgl. den Artikel „Feuerbach, Paul Johann Anselm Ritter von", in: Wigand's Conversations-Lexikon - Für alle Stände, Leipzig 1847, S. 35 ff. Der Lexikonartikel ist wieder abgedruckt in Bd. 10 der Gesammelten Werke Ludwig Feuerbachs, hrsg. von Werner Schuffenhauer, Leipzig 1971, S. 324 ff; zur Autorschaft Ludwig Feuerbachs vgl. auch das Vorwort des Bandbearbeiters Wolfgang Harich, S. VIII.

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bert Eulenberg? Er dürfte heute, obwohl früher ein berühmter Autor, nur noch wenigen bekannt sein57: Eulenberg studierte Rechtswissenschaft in Berlin, München und Bonn, promovierte in Leipzig und absolvierte zunächst den juristischen Vorbereitungsdienst. 1901 wurde er von Ferdinand Bonn als Dramaturg an dessen Berliner Theater verpflichtet, wechselte jedoch bald in gleicher Funktion an das Düsseldorfer Schauspielhaus zu Louise Dumont. Hier war er bis 1909 als Dramaturg tätig. Seitdem lebte er als freier Schriftsteller in Kaiserswerth. Bereits als Student und Referendar schrieb Eulenberg Bühnenstücke. Insbesondere durch sein Trauerspiel „Leidenschaft" (1901) und das Theaterstück „Münchhausen" (1902) wurden Ferdinand Bonn und Louise Dumont auf ihn aufmerksam. Im Düsseldorfer Schauspielhaus veranstaltete Louise Dumont sonntägliche „Morgenfeiern". Sie sollten „der Jugend und weniger gebildeten Schichten szenenhaft gerafft Biographie, Werk und Persönlichkeit bekannter .Meister' vorstellen". Diese Matineen wurden innerhalb des Theaters Eulenbergs eigentlicher Wirkungskreis. Aus solchen Morgenfeiern gingen seine Essays „Schattenbilder" (1910) hervor, die den Autor in kurzer Zeit populär machten, viele Auflagen erlebten und „in weiteren Sammlungen zu einem eigenen literarischen Genre wurden" 58 . Der Erfolg der „Schattenbilder" ermöglichte Eulenberg die Existenz als freier Schriftsteller. Mit zahlreichen Dramen, u.a. „Ritter Blaubart" (1905), „Alles um Liebe" (1910), „Alles um Geld" (1911), „Belinde" (1913), wurde er ein vielgespielter, mehrfach mit Preisen ausgezeichneter Theaterautor. Im ersten Weltkrieg war Eulenberg, Pazifist und Sympathisant der deutschen Jugendbewegung, im Auftrag Ludendorffs als „poetischer Berichterstatter" in den besetzten Ostgebieten tätig. Hier entstanden die „Skizzen aus Litauen, Weißrußland und Kurland" (1916). Eine Vortragsreise führte ihn 1923 durch die Vereinigten Staaten; ihr Ergebnis war das Epos „Amerikanus" (1924). Eulenbergs Hoffnungen auf eine Erneuerung des deutschen Bühnenlebens nach dem ersten Weltkrieg erfüllten sich nicht. Er wandte sich dem Roman zu: „Wir Zugvögel" (1923), „Mensch und Meteor" (1925), „Zwischen zwei Frauen" (1926), „Menschen an der Grenze" (1930). Zwar entstanden noch Theaterstücke, „doch fanden nun Lebensbeschreibungen im Stile erweiterter .Schattenbilder' — ,Die Familie Feuerbach' (1924),,Schubert und die Frauen' (1928) - mehr Beachtung". Als 1925/26 Eulenbergs Ausgewählte Werke erschienen, scheint sich der Leserkreis, mit Ausnahme der „Schattenbilder", bereits vornehmlich auf das Rheinland beschränkt zu haben. In seinen autobiographischen Schriften, u. a. „Ein rheinisches Dichterleben" (1927), „So war mein Leben" (1948), schildert Eulenberg seine Begegnungen mit vielen berühmten Persönlichkeiten. Hermann Hesse war ihm freundschaftlich verbunden, Thomas Mann nannte ihn in einem Glückwunsch „Ehrenbürger der Welt". In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Eulenbergs Stücke nicht mehr aufgeführt, Neuauflagen seiner Schriften unterbunden. Nach dem

57 Die folgenden Angaben nach Otto Brües, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 3, Berlin 1959, S. 678 f, und Helgard Bruhns, Herbert Eulenberg - Drama, Dramatik, Wirkung, Frankfurt a.M. 1974, S.3ff; dort weit. Nachw., u.a. zu Schriften von und über Eulenberg (S. 238 ff, 251 ff). - Wörtliche Zitate im folgenden Text verweisen auf die Arbeit von Bruhns. 58 Die mir vorliegende 7. Auflage der „Schattenbilder" (Eine Fibel für Kulturbedürftige in Deutschland), Berlin 1911, enthält insgesamt 48 Porträts, u.a. von Hans Sachs, Andreas Gryphius, Lessing, Schiller, Kleist, Brentano, Platen, Fontane, Homer, Luther, Dante, Boccaccio, Zola, Dostojewski, Bismarck, Napoleon, Rembrandt, Schopenhauer, Nietzsche.

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zweiten Weltkrieg erschienen u.a. noch „Johannes auf Patmos" (1945), „Tilman Riemenschneider" (1946), „Nanna und Feuerbach" (1946) sowie eine Heine-Biographie (1947). Auch gab es Neuauflagen der „Schattenbilder" in West- und Ostdeutschland. Eulenberg, Mitarbeiter der Zeitschriften „Aufbau" und „Weltbühne", erhielt den Wilhelm-Raabe-Preis und den Heinrich-Heine-Preis (1946/48). Als Ehrendoktor der Bonner Universität und Nationalpreisträger der DDR starb er 1949 in Kaiserswerth, „ohne ein Wiedererwachen des Interesses an seinem dramatischen Werk zu erleben".

Spätestens nach diesen Notizen über den vielseitig-produktiven Schriftsteller Herbert Eulenberg wird der Leser vermutlich ahnen, wie es um die Echtheit des „Versuchs einer Selbstbeschreibung" steht, ohne (hoffentlich) schon die eigentliche Pointe zu erraten. Die angebliche „Autobiographie" aus dem Frühjahr 1833 - die nach Brockdorff „Feuerbachs Wirken und Streben besser charakterisiert, als es jede noch so einfühlsame Darstellung seiner Vita hätte tun können" 59 - , ist eines von Eulenbergs kulturhistorischen „Schattenbildern", freilich ein Schattenbild besonderer Art, echt und unecht zugleich, biographisch und autobiographisch. Die Selbstbeschreibung ist nämlich keineswegs (nur) eine künstlerisch-fiktive „Nachdichtung" in Feuerbachs Stil und Sprache. Eulenberg läßt vielmehr - größtenteils - Feuerbach mit dessen eigenen, überlieferten Worten sprechen; er hat, vielfach wörtlich oder nahezu wörtlich, authentische Äußerungen Feuerbachs zusammengestellt, sie mit Ergänzungen und verbindenden Uberleitungen versehen und so zu einer Autobiographie arrangiert, die den Eindruck der Echtheit erweckt, weil sie an vielen Stellen tatsächlich „echt" ist. Die Quellen des „Versuchs einer Selbstbeschreibung" sind hauptsächlich, wie eine vergleichende Lektüre bald zeigt60, im „Biographischen Nachlaß" verstreute Mitteilungen Feuerbachs. So sind etwa die freimütigen Selbstbekenntnisse, die Eulenberg dem alternden Feuerbach in den Mund legt - über seinen Stolz, seinen Ehrgeiz und sein schwankendes Temperament - , den jugendlichen Tagebucheintragungen des 18jährigen Feuerbach (1793) entnommen 61 . Der Bericht über die unerfreulichen Verhältnisse in Landshut („Gesellschaft von Teufeln") ist Exzerpt eines Feuerbach-Briefes an den Vater62. Die Reflexionen über Strafgesetzgebung, Gerechtigkeit und richterliches Ermessen entstammen Feuerbachs Vortrag über den „Geist des Strafge-

Brockdorff, Merkwürdige Verbrechen, S. 419. Im Nachlaß Herbert Eulenbergs haben sich keine Hinweise auf das von ihm verwertete Material gefunden; freundliche Auskunft von Herrn Dr. Bernd Kortländer, Heinrich-Heine-Institut, Düsseldorf. 61 Vgl. Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 13 ff. 62 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 94 ff. Die weiteren, nicht so negativ klingenden Briefe aus dieser Zeit hat Eulenberg nicht berücksichtigt. 59

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setzbuches von 1813" 6 3 , aus dem Eulenberg einige Partien wörtlich wiedergegeben hat. Was man in der „Selbstbeschreibung" über Feuerbachs Votum für eine „möglichst humane" Vollstreckung der Todesstrafe (durch Enthauptung) erfährt, kann in einem weiteren Vortrag aus dem Jahre 1810 ausführlich nachgelesen werden 64 . Aus einer Anmerkung

Ludwig

Feuerbachs

zu diesem Vortrag65 hat Eulenberg

dagegen die

angeblich spätere Einsicht des Autors abgeleitet, „daß die Todesstrafe als unrechtmäßiges Strafmittel abzuschaffen sei". Uberhaupt wird an manchen Stellen auch auf erläuternde Bemerkungen Ludwig Feuerbachs im „Biographischen Nachlaß" zurückgegriffen. So verhält es sich etwa bei der Charakterisierung des strengen Vaters in der „Selbstbeschreibung": sie stammt aus dem Vorwort und aus Anmerkungen des Herausgebers 66 . Die „gewisse Unstetheit" in jungen Jahren, die bei Eulenberg als mitwirkendes Motiv für den Wechsel von Kiel nach Landshut genannt wird, geht auf eine Andeutung im Brief an den Vater vom 2 . 1 0 . 1 8 0 3 zurück 6 7 . Feuerbachs Klage darüber, daß er sich bei dem Versuch einer Reform des „finsteren Inquisitionsprozesses" im Geheimen Rat mit seinen „schönsten, glänzendsten Ideen" nicht durchsetzen konnte, findet man wörtlich in seinen umfangreichen, Fragment gebliebenen „Gutachtlichen Erinnerungen" wieder 68 . Die Beschwerden Feuerbachs über seine ungerechte und undankbare Behandlung in Bayern („Ich hatte die Last, andere die Ehre und den D a n k " ) führen auf entsprechende Tagebuchaufzeichnungen zurück 69 . Und die „Endzeitperspektive", aus der Eulenberg Feuerbach sein Leben erzählen läßt, bezieht ihre wesentlichen Elemente aus den letzten Briefen im „Biographischen Nachlaß" 7 0 ; hier zitiert Eulenberg ebenfalls oft wörtlich. Die Chronologie der „Selbstbeschreibung" bricht genau dort ab, wo auch die Mitteilungen des „Biographischen Nachlasses" enden: mit den Briefen an die Schwester Rebekka. Diese vergleichenden Stichproben, die sich beliebig erweitern ließen, sollen hier nicht pedantisch fortgesetzt werden. Allenthalben zeigt sich, daß der Autor Feuerbachs „Biographischen Nachlaß" ausgewertet und

Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 212 ff. Vortrag, die künftig einzuführende Todesstrafe betreffend, in: Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 232 ff. 65 Vgl. oben Fn. 48. 66 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, Vorwort S. X X I V , Anmerkungen S. 7, 16. 67 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 88: „Dies ist indessen das Los der akademischen Dozenten von unruhigem Geiste wie ich; sie haben kein Vaterland und schlagen nomadisch bald da, bald dort ihre bretterne Bude auf." 68 Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 237ff (260). 69 „Einige Tatsachen: wie man in Bayern andere belohnt, und wie man mich belohnt hat", Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S.260ff. 70 Vgl. Biographischer Nachlaß, Bd. 2, S. 333 ff, 340 ff. 63

64

Autobiographie oder Schattenbild?

171

den „Versuch einer Selbstbeschreibung" größtenteils aus wörtlichen oder sinngemäßen Zitaten zusammengesetzt hat. Die verbindenden Partien, die von Eulenberg stammen, enthalten manchmal Fehler, Ungenauigkeiten oder Verzerrungen71, bisweilen auch sprachliche Modernismen und Fehlgriffe, die zu Feuerbachs sicherem Stil nicht passen72 und die „second hand" des Arrangeurs verraten. Eulenberg hat die Selbstbiographie überdies durch einige freie Zutaten ergänzt. Dies gilt etwa für Feuerbachs angeblich letztes Wort zum Fall Kaspar Hauser. Es gilt ζ. B. auch für die - später noch bei Ricarda Huch anzutreffende73 - mythologische Jenseitsvision, in der sich Feuerbach künftig als Totenrichter im Hades sieht, ohne freilich die Alternative zwischen „Minos" und „Rhadamantys" entscheiden zu wollen74. Die Seriosität des Eulenbergschen „Kunstprodukts" ist in dieser Studie nicht zu beurteilen. Es ging nur darum, das Mißverständnis aufzuklären, daß es sich bei dem „Versuch einer Selbstbeschreibung" um eine Altersautobiographie Feuerbachs handelt. Soweit der Text künstlerischen Rang beanspruchen darf, verdankt er ihn wesentlich Feuerbachs sprachlicher Meisterschaft, von der er überwiegend lebt - womit Eulenbergs eigener Anteil nicht verkannt werden soll. Auch war es sicher ein Verdienst des Autors, in seinem Buch über die Familie Feuerbach zugleich die Gestalt des großen Juristen einem breiteren Leserkreis vorgestellt zu haben. Wird doch, wie Günter Spendel einmal gesagt hat, den „Großen des Rechts und der Rechtswissenschaft in der Ruhmeshalle

71 Sie sollen hier nicht im einzelnen aufgelistet werden. Schon Wohlhaupter ist aufgefallen, daß in der „Selbstbeschreibung" die Zeit Feuerbachs in Kiel fälschlich mit fast drei Jahren angegeben wird. Eulenbergs Bemerkung, daß Feuerbach seine Eheschließung bis zu seiner Berufung nach Kiel dem Vater verschwiegen habe, beruht auf ungenauer Lektüre des Briefes vom 26.11.1801 (Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S.57ff). Auch die genealogischen Angaben zur Herkunft Kaspar Hausers (S.31) sind z.T. ungenau. 72 Vgl. etwa: „erneut von der bayrischen Regierung in Dienst gestellt" (S. 17); „mein eigenstes Werk" (S. 18); „bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit" (S. 28). Die Wendung „mit ziemlicher Sicherheit den Beweis geführt" (S. 31) ist doppelt verräterisch: einmal wegen der adjektivischen Verwendung des Adverbs, zum anderen deshalb, weil die hier gemeinte „Sicherheit" in Feuerbachs Terminologie stets „Gewißheit" war; im konkreten Fall war sie „moralische Gewißheit" im Unterschied zur „juridischen", vgl. dazu Küper, Das Verbrechen am Seelenleben, S. 32 ff. 73 Vgl. oben Fn. 36. 74 Die Bemerkung über den „steten Umgang mit schweinsledernen Bänden, durch den nach und nach unsere Seele selber schweinsledern wird" (S. 17 f), klingt freilich nur wie eine hübsche Zutat Eulenbergs, der den ungeliebten Juristenberuf aufgab und Schriftsteller wurde. In Wirklichkeit stammt sie aus einem Brief Feuerbachs an seinen Vater vom 20.2.1806: „Bei dem Umgange mit lauter schweinsledernen Bänden assimiliert sich nach und nach Seele und Leib der schweinsledernen Natur." (Biographischer Nachlaß, Bd. 1, S. 126).

172

Wilfried Küper

des Geistes selten ein Denkmal gesetzt" 75 . Daß Eulenberg mit seiner poetisch-autobiographischen Fiktion eine A r t historischer Urkundenfälschung beabsichtigt habe, wird man vom A u t o r der „Schattenbilder" nicht annehmen wollen. Und gegen den V o r w u r f , unabsichtlich sogar die Wissenschaft irregeführt zu haben, wenn auch nur in bescheidenem Maße, könnte er sich mit einem W o r t Paul Johann Anselm Feuerbachs verteidigen 76 : „Alle Materialien und Elemente der Erfahrung, welche der gemeine Verstand nur immer haben kann, die hat auch der wissenschaftliche, aber mit dem mächtigen Unterschied, daß seine Erfahrungen aus einer weit größeren Sphäre gesammelt, daß sie von Vorurteilen und Einseitigkeiten geläutert sind und daß er überdies auf einem höheren Gesichtspunkt sich befindet, wo die Gegenstände in reinerem Licht stehen und mit voller Freiheit und vielseitiger Umsicht betrachtet werden können."

75 Vgl. Spendet, Josef Kohler, S. 1, in Abwandlung eines Wortes von Gustav Radbruch, Feuerbach als Kriminalpsychologe, in: MSchrKrimPsych. Bd.6 (1911) S. 1. 76 Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, Landshut 1813, S. 142.

Nachlese zu einem Würzburger Strafverfahren der NS-Zeit JOHANNES SCHÜTZ

Am 12. Dezember 1936 verurteilte das LG Würzburg den jüdischen Weinhändler Dr. Leopold Obermayer wegen widernatürlicher Unzucht zu 10 Jahren Zuchthaus und ordnete gegen ihn Sicherungsverwahrung an. Die Gerichtsakten über diesen Straffall, der seinerzeit großes Aufsehen erregt hatte, verbrannten im Krieg. Jahrzehnte später unternahm es die Historikerin Elke Fröhlich, gestützt auf einschlägige Gestapoakten, auf Zeitungsartikel und andere Unterlagen, im Rahmen einer Dissertation über individuelle Verfolgungsschicksale den Fall zu rekonstruieren. Sie schilderte ihn unter dem Titel „Ein Volksschädling" in Band VI der vom Institut für Zeitgeschichte herausgegebenen Reihe „Bayern in der NS-Zeit" 1 . Sie prangerte das Vorgehen der Gestapo und die Zustände im KZ Dachau an, warf der Justiz „schlimme Rechtsbeugung" 2 vor und setzte dem Verurteilten ein eindrucksvolles literarisches Denkmal. Die Rolle der Justiz soll hier überprüft werden. Die Betrachtung darf Günter Spendel gewidmet werden, der wie kein anderer Fälle der „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung" strafrechtlich untersucht und belegt hat 3 . I.

Obermayer, promovierter Jurist, war nach der Schilderung der Autorin eine „Ausnahmeerscheinung" unter den Juden Würzburgs. Als Schweizer Staatsbürger ließ er sich durch die nationalsozialistische Machtübernahme und die dann einsetzende Isolierung und Verfemung der Juden nicht beeindrucken. Er duckte sich nicht vor den neuen Machthabern und wahrte seine Rechte. Er zog sich den Haß des 1 Fröhlich, Die Herausforderung des Einzelnen, Geschichten über Widerstand und Verfolgung (Münchener Diss.), in: Bayern in der NS-Zeit, VI. Bd., hrsg. v. M. Broszat u. E. Fröhlich, 1983, S. 76ff (III. Kap.: Ein „Volksschädling"). 2 Fröhlich, aaO, S.91 u. auch S. 109. 3 Vgl. Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984; ders. in: Leipz. Komm., 10. Aufl., 7. Bd., 1988 (28. Lfg. 1982) zu §336; ders., Unrechtsurteile der NS-Zeit, in: Jescheck-Festschr., 1985, I. Hbd., S. 179 ff und öfter.

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Johannes Schütz

Würzburger Gestapochefs (Leiter der Außenstelle der bayer. politischen Polizei) SS-Untersturmführer Gerum zu, der ihn unerbittlich verfolgte. Doch Obermayer, nach der Wertung der Autorin ein „unerschrockener Anwalt des Rechtsstaates", ein zweiter „Michael Kohlhaas", nutzte jede Gelegenheit, „Gestapobeamten, Staats an wälten und Richtern, die Hätz auf ihn machten, den Spiegel ihrer schmählichen Rechtsbrüche herausfordernd vorzuhalten" 4 . Gerum verdächtigte 1934 Obermayer, der als Weinhändler ganz Deutschland bereiste, willkürlich der Spionage und der Verbindung mit illegalen KPD-Kreisen. E r nahm ihn in Schutzhaft und schaffte ihn 1935 ins KZ Dachau. Gerums Verdacht erwies sich als unbegründet. Der Reichsanwalt beim Volksgerichtshof stellte das Verfahren 1936 ein. Die Polizei entdeckte aber bei ihren Ermittlungen im Banksafe Obermayers zahlreiche Aktfotos junger Männer 5 , und der Beschuldigte stand nunmehr im Verdacht der widernatürlichen Unzucht. Im K Z Dachau kämpfte er, gestützt auf seinen Status als Schweizer Bürger, gegen die dort herrschende Willkür und Rechtlosigkeit an. Er forderte, in Untersuchungshaft überführt zu werden, und erstattete gegen sich Selbstanzeige nach § 175 S t G B . Er hatte schließlich Erfolg. Auf Grund richterlichen Haftbefehls wegen dringenden Verdachts nach § 175 S t G B kam er in Untersuchungshaft. Im Gefängnis verfaßte er alsbald einen umfangreichen Bericht über Mißhandlungen und Rechtsbrüche, die er bei der Gestapo und im KZ erlebt hatte. Durch Vermittlung seines Anwalts wollte er sich damit an die Öffentlichkeit und ans Ausland wenden. Gerum erfuhr von dem Plan, brachte den Bericht an sich und ließ Obermayer aus der U - H a f t heraus wieder ins K Z schaffen. Das Gericht hob daraufhin den Haftbefehl auf. Der Beschuldigte wandte sich deswegen beschwerdeführend an zahlreiche Stellen, forderte die ihm „als Schweizer und Ausländer gebührende Behandlung" und die Wiederherstellung seines Status als Untersuchungsgefangener der Justiz. Das Reichsjustizministerium griff schließlich ein und veranlaßte, daß Obermayer wieder in Untersuchungshaft kam. Die Vertretung der Schweiz hatte sich für ihn eingeschaltet. Sie stellte nunmehr auch ihren Vertrauensanwalt Dr. Ufer dem Beschuldigten als Verteidiger und bestellte einen Schweizer Juristen zu seinem Vormund. Obermayer konnte persönlich mit dem Schweizer Konsul sprechen. Dieser riet ihm zur Zurückhaltung bei seinen Beschwerden über die Gestapo und über die KZ-Zustände.

Fröhlich, aaO S.22, 76. Fröhlich, aaO S. 77: „Auch die von ihm aufbewahrten Bilder nackter Männer, die er liebte, bezeugen einen eher romantisch-sentimentalen Schönheitskult und sind frei von aller Pornographie". Dagegen das Urteil des LG Würzburg: „Nacktaufnahmen scheußlicher Art". Der Verf. fand die Aufnahmern in den Gestapo-Akten nicht - mehr - vor. 4

5

Nachlese zu einem Würzburger Strafverfahren der NS-Zeit

175

Die Gestapo fürchtete, Obermayer könne abermals versuchen, aus der U - H a f t heraus „Greuelnachrichten" in die Öffentlichkeit und ins Ausland zu lancieren. Den Beschuldigten wieder ins K Z zu schaffen, konnte Gerum nicht durchsetzen. Er wandte sich an die Justiz und forderte Unterstützung für seine Sicherungsmaßnahmen. So wollte er Obermayers Zelle nach „staatsgefährlichen" Schriftstücken durchsuchen. Der Gerichtsvorsitzende lehnte aber ab. Dann verdächtigte er einen Urkundsbeamten des L G Würzburg, dem Beschuldigten behilflich zu sein, sich mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, und verlangte, daß man ihm - Gerum - gestatte, eine Unterredung dieses Beamten mit Obermayer in dessen Zelle „mit einem Abhörapparat abzuhören". Doch der LG-Präsident, übrigens Altparteigenosse und Träger des goldenen Parteiabzeichens, wurde - wie Gerum nach München berichtete - „vor Schrecken blaß und konnte die Verantwortung für solche unerhörte Tat nicht übernehmen". Der Gestapobeamte sprach von „feigem Beamtenpack" 6 . Inzwischen liefen umfangreiche Ermittlungen gegen Obermayer. Die Autorin will daraus schließen, der Oberstaatsanwalt habe „durch systematische Vernehmung Dutzender ehemaliger Freunde Obermayers alles darauf angelegt, einen großen Schauprozeß gegen den Juden zu führen". Es sei dabei „längst nicht mehr um eine wahrheitsgemäße Aufklärung dieser homoerotischen Beziehungen" . . . gegangen, „sondern darum, diesem Juden den Prozeß zu machen, um für die nationalsozialistische Haß-Karikatur vom schmierigen, ekelhaften jüdischen Sexualverführer ein ,Beweisstück' vorführen zu können" 7 . Da die Autorin für diese Behauptung lediglich den Umfang der Ermittlungen anführt, steht ihre Erklärung auf schwachen Füßen. Denn die Staatsanwaltschaft war nach dem Gesetz nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet, wegen aller strafbaren Handlungen des Beschuldigten einzuschreiten, sofern zureichende tatsächliche Anhaltspunkte vorlagen - § 152 II S t P O (Legalitätsprinzip) Die vorgefundenen Aktfotos waren durchaus geeignet, den „Anfangsverdacht" in zahlreichen Fällen zu begründen, ein Verdacht, der sich übrigens im Laufe des Verfahrens dann auch weitgehend bestätigt hat. Im Laufe der Voruntersuchung wurde auf zweifelhafter Grundlage davon ausgegangen, daß Obermayer neben der schweizerischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besaß. Der Beschuldigte, der dadurch eine Schwächung seiner Stellung befürchten mußte, bestritt die deutsche Staatsangehörigkeit vergeblich, die allerdings entgegen der Auffassung

6 7

Fröhlich, aaO S. 104. Fröhlich, aaO S. 100.

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Johannes Schütz

von Fröhlich nicht Voraussetzung der Verhängung einer Sicherungsverwahrung war. Die Hauptverhandlung gegen Obermayer wurde auf den 9.12.1936 anberaumt. Mit Schreiben vom 12.11.1936 beschwor Dr. Ufer seinen Mandanten, Zurückhaltung zu üben und die Absicht aufzugeben, die Öffentlichkeit und das Ausland über seine KZ-Erlebnisse zu unterrichten. Obermayer wies mit Schreiben vom 14.11.1936 diese Ratschläge erbittert zurück und erklärte: „Wenn Sie gegenteiliger Meinung sind wie ich, dann müssen wir beide eben die Konsequenzen ziehen, da ich nicht nachzugeben gewillt bin. Auch wenn es mein Schaden sein sollte. .. .Warum behandeln auch Sie mich so feindselig? Was steckt da wieder dahinter" 8 ? Der Beschuldigte nahm Verbindung mit einem ihm bekannten Rechtsanwalt Dr. Krause auf. Dr. Ufer forderte Obermayer am 23.11.1936 auf, sich bei ihm wegen der angeblichen „Beleidigung" im Schreiben vom 14.11.1936 zu entschuldigen 9 . Obermayer lehnte ab. Dr. Ufer legte daraufhin am 7.12.1936, zwei Tage vor der Hauptverhandlung, die Verteidigung nieder. Rechtsanwalt Dr. Krause war nicht bereit, die Verteidigung zu übernehmen. In dieser Lage bestellte der Gerichtsvorsitzende einen Rechtsreferendar als Pflichtverteidiger. Er erreichte so, daß der Termin zur Hauptverhandlung aufrechterhalten und daß das mit langem Freiheitsentzug für Obermayer verbundene Verfahren endlich abgeschlossen werden konnte. Er entsprach also damit dem Beschleunigungsgrundsatz. Der Umstand, daß der Angeklagte als Jurist sich selbst wirkungsvoll verteidigen konnte, mag bei der Entscheidung des Vorsitzenden ebenfalls eine Rolle gespielt haben. Angesichts der Schwere des Anklagevorwurfs, der zahlreich angelasteten Einzeltaten und der dem Angeklagten drohenden Sanktionen war aber eine Verlegung des Termins, um einem Verteidiger eine angemessene Vorbereitung zu ermöglichen, doch wohl geboten10. Mehr als zweifelhaft ist, ob die gesetzlich grundsätzlich zulässige Bestellung eines Referendars zum Verteidiger hier zu verantworten war. Die „Richtlinien" des Reichsjustizministeriums von 1935 mahnten insoweit die Gerichte zur Vorsicht und ließen mit Recht das Interesse an sachgemäßer Verteidigung maßgebend sein11.

8

Fröhlich, aaO S. 103. Dazu und zum folgenden Fröhlich, aaO S. 106 ff. 10 RGSt. 73, S. 153 hat in einem „gewöhnlichen", d.h. unpolitischen Straffalle, in dem der Täter seine Nichte ermordet haben sollte, einen Rechtsfehler darin gesehen, daß dem zu Anfang der Hauptverhandlung wegen Nichterscheinens des Wahlverteidigers bestellten Pflichtverteidiger keine Gelegenheit zur Vorbereitung seiner Verteidigung gegeben und alsbald verhandelt worden ist. S. auch RG, J W 1926, S. 1218 f mit zust. Anm. Oetker. 11 Vgl. Robert von Hippel, Der deutsche Strafprozeß, 1941, S.289. 9

Nachlese zu einem Würzburger Strafverfahren der NS-Zeit

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Das L G verhandelte drei Tage, und zwar weitgehend unter Ausschluß der Öffentlichkeit. „Einen offenen Prozeß, einen Schauprozeß . . . wagte man . . . nicht durchzuführen", meint dazu Elke Fröhlich und wertet den Ausschließungsgrund „Gefährdung der Sittlichkeit" als nur vorgeschoben. Da im Verfahren gleichgeschlechtliche Akte aufzuklären waren, entsprach die Entscheidung dem Gesetz und der damals allgemein üblichen Gerichtspraxis, hier wohl auch dem Interesse des Angeklagten, der nach einem von der Autorin zitierten Zeitungsbericht nicht wollte, daß „seine innersten Erlebnisse . . . in der Öffentlichkeit ,profaniert' würden" 12 . Wenn trotzdem Presse zugelassen wurde, so sind der Ausschluß der ausländischen und die Begrenzung der Zulassung auf die nat.soz. oder „angepaßte" Presse zu kritisieren. Zu den befürchteten Ausfällen des Angeklagten gegen das Regime kam es nicht. Aus dem Urteil und aus Presseberichten ist zu entnehmen, daß Obermayer sich „überaus gewandt" verteidigte. Zwei Sachverständige waren aufgeboten. Sie bezeichneten den Angeklagten als Psychopathen, aber als voll zurechnungsfähig. Das L G erkannte gegen den Angeklagten auf 10 Jahre Zuchthaus, auf Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf 10 Jahre und auf Sicherungsverwahrung; 1 Jahr 6 Monate Untersuchungshaft bzw. polizeiliche Schutzhaft wurden auf die Strafe angerechnet. Wenn man in E. Fröhlichs Schilderung dazu liest, die Verurteilung sei wegen „angeblich strafwürdiger homosexueller Beziehungen" erfolgt, wegen Taten, die „lange zurücklagen", die „unter normalen Rechts- und Justizbedingungen und ohne die erst 1934 vorgenommene strafrechtliche Erweiterung des Begriffs homosexuelle Beziehung mit Minderjährigen kaum eine Anklage gerechtfertigt hätten", so erscheint die Kritik der Verfasserin an dem Strafurteil dem Leser wohl als gerechtfertigt. Folgende tatsächlichen Feststellungen des L G sind aber auch zu beachten: Obermayer verstand es - wie das Urteil des Landgerichts Würzburg (F 1333/35) vom 12.12.1936 festhält13 - bei seiner Tätigkeit als Weinreisender, überall in Deutschland junge Leute zwischen 14 und 25 Jahren kennenzulernen und ihr Vertrauen zu erwerben. „Er sprach sie meistens auf der Straße unter irgend einem Vorwand an und zog sie in eine Unterhaltung. Er gab sich manchesmal als ehemaliger Pfadfinder oder als Angehöriger einer anderen Jugendbewegung aus, erteilte jungen Leuten Ratschläge für ihr ferneres Fortkommen und machte ihnen auch zuweilen vor, er könne einen Eintritt beim Militär erwirken oder er werde ihnen eine andere Stelle beschaffen. Als Juden gab er sich nicht zu erkennen; dabei kam ihm zu Gute, daß er äußerlich nicht die Merkmale

Fröhlich, aaO S. 107. Das Urteil befindet sich in Abschrift in den Gestapoakten - Nr. 8873 (Dr. Obermayer) Staatsarchiv Würzburg - , die Elke Fröhlich ausgewertet hat. 12 13

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Johannes Schütz

seiner Rasse hat. In einem Fall gab er sich als Sohn einer evangelischen Pastorenfamilie aus, in einem anderen Falle wußte er den Eindruck zu erwecken, als ob er Katholik sei. Hatte er sich einmal in das Vertrauen der jungen Leute eingeschlichen, dann begann er mit ihnen auf homosexuellem Gebiete strafbare Handlungen, die sich teilweise auf mehrere Jahre erstreckten. Manchmal kam es vor, daß der Angeklagte die jungen Leute durch Alkohol oder durch Geschenke oder Versprechungen sich gefügig machte. Im Laufe der Voruntersuchung wurde eine Reihe von Fällen (über 100) ermittelt, wo selbst der Angeklagte mit den verschiedensten jungen Leuten widernatürliche Unzucht getrieben hat, von denen ein großer Teil inzwischen verjährt ist und deshalb mit Beschluß der Strafkammer Würzburg vom 18.8.1936 eingestellt wurde (siehe Akten Blatt 417 ff). Aus dem Treiben des Angeklagten wurden 36 Fälle herausgegriffen, die nunmehr Gegenstand des anhängigen Strafverfahrens sind" 14 . Bei der r e c h t l i c h e n W ü r d i g u n g w u r d e das P r o b l e m der V e r j ä h r u n g „lang z u r ü c k l i e g e n d e r T a t e n " also keineswegs übersehen. Fälle w u r d e n

außerhalb

der H a u p t v e r h a n d l u n g

Zahlreiche

eingestellt,

fünf

im

U r t e i l . E i n e w e s e n t l i c h e Rolle - a u c h in der Darstellung E . Fröhlichs

-

spielt der U m s t a n d , d a ß das G e s e t z v o m 2 8 . 6 . 1 9 3 5 - R G B l . 8 3 9 - den einschlägigen T a t b e s t a n d - § 1 7 5 S t G B - gegenüber § 1 7 5 a. F . e r w e i t e r t hatte. L e t z t e r e r w a r aber auf v o r d e m 1 . 9 . 1 9 3 5 begangene Straftaten weiterhin a n z u w e n d e n . E r b e d r o h t e die „widernatürliche U n z u c h t z w i schen M ä n n e r n " m i t Strafe. D a r u n t e r w a r e n n a c h der R e c h t s p r e c h u n g des R e i c h s g e r i c h t s n u r „beischlafähnliche H a n d l u n g e n " z u v e r s t e h e n . D a s U r t e i l ü b e r das Verhalten des A n g e k l a g t e n : „Für deren strafbare Beurteilung sind auch die Bestimmungen dieser Gesetzesvorschrift maßgebend, weil sämtliche Handlungen vor dem 1.9.1935, dem Zeitpunkt des Inkrafttretens des § 175 StGB in der neuen Fassung begangen sind. Soweit der Angeklagte sein Glied in den After des anderen eingeführt und hierbei Stoßbewegungen gemacht, soweit er ferner das Glied des Anderen in den Mund genommen und daran gelutscht, soweit er sich auf den Anderen gelegt und auf den entblößten Leib des Anderen sein Geschlechtsteil hin- und hergeschoben und soweit er schließlich seinen Geschlechtsteil zwischen den entblößten Oberschenkeln des anderen gesteckt und dann hin- und Herbewegungen vorgenommen hat, sind diese Handlungen nach der Auslegung, die der § 175 StGB älterer Fassung bisher gefunden hat, als beischlaf ähnliche Handlungen zu beurteilen, die zur Annahme einer widernatürlichen Unzucht im Sinne des § 175 StGB älterer Fassung erforderlich sind." D a s R e i c h s g e r i c h t verließ damals seine f r ü h e r e A u s l e g u n g des § 1 7 5 a. F . S t G B u n d erklärte alle H a n d l u n g e n für tatbestandsmäßig, die eine geschlechtliche B e f r i e d i g u n g e n t s p r e c h e n d der m i t d e m natürlichen B e i schlaf v e r b u n d e n e n herbeiführen sollen, also auch gegenseitige O n a n i e 1 5 . D a s L a n d g e r i c h t folgte dieser R e c h t s p r e c h u n g .

Hervorhebungen im Urteil des LG Würzburg. Zur älteren Rechtsprechung (nur beischlafsähnliche Handlungen dem §175 a. F. StGB unterfallend) s. ζ. B. RGSt. 48, S. 234; 64, S. 109; zur späteren (auch nicht beischlafsähnliche Handlungen, so auch gleichzeitige Onanie) s. ζ. B. RGSt. 69, S. 273, 274; 70, S. 224; 73, S. 78, 80. 14

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Soviel zum Sachverhalt. Es muß überraschen, daß die Autorin, die sonst so detailfreudig berichtet, diese ihr zugänglichen, für die Darstellung und Beurteilung des Straffalles wesentlichen Tatsachen dem Leser vorenthält. Ihre oben angeführte zusammenfassende Wertung wird der Sach- und Rechtslage nicht gerecht. Berechtigter Abscheu gegenüber dem Vorgehen der Gestapo sowie Bewunderung und Mitempfinden für den unglückseligen Obermayer mögen der Autorin hier die Feder geführt haben. Aber aus Respekt vor der Wahrheit und um auch den Justizjuristen, denen Rechtsbruch vorgeworfen wird, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, ist die Offenlegung des Sachverhalts erforderlich. Auf Zuchthaus erkannte das Gericht gemäß § 2 0 a StGB in sieben Fällen mit folgenden Begründungen: „Die Gesamtwürdigung dieser Straftaten in Zusammenhang mit den zahlreichen Straftaten der widernatürlichen Unzucht, die der Angeklagte vor dem 1.1.1934 begangen hat und die nur teilweise unter Anklage gestellt sind, weil ein großer Teil davon verjährt ist, ergibt, daß der Angeklagte ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher im Sinne des §20 a StGB ist. Seine verbrecherische Betätigung zur Verübung von Straftaten auf homosexuellem Gebiet beruht auf einem inneren Hang zu diesen Straftaten; sie ist in einer in der Person des Angeklagten liegenden inneren Einstellung - der Angeklagte behauptet selbst, daß er homosexuell veranlagt ist - verwurzelt, aus der stets von neuem seine Geneigtheit und Bereitschaft zur strafbaren Betätigung auf homosexuellem Gebiet erwächst. Der Angeklagte ist aber auch ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher, weil seine vielfachen Straftaten auf homosexuellem Gebiet und die dadurch bewiesene Hartnäckigkeit und Stärke seines verbrecherischen Willens es in hohem Grade wahrscheinlich machen, daß er für die Zukunft sich neuerdings auf homosexuellem Gebiete insbesondere gegenüber jungen Leuten verfehlen wird. Es rechtfertigt sich ohnehin auf Grund der Gesamtwürdigung der Straftaten die Feststellung, daß der Angeklagte ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher ist. Dabei ist die Voraussetzung des § 20 a Abs. 2 StGB berücksichtigt, wonach der Angeklagte mindestens 3 vorsätzliche Taten begangen haben muß. Es sind nicht nur 3, sondern 7 nach dem 1.1.1934 begangene vorsätzliche Taten gegeben. Das Gericht hat bei diesen 7 Straftaten von der in §20 a Abs. 2 StGB eingeräumten Befugnis der Strafverschärfung Gebrauch gemacht, und in diesen Fällen auf Zuchthaus erkannt. Es war hierfür maßgebend, daß der Angeklagte bei den Straftaten in gewissenloser, skurpelloser Weise vorgegangen ist."

Bei der Bemessung der Strafe für die einzelnen Fälle berücksichtigte das Urteil namentlich auch, ob der Geschlechtspartner des Angeklagten bereits verführt war - 8 Fälle - oder nicht - 14 Fälle ferner, ob es sich lediglich um gegenseitige Onanie handelte - 6 Fälle - . Das Urteil sprach den Angeklagten der widernatürlichen Unzucht mit Männern in 30 Fällen - darunter 20 Fällen fortgesetzt - schuldig und verurteilte ihn zur Gesamtstrafe von 10 Jahren Zuchthaus. In zwei Fällen sprach es ihn frei; in fünf Fällen stellte es das Verfahren ein. Ferner ordnete es gegen den Angeklagten Sicherungsverwahrung an. Es begründete diese Maßnahmen wie folgt: „Wie bereits näher begründet, ist der Angeklagte nach §20 StGB ein gefährlicher Gewohnheitsverbrecher und als solcher verurteilt worden. Die öffentliche Sicherheit

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läßt die Sicherungsverwahrung des Angeklagten erforderlich erscheinen; denn nach der Persönlichkeit des Angeklagten, wie sie sich auf Grund seiner vielfachen Zuwiderhandlungen gegen § 175 StGB und seiner dabei bewiesenen Hartnäckigkeit auf dem Gebiete der homosexuellen Betätigung ergibt, besteht die dringende Gefahr, daß der Angeklagte nach seiner Entlassung aus dem Zuchthaus neuerdings erhebliche Angriffe gegen die strafrechtlich geschützte Geschlechtsehre von Männern unternehmen wird (§42 a StGB). Wie von dem Angeklagten nicht bestritten wird, wurde bei ihm während der neuerlichen Untersuchungshaft in seiner Zelle ein Liebesbrief an einen Mitgefangenen gefunden."

Das Urteil stützt seine tatsächlichen Feststellungen auf die Aussagen der Sexualpartner des Angeklagten. Dieser bestritt zwar homosexuelle Beziehungen zu diesen nicht, gab aber nur leichtere Formen homosexueller Betätigung zu. Das Urteil bezeichnete die Zeugen als glaubwürdig und erklärt, sie seien „lediglich wegen Verdachts der Teilnahme gemäß § 6 0 Ziff. 3 StPO unbeeidigt geblieben" - S. 4 des Urteils. Wenn man bedenkt, welche Folgen das Eingeständnis homosexueller Beziehungen zu dem Angeklagten nach der damaligen Bewertung der Homosexualität für dessen Sexualpartner hatte - drei von ihnen haben während des Verfahrens Selbstmord begangen - , so kann man mit dem Gericht davon ausgehen, daß ihre Angaben nicht falsch oder übertrieben waren. Bei der Bewertung der Strafwürdigkeit der Taten des Angeklagten muß man natürlich von der damaligen Rechtslage und Bewertung und nicht von unserer heutigen Sicht ausgehen. Unser derzeit geltendes Recht bestraft homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen überhaupt nicht mehr und solche an Jugendlichen nur mäßig. Die inzwischen erfolgte „Entmoralisierung" unseres Sexualstrafrechts lag aber damals noch in weiter Ferne. Noch herrschte im Volk die von alters überlieferte Vorstellung von der Homosexualität als einer „Sünde gegen die Natur", die auch der weltliche Gesetzgeber mit schwerer Strafe ahndete - die C C C von 1532 hatte den Feuertod als Strafe vorgesehen. Noch das Preußische Allgemeine Landrecht von 1794 hatte „gänzliche Vertilgung des Andenkens" des Schuldigen verlangt16, während Feuerbachs BayStGB v. 1813 die Homosexualität straflos gelassen hatte. Das Reichsstrafgesetzbuch von 1871 bestrafte die „widernatürliche Unzucht, welche zwischen Personen männlichen Geschlechts begangen wird", mit Gefängnis. Die einschränkende Auslegung dieser Bestimmung durch das Reichsgericht führte, wie oben bereits erwähnt, dazu, daß ausschließlich beischlafähnliche (orale und anale) Handlungen bestraft wurden. Die Strafrechtsnovelle vom 28.6.1935 stellte in ihrem §175 „Unzucht mit einem anderen Mann" unter Gefängnisstrafe und wertete in einem § 175 a vier qualifizierte Formen der Homosexualität als zuchthauswür-

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Preuß. Allg. Landrecht, Teil II, Titel X X , § 1069.

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dige Verbrechen. Diese Bestimmungen galten übrigens auch nach dem Zusammenbruch des nat.-soz. Regimes unter der Geltung des GG noch weiter; denn sie stellten keine typisch nat.-soz. Normen dar und verstießen namentlich auch nicht gegen das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit 17 . Erst das 1. Strafrechtsreformgesetz vom 25.6.1969 führte zu einer Neufassung des §175 StGB und eine nochmalige Änderung durch das 4. Strafrechtsreformgesetz vom 23.11.1973 schließlich zur derzeitigen Fassung der Gesetzesbestimmung. Diese hat nunmehr den Charakter einer reinen Jugendschutzvorschrift. Zur Zeit der Verurteilung des Angeklagten galt dagegen als geschütztes Rechtsgut neben der männlichen Geschlechtsehre und der öffentlichen Sittlichkeit die „Lebenskraft des deutschen Volkes", die „gegen die Seuche der Homosexualität" zu schützen war, „weshalb gegen derartige Übeltäter zur Sühne und Abschreckung strenge Strafen veranlaßt sind", so die einschlägigen Ausführungen des Urteils - S. 32. Sie entsprachen der damals herrschenden Ansicht zur Strafbemessung, die Spezialprävention als „unangebrachte Milde" ablehnte und auf Vergeltung und generalpräventive Abschreckung setzte18. Das Rechtsgut „Schutz der Lebenskraft des deutschen Volkes" wurde vom Nationalsozialismus - namentlich nach dem „Röhm-Putsch" (1934) - betont. Man kann aber davon ausgehen, daß die Bevölkerung damals, ganz unabhängig von nat.-soz. Indoktrination, die Homosexualität und nicht zuletzt das Treiben des Angeklagten als erheblich strafwürdiges Unrecht ansah. Entscheidend für das harte Urteil, für die Verhängung von Zuchthausstrafe und für die Anordnung der Sicherungsverwahrung war die Einstufung des Angeklagten als „gefährlicher Gewohnheitsverbrecher". Auch das Gesetz vom 24.11.1933, das dafür die gesetzliche Grundlage schuf, war kein typisch nat.-soz. Gesetz, wenn es auch zu Beginn des Dritten Reiches erlassen worden war. Es verwirklichte alte Strafrechtsreformbestrebungen19 und galt daher bezeichnenderweise noch unter dem GG weiter, § 20 a StGB bis zum 1. Strafrechtsreformgesetz; die Anordnung der Sicherungsverwahrung ist heute noch möglich. Bedenklich, namentlich aus heutiger Sicht, kann trotz des Hinweises auf die einschlägige Reichsgerichtsrechtsprechung im Urteil die extensive Auslegung des § 175 a. F. StGB erscheinen. Das LG hat sechs Fälle gegenseitiger Onanie mitabgeurteilt, allerdings niedrigere Strafen dafür angesetzt. Die sechs Fälle ereigneten sich bereits vor der verschärfenden

BGHSt. 1, 80; BGH NJW 1951, 810; BGH NJW 1952, 796. Hellmuth Mayer, Das Strafrecht des Deutschen Volkes, 1936, S. 26-36, 48-52 und passim. 19 S. dazu Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der Deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., 1965, S. 430 f. 17

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Auslegung des § 175 a. F. StGB. Den Einwand des Angeklagten, er habe gemäß der ihm bekannten ständigen Rechtsprechung des Reichsgerichts gegenseitige Onanie nicht für strafwürdig gehalten, wertet das Urteil als unbeachtlichen Strafrechtsirrtum. Nach damaliger Rechtsansicht gehörte das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht zum Vorsatz, und ein Irrtum in diesem Bereich fiel daher nicht unter den damaligen § 59 StGB, der nach damaliger Rechtsprechung nur den Tatsachenirrtum berücksichtigte. Ausgeschlossen sollte § 59 StGB namentlich auch bei einem Irrtum über die Auslegung eines Strafgesetzes sein20. Die Lösung ist unbefriedigend. Das alte, bis heute umstrittene Problem taucht auf, ob und inwieweit eine rückwirkende strafschärfende Auslegung eines Strafgesetzes zulässig ist. Wie damals § 2 a StGB stellt heute unser StGB beim Rückwirkungsverbot auf die Änderung von Gesetzen, nicht auf die richterliche Auslegung der Gesetze ab. Nach herrschender Rechtsansicht kann sich eine geänderte, verschärfende Rechtsprechung auch auf Taten beziehen, die vor der geänderten Rechtsprechung begangen worden sind21. Aber gerade der Fall Obermayer zeigt, daß der unser Strafgesetzbuch beherrschende Schuldgrundsatz tangiert wird, wenn eine formelhaft festgelegte, das Gesetz gleichsam ergänzende Auslegung eines Gesetzes rückwirkend zu Lasten des Angeklagten aufgegeben wird. Der rechtsstaatliche Vertrauensschutz steht dieser Rechtspraxis entgegen22. Für die Rechtspraxis des „Dritten Reiches", das sogar bei Strafgesetzen rückwirkende Anwendung zuließ, stellte sich allerdings das aufgezeigte Problem kaum. Das LG Würzburg hätte wohl Aufhebung seines Urteils - in den genannten sechs Fällen - riskiert, wenn es anders entschieden hätte23. Die nat.-soz. Presse, namentlich der „Stürmer"24, berichtete über das Verfahren, in antisemitischer, hetzerischer Weise. Sowohl in der mündlichen, als auch in der schriftlichen Urteilsbegründung versicherte das Gericht, daß der Angeklagte nicht wegen seines Judentums, sondern nur wegen seiner Straftaten bestraft worden sei. Diese Erklärung mag eine Antwort auf eine Behauptung des Angeklagten gewesen sein, er werde nur wegen seines Judentums bestraft bzw. härter bestraft, oder auch eine vorsorgliche Beteuerung gegenüber kritischen ausländischen Prozeßbeobachtern. Sie ermangelte zwar voller Uberzeugungskraft, zumal dem

Dalcke, Strafrecht und Strafverfahren, 33. Aufl., 1942, §59 Anm.4. BVerfGE 18, 224, 240f; BGH bei Dallinger, MDR 1970, 196; OLG Frankfurt am Main, NJW 1969, 1634. 22 Dazu namentlich Norbert Groß, G A 1971, S. 13. 23 RGSt. 69, 273 ff; RGSt. 69, 318 f. 24 Eine grob antisemitische nat.-soz. Zeitschrift, deren 1945 gehenkter Herausgeber, Julius Streicher, auch Gauleiter in Franken war. 20 21

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Verurteilten in der mündlichen Urteilsbegründung nach einer Meldung des Würzburger Generalanzeigers „echt jüdische Verdrehungskunst" eben insofern vorgehalten wurde, bedeutete aber doch eine öffentliche Ablehnung der damals anzutreffenden nat.-soz. Ansicht, das Gesetz sei gegen „Freund" und „Feind" mit unterschiedlicher Härte anzuwenden 25 . Der Angeklagte ließ durch einen von ihm beauftragten Rechtsanwalt Revision gegen das Urteil einlegen. Dazu bemerkt die Autorin: „Auch die Richter des Oberlandesgerichts hatten nicht den Mut, einem homosexuellen Juden zu mehr Recht zu verhelfen" 26 . Über die Revision hatte nicht ein Oberlandesgericht, sondern das Reichsgericht zu entscheiden. Der Verteidiger des Angeklagten rügte Verletzung des sachlichen Rechts und des Verfahrensrechts. Das Reichsgericht verhandelte am 2 0 . 4 . 1 9 3 7 über die Revision. Es hob das Urteil des L G Würzburg in drei Fällen im Strafausspruch, in einem Fall im Schuld- und Strafausspruch, hinsichtlich der Gesamtstrafe und der Ehrenstrafe auf, verwies insoweit an das L G Würzburg zurück und verwarf im übrigen die Revision 27 . Die teilweise Neuverhandlung vor dem L G Würzburg am 16. 6 . 1 9 3 7 endete abermals mit einer Verurteilung zur Gesamtstrafe von 10 Jahren Zuchthaus und zu 10 Jahren Ehrverlust. Auf die Strafe wurden 1 Jahr, 8 Monate der erlittenen Polizei- und Untersuchungshaft sowie der Freiheitsentzug seit dem Urteil des Reichsgerichts angerechnet 28 . Zum Schicksal Obermayers ist noch zu berichten: Er blieb bis 1942 Strafgefangener. In diesem Jahre überstellte der neue Reichsjustizminister Thierack zu langen Zuchthausstrafen Verurteilte dem Reichsführer der SS. Auch der unglückliche Obermayer, der den Strafvollzug gut überstanden hatte, zählte zu den Opfern dieser Aktion. E r kam ins K Z Mauthausen. In diesem kam er am 2 2 . 2 . 1 9 4 3 um. Die näheren Umstände seines Todes sind nicht bekannt.

II. Die Rolle Gerums, der Gestapo, der KZ-Mannschaft in Dachau in der Tragödie Obermayer hat die Autorin, gestützt auf zahlreiche Selbstzeugnisse Gerums, zutreffend dargestellt. Die genannten Akteure fühlten sich als „politische Soldaten" Hitlers ausschließlich seinem Willen 25 So namentlich Göring bei dem Festakt anläßlich der Verreichlichung der Justizverwaltung, DJ 1935, S. 536 ff. 26 Fröhlich, aaO, S. 109. 27 Das Urteil des RG befindet sich nicht bei den Gestapoakten, wohl aber ein Vermerk über die RG-Entscheidung auf einer Karteikarte über Obermayer. Im übrigen stützt sich die Darstellung auf Presseveröffentlichungen. 28 Die einschlägigen Akten sind vernichtet. Die Angaben beruhen auf Presseveröffentlichungen, die sich bei den Gestapoakten befinden.

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und der nat.-soz. Ideologie verpflichtet 29 . In der Verfolgung ihrer Ziele setzten sie sich über die Schranken der staatlichen Rechtsordnung hinweg. Die als „reaktionär" abgestempelten staatlichen Hoheitsträger, die auf Gesetzmäßigkeit pochen wollten, mißachteten sie. So unterstand sich Gerum, den Untersuchungshäftling Obermayer ins KZ zu schaffen, dem Oberstaatsanwalt, der Obermayers Bericht über die KZ-Zustände von ihm verlangte, lügnerisch zu versichern, dieser Bericht sei bereits vernichtet, den Gerichtsvorsitzenden und den LG-Präsidenten, die auf Rechtsstaatlichkeit beim Vollzug der U - H a f t achteten, als „feiges Beamtenpack" zu bezeichnen 30 . Will man die Rolle der Justiz, der die Autorin komplizenhafte Beteiligung an der Aktion der Gestapo gegen Obermayer vorwirft, richtig verstehen, so muß man sich die damalige Lage und Grundeinstellung der Justiz und namentlich ihr Verhältnis zur Gestapo vergegenwärtigen. Die Justiz hat unter den nat.-soz. Regime mehrere Phasen durchlaufen. Die Strafrechtspflege zur Zeit des Obermayer-Straffalles ist nicht identisch mit der straff gesteuerten Strafrechtspflege der Ära des Reichsjustizministers Thierack. Nach der Machtübernahme war die Justiz, wie der ganze öffentliche Dienst, bereit, den neuen Herren als der rechtsmäßigen Regierung loyal zu dienen. Schwere Rechtsbrüche in den Jahren 1933 in Bayern namentlich die ungesühnt gebliebenen KZ-Morde in Dachau und 1934 - Exekutionen beim „Röhm-Putsch" - ließen daran zweifeln, ob im neuen Staat eine Justiz im überlieferten Sinn noch weiterbestehen werde. Die verunsicherte Justiz wurde aber immer wieder beruhigt und beschwichtigt mit der Erklärung, es handle sich bei diesen Rechtsbrüchen um Ausnahmeerscheinungen in der revolutionären Anfangsphase des neuen Staates, der sich zum autoritären bzw. nat.-soz. Rechtsstaat entwickeln und der Justiz ihre angestammte Rolle zugestehen werde. Bezeichnend ist namentlich der Erlaß vom 20. 7 . 1 9 3 4 des in der Justiz bis dahin hochangesehenen Reichsjustizministers D r . Gürtner nach dem „Röhm-Putsch": „Der Rechtspflege erwächst die besondere Aufgabe, mit Nachdruck für die gewissenhafte Wahrung von Gesetz und Recht einzutreten und gegen jeden Rechtsbruch, insbesondere gegen jede strafbare Handlung, entschieden vorzugehen. Die Rechtspflege darf sich dabei von keinerlei Rücksicht auf die Person des Beschuldigten leiten lassen; sie dient allein dem Wohl des Volkes und der Gerechtigkeit. Versuche Unberufener, auf den Gang des Rechtsverfahrens Einfluß zu nehmen, sind nachdrücklich zurückzuweisen und alsbald den vorgesetzten Behörden zu melden; in keinem Fall dürfen sie den ordnungsgemäßen Fortgang des Verfahrens, insbesondere die sachgemäße Durchführung der Ermittlungen verzögern."

29 S. dazu Buchheim, H., Die SS - das Herrschaftsinstrument, in: Anatomie des SSStaates, Bd. 1, 1965, S. 240 ff. 30 Fröhlich, aaO S.95.

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Auch Göring bekräftigte am 1 3 . 1 1 . 1 9 3 4 in einem Vortrag vor der Akademie für Deutsches Recht über „Die Rechtssicherheit als Grundlage der Volksgemeinschaft" die Bedeutung der Justiz. Diese nahm diese Linie, die ihrer Tradition und ihrem Selbstverständnis entsprach, gerne auf und hielt sie in einigen Fällen mit Mut und Berufstreue auch gegenüber massiven Anfechtungen durch rabiate Parteileute. Erwähnung verdient in diesem Zusammenhang auch die Würzburger Justiz, die am 1 . 6 . 1 9 3 5 unbeeindruckt durch die Einschüchterungs- und Störungsversuche des Beschuldigten diesen, einen hohen Partei- und Hochschulfunktionär, wegen Unzucht mit Abhängigen zur Rechenschaft zog und verurteilte 31 . In die geschilderte Phase, die man bis zum Judenpogrom im November 1938 (Reichskristallnacht) bemessen kann 32 , fiel auch der Straffall Obermayer. Man kann daher nicht jeden Akt der Justiz in diesem Verfahren von vorneherein negativ werten, ohne eine sachliche, justizgemäße Deutung auch nur in Erwägung zu ziehen. Diese Rechtsstaatlichkeit wurde der Justiz nicht aus Rechtsüberzeugung, sondern nur aus innen- und außenpolitischen Rücksichtnahmen zugestanden. Sie war auch keine umfassende. Die Bestimmung des § 1 G V G : „Die richterliche Gewalt wird durch unabhängige, nur dem Gesetz unterworfene Gerichte ausgeübt", die den Richter von Weisungen der Regierung freistellt, blieb zwar während des Dritten Reiches bestehen. Aber die inzwischen eingetretene Änderung der Verfassungsstruktur des Staates, seine Entwicklung zum totalen Führerstaat, höhlte diese Bestimmung aus und nahm der Judikative ihre Stellung als selbständige dritte Gewalt im Staat. Die Regierung konnte selbst Gesetze erlassen, denen der Richter zu gehorchen hatte. Nach dem „RöhmPutsch" hatte Hitler auch noch die Stellung eines obersten Richters, also die Judikative, usurpiert und so die Gewaltenteilung restlos beseitigt. U m die Schaffung eines starken, autoritären Staates voranzutreiben, von dem man das Gedeihen des Gemeinwohls erwartete, wurde schon ab 1933 im politischen Bereich - vorübergehend, wie D r . Gürtner und Gleichgesinnte zuerst annahmen - auf strenge Rechtsstaatlichkeit verzichtet. Das Regime weitete diesen ihm zugestandenen rechtsfreien Raum dann mehr und mehr aus, so daß schließlich jene dualistische Staatsstruktur entstand, die man als „Doppelstaat" bezeichnet. In dem einen Bereich galten die Gesetze und amtierten die Gerichte in traditio-

S. dazu Schütz, Justiz im „Dritten Reich", 1984, S. 178 ff. Nach dem ungesühnt gebliebenen Rechtsbruch, der die Ohnmacht der Justiz gegenüber der Partei aufzeigte, mußte jeder nüchterne Beobachter die Hoffnung auf Wiederherstellung der Rechtsstaatlichkeit aufgeben. Die Zeiten einer gutgläubigen, loyalen Mitarbeit der Justizjuristen zum Besten des Rechts und des Volkes waren vorbei. 31

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neiler Weise. Im politischen Bereich entschied die Exekutive ohne Gesetzesbindung und richterliche Kontrolle nach Zweckmäßigkeit, oft auch nach Willkür. Die Justiz verlor Zuständigkeiten an die Exekutive, namentlich an die Gestapo und damit auch die Fähigkeit, einen umfassenden Rechtsschutz auszuüben oder die Staatsmacht wirkungsvoll zu beschränken. Die Gestapo spielte in dem Neben- und Gegeneinander des Gesetzesstaats und des Maßnahmestaates eine bedeutende Rolle. Sie wurde selbständig und entwickelte sich zur gefährlichen Gegenspielerin der Justiz. Später beanspruchte sie sogar die Befugnis, gerichtliche Entscheidungen zu überwachen und zu „korrigieren". Die N o t - V O des Reichspräsidenten vom 28.2.1933, die wichtige Grundrechte suspendiert hatte, war die rechtliche Grundlage für ihre gefürchteten Maßnahmen der Verhängung der polizeilichen Schutzhaft und die Einweisung ins KZ. Diese V O war „zur Abwehr kommunistischer staatsgefährdender Gewaltakte" ergangen. Sie wurde aber exzessiv gegen alle politischen Gegner und auch gegen Juden angewandt. Die genannten Maßnahmen unterlagen keiner richterlichen Überprüfung 3 3 . Die davon Betroffenen waren so gut wie rechtlos. Obermayer, der dies erleben mußte, strebte daher mit allen Mitteln den Status eines Untersuchungsgefangenen der Justiz an, um wieder in den Bereich des Gesetzesstaates zu kommen. Seine Versuche, die Öffentlichkeit und das Ausland von der erlittenen Rechtlosigkeit zu unterrichten, wertete die Gestapo als Staatsgefährdung, deren Bekämpfung ihre wesentliche Aufgabe war. Daraus leitete sie die Befugnis ab, Obermayer ohne Zustimmung der Justiz aus der U Haft wieder ins K Z zu schaffen. Die Würzburger Justiz konnte dies nicht verhindern. Die Staatsanwaltschaft konnte darüber nur über den Generalstaatsanwalt an das Reichsjustizministerium berichten, das dann auch korrigierend eingriff. Die Autorin zitiert dazu Obermayers Entrüstung, der das Verhalten der Würzburger Justiz als „eine Tat, die zum Himmel schreit" bezeichnete 34 . Obermayer wollte, wie sich aus mehreren seiner Beschwerdeschreiben ergibt, die Staatsanwaltschaft in ihrer klassischen Rolle als „Herrin des Ermittlungsverfahrens" sehen, die der Polizei Weisungen erteilen kann. Aber die „Entfesselung der Polizeigewalt" 35 , die Verselbständigung der Gestapo hatte die Gewichte verschoben. Daß das Gericht den Haftbefehl über den ins K Z verbrachten Obermayer aufhob, mag man mit der Autorin als resignierende Hin-

33 Das preußische Oberverwaltungsgericht verneinte die gerichtliche Nachprüfbarkeit von Schutzhaftbefehlen. Dieser Zustand wurde dann im Gestapogesetz vom 10.2.1936 positiv geregelt. 34 Fröhlich, aaO, S. 90. 35 E.Schmidt (Fn. 18) S.439.

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nähme eines Übergriffs der Gestapo deuten und kritisieren. Tatsächlich bestanden aber, rechtlich gesehen, die Haftgründe Fluchtgefahr und Verdunkelungsgefahr bei Obermayer, solange er im K Z festgehalten wurde, nicht mehr, und die Aufhebung der U - H a f t entsprach somit dem Gesetzestext 36 . Sie hatte allerdings die illegale Uberstellung ins K Z vom 12.10.1935 zur Grundlage, die bis zum Erlaß des Schutzhaftbefehls vom 29.10. gesetzwidrig blieb. Den Verhandlungen, die Gerum zur Abwehr der behaupteten Staatsgefährdung durch den Untersuchungsgefangenen Obermayer mit der Justiz führte, konnte sich diese nicht entziehen. Darin eine Unterstützung Gerums bei seinem Vernichtungsfeldzug gegen Obermayer zu sehen, geht nicht an. Zu betonen ist, daß der Gerichtsvorsitzende die Durchsuchung der Zelle Obermayers und daß der LG-Präsident das geheime Abhören eines Gesprächs Obermayers ablehnten und damit eine beachtliche rechtsstaatliche Standfestigkeit bewiesen. Den Ernst der Situation, in der sich die Justiz befand, unterstreichen noch folgende Tatsachen, die sich aus den von der Autorin ausgewerteten Gestapoakten ergeben: Kriminalrat Meisinger vom Berliner Geheimen Staatspolizeiamt ließ den Gerichtsvorsitzenden ausdrücklich darauf hinweisen, daß er, der Vorsitzende, die Verantwortung zu tragen habe, wenn Nachrichten von Obermayer ins Ausland gelangten. Auch drängte die Gestapo auf Durchführung eines Ermittlungsverfahrens gegen den Urkundsbeamten des L G Würzburg wegen dringenden Verdachts der „Beihilfe zur Greuelpropaganda" 3 7 .

III. Hat die Justiz im Verfahren Obermayer, wie die Autorin immer wieder behauptet, das Recht gebeugt, d.h. vorsätzlich das Recht zum Nachteil des Angeklagten eindeutig verletzt, wie es zur Bejahung einer Rechtsbeugungshandlung notwendig 38 ist? Man muß in einzelnen Punkten des Verfahrens Bedenken geltend machen. Man hat auch davon auszugehen, daß die im „Dritten Reich" gängige harte Strafpraxis, die gerade auch bei der Bekämpfung der Homosexualität festzustellen ist, sich im Falle Obermayer ausgewirkt hat und daß dieser vor 1933 und heutzutage wesentlich milder bestraft worden wäre. Gerade mit Rücksicht auf unsere heutige Wertung der Homosexualität hätte man 36 Eine Abschrift des Gerichtsbeschlusses vom 15.10.1935 bei den Gestapoakten bestätigt, daß die U-Haft tatsächlich mit Rücksicht auf die Verwahrung im KZ für die Dauer dieser Verwahrung aufgehoben wurde. 17 Fröhlich, aaO S. 106. 38 S. Spendel, Leipz. Komm. (Fn. 3), Rdn.41.

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gewünscht, daß auch die Justiz von 1936 glimpflich mit Obermayer verfahren wäre. Da die für die schwere Bestrafung Obermayers maßgebende Bestimmung - § 20 a II StGB - eine „Kannvorschrift" war, lag es im Ermessen des Gerichts, diese Norm anzuwenden. Das Gericht konnte aber nicht nach Belieben entscheiden, sondern mußte dabei die Wert- und Zweckvorstellungen des Gesetzes berücksichtigen. Das Urteil des L G Würzburg entspricht den Anforderungen der NS-Zeit. Das Reichsgericht, das auf die Sachrüge des Angeklagten hin die Entscheidung in der Revision zu überprüfen hatte - und, wie aus der Teilaufhebung des Urteils zu schließen ist, seine Überprüfungspflicht auch ernst genommen hat - , sah keinen Anlaß, diesen Teil des Urteils aufzuheben. IV. Diese Ausführungen beziehen sich natürlich nur auf den Fall Obermayer. Sie wollen keineswegs die schuldhafte Verstrickung eines Teils der deutschen Justiz in das nat.-soz. Unrechtssystem anzweifeln oder auch nur verharmlosen. Sie wollen auch nicht das ehrende Gedenken, das die Autorin Obermayer widmet, schmälern. Die Tatsache, daß dieser durch die Gestapo und namentlich im KZ Willkür, Mißhandlungen und Rechtlosigkeit erdulden mußte, daß er sich unerschrocken dagegen auflehnte und kompromißlos sein Recht einforderte, bleibt bestehen, auch wenn man der Autorin in ihrem Urteil über die Justiz nicht folgt. Band VI der Schriftenreihe „Bayern in der NS-Zeit" bringt, wie Broszat im Vorwort betont, ausgewählte Geschichten, um ein realistisches Bild der Geschichte des Widerstandes und der Verfolgung zu vermitteln. Zweifellos kann gerade die Darstellung konkreter Einzelschicksale im „Dritten Reich" jene unheilvolle Epoche der heutigen Generation verständlich machen, kann auch dazu dienen, nach den tiefsitzenden Ursachen der „deutschen Katastrophe" zu suchen. Nur wenn wir dies erkennen, können wir ihnen in unserer Zeit rechtzeitig und wirksam entgegentreten, eine Wiederholung des Unheils verhindern. Aber nur eine Darstellung, die dem Leser eine zuverlässige Grundlage für sein Verständnis und seine Wertung liefert, dient diesem Ziel. Sie entspricht auch der bekannten Mahnung v. Rankes an die Historiker „zu zeigen, wie es eigentlich gewesen ist".

Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht1 HANS-LUDWIG GÜNTHER

I. Die „Rechtswidrigkeit" als relativer (funktionsbestimmter) Rechtsbegriff Wer - wie Günter Spendel - zu den Autoren des Leipziger Kommentars zum Strafgesetzbuch zählt, darf sich höchster Wertschätzung als Strafrechtswissenschaftler sicher sein. Demgemäß bilden die aus der Feder des verehrten Jubilars stammenden Erläuterungen zum Rechtfertigungsgrund der Notwehr 2 eine Fundgrube an originellen, sich der Uniformität mancher sonstigen Kommentierung der Notwehrbestimmung entziehenden Überlegungen. Ein signifikantes Beispiel markiert die These, auch Tierangriffe seien notwehrfähig3. Da §32 StGB von einem „rechtswidrigen" Angriff spricht, setzt diese Ansicht voraus, daß auch Tiere „rechtswidrig" angreifen können. Das Urteil der Rechtswidrigkeit müßte sich danach gleichermaßen auf das Verhalten von Menschen wie von Tieren beziehen. Aus dem Baurecht ist der „baurechtswidrige" Zustand eines Gebäudes bekannt. Diese Betrachtungen lenken den Blick auf die Frage, ob die „Rechtswidrigkeit" als ein relativer oder funktionsbestimmter Rechtsbegriff zu verstehen ist, dessen Inhalt vom jeweiligen teleologisch-systematischen Zusammenhang geprägt wird. Bezieht man Tierangriffe in den Geltungsbereich des §32 StGB ein, kann es folgerichtig nicht darauf ankommen, ob der Angreifer die Ge- und Verbote der Rechtsordnung

1 Überarbeitete Fassung eines Vortrages, den ich im Rahmen des Deutsch-Spanischen Symposions „Rechtfertigung und Strafunrechtsausschluß" vom 27. bis zum 30. März 1990 an den Universitäten von Barcelona und Alcalä zu halten die Ehre hatte. Für zahlreiche Anregungen aus diesem Kreise - namentlich der Professoren Dres. Mir Puig, Luzon Pena, Bacigalupo und Diez Ripolles - habe ich zu danken. 2 Spendel, LK, Bd. 2, 10. Aufl. 1985, §32 Rdn. 1 ff. 3 AaO, Rdn. 38 ff. Günter Spendel gründet diese Erkenntnis darauf, daß anderenfalls für Tierangriffe eine Rechtfertigung nur wegen Defensivnotstandes (§228 B G B ) in Betracht komme, also „ganz unbefriedigend, ja geradezu sinnwidrig" Angriffe von Menschen über §32 StGB in massiverer Form abgewehrt werden dürften als „Angriffe" von Tieren.

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eingehalten hat. Denn diese setzen die Fähigkeit zu normgemäßem Verhalten voraus und richten sich deshalb ausschließlich an Menschen, nicht an Naturgewalten oder Tiere. Vielmehr müßte die Sicht des Opfers entscheiden: „Rechtswidrig" wäre jeder Angriff, „den der Angegriffene nicht hinnehmen muß"4. O b diese Spendeische Deutung der ratio des Notwehrrechts gerecht wird und nicht andere Wertungswidersprüche heraufbeschwört, mag dahinstehen. Jedenfalls problematisieren seine scharfsinnigen Überlegungen die oft nur toposartig in den Raum gestellte These vom „einheitlichen Begriff der Rechtswidrigkeit". Und sie bereichern die Gegenposition, die in der „Rechtswidrigkeit" einen relativen, funktionsbestimmten, in seinem Inhalt vom jeweiligen Regelungszusammenhang abhängigen Rechtsbegriff erblickt, um eine interessante Variante. Der zugrunde liegende Streit hat sich seit der Jahrhundertwende wie ein Flächenbrand in allen Rechtsdiziplinen ausgebreitet5. Den einen, in früheren Jahrzehnten dominierenden Meinungspol markierte Engisch in seiner Heidelberger Antrittsvorlesung: „ . . . von . . . Strafrechtswidrigkeit zu sprechen, ist ein Mißgriff" 6 . Die Gegenposition vertritt inzwischen das BVerfG: „In einer komplexen Rechtsordnung ist es keineswegs ungewöhnlich, daß Rechtsbegriffe - wie hier der Begriff rechtswidrig' - in verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche Bedeutung haben" 7 . Larenz sieht in der Rechtswidrigkeit sogar den Prototyp eines „rein normativen" Begriffs, der entsprechend seiner Funktion im jeweiligen Regelungszusammenhang und mit Blick auf die von ihm abhängende Rechtsfolge differenzierend zu bestimmen sei8.

II. Relativität und Funktionsbestimmtheit der Rechtfertigungsgründe Träfe die letztgenannte Auffassung zu, müßten die Regeln des strafrechtlichen Unrechtsausschlusses von den Regeln anderer Rechtsgebiete abweichen und wären strafrechtsspezifische Rechtfertigungsgründe anzuerkennen 9 . Zwingt die „Einheit der Rechtsordnung" dazu, auf der Spendet, aaO, Rdn. 57 (Hervorhebung im Original). Zur Dogmengeschichte: Günther, Strafrechtswidrigkeit und Strafunrechtsausschluß, 1983, S. 9 ff. 6 Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, S. 58. 7 NJW 1990, 241: Es ging um den Begriff des nicht rechtswidrigen Schwangerschaftsabbruchs einerseits in §218a StGB, andererseits in §1 Abs.2 LohnFG. 8 Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 5. Aufl. 1983, S. 463 ff. 9 In diesem Sinne in jüngerer Zeit ζ. B. Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl. 1991, vor §32 Rdn. 2 („rechtsbereichsbeschränkte Rechtswidrigkeit"); Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, S. 352; Roxin, Festschrift für D. Oehler, 1985, S. 181 (195). 4

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Rechtfertigungsebene zivilrechtliches Delikt, Straftat, Steueranspruch des Fiskus und Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung über einen Kamm zu scheren, unterschiedlichste Interessenkonflikte in den verschiedenen Rechtsgebieten gleich zu lösen, oder verpflichtet sie nicht vielmehr dazu, die teleologischen Gründe zu berücksichtigen, die die Ausdifferenzierung der Rechtsordnung in einzelne Rechtsgebiete veranlaßt haben? Muß die Rechtfertigungsdogmatik die Unterschiede in den Funktionen und Aufgaben der einzelnen Rechtsgebiete ausblenden10 oder nicht ganz im Gegenteil gerade aufspüren und verarbeiten^1, um dem Postulat der „Einheit der Rechtsordnung" zu genügen, nämlich überhaupt „Recht" zu gewährleisten? Dagegen scheint zu sprechen, daß die Rechtsordnung nicht in einem Rechtsgebiet erlauben darf, was sie in einem anderen verbietet. Versteht man Rechtfertigungsgründe deshalb stets und ausnahmslos als Erlaubnissätze, muß derselbe Normverstoß hinsichtlich seiner Rechtmäßigkeit von allen Rechtsgebieten einheitlich beurteilt werden12. Indessen sind zwei Einschränkungen angezeigt: Zum ersten bleiben differenzierte Rechtfertigungen ohne Normwiderspruch möglich, soweit die zu beurteilenden Ge- und Verbotsmaterien differieren. Die Rechtswidrigkeit in ihrer Funktion als Straftatmerkmal bezieht sich ausschließlich auf die Verwirklichung eines einzelnen Straftatbestandes (Straftatbestandsbezogenheit der Rechtfertigungsgründe); sie ist also teilbar13. Wenn der Täter das Opfer zugleich körperlich mißhandelt und beleidigt, kann die Handlung z.B. unter dem Aspekt der Ehrkränkung unerlaubt (rechtswidrig), hinsichtlich der Körperverletzung aber erlaubt (rechtmäßig) sein und umgekehrt. Wenn deshalb schon im Binnenbereich des Strafrechts zu differenzieren ist, dann erst recht im Verhältnis der Rechtfertigung von Normverstößen, 10 In diesem Sinne offenbar ζ. B. Bacigalupo, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S.459 (468); Hirsch, LK, 10. Aufl. 1985, vor §32 Rdn. 10 und Festschrift zur 600Jahr-Feier der Universität zu Köln, 1989, S. 399 (411 ff); Schönke/Schröder/Lenckner, StGB, 23. Aufl. 1988, vor §32 Rdn. 8. 11 Dafür dezidiert ζ. B. Amelung, JZ 1982, 616 (619 ff); Deutsch, Haftungsrecht, Bd. 1, 1976, S. 95, 207 f; Ruiner Keller, Rechtliche Grenzen der Provokation von Straftaten, 1989, S. 378 ff; P. Kirchhof, Unterschiedliche Rechtswidrigkeiten in einer einheitlichen Rechtsordnung, 1978, S. 8, 10 ff u. passim; Kratzsch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S. 324 ff; Marburger, Die Regeln der Technik im Recht, 1979, S.430f; Seebode, StV 1991, 80ff m. w.N.; Zielinski, Handlungs- und Erfolgsunrecht im Strafrecht, 1973, S. 296 f. Vgl. des weiteren die in Japan vorherrschende Lehre vom strafwürdigen Unrecht: ζ. B. Asada, ZStW 97, S. 465 ff; zuletzt Ida, Die heutige japanische Diskussion über das Straftatsystem, 1991, S. 86 m. Fn. 37. 12 Günther (Fn. 5), S. 99 ff. 13 Günther (Fn.5), S. 103ff; eingehend auch Dencker, JuS 1979, 779ff; insoweit übereinstimmend Rudolphi, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 371 (376 ff).

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die mehrere Rechtsgebiete zum Anlaß für ihre spezifischen Reaktionen und Sanktionen genommen haben14. Zum zweiten: So wie jeder Normverstoß in mehreren Rechtsgebieten entweder modifizierend oder übereinstimmend vertypt werden kann, so kann auch jeder „Erlaubnissatz" entweder rechtsgebietsspezifisch (im Extrem: tatbestandsspezifisch) oder universell (im Extrem: für alle Normverstöße einer Rechtsordnung geltend) ausgerichtet werden 15 . Daraus folgt zunächst die Dichotomie (Zweiteilung) von allgemeinen Rechtfertigungsgründen und speziellen Strafunrechtsausschließungsgründenie. Die Gründe für einen Unrechtsausschluß können von unterschiedlicher Reichweite, Intensität und Wirkung sein (Hierarchie der Rechtfertigungsgründe). Auf der Tatbestandsebene sind Abstufungen im Unrechtsgehalt der Handlung (Grade des Unrechts) unbestritten: Ein Mord verwirklicht größeres Unrecht als eine Sachbeschädigung. Entsprechend sind Grade der Rechtfertigung zu unterscheiden: Die Rechtsordnung kann im einen Extrem den Täter z . B . zum Normverstoß verpflichten, im anderen Extrem die Verletzung des tatbestandlichen Geoder Verbotes gerade noch hinnehmen. Zwischen diesen Polen lassen sich Reichweite, Intensität und Wirkungen der strafrechtlichen „Rechtfertigung" kontinuierlich abstufen17.

14 Zu demselben Ergebnis einer rechtsgebietsspezifischen Rechtfertigung und Teilbarkeit des Rechtswidrigkeitsurteil gelangen unter diesem Blickwinkel auch Rudolphi (Fn. 13), S. 376 und G.Jakobs (Fn. 9), S. 352. Auf derselben Prämisse gründen auch alle Überlegungen meiner Strafunrechtsausschlußkonzeption: vgl. Günther (Fn. 5), S. 103 ff. 15 Ebenso in seiner Begründung Frisch, Vorsatz und Risiko, 1983, S. 425 u. 502 ff. 16 Ebenso in der Sache z.B. Amelung, JZ 1982, 616 (619ff); Dreher/ Tröndle (Fn. 9), vor §32 Rdn.2; Gössel, GA 1984, 520ff; G.Jakobs (Fn.9), S.352 m. Rdn.6; Krey, Die strafrechtlichen und strafprozessualen Reformvorschläge der Gewaltkommission, 1991, S. 15; Küper, J Z 1983, 88 (95); Reichert-Hammer, Politische Fernziele und Unrecht, 1991, S. 231 ff; Roxin, Festschrift für Oehler, 1985, S. 181 (195); Schild, AK-StGB, 1990, vor § 13 Rdn. 116 ff; B. Schünemann, GA 1985, 341 (352 f); eingehend auch Günther, Festschrift für H. Lange, 1992, S. 893 ff m. w. N. Weitergehend wird inzwischen auch gefordert, schlechthin jeden Rechtfertigungsgrund (ζ. B. die Notwehr) rechtsgebietsspezifisch zu verstehen: so vor allem Hellmann, Die Anwendbarkeit der zivilrechtlichen Rechtfertigungsgründe im Strafrecht, 1987, S. 90 ff. 17 Ansätze zu einer solchen Graduierung der Rechtfertigungsgründe finden sich im Grenzbereich von Recht und Unrecht zum ersten in der Abschichtung des Rechtfertigungsgrundes von der schlichten Handlungsbefugnis (Schänke/Schröder/Lenckner, StGB, 23. Aufl. 1988, vor § 32 Rdn. 11), zum zweiten in der Unterscheidung zwischen Rechtfertigungsgrund und Unrechtsausschließungsgrund der Lehre vom rechtsfreien Raum (z.B. Arthur Kaufmann, JuS 1978, 361, 366 f; Schild, JA 1988, 570 ff), zum dritten in der Figur der negativen Strafwürdigkeitsvoraussetzung (Sax, JZ 1976, 9 ff, 80 ff, 249 ff). Im Grenzbereich von Unrecht und Schuld ist die Lehre von der Tatverantwortung zu nennen; zuletzt verteidigt von Bacigalupo, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 459 ff.

Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht

193

Daß die Gleichschaltung aller Rechtfertigungsgründe 18 als „Erlaubnissätze" zu undifferenziert ausfällt, soll die folgende Klassifikation von Rechtfertigungsgründen im Strafrecht mit abnehmender unrechtsausschließender Wirkung belegen.

III. Klassifikation der allgemeinen Rechtfertigungsgründe 1. Rechtspflichten als

Rechtfertigungsgrund

Das Täterverhalten wird in der intensivsten Form rechtlich gebilligt, wenn eine Rechtspflicht zu straftatbestandsmäßigem Verhalten besteht. In diesem Fall erlaubt die Rechtsordnung dem Täter nicht nur, ein Verbot zu mißachten, sie verpflichtet ihn sogar dazu. Im Strafrecht können solche Handlungspflichten z.B. aus einer Garantenstellung erwachsen. Wenn der Vater sein Kind nur dadurch vor dem Ertrinken bewahren kann, daß er eine Sachbeschädigung begeht, dann darf er diesen Straftatbestand nicht nur verletzen, er muß es bei Strafandrohung tun! Handlungen, zu der die Rechtsordnung den Täter verpflichtet, sind für die gesamte Rechtsordnung, nicht nur für einzelne Rechtsgebiete erlaubt und rechtmäßig. 2. Die verfassungsrechtlich garantierte Erlaubnis Rechte, die die Verfassung gewährt, sind der Disposition des einfachen Gesetzgebers entzogen. Sie übertreffen deshalb in ihrer rechtfertigenden Kraft sonstige Erlaubnissätze und beanspruchen Geltung für alle Rechtsgebiete einer Rechtsordnung. Das Grundgesetz kennzeichnet diese Rechte als Grundrechte. Soweit der Täter sich bei seinem tatbestandsmäßigen Verhalten auf ein Grundrecht stützen kann, besteht weder für das Strafrecht noch für sonstige Rechtsgebiete eine Möglichkeit, diese Grundrechtsausübung als Unrecht auszuweisen. Soweit das Grundrecht der Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) reicht, kann eine nach §240 Abs. 1 StGB tatbestandsmäßige Behinderung des Straßenverkehrs durch Demonstranten nicht rechtswidrig sein. Das Grundrecht auf Meinungsfreiheit (Art. 5 Abs. 1 GG) rechtfertigt Verstöße gegen §§185 ff StGB. Wer sich innerhalb der immanenten Schranken seines Grund rechts auf Freiheit der Gewissensbetätigung (Art. 4 Abs. 1 GG) bewegt19, handelt rechtmäßig, nicht rechts widrig und lediglich ent-

18 Für sie plädiert ζ. B. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, AT, 4. Aufl. 1988, S. 299 m. Fn. 42. 19 Deklaratorische Ausformungen dieses Grundrechts bilden z.B. §10 ESchG (ärztliche Freiheit zur Mitwirkung an Maßnahmen einer künstlichen Befruchtung) und Art. 2 des

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schuldigt20. Strafrechtsspezifische Erwägungen sind erst anzustellen, wenn der Gewissenstäter die Grundrechtsgrenzen überschritten, z.B. überwiegende kollidierende Grundrechte anderer verletzt21 und damit rechtswidrig i. S. der Gesamtrechtsordnung gehandelt hat22. 3. Eingriffsrechte des Täters zur Wahrnehmung überwiegender Interessen Notwehr und rechtfertigender Notstand bilden den Prototyp dieser Kategorie eines Rechtfertigungsgrundes. Sie beruhen auf der ratio, daß erforderlichenfalls das höherwertige Interesse zu Lasten des weniger gewichtigen Interesses durchgesetzt werden darf. Der Täter ist befugt, in Rechtsgüter des Opfers auch gegen dessen Willen einzugreifen. Diesem steht ein Notwehrrecht nicht zu. Es muß den Eingriff des Täters dulden. Deshalb beseitigen solche Eingriffsrechte nicht nur das Strafunrecht, sondern rechtfertigen den Normverstoß auch mit verbindlicher Wirkung für die übrige Rechtsordnung. Das Strafrecht kann das Opfer nicht zur Duldung verpflichten, wenn andere Rechtsgebiete ihm eine Gegenwehr erlauben und umgekehrt. In diese Kategorie können auch zivilrechtliche Anspruchsgrundlagen und öffentlich-rechtliche Eingriffsbefugnisse fallen. Soweit diese Befugnisse Normverstöße für den Bereich des Zivilrechts oder des öffentlichen Rechts rechtfertigen, strahlt ihre Wirkung auf das Strafrecht aus23. IV. Klassifikation der speziellen Strafunrechtsausschließungsgründe Während Rechtspflichten, Grundrechte und Eingriffsrechte kraft Wahrnehmung überwiegender Interessen für eine Vielzahl von Norm5.StrRG (keine Pflicht zur Mitwirkung an einem auf eine Indikation nach §218 a Abs. 2 StGB gestützten Schwangerschaftsabbruch). 20 Das übersehen Autoren, die aus Art. 4 G G allenfalls einen Strafbefreiungsgrund (Rudolphi, Festschrift für Welzel, 1974, S. 605, 628), einen Entschuldigungsgrund (Ebert, Der Uberzeugungstäter in der neueren Rechtsentwicklung, 1975, S. 50 ff, 71; Müller-Dietz, Festschrift für K. Peters, 1974, S. 91, 103 ff) oder einen „Grund ausgeschlossener strafrechtlicher Verantwortlichkeit" (Roxin, Festschrift für Maihofer, 1988, S.389, 409 ff) herleiten. Zu Recht von Art.4 GG als Rechtfertigungsgrund ausgehend dagegen z.B. Hirsch, LK, 10. Aufl. 1985, vor §32 Rdn.209 m. w.N. 21 Die Rechtmäßigkeit der Fristenlösung beim Schwangerschaftsabbruch läßt sich wegen des kollidierenden und nach Ansicht des BVerfG(Ε 39, 1 ff) überwiegenden Grundrechts auf Leben schon des ungeborenen Menschen (Art. 2 Abs. 2 GG) deshalb entgegen Frommel, ZRP 1990, 351 nicht allein auf die Gewissensfreiheit der Schwangeren stützen. 22 In Betracht kommt die Konstellation der Unrechtsminderung in Folge partieller Verwirklichung eines Grundrechtes; dazu unten, IV 3. 23 Vgl. schon Günther (Fn. 5), S. 361 ff; ebenso ζ. B. G.Jakobs (Fn. 9), S. 352 Rdn. 6.

Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht

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verstoßen gelten, in der gesamten Rechtsordnung verstreut sind und in ihren Voraussetzungen deshalb oft vage und wertausfüllungsbedürftig bleiben müssen24, suspendieren die Strafunrechtsausschließungsgründe für vertypte Ausnahmefälle nur von einzelnen Ge- oder Verboten in deren strafrechtlicher Ausprägung. Strafunrechtsausschließungsgründe können also präziser gefaßt werden als allgemeine Rechtfertigungsgründe 25 . Der Strafunrechtsausschließungsgrund verkörpert mithin das genaue Gegenteil des Popanzes, den Rudolphi aus ihm macht, wenn er einen „generellen außergesetzlichen Strafunrechtsausschließungsgrund der verminderten Strafwürdigkeit" 26 als Schreckgespenst an die Wand malt27. 1. Der erklärte oder gemutmaßte

Verzicht des

Rechtsgutsinhabers

Eine schwächere Rechtsposition erlangt der Täter, wenn ein erklärter oder vermuteter Verzicht des Rechtsgutsinhabers zum Unrechtsausschluß führt. Zu nennen sind die Einwilligung28 und die mutmaßliche Einwilligung29. Sie verleihen dem Täter keine Befugnis auf Grund eigener Interessen oder auf Grund überwiegender Interessen der Allgemeinheit. Vielmehr verdankt der Delinquent den Unrechtsausschluß den weichenden Interessen des Opfers. Infolgedessen steht und fällt die Rechtsmacht des Täters mit dem erklärten oder gemutmaßten Willen des Verletzten. Dieser kann den Eingriff dulden, wenn er will, muß es aber nicht. Duldungspflichten erwachsen für ihn nicht. Es steht in seinem freien Belieben, ob er seine Einwilligung widerruft. Die Anforderungen an die Wirksamkeit eines Verzichts des einzelnen auf Rechtsgüter oder auf Rechtsgüterschutz können ohne Norm- oder Wertungswiderspruch im Zivilrecht strenger ausfallen als im stärker mißbilligenden Strafrecht. Deshalb ist es konsequent, wenn das Straf24

Man denke nur an die Interessenabwägungsklausel des §34 S. 1 StGB. Vgl. auch Amelung, JZ 1982, 617 (620), der Strafunrechtsausschließungsgründe im Unterschied zu allgemeinen Rechtfertigungsgründen Art. 103 Abs. 2 G G unterstellt; trotz anderer Weichenstellung zu ähnlichen Ergebnissen gelangt letztlich auch Hirsch, LK, 10. Aufl. 1985, vor §32 Rdn. 37 ff: Er unterscheidet zwischen einerseits strafgesetzlich und andererseits außerstrafgesetzlich geregelten bzw. gewohnheitsrechtlich gebildeten Rechtfertigungsgründen. Nur für erstere soll Art. 103 Abs. 2 G G gelten. 26 (Fn. 13), S. 376. 27 Vgl. zu früheren Einwänden und Mißverständnissen anderer Autoren schon meinen Versuch einer Klarstellung in Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd.I, 1987, S.363 (395 ff). 28 Ebenso ζ. B. Amelung, Die Einwilligung in die Beeinträchtigung eines Grundrechtsgutes, 1981, S.57; B.Schünemann, GA 1985, 341 (352f). 29 In gleichem Sinne z.B. Roxin (Fn.9), S. 195; ähnlich Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 10), vor §32 Rdn. 11 („schlichte Handlungsbefugnis"). 25

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recht die Einwilligung von Minderjährigen nach großzügigeren Regeln bemißt als das Zivilrecht 30 . Deshalb muß die strafrechtliche Einwilligung strafrechtsspezifischen Regeln folgen und - ordnet man sie nicht bereits als ein negatives Tatbestandsmerkmal ein - ein bloßer Strafunrechtsausschließungsgrund sein. Sie drückt den Verzicht auf eine strafrechtliche Mißbilligung der Tat aus, ohne zugleich zu entscheiden, ob die Rechtsgutsverletzung Recht oder Unrecht i. S. der gesamten Rechtsordnung verkörpert. Denn sonst käme es zum Normwiderspruch: Das Strafrecht würde die Normverletzung erlauben, das Zivilrecht dieselbe Tat verbieten. 2.

Tatbestandseinschränkungsgründe

Eine Reihe strafbarkeitsausschließender Vorschriften ist in ihrem Anwendungsbereich auf einzelne Straftatbestände beschränkt. Es handelt sich um tatbestandsspezifische Rechtfertigungsgründe mit besonders engem Anwendungsbereich. Schon ihrem Wortlaut nach schließen sie regelmäßig nicht die „Rechtswidrigkeit" der Tat aus, sondern nur deren „Strafbarkeit". Beides zeigt an, daß sich ihre rechtfertigende Kraft darin erschöpft, das in dem jeweiligen Straftatbestand vertypte Unrecht zu beseitigen. Wir haben es mit dem klassischen Fall eines Strafunrechtsausschließungsgrundes zu tun. Er gilt nur im Binnenbereich des Strafrechts und ordnet lediglich an, daß das straftatbestandlich indizierte Unrecht entfällt. Ob die Tat hingegen auch als zivilrechtlicher oder öffentlichrechtlicher Normverstoß „gerechtfertigt" ist, wird nicht präjudiziert und bleibt diesen Rechtsgebieten nach ihren spezifischen Aufgaben und Rechtsfolgen jeweils zur Entscheidung überantwortet. Der Ausschluß des Straftatbestandes durch einen Tatbestandseinschränkungsgrund hat die gleiche Wirkung, wie wenn die Handlung von vornherein schon nicht tatbestandsmäßig gewesen wäre 31 . a) Zu dieser Kategorie gehört die Wahrnehmung berechtigter Interessen (§ 193 StGB) 32 . Sie rechtfertigt Verstöße gegen die strafrechtlichen Belei30 §§104 ff BGB schränken nach nahezu einhelliger Auffassung die Dispositionsfähigkeit des Minderjährigen im Strafrecht auch bei Verletzung von Vermögensrechten nicht ein; von ihrem abweichenden Ausgangspunkt eines einheitlichen Begriffs der Rechtswidrigkeit konsequent a . A . z.B. Baumann/Weber, Strafrecht, AT, 8.Aufl. 1985, S.324 und Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 10), vor § 3 2 Rdn.39. 31 In diesem Sinne auch Frisch (Fn. 15), S. 425. 32 Insoweit partiell übereinstimmend offenbar Rudolphi (Fn. 13), S. 376; U. Weber, J Z 1984, 276 (277 f); ausdrücklich ablehnend hingegen Schönke/Schröder/Lenckner (Fn. 10), vor §32 Rdn. 8, der § 193 StGB zwar als rein deklaratorische Ausprägung des Art. 5 Abs. 1 G G ohne darüber hinausgehende konstitutive strafrechtliche Aufgabe versteht (aaO, § 193 Rdn. 1), die Vorschrift (und damit auch Art. 5 Abs. 1 G G ) aber nur als eine „schlichte Handlungsbefugnis" klassifiziert (vor §32 Rdn. 11).

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digungsdelikte (§§185 ff StGB). Diese strafrechtsspezifische Rechtfertigung bleibt ohne Auswirkungen auf die Unrechtsbeurteilung der Ehrverletzung durch andere Rechtsgebiete, ζ. B. durch das Zivilrecht mit Blick auf Unterlassens-, Widerrufs- und Schmerzensgeldansprüche. Als bloßer Strafunrechtsausschließungsgrund stellt §193 StGB geringere Anforderungen als das Grundrecht des Art. 5 GG. Wer Soldaten als „potentielle Mörder" beschimpft, kann sich zwar nicht auf Art. 5 GG, hinsichtlich der Frage strafrechtlich relevanten Beleidigungsunrechts vielleicht aber auf §193 StGB berufen. Ob und welche zivilrechtlichen Ansprüche dem Beleidigten zustehen, wird durch §193 StGB nicht präjudiziert. b) Darüber, ob die Indikationen des §218 α Abs. 2 StGB der Schwangeren wegen überwiegender Interessen (Fallgruppe III 3) ein Tötungsrecht einräumen, mag man vielleicht noch streiten können33. Daß eine Frist ausreicht, um einen solchen Rechtfertigungsgrund zu begründen, erscheint als ausgeschlossen. Insoweit kommt allein ein Verzicht des Strafrechts auf seine strafrechtsspezifische, gesteigerte Mißbilligung in Betracht. Das straftatbestandliche Verbot des §218 Abs. 1, Abs. 3 StGB wird für eine bestimmte Frist eingeschränkt, zurückgenommen34. So wenig der völlige Verzicht auf ein straftatbestandliches Verbot des Schwangerschaftsabbruchs, die ersatzlose Streichung des §218 StGB, eine rechtliche Billigung jeder Abtreibung durch die Gesamtrechtsordnung bedeutet, so wenig folgt diese Wertung aus einem zeitlich befristeten Rückzug des Strafrechts. Der Unrechtsausschluß bleibt vielmehr auf den Binnenbereich des Strafrechts begrenzt. Die zivilrechtliche Wirksamkeit des ärztlichen Behandlungsvertrages und die sozialrechtliche Einordnung der Abtreibung (Lohnfortzahlung, Krankenversicherungsleistungen, beamtenrechtlicher Beihilfeanspruch usw.) werden nicht präjudiziert. Statt dessen müssen Zivilrecht, Sozialrecht, Beamtenrecht selbst entscheiden, ob und unter welchen Voraussetzungen sie mit Blick auf ihre speziellen Aufgaben und Rechtsfolgen den befristet straffreien Schwangerschaftsabbruch als „rechtmäßig" einstufen35.

33 Für einen Strafunrechtsausschließungsgrund mit eingehender Begründung: Günther (Fn.5), S.314ff und ZStW 103 (1991), 851 (871 ff); zustimmend z.B. Classen, GA 1991, 209, 221 f; Isensee, NJW 1986, 1645; Rössner, in: Günther/Keller, Fortpflanzungsmedizin und Humangenetik - Strafrechtliche Schranken? 2. Aufl. 1991, S. 247, 261 m. Fn.43; ähnlich Sax, JZ 1977, 326 und BVerfG, NJW 1990, 241; für einen rechtsfreien Raum Arthur Kaufmann, JuS 1978, 361 (367). 34 In diesem Sinne für die österreichische „Fristenlösung" (§97 Abs. 1 öStGB): T r i f f t e r e r , Österreichisches Strafrecht, AT, 1985, S. 202 ff. 35 Dazu näher Günther, ZStW 103 (1991), 871 ff.

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c) Ein weiteres Beispiel bildet die Verwerflichkeitsklausel der §§240 Abs. 2, 253 Abs. 2 StGB. Sie verlangt ein qualifiziertes Unrechtsurteil. Es muß sich um ein als Vergehen strafwürdiges Nötigungs- bzw. Erpressungsunrecht handeln. Daß die Tat § 240 Abs. 1 StGB verwirklicht und i.S. der Gesamtrechtsordnung rechtswidrig ist, z.B. der Kfz-Führer gegen Regeln der StVO verstoßen hat, ist eine notwendige, aber noch keine hinreichende Bedingung für Nötigungsunrecht. Wer §240 Abs. 2 StGB als „Rechtfertigungsgrund" versteht, muß ihn deshalb mit minderen Anforderungen ausstatten als sonstige Rechtfertigungsgründe 36 . Seine rechtfertigende Kraft beschränkt sich auf den Ausschluß des Unrechts des §240 Abs. 1 StGB. Eine weitergehende Aussage über die allgemeine Rechtmäßigkeit der Täterhandlung trifft er nicht. Namentlich gewährt die Verwerflichkeitsklausel keine Erlaubnis zur Nötigung. Notwehrbefugnisse und zivilrechtliche Schadensersatzansprüche des Opfers bleiben ebenso unberührt 37 wie polizeiliche Eingriffsmöglichkeiten wegen Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung und eine bußgeldrechtliche Ahndung der Zuwiderhandlung. Entsprechendes gilt für §253 Abs. 2 StGB. Die Verwerflichkeitsklausel stellt sich deshalb ebenfalls als ein Strafunrechtsausschließungsgrund dar38. d) Ein letztes Beispiel: §3 S. 2 ESchG macht vom strafbewehrten Verbot der Samenselektion nach Geschlechtschromosom zur künstlichen Befruchtung eine Ausnahme, wenn die Auswahl ein geschlechtsgebundenes schwerstes Erbleiden mit der Folge eines sonst drohenden Schwangerschaftsabbruchs nach §218 a Abs. 2 Nr. 1 StGB wegen kindlicher Schädigung verhindern soll. Gleichwohl war und ist diese Einschränkung der Strafbarkeit als erster Schritt in Richtung auf eine „Menschenzüchtung" außerordentlich umstritten 39 . Zu einer ausdrücklichen Erlaubnis und positiven Bewertung (Wahrnehmung überwiegender 36 Zum gleichen Ergebnis gelangt, wer die Klausel als Tatbestandsergänzung begreift wie ζ. Β. G.Jakobs (Fn. 9), S. 351 f Fn. 10 a; Rudolphi (Fn. 13), S. 374. 37 Ebenso ζ. B. OLG Stuttgart, NJW 1991, 994, 995; Eser, Festschrift für Jauch, 1990, S. 43f; Kühl, StV 1987, 135; Reichert-Hammer, Politische Fernziele und Unrecht, 1991, S. 48ff; Schäfer, LK, 10. Aufl. 1989, §240 Rdn.69. A.A. zu Unrecht aber BGHSt. 34, 71, 77; 35, 278 f; vgl. auch Dreher/Tröndle, StGB, 45.Aufl. 1991, §240 Rdn.22; Lackner, StGB, 19.Aufl. 1991, §240 Rdn. 18; Meurer/ Bergmann, JR 1988, 53. 38 Vgl. schon Günther (Fn. 5), S. 322 f und eingehend in Festschrift für J. Baumann, 1992; ausdrücklich zustimmend z.B. Kühl, StV 1987, 135; Otto, Grundkurs Strafrecht. Die einzelnen Delikte, 3. Aufl. 1991, S.85; Reichert-Hammer (Fn.37), S. 293 ff; Schäfer, LK, 10.Aufl. 1989, §240 Rdn.69; möglicherweise auch U.Weber, JZ 1984, 276 (277); ähnlich Sax, JZ 1976, 83. 39 Vgl. m . w . N . zur Entstehungsgeschichte Keller/Günther/Kaiser, ESchG, 1992, §3 Rdn. 1 ff.

Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht

199

Interessen) sah sich der Gesetzgeber nicht in der Lage. Man einigte sich im Gesetzgebungsverfahren auf einen Kompromiß. Das straftatbestandliche Verbot des § 3 S. 1 ESchG sollte für Fälle geschlechtsgebundener schwerster Erbleiden wieder zurückgenommen werden. Ob die Maßnahme weitergehend aus medizinrechtlicher und ethischer Warte zu billigen sei, blieb unentschieden. Nach dem Willen des Gesetzgebers handelt es sich also um den klassischen Fall eines Strafunrechtsausschließungsgrundes.

3.

Unrechtsminderungsgründe

Eine dritte, besonders umstrittene 40 Fallgruppe des Strafunrechtsausschließungsgrundes bilden die Unrechtsminderungsgründe. Wenn der Täter die Grenzen der drei erstgenannten Klassen eines Rechtfertigungsgrundes sprengt, also einer Rechtspflicht nicht nachkommt, eine Befugnis mit Verfassungsrang überschreitet oder ein Eingriffsrecht kraft überwiegender Interessen zu intensiv ausübt, bleibt die Tatbestandsverwirklichung aus Sicht der Gesamtrechtsordnung rechtswidrig. Je geringfügiger die Grenzüberschreitung ausfällt, um so stärker reduziert sich der Unrechtsgehalt der tatbestandsmäßigen Tat, um so mehr nähert sie sich dem Bereich des Rechts, erscheint sie als „fast rechtmäßig". Damit fehlt es an gesteigert zu mißbilligendem, strafrechtlich relevantem Unrecht. Deshalb kommt auch für diese Fallgruppe für eng umrissene, vertypte Konstellationen ein Strafunrechtsausschluß in Betracht41. Exempla docent: a) Die Rechtmäßigkeit elterlicher Eingriffe in Rechte ihrer Kinder zu Erziehungszwecken (Art. 6 GG, § 1631 Abs. 2 BGB) hängt davon ab, ob die Maßnahme zur Erziehung geeignet, erforderlich und angemessen (verhältnismäßig) ist. Fehlt es daran, z.B. im Falle einer körperlichen Züchtigung, sind die Grenzen der verfassungs- oder familienrechtlichen Befugnis überschritten. Daraus folgt indessen nicht automatisch die Strafrechtswidrigkeit einer tatbestandsmäßigen Körperverletzung. Denn 40 Ausdrücklich befürwortend z.B. Delonge, Die Interessenabwägung nach §34 S t G B . . . , 1988, S. 190 f; Armin Kaufmann, Festschrift für U.Klug, 1983, Bd. II, S.277

(291 ff); Reichert-Hammer

(Fn. 37), S. 219 ff, 256 ff.

Ablehnend hingegen z.B. Badgalupo (Fn. 10), S.468ff; G.Jakobs (Fn.9), S.351 m. Fn. 10 a; Rudolphi (Fn. 13), S. 375 ff. Besonderer Kritik ausgesetzt sieht sich der Unrechtsminderungsgrund der „notstandsähnlichen Lage" (dazu Günther, Fn. 5, S. 324 ff): Roxin (Fn. 9), S. 181 ff; Bemsmann, „Entschuldigung" durch Notstand, 1989, S. 60. 41 Hingegen vermag der prozessuale Ausweg über §§ 153 ff StPO nicht zu befriedigen, da er von nicht revisiblen Opportunitätserwägungen des jeweiligen Staatsanwalts abhinge. Er eröffnet den Strafverfolgungsinstanzen mehr unkontrollierbare „Macht" als jeder strafrechtsdogmatische Lösungsversuch.

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im Strafrecht geht es um die Beurteilung der Frage, ob die Kriminalisierung pädagogisch ungeschickten Verhaltens der Eltern einen geeigneten, erforderlichen und angemessenen Eingriff in ihre Grundrechte darstellt42. Wenn der Gesetzgeber den Vorschlag der sog. Gewaltkommission43 aufgreifen und in § 1631 Abs. 2 BGB die „Anwendung physischer Gewalt und anderer entwürdigender Erziehungsmaßnahmen" ausdrücklich verbieten sollte, empfiehlt sich zur Vermeidung einer allgemein44 als unangemessen empfundenen Kriminalisierungsautomatik die Anerkennung des Strafunrechtsausschließungsgrundes „elterliches Erzieherprivileg" für Fälle maßvoller Züchtigung aus begründetem Anlaß zu erzieherischem Zweck 45 . Wer meint, ein solcher praeter legem zu bildender Strafunrechtsausschließungsgrund räume - anders als eine Entkriminalisierung der Eltern über §§ 153 ff StPO - dem Richter zu große Macht ein, mag für eine gesetzliche Positivierung dieses Strafunrechtsausschließungsgrundes plädieren. b) Die gleiche Lösung empfiehlt sich im Hinblick auf § 340 StGB für die parallele Problematik eines Züchtigungsprivilegs des Lehrers, der schulrechtliche Befugnisse überschritten hat46. c) Geringfügige Überschreitungen des Art. 8 GG durch Sitzblockaden im Rahmen von Demonstrationen können die Verwerflichkeit von Nötigungsunrecht ausschließen47. d) Soweit das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 GG) reicht, handelt der Täter - entgegen einer verbreiteten Ansicht - rechtmäßig48. Die Frage eines Stra/unrechtsausschlusses stellt sich also erst, wenn die Grenzen verfassungsrechtlich verbriefter Gewissensbetätigung überschritten sind. Das BVerfG hatte argumentiert, es sei in einer religiös motivierten Entscheidung nicht „gerechtfertigt..., mit der 42

Vgl. schon Günther (Fn.5), S.61. Schwind/Baumann (Hrsg.), Ursachen, Prävention und Kontrolle von Gewalt, 1990, Bd. 1 Abschnitt E, Teil Β 1, 1. These. 44 Vgl. die Nachweise bei Günther, Festschrift für H . Lange, 1992, S.875 (881 Fn. 19 ff). 45 In diesem Sinne eingehend Günther, Festschrift für H. Lange, 1992, S.875 ff m . w . N . ; ebenso Reichen-Hammer, JZ 1988, 617ff; Dreher/Tröndle (Fn.9), §223 a Rdn.ll. 46 In diesem Sinne BayOhLG, NJW 1979, 1371 ff; Krey, Strafrecht, BT, Bd. 1, 7. Aufl. 1989, Rdn.654; ablehnend Roxin, in: Eser/Fletcher (Hrsg.), Rechtfertigung und Entschuldigung. Rechtsvergleichende Perspektiven, Bd. I, 1987, S. 253 f. Den Bedenken Roxins ließe sich durch eine ausdrückliche gesetzliche Einschränkung des § 340 StGB Rechnung tragen. 47 Dazu eingehend Günther, Festschrift für J. Baumann, 1992; vgl. auch OLG Stuttgart, N J W 1991, 994 und Reichert-Hammer (Fn.37), S. 276 ff. 48 Vgl. oben, III 2 mit Fn.20. 43

Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht

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schärfsten . . . Waffe, dem Strafrecht, gegen den Täter vorzugehen", weil sich eine „kriminelle Bestrafung . . . als eine übermäßige . . . Reaktion darstellen würde" 49 . Damit definiert das Gericht nichts anderes als einen Strafunrechtsausschluß wegen Unrechtsminderung durch partielle Verwirklichung des Art. 4 GG. V. Resümee Die Klassifikation der Rechtfertigungsgründe im Strafrecht ermöglicht eine differenzierende Unrechtsbeurteilung der einzelnen Rechtsgebiete und der einzelnen Normverstöße auch auf der Ebene der Rechtfertigung. Die These, daß der strafrechtliche Unrechtsausschluß stets Erlaubnis und rechtliche Billigung der Tat durch die Gesamtrechtsordnung voraussetze, infolgedessen die strafrechtliche Bewertung das Zivilrecht und öffentliche Recht binde, hat sich als eine unschlüssige petitio principii erwiesen. Statt dessen sind Rechtfertigungsgründe und Strafunrechtsausschließungsgründe mit abgestufter rechtfertigender Wirkung zu unterscheiden: Allgemeine Rechtfertigungsgründe, die dem Täter eine Erlaubnis gewähren, Duldungspflichten für das Opfer statuieren und deshalb das Unrecht des Normverstoßes mit Wirkung für die gesamte Rechtsordnung beseitigen, ergeben sich aus Rechtspflichten, Grundrechten und Eingriffsbefugnissen kraft überwiegender Interessen. Man erkennt sie daran, daß sie den Rechtsgebieten vorgelagert (Rechtspflichten, Grundrechte) oder gleichermaßen in den verschiedensten Rechtsgebieten normiert sind (ζ. B. Notwehr). Spezielle Strafunrechtsausschließungsgründe sprechen lediglich den Verzicht auf die qualifizierte Mißbilligung der Tat durch das Strafrecht aus. Ihre Wirkung beschränkt sich deshalb auf den Binnenbereich des Strafrechts. Zu ihnen gehören Fälle weichender Interessen des Opfers, Tatbestandseinschränkungsgründe und Unrechtsminderungsgründe. Soweit der Gesetzgeber sie positiviert hat, erkennt man sie regelmäßig daran, daß sie auf einzelne Straftatbestände bezogen sind und nach ihrem Wortlaut nicht die „Rechtswidrigkeit", sondern ausdrücklich nur die „Strafbarkeit" ausschließen (§§193, 218 a, 240 Abs. 2 StGB; §3 S.2 ESchG). Strafunrechtsausschließungsgründe präjudizieren die Einordnung des Normverstoßes als rechtmäßig oder rechtswidrig durch die anderen Rechtsgebiete nicht. Mögen diese Überlegungen den prüfenden Blicken des verehrten Jubilars standhalten!

49

BVerfGE 32, 98 (109).

Gedanken zur actio libera in causa: Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat" (§§ 16, 20, 34 StGB)? ROLF DIETRICH

HERZBERG

Mit seiner umfassenden Erläuterung des §323 a StGB hat Günter Spendet zugleich eine Abhandlung zur actio libera in causa vorgelegt1, die sich über 13 Seiten erstreckt und im Rahmen eines Kommentars eine ganz ungewöhnliche Leistung darstellt. Hettinger nennt sie in seiner Habilitationsschrift eine „gute Dokumentation des Streitstandes" und darüber hinaus „einen groß angelegten, zum Teil neuen Lösungsversuch"2. Die Kennzeichnung trifft zu, doch scheint mir, als habe sich das wissenschaftliche Gespräch des Spendeischen Lösungsversuchs und des Neuen, das er enthält, noch nicht recht bemächtigt. Nach ihm erschienen sind einschlägige Aufsätze sowie Kommentare und Lehrbücher in Neuauflagen, die ihn überhaupt nicht erwähnen oder es mit der Erwähnung genug sein lassen3. Sogar Hettinger gibt in seinem umfangreichen und gründlichen Werk Spendeis Lehre vergleichsweise wenig Raum und setzt sich nicht eindringlich mit ihr auseinander, obwohl sie zu der seinen den denkbar stärksten Gegensatz bildet. Ich will im Folgenden diesen Gegensatz sichtbar machen, indem ich beider Standpunkte kritisch würdige, und so einen kleinen Beitrag leisten, daß Spendeis Gedanken im Erkenntnisprozeß die ihnen gebührende Wirkung gewinnen4. 1 Leipziger K o m m e n t a r zum S t G B , 10. A u f l . 1985, § 3 2 3 a, R d n . 2 1 - 4 6 (im Folgenden nur nach den R a n d n u m m e r n zitiert). 2 D i e „actio libera in causa": Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit? Eine historisch-dogmatische Untersuchung, 1988. 3 Streng, Z S t W 101 (1989), 3 1 1 , streift Spendeis Darstellung nur in einer Fußnote mit einem „vgl. ferner"-Hinweis, o b w o h l sein eigenes „Ausdehnungsmodell" im entscheidenden Punkt mit Spendet übereinstimmt, sich d o r t geradezu v o r w e g g e n o m m e n findet. Burkhardt, Tatschuld und Vorverschulden, in: Drittes Deutsch-Polnisches K o l l o q u i u m über Strafrecht und Kriminologie, 1988, S. 156, teilt z w a r einen Grundgedanken Spendeis inhaltlich und richtig mit, geht aber der Stellungnahme mit der Begründung aus dem Wege, es w ü r d e n „die Prämissen dieser Auffassung . . . v o n der ganz überwiegenden Meinung nicht geteilt". 4 Eine umfassende Wiedergabe des Meinungsstandes anzustreben ist im Rahmen dieses Beitrages nicht sinnvoll; was die Fundstellen des neueren Schrifttums angeht, verweise ich auf Jakobs, A T , 2. A u f l . 1 9 9 1 , S . 4 9 9 f . Speziell zu Hruschkas Lehre vgl. unten, V I .

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I. Spendeis Lehre im Überblick 1. Präzisierende

Bestätigung

An die Spitze stelle ich einen Standardfall, den auch Spendet bringt und der das Eigentümliche seiner Sicht besonders gut erklärt. Jemand macht sich in einer Kneipe volltrunken, um gänzlich enthemmt zu Hause seine Frau mit einem Stock zu verprügeln. Kommt es tatsächlich zur geplanten Handlung im Zustand der Schuldunfähigkeit, so will Spendel mit der ganz h. A. eben das, was Hettinger für gesetzwidrig hält: die Bestrafung nach § 2 2 3 a StGB 5 . Auch innerhalb dieses Lagers folgt Spendel der Mehrheit insofern, als er das sog. „Ausnahmemodell" verwirft: Die Bestrafung bedeute „keine wirkliche, sondern nur eine scheinbare Ausnahme vom Grundsatz des zeitlichen Einklangs von Tatbegehung und Schuld" 6 . Halten wir zunächst die Behauptung fest, die darin steckt: Entgegen einer im Schrifttum vordringenden Mindermeinung 7 sieht Spendel eine „Begehung der T a t " schon in der defektbegründenden Handlung des Trinkens, die der Täter bis zur Defekterreichung im noch schuldfähigen Zustand durchführt. Schuld und Tatbegehung sollen also in dieser Phase zeitlich zusammenfallen, sollen „koinzidieren", und dies genügt Spendel, die Voraussetzung des § 2 0 S t G B , daß der Täter „bei Begehung der Tat" einsichts- oder steuerungsunfähig gewesen sei, zu verneinen. Freilich sei das Sichbetrinken — und nun folgt eine wichtige Akzentverschiebung und Enteinseitigung - nur ein Teilstück der Tatbegehung. Ein anderes bilde das Zuschlagen mit dem Stock. Die indirekte Gesetzesaussage, daß die Schuld „bei Begehung der T a t " vorliegen müsse, sei darum im Sinne bloßer Teilabdeckung zu deuten 8 . Indessen verstehe sich

Rdn.32. Rdn. 46. 7 Daß Bestrafungen nach a. 1. i. c.-Grundsätzen auf ungeschriebenen Ausnahmeregeln zu § 2 0 StGB beruhen („außerordentliche Zurechnung"), lehrt vor allem Hruschka, JuS 1968, 5 5 4 f f ; SchwZStr. 9 0 (1974), 48ff; J Z 1989, 3 1 0 f f ; Strafrecht nach logisch-analytischer Methode, 2. Aufl. 1988, S. 39 ff, 43, 294, 327 u. öfter; übereinstimmend Joerden, Strukturen des strafrechtlichen Verantwortlichkeitsbegriffs, 1988, S. 35 ff; vgl. ferner Burkhardt, wie A n m . 3, S. 165 ff; Haft, AT, 3. Aufl. 1987, S. 129 ff; Jescheck, A T , 4. Aufl. 1988, S. 401 f; Kienapfel, A T , 1983, S . 2 1 2 ; Kindhäuser, Gefährdung als Straftat, 1988, S. 120 ff; Küper, Festschrift f. Leferenz, 1983, 591 f; Lenckner, in: Schönke-Schröder, StGB, 24. Aufl. 1991, § 2 0 , R d n . 3 5 ; Neumann, Zurechnung und „Vorverschulden", 1985, 25 ff, 2 6 9 f f ; Otto, Jura 1986, 426ff, 4 3 1 ; A T , 3.Aufl. 1988, 2 3 3 f ; Stratenwerth, A T , 3.Aufl. 1981, Rdn. 551; Gedächtnisschrift f. Armin Kaufmann, 1989, 485 ff, 495 ff; Wessels, A T , 21. Aufl. 1991, § 1 0 III 4. 5 6

8 Rdn. 30 - Spendel sagt hier etwas mißverständlich, die Formulierung des § 20 StGB könne „nur begrenzt gelten". Das kommt zumindest nahe heran an das Eingeständnis einer „wirklichen Ausnahme", die Spendel in Rdn. 4 6 aber gerade bestreitet. Μ. E . „gilt" § 2 0 in

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das von selbst und rechtfertige keinen Einwand. In die Begehung der Tat z.B. eines Mordes durch Montieren einer Bombe, die den Feind zerreißt, wenn er nach dem Urlaub sein Haus betritt, falle natürlich auch dieses letzte, tödliche Geschehen, weil außer der Handlung auch „deren Wirkung und der zwischen beiden bestehende Kausalzusammenhang zum objektiven Tatbestand gehören und die Tatmerkmale ausmachen". Damit erweise es sich als „unzweifelhaft", daß „die subjektiven Voraussetzungen der Straftat" nicht in der ganzen Begehungsphase vorliegen müssen. Denn der Attentäter begehe ja ohne Frage auch dann einen vollendeten Mord, wenn er „völlig betrunken ist oder in Narkose liegt", während das Opfer die Haustür öffnet und stirbt. Spendel gelangt über diesen Vergleich zur Aussage, daß für die „zeitliche ,Begehung des Tat' (s. §20 StGB)" die Handlung maßgeblich sei, genauer die den Erfolg verursachende verantwortlich begangene Handlung, in seinem Fall also das Sichberauschen und nicht die Rauschtat. Diese sei zwar, genau wie die Explosion der Bombe, selbst ein Stück Tatbegehung, aber, wiederum übereinstimmend, ein Geschehen, das bei isolierter Betrachtung dem jetzt schuldunfähigen - Täter nicht zugerechnet werden könne. Daß die Rauschtat für sich genommen, anders als die Explosion, immerhin eine Handlung ist, begründet für Spendel unter dem hier entscheidenden Gesichtspunkt keinen relevanten Unterschied9. 2. Tatbegehung

vor dem Versuch: Konfrontation

mit einem

Dogma

Bis hierher ist das alles Bestätigung der herkömmlichen Sicht und in deren Sinne eine präzisierende Klarstellung dessen, was nach der indirekten Aussage des §20 StGB für die Koninzidenz von Schuld und Tatbegehung genügen muß. Die Pointe im Begründungsgang Spendeis ist erst die These, daß es für seine Annahme eines durch die Rauschtat vollendeten Deliktes nach § 223 a StGB durchaus unerheblich sei, ob der Täter vor der Wende zur Schuldunfähigkeit auch schon die Schwelle zum Deliktsversuch überschritten habe. Im Beispiel habe er es nicht; sein Trinken stelle sich also zunächst, d. h. während es stattfinde und solange die Realisierung der geplanten Tat noch ungewiß sei, lediglich als „straflose Vorbereitungshandlung" dar. Diese „Ex-ante-Betrachtung" vereinbare sich aber mit einer retrospektiven Neubewertung, wenn es zur gewollten Mißhandlung komme. Die Herbeiführung des Defektzustandes sei aus diesem Blickwinkel nunmehr auch „Begehung der Tat" 10 . seiner gegebenen Formulierung unbeschränkt; nur muß man seinen Begriff „Begehung der Tat" richtig deuten. 9 Rdn. 30. 10 Vgl. zum Ganzen Rdn. 32-34. Dieser Auffassung scheint Schmidhäuser, AT, StudB, 2. Aufl. 1984, 5/76 f, nahezustehen, der aber die Frage nicht entschieden als die der

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Damit verweigert sich Spendel einer zweiten Koinzidenzforderung, die nicht, wie die erste, aus dem Gesetzestext („bei" Begehung der Tat) folgt, sondern rein dogmatischen Ursprungs ist und mit der ersten meist eher beiläufig und ohne Begründung verkoppelt wird: Die Tat begehen müsse der Täter schon vor Eintritt des Defektes, aber als Tatbegehung könne nur gelten, was bereits der Versuch des fraglichen Delikts sei. Dieses Junktim zwischen „Begehung der Tat" und „unmittelbarem Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes" bestreitet Spendel, obwohl es weithin als selbstverständlich gilt. So nennt es Roxin „unbestreitbar richtig, daß man in der Ausschaltung der eigenen Schuldfähigkeit schon einen Versuch der Tötung, der Körperverletzung usw. sehen muß", wenn die herrschende Auffassung zur vorsätzlichen a. l.i. c." haltbar sein soll; „denn die Verursachung durch eine Vorbereitungshandlung begründet keine Tatschuld"12. Zwar würde Roxin die Lösung des Falles im Ergebnis bestätigen, weil er, entgegen Spendel, den Versuch zur gefährlichen Körperverletzung schon (kurz) vor dem Verlust der Schuldfähigkeit beginnen sähe; aber Spendeis Begründung müßte er vom eigenen Standpunkt aus als „unbestreitbar" falsch verwerfen. Auf der anderen Seite würde Hettinger zwar Spendel darin zustimmen, daß der Täter die Grenze zum Versuch erst zu Hause und kurz vor dem Zuschlagen überschreite, eben deshalb jedoch Spendeis Lösung verwerfen und durch Anwendung allein des § 323 a StGB ersetzen. Denn in der dogmatischen Prämisse gibt er den Anhängern der „Vorverlegungskonstruktion" recht, indem er aus §22 StGB „den frühesten Zeitpunkt strafrechtlicher Zurechnungserwägungen" entnimmt. Die Vorschrift ergebe zwingend, daß eine dem Versuchsbeginn „vorgelagerte ,Schuld' keine Schuld im Sinne der tatbestandsmäßigen, rechtswidrigen und schuldhaften Verwirklichung eines Straftatbestandes" sei. Daraus soll folgen: „Wer in der Defektbegründungshandlung lediglich eine Vorbereitungshandlung sieht, der hat - gemessen an den dem StGB entnehmbaren Zurechnungsregeln - schon verspielt. Sein Begründungsmodell ist

Interpretation des Begriffes „Begehung der Tat" i. S. des § 2 0 StGB formuliert, sondern gesetzesgelöst den „Gefährdungsunwert" und die „Rechtsgutsverletzung" betont, die schon vor dem Versuch geschaffen oder begonnen werden könnten. Deutlicher ist die Ubereinstimmung mit Spendel bei R. Lange, Festschrift f. Bockelmann, 1979, S. 261, und besonders bei Streng, wie Anm. 3, S. 310 ff, dessen „Ausdehnungsmodell" (in freilich falscher Ausgrenzung des § 16 StGB) beim Tatbegehungsbegriff ansetzt und ihn ausdrücklich gegenüber dem Versuch verselbständigt. 11 Von Roxin (im Anschluß an Neumann) als „Tatbestandsmodell", von Hettinger, G A 1989, 9 (im Anschluß an Hruschka) eher pejorativ als „Vorverlegungskonstruktion" bezeichnet. 12 Festschrift f. Lackner, 1987, S.313. Im selben Sinne z . B . Horn, GA 1969, 293; Puppe, JuS 1980, 347.

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mit ihnen nicht vereinbar, von hier aus gesehen also die Formulierung einer Ausnahme, die Relevanz erst mit ihrer Positivierung erlangen könnte" 13 . Ich bin nun der Ansicht, daß Spendel gegenüber beiden Angriffen, die nicht ausdrücklich, aber in der Sache seinen Standpunkt in jeweils verschiedener Hinsicht für unhaltbar erklären, die Richtigkeit auf seiner Seite hat. Unzutreffend ist, um im Beispiel zu bleiben, einerseits die Annahme, der Trinker sei schon beim Trinken und im noch schuldfähigen Zustand wegen Versuchs (§§ 223 a, 22 StGB) strafbar geworden. Andererseits hat Spendel mit seinem Begründungsmodell keineswegs „verspielt", weil er richtig betont, die Defektherbeiführung sei zunächst nur Vorbereitung und der Versuch beginne erst, wenn der volltrunkene Täter zu Hause auf seine Frau losgeht. Es ist in vielen Konstellationen, auch der vorliegenden, richtig und notwendig, daß man - ex post! - ein Täterverhalten schon als „Begehung der Tat" betrachtet, obwohl ihm nicht nur der Vollendungserfolg, sondern auch der Eintritt in die Versuchszone erst nachgefolgt sind. Ja, diese Sicht ist oft so selbstverständlich, daß wir uns ihrer gar nicht bewußt werden und sie schlicht praktizieren. II. Versuchsbeginn und Rücktritt 1. Dogmatisch

erzwungene

Vorverlegung

Die erste Behauptung zu beweisen scheint mir vergleichsweise leicht. Es ist offensichtlich das erwähnte Dogma, das sich hier die zu ihm passende Dogmatik erst schafft. Man will erkennen, daß das Ansetzen zum Trinken des soundsovielten Glases Bier in der Kneipe zugleich das unmittelbare Ansetzen zur Mißhandlung der zu Hause sitzenden Ehefrau ist, weil man meint, es so sehen zu müssen. Das Dogma „keine Tatbegehung vor dem unmittelbaren Ansetzen" einmal hinweggedacht, würden die Gründe, die angeführt werden, bestimmt niemandem genügen. Zu entkräften ist die Begründung freilich auch ohne Widerlegung ihrer Koinzidenzprämisse. Sie beruft sich auf das überwiegend verwendete Kriterium der „Entlassung aus dem eigenen Herrschaftsbereich" und zieht damit eine Parallele zu anderen Fällen, wo der Täter die Gefahrentwicklung aus der Hand gibt; etwa durch Absenden des vergifteten Likörs oder durch Losschicken des Kindes, dem eine Sachzerstörung aufgetragen ist. Solcher Preisgabe von Herrschaft über das weitere Geschehen wird nun die Selbstenthemmung gleichgesetzt. Aber diese 13 W i e A n m . 2, S. 439. Vgl. ferner etwa Wessels, wie A n m . 7, der die herkömmliche Begründung nur dann f ü r „tragfähig" hält, „wenn man schon das Sichversetzen in den Defektzustand als Versuch des betr. Vorsatzdeliktes gelten ließe".

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Parallelisierung mißachtet, daß auch für schuldunfähige Täter, die zur Straftat entschlossen sind, zwischen Vorbereitung und unmittelbarem Ansetzen unterschieden werden muß. Nehmen wir an, in unserem Beispiel hätte der bisher vollkommen harmlose Täter sich ohne böse Absicht betrunken und erst nach dem Verlust der Schuldfähigkeit, seine Enthemmung mit Freude erkennend, die Ehefrau zu verprügeln beschlossen. Träfe die fragliche Begründung zu, so müßte man folgerichtig schon den ersten Schritt nach dieser Entschließung als unmittelbares Ansetzen betrachten, ζ. B. das Ergreifen des Stocks oder das Verlassen der Kneipe; schon dies wäre der Versuch und die „rechtswidrige Tat", die nach § 323 a StGB strafbar machen würde. Es mag also zwar richtig oder diskutabel sein, das Noch- oder Nicht-mehr-Kontrollieren der mit dem Deliktsentschluß geschaffenen Gefahr über Vorbereitung und Versuch entscheiden zu lassen. Aber dieses Kriterium muß dann so gedeutet werden, daß Kinder, Notstandstäter und Volltrunkene mit ihrem Versuch nicht früher beginnen als andere. M. a.W.: Der Verlust der Kontrolle über das künftige Geschehen darf nicht daraus gefolgert werden, daß der potentielle Täter die von ihm zu befürchtende Tat schuldlos begehen würde.

2. Probleme

des Rücktritts

a) Entsprechendes gilt für Rücktrittsfälle. Will jemand eigenhändig ein Delikt verüben und kommt es aus irgendeinem Grunde nicht zur Vollendung, dann darf dem Täter der Befund seiner Schuldunfähigkeit an keiner Stelle der Gesetzesdeutung zum Nachteil gereichen. Angenommen, im Ausgangsfall erfährt der Wirt, zu welchem Zweck sein Gast sich enthemmt hat, und durchkreuzt dessen Vorhaben durch Drohung mit der Polizei oder durch telefonische Warnung der Frau. Die Vorverlegungstheorie hat hier die Bestrafung nach §§ 223 a, 22 StGB zur Konsequenz, weil für sie der Versuch schon vorliegt und nicht etwa strafbefreiend getilgt wird, sondern fehlschlägt oder höchstens unfreiwillig aufgegeben wird. Das ist aber keine sinnvolle Konsequenz. Denn der einzige Sinn der Ad-hoc-Begründung eines im Trinken liegenden Versuchs ist, daß Straftätern die vorgängig-gezielte Beseitigung der eigenen Schuldfähigkeit keinen Vorteil bringe. Daß sich nun unversehens beim Volltrunkenen als unfreiwilliger Rücktritt vom strafbar bleibenden Versuch darstellt, was beim nur mäßig Enthemmten ein Aufhören im Vorbereitungsstadium wäre, das kann man nicht gut finden, sondern nur notgedrungen in Kauf nehmen. b) Eine andere Frage ist, welchen Wert ein Rücktritt hat, den der actiolibera-Täter nach unzweifelhaft begonnenem Versuch übt; in Spendeis Beispiel also dadurch, daß er den bereits gegen seine Frau erhobenen

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Stock auf ihr Flehen hin sinken läßt. Jakobs macht hier die straftilgende Wirkung davon abhängig, ob „der Grund des Rücktritts beim Verlust der Zurechnungsfähigkeit vorbehalten war". Andernfalls sei „das per Definition unverantwortliche Rücktrittsverhalten des Zurechnungsunfähigen keine freiwillige Leistung des Täters" 14 . Aber das kann nicht stimmen. Der psychische Defekt des Volltrunkenen ist für den Rücktritt ebenso unerheblich wie für den Versuch. Eine Beurteilung, die den Täter bei böser Tat entlastet, hat nicht die Kehrseite, gutes Verhalten zu entwerten. Der schwere psychische Defekt macht nach dem Gesetz allein „schuldunfähig", nicht aber zugleich unfähig zu freiwilliger Leistung, wie Jakobs behauptet. Seine Fehlsicht ist mit der Vorverlegungstheorie vielleicht nicht notwendig verbunden. Roxin, obwohl mit Jakobs sonst betont gleicher Auffassung, lehnt sie ab15. Trotzdem ist unverkennbar, daß die Theorie den Fehler begünstigt. Denn er hängt damit zusammen, daß Jakobs das Gewicht einseitig auf die Defektschaffung legt. Um den frühen Versuchsbeginn zu begründen, muß er vom Noch-Schuldfähigen als dessen alter ego den Volltrunkenen abspalten. Dieser ist „Werkzeug", jener nur „mittelbarer" Täter, dem nach allgemeiner Regel der Rücktritt des Ausführenden nicht zugute kommen kann - es sei denn, er selbst, also der Schuldfähige, wäre der Urheber. So entpuppt sich Jakobs Lösung zuletzt doch noch als eine Konsequenz, nämlich als die einer Fiktion, die den Kern der Vorverlegungstheorie bildet: Bezogen auf den schuldfähigen Versuchstäter sei der Berauschte ein „anderer" i. S. d. §25 I 2. Alt. StGB. Jakobs geht darin so weit, daß er dort, wo trotz der Fiktion die mittelbare Täterschaft entfällt (ζ. B. beim eigenhändigen Delikt des § 316 StGB), „die Ermöglichung der Tat in der Zurechnungsunfähigkeit (als) Teilnahme . . . an eben dieser eigenen Tat" zu bestrafen fordert 16 . Aber Fiktionen muß man dem Gesetzgeber überlassen. Sie sind in der Dogmatik nicht statthaft und führen wohl zwangsläufig zu Annahmen, die mit dem Gesetz unvereinbar sind. III. Koinzidenz von Tatbegehungs- und Versuchsbeginn? Was die zweite Behauptung angeht, so muß die Begründung weiter ausholen. Schnell klarstellen läßt sich nur, daß Spendeis prinzipielle Trennung zwischen dem Versuchsanfang und dem (ex post erkennbaren) Beginn der Tatbegehung formal keine Schwierigkeiten macht. Wenn in §22 StGB das „unmittelbare Ansetzen zur Verwirklichung des TatbeWie A n m . 4 , 17/68. Wie Anm. 12, S.319; A T , 1992, S.579, R d n . 6 3 . " Wie A n m . 4 , 17/67. 14

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standes", in § 20 StGB aber ein Mangel bei „Begehung der Tat" vorausgesetzt ist, dann sprechen so differente Begriffe sogar eher gegen als für die Kongruenz17. Mit dieser Feststellung ist allerdings wenig gewonnen. Was der Wortlaut erlaubt, kann die rechtliche Logik verbieten. Und der logische Einwand lautet, daß man ein per definitionem vortatbestandliches, also undeliktisches Verhalten nicht als Begehung der Tat, die das Delikt ausmache, verstehen könne. Küper hat das so ausgedrückt: Erst das „unmittelbare Ansetzen" i. S. von § 22 StGB „kann als vorsätzliche,Begehung der Tat' im Rahmen von Verhaltensbeschreibungen wie etwa ,Beschädigen einer Sache', ,körperliche Mißhandlung', ,Töten eines Menschen' verstanden werden. Alle früheren Handlungen gehören dagegen in das tatbestandsund daher unrechtsneutrale Gebiet der Planung und Vorbereitung"18. Im selben Sinne äußert sich sein Schüler Hettinger: „Die äußerste Anfangsschwelle tatbestandlicher Zurechenbarkeit ist (auch) bei den vorsätzlichen reinen Erfolgsdelikten der Versuchsbeginn. Was jenseits dieser Grenze liegt, mag zwar zur Verursachung beitragen, scheidet aber mangels Vertypung als tauglicher Anknüpfungspunkt eines Zurechnungsurteils aus. Es hat allenfalls . . . die Qualität einer ,Vorbereitungshandlung' und teilt mit dieser die strafgesetzliche Festlegung, bedeutungslos zu sein" 19 . Diese Argumentation leidet zunächst daran, daß sie in sich unschlüssig ist. Weil der Deliktsversuch nicht überall als Delikt „vertypt" ist und oft selbst noch in das „tatbestandsneutrale Gebiet der Vorbereitung" fällt, kann der Versuchsbeginn nicht generell die Grenze zwischen „strafgesetzlich bedeutungslosem" und deliktischem Verhalten ziehen. Wer einen beleidigenden Brief schreibt und absendet oder einem noch Abwesenden eine Heftzwecke auf den Stuhl legt, überschreitet die Deliktsgrenze nicht vor der Vollendung. Vorher ist sein Verhalten „nach strafgesetzlicher Festlegung bedeutungslos", selbst wo man es schon als „unmittelbares Ansetzen" bewerten könnte. Keine Strafrechtswidrigkeit ohne Straftatbestand; und einen solchen bildet der Versuch bei §§185, 223 StGB nicht. Wer dennoch auch hier die Tatbegehung mit dem Versuch beginnen läßt, kann seiner Kongruenzthese jedenfalls nicht die zitierte Begründung geben.

Zutreffend und ganz im selben Sinn Streng, ZStW 101 (1989), 312. Der „verschuldete" rechtfertigende Notstand, 1985, S. 62. " Wie Anm.2, S.462; vgl. auch Paeffgen, ZStW 97 (1985), 516. - Unklar Baumann/ Weber, 9. Aufl. 1985, S. 363. Sie glauben, bei der a. 1. i. c. „Schwierigkeiten im Versuchsbereich" durch einen „weiten Tatbestandsbegriff" zu vermeiden, weil nach dem „engen" sich „das Sichbetrinken keineswegs als Ansetzen zur Verwirklichung einer vorsätzlichen Tötung" darstelle. Dann aber sagen sie selbst apodiktisch, das Sichbetrinken sei „niemals das unmittelbare Ansetzen' zur Verwirklichung des Tatbestandes i. S. d. §22 StGB". Was soll da der „weite Tatbestandsbegriff" noch bewirken ? Erfüllt ein Tun nicht die Voraussetzungen des §22 StGB, kann es kein Versuch sein. 17

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Küper sucht dieser naheliegenden Kritik auszuweichen, indem er höchst ausführlich eine zweite Begründung nachschiebt. Ihr Kerngedanke ist, daß man das, was die „Begehung der Tat" sein soll, ja schließlich irgendwie begrenzen müsse, und daß niemand dafür etwas Geeigneteres als den Versuchsbeginn vorzuweisen habe20. Das ist eine pragmatische Überlegung. Ich begegne ihr auf gleicher Ebene mit meiner These, der Küper-Hettingersche Lehrsatz sei unpraktikabel und das daraus folgende Verbot werde in manchen Fällen gar nicht bemerkt und stillschweigend mißachtet, weil eine Verneinung des Delikts, die es zur Folge hätte, nicht ernstlich in Betracht komme. 2. Überprüfung anhand § 16 StGB Dies zu erkennen fällt leichter, wenn wir die Problematik einmal nicht, wie üblich, auf das Feld der actio libera in causa beschränkt und als ein Spezifikum des §20 StGB sehen. In Wahrheit kann sie überall auftreten, wo das Gesetz für ein Bestrafungshindernis, sei es im Tatbestand, bei der Rechtswidrigkeit oder der Schuld, auf den Zeitpunkt der Tatbegehung abstellt. So kann erst im Verlauf des vom Täter inszenierten Geschehens ein rechtfertigender Notstand entstehen oder statt der Schuldfähigkeit ebensogut die Vorstellung der Umstände schwinden, so daß es sich fragt, ob der Täter, wie es § 16 StGB fordert, „bei Begehung der Tat" den Vorsatz hatte. Stellen wir uns vor, der Psychotherapeut Ρ schreibt im Lauf des Tages eine Menge Briefe. Einer davon richtet sich an den Vater eines Kindes, für dessen Behandlung Ρ in seiner „Liquidation" durch übertreibende Angaben zum Zeitaufwand bewußt mehr fordert, als ihm zusteht. Der Brief bleibt nun im Umschlag noch stundenlang liegen, und P, mit neuer Arbeit befaßt, vergißt ihn vollkommen. Am späten Nachmittag schafft er alle Briefe zur Post, wobei er nicht im entferntesten an das unredliche Schreiben denkt. Dessen entsinnt er sich erst wieder, als er einige Tage später einen Verrechnungsscheck über den geforderten Betrag erhält. Man darf wohl davon ausgehen, daß niemand am Vorliegen eines strafbaren Betruges zweifeln würde. Wann aber hat hier stattgefunden, was §22 StGB als „unmittelbares Ansetzen zur Verwirklichung des Tatbestandes" bezeichnet und was den Versuch begründet? a) Die übliche Sicht: bewußte Überschreitung der Versuchsschwelle Nicht auszuschließen ist die Antwort, daß man den Versuch schon im Schreiben des Briefes erblicken müsse, weil der Täter danach ja nichts 20

Wie Anm.18, S. 62-66.

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mehr mit Betrugsvorsatz tue. Wer so antwortet, bemüht sich, seine Lösung in Harmonie mit dem zu halten, was üblicherweise gelehrt wird. So implizieren z . B . die Redeweise von der „Feuerprobe der kritischen Situation" und andere Wendungen, die das „unmittelbare Ansetzen" paraphrasieren, die Annahme, daß der Täter die Schwelle zum Versuch nur in aktueller Kenntnis sicherer oder möglicher Tatbestandsverwirklichung überschreiten könne. Puppe sagt dies ausdrücklich und beruft sich dabei bezeichnenderweise nicht auf das Gesetz, sondern auf die „Dogmatik": „Die Versuchsdogmatik geht davon aus, daß es irgendwann . . . eine kritische Situation gibt, die sich als die Zäsur zwischen strafloser Vorbereitung und strafbarem Versuch eignet, eben weil sich in ihr entscheidet, ob ein wirklicher tatmächtiger und deshalb strafrechtlich relevanter Deliktsvorsatz vorliegt". Dieser „entsteht also erst mit und in der Tat. Wie der Wille die Tat, so macht erst die Tat den Willen" 21 . Dasselbe betont Hettinger: „Objektive und subjektive Versuchsseite bedingen sich also gegenseitig. Erst beide zusammen konstituieren ,die Versuchshandlung' i. S. eines Straftatbestandes" 22 . Auch die stehende Redensart, der Täter müsse, um unmittelbar anzusetzen, „subjektiv die Schwelle zum ,jetzt geht es los' überschreiten" 23 , schließt es indirekt als unmöglich aus, daß der Täter - nach deliktsbewußter Vorbereitung unbewußt in den (strafbaren) Versuch hineingleitet. Und um ein letztes Zitat zu bringen: Roxin nennt jede Lösung „dogmatisch unhaltbar", die es möglich sein läßt, daß „der Zeitpunkt des Versuchseintritts vom Täter unbemerkt" bleibt; „das geht nicht an, weil der Versuch einen auf die Erfolgsherbeiführung gerichteten Vorsatz voraussetzt, der beim Eintritt in das Versuchsstadium vorhanden sein muß" 24 .

b) Kritik Angesichts solcher Aussagen sollte man sich gegenwärtig halten, daß sie, obwohl den Anschein gesicherter Erkenntnisse und Prämissen erweckend, doch nichts weiter sind als fragwürdige Hypothesen. Immerfort bleibt zu prüfen, ob sie nicht vielleicht doch den Gesetzessinn verfehlen und dadurch die Fallösung verzeichnen. So gesehen ist die oben formulierte Antwort auf die Frage nach dem Versuchsbeginn eine petitio principii. Sie beugt sich einem Dogma, statt es anläßlich des Falles anzuzweifeln und zu überwinden. Der Zweifel muß sich schon deshalb einstellen, weil beim Schreiben noch unklar ist, ob der Täter sich nicht 21 22 23 21

GA 1984, 117. Wie Anm.2, S.462. Dreher/Tröndle, 45. Aufl. 1991, §20, Rdn. 11; BGHSt.26, 303. JuS 1979, 10.

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weiterhin seines Betruges bewußt bleiben wird, etwa beim Einwurf des Briefes in den Kasten. Vermutlich würde niemand, der in Kenntnis der Tatsachen dem Täter beim Schreiben zusieht, das Urteil fällen, es liege bereits jetzt ein Betrugsversuch vor. Was man aber in der Gegenwart als straflose Vorbereitungshandlung einstuft, das darf man nicht im nachhinein dahin beurteilen, es habe den Täter doch schon zu jenem Zeitpunkt wegen Versuches strafbar werden lassen 25 . Aber davon ganz abgesehen: Die Annahme eines Versuches schon durch das Schreiben des Briefes ist selbst dann, wenn das Schwinden der Deliktsvorstellung erwartet werden kann, in der Sache nicht überzeugend, weil es an der Zuspitzung (unmittelbare Gefährdung in der Tätervorstellung) noch fehlt. Frühestens behaupten kann man sie für den Zeitpunkt, da der Täter durch Absendung des Briefes die „Herrschaft" über das Tatmittel verliert. Die Begründung, die diesem dominanten Kriterium gegeben wird, beruft sich zwar ihrerseits auch wieder auf das erwähnte Dogma. So will Roxin in einem vergleichbaren Fall den Erpressungsversuch, entgegen Otto2b, nicht „mit der beginnenden Kenntnisnahme durch das Opfer", sondern „mit der Absendung des Erpresserbriefes" einsetzen lassen, weil der Vorsatz „beim Eintritt in das Versuchsstadium vorhanden sein muß" und der Täter den Ubergang nicht etwa während des Mittagsschlafes vollziehen könne 27 . Aber wir dürfen uns auf das Herrschaftskriterium ruhig einlassen, weil in Wahrheit, wie unser Beispiel zeigt, auch seine Verfechter gezwungen sind, sich von der Vorstellung, bei Versuchsbeginn müsse der Täter aktuellen Vorsatz haben, zu verabschieden. Wenn man die Dinge einmal im systematischen Zusammenhang betrachtet und durchdenkt, ist das auch nur folgerichtig. Dann der strafbare Versuch einer Straftat ist ein Delikt wie andere auch. Er hat seinen eigenen Tatbestand mit einem Handlungsmerkmal, für dessen Verwirklichung Sonderregeln zu kreieren Anlaß und Berechtigung fehlen. So „tötet" in Spendeis Beispiel der Täter sein Opfer in dem Augenblick, wo es nach Explosion der Bombe stirbt und er selbst in Narkose liegt. Wie beim Mord die „Tötung", so bildet beim Versuch die „Ansetzung" den Deliktserfolg, und wenn man im Schlaf „töten" kann, warum sollte man dann nicht auch unbewußt zum Töten „ansetzen" können?

25 Zur Klarstellung: Es wäre dies etwas ganz anderes als Spendeis Wechsel von der exante- zur ex-post-Bewertung. Nach Spendel ist der Täter auch in der ex-post-Sicht gerade noch nicht beim Sichbetrinken strafbar geworden. 26 JA 1980, 645; wie Anm.7, 1988, S. 270 ff. 27 JuS 1979, 10. Im Ansatz wie hier aber AT, wie Anm. 15, S.202, Rdn.99: „die Erreichung des Versuchsstadiums" als „Erfolg" des Versuches; folgerichtig wäre danach, auf bewußter Erreichung nicht länger zu bestehen.

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Konfrontiert mit solchen Fällen, gesteht sogar Hettinger seinem Gegner Spendel zu, „natürlich" sei das Anbringen der Bombe „die Ausführungshandlung", und man möge „auch bei Distanzdelikten auf den Aspekt der (unmittelbaren) Gefährlichkeit zur Bestimmung der Versuchsgrenze zurückgreifen" 28 . Aber er scheint nicht zu bemerken, daß mit dieser beiläufigen Konzession ein Grundpfeiler seines Gebäudes wegbricht. Denn worin sonst als in der „Ausführungshandlung" sollte denn die „Begehung der Tat" liegen, da doch außer ihr kein aktivursächliches Tun gegeben ist? Und wenn der Versuch erst mit der unmittelbaren Gefährdung beginnt, dann scheint mir zugestanden, was es nicht geben soll: die Möglichkeit einer Tatvorbereitung (= Montieren der Bombe), die sich ex post als Begehung der Tat erweist, weil es später, während der Täter ohne Bewußtsein war, zunächst zum Versuch und dann zur Vollendung gekommen ist. In unserem Betrugsbeispiel liegt es nicht anders. Nach § 16 S t G B muß der Täter den Vorsatz „bei Begehung der T a t " haben. Da Ρ sich seiner Täuschung und der weiteren Tatumstände als ihrer möglichen Folge nur beim Schreiben bewußt ist, kann, wer den vorsätzlichen Betrug bejaht, allein das Schreiben als die Tatbegehung ansehen. Ins Versuchsstadium tritt Ρ erst später ein, sei es mit Absendung des Briefes, sei es noch später, etwa wenn der Adressat den Brief empfängt oder zu lesen beginnt. Die grundsätzliche Möglichkeit einer „straffreien Deliktsvorbereitung als Begehung der T a t " scheint mir nach allem schwerlich bestreitbar. Der Sache nach räumt jeder sie ein, der im Beispiel den Ρ nach § 263 S t G B bestrafen und den Versuch jedenfalls noch nicht mit dem Schreiben des Briefes beginnen lassen will.

3. Differenzierung zwischen reiner Tatvorbereitung potentieller Tatbegehung

und

Doch drängt sich nun eine Frage auf, die ungeachtet der damit verbundenen Verkomplizierung beantwortet werden muß. Ist etwa jede Deliktsvorbereitung diesseits der Versuchsschwelle im nachhinein schon ein Stück „Begehung der Tat", oder kommt ihr diese Bewertung nur in gewissen Fällen zu? Die richtige Antwort wird durch eine Abwandlung vorbereitet und erkennbar. Angenommen, Ρ hätte den Brief mit den falschen Angaben dem Vater seines Patienten, in Erwartung von Rückfragen und um sofort zu kassieren, persönlich überreichen wollen. In diesem Fall hätte Ρ beim Schreiben vom weiteren Ablauf eine Vorstellung, wonach er in voller Verantwortung erst in der Zukunft, nämlich

28

Wie Anm.2, S.420, Fn.436.

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat"

215

beim Aushändigen des Briefes, über das Delikt entscheidet. Die Situation wäre dieselbe wie die eines zum Mord Entschlossenen, der sich beim Mischen des Gifttrunkes keine andere Möglichkeit der Todes Verursachung vorstellt, als daß er selbst seinem Opfer den Trank darreicht, oder der beim Kauf der Pistole willens ist, eigenhändig seinen Feind zu erschießen. Dabei spielt, wie sich wohl von selbst versteht, die Festigkeit des Tatentschlusses keine Rolle. Auch wer sich bei der Vorbereitung für „definitiv" entschlossen erklärt, muß sich doch durch den Vollzug der eingeplanten späteren Handlung (Ubergabe des Briefes, Anbieten des Getränks, Abgabe des Schusses) erst noch entscheiden, daß er am Entschluß festhält und die Tat ausführt. Der Täter sieht sich unter solchen Umständen vom Ubergang in die Deliktszone gleichsam noch abgeschirmt durch die Schwelle der künftigen, deliktsbewußt-verantwortlichen Entscheidung. Man kann wohl sagen, daß dies bei deliktsvorbereitenden Akten der Regelfall ist. Und für ihn trifft nun tatsächlich zu, was Küper und Hettinger irrtümlich für die Tatvorbereitung schlechthin behaupten: daß sie in ein „unrechtsneutrales Gebiet" falle, daß sie „als tauglicher Anknüpfungspunkt eines Zurechnungsurteils" ausscheide und „strafgesetzlich bedeutungslos" sei. Denn auch dem deliktswillig Tätigen muß das Recht einen Freiheits- und Betätigungsspielraum gewähren. Es darf die Grenze zum Handlungsunrecht und zur unerlaubten Risikoschaffung nicht schon für überschritten erklären, wenn jemand Kordel kauft, um einen anderen zu fesseln, oder Papier, um darauf einen beleidigenden Brief zu schreiben. Was aber im Sinne solcher Freigabe als strafrechtlich irrelevant zu gelten hat, das darf man auch nicht als (potentielle) „Begehung der Tat" (§§16, 20 StGB) einstufen. Freilich bedarf dies noch einschränkender Präzisierung. Die Sicht des Täters entscheidet nur insoweit, wie die Begehung einer Vorsatz tat in Rede steht. So ist das Schreiben des betrügerischen Briefes auch dann nicht (ex post) Begehung des Betruges, wenn der Täter den Brief, statt ihn, wie fest geplant, auszusondern und selbst zu überreichen, versehentlich im Stapel läßt und mit den anderen versendet. Und der Giftmischer hat durch diese Tätigkeit nicht etwa (im nachhinein) einen Mord begangen, wenn er zu seiner Überraschung das Opfer tot findet, weil es gänzlich unerwartet von selbst das Gift getrunken hat. Auch in der Retrospektive stellt sich uns hier die Vorbereitung nicht als Begehung der Vorsatztat dar, weshalb man trotz des deliktsgerichteten und -bewußten Handelns nicht sagen kann, der Täter habe den Vorsatz bei Begehung der Tat gehabt. Im Sinne eines Fahrlässigkeitsdelikts kann sich aber das fragliche Tun nach Eintritt des Erfolges selbstverständlich sehr wohl als die Tatbegehung erweisen. So, wenn der Giftmischer die Selbstbedienung des Opfers zwar nicht vorausgesehen hat, sie aber hätte voraussehen müssen und also im Hinblick auf dieses Risiko sorgfaltswidrig gehandelt hat.

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Beschränkt auf das Vorsatzdelikt ist demnach die Ausgangsfrage so zu beantworten: Eine dem Versuchsbeginn vorgelagerte Deliktsvorbereitung ist auch im ex-post-Urteil noch nicht „Begehung der Tat", wenn der Täter es sich als gewiß vorgestellt hat, über die Deliktsvollendung später noch bewußt und verantwortlich zu entscheiden. Unser Kriterium deckt sich also inhaltlich mit dem, welches im Lager der Vorverlegungstheorie vor allem Puppe, Jakobs und Roxin verwenden. Denn umgekehrt kommt es nach dem Gesagten beim Vorsatzdelikt für den Tatbegehungsanfang darauf an, wann der Täter in Voraussicht der Unrechten Handlung, etwa dem Verprügeln der Gattin, wissentlich seine Fähigkeit zu verantwortlichen Entscheidungen beseitigt. Und dieses Beseitigen ist offenbar identisch mit der „Preisgabe der Kontrolle über die eigene Person" und der „Entlassung des Geschehens aus dem eigenen Herrschaftsbereich" durch Eintritt in die Schuldunfähigkeit. Der kleine, aber folgenschwere Fehler der Vorverlegungstheorie liegt in der Abweichung, die Preisgabe der Kontrolle durch Trinken des entscheidenden Glases auch schon zum VersuchszxAzn% und damit oft zum Delikt zu erklären. Von diesem vermeintlichen dogmatischen Muß hat Spendet die actio-libera-Lehre befreit, womit zugleich der störende Zwang entfällt, den Wendepunkt innerhalb des fortlaufenden Trinkens genau festzulegen. Denn auch wenn wir im Rückblick, d. h. nachdem der Betrunkene seine Frau tatsächlich verprügelt hat, die Ausnahme eines frühen Anfangs der Tatbegehung konstatieren, bleibt es doch dabei, daß der Täter mit diesem Anfang noch nicht straft>ar geworden ist. Darum bleibt uns für das in der Kneipe durchlaufene Frühstadium der Tatbegehung die so befremdliche Grenzziehung zwischen nur vorbereitendem und deliktischem Trinken erspart. Hettinger bildet den Fall, daß zwei Mordentschlossene gemeinsam auf den Dienstschluß ihres jeweiligen Opfers warten und der eine nüchtern bleibt, während der andere sich völlig betrinkt29. Dieser Fall scheint mir für meine Differenzierung anschaulich und lehrreich. Mit Recht findet es Hettinger nicht überzeugend, daß der zweite schon während des Trinkens nach §22 StGB strafbar werden soll. Sobald man aber mit Spendel die Fragen nach Begehung und Versuch der Straftat voneinander trennt, leuchtet auch die Unterscheidung zwischen den beiden Männern ein. Der eine sieht sich selbst als Instanz einer verantwortlich-zurechenbaren Entscheidung, die ihm das Delikt noch ganz als eine Angelegenheit der Zukunft erscheinen läßt. Der andere weiß (wie hier unterstellt sei), daß er diese Instanz gerade abbaut und über das Festhalten und Verwirklichen des Deliktsentschlusses keine verantwortliche Kontrolle mehr aus-

29

Wie Anm. 2, S . 3 4 9 f , F n . 5 3 .

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat"

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üben wird. Kommt es nun später tatsächlich zum unmittelbaren Ansetzen und Töten, dann liegt es nahe, schon mit dieser Destruktion der verantwortlichen Hemmungsinstanz die Begehung der Straftat, wenngleich noch nicht deren Versuch, beginnen zu sehen. So betrachtet erledigt sich nebenbei der vor allem von Neumann erhobene Einwand, es lasse sich in Vorsatzfällen weder generell noch konkret der Nachweis führen, daß „die Herbeiführung des Defektzustandes kausal für den tatbestandmäßigen Erfolg" geworden sei30. Natürlich muß die Begehung im ganzen ein ursächliches Verhaltensstück umfassen, aber es muß nicht jedes Tun, das zur Begehung gehört, conditio sine qua non sein. Das sieht man ja schon an den unstreitigen Begehungsbestandteilen, die zugleich den Versuch ausmachen. Zur „Begehung" des vollendeten Mordes durch Erschießen gehört der erste Schuß selbstverständlich auch dann, wenn er fehlgeht, also den Tod nicht verursacht. Damit verglichen ist unter Kausalitätsaspekten das Wegräumen der Entscheidungsinstanz durch Sichbetrinken sogar mehr. Denn es bewirkt jedenfalls, daß der Täter die Tat in anderer körperlichpsychischer Verfassung, nämlich als ein Enthemmter ohne verantwortliche Selbstbestimmung und damit auch „in anderer Art und Weise" ausführt, als er sie nüchtern ausgeführt hätte 31 . Aber ob man das - mit Roxin - als Verursachung des Erfolges durch das Trinken genügen läßt, ist gar nicht entscheidend. Teil der Tatbegehung ist das Sichberauschen als „Schwellenbeseitigung" und nicht, weil der Täter nüchtern die Tat unterlassen hätte. Mit Blick auf §16 StGB empfiehlt sich noch die Anführung eines zweiten Beispiels: Das Aufstellen einer Bodenvase hinter der Kellertür in der Erwartung, daß sie beim Offnen zu Bruch gehe, kann je nach Sicht des Täters „reine" Vorbereitungshandlung oder aber auch schon potentielle Begehung der Tat des §303 StGB sein. Nehmen wir an, eine Hausfrau scheut die offene Zerstörung des häßlichen Hochzeitsgeschenks und stellt sich vor, in ein paar Minuten selbst in den Keller zu gehen und nach der Zerstörung Entsetzen zu heucheln. Hier wäre im Plan der Täterin das Aufstoßen der Tür die noch bevorstehende verantwortliche Entscheidung. Die Vorbereitung wäre also keine potentielle Tatbegehung. Folgerichtig müßte man das Vorsatzdelikt verneinen, wenn die Frau in der Wartezeit ihr Vorhaben vergessen und Stunden später den Erfolg unbewußt bewirkt hätte.

Wie Anm. 7, S. 26; ähnlich Kindhäuser, wie Anm. 7, S. 124 f. So mit Recht Roxin, wie Anm. 12, S. 313; zum Problem der Kausalität vgl. ferner Burkhardt, wie Anm. 3, S. 154 f; Joerden, wie Anm. 7, S. 41 f (Fn. 97); Puppe, JuS 1980, 348. 30 31

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4. Die actio dolosa in causa und der Vergleich mit der mittelbaren Täterschaft Anders läge es, wenn die Täterin das Vergessen einkalkuliert oder geradezu geplant hätte, um sich gewissermaßen selbst das Alibi eines bloßen Versehens zu verschaffen. Es lohnt sich, diesen Fall etwas genauer zu betrachten, weil er sich vorzüglich eignet zur Uberprüfung von Hettingers Grundgedanken und seiner daraus folgenden radikalen Lösung. Offensichtlich haben wir eine Parallele zur actio libera vor uns, deren Problem sich von §20 StGB in den § 16 StGB verschiebt. Treffend wäre also die Kennzeichnung als Fall der actio dolosa in causa, sed non dolosa in actu, wenn der Frau nach gezielter Vorbereitung das Vergessen gelingt und sie nach ahnungslosem Offnen der Tür sich über die Scherben freut. Hettingers Beweisführung hat zwar nur Fälle der actio libera im Auge, umfaßt aber eindeutig die Verneinung des Vorsatzdelikts auch in unserem Fall. Denn seine These „lautet allgemein: Hat der Täter mehrere Handlungen in einer zeitlichen Abfolge vorgenommen, so ist das Zurechnungsurteil an die letzte, dem Erfolg nächste zu knüpfen, soweit es um die Zurechnung eben dieses ,Erfolges' geht; denn bestraft werden Handlungen und nicht Verursachungen . . . Demgemäß ist es unzulässig, Handlungen dann und deshalb als bloße Kausalfaktoren zu behandeln und an frühere Handlungen des Täters anzuknüpfen, wenn und weil die letzte Handlung mangels Schuldfähigkeit zu dieser Zeit nicht zurechenbar erscheint"32. Hettinger hält in der Einleitung anderen vor, sie seien „der Versuchung erlegen, zuviel auf einmal erledigen zu wollen", und verordnet sich selbst „die radikale Begrenzung des zu erörternden Themenbereichs" auf §20 StGB und die actio-libera-Fälle33. Ich finde, die Kritik läßt sich umkehren. Die Frage, was unter „Begehung der Tat" verstanden werden muß, stellt sich eben nicht nur für § 20 StGB, wo der Interpret alle Argumente des Rechtsgefühls und des Strafbedürfnisses durch den Hinweis auf § 323 a StGB zwar nicht entkräften, aber abwerten kann. Man blende diese Besonderheit aus und erwäge Hettingers Lehre für § 16 StGB und unser Beispiel! Im geplanten Geschehensablauf ist das arglose Offnen der Tür die letzte Handlung vor dem Erfolg, und sie erfüllt den objektiven Tatbestand des §303 StGB. In seiner zusammenfassenden Begründung läßt Hettinger dies genügen für das Verbot, an eine frühere kausale Handlung anzuknüpfen. Mir leuchtet das nicht ein. Sachgerecht ist m.E. allein eine Beurteilung, die Spendeis Sicht auf die actio dolosa in causa ausdehnt: Das Aufstellen der Vase, obwohl zunächst straflose Vorbereitung, entpuppt sich mit dem

32 33

Wie Anm.2, S.462. Wie Anm.2, S.35.

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat"

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Öffnen der Türe als vorsätzliche „Begehung der Tat", erst der versuchten, dann der vollendeten. Dafür spricht, von der Vernunft des Ergebnisses abgesehen, eine ganz einfache Überlegung. Hätte die Frau nach absichtsvollem Hinstellen die Zerstörung durch einen arglosen Dritten bewirken lassen wollen und damit Erfolg gehabt, so wäre nicht der geringste Zweifel an ihrer vorsätzlichen Tatbegehung in Form der sog. mittelbaren Täterschaft. Es gibt keinen Grund, die Tatbegehung zu verneinen, wenn sie den Part des gedankenlos den Keller Betretenden selbst übernimmt. Vermutlich würde Hettinger dieses Argument mit den Einwänden ablehnen, die er an vielen Stellen seines Buches gegen „die Konstruktion der vorsätzlichen a. 1. i. c. als eines Falles der mittelbaren Täterschaft" vorgebracht hat 34 . Er fordert den Nachweis, „daß der ,andere' im Sinne der §§25 ff StGB auch der Täter . . . selbst sein kann", und hält diesen Nachweis für unmöglich: „De lege lata ist das Gegenteil richtig" 35 . Das ist insofern eine berechtigte Kritik, als im Lager der Vorverlegungstheorie die Tendenz besteht, durch Fingieren eines „anderen" den nur ähnlichen und vergleichbaren Fall zum Unterfall der mittelbaren Täterschaft zu machen. Zu diesem Fehler liefert aber gleichsam nur das genauso falsche Gegenstück, wer nun auch das Sachargument verwirft, das in der „Konstruktion" zum Ausdruck kommt 36 . Bezogen auf unser Beispiel will es besagen, daß es keinen Wertunterschied mache, ob die Frau einen anderen oder sich selbst als blinden Verursacher einplane, und daß deshalb ihr Handeln „durch sich selbst" dem Handeln „durch einen anderen" gleichzustellen sei, indem man ersteres § 2 5 1 1 . Alt. StGB subsumiere 37 . Bezogen auf die klassischen actio-libera-Fälle hat Spendel, von falschen Fiktionen weit entfernt, das gleiche treffend so formuliert: „Sofern sich der schuldhaft Trinkende als schuldunfähig Handelnder ,einsetzt', ist die Deliktsbegehung . . . - wiewohl ein Fall der unmittelbaren Täterschaft! - mit der mittelbaren vergleichbar, bei der eine andere nicht verantwortliche Person als ,Werkzeug' benutzt wird, wie sich ja unmittelbare und mittelbare Tatausführung prinzipiell nicht wesentlich voneinander unterscheiden" 38 .

Wie Anm. 2, vgl. S. 444 und die Verweisungen in Fn. 25. Wie Anm. 2, S.463. 36 Ähnlich differenzierend Otto, Jura 1986, 428. 37 Wohlgemerkt, der ersten Alternative! Paeffgen, wie Anm. 19, S. 18 erfaßt zwar das Sachargument als „Plausibilitätseinwand in der Form eines Erst-recht-Schlusses", entwertet es aber sogleich wieder durch die Deutung, daß seine Verfechter auf die Heranziehung der 2. Alt. festgelegt seien. 38 Rdn.36. 34

35

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Wer trotz aller Gegenargumente Hettingers deliktsverneinende Extremlösung überzeugender findet, müßte immerhin einräumen, daß dieser Autor (soweit ich sein Buch überblicke) einen Aspekt übersehen hat. Jakobs hat ihm mit Recht entgegengehalten, daß das Verbot des Rückgriffs auf die noch defektfreie Handlung keinesfalls mehr bewirken könne, als aus dem Begehungs- ein Unterlassungsdelikt zu machen. Denn es sei „nicht einzusehen, weshalb der Täter für seine eigene Harmlosigkeit weniger Garant sein soll als für diejenige eines anderen menschlichen oder tierischen oder mechanischen Werkzeugs" 39 . Indem sich also die Frau dem langsamen Vergessen hingibt, unterläßt sie zugleich die Abwendung des Zerstörungserfolgs durch Wiederwegschaffen der Vase; eine Abwendung, für die sie nach gezielter Gefahrschaffung und wegen der Bedrohung des Objekts durch ihren eigenen Körper zweifellos „rechtlich einzustehen" hat. Wie Hettinger hier (und in den ihn beschäftigenden Fällen) um die Anwendung des § 13 StGB herumkommen könnte, sehe ich nirgends erklärt. Daß die Lösung über § 13 StGB sachlich nicht überzeugt, steht auf einem anderen Blatt. Es liegt allein an ihrem subsidiären Charakter und ist somit ein Zeichen, daß schon die Verneinung des Begehungsdelikts falsch war, in deren Konsequenz die Auffanglösung liegt. 5. Anknüpfung

an die maximal zurechenbare

Handlung

Wir erkennen nach allem einen Grundsatz, der Hettingers Kernthese an der entscheidenden Stelle verschiebt. Es geht um die Zurechnung von menschlichem Verhalten als Straftatbegehung. Anknüpfen muß darum das Urteil nicht an das letzte Verhaltensstück überhaupt, sondern an das letzte maximal-zurechenbare, vorbehaltlich allerdings der Frage, ob man dieses Tun dem Begriff „Begehung der Tat" im spezifischen Sinn des jeweiligen Handlungsmerkmals subsumieren kann. Das Verfahren ist also ein Rückwärtsgehen bis zum Punkt der höchsten Vorwerfbarkeit innerhalb der Grenzen möglicher Subsumtion. Hettinger meint, er könne es widerlegen und als „sachfremd" entlarven, indem er es offenlegt: Als „entscheidend" apostrophiert werde „die Defektbegründungshandlung aus einem Grund . . . , der mit der Handlungsseite gar nichts zu tun hat, . . . nämlich nur unter dem Aspekt, daß sie die letzte Handlung des Täters ist, an die angesichts des § 20 StGB die Zurechnung hinsichtlich der späteren Defekttat überhaupt anknüpfen könnte" 40 . So hat man es in der Tat immer gemacht. Aber die Kritik daran fällt auf den Kritiker zurück. Denn nach der höchstgradig-

39 40

Wie Anm.4, 17/66, Fn. 118. G A 1989, 15.

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der T a t "

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zurechenbaren letzten Handlung zu suchen und sich darauf (statt auf die letzte schlechthin) zu stützen ist ersichtlich das adäquate Vorgehen, wenn beurteilt werden muß, ob und in welchem Maß jemand für einen schlimmen Erfolg verantwortlich zu machen ist. Hat der Schreiber eines beleidigenden Briefes beim Einwerfen keine Kenntnis mehr vom Inhalt oder ist er in diesem Augenblick der Entäußerung und letzten Handlung volltrunken, dann wäre die Verneinung des Delikts ein Fehlurteil. Man überlege nur, wie leicht Leute, die andere durch Briefe beleidigen, betrügen oder erpressen, sich der strafrechtlichen Haftung entziehen könnten, wenn Hettinger recht hätte! IV. „Wer trinkt, tötet noch nicht" An dieser Stelle des Dialogs würde Hettinger vielleicht die Front begradigen durch Preisgabe des Dogmas notwendiger Gleichzeitigkeit von Tatbegehungs- und Versuchsbeginn sowie seines starren RegreßVerbotes. Um so entschiedener könnte er dann aber Folgendes einwenden: Die hier gebildeten Beispiele von actiones dolosae in causa seien irreführend und unergiebig, weil sie an der Problematik forensisch-praktischer Rechtsanwendung vorbeigingen. Man möge immerhin sagen, daß das Schreiben bereits Begehung der Täuschungstat sei, und ebenso, daß ein Begehen der Zerstörung schon zu sehen sei im Aufstellen der Vase dort, wo sie später umkippt. Denn das Schreiben schaffe ja tatsächlich bereits die verkörperte Lüge, und das Verbringen der Vase an die gefährliche Stelle sei schon direkte Einwirkung auf das Objekt, das den Schaden erleiden solle. In den Fällen der Praxis gehe es aber um noch defektfreie Handlungen, die den jeweiligen Handlungsmerkmalen zu subsumieren sinnwidrig und gewaltsam sei. „Wer trinkt, fährt noch nicht Auto; aber er verletzt oder tötet auch noch nicht" 41 , sagt Hettinger pointiert und schließt sich damit dem Haupteinwand an, mit dem Hruschka in seiner ersten einschlägigen Veröffentlichung dem Frieden ein Ende gemacht hat: „Die bloße Tatsache, daß ein Akt eine vorsätzlich gesetzte ,Ursache' für die tatbestandsmäßige Handlung zu einem späteren Zeitpunkt darstellt, macht diesen Akt nicht seinerseits zu einer tatbestandsmäßigen Handlung". Man werde dafür „mindestens fordern müssen", daß der Akt „sich irgendwie nach außen wendet und bereits die Richtung hin auf das anzugreifende Rechtsgut einschlägt". Jedenfalls gebe es „keinen Grund, das Verhalten bei der Defektbegründung gerade dann als tatbestandsmäßige Handlung zu qualifizieren, wenn das Verhalten im Defektzustand . . . als nicht strafbar angesehen wird" 42 .

41 42

G A 1989, 14. JuS 1968, 556, 557.

222

Rolf Dietrich Herzberg

1. Restriktive

Deutung mancher

Handlungsmerkmale

Dieser Angriff auf die überkommene actio-libera-Dogmatik ist zu einem bedeutenden Teil berechtigt. Zwar verliert er einiges an Stoßkraft, wenn man sich vom Dogma zeitlichen Zusammenfalls von Tatbegehungs- und Versuchsbeginn löst. Aber auch nachdem Spendel die Klammer mit Recht zerbrochen hat, bleibt zu beachten, daß die Deutung des Handlungsmerkmals darüber entscheiden muß, ob ein deliktsbewußtursächliches Tun im Rückblick als „Begehung der Tat" zu bewerten ist. Man muß also sagen können, daß die defektfreie Handlung schon ein Stück Begehung der besonderen Tat ist, die der jeweilige Deliktstyp voraussetzt. Daß der Täter diese Tat in defekter Verfassung begangen und dies wiederum durch eine defektfreie Handlung vorsätzlich verursacht hat, genügt nur dann, wenn der Deutungsspielraum hinreichend groß ist. Auch wer wie Baumann/Weber„einen weiten Tatbestandbegriff vertritt (wertneutraler kausaler Tatbestandsbegriff)", entgeht nicht dem prinzipiellen Einwand Hruschkas. Dieser würde sich dann eben gegen die Pauschalinterpretation der Handlungsmerkmale richten, die im „weiten Tatbestandsbegriff" enthalten ist, und damit gegen dessen Berechtigung. Es liegt auf der Hand, daß hier der Vergleich mit der mittelbaren Täterschaft fruchtbar wird und die eigenhändigen Delikte ausgrenzt. Denn deren Eigenart besteht ja eben darin, daß ihr Handlungsmerkmal nicht durch die Ingangsetzung eines menschlichen Werkzeugs, ζ. B. eines schuldunfähig handelnden Betrunkenen, erfüllt werden kann, weil wir ihm eine entsprechend enge Deutung geben. Wer ζ. B. einem Autofahrer oder einem Zeugen vor der Hauptverhandlung heimlich ein Psychopharmakon zuführt und dadurch bewußt verursacht, daß ein gänzlich Enthemmter den Verkehr gefährdet oder falsch schwört, begeht für seine eigene Person nicht die Tat, die die §§ 315 c, 316 bzw. 154 StGB voraussetzen. Lassen wir somit in solchen Fällen das verantwortliche Verursachen von Rausch und Autofahrt oder Meineid als „Begehung der Tat" nicht genügen, dann dürfen wir es im entsprechenden Fall einer Selbstberauschung ebensowenig44. Darum überzeugt auch ein Einwand nicht, den Lenckner geltend macht; es liefere „der Vergleich mit der mittelbaren Täterschaft... schon deshalb keine befriedigende Erklärung,

Wie Anm. 19, S.362. Diese Einschränkung wird vom herkömmlichen Standpunkt aus noch weithin versäumt, vor allem von der Judikatur. Auch Spendel erwägt sie nicht, wie in Rdn. 42 seine Lösung zu Fällen von § 315 c und §175 StGB zeigt; vgl. auch Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, §20, Rdn.28 (fahrl. a.l.i.c. bei §§315c, 316 StGB). Richtig aber Horn, GA 1969, 302ff; Jakobs, wie Anm.4, 17/67; Roxin, wie Anm. 12, S.317f; Rudolphi, in: SK-StGB, 5. Aufl. 1989,§20, Rdn. 28 b. 43

44

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat"

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weil es die a. 1. i. c. auch bei eigenhändigen Delikten geben muß" 45 . Umgekehrt ist es richtig! Es darf sie nicht geben, weil uns die Grenzen der mittelbaren Täterschaft zeigen, wo wir die „Konstruktion" der a. 1. i. c. überfordern würden. 2. Das Argument des Wertungswiderspruchs Der Vergleich, der hier den Kritikern einer undifferenzierten Vorverlegungstheorie recht gibt, wirkt aber auch entgegengesetzt. Er offenbart nämlich, daß Hettingers pauschale Hypothese, man könne im Trinken noch keine Begehung der jeweiligen Tat sehen, zwar für einige Tatbestände zutrifft, für die meisten jedoch einen Wertungswiderspruch bedeutet, der seine Behauptung falsifiziert. Denn die meisten Delikte und keineswegs allein die sog. reinen Erfolgsdelikte sind ja in mittelbarer Täterschaft begehbar, womit immer zugleich gesagt ist, daß die Begehung der Tat zum Teil schon in der schuldunfähig machenden Enthemmung eines Menschen liegen kann. Dies ist ganz besonders zu betonen, weil daraus ein starkes Argument folgt, dem Hruscbka, Hettinger u. a. nicht gerecht werden. Angenommen, Α führt dem ahnungslosen Β berauschende Mittel zu in der Voraussicht, daß Β in schuldunfähigem Zustand eine sexuelle Nötigung (§178 StGB) verüben wird. Kommt es dazu, hat Α unstreitig die Straftat als Aktivtäter begangen. Fragen wir nun, worin denn eigentlich genau seine eigene, also die dem Α zuzurechnende aktive „Begehung" (i. S. von § 25 StGB) liege, so kann die Antwort nur lauten: in der Enthemmung des B, die ihn zum Werkzeug des Α gemacht hat. Denn die spätere Nichthinderung wäre bloß ein Begehen durch Unterlassen oder nicht einmal das, denn vielleicht war Α unfähig, den enthemmten Β noch zu hindern. Und aus eben diesem Grund kann man der hier gegebenen Antwort auch nicht dadurch ausweichen, daß man die Ausführung des Β dem Α als dessen eigene Begehung zurechnet. Zwar ist es richtig, daß solche Zurechnung stattfindet und das Begehen des Α noch weiterläuft, während Β die Tat durchführt; aber das gilt genauso, wenn etwa ein gezielt aufgehetzter Hund Menschen anspringt und beißt. Das Werkzeugverhalten kann für den Hintermann immer nur als ein Teil seiner eigenen Begehung verstanden werden, weil er es oft nach seinem Anstoß nicht mehr vermeiden kann, so daß wir also schlechthin darauf angewiesen sind, die Beeinflussung des Werkzeugs in die Begehung einzubeziehen. Mit Blick auf ein zentrales Lehrbeispiel von Hruschka*b sei hier noch ein weiterer Fall gebildet: V bedrängt seinen 13jährigen Sohn S, für ihn In: Schönke-Schröder, StGB, 23. Aufl., 1988, §20, Rdn.35. « Wie Anm. 7, 1988, S . 3 7 f f . 45

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in Kaufhäusern Sachen zu entwenden, und baut den anfänglichen Widerstand dadurch ab, daß er S viel Alkohol zu trinken gibt; dadurch enthemmt, tut S wie geheißen, während V ohne genaue Kenntnis zu Hause wartet. Wer die wohl unstreitige Beurteilung teilt, daß V hier die Tat des Diebstahls aktiv begehe, kann aus den dargelegten Gründen nicht umhin, im Rückblick, d.h. nach geschehener Wegnahme, für V schon die Beeinflussung und Alkoholisierung seines Sohnes als „Begehung der Tat" zu werten. Das wird besonders deutlich, wenn man sich vorstellt, V hätte mitgetrunken und wäre beim Aufbruch des S schuldunfähig gewesen. Die Konsequenz der Gleichbeurteilung entsprechender Fälle der Selbstberauschung und eigener Übeltat liegt auf der Hand. Hettinger lehnt sie ab, weil hier kein Fall der mittelbaren Täterschaft anzunehmen sei. Das ist begrifflich richtig, auf der Wertungsebene aber falsch. Um hier einen Widerspruch zu vermeiden, muß man die Enthemmung dessen, der ausführen soll, in den Selbstausführungsfällen schon als Anfang und Teilstück der Se/^stbegehung betrachten, wie in den Tatmittlerfällen als Teil der Begehung durch einen anderen. Das fällt auch nicht schwer, sobald man, wie es Spendet mit Recht fordert, die Prämisse aufgibt, daß die Tatbegehung nicht früher als der Versuch beginnen könne. Besonders schwerfallen muß es andererseits von jenem extremen Gegenstandspunkt aus, den Hruschka vertritt. Er verweigert sich nicht nur der Angleichung an die mittelbare Täterschaft47, sondern gibt auch den herkömmlichen Lösungen eine absurde Deutung, um sie ad absurdum zu führen; in seinem Beispiel die, daß schon das Sichbetrinken während der Zugfahrt zum Ort des geplanten Diebstahls „die Erfüllung des objektiven Tatbestandes" sei und dieser dann später streng genommen ein zweites Mal erfüllt werde48. Wer nur in einer vollständigen Erfüllung des Tatbestandes eine „Begehung der Tat" (§20 StGB) zu erblicken vermag, kann sie natürlich unter keinen Umständen schon im Sichbetrinken sehen. Aber so hohe Anforderungen stellen nicht einmal die, welche einen Versuchsanfang nachweisen zu müssen glauben. Selbstverständlich kann die zur Schuldunfähigkeit führende Selbstberauschung, wenn überhaupt, dann nur ein Teilstück der Tatbegehung sein.

47 Wie Anm.7, 1988, S.42f, Fn.41a. Die Begründung überzeugt nicht. Der Befund bleibender „Handlungsherrschaft" liefert kein Argument gegen die mittelbare Täterschaft oder die Parallelisierung damit, weil die Vergleichbarkeit gerade voraussetzt, daß der actiolibera-Täter als sein eigenes Werkzeug diese Herrschaft ausübt. Hruschka übergeht den für den Vergleich entscheidenden Aspekt: daß die Tatausführung in den Händen eines nicht verantwortlich Handelnden liegt. « Wie Anm.7, S.41.

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Daß dies unter Umständen tatsächlich anzunehmen ist, dafür liefert der Vergleich mit der mittelbaren Täterschaft den Beweis oder doch ein starkes systematisches Argument. V. Zum Fahrlässigkeitsdelikt 1. Hettingers

extreme Ansicht

Den auffälligsten Ansatzpunkt f ü r Kritik bildet in Hettingers Lehre seine Behauptung, es könnten nicht einmal die §§222, 230 StGB durch schuldunfähig machende Selbstberauschung verwirklicht werden. 1985 konnte Spendel noch hinsichtlich der Grundsätze zur a. 1. i. c. sagen, daß sie „für das Fahrlässigkeitsdelikt . . . allgemein anerkannt" seien, weil hier niemand „zwischen den einzelnen Stadien der Vorbereitung, des Versuchs und der Vollendung" unterscheide; so spiele „die zeitlichräumliche Distanz zwischen dem fahrlässigen Sichberauschen . . . und dem späteren Überfahren eines Passanten keine Rolle . . . , sofern nur die genannte Vorbedingung in Vorhersehbarkeit des Verkehrsunfalls gesetzt worden ist" 49 . Diese Konsensfeststellung ist obsolet. Hettinger bezieht die Gegenposition mit seinem Beispiel des Taxifahrers, der nach einer Examensfeier volltrunken bei Rot nicht anhält und einen Radfahrer totfährt 50 . Die Begründung, weshalb der Täter nur wegen „Vollrausches" nach § 323 a StGB strafbar sei, bringt substantiell nichts Neues. Die „Vorhersehbarkeit" des Unfalls beim Trinken sei „nicht geeignet, die Handlung, die den Erfolg selbst herbeiführt, im Zurechnungsprozeß zum bloßen Kausalfaktor zu machen" 51 . Wieder soll es unzulässig sein, hinter diese letzte Handlung zurückzugehen, wobei der Autor freilich das inkonsequente Zugeständnis des „Ubernahmeverschuldens" zu machen bereit oder geneigt scheint. Weil indes hier der Täter auch bei Übernahme der Fahraufgabe schon schuldunfähig gewesen sei, spiele diese (an sich berechtigte?) Vorverlagerung i.e. keine Rolle. Kurzum: „Wer trinkt, fährt noch nicht Auto, aber er verletzt oder tötet auch noch nicht - und zwar weder vorsätzlich noch fahrlässig" 52 . Neu ist in diesem Zusammenhang vielleicht die Überlegung, daß, wer die Vorhersehbarkeit im Vorfeld entscheidend sein lasse, § 20 StGB in Fällen von der Art des Beispiels bedeutungslos mache 53 . Aber das scheint mir kein Argument zu sein. W o man § 20 StGB f ü r unanwendbar hält, kann man ihm keine Bedeutung geben. Daß er vom herrschenden Standpunkt aus in

49

Rdn.35. GA 1989, 7 f. 51 GA 1989, 16. " Wie Anm. 2, S.456. » GA 1989, 17. 50

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anderen Fällen sehr wohl auch für Fahrlässigkeitsdelikte Bedeutung gewinnt, brauche ich nicht zu erklären. Die gleichbleibende Begründung ist natürlich auch mit denselben Fehlern belastet. Sie ist einseitig zugeschnitten auf Fälle der Kombination von § 20 und § 323 a StGB, so daß die Strafbarkeitslücken, die sie schafft, nicht deutlich werden. Man denke sich nur, daß der Autofahrer für seinen Vollrausch nichts kann, weil ihm ein anderer heimlich Drogen zugeführt hat. Hettinger könnte dann für die Verursachung des tödlichen Verkehrsunfalls niemanden bestrafen. Die Verursachung durch den Fahrer ist schuldlos, und das Tun des Dritten soll keine Todesverursachung i. S. von § 222 StGB sein, weil Hettinger sich weigert, auf pflichtwidrige Risikosetzung im Vorfeld zurückzugreifen. Genausowenig hilft § 323 a StGB, wenn der Täter in actu zu gefahrangemessenem Handeln unfähig ist und dies nicht auf Selbstberauschung beruht, sondern auf einem anderen Vorverhalten, das er zu verantworten hat. Ein übermüdeter Fahrer steuert sein Auto im Halbschlaf und fährt einen Verkehrsteilnehmer zu Tode, weil er der plötzlich entstehenden Gefahr, die er normalerweise gemeistert hätte, in seinem herabgesetzten Zustand nicht gewachsen ist. Was hier in den Blick kommt, ist nach Meinung vieler die „Schuldkomponente" des Fahrlässigkeitsbegriffs, die als ein Spezifikum auf der Schuldebene zu berücksichtigen sein soll. Μ. E. stimmt das nicht. In Wahrheit geht es bei der Entschuldigung des Fahrlässigkeitstäters um die Anwendung von Schuldregeln, die auch für Vorsatztäter gelten. Hier wäre für den Autofahrer „in actu" ein Fall des § 20 StGB gegeben, und zwar in der Alternative „oder nach dieser Einsicht zu handeln". Aber wie auch immer - Hettinger könnte den sachlich ohne Zweifel gebotenen und von niemandem sonst angezweifelten Rückgriff auf das zurechenbare Vorverhalten nicht mitvollziehen, es sei denn durch heimliche Ignorierung seiner eigenen Lehre. Befremdlich sind auch die Konsequenzen in Fällen der actio illicita in causa. Wer sein Kind von einem Dobermann bedroht sieht und es zur Lebensrettung durch Stacheldraht zwängen und erheblich verletzen muß, ist dazu natürlich berechtigt und als Garant sogar verpflichtet. Wie aber, wenn er zuvor mit dem Kind in das streng umzäunte Grundstück unerlaubt eingedrungen ist und dabei die deutliche Warnung vor Hunden leichtfertig mißachtet hat? Hettinger hat dann nur die Wahl zwischen der Konsequenzverleugnung durch Abstellen auf ein „Ubernahmeverschulden"54 und dem konsequenten Beharren auf der restriktiven

54 Er würde damit, entgegen dem eigenen Postulat, von der „eigentlichen" Verletzungshandlung zurückweichen auf deren vorwerfbare Notwendigmachung, und zwar allein aus einem Grund, den er selbst nicht gelten lassen will: „Weil sie die letzte Handlung

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Interpretation, das Verursachen der Körperverletzung könne (nach „immanenten Grenzen" des §230 StGB) noch nicht im Betreten des Grundstückes gesehen werden. Was er auch sagen würde, es geriete ihm nicht zum Gedeihen. Aufs Ganze gesehen kann man feststellen, daß die konsequenten Lösungen Strafbarkeitslücken aufreißen und die inkonsequenten die Theorie desavouieren. Wir dürfen darum auf den Standpunkt der überkommenen und herrschenden Ansicht zurückkehren und darauf bauen, daß in den hier angeführten Beispielen das fahrlässige Verhalten im Vorfeld ex post als „Begehung der Tat", als Verursachen des Todes oder der Körperverletzung aufzufassen ist. 2. Rückschluß

vom Fahrlässigkeits-

auf das Vorsatzdelikt

bei der a. I. i. c.

Damit gewinnen wir aber unversehens ein Argument für die Vorsatzfälle, das sich bei Spendel schon ausgesprochen findet, aber sonst nirgends erkannt wird, weil man die systematische Verbindung zwischen Vorsatz und Fahrlässigkeit vernachlässigt. Spendel dagegen stellt sie her, indem er die für das geringere Delikt anerkannte frühe Begehung auf das schwerere überträgt. Mit Blick auf RGSt. 22, 413 fragt er rhetorisch, „warum das Sichbetrinken eines Kutschers . . . dann keine tatbestandliche (Teil)Ausführung einer späteren Körperverletzung des Straßenarbeiters sein sollte, wenn es im Hinblick auf die Folgen nicht fahrlässig, sondern vorsätzlich erfolgt wäre" 5 5 . Daß dies, wie Spendel meint, „schwerlich einzusehen" sei, ist gewiß richtig. Wenn im einen Fall das Sichbetrinken bereits „Begehung" der fahrlässigen Körperverletzung ist, dann ist es im anderen „Begehung" der vorsätzlichen, und zwar ganz unabhängig von der Frage eines nach §§ 223 a, 22 StGB strafbar machenden Versuches. Die Annahme im ersten Fall beweist, daß die Feststellung einer Körperverletzungsbegehung auf die Bejahung eines gleichzeitigen Versuches nicht angewiesen ist. Und was eine fahrlässige Begehung darstellt, muß sich durch ein dazukommendes Wissen immer in eine vorsätzliche verwandeln. So zeigt uns Spendel an dieser unauffälligen Stelle seiner Kommentierung einen Gedankengang, der es vielleicht schon verdient, zwingend genannt zu werden. Denn die anerkannte (und von Hettinger m. E. zu Unrecht bestrittene) Beurteilung der Fälle fahrlässiger Körperverletzung vom Typus der a. 1. i. c. führt über eine evidente Folgerung zu der Einsicht, daß die actio praecedens auch beim Vorsatzdelikt schon zu dessen „Begehung" (§20 StGB) gehören kann, ohne zugleich bereits der Versuch zu sein.

des Täters ist, an die angesichts des §34 S t G B die Zurechnung hinsichtlich der späteren Notstandstat anknüpfen könnte" (vgl. G A 1989, 15). 55 Rdn.35.

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VI. Zur Lehre von Hruschka 1. Darstellung Mit seinen Rückschlüssen aus dem Begehungsbegriff, wie dieser für die mittelbare Täterschaft und für die fahrlässigen Erfolgsdelikte angenommen werden muß, argumentiert Spendet vor allem systematisch. In dieser Hinsicht besteht Ähnlichkeit mit Hruschka, den sein Weg aber bemerkenswerterweise auf einen nahezu entgegengesetzten Standpunkt führt. Wie sehr dieser Autor seine einzelnen Antworten aus systematischen Einsichten heraus zu geben beansprucht, zeigt sich in der Formulierung des Problems. Die Frage sei stets, „ob es unter übergreifenden Gesichtspunkten zulässig ist, mit der Annahme einer actio libera in causa an die Stelle des jeweiligen verbrechenskonstitutiven Merkmals - Handlungs- bzw. Unterlassungsfähigkeit; Vorsatz; Unrechtsbewußtsein; Freiheit von krankheitsbedingter Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln; Freiheit von N o t i. S. des §35 StGB - ein Surrogat zu setzen" 56 . Damit deutet sich schon an, daß der Fragende es im Hinblick auf §20 StGB unter keinen Umständen für den rechten Ansatz oder wenigstens für vertretbar erachtet, die Begehung des Vorsatzdeliktes (auch schon) im Sichbetrinken zu sehen. Den in actu schuldunfähigen Täter trotzdem nach herkömmlicher Maßgabe der actio-libera-Dogmatik zu bestrafen sei problematisch, im Sinne einer „teleologischen Reduktion" des § 20 StGB aber legitim57. N u r solle man sich nicht länger mit der „Beschwörungsformel" von der „a. 1. i. c." und mit der untauglichen Hilfe einer „Vorverlegungsdoktrin" vor dem Eingeständnis drükken, daß in Wahrheit eine echte Ausnahme von §20 StGB statuiert und praktiziert werde. Diese rechtfertige sich aus sachlichen und systematischen Gründen, nämlich als Angleichung an andere Schuldregeln. §17 StGB und vor allem §35 StGB ordneten ausdrücklich an, daß der Mangel an Einsicht oder Freiheit dann nicht entschuldige, wenn der Täter ihn selbst zu verantworten habe. De lege ferenda schlägt Hruschka vor, § 323 a StGB zu streichen und dem § 20 StGB einen zweiten Absatz zu geben, der der Verursachungsklausel des §35 12 StGB entspreche, aber besser sei als diese: „Der Täter wird nicht entschuldigt, wenn er für die krankheitsbedingte Unfähigkeit, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln, selbst verantwortlich ist. Die Strafe kann jedoch nach §49 Abs. 1 gemildert werden". Im Grunde richte man sich schon heute nach

56 JZ 1989, 316. Der Leser beachte, daß die Abwesenheit von Rechtfertigungslagen (die Rechtswidrigkeit) nicht als ersetzbares Merkmal genannt wird. 57 So neuestens wieder in JZ 1989, 312.

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dieser Regel, einerlei, ob die Lösung das Etikett „a. 1. i. c . " erhalte oder sich als Anwendung des § 3 2 3 a S t G B ausweise 58 .

2. Kritische Würdigung Die Problematisierung des Themas und die Vertiefung der Diskussion in neuerer Zeit sind niemandem mehr als Hruschka zu verdanken. Dennoch geht die Kritik derer, die ihm nicht folgen, meistens kaum über den etwas sterilen Hinweis hinaus, daß Hruschkas Ausnahmemodell mit Art. 103 II G G unvereinbar sei59. Ich will diesen Punkt im Folgenden ganz beiseite lassen und allein die innere Stimmigkeit sowie die Haltbarkeit der praktischen Resultate prüfen.

a) Problematische

Lösungen in Fällen der actio illicita in causa

Hruschka hat gewiß recht mit seiner Annahme, daß wir die actiolibera-Dogmatik zum großen Teil dem Fehlen der von ihm geforderten Ausnahmevorschrift verdanken. Der Drang, die „Begehung der T a t " i. S. d. § 20 S t G B früh einsetzen zu lassen, würde schwinden, wenn sein Vorschlag Eingang ins Gesetz fände. Aber das beweist nichts gegen die Richtigkeit der Deutung des geltenden Rechts. Im Falle der Änderung könnte man es sich eben erlauben, den Begehungsbegriff speziell in § 20 S t G B eng zu verstehen. Für andere Bestimmungen, etwa § 16 StGB, § 2 5 S t G B (mittelbare Täterschaft), § 3 4 S t G B (actio illicita in causa) bliebe man angewiesen auf die weite Deutung, die in manchen Fällen gar nicht als extensiv und problematisch empfunden, sondern unbewußt einfach praktiziert wird (der gedankenlos eingeworfene deliktische Brief) oder als evident gilt: Α hebt ein Kind, dem sein Ball auf ein fremdes Grundstück geflogen ist, über den hohen Zaun in der Absicht, den verhaßten Bullterrier des Grundstückseigentümers im Notstand zu erschießen; tatsächlich droht der Hund das Kind anzufallen, und Α kann es nur durch einen tödlichen Schuß retten. Für derartige Fälle des „in actu" rechtfertigenden Notstandes bestreitet Hruschka allerdings sogar im Ergebnis die sonst einhellige Lösung 60 ,

58 Diese sehr verkürzende Wiedergabe stützt sich vorrangig auf Strafrecht, wie Anm. 7, S. 37 ff, 191 ff. Ganz ähnlich Stratenwerth, wie Anm. 7, 1989, S. 495. 59 In diesem Zusammenhang wird meistens auch die von Hruschka früher betonte Möglichkeit gewohnheitsrechtlicher Legitimierung bestritten; vgl. statt vieler Roxin, wie Anm. 12, S. 309; Krause, Jura 1980, 172. Krause gibt Hruschka noch zu bedenken, sein Ausnahmemodell „dürfte konstruktive Schwierigkeiten bereiten" und es „dürfte auf einer zu engen Interpretation des strafrechtlichen Handlungsbegriffs beruhen". 60 Woraus sich übrigens erklärt, warum in der oben zitierten Frage als „verbrechenskonstitutives Merkmal" nicht auch die „Rechtswidrigkeit" auftaucht, der klassischen „actio illicita in causa" also nicht gedacht ist (s. o. Anm. 56).

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und diese Abweichung ist im höchsten Grade aufschlußreich. Hruschka würde behaupten, daß für Α „eine Ausnahme von der in § 2 2 8 B G B formulierten Regel . . . nicht gemacht werden" könne 61 , das Erschießen des Hundes also weder als Wirbeltiertötung ( § 1 7 TierSchG) noch als Sachzerstörung (§ 303 S t G B ) strafbar sei. Dem Protest des Rechtsgefühls und der h. L. („actio illicita in causa") setzt Hruschka das in der Tat auf den ersten Blick schlagende Argument der „Selbstaufhebung der Rechtsordnung" entgegen. Die „Vorverlegungsdoktrin" führe in die „Irrationalität", weil sie den Α belehre, daß sowohl das Erschießen wie dessen Unterlassung Unrecht sei und er, für welches Leben er sich auch entscheide, ein Delikt verwirkliche 62 . Wer schärfer hinblickt, erkennt aber die Argumentation als vordergründig und in der Prämisse anfechtbar. Hruschka wird hier zum Gefangenen seiner eigenen Festlegung, man könne dem Strafe fordernden Rechtsgefühl immer nur und allenfalls durch Zulassung einer Ausnahme von der jeweils strafhindernden Regel Genüge tun. Deshalb begnügt er sich mit dem Beweis, daß sich hier die Ausnahme verbiete 63 . Diesen Beweis zu führen konnte natürlich nicht schwerfallen. Es ist selbstverständlich, daß Α in der gegebenen Notlage den Hund zu erschießen nach § 2 2 8 B G B berechtigt, ja als Garant verpflichtet ist und daß dem jetzt auch keine Pflicht mehr gegenübersteht, den Hund zu schonen. Die Rechtsordnung statuiert also nicht zwei einander entgegengesetzte Pflichten, sondern befiehlt nach Eintritt des Notstandes ausschließlich die Tötung des Hundes. Freilich wird A nach h. Α., indem er so handelt, also durch Pflichterfüllung, strafbar ( § § 1 7 TierSchG, 303 StGB). Aber das ist nur scheinbar paradox. Es erklärt sich daraus, daß der Notstand die Begehung der Tötung des fremden Tieres nicht vollständig, nicht von Anfang an abdeckt. Α kann durch Pflichterfüllung nicht mehr die Strafbarkeit überhaupt, sondern nur noch die größere vermeiden. Das ist der Preis, den er für die vorsätzlich-unnötige Herbeiführung des Notstandes zahlen muß. Allein dieses Vorverhalten begründet das Unrecht und rechtfertigt die Strafe. Daß man dem Α sein Notstandsrecht nicht „ausnahmsweise" aberkennen darf und im isolierten Akt des Erschießens keinen tauglichen Anknüpfungspunkt für die Bestrafung finden kann, ist richtig, aber nicht entscheidend. Der strafrechtlichen Annahme einer actio illicita in causa entspricht zivilrechtlich § 2 2 8 B G B . Die Vorschrift gibt das Notstandsrecht in jedem Fall, berücksichtigt aber in Satz 2, daß „der Handelnde die Gefahr

61 62 63

Wie Anm.7, 1988, S.371. Wie Anm.7, 1988, S.358, 371. Wie Anm.61.

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verschuldet" haben kann, und stellt klar, daß er dann für den Schaden, den er im Notstand anrichtet, einstehen muß. Es ist unverständlich, warum Hruschka diesen Teil des Gesetzes unerwähnt läßt und sogar betont, in §228 B G B fehle eine dem §35 12 StGB entsprechende Klausel. Hruschka wird vielleicht alles zurückweisen und darauf beharren, es könne nicht sein, daß Α rechtlich verpflichtet sei, durch Tötung des Hundes Delikte zu begehen und sich strafl?ar zu machen. Μ. E. erledigt sich diese Erwiderung durch korrektere Formulierung: Α ist verpflichtet, bei selbstverschuldet-unausweichlich bevorstehender Deliktsvollendung das schwerere Delikt zu vermeiden. Sollte auch das nicht überzeugen, so wüßte ich nur noch zu antworten, der Fall beweise, daß eben doch sein könne, wovon Hruschka meint, daß es nicht sein könne. b) Surrogate und außerordentliche

Zurechnung

Was Hruschka in die Irre führt, ist also seine Selbstbindung an das Ausnahmemodell und sein auf die letzte Handlung fixierter Blick, der als das „Begehen" (vgl. §34 StGB) nichts anderes anzuerkennen vermag. Wo sich die Ausnahme von der Rechtfertigungsregel64 verbietet, weil der Täter zum Handeln sogar verpflichtet ist, kann Hruschka keine akzeptable Lösung mehr vorweisen. Man muß darum vermuten, daß in seiner Konzeption ein grundsätzlicher Fehler steckt, der auch noch die aus ihr hervorgehenden brauchbaren Lösungen angreifbar macht. Denn mag Hruschka nun die Ausnahme von der strafhindernden Regel ablehnen oder zulassen, als das mögliche Delikt hat er immer nur ein Tun im Blick, das nach der Wertung des Gesetzes dem Täter eigentlich nicht vorgeworfen werden darf. Wer ζ. B. vorsätzlich fremde Scheiben zerschlägt oder trotz Fahruntüchtigkeit sein Auto führt, weil er volltrunken und gänzlich enthemmt ist, der ist, während er zuschlägt oder im Auto sitzt, ebenso i. S. d. § 20 StGB „unfähig, das Unrecht der Tat einzusehen oder nach dieser Einsicht zu handeln", wie Α beim Totschießen des Hundes i. S. d. § 34 StGB „in einer gegenwärtigen Gefahr" für das Leben des Kindes handelte und deshalb mit dem isolierten Erschießungsakt „im Recht" war. Es ist also schon im Ansatz widersprüchlich und eine Mißachtung des Gesetzeswortlautes, das Tun, welches in diesem Not-

64 Diskutabel erscheint Hruschka eine solche Ausnahme in Fällen der „Verantwortlichkeit des Täters für seine Notwehrlage" (S. 371 ff), dies aber nur bei Fluchtmöglichkeit, weil sonst das Ergebnis „in sich widersinnig" wäre. „Widersinnig" fände Hruschka die Bestrafung also, wenn Α den geisteskranken Β auf den wehrlosen C hetzt und den Β dann, wie beabsichtigt, in Nothilfe totschießt. Wer unbefangen urteilen kann, weil ihm kein Lehrgebäude einzustürzen droht, wird den Widersinn wohl eher darin sehen, daß man auf diesem Wege Menschen zu Tode bringen können soll, ohne sich strafbar zu machen.

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stand oder Enthemmungszustand stattfindet, für sich allein als ein deliktisches in Betracht zu ziehen65. Hruschka tut es aber und läßt Behelfsbegründungen zu, indem er ein „Surrogat" an die Stelle der fehlenden Schuldfähigkeit setzt. Noch ein zweiter Terminus ist verräterisch: Hruschka sagt selbst, daß die von ihm hier befürwortete Zurechnung zur Schuld nicht „ordentlich" sei. Man könnte auch sagen, er fingiere die Schuldfähigkeit des Volltrunkenen, wenn dieser für seine Schuldunfähigkeit verantwortlich ist66. Uber die Strafbarkeit der rechtswidrigen Tatbestandserfüllung im Rausch entscheidet damit allein dieses Verantwortlichsein, während gesetzliche Grenzen keine Rolle mehr spielen. Das muß man beanstanden. Wenn der Täter durch sein Trinken nur fahrlässig verursacht, daß er später im schuldunfähigen Zustand vorsätzlich fremde Sachen zerstört, dann darf er nicht nach § 303 StGB bestraft werden. Und wenn wir den Begriff des „Führens" in §316 StGB so eng deuten, daß man ihn nur durch das eigenhändige Steuern (und nicht außerhalb des Autos durch Verursachung solchen Tuns) erfüllen kann, dann kann die Vorfeldverantwortlichkeit für das schuldlose Steuern die Anwendung des § 3 1 6 StGB nicht rechtfertigen. Wer wie Hruschka „Surrogate" zuläßt für „verbrechenskonstitutive Merkmale", die nicht erfüllt sind, bricht gleichsam einen Bann und ist im Prinzip nicht mehr gehindert, ζ. B. zu sagen, der Veranlasser der unvorsätzlichen Trunkenheitsfahrt eines anderen habe das Auto zwar nicht „geführt", aber dafür lasse sich das Surrogat einsetzen, daß er für das Tun des anderen verantwortlich sei. Der Verursacher des schlimmen Geschehens, den seine strafrechtliche Haftung interessiert, kann sie nicht mehr am Gesetz und durch dessen Interpretation erkennen, er muß vielmehr auf die

65 Auch gegenüber diesem Einwand wird Hruschka, wie Anm. 7, 1988, vielleicht seinen „Exkurs" auf S. 341 f als Replik heranziehen. Überzeugen kann seine Argumentation nicht. Nach dem Gesetz interessieren weder ein „Simultaneitätsprinzip", noch eine „außerordentliche Zurechnung", noch die Frage, ob man „Schuld" mit „Vorwerfbarkeit" gleichsetzen und dann ζ. B. sagen darf, dem Volltrunkenen sei sein Autofahren auch noch während des Fahrens „vorwerfbar". Es kommt vielmehr darauf an, ob in diesem Zeitraum die in §20 StGB negativ genannten Fähigkeiten gegeben waren. Auch Burkhardts „Legitimation des Ausnahmemodells", wie Anm. 3, S. 165 ff, 171, scheint mir daran zu kranken, daß der Autor kaum auf die wörtlichen Voraussetzungen der jeweiligen Schuldregeln (insbes. §20 StGB) achtet, sondern sogleich ausweicht auf ein Spielfeld unverbindlicher Begriffe des gelehrten Gesprächs. 66 Vgl. auch die „Surrogationstheorie" Kindhäusers, Gefährdung als Straftat, 1989, S. 120, und Stratenwerth, wie Anm. 7, 1989, der hypothetisch die „allgemeine Regel" formuliert, „daß der Täter (auch dann) wegen eines Vorsatzdelikts, das er im Zustand ausgeschlossener Schuld begeht, haftbar wäre, wenn er diesen Zustand in vermeidbarer Weise herbeigeführt hat und dabei zumindest voraussehen konnte, daß er in ihm möglicherweise ein solches Delikt begehen werde".

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Zurückhaltung und Gnade des Richters hoffen. Denn diesem ist mit der „außerordentlichen Zurechnung" ein Instrument in die Hand gegeben, strafhindernde Regeln ausnahmsweise außer Kraft zu setzen, und dem Gebrauch ist nur die eine und höchst unsichere Grenze gezogen, daß der Täter für das Eingreifen der strafhindernden Regel „verantwortlich" sein muß. Kann man dies sagen, so ist es dem von Hruschka belehrten Richter prinzipiell erlaubt, eine Ausnahme zu machen von der Regel, die die Zurechnung verbietet. Etwa in dem Fall, daß der Täter den begehrten Partner zunächst richtig als minderjährig einschätzt, dann aber leichtfertig der verneinenden Zusicherung vertraut und sich daraufhin homosexuell betätigt. Er wäre „verantwortlich" für das Fehlen des Vorsatzes bei der Tatausführung, und damit könnte der Richter die Zurechnung rechtfertigen, die eigentlich an §16 StGB scheitern müßte. Natürlich sucht Hruschka die Durchbrechung gesetzlicher Regeln, nachdem er sie prinzipiell zugelassen hat, auch wieder in Grenzen zu halten. Surrogat für den (fehlenden) Vorsatz sei „die obliegenheitswidrig nicht vermiedene, aber vermeidbare Unkenntnis von Umständen, die den Deliktstatbestand erfüllen" 67 . Doch diesem Surrogat gibt Hruschka den Namen „Fahrlässigkeit", um de lege lata die „außerordentliche Zurechnung" mit dem identifizieren zu können, was das geltende Recht nach Tatbeständen und Strafrahmen an Fabrlässigkeitshahung hergibt. Als verstehe sich das auch für ihn von selbst, soll die Beschränktheit dieser Haftung, die Hruschka in der Sache falsch findet, nur de lege ferenda behoben werden können, nämlich durch eine allgemeine Regelung analog §17 (S.2) S t G B : „Solange das Gesetz nicht entsprechend geändert wird, bleibt dem Gesetzesanwender nur übrig, den mit dem Gesetzgebungsfehler verbundenen emotionalen Streß eben auszuhalten" 68 . Das ist zweifellos ein weiser Verzicht auf ungesetzliche Bestrafungen. Doch muß sich der Leser fragen, warum man an die strafhindernde Regel der §§15, 16 StGB streng gebunden sein soll, wo von der des §20 StGB doch angeblich „Ausnahmen" gemacht werden dürfen, und warum das für den Vorsatz eintretende Surrogat die bei §20 StGB angenommene kompensierende Wirkung gerade nicht haben soll (denn eine Bestrafung, als ob der Täter bei Tatbegehung Vorsatz gehabt hätte, wird ja von Hruschka, indem er uns auf die Fahrlässigkeitshaftung festlegt, stillschweigend gesperrt). Daß der Richter, der Hruschka folgen will, dies mitmachen würde, obwohl es die Theorie nicht vorschreibt, ist zumindest fraglich. Er könnte unter Berufung auf die Zulässigkeit von

67 68

Wie A n m . 7 , 1988, S.327. Wie A n m . 7 , 1988, S.334.

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Surrogaten und außerordentlicher Zurechnung das Vorsatzdelikt z . B . bejahen, wenn die Verantwortlichkeit des Täters für seinen Vorsatzmangel auf grober oder bewußter Fahrlässigkeit beruht oder wenn der Täter - wie im Beispiel - sich eines ursprünglich vorhandenen Vorsatzes vorwerfbar entledigt hat.

c) Kritik an den gesetzlichen Vorbildern

Hruschkas

In ein zweifelhaftes Licht geraten nach allem auch die gesetzlichen Regelungen, die sich Hruschka zum Vorbild nimmt. Gewiß hat der Gesetzgeber, im Gegensatz zum Dogmatiker, die Macht, verbindlich Fiktionen zu schaffen und Surrogate zuzulassen. Auch spricht im speziellen Fall des § 35 S t G B einiges für die Sicht, daß das Bewußtsein des Täters, an seiner Notstandslage „selbst schuld" zu sein, die Widerstandskraft erhöht. Dennoch wirkt es unstimmig, daß ζ. B. der durch schwere Prügel zu einem Hausfriedensbruch Gezwungene wegen dieses Vorsatzdeliktes strafbar ist, auch wenn er sich nur fahrlässig in die Notstandslage gebracht hat. Und daß jemand, dem von Anfang bis Ende seiner Tatbegehung die Unrechtseinsicht gefehlt hat, gleichwohl als Vorsatztüter bestraft wird, wenn sein Irrtum vermeidbar war ( § 1 7 StGB), ist nichts weiter als ein Machtspruch des Gesetzgebers, der eine in sich widersprüchliche Regelung erzeugt hat. Denn der Sachgrund für die Entschuldigung des Irrenden liegt darin, daß er sich normativ nicht gehemmt fühlen kann, wenn er sein Tun für erlaubt hält. Daran ändert nicht das Geringste, daß dieser Irrtum wegen irgendwelcher Versäumnisse vorwerfbar ist. Es wäre also logisch, den Vorwurf auch nur auf das sorgfaltswidrige Versäumnis zu richten und die Strafbarkeit in den sich daraus ergebenden Grenzen zu halten. Daß dies auf die Forderung hinauslaufe, die alte Vorsatztheorie zu positivieren oder durch Streichung des § 17 S t G B wieder vertretbar zu machen, wäre ein MißVerständnis. Vielmehr soll es dabei bleiben, daß der nur das Unrecht seiner Tat Verkennende i. S. d. § 16 S t G B „vorsätzlich" handelt; z . B . Professor P, der nach endlich abgeschlossenem Habilitationsverfahren besten Gewissens den herzlichen Dank seines Assistenten in Gestalt einer Kiste Wein entgegennimmt (vgl. §331 I StGB). Es geht nur darum, die Verbotsverkennung und den daraus folgenden Mangel an Selbsthemmungsfähigkeit genau wie in den Fällen des § 20 S t G B insoweit als schuldausschließend zu berücksichtigen, wie er die Tatbegehung betrifft, und den Vorwurf auf ein Verhalten zu beziehen, das von dem Mangel nicht betroffen ist. In unserem Beispiel müßte demnach Strafe entfallen. Denn vor die Frage gestellt, ob er den Wein annehmen solle, aktualisierte sich für Ρ zwar die Sorgfaltspflicht oder „Obliegenheit" (Hruschka), einschlägige, seine berufliche Tätigkeit regulierende Verbote in Betracht zu ziehen und den Wein erst einmal

Straffreie Deliktsvorbereitung als „Begehung der Tat"

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zurückzuweisen, und das hat er vorwerfbar versäumt. Aber dabei handelt es sich um eine unbewußte Sorgfaltspflichtverletzung, die nur als Fahrlässigkeitsschuld erfaßt werden dürfte. Die Bestrafung der im Verbotsirrtum begangenen Tat als Vorsatzdelikt erscheint demnach nur dort sachgerecht, wo die Konstellation der sog. vorsätzlichen actio libera gegeben ist. Ein solcher Fall ist schwer vorstellbar, weil man es kaum mit Erfolg darauf anlegen kann, die Vermutung eines Verbotes oder gar dessen Kenntnis auszulöschen. Immerhin ist dies denkbar. Man kann auf die Uberzeugungskraft einer geschickt begründeten Verneinung des Verbotes spekulieren, sich eine Informationsquelle danach aussuchen und am Ende tatsächlich für korrekt halten, was man gern täte und anfangs für verboten gehalten hat. De lege lata sind solche sachangemessenen Differenzierungen allerdings nicht zu machen. §17 StGB nimmt sachwidrig schon die fahrlässige Verfehlung von Sorgfaltspflichten zum Anlaß, die ohne Unrechtseinsicht und Selbsthemmungsvermögen verübte Tat als vorsätzliches Delikt zu bestrafen. Genauso verunglückt ist die Regelung des § 35 II StGB. Der Täter soll wegen vorsätzlicher Tat bestraft werden, weil er aus Fahrlässigkeit eine Notstandslage angenommen hat, die ihm nach der "Wertung des Abs. 1 den Normgehorsam unzumutbar macht. Die Kritik ist also umzukehren. Hruschkas Ausnahmemodell ist orientiert an Bestimmungen, die nicht konsistent und Fremdkörper im System sind. Man sollte sie zu tilgen fordern und nicht zu Vorbildern erheben. Im Prinzip ist die herkömmliche Lehre auf dem rechten Weg, wenn man sie so versteht, daß sie sich um systemgerechte Vorschläge zur Deutung des Begriffes der Tatbegehung im spezifischen Sinn des jeweiligen Handlungsmerkmals bemüht. Dabei kommt dann etwa heraus, daß bei eigenhändigen Delikten wie §§175, 316 StGB die Frage nach dem Alter des Strichjungen (im Hinblick auf § 16 StGB) oder das Sichbetrinken vor der Autofahrt (im Hinblick auf §20 StGB) noch nicht zum „Begehen" der jeweiligen Tat gehören, daß andrerseits Α die Tat der Wirbeltiertötung, ex post betrachtet, schon „begeht" (§ 34 StGB), während er das Kind absichtsvoll über den Zaun hebt, und daß dieses anfängliche Begehen, weil noch außerhalb der Gefahrlage, nicht vom Rechtfertigungsgrund gedeckt ist. Aber die zwanglose und sachgerechte Bestimmung des so wichtigen Anfanges der Begehung kann erst gelingen, wenn man Spendel darin recht gibt, daß diesem Anfange der des Versuches nachfolgen und der Täter die Schwelle zum (strafbaren) Versuch auch unbewußt überschreiten kann. VII. Schlußbetrachtung Mir scheint diese Erkenntnis der Durchbruch im Bemühen der Wissenschaft um die actio libera in causa zu sein. Sie befreit uns vom Zwang

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Rolf Dietrich Herzberg

einer ad-hoc-Konstruktion, nämlich der Vorverlegung des Versuchs, ohne dafür die Mißachtung des Gesetzeswortlautes und die Inkaufnahme der versteckten Unstimmigkeiten des Ausnahmemodells zu fordern oder uns auf gesetzesgelöst-unsichere „Regeln eines fairen Verantwortungsdialogs als dogmatische Regeln zweiter Stufe" zu verweisen, wie Neumann69 es tut. Das Sichbetrinken ist zwar, während es stattfindet, obwohl schon sorgfaltswidrig und Überschreitung des erlaubten Risikos, noch kein Versuch, erweist sich aber ex post als Anfang der „Begehung" der versuchten oder vollendeten „Tat", nämlich dann, wenn der schuldunfähige Täter zur Tatbestandsverwirklichung „unmittelbar ansetzt" oder sie erreicht; bei diesem Anfang der Tatbegehung war der Täter noch schuldfähig, was uns, erwiesen durch die unstreitige Beurteilung anderer Fälle, zur Verneinung des § 20 StGB genügen muß. Was Spendel die entscheidende Einsicht verschafft hat, ist ein kleiner Schritt, der überaus schwerfällt. Er hat sich einem Vorurteil entzogen, das beiden Parteien als Prämisse und vermeintlich sicheres Fundament dient, die Zeitgleichheit von Begehungs- und Versuchsbeginn 70 . Hier dürfte auch der Grund liegen, warum andere mit Spendeis „groß angelegtem, zum Teil neuen Lösungsversuch" nichts Rechtes anzufangen wissen und warum selbst Hettinger ihn nicht deutlich wiedergibt, von einer Widerlegung gar nicht zu reden. Eigentlich müßte man alles, was „die Dogmatik" erarbeitet hat, bei eigenen Studien dem Zweifel aussetzen, auch die anerkannten Prämissen, wie es uns Lichtenberg anrät mit seinem Aphorismus, daß „die gemeinsten Meinungen und was jedermann für ausgemacht hält, oft am meisten untersucht zu werden" verdienen71. Aber dies zu versäumen und vom scheinbar Gesicherten auszugehen ist in der Rechtswissenschaft verbreitet und üblich. Für Günter Spendel und seine kritische Originalität ist es dagegen kennzeichnend, daß er im Feld unseres Themas den herkömmlichen Lösungen, die Hettinger seinerseits kühn und eindringlich bestreitet, eine ganz neue Begründung gibt. Zu ihrer Durchsetzung einen kleinen Beitrag zu leisten ist diese Studie bestimmt, die ich dem Jubilar dankbar und in herzlicher Verbundenheit widme.

" Wie A n m . 7 , S. 269 ff. 70 Natürlich ist es dies nicht allein, was die Stärke der Konzeption ausmacht. Hervorheben möchte ich ferner zweierlei: Zum einen die sehr erhellende Unterscheidung, daß erst ex post als Tatbegehung erkennbar wird, was sich ex ante als bloße Tatvorbereitung darstellt. Zum anderen die Ausgewogenheit im Verständnis der Tatbegehung, die Spendel als einen vom Sichbetrinken bis zum Erfolg verlaufenden Prozeß auffaßt; das vermeidet die Fehler, die bei Uberbetonung des anfänglichen Verhaltens (Jakobs) oder der Endhandlung (Hruschka, Hettinger) drohen. 71 Ζ. B. die Meinung, daß die Abgrenzung von Vorsatz und bewußter Fahrlässigkeit ein Problem des subjektiven Tatbestandes sei.

Der sog. dolus generalis: Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf"? M I C H A E L HETTINGER

„Ich bin Lehrer des Strafrechts und als solcher will ich und darf ich nichts Anderes lehren als eben Strafrecht. Mögen die Dilettanten und die juristischen Apostaten die Rolle dieses Rechtsteiles und derer, die sich ihm widmen, auf das bescheidenste Mass zurückführen wollen: das Verbrechen und der Verbrecher - Beide sind leider unsterblich, und eine Ahndung des Verbrechens wird es geben, so lange die Welt steht! - Das Verbrechen zu lehren samt seiner Rechtsfolgen wird also stets eine große, scharf geschlossene Aufgabe der Rechtswissenschaft bleiben. Gerade dieser Lehre habe ich mein Leben gewidmet, und meine Zuhörer etwas Anderes zu lehren, als ich weiss und sie gerade an dieser Stelle lernen sollen, hielte ich das Eine für eine Charlatanerie und das Andere für eine Gewissenlosigkeit ihnen gegenüber"1. Diese Sätze Bindings treffen auf Günter Spendeis Haltung und sein Wirken an der Alma Julia, wie ich als einer seiner Hörer bezeugen kann, in schöner Weise zu. Wir Studierenden erlebten ihn als einen Lehrer von hohen Graden, klar im Ausdruck, engagiert in der Sache und eindeutig in den Ergebnissen. Der folgende, ihm gewidmete Beitrag erörtert - den besonderen Neigungen des Jubilars entsprechend - eine Frage aus dem Bereich der Dogmatik des Allgemeinen Teils. Zwar wird der Begründungsansatz nicht seine „ungeteilte Zustimmung" finden, doch weiß sich der Verfasser mit Günter Spendet darin einig, daß „die wissenschaftliche . . . Einsicht gerade durch den Kampf der Meinungen vorangetrieben und die eigene Überlegung durch die gegnerische Aussage geweckt"2 wird. I. Jeder Student kennt die Problemstellung des „Jauchegrubenfalls". Ihm liegt eine schon angesichts ihrer Lakonik bemerkenswerte Entscheidung des BGH aus dem Jahre 1960 zugrunde. Der Fall ereignete sich im 1 2

Binding, Spendel,

Grundriss des Deutschen Strafrechts, AT, 8.Aufl. 1913, S.V. Bockelmann-FS, 1979, S.246.

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Michael Hettinger

Oldenburgischen. Eine Frau, nennen wir sie A, hatte im Verlauf eines Streits einer anderen Frau, der B, Sand in den Mund gestopft, „um sie am Schreien zu hindern", hierbei aber auch deren Tod in Kauf genommen. Α hatte die „schließlich regungslos" daliegende Β „für tot gehalten und deshalb" (?) in eine Jauchegrube geworfen, wo die Β sodann ertrank. Das Schwurgericht hatte vollendeten Totschlag bejaht und dies u. a. damit begründet, „es liege ,ein die ganze Tat durchziehender Generaldolus' vor; der bedingte Tötungsvorsatz der Angeklagten habe ihr gesamtes Vorgehen beherrscht, ,beginnend mit der Verhinderung des Schreiens der Gewürgten und endend mit der Versenkung ihres Opfers in die Jauchegrube'" 3 . Der B G H stellte zunächst klar, daß der ursprünglich vorhandene Tötungsvorsatz der Α durch ihre Überzeugung, Β sei tot, „erledigt" war. Sodann fuhr er fort: „Daran kann der unklare und rechtsgeschichtlich überholte Begriff eines ,Generalvorsatzes' nichts ändern. Es geht nicht an, mit seiner Hilfe den ursprünglichen Tötungsvorsatz auf spätere Handlungen auszudehnen, bei denen er tatsächlich nicht mehr bestand" 4 . Damit kam der B G H - nebenbei bemerkt - einer Forderung nach, die schon lange, markant formuliert beispielsweise im Jahre 1865, erhoben worden war, nämlich „den dolus generalis ruhig neben den dolus subsequens, den dolus indirectus und die praesumtio doli in das kriminalistische Antiquitäten-Kabinet (zu) stellen" 5 . Auf der Grundlage des heutigen § 16 StGB ist diese Würdigung der Tatsachen nicht zu bezweifeln. Auch dem 1960 geltenden § 5 9 StGB a. F. war nichts anderes zu entnehmen: Voraussetzung der vorsätzlichen Begehung eines Totschlags war auch nach der alten Irrtumsregelung die „Kenntnis" des Vorhandenseins aller Tatumstände. Eine solche lag im Zeitpunkt des Versenkens der vermeintlichen Leiche in der Jauchegrube nicht (mehr) vor 6 . Vorsatzpräsumtionen oder -fiktionen, die Beweis-

3 So die Darstellung in BGHSt. 14, 193. - Die verschiedentlich, insbes. früher, ebenfalls unter dem Stichwort „dolus generalis" abgehandelte Problematik des aus Sicht des Täters „verfrühten Erfolgseintritts" (vorzeitige Vollendung) bleibt im folgenden außer Betracht. 4 B G H S t . 14, 193 unter Hinw. auf H.Mayer, J Z 1956, 109. Zu den historisch unterschiedlichen Bedeutungen des Begriffs „dolus generalis" vgl. die Nachweise bei Hettinger, G A 1990, 550 f; ferner eingehend Klaus Reuter, Der sogenannte dolus generalis, Diss. Göttingen 1949 (Mschr.), S. 1 ff. 5 So Geyer, G A 13 (1865), 243, Hervorhebung dort. Zur älteren Lit. pro et contra vgl. die Nachw. bei Hemmen, Uber den Begriff, die Arten und den Beweis des Dolus. Nach der strafrechtlichen Literatur von Feuerbach bis zum R S t G B , Breslau 1909, S. 66 ff, sowie in den folgenden Fn. 6 Ebenso etwa R. Frank, Das StGB für das Deutsche Reich, 18. Aufl. 1931, S. 197 f u n d Mezger, Strafrecht, Ein LB, 2. Aufl. 1933, S . 3 1 4 f , jeweils m . w . N .

Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf" ?

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Schwierigkeiten abhelfen 7 oder die Gesinnung des Täters f ü r „das Ganze" nehmen wollen, sind dem StGB mit seinem Tatschuldprinzip fremd. W i r empfinden sie heute als atavistisch. U n d doch hat gerade WelzeP, der Protagonist einer personalen Handlungs- und Unrechtslehre, noch 1969 eine Konstruktion propagiert, die zum gleichen Ergebnis führen kann wie die alte, 1825 von Heinrich Benedikt von Weber9 näher begründete Lehre v o m dolus generalis. „Erledigt" ist die Würdigung einer solchen Tat als vollendeter Totschlag aber auch nach derzeit h. M. nicht. Denn der B G H hat in seiner Entscheidung zwar die „Zurechnungsfigur" des dolus generalis v e r w o r fen, den Schuldspruch des Tatgerichts aber bestätigt. Seine Begründung hierfür wirkt denkbar einfach: Als die Α der Β den Sand in den Mund stopfte, handelte sie mit bedingtem Tötungsvorsatz. Diese vorsätzliche Handlung verursachte „den Tod zwar nicht unmittelbar, aber mittel-

7 Zu diesem Aspekt Walther, Kritische Vierteljahrsschrift (= Krit. V) 6 (1864), 232. S. auch den „Fall Tarnow", in: Kleins Annalen der Gesetzgebung und Rechtsgelehrsamkeit in den Preuß. Staaten 16 (1798), 1 ff, den „Fall Kiessling" in ArchCrimR 1 (1798), 142 ff sowie den bei Heuser, Bemerkenswerte Entscheidungen des Criminal-Senates des Oberappellations-Gerichts Cassel, I. Bd. (1845), 357 mitgeteilten Fall. Ferner den „Fall Kleina" in Mannkopfs Jahrbücher, I.Bd. (1840), 243 ff; zu den Fällen „Tarnow" und „Kleina" vgl. ausführlich Berner, Grundlinien der criminalistischen Imputationslehre, Berlin 1843, S. 194 ff, 200 ff. 8 Das Deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 74 mit Hinw. auf die materialreiche Arbeit von Klaus Reuter (o. Fn. 4). 9 NArchCrimR 7 (1825), 549, 565, 576 ff unter zust. Hinw. auf Art. 164 des Entwurfs eines StGB für das Königreich Sachsen von 1824 (Stübel); s. auch Oersted, Ueber die Grundregeln der Strafgesetzgebung, Kopenhagen 1818, S. 242 ff. Eine Regelung des dolus generalis sahen vor Art. 56 StGB für das Königreich Württemberg vom 1. März 1839 und §99 des StGB für das Großherzogtum Baden vom 21. April 1845, beide abgedruckt bei Stenglein, Sammlung der dt. Strafgesetzbücher, München 1858, Bd. 1, Nr. IV und Bd. 2, Nr. VIII. Initiiert und verteidigt wurde die „strengere" badische Regelung von Welcker, 2. Commissions-Bericht, Verhandlungen der badischen Ständeversammlung 1839/40, Prot, der II. Kammer, 7. Beilageheft, Carlsruhe 1840, S. 66 ff. Vgl. auch den 1. CommissionsBericht von W o l f f , Prot, der I.Kammer, 1.Beilageheft, Carlsruhe 1841, S. 188ff. - Wolff sieht wohl, „daß es den Regeln einer gesunden Logik widersprechen würde, wenn angenommen werden wollte, daß der vermeintlich vollbrachte Mord und die fahrlässige Tödtung zusammen genommen einen wirklich vollbrachten Mord ausmachen. Aus der Zusammenstellung von Heterogenitäten kann allerdings keine Homogenität entstehen. Allein die Gesetzgebung hat andere Rücksichten eintreten zu lassen, als die Logik" (aaO, S. 190, Hervorhebungen dort). Zu diesen zählt er sodann „das Prinzip der Gerechtigkeit" und „das Rechtsgefühl". Zur endgültigen Fassung der badischen Regelung vgl. Prot, der I. Kammer, Bd. 1 (20. Sitzung), S. 171 ff. Krit. zu den gesetzlichen Regelungen Mittermaier, ArchCrimR 1841, 24 ff, 29 ff; Puchelt, StGB für das Großherzogthum Baden, Mannheim 1868, S. 103. Über die Württemberg. Verhandlungen s. Hepp, Commentar über das neue württemb. Straf-Gesetzbuch, l.Bd., Tübingen 1839, S. 458 ff und v. Hufnagel, Commentar über das StGB für das Königreich Württemberg, l.Bd., Stuttgart 1840, S. 105ff. Zu älteren Ansätzen s. noch Reuter (o. Fn. 4), S. 2 ff.

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bar" 1 0 . Denn ohne sie wäre es zu der weiteren Handlung des Versenkens nicht gekommen". Daher ist auch die erste Handlung „Ursache des Todes. Die Angeklagte hat ihn also mit bedingtem Vorsatz herbeigeführt. Er ist zwar auf eine andere Weise eingetreten, als die Angeklagte es für möglich gehalten hatte. Diese Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Ursachenablauf ist aber nur gering und rechtlich ohne Bedeutung" 1 2 . G r o b gesagt beruht diese Argumentation auf folgenden Prämissen: Als tatbestandsmäßig kommt jede erfolgsursächliche Handlung in Betracht. Liegen mehrere in diesem Sinn ursächliche Handlungen vor, so sind sie äquivalent. In diesem Fall und deshalb darf das Zurechnungsurteil schon an die erste geknüpft werden, bei der Vorsatz vorhanden war. Bei Abweichungen des tatsächlichen vom vorgestellten Verlauf entscheiden Adäquanz und Gleichwertigkeit über die Zurechnung des Erfolges. So einfach ist das! Ist das wirklich so einfach?

II. Wenden wir für einen Moment unseren Blick in die sechziger Jahre des 19. Jahrhunderts zurück auf zwei Stellungnahmen zur „Erneuerung des Streits über den dolus generalis"". Friedrich Walther leitete 1863 einen Beitrag zu diesem Thema mit folgenden Worten ein: „Zu den Controversen, die ein ganz besonders zähes Leben besitzen, gehört auch die über den sog. dolus generalis. Man glaubte, dieser dolus sey auch in der ihm zuletzt von Weber verliehenen Gestalt durch den namentlich von Mittermaier, Berner und Hälschner geführten Vernichtungskampf für alle Zeiten beseitiget und ruhe nun in fest verschlossenem Grabe, um nie wieder aufzuleben. Es war dies eine Täuschung; fast zu gleicher Zeit von drei Seiten ist er aus seiner Grabesruhe geweckt worden" 1 3 . Und ganz ähnlich eröffnete August Geyer 1865 seine Abhandlung „Zur Lehre

BGHSt. 14, 194. Wohl nicht zufällig spricht der BGH hinsichtlich der zweiten Handlung nur von einem „Vorgang". Vgl. auch H. Mayer, Strafrecht, AT, 1967, S. 120: Man dürfe „nicht den Vorsatz als dolus generalis auch auf die unbewußte Tat erstrecken. Sie ist die bloße unbewußte Wirkung des vorsätzlichen Handelns". Hruschka, JuS 1982, 320, merkt an, die Konstruktion des BGH stelle „im Grunde nur eine neue Variante dieser Lehre" dar. 12 BGHSt. 14, 194. Zu dieser Argumentation s. noch Η .Mayer, JZ 1956, 109ff. Zur „parallelen" Problematik der Rechtsprechung im Zusammenhang mit dem ungewollten Wegfall der Schuldfähigkeit s. Hettinger, Die „actio libera in causa": Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit?, 1988, S. 199 ff und passim. 13 Walther, KritV 5 (1863), 231, Hervorhebung dort. Eine ausführliche Kritik dieser Figur findet sich u. a. bei Breidenbach, Commentar über das Großherzoglich Hessische StGB, 1. Bd., 2. Abth., Darmstadt 1844, S. 64 ff. 10 11

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vom dolus generalis und vom Kausalzusammenhang" 14 : „Als ich vor fast drei Jahren in meinen ,Erörterungen über den allgemeinen Thatbestand der Verbrechen' mich gegen die Annahme eines dolus generalis erklärte, schien es mir, als beschäftigte ich mich dabei mit einer Kontroverse, welche in der nächsten Zeit schon nur ein dogmengeschichtliches Interesse in Anspruch nehmen würde. Die Erkenntniß, daß der angebliche dolus generalis ein unhaltbares Gebilde der Theorie sei, und in der Wirklichkeit weder jemals existirt habe, noch existiren könne, schien auf dem sicheren Wege zur Alleinherrschaft fortzuschreiten. In Wahrheit verhielt sich die Sache anders". Ginge es nur darum, in einschlägigen Konstellationen, etwa der des Jauchegrubenfalles, die juristische Annahme eines einheitlichen, beide Handlungen beherrschenden dolus zu widerlegen 15 , so dokumentierten die zitierten Beiträge nur den Lesefleiß des Verfassers dieses Beitrags, trügen aber zur Lösung der Sachfrage nichts bei. So verhält es sich jedoch nicht. Sowohl Walther als auch Geyer16 wenden sich nämlich nicht nur gegen die Figur des vom BGH zu Recht so lapidar als erledigt bezeichneten dolus generalis; ihre Kritik richtet sich vielmehr auch und insbesondere gegen die Grundlagen der Konstruktion, die dem BGH so fraglos richtig erscheint, daß er ihrer Begründung nur wenige Zeilen widmet' 7 . Dieser Begründung und ihren schon erwähnten Prämissen soll zunächst das Augenmerk gelten.

III. Verallgemeinert lautet der Leitsatz dann so: Wer mit Tötungsvorsatz eine auf Tötung gerichtete Handlung vorgenommen hat, wird auch dann wegen vollendeter Tat bestraft, wenn zwar nicht diese vorsätzliche Handlung selbst den Tod „unmittelbar" verursacht, aber zu einer weiteren - nunmehr vorsatzlosen - Handlung des Täters geführt hat, die ihrerseits nun den Erfolg herbeiführt. Den Einwand, daß diese zweite Handlung aus der Sicht des Täters keinen Tötungssinn mehr aufweist, bezogen auf den §212 StGB also als ohne Vorsatz vorgenommen anzusehen ist, „erledigt" der B G H wie folgt: „Zu diesem Vorgange, der

GA 13 (1865), 239, Hervorhebung dort. Vgl. - in anderem Zusammenhang - neuerdings aber auch die bedenkliche Entscheidung BGH, NJW 1990, 2896. 16 Die Reihe pro et contra ließe sich mühelos fortsetzen; vgl. die Nachw. bei Hemmen (o. Fn. 5) und Reuter (o. Fn. 4). 17 Noch knapper fällt die Begr. des RG aus in DRiZ 1932, 230 Nr. 285; s. auch RGSt.67, 258 und hierzu Sax, JZ 1975, 140 Fn.35. 14

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den Tod unmittelbar bewirkte, wäre es ohne die früheren Handlungen 18 , die die Angeklagte mit bedingtem Tötungsvorsatz ausgeführt hatte, nicht gekommen" 19 . Insofern liege eine Abweichung des wirklichen vom vorgestellten Kausalverlauf vor, die aber eben nur gering und rechtlich ohne Bedeutung sei. 1. Der B G H sieht in der Sachgestaltung des sog. dolus generalis mithin einen SonderiaW des Irrtums über den Kausalverlauf. Er behandelt ihn nach den von der Rechtsprechung hierzu entwickelten Regeln. Das Besondere an der vorliegenden Konstellation ist freilich, daß der Irrtum sich hier nicht lediglich auf die „Wirkweise" einer Handlung und die „Art" des Erfolgseintritts bezieht, sondern zu einer weiteren Handlung des Täters führt, die ihrerseits erst „unmittelbar" den Tod verursacht. Die Gleichbehandlung beruht demzufolge auf mehreren Annahmen: Zum einen der, daß die Rechtsprechung zur Behandlung des Irrtums über den Kausalverlauf zutrifft. Sodann der weiteren, daß es zulässig ist, die zweite Handlung wie einen zum Täterverhalten hinzutretenden naturgesetzlichen Verlauf zu behandeln, ihre „Handlungsqualität" also zu übergehen. Ferner - damit zusammenhängend - der These, daß es zulässig ist, bei mehreren aufeinanderfolgenden Handlungen des Täters an die dem Erfolg ferner stehende Ersthandlung anzuknüpfen und allein auf ihr das Zurechnungsurteil aufzubauen. Grundlage der Deduktion ist die Äquivalenz der Bedingungen: Weil die Α bei der Ersthandlung Tötungsvorsatz hatte, weil auch diese Handlung den Tod mzfverursacht hat und weil alle Umstände, die Bedingungscharakter i. S. der Condiciosine-qua-non-Lehre aufweisen, als gleichwertig behandelt werden, handelt es sich „lediglich" um eine Abweichungsfrage, die nach den Regeln des Irrtums über den Kausalverlauf beantwortet werden kann 20 . 2. Daß hinter diesem simpel erscheinenden Ansatz ein ganzes Bündel höchst problematischer, auch normtheoretisch nicht zweifelsfreier Grundannahmen steht, kann hier nur angedeutet werden. Insoweit mag der Hinweis ausreichen, daß einen Pfeiler dieser Konstruktion der sog. 18 Im Jauchegrubenfall hatte die Α der Β mit zwei Handgriffen Sand in den Mund gestopft; jedoch lagen insoweit die Voraussetzungen einer sog. „natürlichen Handlungseinheit" vor; zu dieser Figur zusf. Warda, Oehler-FS, 1985, S.241 ff. " BGHSt. 14, 194. 20 Roxin, Würtenberger-FS, 1977, S. 115 f, sieht hierin logisch „eine vollkommen einwandfreie Konstruktion" und tut den Täter der Zweithandlung als einen „blinden Kausalfaktor" ab, begründet diese Bewertung aber nicht näher. Wie der BGH Dreher/ Tröndle, StGB, 45. Aufl. 1991, §16 Rdn.7; Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, §15 R d n . l l ; Baumann/Weber, Strafrecht, AT, 9. Aufl. 1985, S.394f mit Fn.25 („Weiterwirken" des Vorsatzes); i. w. auch Schmidhäuser, Strafrecht, AT, StuB, 2. Aufl. 1984, 5/78. S. ferner S/ S-Cramer, StGB, 23. Aufl. 1988, §15 Rdn.58 und SK-StGB-Rudolphi (6/1989), §16 Rdn.35, 35 a.

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„kausale Handlungsbegriff" bildet, nach dem jedes gewillkürte „erfolgsursächliche" Handeln den Erfordernissen der (objektiven) Straftatbestände genügt 21 . Die h. L. hat mit diesem Modell seit langem gebrochen 22 . Hatte sich die dogmatische Kritik zunächst vornehmlich gegen die Rigidität der Erfolgszurechnung im objektiven Tatbestand gerichtet, was zur Ausbildung der Lehre von der objektiven Zurechnung geführt hatte 23 , so kam später die Wiederentdeckung der Erkenntnis hinzu, daß das tatbestandliche Unrecht sich nicht im bloßen Kausieren eines Erfolgs durch den Täter erschöpfen kann, sondern als „sein" persönliches Unrechttun begriffen werden muß 2 4 : Vorsätzliches und fahrlässiges Unrecht sind schon nach der Intention des Täters zu unterscheiden. Die Normen sind zwar Bewertungsnormen, aber nur insofern, als sie sich auf Verhaltensweisen von Menschen beziehen, die sie zu richtigem Verhalten „bestimmen", d . h . anweisen sollen. Strafrechtlich relevant ist ein menschliches Verhalten jedoch nicht schon deshalb, weil es ein äußeres, für sich genommen unerwünschtes Ereignis produziert, sondern nur insoweit, als es einem als Bewertungs- und Bestimmungsnorm zu interpretierenden Straftatbestand zuwiderläuft 25 . Das aber läßt sich nur entscheiden, wenn man die Intention des Täters schon in die Bewertung des objektiv Bewirkten mit einbezieht 26 .

IV. 1. Die h. L. 27 glaubt nun, auch auf dieser Basis zum gleichen Ergebnis wie der B G H kommen zu können. So meint Jescheck28, „daß es auf den ersten vorsätzlich begangenen Akt ankommt und daß die Abweichung

21 Hierzu Jakobs, Strafrecht, AT, 2. Aufl. 1991, 6/6 ff; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT, Teilband 1, 7. Aufl. 1987, § 16 Rdn. 1 ff, 28 ff; Welzel (o. Fn. 8), S. 38 ff; Baumann/Weber (o. Fn.20), S. 191 ff. 22 Wie sich im folgenden zeigen wird, jedoch (noch) nicht vollständig. 23 W. Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolgs, 1988, S. 10 ff u.ö.; Hettinger, JuS 1991, L 9 ff; Küpper, Grenzen der normativierenden Strafrechtsdogmatik, 1990, S. 83 ff; H . J . Hirsch, FS der Rechtswissenschaftlichen Fakultät zur 600-JahrFeier der Universität zu Köln, 1989, S. 407 ff. 2 " SK-StGB-Rudolphi (11/1990), Vor. §1 Rdn. 17ff, 52ff; S/S-Lenckner (o. Fn.20), Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 25 ff, 48 ff; Jescheck, L B des Strafrechts, AT, 4. Aufl. 1988, §§ 23, 24 III. 25 Hierzu Gallas, Bockelmann-FS, 1979, S. 155ff; H . J . Hirsch, ZStW 94 (1982), 239, 240ff; S/S-Lenckner (o. Fn.20), Vorbem. §§ 13ff Rdn.49, 52ff; Maurach/Zipf (o. Fn.21), § 17 Rdn. 1 ff; Koriath, Kausalität, Bedingungstheorie und psychische Kausalität, 1988, S. 126 ff. 26 S/S-Lenckner (o. Fn. 20), Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 54, 55; Jescheck (o. Fn. 24), § 24 III 4-6. 2 7 Überblick bei Roxin, Würtenberger-FS, 1977, S. 110ff; ferner die Nachw. in Fn.20. 28 O. Fn. 24, § 2 9 V 6 b, S.282, Hervorhebung dort.

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im Kausalverlauf unwesentlich ist, da Fälle, in denen sich der Täter selbst unbewußt zum Werkzeug der Vollendung seiner Tat macht, durchaus im Rahmen der objektiven Zurechnung liegen und keinerlei abweichende Bewertung zu seinen Gunsten erfordern". Auch Wessels29 betont, daß den „entscheidenden" Anknüpfungspunkt die mit Tötungsvorsatz begangene Ersthandlung bilde. Halte sich der Erfolgseintritt in den Grenzen des Voraussehbaren und stelle er auch im Hinblick auf den Verwirklichungswillen des Täters kein „inadäquates" Ereignis dar, so sei die Abweichung als eine unwesentliche anzusehen. Cramer30 führt aus, „daß es sich um ein Problem der Abirrung handelt: ob nämlich ein Dritter die vermeintliche Leiche ins Wasser wirft oder ob dies der Täter selbst tut, kann schließlich keinen Unterschied machen". Innerhalb dieser Meinungsgruppe ist jedoch umstritten, ob dann etwas anderes gilt, wenn der Täter sich erst nach vermeintlicher Erfolgsbewirkung zur Zweithandlung entschließt. Das wird von einem Teil der Anhänger dieser sog. „Vollendungslösung" bejaht 31 ; und zwar i. w. deshalb, weil der spätere Entschluß im Zeitpunkt der Ersthandlung regelmäßig „kaum schon allgemein vorhersehbar" 32 sei. In anderer Richtung will Roxin den von ihm grundsätzlich geteilten Ansatz der h. M. beschränken. Er meint, Erfolgszurechnung komme nur dann in Betracht, wenn „der Täter bei der Ersthandlung die Absicht hatte, sein Opfer zu töten" 33 . Ein Erfolg sei nur dann vorsätzlich herbeigeführt, „wenn sich in ihm der Plan des Täters verwirklicht" 34 . Damit steht Roxin, wie er selbst hervorhebt 35 , der alten Lehre vom dolus generalis Weberschtr Prägung nicht allzu fern. 2. Dieser eindrucksvollen Phalanx von Vertretern einer Vollendungslösung steht eine ebenso traditionsreiche Ansicht gegenüber, die in Konstellationen von der Art des Jauchegrubenfalls eine sog. „Versuchslösung" vertritt. Sie stimmt der h. M. nur für den - unstreitigen - Fall zu, 29 Strafrecht, AT, 21. Aufl. 1991, § 7 IV 3, S. 79; vgl. ferner Dreher/Tröndle (o. Fn. 20), § 16 Rdn. 7: „da der Gesamtablauf adäquat verläuft". 30 S/S-Cramer (ο. Fn.20), §15 Rdn. 58. 31 Vgl. etwa SK-StGB-Rudolphi, §16 Rdn. 35, 35 a m . w . N . ; krit. Roxin, Würtenberger-FS, 1977, S. 118. 32 So Stratenwerth, Strafrecht, AT I, 3. Aufl. 1981, Rdn. 282. - Auf das der Ersthandlung innewohnende Erfolgsrisiko abstellend AK-StGR-Zielinski, 1990, §§15, 16 Rdn. 62, nach dem es freilich genügen soll, wenn die zweite Handlung der ersten „typischerweise (erfahrungsgemäß)" nachfolgt; s. ferner Jakobs (o. Fn. 21), 8/77 ff. 33 Würtenberger-FS, 1977, S. 120, Hervorhebung dort. Krit. Jakobs (o. Fn.21), 8/ Fn. 158. 34 Roxin, wie Fn. 33. Zum Kriterium der „Planverwirklichung" vgl. Prittwitz, GA 1983, 114 ff. 35 Roxin, wie Fn.33, S. 127.

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daß der Täter bei der Zweithandlung (dem Versenken) mit zumindest bedingtem Tötungsvorsatz gehandelt hat. Geht der Täter jedoch - wie im Jauchegrubenfall - bei seiner zweiten Handlung davon aus, daß die Tat bereits vollendet ist, so soll ein versuchter Totschlag, eventuell in Tatmehrheit mit einer fahrlässigen Tötung, gegeben sein36. Eine Begründung dieses Standpunkts in intensiver Auseinandersetzung mit den Argumenten der h. M. hat in neuerer Zeit Maiwald37 unternommen. Er kommt zu dem Ergebnis, daß (auch) der Adäquanzgedanke, dessen sich die h. M. heute bedient, noch nicht das Handwerkszeug zur Bewältigung der Problematik des dolus generalis bietet38. Zurückzugreifen sei vielmehr auf den „Grundgedanken der Zurechnungslehre überhaupt" 39 . „Zurechnungssubjekt ist der Mensch, wenn und soweit er verantwortlich handelt... Wann immer sich aber der Mensch entscheidet, ist er Zurechnungssubjekt. Die Frage der Zurechnung ist damit punktuell immer von neuem zu stellen. Erweist sich im konkreten Fall, daß eine bestimmte Gestaltung der Außenwelt Ergebnis verantwortlichen Handelns i s t . . . , so kann nicht ein Abschnitt davon bei der rechtlichen Beurteilung außer Betracht gelassen werden, weil ein vorangegangener Abschnitt gleichsam schon ein genügendes Maß an Schuld hat zutage treten lassen. Zurechnungssubjekt ist der Mensch, soweit er überhaupt verantwortlich handelt, überall und stets"40. Für die Fallgestaltung des dolus generalis folgert Maiwald hieraus: Da der Täter hier fortlaufend neue freie Willensentscheidungen treffe, sei „auch der eingetretene Erfolg auf seine Rückbeziehbarkeit auf jeden einzelnen der Willensakte . . . zu betrachten. Dabei ergibt sich aber, daß die auf dem ersten, dem Angriffs-Entschluß beruhende finale Uberdetermination des Geschehens zur Herbeiführung des tatsächlich eingetretenen Erfolges nicht ausgereicht hat. Dieser Erfolg ist vielmehr das Ergebnis eines Irrtums, einer ihrer Finalität nach rechtlich neutralen weiteren Sollensentscheidung.. ."41.

36 A u s neuester Zeit Maurach/Zipf (o. Fn. 21), § 2 3 Rdn. 35 m. w . N . ; ferner Hruschka, Strafrecht, 2. A u f l . 1988, S. 25 f f ; Kratzsch, Verhaltenssteuerung und Organisation im Strafrecht, 1985, S . 3 1 4 f ; Frisch (o. F n . 2 3 ) , S. 4 6 1 f f , 6 2 0 ff. Weitere N a c h w . bei Jakobs (o. Fn. 21), 8/Fn. 158 und Reuter (o. F n . 4 ) , S. 3 7 f f , 68 f, 73.

Z S t W 78 (1966), 3 0 f f m. vielen N a c h w . zur „Dogmengeschichte". Z S t W 78 (1966), 38 ff, 54. 39 Z S t W 78 (1966), 54. Küper, D e r „verschuldete" rechtfertigende Notstand, 1 9 8 3 , S. 59 Fn. 186, meint, Maiwalds Auffassung widerspreche „allgemeinen Zurechnungsprinzipien". 40 Z S t W 78 (1966), 54; i. E. ebenso Constadinidis, Die „actio illicita in causa", 1982, S. 6 9 f f , 7 1 , Hervorhebungen d o r t : „ . A n k n ü p f u n g s p u n k t f ü r die strafrechtliche Haftung ist das Ende des verantwortlichen Täterverhaltens". 37 38

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Z S t W 78 (1966), 55, Hervorhebung dort.

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Geyer hatte 1865 seinen Maiwalds Überlegungen ähnlichen Gedankengang so zusammengefaßt: „Der Mensch haftet nur dann als doloser Urheber des Erfolges seiner eigenen Thätigkeit, wenn diese durchdrungen und beherrscht war von dem Dolus, d. h. also von ihm als ein Mittel zur Verwirklichung seiner Absicht gewollt wurde. W a r seine den Erfolg herbeiführende Thätigkeit unternommen in der Meinung, daß der Erfolg bereits eingetreten sei, so kann der Erfolg nicht zum Dolus zugerechnet werden, da die von einem solchen Irrthum beherrschte Thätigkeit keine dolose i s t . . . E i n Kausalzusammenhang zwischen den beiden Thätigkeiten mag nachgewiesen werden, aber jedenfalls fehlt das geistige Band zwischen ihnen" 4 2 .

V. 1. Welche Lösung ist nun die richtige? D i e Vollendungslösung, weil sie es vermeidet, dem Täter seinen zufälligen Irrtum zugute zu bringen, wenn er gleichwohl sein ursprüngliches Ziel „erreicht" hat? O d e r die Versuchslösung, die diesem Irrtum rechtliche Relevanz zugestehen will? Meines Erachtens hat die Versuchslösung die besseren Gründe für sich. I m folgenden soll der Nachweis unternommen werden, daß die Vollendungslösung auf unannehmbaren Prämissen beruht und schon deshalb das von ihr propagierte Ergebnis nicht trägt. Dabei beschränken sich die weiteren Ausführungen auf einige, hier für wesentlich erachtete Gesichtspunkte. D e n n schon die bisherigen Zitate und Nachweise zeigen: Es handelt sich um eine Problematik, die seit langem umstritten ist; genau genommen, seit man sich von den alten Figuren der Vorsatzpräsumtion gelöst hat und zum Tatschuldprinzip neuer Prägung übergegangen ist 43 . So mag der Hinweis genügen, daß die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts vorgebrachten Argumente pro et contra kaum noch zu überblicken sind. Seither schwanken die Beurteilungen, auch in der Rechtsprechung. N o c h 1955 konnte übrigens Sauer44 mit einigem Recht behaupten, die h. M . vertrete die Versuchslösung, eine Bemerkung, die zeigt, daß der Streit auch heute keineswegs „ausgestanden" ist.

42 GA 13 (1865), 320 f, Hervorhebung dort. Vgl. auch Breidenbach (o. Fn. 13), S. 72 ff und Hye, Das öst. Strafgesetz über Verbrechen, Vergehen und Uebertretungen, l.Bd., Wien 1855, S. 185f, der einen Tatirrtum im Gegenstand der Handlung annimmt. 43 So stritt man ζ. B. in Württemberg nicht nur darüber, ob Art. 56 eine Prozeßfrage betreffe, indem er eine Beweisfrage im Wege der Vorsatzpräsumtion entscheide. Man war sich doch auch klar, daß die Norm eine „Ausnahme von dem strengen Grundsatze des Rechts" darstelle; vgl. nur Hepp (o. Fn. 9), S. 469 Fn. 16. 44 Allg. Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1955, S. 169; Welzel (o. Fn. 8), S. 74, hielt diese Lösung noch 1969 für die h. L.

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2. Mustert man die o. g. Begründungen der Vollendungslösung durch, so fällt zunächst die Selbstsicherheit auf, mit der sie vorgetragen werden. Die Einwände etwa Maiwalds werden zwar wahrgenommen, aber kaum der Widerlegung für wert befunden, offenbar, weil man die Begründung - und wohl auch das Ergebnis 45 - der Gegenansicht für nicht überzeugend („befriedigend") hält. Stellvertretend sei hier eine Stellungnahme Esers zitiert. Er attestiert der Versuchslösung „immerhin formal-logische Sauberkeit" und fährt dann fort: „Freilich wird dabei nicht genügend berücksichtigt, daß die Entscheidung über die Zurechenbarkeit eines Erfolges nicht nur eine Frage der Logik ist, sondern normativwertenden Charakter hat. Dem wird in der Kausalitätslösung (lies: Vollendungslösung) besser Rechnung getragen. Deshalb ist auch die Fallgruppe vorsatzloser Zweithandlungen nach den Regeln über die Abweichung vom vorgestellten Kausalverlauf zu behandeln" 46 . Eine Begründung für diese Behauptung gibt Eser nicht. Auch die schon erwähnten Argumente der h. L. enthalten nicht hinreichend geprüfte Voraussetzungen. So bedürfte die These Jeschecks, der Täter mache sich selbst unbewußt zum Werkzeug der Vollendung seiner Tat, durchaus einer näheren Erläuterung. Der Täter „macht sich" jedenfalls nicht bewußt zum Werkzeug; vielmehr wird er das Opfer eines Irrtums und handelt auf dieser Grundlage erneut. Ist das aber so, und daß es so ist, wird nicht bestritten, dann wäre zunächst darzutun, warum diese zweite Handlung als Anknüpfungspunkt der Zurechnung ausscheiden soll. Diese Handlung ist ja - ebenfalls unbestreitbar Bestandteil des Tkigeschehens. Zu begründen wäre demnach, warum hier § 16 I StGB nicht zum Zuge kommen soll. - Wenn Wessels meint, die Ersthandlung bilde den entscheidenden Anknüpfungspunkt, so bleibt die Frage letztlich offen, was „das Entscheidende" ist. Die Voraussehbarkeit wäre insoweit möglicherweise dann hinreichend, wenn der Täter nur einmal gehandelt hätte und nun aufgrund eines abweichenden Naturkausalverlaufs der Tod bewirkt worden wäre. D a aber - wiederum unbestritten - erst die Zweithandlung schon für sich gesehen erfolgstauglich und „erfolgreich" war, ist die Übertragung der Abweichungslehre auf diese Sachgestaltung zusätzlich begründungsbedürftig. - Die These Cramers schließlich, es könne keinen Unterschied machen, ob ein Dritter oder der Täter selbst die vermeintliche Leiche ins Wasser werfe, rekurriert sogar unverhohlen auf das Rechtsgefühl. Das ist entschieden zu wenig.

Zum vielzitierten Rechtsgefühl vgl. die Nachweise bei Reuter (o. Fn. 4), S. 10 ff. Strafrecht I, 3. Aufl. 1980, Fall 16 Rdn.34, Hervorhebungen dort. Für „wesentliche" Abweichung Otto, Grundkurs Strafrecht, All. Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988, S. 108 f; s. auch Hruschka (o. Fn. 36), S. 30 Fn. 44. 45

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3. Man sieht jedenfalls, und das sollte gezeigt werden: Die h. L. hat zwar einige Modelle entworfen, um die Strafbarkeit wegen vollendeter Tat zu erklären, diese Ansätze aber nicht wirklich begründet. Die folgenden Überlegungen sollen zeigen, warum die - für ihr Ergebnis begründungspflichtige - Vollendungslösung nicht überzeugen kann. Sie setzen sich insbesondere mit den Darlegungen der Rechtsprechung auseinander. Denn wenn Sauers Diagnose aus dem Jahre 1955 zutrifft, so hat die Entscheidung des BGH im Jauchegrubenfall 47 wieder einmal48 einen Meinungsumschwung bewirkt. So ist denn auch die Meinungsführerschaft der Judikatur in diesem Bereich unübersehbar. Zunächst kann hier dahinstehen, ob die Rechtsprechung bei den „Normalfällen" einer Kausalabweichung ein zureichendes Instrumentarium zum Einsatz bringt49. Die Besonderheit der Konstellationen des dolus generalis liegt nämlich - wie bereits erwähnt — darin, daß hier zumindest zwei Handlungen des Täters gegeben sind; und es ist gerade nicht die Ersthandlung, die den Tod unmittelbar bewirkt, sondern die zweite, bei der aber Tötungsvorsatz nicht mehr vorhanden ist. Zuzugestehen ist nun, daß auch die Ersthandlung - vermittelt durch das psychische Faktum des Irrtums - „kausal" für den Tod geworden ist. Ex post wird in einschlägigen Fällen ferner gesagt werden können, daß die Zweithandlung auf der ersten beruht, konkret: deren Folge ist. Solange wir in den Menschen keine vollständig determinierten Automaten sehen, läßt sich insoweit zwar nicht von Naturkausalität sprechen, immerhin aber von einem Zusammenhang, der es rechtfertigt, ein entsprechendes Zurechnungsurteil zu fällen50. Doch ist damit noch nichts entschieden: Diese Art der Anwendung der Äquivalenztheorie führt nämlich dazu, daß beim Vorsatzdelikt auf die zeitliche Koinzidenz und die sachliche Bezogenheit von tatsächlich ursächlicher Handlung und Vorsatz verzichtet wird. Die bei der Zweithandlung fehlende Vorsatzbeziehung wird „ersetzt" durch einen Rückgriff auf die Gleichwertigkeit der Bedin-

47 BGHSt. 14, 193. „Vorbereitet" war sie durch BGHSt. 7, 325, 329, eine ihrerseits höchst zweifelhafte Entscheidung; näher dazu Hettinger (ο. Fn. 12), S. 35 ff, 189 ff, 199 ff und passim. 48 Vgl. nur einerseits RGSt. 67, 258, andererseits RGSt. 70, 257. Daß die Rspr. in den Partikularstaaten in der Bewertung ebenso schwankte wie die Doktrin, war gerade der Anlaß für die württembergischen und badischen Gesetzgeber, normsetzend tätig zu werden; dazu Hepp (o. Fn.9), S . 4 5 9 f , 468. 49 Frisch (o. Fn. 23), 3. Kap. Β I, S. 569 ff; Hettinger, JuS 1990, L 73 ff; 1991, L 9 f f , 34 f, 49 ff. 50 Allgemein zur „psychisch vermittelten Kausalität" Engisch, in: v.Weber-FS, 1963, S. 247 ff, 269; SK-StGB-Rudolphi, Vor §1 Rdn.42 sowie die krit. Überlegungen - auch zum derzeitigen begrifflichen Instrumentarium - von Koriath (o. Fn. 25), insbes. S. 141 ff, 169 ff und passim.

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gungen mit der Folge, daß aus Handlungsverboten (Mit-) Verwrsachungsverbote werden. Schon diese Prämisse kann die heute insoweit h. L. eigentlich nicht (mehr) akzeptieren; sie lehnt einen durch reine Kausalitätserwägungen bestimmten Handlungsbegriff nämlich ab51. Denn damit wird der Sinnzusammenhang des vorsätzlichen Begehungsdelikts zerstört. Anders wäre das nur, wenn man in einschlägigen Fällen von einer sog. natürlichen Handlungseinheit ausgehen könnte, ein Ansatz, den der BGH an anderer Stelle zu Recht verworfen hat52. Das würde nämlich wiederum zu einer unzulässigen Manipulation des subjektiven Xurechnungsgegenstands führen: Die Tatsache, daß die Täterin bei der Ersthandlung mit Tötungsvorsatz handelte, vermag das Faktum nicht zu beseitigen, daß ein solcher bei der Zweithandlung fehlte. Kann man nun vielleicht in anderer Weise (auf anderem Weg) über das (Zurechnungs-)Hindernis der zweiten, vorsatzlosen Handlung hinwegkommen? 4. Der 2. Strafsenat des RG hat die Frage 1936 in einem ähnlich gelagerten Fall verneint 53 . Beim Vorliegen mehrerer Handlungen des Täters sei zu prüfen, „welche Handlung oder welche Handlungen den Tod . . . herbeigeführt haben und welche von ihnen mit Tötungsvorsatz vorgenommen worden sind" 54 . Sei es die zweite (bzw. die letzte), „so würde eine vorsätzliche Tötung nur dann vorliegen, wenn dieser zweite Teil der Handlung mit Tötungsvorsatz vorgenommen worden wäre" 55 . Mit anderen Worten: Der Senat bestimmt die Zurechenbarkeit der eingetretenen Handlungsfolge als tatbestandsmäßiger Erfolg nicht vom Vorsatz der Ersthandlung her, sondern er fragt, ob auch die zweite von einem entsprechenden Vorsatz getragen war. Damit scheidet bei „mehraktigem" Handeln ein „Erfolg" immer dann als „vorsätzlich verursacht" aus, wenn der Täter bei seinem letzten „Teilakt" keinen Vorsatz mehr hat. Soweit nicht die Voraussetzungen einer Handlungseinheit vorliegen, sind die mehreren „Akte" je für sich zu beurteilende Handlungen. Und Handlungen sind sie unabhängig

51 Ihre eigenen Ansätze zur Lösung des Problems beinhalten im vorliegenden Zusammenhang - wohl unbemerkt - eben diese Annahme, die „sonst" gerade bestritten wird und vom zugrundeliegenden Ansatz her auch bestritten werden muß. 52 BGH, J Z 1983, 864 m . A n m . Hruschka - Diese Annahme würde wiederum die Tatsache konterkarieren, daß die Α im Zeitpunkt der zweiten Handlung ohne Tötungsvorsatz gehandelt hat. S. auch Hruschka (o. Fn. 36), S. 26 f, 28 ff. 53 RGSt. 70, 258. Die Angeklagten hatten gewußt, daß das von ihnen mit Tötungsvorsatz verletzte Opfer noch lebte, als sie es in einen Wald trugen und dort seinem Schicksal überließen. Näher zu dieser Entscheidung Hettinger (ο. Fn. 12), S. 204 f. * RGSt. 70, 258. " RGSt. 70, 259.

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davon, ob sie - nebst ihren Folgen - dem Handelnden im Ergebnis auch strafrechtlich zugerechnet werden können oder nicht 56 . Pointiert: Wer in actu nicht weiß, daß er tötet, der tötet nicht gleichwohl deshalb vorsätzlich, weil er mit einem vorherigen Akt töten wollte, aber nicht getötet hat57. 5. Der BGH glaubt nun offenbar, diesen Einwand nicht ausräumen zu müssen. Jedenfalls geht er auf die naheliegenden Erwägungen des 2. Strafsenats des RG nicht ein. Vielmehr zieht er - wie gesehen - nach Feststellung der Kausalität der vorsätzlichen Ersthandlung für den Tod sofort die Abweichungslehre heran. Damit überspielt er die Tatsache, daß die Zweithandlung der Täterin eine Handlung nicht nur im vorrechtlichen, sondern gerade auch im strafrechtlichen Sinne ist, und zwar wegen des NichtVorliegens einer Handlungseinheit eine eigenständig zu bewertende. Wer nämlich grundsätzlich schon jedes äquivalent kausale Verursachen als Handlung im Sinne eines Straftatbestandes postuliert, der muß auch die Folgen dieser Behauptung tragen. Er darf sie nicht mit der Bemerkung wegschieben wollen, es handele sich bei der Zweithandlung lediglich um einen „Vorgang". Denn ein Vorgang im Sinne eines Naturereignisses ist eine Handlung gerade nicht, weder für sich genommen noch im Zusammenhang mit einer ihr vorangegangenen Handlung. Es mußte demnach begründet werden, was denn dazu berechtigen soll, die Zweithandlung auf eine nur objektiv-kausal zu würdigende „Wirkung" zu reduzieren, von ihrem Handlung5charakter also abzusehen 58 . Denn nur dann wäre - jedenfalls beim Alleintäter - die Formel der Abweichungslehre überhaupt anwendbar 59 . Eine solche Begründung fehlt jedoch. Der Sache nach lautet das Ergebnis der richterlichen Ableitungen mithin wie in längst vergangenen Zeiten: Die Α wollte

56 Maiwald, ZStW 78 (1966), 54 f, hat auf den verantwortlichen Menschen als Zurechnungssubjekt abgestellt. Das ist sicher richtig, soweit es um Strafbegründung geht. Doch bestimmt sich die Frage des Vorliegens einer Handlung m. E. nicht danach, ob sie dem Handelnden auch „zugerechnet" werden kann. Auch der Schuldunfähige beispielsweise kann „handeln" i. S. des StGB. 57 In Unkenntnis der Bedeutung seines Tuns als Herbeiführen des Todes eines Menschen handelt gerade derjenige, der das Angriffsobjekt seiner vorangegangenen Handlung bereits für tot hält. 58 Treffend Hruschka, JuS 1982, 319 f, Text nach Fn. 12. 59 Der BGH bringt sie freilich auch zum Einsatz in Fällen des - aus Sicht des Täters „verfrühten Erfolgseintritts", so BGH, G A 1955, 123, sowie dann, wenn der Täter nach Überschreiten der Versuchsgrenze, aber vor Beendigung seines tatbestandlichen Handelns die Schuldfähigkeit verliert, so BGHSt.7, 325, 329; weit. Nachw. bei SK-StGB-Rudolphi (6/1989), § 2 0 Rdn.27. Damit werden die Grenzen, die die gesetzlichen Regelungen der Bewertung eines Verhaltens ziehen, verwischt.

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töten, sie hat auch getötet; zwar anders als vorgestellt, aber nur unwesentlich anders60. Mit anderen Worten: Die große Geste, mit der die Zurechnungsfigur des sog. dolus generalis in die Abstellkammer rechtsgeschichtlicher Irrtümer verwiesen wird, bleibt in der Lesart der Rechtsprechung und der heute h. L. praktisch folgenlos. Die an Stelle des dolus generalis eingesetzte Abweichungslehre „garantiert" dasselbe Ergebnis. Man sieht: Die Übertragung dieser Lehre auf Fälle eines in actu fehlenden Vorsatzes führt zu einem handlichen Vehikel, mit dessen Hilfe fehlende, für die Vollendungsstrafbarkeit konstitutive subjektive Beziehungen des Täters zur Tat je nach Bedarf weg- oder zugerechnet werden können. Daß diese „Begründung" nicht trägt, ist augenfällig. Bei gleichbleibendem Ergebnis hat lediglich ein Etikettentausch stattgefunden. Statt der Kunstfigur des dolus generalis bedient man sich nunmehr des kausalen Handlungsbegriffs verbunden mit der Abweichungslehre, um das fehlende Vorsatzhandlungsstück „normativ" zu ersetzen. Der Sache nach bedeutet die „Deduktion" des B G H nichts anderes, als die Behauptung aufzustellen, ein gescheiterter Versuch führe dann doch zur Vollendungszurechnung, wenn der „Erfolg" von der in ihrer Tötungsintention ad hoc gescheiterten Versuchshandlung „adäquat" mitverursacht worden ist („Bewertungsgleichheit" mitgedacht). Was also diesen „Erfolg" bewirkt, ist das Ergebnis einer Allianz erfolgs- und gesinnungsstra.{rec\itlicher Argumente61. So gesehen sind das versari in re illicita, der dolus indirectus und der dolus generalis nur in ihrem Begründungsanspruch verabschiedet.

60 Diese These ist nur haltbar auf der Basis einer rein objektiven, die Intention des jeweils Handelnden vernachlässigenden Sicht, einer Betrachtungsweise, die hier nicht geteilt wird; vgl. Hettinger, JuS 1991, L 11 f und schon oben III 2. Selbst wenn man aber in einem ersten Schritt jegliches ursächliche (willkürliche) Verhalten als tatbestandsmäßig vorläufig - in Erwägung zieht, muß man doch dafür Sorge tragen, daß dann die sachlich erforderlichen Eingrenzungen an anderer Stelle vorgenommen werden. Grenzen ziehen insoweit - auch und gerade für einen solchen Ansatz - die Handlungsbeschreibungen der Tatbestände sowie - diese ergänzend - die §§ 15, 16, 22 StGB. Dazu auch - im Zusammenhang mit der aberratio ictus - Hettinger, G A 1990, 540 ff. 61 Auch insoweit sind die „Argumente" aufschlußreich, die von den Befürwortern einer gesetzlichen Regelung der dolus-generalis-Fälle in den württembergischen und badischen Gesetzgebungsverfahren vorgebracht wurden. D a ist die Rede von „ungerechter Milde", die sogar noch die württ. Regelung enthalte, vom „empörenden Erfolg der Tödtung . . . als Folge . . . mörderischen Vorsatzes", so Welcker (o. Fn. 9), S. 67; von „Entscheidungen, durch welche das Rechtsgefühl des Volkes in höchstem Grade verletzt werden müßte", so Wolff (ο. F n . 9 ) , S. 191.

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VI. 1. Die Lösung der h. M. ist aber nicht nur derzeit nicht begründet, sie ist meines Erachtens de lege lata auch nicht begründbar. An dieser Stelle müssen wenige Sätze als Beleg genügen. O b die vom B G H praktizierte Gleichsetzung oder -behandlung einer tatbestandsmäßigen Handlung mit einem naturgesetzlichen Kausalverlauf möglich ist, hängt davon ab, welches Kriterium eine Handlung zu einer tatbestandsmäßigen im Sinne eines Strafgesetzes macht. Klar ist, daß der Vorsatz als Abgrenzungsmerkmal insoweit ausscheidet. Zwar bestimmt er - etwa sub specie §212 StGB welche Handlung als 7oi«ragshandlung in Betracht kommen kann; das wäre im Jauchegrubenfall die Ersthandlung, die freilich nur das Zurechnungsurteil eines versuchten Totschlags mitbegründen würde, und auch dies nur, weil die Handlung in den Bereich des strafbaren Versuchs gelangt ist. Da tatbestandsmäßig, nunmehr i. S. des § 222 StGB gedacht, aber auch unsorsätzliche Handlungen sein können, läßt sich allein mit dem Fehlen eines Tötungsvorsatzes bei der Zweithandlung deren Charakter als eine (möglicherweise) ebenfalls tatbestandsmäßige Handlung nicht bestreiten. Nun versucht der B G H - wie gezeigt - der Sache nach, durch Verwendung eines naturalistischen, rein kausalen Handlungsbegriffs über die (Zurechnungs-)Sperre der Zweithandlung hinwegzukommen. Dieser „Handlungsbegriff" aber ist mit dem geltenden Recht unvereinbar 62 . Denn was nach dem Gesetz als tatbestandsmäßige Handlung überhaupt in Frage kommt, bestimmt sich nach dem Sinn und dem Wortlaut des je in Betracht gezogenen Straftatbestands. Dieser legt die Abstraktionshöhe fest, hinter welche der Gesetzesanwender nicht „zurückgehen" darf. Tut er es doch, so verletzt er den Bestimmtheitsgrundsatz und „wildert im Revier des Gesetzgebers". Das bedeutet: Die unvorsätzliche Zweithandlung, die für sich genommen, so sei unterstellt, die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit erfüllt und eine Verurteilung aus §222 StGB trägt, wird nicht deshalb zu einer bloßen „Wirkung" der Ersthandlung (einem „Vorgang", wie der B G H formuliert), weil sie zu einem Erfolg

62 Beling, Die Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 17 (Hervorhebung dort) schrieb: „Die Handlung ist allemal zu bejahen, wenn ein vom Willen getragenes menschliches Verhalten vorliegt, einerlei, worin es besteht, einerlei, wohin der es meisternde Wille zielte. Daß auf diese Weise der Begriff der Handlung zum blutleeren Gespenst wird, darf nicht befremden. Die Hauptprobleme des Strafrechts liegen eben nicht in der Handlungslehre beschlossen, sondern heben erst da an, wo es gilt, die Qualitäten der Handlung zu erörtern... Und gerade wegen seiner Blutleere ist der Begriff der Handlung befähigt, ein Begriff der allgemeinen Rechtslehre zu sein". Man mag das so sehen; sicher aber ist, daß mit diesem Begriff für die Auslegung der Gesetze positiv nichts gewonnen ist - außer eben der Abgrenzung zu den „Nichthandlungen". Und sicher ist auch, daß die Zweithandlung eine Handlung ist, wie Beling, aaO, S. 354, für den vorliegenden Zusammenhang selbst betont.

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führt, der im Zeitpunkt der gescheiterten Ersthandlung - sei es auch nur bedingt vorsätzlich - gewollt war63. In Fällen mehrerer Handlungen besteht also keine Wahlfreiheit der Art, wie sie die h. M. hier praktizieren will. Es ist unzulässig, dann und deshalb an eine frühere Handlung anzuknüpfen, wenn und weil die unmittelbar ursächliche Handlung des Täters ohne Tatvorsatz begangen ist. Die Α hat ihr Opfer durch das Versenken zu Tode gebracht, also insoweit „durch Fahrlässigkeit den Tod eines Menschen verursacht". Sie hat die Β nicht durch die Ersthandlung vorsätzlich getötet, mag diese auch für den zum Tode führenden Akt mitursächlich geworden sein. Mit anderen Worten: Die Verursachung einer tatbestandsmäßigen Handlung ist nicht schon die tatbestandsmäßige Handlung selbst. Auch dann nicht, wenn sie für sich genommen „schon" die Bedingungen eines strafbaren Versuchs erfüllt. Die strafrechtsrelevante Handlungsqualität bestimmt sich hinsichtlich der Erfolgszurechnung nach dem jeweils in Betracht kommenden Tatbestand. Daran vermag die Heranziehung der Äquivalenztheorie nichts zu ändern64. Unbestreitbar ist, der BGH sagt es ja selbst, daß die Α bei ihrer zweiten Handlung die Β für tot hielt, ihr ein Tötungsvorsatz in diesem Zeitpunkt also fehlte65. Ebenso offensichtlich ist aber auch, daß die Α ein weiteres Mal handelte, als sie die Β in die Grube warf. Gleichgültig ist insoweit, ob man den Handlungsbegriff kausal, final oder sozial bestimmt. Für Konstellationen des sog. dolus generalis gilt mithin: Hat der Täter mehrere, keine „Einheit" bildenden Handlungen in einer zeitlichen Abfolge vorgenommen, so ist das Zurechnungsurteil an die letzte, dem bewirkten Ereignis nächste Handlung zu knüpfen, soweit es um die Zurechnung eben dieses Ereignisses als tatbestandlicher Erfolg geht. Denn bestraft werden erst tatbestandsmäßige Handlungen und nicht schon Verursachungen. Die Zweithandlung verliert nicht deshalb ihre Qualität als tatbestandsmäßige Handlung, weil sie infolge eines Tatumstandsirrtums nur die Verurteilung wegen fahrlässiger Tat trüge. Es ist nach der Gesetzeslage unzulässig, Handlungen des Täters dann als bloße Kausalfaktoren zu behandeln und an frühere Handlungen des Täters anzuknüpfen, wenn die letzte Handlung mangels Vorsatzes allenfalls als fahrlässig bewertet werden kann. 63 Die zweite Handlung könnte nicht einmal dann zu einer bloßen Wirkung herabgewürdigt werden, wenn bei ihrer Vornahme die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit nicht vorlägen. Vgl. auch Hruschka (o. Fn. 36), S.27, 31. 64 So wenig wie etwa daran, daß de lege lata zwischen Vorbereitungs- und Versuchshandlungen zu unterscheiden ist. 65 Zu den hier schlummernden Beweisproblemen gab es in den württembergischen und badischen Verhandlungen mehrere Debatten; vgl. den Bericht von Hepp (o. Fn. 9), S. 467 ff; s. ferner Breidenbach (o. Fn. 13), S. 69 fund Geih, LB des Deutschen Strafrechts, 2. Bd. 1862, S. 269.

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2. Daß dieses Ergebnis nicht nur unserer Gesetzeslage entspricht, sondern auch aus der Anwendung traditionsreicher „allgemeiner Zurechnungsregeln" abzuleiten ist, war übrigens auch die Ansicht der Regierungsvertreter anläßlich der Beratungen über ein neues StGB für das Königreich Württemberg. Sie meinten nämlich, es sei ratsam, eine Bestimmung über den dolus generalis in das Gesetzbuch aufzunehmen, „weil streng genommen der rechtswidrige Erfolg, welcher vermöge des dolus generalis zum Vorsatze zugerechnet werden solle, nicht dazu zu rechnen sey. Der dolus generalis sey aber ein Triumph des gesunden Menschenverstandes über die starre Theorie, welche letztere fordere, daß zwischen der in rechtswidriger Absicht unternommenen Handlung und dem eingetretenen rechtswidrigen Erfolge ein enger Causalzusammenhang bestehe, und die erstere zu dem letzteren sich wie die Ursache zur Wirkung verhalte" 66 . Der Triumph währte freilich nicht lange. Mit Einführung der Schwurgerichte wurde Art. 56 des Württembergischen StGB von 1839 durch Art. 9 des Gesetzes vom 13.8.1849 aufgehoben 67 . Festzuhalten ist: Unser StGB enthält für Fälle dieser Art keine ausdrückliche Bestimmung; es verweist uns also im allgemeinen auf die Sanktionen über Vorsatz und Fahrlässigkeit, und wo uns der Buchstabe im Stich läßt, da haben wir die Theorie zu befragen. Um die volle Strafe anwenden zu können, muß das Verbrechen seinem gesetzlichen Begriffe nach vollendet sein. Das vorsätzliche Verbrechen ist aber nur dann vollendet, wenn der Erfolg, der sich aus einer Handlung ergeben hat, beabsichtigt war; mithin müssen wir bei jeder Handlung fragen, was der Täter mit ihr bezweckte und nur dies dürfen wir, wenn und so weit es unter ein Strafgesetz fällt, zum Vorsatz zurechnen. Das schrieb Moritz Wilhelm August Breidenbach vor fast 150 Jahren 68 . Und die Richtigkeit dieser Sätze ergibt sich nicht aus „irgendeiner" Logik, die man aus Gründen der „Gerechtigkeit" beiseite schieben könnte, sondern sie folgt eben gerade aus unseren allgemeinen Bewertungsgrundsätzen, denen eine gesetzliche Zurechnungsregel der Art, wie sie BGHSt. 14, 193 behauptet, widersprechen würde 69 . Wenn wir es zulassen, daß ein eindeutig tatbestandsmäßiges, wenn auch nur fahrlässiges Verhalten aus „Strafwürdigkeitserwägungen" oder „um Schutzbehauptungen zu unterbinden", zu einer bloßen Wirkung 66 Zit. nach Hepp (o. Fn. 9), S. 469 f, Hervorhebungen dort. S. auch die Bemerkungen Wolffs (ο. Fn. 9). 67 Angeblich - aber auch dies ist angesichts der zuvor gegebenen Begr. für die Einführung der N o r m bemerkenswert - nur deshalb, weil man sie mit Rücksicht auf die erfolgte Einführung der Jury für zu speziell und kasuistisch erachtete! 68 O. Fn. 13, S. 71. ω Α. A. insoweit Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 2. Bd., 1. Hälfte, 2. Aufl. 1914, S. 514: „De lege ferenda stünde nicht das Geringste im Weg, den ganzen Fall (gemeint ist der „Fall Tarnow"; Μ. H.) dem des vollendeten Mordes gleich zu stellen und gleich zu behandeln. De lege lata ist das nicht möglich".-Wie hier Goltdanner, GA9(1861), 817,825 f.

Sonderfall eines „Irrtums über den Kausalverlauf"?

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degradiert wird, dann zerstören wir an dieser Stelle das dem StGB zugrunde liegende Tatschuldprinzip70. Auch dann, wenn man glaubt, berechtigt zu sein, den Handlungsbegriff autonom „juristisch" zu bestimmen, ist man der Pflicht nicht enthoben, den jeweils gegebenen Sachverhalt unter Beachtung der Bewertungen des Gesetzes zu beurteilen. Die größte Gefahr des heute weithin favorisierten „normativen" Argumentierens besteht darin, daß man - die gesetzlichen Regelungen vernachlässigend - unversehens „korrigierend" in die zu bewertende Tatsachengrundlage übergreift und so aller Fesseln ledig scheint, die der „Zurechnung" im Wege stehen könnten. Den äußersten Rahmen jeglicher Zurechnungserwägungen stecken aber die Tatsachen und die auf sie bezogenen strafgesetzlichen Normen ab. Wer objektiv-teleologisch, ratio-orientiert, normativ oder aus reinem Strafwürdigkeitsempfinden diesen Rahmen durchbricht, ist in Gefahr, den Gegenstand seiner Bemühungen zu verfehlen. Dies scheint mir bei der Interpretation der h. M. in den Konstellationen des dolus generalis der Fall zu sein. Es realisiert sich hier diejenige Gefahr, die durch Überschreitung des Auslegungsrahmens der Normen geschaffen worden ist und deren Folgen nach dem Schutzzweck dieser Normen gerade vermieden werden sollten. VII. Das Thema der vorstehenden kleinen Abhandlung, die nur einen Teil der Überlegungen aufnehmen und fortführen konnte, die sich im Lauf der Zeit zu dieser Materie angesammelt haben, verweist - wie Roxinn zutreffend bemerkt - „weit über sich hinaus auf größere Zusammenhänge der strafrechtsdogmatischen Grundlagenforschung". Gerade in diesem Bereich verdankt die deutsche Strafrechtswissenschaft Günter Spendel zahlreiche bedeutende Beiträge. Dabei bestimmt sich die Bedeutung einer Ansicht durchaus nicht nur nach dem „unmittelbaren" äußeren Anklang, den sie findet. In diesem letzteren Sinne konnte sich dieser eigenständige Dogmatiker in manchen, ihm wichtigen Punkten nicht durchsetzen. Wohl aber in einem weiter ausgreifenden Sinne, den einer unserer größten Kriminalisten einmal so formuliert hat: „Der beste Theil aller literarischen Thätigkeit besteht nicht sowohl in dem, was sie gibt, als in demjenigen, was sie in anderen Geistern anregt und durch diese wirkt"72. 70 Aber auch dann, wenn die Voraussetzungen der Fahrlässigkeit hinsichtlich der zweiten Handlung zu verneinen wären, würde sich nichts ändern. Denn diese Handlung hat den Tod verursacht. Daß an sie kein strafrechtliches Zurechnungsurteil geknüpft werden könnte, hätte nicht zur Folge, daß dann der vorangegangene Versuch zur Vollendung „aufgewertet" werden dürfte. 71 Würtenberger-FS, 1977, S. 128. 71 Feuerbach, LB des gemeinen in Deutschland gültigen Peinlichen Rechts, 14. Aufl. 1847 (hrsg. von C.J.A. Mittermaier), S. XXIV, Hervorhebungen dort.

§40 Abs. 2 und 3 StGB in Steuerstrafverfahren bedeutungslos? GÜNTER KOHLMANN

I. 1. Die gesetzliche Regelung scheint klar: wenn ein Gericht beabsichtigt, eine Geldstrafe zu verhängen, muß es deren Höhe bestimmen. Daß es dabei nicht gefühlsmäßig nach Gutdünken irgendwelche ihm angemessen erscheinende Beträge festsetzen darf, versteht sich von selbst, folgt aber seit dem Inkrafttreten des EGStGB im Jahre 19751 zwingend aus §40 Abs. 2 und 3 StGB. Danach hat das Gericht bekanntlich bei der Bestimmung des Tagessatzes die „persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters" zu berücksichtigen (§40 Abs. 2 Satz 1 StGB). Auszugehen ist „in der Regel" von dem Nettoeinkommen, „das der Täter durchschnittlich an einem Tag hat oder haben könnte" (§ 40 Abs. 2 Satz 2 StGB). Schließlich gestattet das Gesetz, „die Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes" zu schätzen (§40 Abs. 3 StGB). Was auf den ersten Blick so einleuchtend erscheint, kann sich in der praktischen Umsetzung im Einzelfall als äußerst schwierig erweisen. 2. Fest steht zunächst, daß das Gericht von sich aus die Bemessungsgrundlagen für die Festsetzung der Tagessatzhöhe ermitteln muß. Auf die Angaben des Angeklagten wird es sich aus nachvollziehbaren Gründen nur bedingt verlassen können. Da er nicht verpflichtet ist, über seine wirtschaftlichen Verhältnisse irgendwelche Angaben zu machen, ist er auch nicht verpflichtet, wahrheitsgemäße Erklärungen abzugeben. Die häufig in Hauptverhandlungen zu hörende Erklärung, die wirtschaftlichen Verhältnisse seien geregelt, erweist sich verständlicherweise als wenig hilfreich. Gleichwohl besteht keine Veranlassung, die mangelnde Mitwirkungsbereitschaft des Angeklagten, zur Aufhellung seiner wirtschaftlichen Verhältnisse beizutragen, pauschal als Versuch zu werten, das Gericht „hinters Licht" zu führen. Für sein Schweigen kann es durchaus plausible Gründe geben. Man denke nur an das Interesse von 1

BGBl. 1974 I S.469.

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konkurrierenden Mitbewerbern, etwas über seine wirtschaftliche Situation zu erfahren, an Gläubiger, die ihre Forderungen eintreiben möchten oder an Unterhaltsberechtigte, die beabsichtigen, ihre Ansprüche auszuweiten. Hält der Angeklagte an seinem Schweigen fest oder erscheinen seine Angaben nicht glaubhaft, muß das Gericht mit den ihm zur Verfügung stehenden Mitteln die Bemessungsgrundlage von sich aus aufklären. Dies kann zeit- und arbeitsaufwendig sein, im Einzelfall auch außer Verhältnis zur Bedeutung der Sache stehen. Gleichwohl verbietet es sich, eine solche Aufklärung aus den genannten Gründen gar nicht erst zu versuchen, sondern gleich von der in § 40 Abs. 3 StGB vorgesehenen Möglichkeit, die Einkünfte des Angeklagten zu schätzen, Gebrauch zu machen. Nach dem Bericht des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform2 sollen die Gerichte verpflichtet sein, die ihnen zur Verfügung stehenden Beweismittel voll auszuschöpfen. Die Bemessungsgrundlage sollen sie nur insoweit schätzen dürfen, als solche Beweismittel fehlen. 3. Selbst wenn man nicht so weit gehen will wie Zipf,

der die Schätzung als ultima ratio betrachtet, bleibt festzuhalten, daß zwischen § 40 Abs. 2 und Abs. 3 StGB zumindest insoweit ein Rangverhältnis besteht, als die Gerichte nicht vorschnell zu Schätzungen übergehen dürfen. Es müssen besondere Umstände vorhanden sein, die den in erster Linie gebotenen Ermittlungen entgegenstehen. Dies ist - soweit ersichtlich - zu Recht die überwiegende Meinung in Rechtsprechung und Literatur 4 .

II. Die vorstehend geschilderten Schwierigkeiten, die Bemessungsgrundlage für die Höhe des Tagessatzes zuverlässig zu ermitteln, wären weitgehend beseitigt, dürften die Gerichte auf die Steuerakten des Angeklagten zurückgreifen und die in Betracht kommenden Steuererklärungen und die entsprechenden Bescheide zum Gegenstand der Beweisaufnahme machen. Die Frage, ob diese Möglichkeit geschaffen werden sollte, gehört seit fast 40 Jahren zum „eisernen Bestand" der strafrechtlichen Reformdiskussion. BT-Drucks. V/4095, S.21. Strafrecht AT II, 7. Aufl. 1989, S. 509 Rdn. 41; S. 519 Rdn. 77. 4 Vgl. etwa BayObLG VRS 60,103; O L G Bremen OLGSt. § 40 StGB Nr. 1 S. 1 f; O L G Celle N J W 1984,185 = J R 1983,203 m. Anm. Stree; Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl., 1991, §40Rdn. 26; Lackner, StGB, 19. Aufl., 1991, § 40Rdn.\7, Streeϊτι·. Schönke/Schröder, StGB, 24.Aufl., 1991, § 4 0 Rdn.20; Tröndle in: Leipziger Kommentar, § 4 0 Rdn.61; ferner Horstkotte, 13. Verkehrsgerichtstag 1975, S. 89; Rüth, D A R 1975, 2; Seib, DAR 1975, 109; Tröndle, ZStW 86 (1974), 545, 589f, sowie Kleinknecht/Meyer, 40. Aufl., 1991, §244 StPO Rdn. 15; Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, 24. Aufl. (Stand: 1.1.1985), § 2 4 4 StPO Rdn. 27. 2 3

§ 4 0 Abs. 2 und 3 StGB - in Steuerstrafverfahren bedeutungslos?

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1. Sie war bereits Gegenstand der Beratungen der Großen Strafrechtskommission im Jahr 1954. Insbesondere der Referent Ministerialrat Dr. Rösch wies darauf hin, daß eine Bemessung der Geldstrafe auf der Grundlage von Einkommensteuerbescheiden keine Anhaltspunkte für die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten zur Zeit seiner Aburteilung liefere, da das Einkommen einer oft Jahre zurückliegenden Zeit der Berechnung zugrunde gelegt sei. Hinzu komme, daß der Beschuldigte im Strafverfahren zu irgendwelchen Angaben nicht verpflichtet sei, was auch für seine wirtschaftlichen Verhältnisse gelte. Das Steuergeheimnis verhindere die Einholung von Auskünften bei den Finanzbehörden, und im übrigen könne dem Beschuldigten bei verhältnismäßig kleinen Delikten die Offenbarung seines Vermögens und Einkommens schlechterdings nicht zugemutet werden5. 2. Sowohl im Entwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1960 (E I960) 6 wie auch im Entwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1962 (Ε 1962)7 war in § 51 die Verhängung der Geldstrafe in Tagessätzen vorgesehen. Die Absätze 1 bis 3 entsprachen wörtlich dem jetzt geltenden §40 StGB. Daß die Gerichte sich im Rahmen der Schätzung auf steuerliche Unterlagen des Angeklagten stützen dürfen, wird in der Begründung mit keinem Wort erwähnt. Damit war die Frage der Zulässigkeit des Rückgriffs auf steuerliche Unterlagen ablehnend entschieden. 3. Wenige Jahre später, namentlich im Jahr 1969, griffen die Verfasser des sog. Alternativ-Entwurfs das Problem erneut auf8. Sie schlugen vor, in das StGB einen §49 mit folgendem Inhalt einzufügen: „§49 Höhe und Inhalt der Geldstrafensätze (1)

...

(2) ···

(3) Gibt der Täter über seine Einkünfte, sein Vermögen oder andere Grundlagen für die Bemessung der Sätze keine ausreichende Auskunft, so können die Bemessungsgrundlagen geschätzt werden. Das Gericht kann auch Auskünfte von Steuerbehörden und Banken einholen. (4) . . . "

5 Vgl. Niederschriften der Großen Strafrechtskommission, Bd. I S. 160; auf die Notwendigkeit einer Gesetzesänderung im Fall einer Auskunftserteilung durch die Finanzbehörden wiesen ferner auch Eb. Schmidt, aaO, S. 176 und Frankel, aaO, S. 157f hin. 6 BR-Drucks. 270/60. 7 BT-Drucks. IV/650; BR-Drucks. 200/62. 8 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allg. Teil, 1966, S. 16; 2. Aufl. 1969, S. 16.

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Grundsätzlich stehe das Steuergeheimnis der Aufklärung bzgl. der Höhe des Tagessatzes entgegen. Im Hinblick auf insoweit bestehende Zweifel wurde es als zweckmäßig angesehen, eine besondere gesetzliche Vorschrift einzufügen. Wenn im Strafprozeß sogar Tatsachen der Intimsphäre erforscht würden, an deren Geheimhaltung der Angeklagte das allergrößte Interesse habe, so sei nicht einzusehen, warum die finanzielle Seite geschützt bleiben sollte. Finanzamtsauskünfte könnten demnach verlesen werden. Die Verfasser wiesen allerdings auch darauf hin, daß notfalls die Schätzung nach Lebensstandard und Aufwand bliebe, die auch im Steuerrecht gebräuchlich sei9. 4. Der Vorschlag des § 49 Abs. 3 A E war neben dem Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuches aus dem Jahr 1962 (Ε 1962)10 und zwei weiteren Entwürfen aus den Reihen der Bundestagsabgeordneten11, die jeweils die Möglichkeit einer Auskunftserteilung durch die Finanzbehörde gerade nicht vorsahen, Gegenstand des Zweiten schriftlichen Berichts des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform12. Der Sonderausschuß griff die Möglichkeit einer finanzbehördlichen Auskunftserteilung ebenfalls nicht auf und empfahl folgende Fassung eines §40 (2.StrRG) 13 : „ - Geldstrafe §40 Verhängung in Tagessätzen (1) D i e Geldstrafe wird in Tagessätzen verhängt. Sie beträgt mindestens fünf und, wenn das Gesetz nichts anderes bestimmt, höchstens dreihundertsechzig Tagessätze. (2) D i e H ö h e eines Tagessatzes bestimmt das Gericht unter Berücksichtigung der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse des Täters. Ein Tagessatz wird auf mindestens zwei und höchstens tausend Deutsche Mark festgesetzt. (3) D i e Einkünfte des Täters, sein Vermögen und andere Grundlagen für die Bemessung eines Tagessatzes können geschätzt werden. (4) In der Entscheidung werden Zahl und H ö h e der Tagessätze angegeben."

Zwischen der Verkündung des 2.StrRG am 4.7.1969 14 und seinem Inkrafttreten am 1.1.1975 war die Vorschrift des §40 im Zusammenhang mit den gesetzgeberischen Beratungen zu einem Einführungsgesetz zum Strafgesetzbuch (EGStGB) erneut Gegenstand eingehender Erörterungen. 9 Alternativ-Entwurf eines Strafgesetzbuches, Allg. Teil, 1966, S. 95 und inhaltsgleich in 2. Aufl. 1969, S. 101. 10 B T - D r u c k s . IV/650. 11 B T - D r u c k s . V/32 und V/2285. 12 B T - D r u c k s . V/4095, S . 2 0 f . 13 B T - D r u c k s . V/4095, S. 58. 14 B G B l . I S. 717.

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5. Der Rückgriff auf Steuerunterlagen zum Zweck der Bemessung der Tagessatzhöhe war in dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum EGStGB vom 10.5.1973 vorgeschlagen worden. §161 StPO sollte um einen Absatz folgenden Inhalts ergänzt werden15: „(2) Die Finanzbehörden erteilen den Gerichten und Staatsanwaltschaften auf deren Ersuchen Auskünfte über die ihnen bekannten wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten, die f ü r die Bemessung der Geldstrafe von Bedeutung sind. Um eine solche Auskunft soll nur ersucht werden, wenn die wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten sonst nicht hinreichend aufgeklärt werden könnten."

Zur Begründung wurde ausgeführt, daß die Grundlagen für die Bemessung der Tagessatzhöhe nach § 40 Abs. 3 i. d. F. des (damals noch nicht in Kraft getretenen) 2. StrRG zwar geschätzt werden können; wenn eine solche Schätzung überhaupt möglich und nicht bloße Willkür sein solle, bedürfe das Gericht jedoch gewisser ungefährer Anhaltspunkte, an denen es seine Schätzung ausrichten könne. Derartige ungefähre Anhaltspunkte könne dem Gericht das Finanzamt durch seine Angaben über die dort bekannten wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten liefern. Hierbei sei aber an eine Durchbrechung des Steuergeheimnisses nur in solchen Fällen gedacht, in denen die Sache ihrer Bedeutung nach ein Auskunftsersuchen an das Finanzamt rechtfertige und auf anderem Wege eine sichere Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse des Beschuldigten nicht möglich sei16. Darin lag bereits eine deutliche Einschränkung gegenüber §49 Abs. 3 AE. In der Begründung wurde weiter ausgeführt, daß die Auskünfte des Finanzamts über das versteuerte Einkommen des Beschuldigten und die zugrunde liegenden Angaben stets einen bereits zurückliegenden Zeitraum betreffen und deshalb nur Grundlage für eine Schätzung sein könnten. Das gleiche gelte für die dem Finanzamt bekanntgewordenen Erklärungen des Beschuldigten über seine voraussichtlichen Einkünfte und Umsätze im laufenden Steuerjahr. Sei jedoch eine hinreichend sichere Ermittlung der wirtschaftlichen Verhältnisse möglich, so scheide eine Schätzung aus. Dies sollte durch den vorgeschlagenen Satz 2 sichergestellt werden17. Dieser Regierungsentwurf wurde in der 14. Sitzung des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform am 25.9.1973 von Göhler18 weiter begründet. Der Interessenkonflikt zwischen der Wahrung des Steuergeheimnisses und der grundsätzlichen Verpflichtung der Behörden, Auskünfte zur Aufklärung des Sachverhalts zu geben, müsse zugunsten einer » BT-Drucks. VII/550, S . 4 3 . BT-Drucks. VII/550, S . 3 0 0 f . " BT-Drucks., aaO, S . 3 0 1 . i» Stenographischer Bericht, 7. Wahlperiode, S . 6 5 3 f ; vgl. auch ders., N J W 1974, 829.

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wirksamen Strafrechtspflege gelöst werden. Das Steuergeheimnis sei auch im übrigen in zahlreichen anderen Vorschriften bereits durchbrochen, wenn es darum gehe, die wirtschaftlichen Verhältnisse des Betroffenen aufzuklären. Es wurde insbesondere auf die zahlreichen Leistungsgewährungsgesetze verwiesen, wonach die Finanzbehörden die nötigen Auskünfte zu erteilen hätten. Wenn in diesen Fällen das Steuergeheimnis durchbrochen werde, um zu verhindern, daß Leistungen des Staates in einem nicht vertretbaren Maße gewährt werden, erscheine es auch gerechtfertigt, bei einem Strafverfahren den Interessenkonflikt zugunsten der Strafrechtspflege zu entscheiden. Vor dem Hintergrund der zwischenzeitlichen Ablehnung des Regierungsentwurfs eines §161 Abs. 2 StPO durch den Bundesrat und den Finanzausschuß wegen grundsätzlicher Bedenken hinsichtlich der Lokkerung des Steuergeheimnisses und auch im Hinblick auf den zu erwartenden Verwaltungsaufwand und die ungeklärte Frage eines über die Strafzumessung hinausgehenden Verwertungsverbots von entsprechenden Steuerauskünften wurde der Vorschlag der Bundesregierung in der 18. Sitzung des Sonderausschusses am 7.11.1973 nochmals diskutiert. Ein Ergebnis wurde jedoch nicht erzielt19. Schließlich wurde der Entwurf des § 161 Abs. 2 StPO in der 19. Sitzung am 9.11.1973 insgesamt gestrichen20. Am 1.1.1975 trat dann die heute geltende Fassung des §40 StGB durch das EGStGB 1975 in Kraft. 6. Die kontroverse Diskussion in der Gesetzgebung fand ihr Spiegelbild in der ebenfalls äußerst kontrovers geführten Diskussion im damaligen Schrifttum. In den Jahren 1974 bis 1977 wurde erneut die Dispensierung des Steuergeheimnisses gefordert, wie dies seinerzeit §49 Abs. 3 AE vorsah21, dem jedoch vor allem Tröndle22, Zipf3 und Peters24 mit beachtlichen Argumenten entgegentraten. Tröndle erschien diese Forderung sowohl in der Sache fragwürdig als auch eher dem Denken des totalen Verwaltungsstaates als einer freiheitlichen Rechtsordnung zu entstammen. Aus den bereits aus der Reformdiskussion bekannten Gründen seien Auskünfte der Steuerbehörden für die Ermittlung der aktuellen wirtschaftlichen Verhältnisse ohnehin nur bedingt maßgebend. Tröndle wies ferner mit Recht darauf hin, daß der erfahrene Strafrichter aus dem " Stenographischer Bericht, 7. Wahlperiode, S. 1070 ff. AaO, S. 1275. 21 Göhler, aaO (Fn. 18); Klussmann, NJW 1974, 1275; Seib, DAR 1975, 109; Horn in: Systematischer Kommentar (2. Aufl. 1977), §40 Rdn. 15; Horstkotte, O.Deutscher Verkehrsgerichtstag 1975, S. 89; Grebing, ZStW 88 (1976), 1049, 1103 f. 22 ZStW 86 (1974) 545, 591 f. 23 ZStW 86 (1974) 513, 528. 24 Der neue Strafprozeß, 1975, S.23. 20

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aufklärbaren wirklichen Lebenszuschnitt des Angeklagten regelmäßig verläßlichere Anhaltspunkte für eine täterangepaßte Geldstrafe finden werde, als wenn er wüßte, wie es der Angeklagte verstanden hat, sich in den vergangenen Jahren steuerlich veranlagen zu lassen. Zipf erschien die Auffassung der Interessen- und Güterabwägung zu Lasten des Steuergeheimnisses und zugunsten der Strafrechtspflege nicht akzeptabel, da ein so massiver Eingriff einen weitgehenden Verlust der Anonymität der Geldstrafe bedeute und der Verschleierung neuen Auftrieb gebe. 7. Die grundsätzliche Unzulässigkeit einer Auskunftserteilung der Finanzbehörden zwecks Ermittlung der Tagessatzhöhe nach § 40 StGB steht inzwischen außer Frage25 und ist auch in den allgemeinen Richtlinien zum Straf- und Bußgeldverfahren in Nr. 14 ausdrücklich erwähnt. Danach ist im „gewöhnlichen" Strafverfahren eine Ermächtigung des Beschuldigten einzuholen, wenn eine Auskunftserteilung durch die Finanz- und Steuerbehörden eingeholt werden soll. Im Fall der Verweigerung einer solchen Ermächtigung geht die Justizverwaltung also auch von der Unzulässigkeit einer Einführung von Steuerakten des Beschuldigten in das Strafverfahren aus. 8. Die sich über Jahrzehnte erstreckende Diskussion wurde bewußt so ausführlich wiedergegeben, um darzutun, daß der Wille des Gesetzgebers eindeutig ist. Er ergibt sich expressis verbis aus der Entstehungsgeschichte des § 40 StGB, folgt aber auch aus dem Wortlaut der Norm. Der Gesetzgeber hätte sich viel Formulierungsaufwand sparen können, wenn er die Erklärungen, die der Angeklagte als Steuerpflichtiger im Rahmen des Besteuerungsverfahrens abzugeben hat, zur Bemessungsgrundlage der Tagessatzhöhe hätte machen wollen. In den „gewöhnlichen" Strafverfahren findet denn auch - soweit ersichtlich - diese Entscheidung des Gesetzgebers Beachtung. III. Etwas anderes scheint jedoch für das Steuerstrafverfahren zu gelten. Trotz des eindeutigen gesetzlichen Befundes greifen die Gerichte, soweit es um die Bemessung der Tagessatzhöhe geht, oftmals auf die in Betracht kommenden Steuererklärungen und Bescheide des Angeklagten zurück und scheuen sich nicht, diese ganz oder zumindest auszugsweise zu verlesen. 1. In der Praxis pflegt sich dies wie folgt abzuspielen: Wie sich aus §407 AO ergibt, steht den Vertretern der örtlich und sachlich zuständigen 25 Vgl. etwa Dreher/Tröndle, Schröder, §40 Rdn. 20.

§40 Rdn.26; Lackner, §40 Rdn. 17; Stree in: Schönke/

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Finanzbehörde das Recht zu, an der Hauptverhandlung, in der es um Steuerstraftaten geht, teilzunehmen. Davon machen sie in aller Regel Gebrauch. Wenn die Beweisaufnahme zu Ende geht und sich eine Verurteilung abzeichnet, hat das erkennende Gericht die wirtschaftlichen Verhältnisse des Angeklagten aufzuklären. Die Erklärung des Angeklagten, er wolle sich dazu nicht äußern, hilft ihm wenig, denn die Vertreter der Finanzbehörde füllen das zunächst entstandene Vakuum mit dem Hinweis, daß sie in der Lage seien, dem Gericht die entsprechenden Informationen zur Verfügung zu stellen. Die erstaunten Prozeßbeteiligten — vornehmlich Angeklagte und Verteidiger - müssen zur Kenntnis nehmen, daß sich die Vertreter der Finanzbehörde vom Besteuerungsfinanzamt die einschlägigen Unterlagen längst verschafft haben, die sie dem Gericht zum Zwecke der Verlesung überreichen, wovon dieses schon aus Gründen der Prozeßökonomie nur allzu gerne Gebrauch macht. 2. Alle Einwendungen, daß diese Vorgehensweise nicht mit §40 StGB zu vereinbaren und daher rechtswidrig sei, bleiben vergeblich. Die Gerichte, vor allem aber die Vertreter der Finanzbehörde, pflegen sich auf die vom Bundesfinanzministerium in Abstimmung mit den A O Referenten der Länder erarbeiteten und in den alten Bundesländern am 15.10.1984 veröffentlichten und durch den Einigungsvertrag nunmehr auch in den fünf neuen Bundesländern geltenden Anweisungen für das Straf- und Bußgeldverfahren (Steuer) zu berufen, die in Nr. 112 Abs. 3 Satz 2 wörtlich bestimmen: „Zur Durchführung eines Steuerstrafverfahrens können der Staatsanwaltschaft und dem Gericht auf deren Ersuchen die für die Festsetzung des Tagessatzes erforderlichen Angaben über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse mitgeteilt werden".

Darüber hinaus existiert eine inhaltsgleiche Verfügung der OFD Nürnberg vom 3.10.1988 26 , die zwar nicht für die übrigen OFDBezirke bindend ist, auf die sich die Finanzverwaltung inzwischen aber offensichtlich bundeseinheitlich beruft 27 . 3. Ob die geschilderte Praxis rechtlich zulässig ist, soll nachfolgend erörtert werden. Dabei empfiehlt es sich, zum besseren Verständnis von den beiden nachfolgend geschilderten Fallkonstellationen auszugehen. - Dem Gericht werden zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage nach §40 StGB Steuerbescheide oder sonstige Steuerakten vorgelegt, die den Besteuerungsvorgang betreffen, der gleichzeitig Gegenstand der abzuurteilenden Steuerstraftat ist. 26 27

S 0130 - 755/St 24, abgedr. in DStR 1988, 748. Vgl. auch Tipke/Kruse, Kommentar zur AO, §30 A O (Stand: April 1989) Rdn.45.

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Beispiel 1: Der Α ist wegen fortgesetzter Hinterziehung von Einkommensteuer für die Jahre 1987-1989 angeklagt. In der im Jahr 1991 stattfindenden Hauptverhandlung wird zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage für eine zu verhängende Geldstrafe der inzwischen berichtigte Steuerbescheid für das Jahr 1989 verlesen, da der Angeklagte Angaben über seine wirtschaftlichen Verhältnisse verweigert.

- Dem Gericht werden Erklärungen und Bescheide vorgelegt, die nicht den Besteuerungsvorgang betreffen, der Gegenstand der abzuurteilenden Steuerstraftat ist. Beispiel 2: Sachverhalt wie in Beispiel 1, wobei jedoch dem Gericht ausschließlich zur Bemessung der Tagessatzhöhe der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 1990 zur Verlesung überreicht wird. Beispiel 3: Der G ist als Geschäftsführer einer GmbH wegen Hinterziehung von Umsatz- und Lohnsteuer angeklagt, die er für die GmbH hätte abführen müssen. In der Hauptverhandlung wird zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage für eine Geldstrafe der Einkommensteuerbescheid des G verlesen. Beispiel 4: Der C ist wegen Beihilfe zu einer Steuerhinterziehung angeklagt, die D begangen hat. Da der C von seinem Schweigerecht umfassend Gebrauch macht, wird zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die vom Gericht beabsichtigte Verhängung einer Geldstrafe der aktuelle Einkommensteuerbescheid des C auszugsweise verlesen.

4. Vor dem Hintergrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 15.12.1983 28 zur Frage des informationellen Selbstbestimmungsrechts ist zunächst allgemein festzuhalten, daß weder die Anweisungen zum Straf und Bußgeldverfahren (Steuer) noch die Verfügung der O F D Nürnberg eine hinreichende Ermächtigungsgrundlage für die Weitergabe von Steuerunterlagen zum Zwecke der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Tagessatzhöhe in einem Steuerstrafverfahren darstellen. Bei den im Steuerbescheid enthaltenen Angaben handelt es sich um personenbezogene Daten, die bekanntlich dem Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 G G unterfallen. Das BVerfG hat ausdrücklich darauf hingewiesen, daß jede Art der Weitergabe personenbezogener Daten nach Art. 2 Abs. 1 G G „einer verfassungsmäßigen gesetzlichen Grundlage" bedarf. Da es sich sowohl bei den Anweisungen als auch bei der Verfügung der O F D Nürnberg lediglich um interne Verwaltungsanordnungen handelt, denen weder Gesetzeskraft noch unmittelbare Außenwirkung gegenüber dem Bürger zukommt, können diese auch nicht als eigenständige Ermächtigungsgrundlage für eine Weitergabe von Steuerunterlagen an das Gericht herangezogen werden. Derartige Verwaltungsanordnungen können allenfalls als sog. „Auslegungshinweise" verstanden werden. BVerfGE 65, 1 ff.

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Als Ermächtigungsgrundlage für die Verlesung von Steuererklärungen und -bescheiden zur Bemessung der Tagessatzhöhe scheiden sie mangels Rechtsnormqualität im Sinne eines formellen oder materiellen Gesetzes aus. 5. Zu fragen ist, ob § 30 Abs. 4 und Abs. 5 AO als tragfähige rechtliche Grundlage in Betracht kommt. Danach ist die Offenbarung erlangter steuerlicher Kenntnisse zulässig, soweit sie der Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer Steuerstraftat dient. Was zunächst den Sachverhalt anlangt, der im Beispielsfall 1 geschildert wurde, unterliegt es keinem Zweifel anzunehmen, daß Amtsträger der Finanzbehörde Kenntnisse der in § 30 Abs. 2 AO beschriebenen Art zulässigerweise offenbaren, wenn sie der Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer Steuerstraftat dienen (§30 Abs.4 Nr. 1 i.V. mit Abs. 2 Nr. 1 b AO). Es versteht sich von selbst, daß Steuerstrafverfahren nur sachgerecht durchgeführt werden können, wenn sämtliche in Betracht kommenden Steuerunterlagen den Ermittlungsbehörden und dem Gericht zur Verfügung gestellt werden. Soweit sich die Steuerunterlagen auf diejenige Steuerart und denjenigen Zeitraum beziehen, die Gegenstand der angeklagten Steuerstraftat sind, steht die Zulässigkeit der Beiziehung zur Tataufklärung außer Frage. Die durch die Aktenbeiziehung und deren Verlesung im Rahmen der Tataufklärung gewonnenen Ergebnisse stehen dem Gericht nunmehr auch zur Ermittlung der Bemessungsgrundlage zur Verfügung. Ein Verwertungsverbot des Inhalts, daß die Ergebnisse einer im Rahmen der Tataufklärung zulässigen Beweiserhebung bei der Strafzumessung nicht berücksichtigt werden dürfen, kennt die StPO nicht. Im Beispielsfall 1 bestehen also keine Bedenken gegen die Verwertung der aus dem Steuerbescheid gewonnenen Erkenntnisse für die Bemessung des Tagessatzes. 6. Was hingegen die Beispiele 2 bis 4 anlangt, handelt es sich zwar auch um Steuerstrafverfahren, doch betrifft der Steuerbescheid nicht den Tatzeitraum (Beispiel 2) oder es geht vorrangig um die Steuerschuld eines anderen, entweder der GmbH (Beispiel 3) bzw. des D (Beispiel 4). Es stellt sich die Frage, ob in diesen Fällen eine Verlesung von Steuererklärungen bzw. -bescheiden zum Zweck der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Tagessatzhöhe von §30 Abs. 4 Nr. 1 i.V. mit Abs.2 Nr. 1 b AO gedeckt ist. a) Ihre Beantwortung hat auszugehen von dem Wortlaut der Norm. Nach §30 Abs. 4 AO ist die Offenbarung zuvor - nach Abs. 2 der Vorschrift - erlangter Kenntnis über steuerliche Verhältnisse zulässig, soweit sie „der Durchführung eines Verfahrens i. S. des Abs. 2 Nr. 1 Buchst, a und b AO dient". In dem hier in Bezug genommenen Abs. 2

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Nr. 1 Buchst, b A O ist von „einem Strafverfahren wegen einer Steuerstraftat" die Rede. Die Fragestellung spitzt sich zu auf eine Interpretation des Begriffs „Durchführung eines Verfahrens". Ist darunter der gesamte Ablauf des Strafverfahrens bis zu seinem rechtskräftigen Abschluß und gegebenenfalls bis zur Strafvollstreckung oder die Aufklärung der Tat i. S. des § 264 StPO zu verstehen? Höchstrichterliche Entscheidungen liegen bislang nicht vor. Im Schrifttum findet sich - soweit diese Frage überhaupt aufgegriffen wird - lediglich die allgemeine Bemerkung, daß es genüge, wenn das Offenbaren für die Einleitung oder den Fortgang des betreffenden Verfahrens nützlich sei29. Als entscheidender Ansatzpunkt ist nicht der inhaltlich verkürzte Begriff „Durchführung eines Verfahrens" anzusehen, sondern der der „Durchführung eines Strafverfahrens wegen einer Steuerstraftat". Anders ausgedrückt: es geht um die Aufklärung einer Steuerstraftat, nicht um die im Verhältnis dazu nachrangige Frage der Strafzumessung. Gemeint ist - wie im Strafverfahren sonst auch allgemein - die prozessuale Tat i.S. des §264 StPO, d.h. der gesamte (geschichtliche) Lebensvorgang einschließlich aller damit zusammenhängender oder darauf bezüglicher Vorkommnisse, aus denen die zugelassene Anklage gegen den jeweiligen Angeklagten den Vorwurf einer Steuerstraftat oder Ordnungswidrigkeit herleitet30. b) Daß dies so ist, folgt nicht nur aus dem Prinzip der Einheit der Rechtsordnung, sondern ergibt sich auch aus der A O selbst, nämlich aus den §§369 Abs. 2 und 385 Abs. 1 AO. Gem. §369 Abs. 2 AO gelten für Steuerstraftaten „die allgemeinen Gesetze Uber das Strafrecht, soweit die Strafvorschriften der Steuergesetze nichts anderes bestimmen". Da keine besondere steuerstrafrechtliche Bestimmung über die Bemessung der Geldstrafen im Falle der Begehung einer Steuerstraftat vorhanden ist, bewendet es bei § 40 StGB, und zwar ohne jede Einschränkung. Ergänzend ist anzumerken: in der oben unter II. skizzierten Diskussion um die Fassung des §40 StGB wurde keinerlei Unterscheidung zwischen „gewöhnlichen" Strafverfahren und solchen Strafverfahren vorgenommen, die eine Steuerstraftat zum Gegenstand haben. Auch unter der Geltung des §22 RAO, der Vorläufervorschrift des §30 AO 1977, war zwar anerkannt, daß die Finanzbehörden im Steuerstrafverfahren Auskünfte erteilten, die für die Beurteilung der jeweils in 29 Vgl. etwa Tipke/Kruse, §30 A O Rdn.40; Koch, 3.Aufl. 1986, §30 A O Rdn.18; ebenso Lohmeyer, Die Information 1983, 533, 534. 30 Gollwitzer in: Löwe/Rosenberg, §264 StPO Rdn.4 m . w . N .

268

Günter Kohlmann

Rede stehenden Tat im Sinne eines geschichtlichen Vorgangs erforderlich waren, doch wurde stets ein zwingendes öffentliches Interesse vorausgesetzt, wobei hinzuzufügen ist, daß es allgemeiner Auffassung entsprach, diese Voraussetzung eng auszulegen31. In Konsequenz dessen findet sich weder in der Rechtsprechung noch im Schrifttum jener Zeit irgendein Hinweis, daß es zulässig gewesen sein könnte, steuerliche Verhältnisse nur deswegen zu offenbaren, um den Gerichten die Möglichkeit zu verschaffen, eine angemessene Geldstrafe zu verhängen. Wenn der Gesetzgeber des § 40 StGB die strengen Voraussetzungen dieser Vorschrift für den Bereich des Steuerstrafrechts nicht hätte greifen lassen wollen, hätte er in Kenntnis der strengen Auslegung des Begriffs des Steuergeheimnisses eine Ausnahme vorgesehen. Er hat dies aus den unter II. geschilderten Erwägungen zu Recht nicht getan. Es ist insoweit kein Grund für eine unterschiedliche Behandlung von „gewöhnlichen" Straftätern und Steuerstraftätern ersichtlich. Gem. §385 AO gelten „für das Strafverfahren wegen Steuerstraftaten ... die allgemeinen Gesetze über das Strafverfahren, namentlich die Strafprozeßordnung, das Gerichtsverfassungsgesetz und das Jugendgerichtsgesetz". Dies bedeutet, daß sich der Ablauf des gesamten Steuerstrafverfahrens, sieht man von den in den §§386—408 AO enthaltenen Besonderheiten ab, nach den Vorschriften der StPO bestimmt. Die §§155 und 264 StPO finden Anwendung. Es gilt somit der diesen Vorschriften und damit der dem gesamten Strafverfahren zugrunde liegende verfahrensrechtliche Tatbegriff. c) Für die Richtigkeit der Auffassung, daß die Finanzbehörden nicht befugt sind, ihre Kenntnis über steuerliche Verhältnisse des Angeklagten den Gerichten mitzuteilen, um ihnen eine Bemessungsgrundlage für die Festsetzung der Tagessatzhöhe zu liefern, spricht neben den am Wortlaut der genannten Vorschriften orientierten Überlegungen folgende allgemeine Erwägung, die sich aus dem Verhältnis des Besteuerungszum Strafverfahren ergibt. Fest steht, daß beide Verfahren in der Praxis nebeneinander laufen und sogar von denselben Amtsträgern geführt werden können. Um zu verhindern, daß der Steuerpflichtige unter Hinweis auf ein gegen ihn laufendes Steuerstrafverfahren die Erfüllung seiner steuerlichen Pflichten verweigert, ist in § 393 Abs. 1 Satz 1 AO ausdrücklich festgeschrieben, daß sich die Rechte und Pflichten der Steuerpflichtigen und der Finanzbehörden im Besteuerungs- und im Strafverfahren nach den für das jeweilige Verfahren geltenden Vorschriften bestimmen. Zweck dieser 31 Vgl. etwa Spanner in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Reichsabgabenordnung, 1.-6. Aufl. (1951-1976), §22 RAO Rdn.60.

§40 Abs. 2 und 3 StGB - in Steuerstrafverfahren bedeutungslos?

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Regelung ist zu verhindern, daß der unter dem Verdacht der Begehung einer Steuerstraftat stehende Steuerpflichtige aus diesem Umstand für das Besteuerungsverfahren Vorteile erlangt. Andererseits muß aber Vorsorge dagegen getroffen werden, daß ihm daraus Nachteile erwachsen. Deswegen werden in § 393 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 A O die Zwangsmittelbefugnisse der Finanzbehörden eingeschränkt und in Abs. 2 die Verwendung bestimmter im Besteuerungsverfahren erlangter Kenntnisse zum Zwecke der Strafverfolgung untersagt32. Von diesen allgemeinen, hier nicht weiter interessierenden Einzelheiten abgesehen, obliegen dem Steuerpflichtigen im Besteuerungsverfahren trotz des gegen ihn laufenden Strafverfahrens weitgehende Mitwirkungspflichten. Sie dienen nicht nur der Erfassung des Steuerpflichtigen (§§ 135, 137, 199 AO), sondern vor allem auch der Ermittlung der für die Besteuerung erheblichen Sachverhalte (§§90, 93, 95, 97, 100, 140, 141, 143, 144, 147, 211 AO) 33 . Sie können zwar nicht durch Zwangsmittel (§328 AO) erzwungen werden (§393 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 AO), doch stellt ihre Verweigerung ein pflichtwidriges Verhalten dar, das es den Finanzbehörden gestattet, zu dem Mittel „nachteiliger Schätzungen" zu greifen. Daß dies nicht unbedenklich ist, versteht sich von selbst, entspricht aber der täglichen Praxis34. Aus alledem folgt: Dem Steuerpflichtigen, gegen den ein Steuerstrafverfahren wegen des Verdachts einer Steuerstraftat anhängig ist, obliegt es zwar, auch für diesen Zeitraum seine steuerlichen Mitwirkungspflichten zu erfüllen. Allerdings wird er durch § 393 Abs. 1 Satz 2 A O davor geschützt, sich selbst belasten zu müssen. Nach dieser Vorschrift ist die Anwendung von Zwangsmitteln im Besteuerungsverfahren unzulässig, wenn der Steuerpflichtige dadurch gezwungen würde, sich selbst wegen einer von ihm begangenen Straftat oder Steuerordnungswidrigkeit zu belasten. Nach dem Willen des Gesetzgebers soll durch die Regelung im Besteuerungsverfahren erreicht w e r d e n , daß „niemand sten"*.

gezwungen

werden kann, sich selbst zu

bela-

Wie sich aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt, besteht das Recht, die Mitwirkung zu verweigern aber nur, soweit er eine Steuerstraftat begangen hat bzw. wegen einer solchen Tat das Strafverfahren eingeleitet ist. Anders ausgedrückt: Er kann seine Mitwirkung im Besteuerungsverfahren unter Hinweis auf diese Regelung nur eingeschränkt verweigern. 32 33

34 35

Vgl. zum Ganzen Kohlmann, Steuerstrafrecht, 5. Aufl., §393 Rdn. 12 ff. Vgl. auch Kohlmann, aaO, Rdn. 28. Kohlmann, aaO, Rdn. 36. So wörtlich in der Begründung des Finanzausschusses, BT-Drucks. VII/4292, S. 46.

270

Günter Kohlmann

Auf alle steuerlichen Umstände, die mit der in Rede stehenden Tat keinen Zusammenhang aufweisen, erstreckt sich seine Mitwirkungspflicht weiterhin, die gegebenenfalls mit den in §328 A O enthaltenen Zwangsmitteln durchsetzbar ist. Zu den Angaben, die zu machen er verpflichtet ist, können solche über andere Steuern, andere Besteuerungszeiträume oder Steuern Dritter gehören. Weiterhin sind hier Angaben zu seinen wirtschaftlichen Verhältnissen im Zeitpunkt der Hauptverhandlung zu nennen, sofern sie in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Besteuerungsvorgang stehen, der Gegenstand der Steuerstraftat ist. Dürften die Finanzbehörden die so rechtmäßig erlangten Kenntnisse an das mit der Steuerstraftat befaßte Gericht weitergeben, bedeutete dies im Ergebnis einen Verstoß gegen das Verbot der Selbstbelastung, das der Gesetzgeber aber gerade in §393 Abs. 1 Satz 2 und Satz 3 A O festgeschrieben hat. Nur so kann das widersinnige Ergebnis vermieden werden, daß sich die Gerichte Bemessungsgrundlagen für die Tagessatzhöhe in Steuerstrafverfahren mittelbar über die Finanzbehörde verschaffen, die sie unmittelbar nicht erlangen dürfen. Diese differenzierte Betrachtungsweise scheint auch deswegen zutreffend, weil sie zu einem praktikablen Ergebnis führt. Andernfalls könnte der Beschuldigte unter Hinweis auf das gegen ihn laufende Steuerstrafverfahren bis zu dessen rechtskräftigem Abschluß jegliche Angaben über seine wirtschaftlichen Verhältnisse verweigern. Nur diese den Ausnahmecharakter des §393 A O berücksichtigende Betrachtungsweise wird den besonderen Verhältnissen gerecht, die sich daraus ergeben, daß Besteuerungs- und Strafverfahren mit ihrer unterschiedlichen Ausgestaltung der Rechtsstellung des Steuerpflichtigen bzw. Beschuldigten nebeneinander laufen. Wenn der Steuerpflichtige zur Mitwirkung im Besteuerungsverfahren grundsätzlich verpflichtet ist, dann darf das nicht dazu führen, daß er sich durch die Erfüllung dieser Pflicht im Strafverfahren Schaden zufügt. Dies wäre der Fall, wenn seine Angaben, die er im Besteuerungsverfahren zu machen verpflichtet ist, für die Bemessung einer Geldstrafe verwendet werden könnten. Diese Betrachtungsweise verdient auch deswegen Zustimmung, weil sie den in §40 StGB vorgesehenen Regelungsmechanismus für das Steuerstrafverfahren nicht verändert. Sie führt für die oben unter III.3. angeführten Beispiele zu dem Ergebnis, daß die Bekanntgabe der steuerlichen Verhältnisse an die Gerichte zum Zwecke der Ermittlung der Bemessungsgrundlage für die Tagessatzhöhe unzulässig ist, weil sie in keinem Zusammenhang mit der Aufklärung der angeklagten Steuerstraftat steht.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich HARRO OTTO

I. Die Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme

1. Die Differenzierung

im

Vorsatzbereich

Mit der Differenzierung von Täterschaft und Teilnahme in den §§ 25 ff StGB knüpfte der Gesetzgeber an bekannte soziale Phänomene an, denn im Sozialleben ist - unabhängig von Fragen strafrechtlicher Zurechnung - eine unterschiedliche Zurechnung eines Ereignisses zu verschiedenen an seiner Entstehung beteiligten Personen durchaus üblich. Neben Sachverhalten, in denen mehrere beteiligte Personen als Einheit (Mittäterschaft) erfaßt werden, gibt es Sachverhalte, in denen eine Person als Zentralgestalt herausgehoben wird, während andere nur als - auch beteiligte - Randfiguren erscheinen (Täter/Teilnehmer)1. - Indem der Gesetzgeber mit seinen Regelungen an derart im sozialen Raum vorgegebene Strukturen anknüpft und sie dabei modifiziert und akzentuiert, leitet er die soziale Akzeptanz dieser Regeln auf die Rechtsregelungen über. Täterschaft und Teilnahme kennzeichnen in diesem Verständnis unterschiedliche Positionen im sozialen Raum, die durch eine unterschiedliche Verantwortung für das relevante Ereignis begründet werden. Der Täter ist der für die im Tatbestand beschriebene Rechtsgutsverletzung primär Verantwortliche, er entscheidet über „Wie" und „Ob" der Tat, während dem Teilnehmer nur eine Position sekundärer Verantwortung zukommt, da die Wirksamkeit seines Tatbeitrages vom Entschluß des Täters, den Tatplan zu realisieren, abhängig ist2. Diese grundsätzliche Differenzierung - von Einzelheiten der Begründung kann hier abgesehen werden, weil sie in diesem Zusammenhang nicht relevant werden - macht es möglich, einen bestimmten Erfolg einer Person (Täter) als ihr Werk zuzurechnen, während der Anteil anderer Personen (Teilnehmer) lediglich als Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung des Erfolgs gekennzeichnet werden kann. - Der damit umrissene

1 2

Vgl. dazu Hardwig, CA 1954, 353 ff. Im einzelnen dazu Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, 3. Aufl. 1988, §§21 I, 22 I 2 c.

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Harro Otto

„restriktive Täterbegriff" 3 erfaßt die Tatbestandsbeschreibung zugleich als Beschreibung des Täters, während die Teilnahmevorschriften des Allgemeinen Teils als Erweiterung der Strafbarkeit, als sog. Strafausdehnungsgründe, verstanden werden.

2. Fahrlässige Beteiligung am Vorsatzdelikt a) Die Differenzierung zwischen fahrlässiger täterschaftlicher und nicht täterschaftlicher Deliktsverwirklichung Auf der Basis des restriktiven Täterbegriffs ist es nicht nur möglich, zwischen Täterschaft und Teilnahme als unterschiedlichen Zurechnungsformen im Vorsatzbereich zu differenzieren, sondern auch Fälle fahrlässiger Teilnahme am Vorsatzdelikt sind abgrenzbar. Der Täter des vorsätzlichen Begehungsdelikts z . B . ist als die Person definiert, die das tatbestandsmäßige Geschehen final steuernd beherrscht. Personen, deren Tatbeitrag in seiner Wirksamkeit für die Rechtsgutsverletzung vom Willen dieser Person abhängig ist, haben die Position von Randfiguren inne, gleichgültig, ob sie ihren Tatbeitrag vorsätzlich oder fahrlässig leisten. Der Erfolg kann ihnen nicht als Tätern zugerechnet werden, es sei denn, es trifft sie neben der Verantwortung für ihren Tatbeitrag eine primäre Verantwortung für die Rechtsgutsverletzung, weil sie rechtlich verpflichtet sind, rechtsgutsverletzendes Verhalten Dritter zu verhindern. Diese Ausnahmesituation berührt die relevante grundsätzliche Problematik jedoch nicht. Diese liegt vielmehr darin begründet, daß die fahrlässige Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung der vorsätzlichen Rechtsgutsverletzung durch einen anderen grundsätzlich nicht dazu führen kann, dem fahrlässig Handelnden den Erfolg als sein Werk zuzurechnen, so daß er in die Position des Täters der Rechtsgutsverletzung gelangt. Einzelheiten der Abgrenzung 4 können hier dahinstehen, und es braucht auch der Frage, ob die fahrlässige „nicht täterschaftliche Beteili3 Eingehend dazu Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Strafrecht, 1985, S. 115ff; Roxin, L K , 10. Aufl. 1978ff, Vor § 2 5 R d n . 9 f f . 4 Die zunächst bestechende Abgrenzung der Teilnahmehandlungen im Fahrlässigkeitsbereich unter dem Aspekt, daß die Verantwortlichkeit für die Fahrlässigkeitstat nicht weiter reichen kann als für die Vorsatztat, daher Verhaltensweisen, die, vorsätzlich verwirklicht, nur Teilnahmeunrecht darstellen, auch fahrlässig verwirklicht nur Teilnahmeunrecht sein können - vgl. H. Mayer, Strafrecht, AT, 1953, S. 312; Wehrle, Fahrlässige Beteiligung am Vorsatzdelikt - Regreßverbot?, 1986, S. 83; dazu auch Seier, J A 1990, 345 - , führt in Grenzfällen nicht weiter, weil ein Verhalten, bei dem die Fahrlässigkeit gedanklich durch Vorsatz ersetzt wird, aufgrund des finalen Steuerungselements dann durchaus als mittäterschaftliche Begehungsweise erscheinen kann, während das Fehlen dieses Elements einer täterschaftlichen Zurechnung entgegensteht.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

273

gung" überhaupt als Teilnahme bezeichnet werden darf, da Teilnahme gesetzlich in §§26, 27 StGB definiert ist, nicht nachgegangen zu werden. Es kommt nämlich nicht darauf an, ob die fahrlässige nicht täterschaftliche Beteiligung straflos bleibt, weil nur die fahrlässige täterschaftliche Deliktsverwirklichung in den fahrlässigen Erfolgsdelikten unter Strafe gestellt ist 5 , oder ob es sich hier um Fälle fahrlässiger Teilnahme handelt, die aber gesetzlich nicht mit Strafe bedroht sind6. Für die grundsätzliche Problemstellung ist allein die Feststellung relevant, daß es neben der täterschaftlichen Zurechnung im Fahrlässigkeitsbereich auch Formen fahrlässiger nicht täterschaftlicher Beteiligung gibt 7 und daß die Differenzierung zwischen Täterschaft und nichttäterschaftlicher Beteiligung (Teilnahme i. S. sorgfaltspflichtwidriger Mitwirkung) auch hier weitreichende Konsequenzen hat, wenn in den Tatbeständen der fahrlässigen Erfolgsdelikte der Täter dieser Delikte beschrieben ist und nicht jeder schlechthin an der Tatausführung Beteiligte. b) Die Ablehnung der Differenzierung zwischen verschiedenen Zurechnungsformen im Fahrlässigkeitsbereich In der Literatur wird allerdings weithin davon ausgegangen, daß das geltende Strafrecht nicht zwischen der fahrlässigen Täterschaft und der fahrlässigen Teilnahme differenziert, vielmehr auf Abstufungen verzichtet und nur den Einheitstäter als Einzeltäter kennt 8 , ζ. T . wird nur darauf abgestellt, daß jeder, der unvorsätzlich, aber sorgfaltspflichtwidrig einen tatbestandlichen Erfolg mitverursacht, als Täter des Fahrlässigkeitsdelikts anzusehen sei. „Jedes Maß der Mitursächlichkeit für den unvorsätzlich herbeigeführten tatbestandlichen Erfolg durch eine Handlung, die die im Verkehr erforderliche Sorgfalt nicht beachtet, begründet die Täterschaft des betreffenden fahrlässigen Delikts" 9 . Offen bleibt dabei, ob überhaupt ein Unterschied in den verschiedenen Positionen von den Vertretern dieser Auffassungen gesehen wird. - Dieser Unterschied be-

Vgl. Maurach/Gössel/Zipf, Strafrecht, A T 2, 7. Aufl. 1989, § 4 7 R d n . 1 0 7 . Vgl. Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, Vor § 2 5 R d n . 2 . 7 Vgl. dazu auch Bloy, Beteiligungsform, S. 142, 2 2 7 f ; Bruns, Kritik der Lehre vom Tatbestand, 1932, S. 61 ff; Franzheim, Die Teilnahme an unvorsätzlicher Haupttat, 1961, S. 38 f; Otto, Grundkurs Strafrecht, A T , § 2 1 V 4; ders., Jura 1990, 48 f. 5 6

8 Vgl. Günther, JuS 1988, 386, F n . 3 ; Jakobs, Strafrecht, A T , 2. Aufl. 1991, 21/111 f; Samson, SK I, Stand: April 1991, § 2 5 Rdn. 41; Schmidhäuser, Strafrecht, A T , 2. Aufl. 1975, 14/9. 9 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.99. - Im übrigen vgl. Gallas, Beiträge zur Verbrechenslehre, 1968, S. 90 ff; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S . 9 9 ff; Jescheck, Strafrecht, A T , 4. Aufl. 1988, § § 2 1 IV, 61 V I ; Roxin, L K , § 2 5 Rdn. 156; ders., Tröndle-Festschrift, 1989, S. 178; Stratenwerth, Strafrecht, A T I, 3. Aufl. 1981, Rdn. 1152; Wessels, Strafrecht, A T , 21. Aufl. 1991, § 1 3 I 1.

274

Harro Otto

steht jedoch, denn erfaßt der Einheitstäter die sonst unter der Bezeichnung Täterschaft, Anstiftung und Beihilfe beschriebenen Beteiligungsformen, so entscheidet die Definition des Begriffs „bestimmt" in §26 StGB - Verursachen des Tatentschlusses, geistiger Kontakt mit dem Ziel der Verursachung des Tatentschlusses, Beeinflussung des Haupttäters zur Tatverwirklichung10 - über die Grenze der Strafbarkeit und über die Abgrenzung zu nicht strafbaren Fällen der Verursachung des Tatentschlusses. Je nach der Weite der Begriffsbestimmung bestehen daher Differenzen in der Haftung als Einzeltäter und der als Mitverursacher des Taterfolges. Diese Differenzen treten bereits bei der Beteiligung an einer vorsätzlichen Tat auf, bei der entsprechend der Regelung der §§26, 27 StGB durchaus ein umgrenzter Bereich „fahrlässiger Teilnahme" auszumachen ist. Bei der „fahrlässigen Beteiligung" an „fahrlässiger Tat" verschwimmen jedoch die Konturen, die Strafbarkeit wird unüberschaubar ausgedehnt, denn die in §§ 26, 27 StGB definierten Beteiligungsformen lassen sich nicht mehr entsprechend diesen Regelungen umreißen, wenn an Stelle der vorsätzlichen Haupttat die fahrlässige Haupttat tritt11. Diese unerträgliche Ausweitung der Strafbarkeit ist auch nicht mit dem Verweis auf den Inhalt der Sorgfaltspflicht zu begrenzen12. Die Kernfrage der inhaltlichen Bestimmung der Sorgfaltspflicht geht nämlich letztlich dahin, ob die fahrlässigen Erfolgsdelikte nur die täterschaftliche Herbeiführung des Erfolges verbieten oder schon die Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung des Erfolgs. 3. Die rechtsdogmatische Notwendigkeit der Differenzierung zwischen verschiedenen Zurechnungsformen im Fahrlässigkeitsbereich Dogmatisch und kriminalpolitisch überzeugend hat Günter Spendet die Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnehmer im Fahrlässigkeitsbereich verteidigt13. Er ist dabei nicht von dem bereits begrenzten restriktiven Täterbegriff ausgegangen, sondern vom extensiven Täterbegriff und hat geltend gemacht, daß dieser Täterbegriff im Fahrlässigkeitsbereich der Einschränkung bedarf, wenn der gesetzgeberische Wille nicht verfälscht werden soll: „Wenn der Gesetzgeber aus dem Kreis der Erfolgsverursachungen mehrerer Mitwirkender bestimmte Tatbeiträge herausnimmt und nicht als Täterschaft, sondern als Teilnahme qualifiziert und selbst bei Vorsatz ζ. T. sogar milder bestraft, dann ist das zu 10 11 12

13

Im einzelnen dazu Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, §22 II 2 a. Dazu auch Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, §47 Rdn. 107. Diesen Weg geht Jescheck, AT, § 54 IV. Spendel, JuS 1974, 755 f.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

275

beachten. Die Interpretation, daß nur die vorsätzliche Teilnahme erfaßt ist, da allein sie ausdrücklich für strafbar erklärt worden ist, folgt aus dem Gebot, die Strafbarkeit einer Tat vor ihrer Begehung gesetzlich zu bestimmen. Hätte der Gesetzgeber neben der vorsätzlichen auch die fahrlässige Teilnahme an fremder Haupttat erfassen wollen, hätte er dies aussprechen müssen" 14,15 . - Daß auch bei Fahrlässigkeitstaten Täterschaft und Teilnahme begrifflich unterschieden werden können, hatte er zuvor nachgewiesen 16 . Gegen die von Günter Spendet geforderte Einschränkung des extensiven Täterbegriffs und damit ganz allgemein gegen die Begrenzung der Fahrlässigkeitshaftung auf die täterschaftliche Verantwortung ist allerdings eingewendet worden, das Gesetz selbst lasse ζ. B. durch die unterschiedlichen Formulierungen des § 2 1 2 StGB („Wer einen Menschen t ö t e t . . . " ) und des § 222 StGB („Wer . . . den Tod eines Menschen verursacht,...") erkennen, daß im zweiten Fall ein weiterer Täterbegriff gelten soll 17 . - Jedoch hat schon Schumann18 darauf hingewiesen, daß bereits Goltdammer19 klargestellt habe, daß der Sinn des Wechsels in der gesetzlichen Ausdrucksweise allein darin liege, jeweils die unmittelbare Täterschaft sprachlich treffend zu kennzeichnen, nämlich durch das Wort „töten" das Tun desjenigen angemessen zu beschreiben, dessen Handlungen „direkt auf diesen Erfolg gerichtet sind" und die hier bestehende „unmittelbare Verbindung zwischen der Absicht und dem Erfolge" zum Ausdruck zu bringen, mit dem Begriff der „Verursachung" des Todes dagegen dem Fehlen dieser Verbindung Rechnung zu tragen. Die sprachliche Differenzierung im Gesetzeswortlaut ist daher nicht geeignet, eine über die täterschaftliche Haftung hinausgehende Haftung im Fahrlässigkeitsbereich zu begründen 20 . Auch der historische Gesetzgeber hat sie nicht gewollt 21 . Dem soll jedoch nicht weiter nachgegangen werden, denn scheint auch der ausgewiesene Streitstand dafür zu sprechen, daß Günter Spendeis Gedanken keine breite Gefolgschaft

JuS 1974, 756. Der Gesetzgeber selbst hat in §20 Abs. 1 Nr. 2 in Verb, mit Abs. 3, 3. Alt. des Gesetzes über die Kontrolle von Kriegswaffen einen Fall fahrlässiger (leichtfertiger) Beihilfe ausdrücklich neben der täterschaftlichen Begehung als selbständige Deliktsform erfaßt. 16 JuS 1974, 752 ff. 17 Vgl. Herzberg, Täterschaft, S. 100; zustimmend Seier, JA 1990, 344. 18 Schumann, Strafrechtliches Handlungsunrecht und das Prinzip der Selbstverantwortung der Anderen, 1986, S. 111 f. 19 GA 15 (1867), 17. 20 Vgl. dazu auch Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 85, Fn.5. 21 Dazu Spendet, JuS 1974, 756. 14

15

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Harro Otto

gefunden haben, so haben sie sich dennoch sachlich durchgesetzt. Nach dem ersten Anschein handelt es sich dabei allerdings um eine nur partielle Anerkennung, denn allein im Bereich der Selbstschädigung und Selbstgefährdung hat sich - abgesehen von einigen Vorbehalten - allgemein die Auffassung durchgesetzt, daß der Tod eines Menschen einem anderen, der dafür mitursächlich gewesen ist, im Sinne aktiven Tuns dann nicht zugerechnet werden darf, wenn er die Folge einer bewußten eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung ist und sich die Mitwirkung des anderen in einer bloßen Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung des Selbstgefährdungsakts erschöpft hat22. Bei der Bestimmung der Haftungsvoraussetzungen im Fahrlässigkeitsbereich ist es jedoch illegitim, die Beteiligung an einer Selbstverletzung und die Beteiligung an einer Fremdverletzung eines verantwortlichen Haupttäters nach unterschiedlichen Kriterien zu bestimmen23. Der Grundsatz der Selbstverantwortung des Suizidenten steht nicht isoliert im Rechtssystem. In der Anerkennung der Autonomie des Suizidenten ist vielmehr nur ein Grundprinzip der strafrechtlichen Haftung offensichtlich geworden: Bei der Zurechnung eines jeden Erfolgs im Strafrecht geht es um die Feststellung der Verantwortung für diesen Erfolg. Der Autonomie des Täters steht die des Opfers und dritter Personen gegenüber, und jeder ist grundsätzlich allein dafür verantwortlich, wenn er die Rechtsgüter anderer verletzt, nicht aber dafür, daß andere dieses tun24, soweit der Gesetzgeber nicht bestimmt hat, daß auch für das Verhalten anderer in bestimmtem Rahmen einzustehen ist. II. Täterschaft im Fahrlässigkeitsbereich 1. Die Kriterien

zur Abgrenzung

von Täterschaft

und

Teilnahme

Der Differenzierung zwischen Täterschaft und Teilnahme, bzw. einer der vorsätzlichen Teilnahme entsprechenden Beteiligungsform im Fahrlässigkeitsbereich, steht das Hindernis entgegen, daß es bisher an geeigneten Abgrenzungskriterien für die Abschichtung verschiedener Beteiligungsformen fehlt25. Darüber hinaus erscheint die Herausarbeitung von Abgrenzungskriterien zwischen verschiedenen Beteiligungsformen auch Vgl. dazu die Angaben in BGH NJW 1991, 308. Vgl. dazu Spendel, JuS 1974, 756, 24 Vgl. dazu Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl. 1991, §15 Rdn. 148; Lenckrter, Engisch-Festschrift, 1969, S. 506 f; Otto, Tröndle-Festschrift, 1989, S. 157; Rudolphi, SK I, Vor §1 Rdn. 73 f; Schumann, Handlungsunrecht, S. 19 ff; Stratenwerth, AT I, Rdn. 1155 ff; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 274ff, 314f. 25 Vgl. Jescheck, AT, §61 VI; Lackner, StGB, Vor §25 Rdn. 2. 22

23

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

277

hier wenig sinnvoll unter der Prämisse, daß nur die täterschaftliche Rechtsgutsverletzung, nicht aber andere Beteiligungsformen an dieser Rechtsgutsverletzung im Fahrlässigkeitsbereich strafbar sind. Relevant sind in diesem Zusammenhang allein die Kriterien, nach denen sich die Täterschaft bestimmt. Es gilt daher den Verantwortungsbereich der Person „Täter" gegen den Verantwortungsbereich anderer Personen abzugrenzen. Dabei kann in Anlehnung an den Leitsatz in B G H S t . 32, 262 verallgemeinernd davon ausgegangen werden, daß demjenigen, der lediglich einen Erfolg veranlaßt, ermöglicht oder fördert, dieser Erfolg noch nicht als sein Werk zugerechnet wird, obwohl ein faktischer Zusammenhang zwischen dem Handelnden und dem Erfolg durchaus nachweisbar ist. Dieser faktische Zusammenhang - im physischen Bereich als Kausalzusammenhang, im psychischen Bereich als Motivationszusammenhang faßbar 26 - ist zwar Voraussetzung der Täterhaftung, doch erschöpft diese sich auch im Fahrlässigkeitsbereich nicht im Nachweis dieses faktischen Zusammenhangs zwischen „Täter" und Erfolg und der Möglichkeit, den Erfolg zu vermeiden, sowie der Vorhersehbarkeit des Erfolges. Es muß ein weiterer Zusammenhang zwischen Subjekt und Erfolg ausgemacht werden, der es erlaubt, das Geschehen wertend als täterschaftliche Erfolgsverwirklichung einer bestimmten Person zu erfassen. Erforderlich für die Zurechnung eines Erfolges zu einer Person als ihr Werk ist daher neben dem faktischen ein normativer Zusammenhang. Dieser Zusammenhang wird begründet durch die Steuerbarkeit des Geschehens durch den Täter. Er ist verantwortlich für das Gesche-

hen, das seiner Steuerbarkeit

unterliegt27.

Steuerbarkeit ist stets mehr als Vorhersehbarkeit und Möglichkeit, einen Erfolg herbeizuführen oder zu vermeiden, denn auch das Verhalten freiverantwortlich handelnder Personen kann im Einzelfall vorhersehbar und beeinflußbar sein. Steuerbarkeit heißt Rückführbarkeit eines

Geschehens auf eine Person als Subjekt des 2. Der Gegenstand der

Geschehens. Steuerbarkeit

Gegenstand der Steuerbarkeit kann allerdings nicht der Geschehensablauf bis hin zum Erfolgseintritt sein. „Es gibt keine absolute Herrschaft über den Geschehensablauf, und wenn es sie gäbe, käme es auf sie nicht an" 28 . Auch Gegenstand strafrechtlicher Verhaltensnormen ist daher nicht erst die Erfolgsherbeiführung, sondern die Begründung oder

26 27 28

Im einzelnen dazu m.e. N.: Otto, Jura 1992, 94 f. Vgl. dazu Ebert/Kübl, Jura 1979, 569; Otto, Maurach-Festschrift, 1972, S.92f. Stratenwerth, Gallas-Festschrift, 1973, S.238.

278

Harro Otto

Erhöhung jener Gefahren, die sich im Erfolgseintritt realisieren können29. Danach wird ein Erfolg einer Person als ihr Werk zugerechnet,

wenn

sie die Gefahr

begründet

oder

erhöht

hat, die sich im

Erfolg

realisiert hat30,31. - „Die Haftung für die Rechtsgutsverletzung ist immer vermittelt durch die Gefahr, auf der sie beruht"32. Kriterien zur Bestimmung des Steuerungssubjekts sind damit jedoch noch nicht gefunden. Präzisiert ist allein, daß derjenige, der eine bestimmte Gefahr begründet oder erhöht hat, für den Erfolg verantwortlich gemacht wird.

3. Der Grundsatz

der

Zurechnung

Einen grundlegenden Hinweis auf das Steuerungssubjekt und damit auf die für den Erfolg verantwortliche Person gibt das Verantwortungsprinzip33. Danach ist jede Person grundsätzlich für ihr eigenes Verhalten verantwortlich und nicht für das Verhalten anderer. Darüber hinaus ist jedoch auch die Verantwortung für jene Rechtsgutsverletzungen begründet, die sich erst durch ein anknüpfendes pflichtgemäßes oder pflichtwidriges Verhalten Dritter in der Rechtsgutsverletzung realisieren, die aber bereits in der „Erstgefährdung" mit angelegt waren.

29 Vgl. dazu Otto, Maurach-Festschrift, S. 101; Rudolphi, SK I, Vor §1 Rdn.57; Schänke/Schröder/Lenckner, Vorbem. §§13 ff Rdn. 92; Stratenwerth, Gallas-Festschrift, S. 238; Wolter, Objektive und personale Zurechnung von Verhalten, Gefahr und Verletzung in einem funktionalen Straftatsystem, 1981, S. 35, 68 ff. 30 Im Unterlassungsbereich - das soll hier nicht weiter ausgeführt werden; vgl. aber Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, § 9 IV - entspricht der Gefahrbegründung oder -erhöhung die Nichtabwendung oder -minderung jener Gefahr, die sich in dem Erfolg realisieren kann, den der Täter als Garant verpflichtet ist, zu verhindern. 31 Die h. L. verbindet mit der Erfolgszurechnung die Frage der rechtlichen Mißbilligung und kommt zu der Formel: Objektiv zurechenbar ist ein durch menschliches Verhalten verursachter Unrechtserfolg nur dann, wenn dieses Verhalten eine rechtlich mißbilligte (rechtlich verbotene/rechtlich relevante) Gefahr für den Erfolgseintritt geschaffen und diese Gefahr sich auch tatsächlich in dem konkret erfolgsverursachenden Geschehen realisiert hat; vgl. Jescheck, AT, §28 IV Vor 1; Kienapfel, ZVR 1977, 103; Küper, Lackner-Festschrift, 1987, S. 248 ff; Maurach/Zipf, Strafrecht, AT 1, 7. Aufl. 1987, §18 Rdn. 49; Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, §6 II 4; Puppe, JuS 1982, 660; Roxin, HonigFestschrift, 1970, S. 135ff; Rudolphi, SK I, Vor § 1 Rdn.57; Schänke/Schröder/Lenckner, Vorbem. §§13 ff Rdn. 92; Schmidbauer, AT, 8/47 ff; Wolter, JuS 1978, 751. - Dem ist durchaus zuzustimmen, doch muß gesehen werden, daß hier bereits der Schritt von der Erfolgszurechnung zur Unrechtserfolgszurechnung getan wird. 32 Stratenwerth, Gallas-Festschrift, S. 238. - Vgl. auch Eser, Strafrecht I, 3. Aufl. 1980, 6/16; Maiwald, JuS 1984, 443; Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, § 6 II 3 a, cc. 33 Vgl. dazu Lackner, Engisch-Festschrift, 1969, S. 506 f; Otto, Tröndle-Festschrift, S. 157; Schönke/Schröder/Cramer, §15 Rdn. 148; Schumann, Handlungsunrecht, S. 19 ff; Stratenwerth, AT I, Rdn. 1155 ff; Welp, Vorausgegangenes Tun, S. 274 ff, 314 f.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

279

Auch damit ist nur ein ZurechnungsgrundsatzM gewonnen, der durch Auslegung der entsprechenden Tatbestände konkretisiert werden muß. Dabei kann im Einzelfall die Besinnung auf den Schutzzweck der Norm weiterführen, doch darf dieser Ansatz in seiner Bedeutung nicht überschätzt werden. Er ist nämlich nur dort hilfreich, wo ein ganz spezielles Risiko erfaßt ist, wie ζ. B. in einzelnen Normen des Verkehrsstrafrechts. Wo diese ausdrückliche Begrenzung nicht gegeben ist, wie z . B . in §§ 230, 222 StGB, führt der Rückgriff auf den Schutzzweck der Norm nicht weiter 35 . Die hier entscheidende Frage geht, wie Lenckner dargelegt hat 36 , dahin, „ob der konkrete, den tatbestandsmäßigen Erfolg verursachende Geschehensablauf noch zu denen gehört, um deren Verhinderung willen rechtliche Verhaltensnormen bereits die Schaffung der Gefahr verbieten". - Die Antwort auf diese Frage aber setzt die Differenzierung von Verantwortungsbereichen voraus. 4. Konkretisierung des Grundsatzes Die Idee der Abgrenzung von Verantwortungsbereichen beruht, genau wie ehedem das Regreßverbot, auf der Anerkennung des Verantwortungsprinzips, das jedoch in einer weniger starren Form konkretisiert wird. Es wird nicht der ausnahmslose Ausschluß der Haftung des Ersthandelnden bei vorsätzlichem Eingreifen eines anderen postuliert, soweit das Gesetz dieses Verhalten nicht ausdrücklich als Teilnahmehandlung unter Strafe stellt37. Bei vorsätzlichem Eingreifen eines Dritten, des Tatopfers selbst oder auch bei vorsätzlicher Ausnutzung einer fahrlässig geschaffenen Gefahrenlage durch den Täter wird zwar im Regelfall eine Unterbrechung des Zurechnungszusammenhangs vorliegen, weil der Zweittäter, der das Verhalten des Ersttäters als Voraussetzung für eine eigenverantwortliche Gefahrbegründung oder -erhöhung nutzt, damit eine Situation schafft, für die der Ersttäter aufgrund seines ursprünglichen Verhaltens nicht mehr verantwortlich ist38. Gleichwohl läßt sich die Problematik nicht auf den Grundsatz des Ausschlusses des

34 Vgl. auch Frisch, Tatbestandsmäßiges Verhalten und Zurechnung des Erfolges, 1988, S. 234 f; Schänke/Schröder/Lenckner, Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 92, 100 ff; Schumann, Handlungsunrecht, S. 6. 107 ff. 35 Vgl. dazu auch Frisch, Zurechnung, S.80ff; ders., NStZ 1992, 5; Otto, MaurachFestschrift, S. 98, Fn. 28; Spendel, JuS 1974, 755 f. » Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, 23. Aufl. 1988, Vorbem. §§ 13 ff Rdn. 96. Vgl. dazu auch Frisch, Zurechnung, S.246ff, 413ff, dazu Wolter, GA 1991, 534f; Schumann, Handlungsunrecht, S. 107 ff. 37 Vgl. dazu Frank, StGB, 18. Aufl. 1931, § 1 Anm. III 2 a; H. Mayer, AT, S. 138 f, 312. - Modifizierend: Lampe, ZStW 71 (1959), 579 ff; Naucke, ZStW 76 (1964), 408 ff. 38 Im einzelnen dazu Otto, Jura 1992, 96 ff.

280

Harro Otto

Ersttäters durch den vorsätzlich handelnden Zweittäter reduzieren, sondern der jeweilige Verantwortungsbereich ist durch Auslegung der einzelnen Ge- und Verbotsnormen zu ermitteln. So wird ζ. B. eine Haftung wegen täterschaftlicher Tötung desjenigen, der einem anderen, der keinen Waffenschein besitzt, eine Pistole leiht, mit der dieser - vorhersehbar - einen Dritten erschießt, nicht in Betracht kommen, denn die Vorschriften, Waffen nur an Berechtigte herauszugeben, soll verhindern, daß Waffen in die Hand von Personen geraten, die damit nicht umgehen können. Ihr ist aber nicht das grundsätzliche Verbot zu entnehmen, Waffen nicht herauszugeben, um vorsätzliche Tötungen zu verhindern. Andererseits haften aber Verleiher und Entleiher, wenn der waffenunerfahrene Entleiher, dessen mangelnde Erfahrung der Verleiher kennt, beim Hantieren mit der Waffe einen Dritten zu Tode bringt, denn gerade dieser Gefahr soll das Verbot, Waffen nicht an unerfahrene Personen herauszugeben, wehren. - Bei einer Anstiftung zu einem Tötungsdelikt wird eine täterschaftliche fahrlässige Tötung durch den Anstifter kaum erörtert werden. Schlägt die Anstiftung hingegen fehl, weil der Haupttäter das Tatopfer - für den Hintermann vorhersehbar - verwechselt, so ist eine Haftung des Hintermanns als fahrlässiger Täter des Tötungsdelikts neben einer fehlgeschlagenen Anstiftung durchaus möglich. Für die auch für den Dritten gefährliche Beeinflussung des Willens des Haupttäters ist der Täter der fehlgeschlagenen Anstiftung verantwortlich. Sie begründete ein eigenständiges Risiko für den Dritten39. - Deutlicher abgrenzbar sind die Verantwortungsbereiche zwischen Erstschädiger und einem die Gefahrenabwehr versuchenden „Zweitschädiger". Verletzt der Erstschädiger das Opfer lebensgefährlich, so entlastet es ihn nicht, wenn der Tod des Opfers letztlich durch einen fahrlässigen Kunstfehler des Arztes, der die Rettung des Opfers versucht, begründet wird. Rettungshandlungen sind auch unter Berücksichtigung möglicher Fehler notwendig. Die Realisierung eines derartigen Fehlers ist daher noch Realisierung einer typischen Gefahr der Erstschädigung, während mit Sicherheit vorsätzliche Schädigungen durch den Zweittäter aus dem Rahmen der Gefahr der Erstverletzung herausfallen40. - Klare Konturen erhalten Verantwortungsbereiche daher dort, wo organisatorisch festgelegt ist, welche

39 Vgl. auch Hillenkamp, Die Bedeutung von Vorabkonkretisierungen bei abweichendem Tatverlauf, 1971, S . 6 3 f f ; Jescheck, AT, §64 III 4; Lackner, StGB, §26 Rdn.6; Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, §22 II 3 c; Roxin, LK, §26 Rdn.26; Rudolphi, SK I, § 1 6 Rdn.30; Wessels, AT, § 13 IV 4. Α. A. BGH NJW 1991, 933 mit zust. Anm. Geppert, JK 91, StGB §26/4, Puppe, NStZ 1991, 124ff, und abl. Anm. Roxin, JZ 1991, 680f; PreußObertribunal GA 7 (1859), 337; Dreher/Tröndle, StGB, 45.Aufl. 1991, §26 Rdn.15; Puppe, G A 1984, 120f; Schänke/ Schröder/Cramer, §26 Rdn. 18. 40 Im einzelnen dazu vgl. Otto, JuS 1974, 708 ff.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

281

Arbeiten arbeitsteilig in unterschiedlichen Funktionen zu erfüllen sind. Dieses läßt sich im Anschluß an Stratenwerth4i instruktiv am Beispiel einer Operation zeigen: Die Krankenschwester, die während einer Operation eine Spritze aufzieht und dabei mit fatalen Folgen das Medikament verwechselt, haftet als Fahrlässigkeitstäterin, auch wenn der Arzt eine Kontrollpflicht hatte und diese seinerseits fahrlässig verletzte. Verwechselt hingegen der Arzt bei seiner Anweisung das Medikament, so haftet die Krankenschwester nicht, auch wenn sie - aufgrund besonderer Vorkenntnisse - die tödliche Gefahr hätte erkennen können. Sie trifft hinsichtlich der Anweisungen des Arztes die Pflicht sorgfältiger Ausführung, nicht aber eine Kontrollpflicht. Erst positive Kenntnis der Gefahr würde hier die Verantwortungssituation ändern.

III. Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich 1. Die gemeinschaftliche Gefahrbegründung als Mittäterschaft konstituierendes a) Die Ablehnung

der Mittäterschaft im durch die h. M.

oder -erhöhung Element Fahrlässigkeitsbereich

Die h. M. in der Literatur lehnt die Möglichkeit einer fahrlässigen Mittäterschaft ab42. Diese Ablehnung bleibt jedoch nichtssagend, denn letztlich wird nur der Beweis geführt, daß die Kriterien, nach denen der Täter des Vorsatzdelikts bestimmt wird, nicht geeignet sind, den Täter und damit den Mittäter des Fahrlässigkeitsdelikts zu definieren. Die Argumentation beruht nämlich auf der Feststellung, daß das fahrlässige Deliktsverhalten im Rahmen eines Erfolgsdelikts nicht durch die arbeitsteilige Steuerung des Geschehens auf den Deliktserfolg hin charakterisiert ist, das im Vorsatzbereich die Mittäterschaft konstituiert. Dieses ist jedoch eine Selbstverständlichkeit, denn sie bringt nur zum Ausdruck, daß das Vorsatzelement der finalen Steuerung des Geschehens auf den Erfolg hin dem Fahrlässigkeitsdelikt fehlt und daß daher Täterschaft beim Fahrlässigkeitsdelikt nicht mit Vorsatzkriterien begründet werden

Strafrecht, A T I, Rdn. 1152. Vgl. Baumann/Weber, A T , 9. Aufl. 1985, S . 5 2 7 f ; Günther, JuS 1988, 3 8 6 F n . 3 ; Herzberg, Täterschaft, S. 72 ff; Jescheck, A T , § 6 1 V I ; Koxin, L K , § 2 5 Rdn. 156; Samson, SK I, § 2 5 Rdn. 54, 41. 41

42

Konstruktiv für möglich halten die fahrlässige Mittäterschaft hingegen: Bindokat, J Z 1979, 434; Brammsen, Jura 1991, 5 3 7 f ; Otto, Grundkurs Strafrecht, A T , § 2 1 V 4 a ; ders., Jura 1990, 48 ff; Schmidhäuser, Strafrecht, A T , 1 4 / 3 0 ; ders., Strafrecht, A T , Studienbuch, 2. Aufl. 1984, 1 0 / 6 8 ; Schönke/Schröder/Cramer, § 2 5 Rdn. 101; Walther, Eigenverantwortlichkeit und strafrechtliche Zurechnung, 1991, S. 117 ff.

282

Harro Otto

kann. Zwar wird ζ. T. darauf hingewiesen, daß bei bewußter Fahrlässigkeit eine Übertragung der Kriterien der Tatherrschaft und des Täterwillens möglich wäre43, doch ist selbst diese Analogie nicht überzeugend, da auch bei der bewußten Fahrlässigkeit von einer finalen Steuerung des Geschehens auf den Erfolg hin keine Rede sein kann. Der bewußt fahrlässig Handelnde ist sich zwar der abstrakten Möglichkeit des Erfolgseintritts bewußt, er geht jedoch davon aus, daß sein Verhalten nicht zu dem Erfolgseintritt führt. Auch dem bewußt fahrlässig Handelnden fehlt damit der Tatherrschaftswille und das Bewußtsein, den strafrechtlich relevanten Erfolg herbeizuführen. b) Kriterien der Mittäterschaft

beim

Fahrlässigkeitsdelikt

aa) Liegt das täterschaftskonstituierende Element beim Begehungsdelikt in der Begründung oder Erhöhung jener Gefahr, die sich in der Rechtsgutsverletzung realisiert hat, so kann auch nur dieses Element Anknüpfungspunkt für die Bestimmung einer möglichen Mittäterschaft sein. Die gemeinschaftliche Gefahrbegründung oder -erhöhung, die sich in der Rechtsgutsverletzung realisiert hat, begründet die Mittäterschaft. Erforderlich im Fahrlässigkeitsbereich ist entsprechend dem Tatplan im Vorsatzbereich das Bewußtsein der Beteiligten über das arbeitsteilige, der gemeinsamen Steuerbarkeit unterliegende Vorgehen bei der Gefahrbegründung oder -erhöhung 44 . Die Gefahr selbst braucht nicht erkannt zu sein, jedoch muß die Realisierung der Gefahr in der Rechtsgutsverletzung den Beteiligten vorhersehbar sein. Wer daher im bewußten, arbeitsteiligen Zusammenwirken mit anderen Gefahren begründet oder erhöht, die sich - vorhersehbar - im Erfolg realisieren, ist gemeinschaftlich für den Erfolg verantwortlich. Diese Personen haften als Mittäter. Genau wie im Vorsatzbereich ist der Nachweis der kausalen Verknüpfung der einzelnen Tatbeiträge mit dem Erfolg nicht erforderlich, wohl aber die Realisierung der gemeinschaftlich begründeten oder erhöhten Gefahr im Erfolg. Wenn daher mehrere Personen unter Mißachtung der Sorgfaltspflicht gemeinsam einen Balken aus einem Haus auf die Straße werfen, so haften sie - falls ein Dritter vom Balken tödlich getroffen wird — in gleicher Weise wegen mittäterschaftlicher fahrlässiger Tötung 45 wie dann, wenn sie bei der gemeinsamen Räumung des Dachstuhls jeweils nacheinander mehrere Balken auf die Straße werfen und ein 43 Vgl.Jescheck, AT, §61 VI; Roxin, LK, §25 Rdn.41; Stratenwerth, Strafrecht, AT I, Rdn. 1152. 4,1 Vgl. auch Walther, Eigenverantwortlichkeit, S. 117 ff. 45 Für Nebentäterschaft: Jescheck, AT, §61 VI.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

283

Dritter von einem Balken getroffen zu Tode kommt, auch wenn nicht feststellbar ist, wer den tödlichen Balken geworfen hat 46 . bb) Im Unterlassungsbereich entspricht der gemeinschaftlichen Gefahrbegründung oder -erhöhung die Übereinkunft der Beteiligten, die Gefahr nicht abzuwenden oder zu vermindern, zu deren Abwendung oder Minderung sie rechtlich verpflichtet sind47. Beschließen ζ. Β. Α und B, denen bei einer Sprengung die Aufgabe obliegt, eine nahegelegene Straße zu sperren, in der Baubude zu bleiben und Karten zu spielen, weil sie davon überzeugt sind, auf der Straße werde sich niemand nähern, so haften sie als Mittäter für den Tod der Personen, die auf der gefährlichen Straße durch gesprengte Gesteinsbrocken zu Tode kommen.

2. Die gemeinschaftliche Verantwortung für die Abwendung oder Minderung einer Gefahr als Mittäterschaft konstituierendes Element Das Bewußtsein der beteiligten Garanten, gemeinsam eine sie treffende Pflicht zu einem bestimmten Verhalten nicht zu erfüllen, ist entsprechend dem Tatplan im Vorsatzbereich - das wesentliche tatsächliche Element der Mittäterschaft durch Unterlassen im Fahrlässigkeitsbereich. Wird auf dieses Element verzichtet, indem an die Stelle der gemeinschaftlichen Ubereinkunft, bestehende Gefahren nicht abzuwenden oder zu vermindern, die gemeinsame rechtliche Verantwortung für die Vermeidung oder Verminderung bestimmter Gefahren gesetzt wird, so wird der Schritt zu einer rein normativen Begründung der Mittäterschaft im Bereich der fahrlässigen Unterlassungsdelikte getan. Die höchstrichterliche Rechtsprechung hat diese Problematik in der Vergangenheit durchaus gesehen, den Schritt von einer faktisch-normativen zu einer rein normativen Begründung der Mittäterschaft jedoch nicht getan. Deutlich wird die Problematik in einem in Anlehnung an B G H VRS 5, 284 von Kahrs48 geschilderten Fall: Einem unbeschrankten Bahnübergang nähern sich an einem nebeligen, regnerischen Tag eine Lokomotive und ein vollbesetzter Omnibus. Der Lokomotivführer gibt entgegen der gesetzlichen Verpflichtung vor dem Bahnübergang keine Pfeif- und Läutezeichen. Hätte er jedoch die Zeichen gegeben, so hätte sie der Omnibusfahrer Ο nicht gehört, weil er — entgegen den entsprechenden Vorschriften - das Seitenfenster

So im Ergebnis auch Schweiz. BGHE 113 IV 58; dazu Otto, Jura 1990, 87 ff. Auf die Streitfrage, ob nur die sichere Möglichkeit der Gefahrabwendung eine Haftung begründen kann oder ob es genügt, daß der Täter über die Möglichkeit der Gefahrverminderung verfügt, soll hier nicht näher eingegangen werden; dazu aber eingehend Brammsen, MDR 1989, 123 ff, mit Darstellung des Streitstandes. 48 Kahrs, Das Vermeidbarkeitsprinzip und die conditio-sine-qua-non-Formel im Strafrecht, 1968, S. 112 f. - Dazu bereits Otto, Maurach-Festschrift, S. 104; ders., Grundkurs Strafrecht, AT, §21 V 4 b. 44

47

284

Harro Otto

nicht geöffnet hatte. Es kommt zu einem Zusammenstoß. Mehrere Personen werden getötet.

Fragt man bei dieser Fallkonstellation nach der strafrechtlichen Verantwortung der Beteiligten für den Tod der betroffenen Fahrgäste getrennt voneinander, so ist die Ablehnung dieser Verantwortung geradezu zwingend: Hätte L sich pflichtgemäß verhalten, so hätte dieses das Unfallgeschehen nicht beeinflußt. Gleiches gilt für O . Erst wenn eine gemeinsame Verantwortung von L und Ο begründet ist, so daß ihr Verhalten als Einheit gesehen werden kann, läßt sich das Urteil begründen, ihr pflichtgemäßes Verhalten hätte zur Vermeidung des Unfalles geführt. D a aber weder eine ausdrückliche noch eine konkludente Vereinbarung zwischen L und Ο getroffen war, gefahrenabwehrende Maßnahmen zu unterlassen, fehlte es an dem mittäterschaftsbegründenden tatsächlichen Element in dem Geschehen. Sieht man hingegen in der Gefahrensituation eine gemeinsame Verantwortung von L und Ο begründet, der sie nur quasi arbeitsteilig gerecht werden können, und erfaßt daher beide Personen als Einheit, so eröffnet sich die Möglichkeit, beide aufgrund ihres pflichtwidrigen Unterlassens für den Erfolg haften zu lassen. - Damit aber wird eine mittäterschaftliche Struktur begründet, für die es bisher im Vorsatzbereich keine Entsprechung gibt. Gleichwohl hat der B G H im sog. Lederspray-Urteil, B G H S t . 37, 106 (130 ff), diesen Weg beschritten. In diesem Fall ging es darum, ob ein vorhersehbarer Körperverletzungserfolg, der durch den Rückruf eines bestimmten Ledersprays nach Auffassung des B G H vermieden worden wäre, einem Geschäftsführer der Produktionsfirma zugerechnet werden konnte, obwohl feststand, daß er nur gemeinsam mit anderen Geschäftsführern zum Rückruf berechtigt war, und zu seinen Gunsten davon auszugehen war, daß zumindest einer der anderen Geschäftsführer nicht bei dem Rückruf mitgewirkt hätte. Der B G H bejaht die Zurechnung des Körperverletzungserfolges zur Person des Geschäftsführers: „ . . . Daran ändert es nichts, daß er hierzu lediglich einen Teilbeitrag leistete, der darin bestand, nicht für den zur Schadensabwendung erforderlichen Rückrufbeschluß eingetreten zu sein. Denn sein Teilbeitrag war dafür - im Zusammenwirken mit den Teilbeiträgen der anderen Geschäftsführer - ursächlich. A n dieser Ursächlichkeit fehlt es nicht etwa deshalb, weil, wie dies bereits dargelegt worden ist, sein pflichtgemäßes Bemühen, eine Rückrufentscheidung der Gesamtgeschäftsführung zustande zu bringen, möglicherweise bei den anderen Geschäftsführern auf Ablehnung gestoßen und mithin gescheitert w ä r e . . . Dies folgt aus den Grundsätzen, die allgemein für die Beurteilung solcher Fallgestaltungen gelten, in denen sich der strafrechtlich relevante Erfolg nur aus dem Zusammentreffen der Verhaltensbeiträge mehrerer Täter e r g i b t . . . Kann die zur Schadensabwendung gebotene Maßnahme, hier der von der Geschäftsführung zu beschließende Rückruf, nur durch das Zusammenwirken mehrerer Beteiligter zustande kommen, so setzt jeder, der es trotz seiner Mitwirkungskompetenz unterläßt, seinen Beitrag dazu zu leisten, eine Ursache dafür, daß die gebotene Maßnahme unterbleibt;

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

285

innerhalb dieses Rahmens haftet er für die sich daraus ergebenden tatbestandsmäßigen Folgen (so bereits Engisch, Die Kausalität als Merkmal der strafrechtlichen Tatbestände, 1931, S. 30 f). Dabei kann er sich nicht damit entlasten, daß sein Bemühen, die gebotene Kollegialentscheidung herbeizuführen, erfolglos geblieben wäre, weil ihn die anderen Beteiligten im Streitfalle überstimmt hätten. Von seiner strafrechtlichen Mitverantwortung wäre er nur befreit, wenn er alles ihm Mögliche und Zumutbare getan hätte, um den gebotenen Beschluß zu erwirken" 4 9 .

E s bedarf in der Tat keiner Begründung, daß das gemeinsame Handeln der Geschäftsführer den Rückruf ermöglicht hätte. Dieses Verhalten hätte die Schädigungsgefahr vermindert. Daß der Rückruf hingegen mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit dazu geführt hätte, daß gerade die Betroffenen von ihm unterrichtet worden wären und ihn befolgt hätten, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auszuschließen. E s entspricht allgemeiner Erfahrung, daß auch ein ordnungsgemäß veröffentlichter Rückruf nicht alle Betroffenen erreicht und daß nicht alle Betroffenen in gewünschter Weise reagieren. D e r B G H folgt daher in diesem Fall eindeutig dem Risikoverminderungsprinzip bei der Zurechnung eines Erfolges durch Unterlassen 5 0 . D a s soll jedoch nicht weiter verfolgt werden. Für die hier interessierende Problematik ist allein relevant, daß der B G H in der gemeinsamen Verantwortung die Grundlage findet, die jeweiligen „Teiltathandlungen" zu einer einheitlichen Tathandlung zusammenzufassen. D e r B G H rechnet daher entgegen der Meinung von Samson51 dem einzelnen Geschäftsführer nicht einen Taterfolg zu, obwohl es diesem jeweils unmöglich war, den E r f o l g abzuwenden. D a s wäre das Ergebnis einer Einzeltatbetrachtung. D e r B G H versagt den einzelnen Beteiligten vielmehr die B e r u f u n g auf das pflichtwidrige Verhalten anderer Beteiligter, weil er das Verhalten aller Beteiligter als Einheit bewertet. D a m i t wird die Möglichkeit jeweiliger Freizeichnung von der Verantwortung unter Hinweis auf das pflichtwidrige Verhalten der anderen 5 2 den Beteiligten unmöglich gemacht. Sie haften nämlich als Mittäter. D i e möglichen Konsequenzen aus diesem dogmatischen Schritt z u r rein normativen Begründung der Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich können in ihrer Bedeutung gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. E s wird die Möglichkeit einer H a f t u n g für die rechtsgutsverletzenden Folgen arbeitsteiliger, aber organisatorisch in unterschiedlicher Verantwortung ausgeübter Tätigkeit in Großunternehmen eröffnet. D i e Zeit der Großunternehmen als „organisierte Unverantwortlichkeit" geht ihrem E n d e entgegen.

49 50 51 52

B G H S t . 37, 130 f. Vgl. dazu oben III 1 b, bb sowie Brammsen, Vgl. Samson, StV 1991, 185 f. Vgl. dazu B G H S t . 37, 132.

Jura 1991, 536.

286

Harro O t t o

IV. Mittelbare Täterschaft im Fahrlässigkeitsbereich 1. Die Ablehnung

der mittelbaren

Täterschaft

Entsprechend der Argumentation zur Ablehnung einer Mittäterschaft im Fahrlässigkeitsbereich wird auch die Möglichkeit einer mittelbaren Täterschaft abgelehnt: „Endlich ist die Möglichkeit fahrlässiger mittelbarer Täterschaft zu verneinen, da bei der Fahrlässigkeit mangels eines die Tat steuernden Willens keine Tatherrschaft möglich ist und eine solche Figur hier auch entbehrlich erscheint, weil jeder sorgfaltswidrig Handelnde, der den Erfolg mit herbeiführt, ohnehin als Nebentäter betrachtet wird"53. - Damit aber wird auch hier nur dargetan, daß die mittelbare Täterschaft im Fahrlässigkeitsbereich nicht mit den im Vorsatzbereich maßgebenden Elementen begründet werden kann54. 2. Mittelbare

Täterschaft als Frage terminologischen

Beliebens

Unter Verweis auf die besonderen, erweiterten Sorgfaltspflichten, auf Grund welcher der Täter bei seinem Handeln nicht nur darauf zu achten hat, daß es nicht unmittelbar, d. h. durch Ingangsetzen von Naturkausalität zu Rechtsgutsverletzungen führt, sondern auch darauf, daß es nicht durch daran anknüpfendes Handeln anderer zur Ursache von unerwünschten Erfolgen wird, erörtert Schumann die mittelbare Täterschaft im Fahrlässigkeitsbereich55. Er greift das Beispiel des Arztes auf, der sorgfaltspflichtwidrig der Mutter eines kranken Kindes einen nicht der lex artis entsprechenden Rat gibt, dessen Befolgung durch die Mutter zum Tode des Kindes führt, und legt dar, daß der Arzt als Täter einer fahrlässigen Tötung haftet. Anschließend führt er aus: „Ob man dabei von fahrlässiger mittelbarer Täterschaft sprechen soll, dürfte eine Frage terminologischen Beliebens sein, wobei für die Verwendung dieses Begriffs allerdings spricht, daß er darauf hinweist, daß es sich hier jedenfalls aus normativer Sicht - um eine Ausnahmeerscheinung handelt"56. Diese Überlegungen gehen an der Problematik der mittelbaren Täterschaft vorbei, denn sie lösen das Institut der mittelbaren Täterschaft auf, indem der bloße Zwischenakt durch einen „Zwischentäter" bereits als hinreichend zur Begründung mittelbarer Täterschaft des Ersttäters ange53 Jescheck, AT, §62 I 2. - Vgl. auch Baumann, JuS 1963, 92; Maurach/Gössel/2ipf, A T 2, §48 Rdn.2; Samson, SK I, §25 Rdn.41; Schönke/Schröder/Cramer, §25 Rdn.59. A . A . Exner, Frank-Festgabe, Bd. 1, 1930, S.570; Kohlrausch-Lange, StGB, 43.Aufl. 1961, §47 Anm. I Β 3; Schmidhausen AT, 14/36. 54 Vgl. dazu die entsprechenden Ausführungen oben III 1 a. 55 Schumann, Handlungsunrecht, S. 107 ff. 56 Handlungsunrecht, S. 108.

Täterschaft und Teilnahme im Fahrlässigkeitsbereich

287

sehen wird. Das Institut ist damit dem der mittelbaren Täterschaft im Vorsatzbereich, unabhängig von den durch den Vorsatz bedingten Elementen, nicht mehr vergleichbar. Bei der mittelbaren Täterschaft geht es jedoch nicht schlicht um die Zuordnung des Verhaltens eines anderen, sondern um das Verhalten einer im Rechtssinne nicht voll verantwortlichen Person, das einer anderen Person als eigenes zugerechnet wird57. Auf diese abgrenzbare, eigenständige Fallgruppe ließe sich der Begriff mittelbare Täterschaft erstrecken, obwohl deutlich zu sehen ist, daß hier das Element der Beherrschung des Geschehensablaufs im Gegensatz zum Vorsatzbereich fehlt. 3. Mittelbare

Täterschaft als eigenständiges im Fahrlässigkeitsbereich

Institut

In den Fällen erweiterter Sorgfaltspflichten, die die Begründung oder Erhöhung von Gefahren verbieten, an die andere durch pflichtgemäßes oder pflichtwidriges Tun anknüpfen, was durch das Verbot gerade vermieden werden soll, liegt das die unmittelbare Täterschaft beim „Ersttäter" begründende Element in der Schaffung der verbotenen „Anknüpfungsgefahren". Deshalb kommt dem Nachweis der über das eigene Verhalten hinausgehenden - erweiterten - Sorgfaltspflicht zentrale Bedeutung zu. Sie hat Ausnahmecharakter. Schumann ist daher durchaus zuzustimmen, daß weder der Motorradfahrer, der einen anderen zu einer Wettfahrt veranlaßt, bei der dieser infolge eines vorhersehbaren eigenen Fahrfehlers zu Tode kommt58, noch derjenige, der einen anderen zu einer Geschwindigkeitsüberschreitung auffordert, die zum Tode eines Dritten führt59, oder derjenige, der Alkohol zu einer Trinkwette bereitstellt, bei der es zum Tode eines der Wetttrinker kommt60, Täter eines fahrlässigen Tötungsdelikts ist. - Hier handelt es sich aber nicht um Fälle mittelbarer Täterschaft, in denen die Haftung aufgrund des Ausnahmecharakters der mittelbaren Täterschaft nicht in Betracht kommt, sondern um Fälle, in denen nur derjenige, der unmittelbar die selbständig zum Erfolg führende Gefahr begründet hat, für den Erfolg haftet, weil den „Ersttäter" keine besondere, erweiterte Sorgfaltspflicht traf. Im Falle der mittelbaren Täterschaft wird die Gefahr, die sich selbständig im Erfolg realisiert, unmittelbar von einer im Rechtssinne nicht voll verantwortlichen Person (Werkzeug) begründet oder erhöht. Diese 57 58

Im einzelnen dazu Otto, Grundkurs Strafrecht, AT, §21 IV 3. Vgl. Schumann, Handlungsunrecht, S. 108. - A . A . BGHSt.7, 112.

59

Vgl. Schumann, Handlungsunrecht, S. 108. - A. A. Jescheck, AT, §61 VI.

60

Vgl. Schumann,

Handlungsunrecht, S. 108 m.w. N. in Fn. 141.

288

Harro Otto

Gefahrbegründung oder -erhöhung wird einem anderen (Hintermann) zugerechnet, weil er - vorhersehbar - diese Gefahrbegründung oder -erhöhung ermöglicht hat. Wer daher einem voll verantwortlichen anderen ein Kraftfahrzeug leiht, obwohl er weiß, daß der Entleiher keinen Führerschein hat, haftet nicht als Täter für eventuelle tödliche Unfallfolgen. Anders ist die Situation hingegen, wenn der Entleiher z.B. erst 12 Jahre alt ist. Hier liegt zwischen der Gefahrbegründung durch das Verleihen des Kraftfahrzeuges und dem tödlichen Unfall nicht die normative Schranke der Selbstverantwortung des unmittelbar Tätigen. Deshalb wird dessen rechtsgutsverletzendes Verhalten dem Hintermann zugerechnet. Gleiches gilt bei der Motorradwettfahrt oder der Trinkwette, wenn der Veranlasser der Wettfahrt oder der Bereitsteller der alkoholischen Getränke weiß oder wissen muß, daß sein Wettpartner bereits vor Beginn des Wettkampfes unzurechnungsfähig betrunken ist. In diesen Fällen ist es berechtigt, den unmittelbar handelnden „Zweittäter" als Werkzeug anzusehen, weil die in der Selbstverantwortung begründete Steuerung rechtsgutsgefährdenden Verhaltens in seiner Person nicht vorhanden ist und dem Hintermann daher die gleichsam durchschlagende Gefährdung zugerechnet werden kann.

Rose-Rosahl redivivus CLAUS

ROXIN

I. Zur Problemstellung Günter Spendel, der verehrte Jubilar, hat sich im Jahre 1969 in einem temperamentvollen Aufsatz1 mit einer BGH-Entscheidung auseinandergesetzt, deren Leitsatz folgendermaßen lautet: „Vereinbaren mehrere Teilnehmer einer Straftat, daß jeder auf etwaige Verfolger zu schießen habe, um ihre Festnahme um jeden Preis zu verhindern, und schießt einer von ihnen auf Grund dieser Abrede irrtümlich auf einen Tatbeteiligten, den er nur verletzt, so ist auch dieser als Mittäter wegen versuchten Mordes zu bestrafen." Spendel hält dieses Urteil für falsch und will das Opfer nicht wegen Mordversuches, sondern wegen Verbrechensverabredung (§ 30 II)2 bestrafen. Er spart nicht mit heftigen Worten gegen die BGH-Entscheidung, der er „ein geradezu groteskes Ergebnis" vorwirft3; sie sei „im Ergebnis wie in der Begründung so abwegig, daß es verwunderlich ist, wieso sie in der Wissenschaft noch Zustimmung finden konnte.. ." 4 . Als einzigen Autor, der seine Meinung teilte, hat Spendel damals den Verfasser dieses Beitrages anführen können5. Ich hatte zur Kritik der Entscheidung u. a. die von Spendel beifällig zitierte Erwägung vorgebracht, „daß niemand eine Mittäterschaft annehmen würde", wenn einer der an der Verabredung Beteiligten „absichtlich auf einen Unbeteiligten oder einen Genossen schießen würde... Dann kann es aber bei einer unabsichtlichen Verwechselung - einem fahrlässigen Exzeß - nicht anders sein". Inzwischen hat die damals von Spendel und mir verfochtene Meinung zahlreiche Anhänger gewinnen, die Gegenansicht aber noch nicht verdrängen können6. Erst kürzlich hat Puppe7 wieder dem B G H Beifall Zur Kritik der subjektiven Teilnahmetheorie - BGHSt. 11, 268, JuS 1969, S. 3 1 4 - 3 1 8 . Paragraphen ohne Gesetzesangabe entstammen dem StGB. 3 Wie F n . l , S.315. 4 Wie F n . l , S.318. 5 Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 1.-5. Aufl., 1963-1990, S.287. 6 Vgl. den Nachweis des Streitstandes bei Jescheck, Allg. Teil, 4. Aufl., 1988, § 6 3 I, 2 mit Fn. 8. 7 N S t Z 1991, S. 124. 1

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gezollt: „Gegen dieses Ergebnis (seil, der Entscheidung BGHSt. 11, 268) ist gar nichts einzuwenden...". Nun hat im Jahre 1990 eine ähnliche Konstellation vor dem BGH zur Entscheidung gestanden, und zwar ein Sachverhalt, der dem zuletzt 1859 vom Preußischen Obertribunal 8 entschiedenen Fall Rose-Rosahl entspricht. Der angeklagte Bauer hatte seinen Sohn Κ umbringen wollen und für die Ausführung der Tat gegen das Versprechen einer Geldsumme den S gedungen. S wartete im Stall auf das Erscheinen des Opfers, dessen Aussehen ihm geschildert und auf einem Foto gezeigt worden war. Als abends gegen 19.00 Uhr ein Nachbar den Stall betrat, der dem Κ in der Statur ähnelte und in der Hand eine Tüte mit sich führte, wie dies auch Κ zu tun pflegte, hielt S irrtümlich den Nachbarn für den Sohn des Bauern und erschoß ihn. Der BGH 9 hat den Bauern wegen Anstiftung zum vollendeten Mord (anstatt wegen versuchter Anstiftung nach § 30 I) bestraft und sich ausdrücklich auf BGHSt. 11, 268 berufen: „In jenem Fall war auch der vom Schuß Verletzte als Mittäter des versuchten Tötungsdelikts zu bestrafen, weil der Irrtum des Komplizen über die Person des vermeintlichen Verfolgers bei allen Beteiligten unbeachtlich war. Für die Zurechnung im Verhältnis zwischen Täter und Anstifter gilt Entsprechendes" (mit der hier nicht erwähnten Modifikation freilich, daß die Verwechselung des Opfers durch den Täter nach BGHSt. 37, 214 ff innerhalb der Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehbaren liegt). Der Rückbezug auf das frühere Urteil ist verständlich. Denn zwar ist die Problematik beider Entscheidungen nicht identisch, weil die Mittäterschaft andere Voraussetzungen hat als die Anstiftung. Aber sie ist ähnlich genug, um eine Parallelisierung zu rechtfertigen. Auch ist das oben erwähnte Exzeß-Argument gleichermaßen verwendbar: Hätte der S erkannt, daß er einen Nachbarn vor sich hat und ihn, um den „Störer" aus dem Weg zu räumen, absichtlich erschossen, oder hätte er auch nur mit bedingtem Vorsatz in Kauf genommen, daß das Opfer „der Falsche" ist, so wäre dieser vorsätzliche Exzeß dem Hintermann Α unstreitig nicht zuzurechnen. Warum soll das anders sein, wenn der S den Exzeß „nur" fahrlässig beging, da doch die Abweichung des Geschehens von den Vorstellungen des Α dieselbe ist? Und warum soll andererseits der Exzeß des S dem Hintermann nicht zugerechnet werden, wenn er für diesen unvorhersehbar war, den S aber vom Vorwurf vorsätzlichen Handelns so oder so nicht entlastet? Es wundert also nicht, daß die Meinungsfronten bei der Entscheidung BGHSt. 37, 214 ähnlich gegeneinanderstehen wie bei BGHSt. 11, 268. 8 9

GA, Bd. 7, S. 332. BGHSt. 37, S. 214-219 (218/19).

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Puppe und der Autor dieser Zeilen 10 haben unabhängig voneinander eine Anmerkung zum neuen Urteil verfaßt und kommen erwartungsgemäß zu entgegengesetzten Ergebnissen. Während Puppe meint, es „dürfte . . . feststehen, daß der B G H den vorliegenden Fall richtig entschieden hat", beklage ich, „daß die Gelegenheit zu einer Abkehr von der überlieferten Rechtsprechung nicht genutzt worden ist", und gebe der Gegenmeinung „eindeutig den Vorzug". Es lohnt sich also, den nach wie vor unentschiedenen Streit noch einmal aufzugreifen. Da der begrenzte Raum eine vollständige Aufarbeitung der in den letzten Jahren besonders reichhaltigen Literatur zur Kausalabirrung, zum error in persona und zur aberratio ictus nicht gestattet, beschränke ich mich im wesentlichen auf B G H S t . 37, 214 und die Auseinandersetzung mit Puppe.

II. Sind die Regeln der aberratio ictus beim error in persona des unmittelbar Handelnden auf den Hintermann (Anstifter) anzuwenden? Im Brennpunkt der neueren Auseinandersetzung steht die Frage, ob der unstreitig unbeachtliche error in persona des unmittelbar Handelnden vom Standpunkt des Hintermannes aus nicht als aberratio ictus beurteilt werden muß mit der Wirkung, daß die Ermordung des falschen Opfers dem Hintermann höchstens als fahrlässige Tötung zugerechnet werden kann. Das liegt nahe und entspricht der heute überwiegenden Meinung"; denn der vom Hintermann in Gang gesetzte Kausalverlauf hat nicht das vorgestellte, sondepi ein anderes Opfer mit tödlicher Wirkung erreicht, ist also abgeirrt. Diesem Gedankengang kann man auf zweierlei Weise entgegentreten. Man kann zunächst eine unterschiedliche Behandlung von error in persona und aberratio ictus generell ablehnen, sei es, daß man die Kausalabweichung, auch wenn sie zur Beeinträchtigung einer anderen Person führt, für unerheblich erklärt, sei es, daß man einen durchgreifenden Strukturunterschied zwischen error in persona und aberratio ictus überhaupt bestreitet und die Unbeachtlichkeit der Falschvorstellung bei der ersten Konstellation auf die zweite erstreckt 12 . Dieser Weg soll hier nicht weiter verfolgt werden, weil die Rechtsprechung (auch B G H S t . 37,

Puppe, N S t Z 1991, S. 1 2 4 - 1 2 6 (126); Roxin, J Z 1991, S. 6 8 0 - 6 8 1 (681). Nachweise bei Roxin, J Z 1991, S . 6 8 1 , F n . 7 . 12 Das Postulat der Gleichbehandlung von error in persona und aberratio ictus ist vor allem durch Puppe, Zur Revision der Lehre vom ,konkreten' Vorsatz und der Beachtlichkeit der aberratio ictus, G A 1981, S. 1 - 2 0 , wieder in die Diskussion gebracht worden, hat aber früher wie heute nur sehr wenige Anhänger gewinnen können, vgl. Puppe, N S t Z 1991, S. 126, F n . 2 4 . 10

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214) und die herrschende Meinung ihn nicht gehen (also an der Unterscheidung und prinzipiell unterschiedlichen Behandlung von error in persona und aberratio ictus festhalten) und weil Puppe in ihrer den B G H verteidigenden Anmerkung ebenfalls (hypothetisch) dessen Ausgangspunkt einnimmt. Das zweite gegen die Annahme einer aberratio ictus und einer daraus folgenden Fahrlässigkeitshaftung des Anstifters vorgebrachte Argument beruht auf einer etwas zurückgenommenen Verteidigungsposition. Es ist dem B G H von Puppe>} souffliert worden und geht davon aus, daß die Regeln der aberratio ictus, wenn überhaupt, nur auf denjenigen passen, der das Opfer im Augenblick der Tat vor sich sieht und danebentrifft 14 . „Die Unterscheidung ist auf den Täter gemünzt, und zwar nur auf denjenigen, der sein Opfer im Augenblick der Tat vor sich sieht. Schon für den Täter, der aus der Ferne auf sein Objekt einwirkt oder sein Opfer in eine vorbereitete Falle gehen läßt, verliert die Differenzierung zwischen error in objecto und aberratio ictus jeden Sinn. Auf den Anstifter passen beide Begriffe nicht, der der aberratio ictus nicht, weil sie ein rein mechanistisches Modell der Anstiftung voraussetzt, der des error in objecto nicht, weil der tatferne Anstifter gar nicht Gelegenheit zu solchem Irrtum hat." Diesen Gedankengang greift BGHSt. 37, 219 auf: „Die Regeln für das Fehlgehen des Angriffs (aberratio ictus) finden bei Fallgestaltungen wie der vorliegenden keine Anwendung. Sie sind - als Sonderfall der Kausalabweichung - für Geschehensabläufe entwickelt worden, in denen der Täter das Angriffsobjekt vor sich sieht, an seiner Stelle aber ein anderes verletzt... Die Übertragung dieser Regeln auf andere Sachverhalte bereitet Schwierigkeiten . . . und ist auch nicht erforderlich." Auch sonst erfreut sich das „Sichtbarkeitsargument" in freilich unterschiedlichen Begründungszusammenhängen neuerdings einiger Resonanz 15 , so daß Puppe16 meint, es bestehe „wohl unter den Anhängern der Lehre von der aberratio ictus die Tendenz, diese Rechtsfigur auf den klassischen Fall des Danebentreffens zu beschränken, also stets einen unbeachtlichen error in objecto anzunehmen, wenn der Täter seine Opfer im Moment der Ausführung nicht sinnlich wahrnimmt".

15 Der objektive Tatbestand der Anstiftung, G A 1984, S. 1 0 1 - 1 2 3 (120 f). Der Gedanke findet sich schon bei Puppe, wie Fn. 12, S. 4 ff (4): Der Unterschied zwischen aberratio ictus und error in objecto „verflüchtigt sich, sobald sich Täter und Opfer nicht mehr Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen". F ü r eine Beschränkung der aberratio ictus auf Fälle der sinnlichen Wahrnehmung vor allem auch Prittwitz, Z u r Diskrepanz zwischen Tatgeschehen und Tätervorstellung, G A 1983, S. 110-135. 14 15 16

G A 1984, S. 121. Nachweise bei Puppe, N S t Z 1991, S. 1 2 5 / 1 2 6 . N S t Z 1991, S. 126.

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Aber ist diese These, daß eine aberratio ictus nur bei sinnlicher Wahrnehmung des (verfehlten) Opfers möglich sei, denn richtig oder auch nur mit einiger Plausibilität vertretbar? Der Ausgangspunkt der Unterscheidung zwischen error in persona und aberratio ictus, der eine recht deutliche Abgrenzung ermöglicht und von dem abzugehen kein Anlaß besteht, ist der, daß eine Personenverwechselung (error in persona) unerheblich, jede sonstige Geschehensabweichung, die zum Eintritt des Erfolges bei einer anderen Person führt, dagegen erheblich sein soll mit der Wirkung, daß eine Zurechnung des Erfolges zum Vorsatz ausscheidet. Diese unterschiedliche Behandlung hat einen guten Grund. Denn beim error in persona drängt sich die sinnliche Präsenz des zielsicher getroffenen Opfers in der Regel so in den Vordergrund, daß die Frage, warum der Täter es angegriffen hat (auf Grund einer Namensverwechselung, einer Augentäuschung oder der fälschlichen Zuschreibung tatauslösender Eigenschaften) bei wertender Betrachtung in den Hintergrund tritt und nur einen Motivirrtum zutage fördert. Bei der aberratio ictus dagegen wird nichts verwechselt, sondern der Geschehensverlauf entgleitet der Lenkung durch den Täter und führt aus diesem Grunde einen anderen als den geplanten Erfolg herbei. D a solche Steuerungsdefizite auch sonst die Hauptfälle der Fahrlässigkeit abgeben, ist es prinzipiell gerechtfertigt, eine Vorsatzzurechnung auch bei der aberratio ictus auszuschließen. Die Feststellung, daß ein Kausalverlauf die vom Täter bezeichnete Bahn verlassen habe, ist ein objektiver Befund. Wie kann dieser Befund davon abhängen, daß der Handelnde ihn mit den Augen wahrnimmt? Ich will das am Enzianflaschenfall 17 verdeutlichen, den auch Puppe gern zur Beweisführung heranzieht. Eine Frau bringt ihrem Mann, den sie töten will, eine Flasche mit vergiftetem Enzianschnaps. In diesem Augenblick betritt ein Arbeitskollege das Zimmer, und der Mann reicht zunächst ihm die Flasche; der Kollege stirbt auf der Stelle. Die Frau hat das alles gesehen, aber bei der Schnelligkeit, mit der es sich abspielte, und infolge des eigenen Erschreckens fahrlässigerweise nicht verhindert. Dies wäre also eine aberratio ictus, so daß die Frau nach herrschender Lehre und Rechtsprechung wegen eines Mordversuchs an ihrem Mann in Idealkonkurrenz mit fahrlässiger Tötung zu bestrafen wäre. Und das soll ganz anders sein mit der Wirkung, daß ein einziger vollendeter Mord vorliegt, wenn die Frau die Flasche dem Mann geschickt hat, das Angriffsobjekt also nicht vor sich sieht, als das Angriffsmittel auf eine andere Person „abirrt"? Ein vernünftiger Grund für eine unterschiedliche Behandlung beider Fälle ist mir nicht erkennbar.

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Wie Fn. 12, S. 5; NStZ 1991, S. 125.

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Oder nehmen wir die vom B G H in Bezug genommene Entscheidung B G H S t . 9, 240, nach deren Sachverhalt die Täterin durch Manipulationen mit einem polizeilichen Fangbrief den W falsch verdächtigen wollte, statt dessen aber die D in Verdacht brachte, weil das Geschehen anders ablief als geplant! Soll die Annahme einer aberratio ictus hier wirklich davon abhängen, ob die Täterin die Vorgänge im Büro beobachtete oder nicht? Umgekehrt hat in der Entscheidung B G H S t . 11, 268 der durch die Kugel selbst verletzte „Mittäter" das Fehlgehen seiner Pläne höchst sinnlich am eigenen Leibe wahrgenommen, ohne daß der B G H und die hier kritisierte Gegenmeinung das zum Anlaß genommen hätten, die Regeln der aberratio ictus anzuwenden. Freilich ist es richtig, daß der Enzianflaschenfall in seiner überlieferten Form, in der das Gift verschickt wird, umstritten ist und manchmal auch als error in persona beurteilt wird 18 . Hält man aber an den oben skizzierten, teleologisch fundierten Grundlagen der Unterscheidung fest, kann das Vorliegen einer aberratio ictus nicht zweifelhaft sein, einerlei, ob der Täter das Opfer „sinnlich wahrnimmt" oder nicht: Die Frau hat nicht ihren Mann mit einem anderen verwechselt, sondern der Geschehensablauf hat sich anders entwickelt, als sie es geplant hatte. Das ist der klassische Fall der aberratio ictus. Puppe zieht das in Zweifel, indem sie verschiedene, scheinbar gleichwertige Deutungsmöglichkeiten anbietet 19 : „Liegt eine aberratio ictus vor, weil ,der Falsche' aufgrund einer Abweichung des geschehenen vom geplanten Kausalverlauf getroffen wurde, die zu einem Zeitpunkt eintrat, als die Täterin die Tat bereits aus der Hand gegeben hatte, wie der Werfer das Geschoß, oder ist dies nur ein error in objecto, weil sie doch auch denjenigen töten wollte, der in die Falle gehen würde, in dem Glauben, daß dies eben nur ihr Mann sein könne?" Aber die zweite Variante muß die Verwechselung mühsam herbeikonstruieren und läßt sich normativ nicht ernstlich begründen: Denn die Frau wollte einzig und allein ihren Mann töten, und deshalb muß die Individualisierung des Tatobjektes, wenn jemand das Geschehen aus der Hand gegeben hat und der Verlauf sich nun planwidrig entwickelt, immer an dessen Person und nicht an ein abstraktes Kriterium („den, der die Flasche trinken wird") anknüpfen. Es entscheidet also, sobald das Geschehen die Sphäre des Handelnden verlassen hat, immer nur die „geistige Identitätsvorstellung" 20 . Das gilt auch für die viel diskutierten „Bombenlegerfälle": Jemand befestigt an einem Auto eine Höllenmaschine, um den Eigentü-

Vgl. Puppe, wie Fn. 12, S. 5; dies., NStZ 1991, S. 125. Wie Fn. 12, GA 1981, S.5. 20 Herzberg, Aberratio ictus und error in objecto, JA 1981, S. 369-374, 470-475 (473), mit dem ich weitgehend übereinstimme. 18

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mer zu töten, wenn er morgens damit zur Arbeit fährt. Überraschenderweise benutzt aber als erste die Frau des Eigentümers den Wagen und wird von der explodierenden Bombe zerrissen. Auch hier liegt nicht, wie vielfach angenommen, ein error in persona, sondern eine aberratio ictus vor. Denn der Täter hat nicht den Eigentümer und seine Frau verwechselt, sondern das Geschehen hat sich anders entwickelt, als er geglaubt hatte. Dagegen handelt es sich bei den ebenfalls umstrittenen Telefonfällen, in denen ein anderer als der Erwartete den Hörer abnimmt und mit für ihn nicht bestimmten Schimpfworten überfallen wird, eindeutig um einen error in persona: Der Sprecher verwechselt den Angeredeten mit einem anderen, für den die Schimpfworte bestimmt sind 21 . Die Unterscheidung zwischen aberratio ictus und error in persona ist also bei „Sichtbarkeit" und „Unsichtbarkeit" des Tatobjekts gleichermaßen durchführbar und paßt daher sehr wohl auch auf den Anstifter, wenn der von ihm motivierte Täter auf ein anderes als das bezeichnete Objekt schießt. Im Falle der Entscheidung B G H S t . 37, 214 ff ist zwar der gedungene S einer Verwechselung zum Opfer gefallen, aber der anstiftende Bauer hat niemanden verwechselt, sondern das von ihm aus der Hand gegebene Geschehen ist in eine falsche Richtung gegangen. O b der Bauer das - etwa von einem Beobachtungsposten aus - sieht oder nicht, kann für die Beurteilung keine Rolle spielen. Der B G H räumt im Grunde auch selber ein, daß eine aberratio ictus vorliegt, wenn er sagt ( B G H S t . 37, 218): „Der Irrtum des Mitangeklagten (seil, des Täters S) stellte sich für den Angeklagten zwar als eine Abweichung von dem geplanten Tatgeschehen d a r . . . , sie ist aber rechtlich unbeachtlich, weil sie sich in den Grenzen des nach allgemeiner Lebenserfahrung Vorhersehbaren hielt, so daß eine andere Bewertung der Tat nicht gerechtfertigt i s t . . . " . Hier wird also nicht etwa behauptet, wie es einer nach Puppes Meinung 22 verbreiteten „Tendenz" entsprechen würde, daß beim Bauern ein „unbeachtlicher error in objecto" vorliege, sondern die Kausalabweichung wird ganz richtig als solche erkannt. Eine Kausalabweichung, die eine andere Person trifft als diejenige, die der Delinquent treffen wollte, ist aber nun einmal nach den sonst von der Rechtsprechung angewandten Regeln eine aberratio ictus, und der B G H

21 Auf einem anderen Blatt steht es, ob man nicht einen error in persona in einem Falle wie diesem für beachtlich erklären sollte. Denn wer irrtümlich Adressat einer Beleidigung wird, die auf einen anderen gemünzt ist, kann dadurch in seinem sozialen Geltungsanspruch nicht beeinträchtigt werden und wird sich auch nicht „getroffen" fühlen. Aber hier geht es um eine Ausdehnung der Abirrungsregeln auf einen bestimmten Fall des error in persona und nicht um das hier abgelehnte Bemühen der Gegenmeinung, Abirrungsfälle zu solchen des error in persona zu machen. 22

Bei Fn. 16.

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bleibt jede Begründung dafür schuldig, warum eine Abirrung wie die hier vorliegende eine „andere Bewertung" verdienen soll als jede andere aberratio ictus. Freilich hat Puppe eine solche Begründung geliefert, wenn sie sagt23, der Begriff der aberratio ictus passe auf den Anstifter nicht, weil ihre Annahme „ein rein mechanistisches Modell der Anstiftung" voraussetze. Der B G H hat diesen Gedanken nicht aufgenommen, und er überzeugt auch nicht. Denn unbeschadet aller Meinungsverschiedenheiten im einzelnen ist als Strafgrund der Teilnahme und insbesondere der Anstiftung die (wie auch immer modifizierte) Verursachung des Erfolges heute so gut wie einhellig anerkannt 24 . Wenn aber die Anstiftung als Verursachung aufzufassen ist, müssen folgerichtig auch die Regeln der Kausalabweichung auf sie angewendet werden. Wieso das „mechanistisch" sein soll, ist nicht ersichtlich. Es ergibt sich also, daß der error in persona des Täters für den Anstifter eindeutig eine aberratio ictus ist und daß die Anwendung ihrer Regeln auf diesen Fall entgegen der Meinung des B G H keinerlei „Schwierigkeiten" bereitet. Insbesondere ist die Sichtbarkeit des Tatobjektes keine Voraussetzung für eine aberratio ictus. Das erste Argument, mit dem der B G H im Anschluß an Puppe den error in persona des Täters als für den Anstifter unbeachtlich erklärt, erweist sich also als nicht stichhaltig. III. Läßt sich Bindings „Blutbadargument" 2 5 widerlegen? Bekanntlich hatte schon Binding26 der Ansicht, daß der error in persona des unmittelbar Handelnden auch für den Anstifter unbeachtlich sei, den Fall entgegengehalten, daß der Ausführende (der Rose im Sachverhalt der Entscheidung von 1859) nach Erkennung seines Irrtums noch einen zweiten Mord oder gar deren mehrere in der jeweils irrigen Meinung begehen könnte, die ihm vom Anstifter genannte Person vor sich zu haben. Mit Recht hatte er die vom Preußischen Obertribunal und jetzt wieder vom B G H vertretene Auffassung durch die Überlegung ad absurdum geführt, sie müsse zu dem „ungeheuerlichen Ergebnis" kommen, daß, „auch wenn Rose Dutzende von falschen Schliebes erschlagen hätte — immer in der Meinung, nun endlich den richtigen zu treffen", der Hintermann Rosahl als „Anstifter zu dem ganzen Gemetzel" bestraft werden müsse.

GA 1984, S. 121 (vgl. schon bei Fn. 14). « Vgl. LK-Roxin, 10. Aufl., Vor §26, Rdn. 15-17. 25 Puppe, NStZ 1991, S. 125. 26 Normen, Bd. III, S.214, Fn.9. 23

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Dieses alte Argument wird auch heute noch sehr oft verwendet. Der B G H bezieht sich auf das vereinfachte und weniger blutige Beispiel, das ich im Leipziger Kommentar 27 angeführt habe: „Auch wäre es ein untragbares Ergebnis, den Α wegen Anstiftung zu zweifachem Mord zu bestrafen, wenn Β nach Entdeckung der Verwechselung den nunmehr erscheinenden C (seil, den wirklich Gemeinten) erschießen würde; der Anstiftervorsatz umfaßt nur eine Tötung, und das i s t . . . die des C . " Der Senat läßt sich dazu folgendermaßen ein (BGHSt. 37, 219): „Wenn der Täter nach dem Erkennen seines Irrtums außerdem das vom Anstifter bezeichnete Opfer tötet, sind ihm in der Regel zwar die beiden Tötungen zuzurechnen, wenngleich er nur einer Anstiftung zu den beiden Tötungsakten schuldig zu sprechen ist. Beruht der Irrtum des Täters dagegen auf dem Anstifter nicht zurechenbaren, nämlich außerhalb der Lebenserfahrung liegenden Umständen, scheidet insoweit eine strafrechtliche Haftung aus". Da der B G H im vorliegenden Fall davon ausgeht, daß der Bauer die Verwechselung, die dem S unterlief, hätte vorhersehen können, würde er ihn also tatsächlich wegen Anstiftung zum zweifachen Mord bestrafen, wenn S nach Erkennen seines Irrtums das Erscheinen des Sohnes abgewartet und auch diesen noch erschossen hätte. Das ist aber eine ganz und gar unvertretbare Lösung. Denn da der Bauer nur einen Mord geplant hatte, würde er hier wegen eines zweifachen Mordes bestraft, der nicht von seinem Vorsatz umfaßt war. Der B G H rechnet ihm eine (zweite) Vorsatztat zu, obwohl insoweit ein Vorsatz evidentermaßen fehlt. Puppe vermeidet diesen Fehler, ohne ihn freilich deutlich als solchen zu kennzeichnen. Aber die Lösung, die sie bei einem Mehrfachmord des Ausführenden vorschlägt, ist auch sehr erstaunlich28: „Begeht der Täter, aus welchem Grund auch immer, entgegen der Verabredung mit dem Anstifter mehrere Versuche, so kann der Anstifter nur für einen haftbar gemacht werden. Es ist dann allerdings nicht festzulegen, welcher von den mehreren Versuchen des Täters das sein soll. Eine solche Festlegung ist aber auch gänzlich überflüssig, mag das auch einem Juristenverstand schwer eingehen, der es gewohnt ist, in ,konkreten Gestalten' zu denken". Nehmen wir an, daß es nicht beim Versuch bleibt, sondern daß der S erst den Nachbarn und dann den Sohn erschießt! Puppe würde also in einem solchen Fall (richtigerweise!) nur wegen Anstiftung zu einem vollendeten Mord bestrafen, ohne aber sagen zu können, ob denn nun zur Tötung des Nachbarn oder des Sohnes angestiftet wurde. Mir scheint,

27 28

10. Aufl., §26, Rdn. 26. N S t Z 1991, S. 125.

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daß dies nicht nur dem „Juristenverstand" schwer eingeht. Hat nämlich S, wie im realen Sachverhalt der BGH-Entscheidung, es bei der Tötung des Nachbarn bewenden lassen, so hat Puppe keinen Zweifel, daß eben diese Tötung dem Bauern als Anstifter zuzurechnen ist. Ermordet aber S anschließend auch noch den Sohn, so weiß unsere Autorin mit einem Male nicht mehr, ob der Bauer zur Tötung des ersten oder des zweiten Opfers angestiftet hat; die bereits vollzogene Zurechnung wird also nachträglich wieder ins Belieben des Beurteilers gestellt. Dabei hat Puppe recht, wenn sie ganz im Sinne unserer Anfangsausführungen (vgl. oben I) sagt29, „sedes materiae" sei „die Lehre . . . vom Täterexzeß". Wenn aber der Täterexzeß unstrittig dem Anstifter nicht zugerechnet wird, muß man doch sagen können, welche Handlung man als Exzeß betrachtet, die erste oder die zweite Tötung durch S! In der Logik des vom B G H und von Puppe verfolgten Gedankenganges, demzufolge der error in persona des Täters auch für den Anstifter unbeachtlich sein soll, würde es liegen, die Tötung des Sohnes als Exzeß anzusehen, da dem Bauern schon die Tötung des Nachbarn zugerechnet worden ist. Da aber der Bauer den S ausschließlich zur Tötung des Sohnes aufgefordert hat, widerspricht es kraß den psychologischen Realitäten, die daraufhin durchgeführte und allein durch die Anstiftung des Bauern motivierte Sohnestötung als Exzeß zu beurteilen oder sich nicht festlegen zu wollen, ob darin ein Exzeß liegt oder nicht. Vielmehr kann jede lebensnahe Betrachtung, wenn schon ein Exzeß angenommen wird, diesen nur in der Tötung des Nachbarn sehen. Denn aber ist sie ein Exzeß auch, wenn es bei ihr bewendet und der Sohn nicht mehr erschossen wird. Das hat die notwendige Folge, daß die Erschießung des Nachbarn wegen ihres Exzeßcharakters dem Bauern allenfalls als fahrlässige Tötung zugerechnet werden kann, so daß, wenn nur der Nachbar erschossen wird, eine versuchte Anstiftung in Idealkonkurrenz mit fahrlässiger Tötung vorliegt. Bindings „Blutbadargument" kann also weder durch Zustimmung zur Konsequenz der Mehrfachanstiftung (so der B G H ) noch durch die Konstruktion einer „unbestimmten Anstiftung" (so Puppe) entkräftet werden. Es beweist vielmehr, daß der error in persona des unmittelbar Handelnden beim Anstifter nach den Regeln der aberratio ictus behandelt werden muß, wenn man nicht zu verfehlten Ergebnissen kommen will. Puppe will ihre These, daß man auch nach der Tat nicht zu wissen brauche, auf welches Objekt sich die Anstiftung bezieht, durch den Vergleich mit anderen Konstellationen stützen, bei denen es sich ebenso

29

NStZ 1991, S. 125.

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verhalte 30 : „Auch in anderen Fällen des Exzesses kann es unentschieden sein, welche ganz konkrete Handlung des Täters dem Anstifter zugerechnet wird. Beauftragt der Täter den Anstifter, für ihn 5 gleichartige Gegenstände aus einem Lager wegzunehmen und nimmt dieser 11 gleichartige Gegenstände weg, so kann auch nicht entschieden werden, welche von diesen 11 Gegenständen die 5 sind, zu deren Wegnahme ihn der Anstifter angestiftet hat". Aber das Beispiel trägt den Vergleich nicht. Denn sobald sich die Gegenstände durch irgendwelche für den Anstifter relevanten Merkmale unterscheiden, läßt sich das Objekt der Anstiftung mühelos feststellen. Stiftet Α den Β zum Diebstahl von 5 roten Hemden an und nimmt dieser auch noch 6 blaue Hemden mit, bezieht sich die Anstiftung selbstverständlich auf die 5 roten Hemden. Stiftet Α den Β an, das Fahrrad des C zu stehlen und eignet dieser sich auch noch das Rad des D zu, so liegt nur im Hinblick auf das Rad des C eine Anstiftung vor. Für unseren Fall ergibt sich daraus: Stiftet der Bauer den S an, des Bauern Sohn zu erschießen, und erschießt dieser auch noch den Nachbarn, so ist nach den allgemein geltenden Regeln nicht zweifelhaft, daß zur Tötung des Sohnes angestiftet worden ist und die Erschießung des Nachbarn als Exzeß beurteilt werden muß. Im übrigen braucht auch bei völliger UnUnterscheidbarkeit der Objekte der Gegenstand der Anstiftung nicht offenzubleiben. Soll Β für A 5 gleichartige Gegenstände aus einem Lager wegnehmen und stiehlt dieser 6 weitere, so wird man - wenn sich nicht konkrete andere Vorstellungen des Β feststellen lassen - die ersten 5 Diebstahlsakte als durch die Anstiftung gedeckt ansehen und die anschließenden als Exzeß beurteilen; wenn die zusätzlichen Diebstähle im Vorbereitungs- oder Versuchsstadium steckenbleiben, kann das auch praktisch bedeutsam werden. Puppe will schließlich die Schwierigkeiten, die sich für die Bestrafung der Anstiftung aus der verwechselungsbedingten Mehrfachtat des Ausführenden nach der hier abgelehnten Ansicht ergeben, mit dem Argument relativieren31, „daß auch Binding und seine Anhänger dem Blutbadproblem nicht entgehen können. Es tritt auch für sie auf, wenn der Haupttäter statt eines error in objecto eine aberratio ictus begeht. Dann können auch sie nicht bestreiten, daß der auf den auch im Sinne des Anstifters ,richtigen' gezielte Angriff einen Versuch darstellt, eben den im Sinne des Anstifters richtigen zu töten. Also wäre der Hintermann dann auch nach Binding der Anstifter zu dem ganzen Gemetzel". Aber

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NStZ 1991, S. 125. NStZ 1991, S. 125.

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diese Parallelisierung beweist nichts. Wenn der S auf den Sohn schießt, ihn verfehlt und statt seiner den Nachbarn tödlich trifft, so liegen bei ihm ein Mordversuch und ggf. eine fahrlässige Tötung vor, während der Bauer als Anstifter zum Mordversuch zu bestrafen ist. Wenn nun der S den Sohn durch einen zweiten Schuß tötet, hat er (neben der eventuellen fahrlässigen Tötung) einen vollendeten Mord verübt, hinter dem der vorangehende Versuch als subsidiär zurücktritt. Der Bauer aber wird wegen Anstiftung zum vollendeten Mord (und sonst wegen nichts) bestraft; die Anstiftung zum Versuch ist auch insoweit subsidiär. Selbst wenn der S mehrfach vorbeischösse, bevor er den Sohn tödlich trifft, wäre der Bauer immer nur wegen einer Anstiftung zum vollendeten Mord zur Verantwortung zu ziehen; die Anstiftung deckt zwar nur einen Erfolg, sehr wohl aber mehrere Versuchshandlungen, die zu seiner Herbeiführung nötig sind. Ich sehe also nicht, wieso es bei einer aberratio ictus des Ausführenden je dazu sollte kommen können, daß dem Anstifter ein „Gemetzel" zugerechnet wird. IV. Die versuchte Anstiftung - eine „evident falsche" Lösung? Es ergibt sich also, daß dem Bauern die verwechselungsbedingte Tötung des Nachbarn durch S nicht als Anstiftung zum vollendeten Mord zugerechnet werden darf. Das folgt aus den Regeln der aberratio ictus als einer relevanten Kausalabweichung; es resultiert aber unabhängig davon auch aus den unlösbaren Schwierigkeiten, die sich für die Haftung des Anstifters nach der Gegenmeinung ergeben, wenn der Ausführende infolge einer Personenverwechselung zunächst ein „falsches" und erst anschließend das richtige Opfer erschießt. Es bleibt aber noch die Frage, ob der Bauer im Falle der Entscheidung B G H S t . 37, 214 ff wegen versuchter Anstiftung oder wegen Anstiftung zum Versuch zu bestrafen ist. Unter den Gegnern der vom B G H jetzt bestätigten Rechtsprechung, die weit in der Uberzahl sind, ist das umstritten 32 . Die meisten Autoren nehmen eine nach § 30 Abs. 1 strafbare versuchte Anstiftung an, einige aber auch eine in weiterem Umfang und schwerer strafbare Anstiftung zum Versuch. Richtig ist die überwiegende Auffassung, wonach nur eine versuchte Anstiftung vorliegt. Denn andernfalls müßte der Ausführende nicht nur wegen vollendeter Tötung des Nachbarn, sondern auch noch wegen versuchter Tötung des Sohnes - also zweimal - bestraft werden, was nicht angeht, weil er nur einen Menschen erschießen wollte und erschossen hat 33 .

32 33

Vgl. die Nachweise bei LK-Roxin, 10. Aufl., §26, Rdn.26. Vgl. SK-Rudolphi, 5. Aufl., §16, Rdn.30; Roxin, wie Fn. 32.

Rose-Rosahl redivivus

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Auch dagegen wendet sich Puppe3*. Sie bekämpft vor allem den von Jescheck35, Rudolphi und mir 36 verwendeten Satz: „Die Ausführung der Tat am falschen Objekt enthält gerade nicht den Versuch, die Tat am richtigen Objekt auszuführen". Dieses Diktum sei „evident falsch. Solange der Täter sich an die Verabredung mit dem Anstifter halten will und ,den falschen' nur deshalb angreift, weil er ihn für ,den richtigen' hält, so stellt sein Angriff gerade den Versuch dar, den im Sinne des Anstifters richtigen zu treffen". Aber auch in diesem Punkt kann ich Puppe nicht zustimmen, so energisch sie ihr Evidenzerlebnis auch vorträgt. Hätte sie recht, so wäre der Streit mit dem B G H einigermaßen entschärft, weil die Anstiftung zum Versuch genauso schwer bestraft werden kann wie die Anstiftung zur vollendeten Tat, so daß es für das praktische Ergebnis nicht allzu sehr darauf ankommt, ob man das eine oder das andere annimmt. Aber sie hat nicht recht. Die Autorin äußert sich nicht dazu, ob sie tatsächlich den unmittelbar Handelnden außer wegen vollendeter Tötung des Nachbarn auch noch wegen versuchter Tötung des Sohnes bestrafen will. Doch diese Konsequenz ist, wenn man eine Anstiftung zum Versuch annehmen will, wegen des Akzessorietätsgrundsatzes ebenso unausweichlich wie unmöglich. Denn natürlich kann keinen zweifachen Tötungsvorsatz haben, wer nur einen Menschen erschießen wollte. Der error in persona des Ausführenden kann nicht einerseits zu Lasten des Täters mit der Folge einer vollendeten Vorsatztat für unbeachtlich und im selben Atemzug ebenfalls zu seinen Lasten doch für beachtlich und versuchsbegründend erklärt werden. Damit erweist sich, was Spendel schon vor mehr als 20 Jahren für den error in persona des Mittäters dargelegt hat (vgl. oben I), auch im Verhältnis des Anstifters zum Täter als richtig. Der - sei es auch fahrlässige - Exzeß des Täters ist dem Anstifter überhaupt nicht zuzurechnen.

34 35 36

NStZ 1991, S. 124. Jetzt Allg. Teil, 4. Aufl., 1988, §64 III, Fn.28, S.625. Wie Fn. 33.

Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille HANS

SCHULTZ

Günter Spendet ist ausländischen Strafrechtlern bekannt als Verfasser zahlreicher scharfsinniger dogmatischer Untersuchungen, erinnert sei nur an die Dissertation über das Problem der Kausalität und die Habilitationsschrift, die mit der Unterscheidung verschiedener Arten von Strafzumessungsgründen das Strafmaß rational zu bestimmen suchte, ein Problemkreis, auf den Spendel wiederholt zurückgekommen ist1, sowie an die Beiträge zur zehnten Auflage des Leipziger Kommentars, von denen der über Unterlassene Nothilfe, § 323 c, gerade für die Schweizer Juristen besonders wichtig ist2. Denn ein Gesetz vom 23.6.1989, in Kraft seit dem 1.1.1990, hat mit dem neugefaßten Art. 128 einen entsprechenden, allerdings enger gefaßten Tatbestand dem Schweizer Strafgesetzbuch eingefügt. Dazu kommt die Mitwirkung von Spendel an der Gesamtausgabe der Werke von Gustav Radbruch. Schon dies allein ist Grund genug, sich dem Kreis derer anzuschließen, die Günter Spendel eine Gabe zu dessen 70. Geburtstage darbringen. Doch was die wissenschaftliche Tätigkeit des Jubilars auszeichnet, das ist seine unerschrokkene und unerbittliche Kritik an der Art, wie die bundesdeutsche Justiz sich mit der 1933 bis 1945 von der deutschen Justiz begangenen „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung"3 auseinandergesetzt hat. Es mag unangebracht scheinen, hier eine Studie über Vorsatzprobleme vorzulegen, nachdem Günter Spendel selber die Karl Lackner gewidmete Festschrift mit einem Beitrag „Zum Begriff des Vorsatzes" bereichert hat4. Allein hier geht es nicht, wie dort, darum, die allgemeine Problema1 Die Begründung des richterlichen Strafmaßes, N J W 1 9 6 4 , S. 1 7 5 8 ; D e r C o n d i t i o sine-qua-non-Gedanke als Strafmilderungsgrund, Festschrift f ü r Karl Engisch, 1 9 6 9 , S. 5 0 9 ; Die Entwicklung der Strafzumessungslehre, Z S t W 83 ( 1 9 7 1 ) , S . 2 0 3 . 2 Dazu eingehend SchwZStR 1 0 8 ( 1 9 9 1 ) , S. 107/8. 3 So der Titel der 1 9 8 4 erschienenen sechs strafrechtlichen Studien. S. ferner die Kommentierung v o n § 3 3 6 Rechtsbeugung in L K , 10. A u f l . , 1982, mit reicher Kasuistik, Rdn. 11, 12, 44, 45, 5 8 - 6 5 ; dazu S c h w Z S t R 1 0 4 (1987), S . 2 4 8 ; 100 (1983), S . 2 4 7 . 4 Wilfried Küper/Ingeborg Puppe/Jörg Tenckhoff (Hrsg.), Festschrift f ü r Karl Lackner zum 70. Geburtstag am 18. Februar 1987, S. 167.

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tik des Vorsatzes aufzunehmen und sich mit neueren Ansätzen der Vorsatzlehre zu beschäftigen, Ansätze, die anmuten wie eine Rückkehr zur Vorstellungstheorie, die man längst überwunden glaubte5. Die von Spendel behandelten Fragen werden nur gestreift werden. Näher erörtert werden soll ein untergeordnetes Problem, das der Abgrenzung des dolus eventualis vom bedingten Vorsatz und vom bedingten Handlungswillen, zeigt sich doch hier eine nicht nur terminologische, sondern auch sachliche Unsicherheit der heutigen Strafrechtsdogmatik. In der Schweiz setzen einige Autoren bedingten und eventuellen Vorsatz einander gleich6, andere sprechen nur vom Eventualvorsatz 7 . Wieder andere verwenden zwar den Ausdruck bedingten oder eventuellen Vorsatz promiscue, grenzen jedoch differenzierter ab. So unterscheidet O.A. Germann den bedingten Vorsatz vom bedingten Entschluß8. In ähnlicher Weise bejahte Peter Noll den Vorsatz, selbst wenn die Ausführung der Tat von Bedingungen abhängig gemacht worden war 9 . Günter Stratenwerth setzt ebenfalls den bedingten dem eventuellen Vorsatz gleich, stellt diesen Vorsatz jedoch dem bedingten Handlungswillen gegenüber10. Ich selber habe versucht, deutlich zwischen dem bedingten und dem eventuellen Vorsatz zu unterscheiden 11 .

5 Nachweise bei Spendel (Fn. 4) Anm. 4. Ahnlich Gunther Arzt, Vorsatz und Fahrlässigkeit. Bemerkungen zur neueren Rechtsprechung, recht 6 (1988), 67, I 1, Vorsatz heiße mit Wissen und Willen handeln; für direkten und Gefährdungsvorsatz folge aus dem Wissen ein Willen. Doch selbst in diesen Fällen ist das Wissen allein nie schon ein Wollen. Zudem lassen sich dann Vorsatz und bewußte Fahrlässigkeit nicht mehr unterscheiden. Ferner Rolf-Dietrich Herzberg, Das Wollen beim Vorsatzdelikt und dessen Unterscheidung vom bewußt fahrlässigen Verhalten, JZ 1988, S.573, 635, zum Eventualvorsatz besonders S. 635 ff. Zutreffende Kritik von Joerg Brammsen, Inhalt und Elemente des Eventualvorsatzes - Neue Wege in der Vorsatzdogmatik?, JZ 1989, S. 71. 6 So schon Ernst Hafter, Lehrbuch des schweizerischen Strafrechts, Allg. Teil, 2. Aufl., 1946, S. 119, §24 III 2; Vital Schwander, Das schweizerische Strafgesetzbuch, 2. Aufl., 1964, Nr. 188, 190. 7 Philipp Thormann / Alfred v. Overheck, Schweizerisches Strafgesetzbuch Allg. Teil, 1940; Art. 18 Rdn.28; Paul Logoz, Commentaire du Code penal suisse Partie generale, 2. Aufl., S. 92, Art. 18 Ziff. 5 c cc; Robert Hauser/Jörg Rehberg, Grundriß Strafrecht I, Verbrechenslehre, 4. Aufl., 1988, S.75, §12 4.12; Stefan Trechsel, Schweizerisches Strafgesetzbuch, Kurzkommentar, 1989, Art. 18, Rdn. 17; Jörg Rehberg / Stefan Flachsmann, Tafeln zum Strafrecht Verbrechenslehre, 1990, S. 28, Tafel 12. 8 O.A. Germann, Das Verbrechen im neuen Strafrecht, 1942, S. 75. 9 Peter Noll, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I, Allgemeine Voraussetzungen der Strafbarkeit, 1981, S. 81, §22 2b; übernommen von Trechsel in der von ihm herausgegebenen 3. Aufl., 1990, S. 80, §23 2 b. 10 Günter Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allg. Teil I: Die Straftat, 1982, §9 Rdn. 88, 99. 11 Hans Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts I, 4. Aufl., 1982, S. 198, §15 114 d.

Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille

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Das Bundesgericht verwendet in ständiger Rechtsprechung einzig den Ausdruck Eventualvorsatz12. In der Bundesrepublik Deutschland ist die Lage nicht erheblich anders. Hinweise, die keineswegs Vollständigkeit beanspruchen, mögen genügen. Im Unterschied zu der Schweizer Lehre haben die Arbeiten von Günter Less13 und Werner Schmid14 die Aufmerksamkeit stärker auf die Figur des bedingten Handlungswillens und dessen Abgrenzung vom bedingten oder eventuellen Vorsatz gelenkt. Es finden sich Autoren, die den bedingten dem eventuellen Vorsatz gleichstellen15. Andere bedienen sich derselben Terminologie, grenzen aber im Zusammenhang mit der Versuchslehre diesen Vorsatz vom bedingten Handlungswillen ab16. Doch Kritik an diesem Sprachgebrauch blieb nicht aus: Hans Welzel rügt die Gleichsetzung des eventuellen mit dem bedingten Vorsatz als mißverständlich17, Günter Stratenwerth hält sie für unglücklich18. Günter Jakobs wiederum bezeichnet den Ausdruck „bedingtes Wollen" als miß verständlich19. Das österreichische Recht zeigt dasselbe Bild wie das deutsche, obschon östr. StGB §5 (1), wie AE §17 (2), den Eventualvorsatz erwähnt und als vorsätzliches Handeln genügen läßt. Damit habe der Gesetzgeber den Eventualvorsatz oder bedingten Vorsatz als die unterste Stufe des Vorsatzes gekennzeichnet20. Diethelm Kienapfel spricht von eventuellem oder bedingtem Vorsatz, der nicht mit dem bedingten

12

Neuestens BGE 116 (1990) IV 67, E. 2 b. Günter Less, Genügt „bedingtes Wollen" zum strafbaren Verbrechensversuch? GA 1956, S. 33. 14 ferner Schmid, „Bedingter Handlungswille" beim Versuch und im Bereich der strafbaren Vorbereitungshandlungen, ZStW 74 (1962), S. 48. 15 So Eberhard Schmidt in der von ihm besorgten 26. und letzten Auflage von Franz v. Liszt, Lehrbuch des deutschen Strafrechts I, Einleitung und Allg. Teil, 1932, S.261, §39 II 3 b ß; Claus Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft (1963), 5. Aufl., 1990, S. 183 und passim; Spendet (Fn.4) S. 181, Nr. 3. 16 Friedrich-Christian Schroeder, LK, 10. Aufl., 1980, § 16 Rdn. 101 f, von h. M. abweichend in bezug auf den Handlungswillen; Theo Vogler, LK 10. Aufl., 1983, §22 Rdn. 9; Jürgen Baumann/ Ulrich Weber, Strafrecht Allg. Teil, Ein Lehrbuch, 9. Aufl., 1985, S. 391, §26 II 3b, S.400, §26 III 2b; Peter Cramer, in: Schönke/Schröder, 23.Aufl., 1988, §15 Rdn. 72, mit leiser Kritik am Ausdruck bedingter Vorsatz; Albin Eser in: Schönke/ Schröder, §22 Rdn. 18; Hans-Heinrich Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allg. Teil, 4. Aufl., 1988, S.268, 272, §29 III 3, 3 e; Roxin, Über den Tatentschluß, in: Gedächtnisschrift Schröder, 1978, S.37. 17 Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S.68, §13 2 c ß. 18 Stratenwerth, Strafrecht Allg. Teil I: Die Straftat, 3. Aufl., 1981, Rdn. 298. 19 Günter Jakobs, Strafrecht Allg. Teil, Die Grundlagen und die Zurechnungslehre, 1983, S. 25/26, 32-34. 20 Friedrich Nowakowski in: Egmont Foregger / Friedrich Nowakowski (Hrsg.), Wiener Kommentar (1984), §5 Rdn. 13. 13

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Handlungswillen verwechselt werden dürfe21, Otto Triffterer warnt vor dem Ausdruck bedingter Vorsatz wegen der Gefahr der Verwechslung mit dem bedingten Handlungswillen22. Die hinsichtlich Sprachgebrauch unübersichtliche Lage wird noch verworrener, werden die höchstverschiedenen begrifflichen Differenzierungen berücksichtigt. Dafür genüge ein Beispiel: Einige Autoren bestreiten einen Vorsatz oder eine zur Strafbarkeit wegen Versuches genügende Tatentschlossenheit, wenn der Täter die Ausführung oder Weiterführung der Tat von einer Potestativbedingung abhängig macht23. Die wohl herrschende Meinung läßt mit dem Rücktrittsvorbehalt, einer Potestativbedingung, weder Vorsatz noch Tatentschlossenheit als Voraussetzung des Versuches entfallen, vorausgesetzt, der Täter ist fest entschlossen, die Ausführung der Tat fortzusetzen, wenn die Bedingung nicht gegen diese Alternative ausgefallen ist24. Läßt sich keine begrifflich und zugleich sprachlich befriedigende Lösung finden, die es erlauben würde, sowohl auf die Gleichsetzung des bedingten mit dem eventuellen Vorsatz wie auf den bedingten Handlungswillen zu verzichten? 'Werner Scbmid hat dies schon vor Jahrzehnten angeregt, ohne daß ihm Gefolgschaft geleistet worden ist25. Als Lösung bietet sich an, genau dem Weg zu folgen, den jemand einschlägt, der etwas will, und, geht es um etwas Strafbares, den iter criminis zu beschreiten. Denn wenn der subjektive Tatbestand, unbekümmert darum, wo er im Aufbau des Verbrechens seinen Platz findet, nicht zu reiner und damit zufälligen Zuschreibung verkommen soll, hat er von einem ihm entsprechenden seelischen Sachverhalt auszugehen, wie schwierig es auch sein mag, diese inneren Tatsachen in einem justizförmigen Verfahren zu ermitteln. Wollen ist seinem Wesen nach ein Akt, der sich im wollenden Subjekt vollzieht26. Im Wollen gelangt jemand nach einer mehr oder weniger langen Periode des Entscheidens mit einem Willensruck zum Entschluß für ein bestimmtes Handlungsziel und dann zur Durchsetzung des Entschlusses als Wollensausführung27. Diethelm Kienapfel, Strafrecht Allg. Teil, 4. Aufl., 1984, LE 15 A 1 b. Otto T r i f f t e r e r , Österreichisches Strafrecht Allg. Teil, 1985, Kap. 9, II 3 b dd. « Schroeder (Fn. 16) § 16 Rdn. 103; Triffterer (Fn. 22) S. 187, Kap. 9, XIV 2; so wohl auch Jescheck (Fn. 16) S.400, §29 III 3e, unbedingter Handlungswille, wenn Täter Bedingung nicht mehr in der Hand hat oder von der Tat als unnötig absteht. 24 So unter Berufung auf Schröder schon Schmid (Fn. 14) S. 57; ebenso Vogler (Fn. 16) §22 Rdn. 9; Eser (Fn. 16) §22 Rdn. 18; Jakobs (Fn. 19) 25/34, der Rücktrittsvorbehalt sei unerheblich. 25 W. Schmid (Fn. 14) S. 76, VII. 26 Wilhelm Keller, Psychologie und Philosophie des Wollens, 1954, S. 220 ff, dazu SchwZStR 72 (1957) S.327. 27 Keller (Fn. 26) S. 252 f, zum Willensruck S. 249: „... jener Schlag, jene Festlegung auf ein Ziel und jene Aktivierung der entsprechenden Tunsbereitschaft...". 21 22

Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille

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Wie ist ein solches wollendes Verhalten rechtlich zu würdigen? Dem Entschluß geht eine Zeit der Unentschlossenheit von höchst verschiedener Dauer voraus, von der als Kampf der Motive gesprochen wird und die, insofern sie sich in keiner Weise äußert28, für die hier in Frage stehende Problematik bedeutungslos ist. Deshalb ist es unerheblich, ob der Täter mit dem Gedanken einer ohne weiteres oder vom Ausfall einer Bedingung abhängigen Ausführung der Tat spielt. Anders steht es, wenn es um die Strafzumessung geht; dann kann Art und Dauer der Willensbildung die Schwere der Schuld beeinflussen. Aber selbst wenn jemand sich mit aller überhaupt erreichbaren Festigkeit - welcher Entschluß steht vor seiner Ausführung fest! - für ein Handlungsziel entschieden und einen Tatentschluß gefaßt hat, steht es nicht anders: Der Tatentschluß ist ein factum internum, ein Entschluß zu wollen, doch noch kein Wollen selber. Hans Welzel hat dies mit unüberbietbarer Klarheit gesagt: „Der bloße Handlungsentschluß ist noch nicht strafbar: cogitationis poenam nemo patitur (Ulpian). Auch im Willensstrafrecht wird der böse Wille als solcher nicht bestraft, sondern nur der sich verwirklichende böse Wille"29. Und noch einmal ist rechtlich unerheblich, ob der Tatentschluß oder dessen Ausführung von Bedingungen abhängig gemacht worden ist oder nicht. Alles dies gilt selbst dann, wenn einer den Tatentschluß ausspricht, doch den Worten keine Taten folgen läßt, von der möglichen Strafbarkeit wegen Drohung abgesehen. Strafrechtlich von Bedeutung kann der Tatentschluß werden, wenn es um die von Roxin30 erörterte Frage geht, ob ein Tatentschlossener noch angestiftet werden kann. Sowohl der zu einer Tat Geneigte und selbst der im allgemeinen zu einer Straftat Entschlossene können noch angestiftet werden, weil erst das Eingreifen des Anstifters den Willen, eine ganz bestimmte Tat zu begehen, auslöst31, wie dies insbesondere zutrifft auf den Tatbereiten, der jedoch erst auf eine Belohnung hin zur Tat schreitet.

28 Anders, wenn der noch Unentschlossene gleichwohl auf die mögliche Tat zielende Handlungen ausführt, eine von Gunther Arzt, Bedingter Entschluß und Vorbereitungshandlung, JZ 1969, S.54, erörterte Möglichkeit. 29 Welzel (Fn. 17) S. 187, §24 I 1; siehe auch S.64, §13 I 1: „Vorsatz als bloßer Tatentschluß ist strafrechtlich irrelevant, da das Strafrecht die bloße Gesinnung nicht treffen kann". 30 Roxin (Fn. 16) S. 154. 31 Roxin (Fn. 16) S. 156/7; Stratenwerth (Fn. 10) § 13 Rdn. 97; Trechsel (Fn. 7) Art. 18 Rdn.5; nun auch BGE 116 (1990) IV 2, E. 3 c; Cramer in: Schönke/Schröder, 23. Aufl., §22 Rdn. 15; Jakobs (Fn. 19) 22/24; Dreher/Tröndle, Strafgesetzbuch und Nebengesetze, 45. Aufl., 1991, §26 Rdn. 3. Abweichend Ingeborg Puppe, Der objektive Tatbestand der Anstiftung, GA 1984, S. 118, die eine Unrechtsvereinbarung zwischen Anstifter und Angestiftetem annimmt und die Figur des omnimodo facturus für unnötig hält.

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Wie alles Recht kann das Strafrecht sich einzig auf geäußertes menschliches Verhalten beziehen, was nicht heißt, seelische Komponenten solchen Verhaltens seien bedeutungslos. Deshalb wird Wollen strafrechtlich erst faßbar, wenn jemand seinen Tatentschluß durch Handlungen oder Unterlassungen, die auf das verpönte Handlungsziel gerichtet sind, bekundet hat. Dann und erst dann wird der Tatentschluß zum Vorsatz. Die Dolusfrage ist deshalb eine ganz andere als die rein psychologische, ob jemand, wie man sagt, „entschlossen sei, ein bestimmtes Delikt künftig zu begehen" - eine Frage, die sich nebenbei gesagt gar nicht beantworten läßt: „denn nur die That beweist den Entschluß und ihre Beschaffenheit seinen Inhalt...", so Karl Binding12; und ebenso Welzel: „Vorsatz ist Verwirklichungswille . . . i. S. des der Verwirklichung mächtigen Willens... Welcher Wille aber der Tatverwirklichung mächtig ist, ergibt sich . . . aus der von ihm beherrschten wirklichen Tat" 33 . Die Strafgesetze, welche den Vorsatz definieren, deuten in dieselbe Richtung. Carl Stooss sagte in Art. 12 seines Vorentwurfes zum Allgemeinen Teil: „Vorsätzlich handelt, wer ein Verbrechen mit Wissen und Willen begeht" 34 . Damit hatte sich Stooss in dieser dogmatischen Frage von Franz v. Liszt, dem er kriminalpolitisch nahestand 35 , getrennt und die Auffassung von Binding übernommen, die für das Schweizer Recht maßgebend blieb. Denn der geltende Art. 18 II erklärt: „Vorsätzlich verübt ein Verbrechen oder ein Vergehen, wer die Tat mit Wissen und Willen ausführt". §5 (1) des neuen österreichischen Strafgesetzes bestimmt: „Vorsätzlich handelt, wer einen Sachverhalt verwirklichen will, der einem gesetzlichen Tatbild entspricht...". Italiens CP Art. 42 I läßt Bestrafung für eine mit Strafe bedrohte Handlung oder Unterlassung nur zu, wenn der Täter sie „mit Wissen und Willen begangen hat", und erklärt in Art. 43 II als „vorsätzliches oder absichtliches Verhalten, wenn das tatbestandsgemäße, schädigende oder gefährdende ,Verhalten' vom Täter als Folge seiner Handlung oder Unterlassung vorausgesehen und gewollt ist" 36 . Das portugiesische Strafgesetzbuch vom 23. 9.1982

32

Karl Binding, Die Normen und ihre Übertretung, 2. Band, 1887, S.400, §57 A. Welzel (Fn. 17) S.187, §24 I 1. Für Wissen und Willen als Vorsatzmerkmale h.M., siehe Jescheck (Fn. 16), §29 II 2, S.263, und in Anm. 7 genannte Autoren gleicher Ansicht. 34 Carl Stooss, Vorentwurf zu einem Schweizerischen Strafgesetzbuch Allg. Teil, 15.8.1893. 35 Dazu Schultz, Das Erbe Franz von Liszts und die gegenwärtige Reformsituation in der Schweiz, ZStW 81 (1969), S. 787. 36 Nach Roland Riz, Das italienische Strafgesetzbuch vom 19.10.1930, Zweisprachige Ausgabe, Sammlung außerdeutscher Strafgesetzbücher in deutscher Ubersetzung 90, 1969. 33

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definiert in Art. 14 1: „Vorsätzlich handelt der, der sich Tatsachen vorstellt, die einem gesetzlichen Tatbestand entsprechen, und sie willentlich verwirklicht" 37 . Das neue Strafgesetzbuch des Fürstentums Liechtenstein vom 24.6.1987 übernimmt in §5 (1) die Fassung des österreichischen Rechts. Und AE §17 I näherte sich der von Stooss geprägten Fassung mit: „Vorsätzlich handelt, wer die gesetzlichen Tatumstände mit Wissen und Willen verwirklicht". Der keineswegs Vollständigkeit anstrebende Uberblick über einige Lehrmeinungen und gesetzliche Definitionen des Vorsatzes zeigt, daß das Strafrecht sich weder mit bloßem Wissen und nicht einmal mit einem Tatentschluß begnügt, sondern als vorsätzliches Verhalten eine äußerlich dokumentierte Willenshandlung fordert. So zu entscheiden folgt aus dem Grundbegriff der allgemeinen Verbrechenslehre: Strafrechtlich erheblich kann nur ein willkürlich beherrschbares und geäußertes menschliches Verhalten sein38. Es ist nur dann vorsätzlich, wenn es wissentlich und willentlich ausgeführt worden ist. Wird der Vorsatz auf das Wissen reduziert, ist es nicht möglich, vorsätzliches und bewußt fahrlässiges Verhalten voneinander zu unterscheiden. Es fällt schwer, sich der Schlußfolgerung zu erwehren: Wenn von den herkömmlichen Merkmalen des Vorsatzes eines entfallen könnte, dann wäre es nicht das des Willens, sondern das des Wissens. Denn es kann jemand etwas wissen, ohne es zu wollen, doch nie etwas wollen, ohne es zu wissen. Das gilt selbst für den Grenzfall des Wollens, nämlich für den, der einfach seinen Strebungen zustimmend mit einem „Wollen im limitativen Sinn" 39 handelt. Vorsatz als Verwirklichungswillen zu verstehen, stimmt überein mit den Untersuchungen von Wilhelm Keller, der die Wollensausführung als „die letzte Phase und praktisch gesehen die Krönung - des Wollens Verhaltens" heraushebt40.

37 Cödigo penal, Diärio repiiblica 23.9.1982, Nr. 221. Text freundlicherweise vom MPI für ausländisches und internationales Strafrecht Freiburg i. Br. vermittelt; eigene Ubersetzung. 38 Welzel (Fn. 17) § 7 II, S. 31, bezeichnet als Gegenstand strafrechtlicher Normen „das menschliche Verhalten, d.h. die der Fähigkeit zu zweckhafter Willenslenkung unterstehende körperliche Aktivität oder Passivität des Menschen"; Jescheck (Fn. 16) §23 IV 1, S. 200, erklärt, wertende Gesichtspunkte betonend „Handlung ist ... sozialerhebliches menschliches Verhalten" und sieht als Merkmal des Verhaltens „die Möglichkeit der Steuerung überhaupt (S. 201) an; Stratenwerth (Fn. 10) §7 Rdn.8, maßgebend „die Fähigkeit des Menschen..., Geschehensabläufe zu steuern und zu beherrschen"; Jakobs (Fn. 19) 6/32 spricht vom „Oberbegriff des Verhaltens..., der in der vermeidbaren V.riolgsdifferenz die Gemeinsamkeit von Handeln wie Unterlassen umfaßt"; Schultz (Fn. 16) §8 1, S. 114, der strafrechtlich erhebliche „Ausschnitt aus der Lebenswirklichkeit . . . richtet sich nach der willentlichen Beherrschbarkeit . . . des Verhaltens". 39 40

Keller (Fn.26) S. 189. Keller (Fn.26) S.252.

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Die besondere Schwierigkeit, das in Ausführung begriffene Wollen strafrechtlich zu beurteilen, rührt daher, daß die Wollensausführung nicht stets sogleich strafbar wird. Keine Schwierigkeiten bestehen in dieser Hinsicht, wenn der Tatentschluß unverzüglich zur vollendeten Tat oder wenigstens zum strafbaren Versuche führt, wie es für jede Geigenheitstat oder ein im Affekt begangenes Delikt typisch ist. Doch wenn eine Straftat während längerer Zeit vorbereitet werden muß, kann zwischen dem Beginn der Wollensausführung und dem Einsetzen der Strafbarkeit eine mehr oder weniger lange dauernde Phase der Tatvorbereitung liegen. Die heikle Frage ist zu bestimmen, welches Verhalten des Täters die straflose Vorbereitung in den strafbaren Versuch übergehen läßt. Die Antwort hängt ab von der Begründung der Strafbarkeit des Versuches. Die der subjektiven Theorie verpflichtete Rechtsprechung des schweizerischen Bundesgerichts läßt, einer von Germann geprägten Umschreibung41 folgend, die Strafbarkeit einsetzen „mit jener Tätigkeit, die nach dem Plane des Täters den letzten, entscheidenden Schritt ins Verbrechen bildet, von dem in der Regel nicht mehr zurückgetreten wird, es sei denn wegen äußerer Umstände, die die Weiterverfolgung der Absicht erschweren oder verunmöglichen"42. In ähnlicher Weise liegt für Paul Bockelmann „Versuch erst da v o r . . . , wo der Verbrechensvorsatz die Feuerprobe der kritischen Situation bestanden hat"43, und Roxin zufolge überschreitet der Täter die Grenze zur Strafbarkeit an der Stelle, „von der an . . . bei normalem Weiterverlauf die Täterhandlung zur Tatbestandverwirklichung führt" 44 . Um eine allzu starke Subjektivierung und ein zu weites Vorverlegen der Strafbarkeit zu vermeiden, haben neuere Gesetzgeber die Strafbarkeit beginnen lassen, wenn der Täter „nach seiner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung des Tatbestandes unmittelbar ansetzt"45. In der deutschen Lehre scheint die Auffassung im Vordringen zu sein, daß die von dem eine Tat anstrebenden Täter durch sein geäußertes Verhalten hervorgerufene Erschütterung der Rechtsgeltung im Sinne der

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Germann (Fn. 8) S. 71/2. BGE 80 (1954) IV 178; ständige Praxis seit BGE 71 (1945) IV 211, neuestens BGE 114 (1988) IV 114, E. 2 c bb. Kritisch zu dieser Rechtsprechung Stratenwerth (Fn. 10) § 12 Rdn. 27 f, Hans Walder, Straflose Vorbereitung und strafbarer Versuch. Kritische Anmerkungen zum subjektiven Versuchsbegriff, SchwZStR 99 (1982), S.225. 43 Paul Bockelmann, Zur Abgrenzung der Vorbereitung vom Versuch, in: Strafrechtliche Untersuchungen, 1957, S. 146. 44 Roxin (Fn. 16) S. 158; ähnlich Dreher/Tröndle (Fn.31) §22 Rdn. 11, von „ungestörtem Fortgang zur Tatbestandserfüllung" sprechend. 45 Nach dem Vorbild von AE §24 StGB §22; ähnlich östr. StGB § 15 (2). 42

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Eindruckstheorie anzeige, die Grenze zur Strafbarkeit sei überschritten 46 . Die von Lehre und Rechtsprechung auf so verschiedene Weise als Schwelle von strafloser Vorbereitung zum strafbaren Versuch umschriebene Tatentschlossenheit zwingt, die Umstände des Einzelfalles zu würdigen. Dazu ist die Bildung von Fallgruppen, wie sie von Roxin47 und ihm folgend Walder48 vorgeschlagen werden, hilfreich. Die Tatentschlossenheit ist unabhängig davon, ob die Ausführung der Tat bis zur Vollendung mehr oder weniger unsicher ist49. Die Zukunft ist stets ungewiß. Selbst das sorglich ausgewählte Tatopfer mit dem regelmäßigsten aller Tagesabläufe kann wegen irgendeines Zufalles - Panne eines Verkehrsmittels, Auftauchen eines lange nicht gesehenen Jugendfreundes - ausgerechnet am Tage der beabsichtigten Tat am genau ausgekundschafteten Tatort ausbleiben. Das schließt nicht aus, dem, der an jenem Tage bewaffnet längere Zeit dem Opfer aufgelauert hat, einen Raubversuch zur Last zu legen 50 . Es gibt sogar einen gesetzlichen Tatbestand, der häufig verwirklicht wird und dessen Vollendung oft bis zum letzten Augenblick ungewiß bleibt, ohne daß an Vorsatz und Versuch begründenden Ansetzens zur Ausführung gezweifelt werden kann: der Diebstahl. Nur in einigen Begehungsweisen will der Täter eine bestimmte Beute gewinnen, so, ganz deutlich, wenn es um ein genau bezeichnetes Stück einer Sammlung geht, etwas weniger bestimmt, wenn der Täter nur Sachen bestimmter Art, wie Schmuck, Gegenstände aus Edelmetall oder Geld, behändigen will. Doch wie oft zeigt erst das Durchsuchen einer Wohnung, ob sich irgend etwas für den Täter Brauchbares findet 51 .

46 Jescheck (Fn. 16) S. 462/3, §49 II 3, und dort genannte Autoren bis zu v. Bar (1907) zurück, Jakobs (Fn. 19) 25/22. Kritisch zur Eindruckstheorie Stratenwerth (Fn. 10) § 12 Rdn. 18, es gehe nicht um eine dogmatische Konzeption, sondern um „allgemeine kriminalpolitische Erwägungen", die keine schlüssigen Argumente liefern. 47 Roxin, Tatentschluß und Anfang der Ausführung beim Versuch, JuS 1979, S. 5 f. 48 Walder (Fn. 42) S. 260 f. 49 Auf die jedem Handeln begegnende Ungewißheit wie auf die Unbeständigkeit jedes Entschlusses hat schon Roxin (Fn. 16) S. 162, hingewiesen. 50 Umstritten, so BGE 83 (1957) IV 142, zustimmend Walder (Fn. 42) S. 167, weil den drei Beschuldigten, die an drei verschiedenen Stellen auf ein Opfer gewartet hatten, einmal jemand begegnet war; ebenso Stratenwertb (Fn. 10) § 12 Rdn. 16. Beide Autoren verneinen Strafbarkeit erfolglosen Auflauerns, ohne daß das vorgesehene oder ein beliebiges Opfer erschienen ist. 51 Die Diebstahlsfälle weisen für das deutsche Recht die besondere Schwierigkeit auf, daß § 242 Zueignungsabsicht fordert und in dieser Hinsicht nur direkter Vorsatz genügt, Dreher/Tröndle (Fn. 31) §242. Anders das Schweizer Recht, das die Absicht als einen auf ein zukünftiges Handlungsziel gerichteten Vorsatz ansieht und eventuelle Absicht zuläßt, BGE 69 (1943) IV 36, E. 3 a und seither ständige Rechtsprechung, siehe noch BGE 105 (1979) IV 36, E. 3 a, ausgenommen der umstrittene BGE 102 (1976) IV 83 für Nebenfolgen,

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Das vielfach erörterte Handeln auf Grund ungewisser Lage erweist sich als ein Scheinproblem52. Es geht einzig und allein um den Beginn der Tatausführung als strafbaren Versuch. In die Problematik beginnender Strafbarkeit wegen Versuches würde ich die Fälle einbeziehen, die Arzt unter dem Gesichtspunkt des bedingten Entschlusses untersucht hat53 und die die neuere Lehre als Fälle bedingten Handlungswillens und Vorsatzproblem erörtert54. Wie unangebracht es ist, von bedingtem Handlungswillen zu sprechen, zeigt das weite Spektrum der Fälle, das vom Beschaffen einer vielleicht einmal zu einem Delikt verwendeten Waffe bis zum Vorsetzen mit Gift vermischter Suppe reicht und die schon erwähnten Fälle unsicherer Vollendung eines Diebstahls einbezieht55. Doch es ist nicht zu bestreiten, daß es, wohl nicht allzu häufig, vorkommen kann, daß jemand die Entscheidung vor sich hinschiebt, aber gleichwohl im Sinne eines Probierverhaltens mehr oder weniger deutliche Schritte in die Richtung des möglichen Delikts ausführt56, wie Beschaffen eines Tatmittels, Auskundschaften des Tatortes oder Beobachten des möglichen Opfers. Damit ist allerdings, was Arzt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen nimmt57, eine, von der Vollendung allerdings weit entfernte, Bedingung der Tat gesetzt; doch, ist der Täter wirklich noch unentschlossen, kann er mit diesem Verhalten noch keinen Eventualvorsatz bekundet haben58. In vielen Fällen wird es nur um schlichte Vorbereitungshandlungen und damit um strafloses Verhalten gehen. Ob in anderen, weniger eindeutigen Fällen strafbarer Versuch dann anzunehmen ist, wenn „die zum Delikt hindrängenden Motive das Übergewicht über die Hemmungsvorstellungen erlangen" 59 , erscheint fraglich, weil es außerordentlich schwierig sein wird, in einem Strafverfahren so feine psychologische Nuancen zu ermitteln. Andererseits darf ein Verhalten, das nicht eindeutig straflose Vorbereitung ist, nicht einfach deswegen als strafbarer Versuch angese-

welchem Urteil Stratenwerth, Schweiz. Strafrecht Bes. Teil 1,3. Aufl., 1983, § 8 Rdn. 98, eine eventuelle Absicht ablehnend, zustimmt. 52 Im Ergebnis gleich W.Schmid (Fn. 14) S.54. 53 Gunther Arzt, Bedingter Entschluß und Vorbereitungshandlung, J Z 1969, S. 43. 54 Jescbeck (Fn. 16) S. 272; §29 III 3e; anders nur als Problem der Tatentschlossenheit beim Versuch, Jakobs (Fn. 19) 25/29-35. 55 Siehe Text zu Fn. 51 hiervon 56 Anders steht es und kein Zweifel an der Strafbarkeit ist erlaubt, wenn dieses Verhalten allein einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, so das Vergiften eines Wachhundes als Vorbereitung eines Diebstahls. 57 Arzt (Fn. 53) S.55. 58 So schon die zutreffende Kritik von Roxin (Fn. 16) S. 152. 59 Wie Roxin (Fn. 16) S. 159 vorschlägt, „wenn der Täter . . . den zur Tatbestandsverwirklichung hindrängenden Motiven ein handlungsbestimmendes Ubergewicht eingeräumt hat", S. 165.

Eventualvorsatz, bedingter V o r s a t z u n d bedingter Handlungswille

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hen werden, weil es geäußert worden ist. Es bleibt nur, im Einzelfall möglichst genau zu prüfen, ob der Täter nach dem geäußerten und, soweit feststellbaren, inneren Verhalten zur Tat entschlossen gewesen ist und dann zur strafbaren vorsätzlichen Ausführung der Tat angesetzt hat oder nicht. Auch dabei kann es einmal mehr hilfreich sein, Fallgruppen zu bilden60. Noch bessere Hilfe verspricht das von Walder vorgeschlagene Vorgehen61. Er macht darauf aufmerksam, es sei zuweilen möglich, aus den Aussagen des Beschuldigten auf einen Vorsatz sowie Tatentschlossenheit oder deren Fehlen zu schließen. In anderen Fällen empfiehlt Walder, Vorsatz und Versuch anzunehmen, wenn der Beschuldigte ein Zwischenziel zur Tat, das für ihn keine Bedeutung besitzt, angestrebt hat und sein Verhalten nur als auf die Begehung eines Deliktes gerichtet verstanden werden kann62. Walder sieht in derartigen Fällen wiederum nur ein Scheinproblem63. Wie steht es, wenn ein Täter in strafbarer Weise zur Ausführung eines Deliktes angesetzt, aber die Weiterführung des Vorhabens bis zur Vollendung von einer Bedingung abhängig gemacht, sich insbesondere unter bestimmten Umständen den Rücktritt vom Versuch vorbehalten hat? Dies ist der Fall, wenn der sexuelle Handlungen an einem Kind Anstrebende sich vorgenommen hat, vom Kind, das er an einen abgelegenen Ort führen will, abzulassen, wenn das Kind weint oder schreit, und der sein Vorhaben sogleich aufgibt, wie das Kind zu weinen anhebt. Einen solchen Sachverhalt und nur den würde ich als bedingten Vorsatz bezeichnen. Es gibt dafür ein klassisches Beispiel in Schillers „Wilhelm Teil", dem der Jubilar eine treffliche Studie gewidmet hat64, wenn Wilhelm Teil nach dem Apfelschuß Geßler erklärt, weshalb er einen zweiten Pfeil aus seinem Köcher genommen und in sein Wams gesteckt hat, mit den Worten 65 : „Mit diesem zweiten Pfeil durchschoß ich - Euch, W e n n ich mein liebes Kind getroffen hätte, U n d Euer, wahrlich, hätt' ich nicht gefehlt."

60 So schon Roxin (Fn. 16) S. 164, der allerdings, Schroeder (Fn. 16) folgend, offensichtliche Vorbereitungshandlungen, wie ein Probeschießen, einbezieht. « Walder (Fn. 4 2 ) S. 2 5 1 . 62 Walder (Fn. 16) S . 2 5 2 . 63 Walder (Fn. 16) S . 2 5 1 . 64 Spendet, Schillers „Wilhelm Teil" und das Recht, SchwZStR 1 0 7 (1990), S. 1 5 4 , 162 F n . 2 9 = Ztschr. „ M U T " 1 9 9 1 , S . 3 2 , 39 A n m . 2 9 . 65 W i l h e l m Teil III 3. Streiten mag man darüber, ob W i l h e l m Teil mit dem Einstecken des zweiten Pfeils schon zur A u s f ü h r u n g angesetzt oder die Tötung Geßlers nur vorbereitet hat; kein Zweifel ist erlaubt, daß W i l h e l m Teil seinen bedingten V o r s a t z durch seine Vorbereitungshandlung als Verwirklichungswillen geäußert hat.

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Der bedingte Vorsatz zeichnet sich dadurch aus, daß der Täter den Ablauf des Geschehens in der Hand hat und in der Lage ist, sich seiner Bedingung gemäß zu verhalten. Er ist sogar so sehr Herr der Lage, daß es ihm freisteht, die Ausführung der Tat fortzusetzen, selbst wenn die Bedingung anders ausgefallen ist. Das würde zutreffen auf den Einbrecher 66 , der nur zur Tat schreiten wollte, wenn das ausgekundschaftete Haus nicht bewohnt ist, der den Einbruch dennoch wagt, wie er die Bewohner gebannt am Fernsehschirm vor einem Kriminalfilm sitzen sieht. Mit W. Schmid ist Schröder zuzustimmen, daß ein bedingter Vorsatz und versuchsbegründende Tatentschlossenheit nur vorliegt, wenn der Täter entschlossen ist, die Ausführung der Tat weiterzutreiben, wenn die Bedingung in dieser Weise ausfällt67. Spricht der Ausfall der Bedingung jedoch gegen die Weiterführung der Tat und gibt der Täter sein Vorhaben auf, so bleibt er für die bis zu diesem Zeitpunkt ausgeführte versuchte Tat strafbar. Dafür spricht unwiderleglich das von Schmid vorgetragene Argument, daß der Täter bereits ausgeführtes strafbares Verhalten nicht ungeschehen machen kann 68 . Fehlt allerdings die von Schröder und W. Schmid vorausgesetzte Beständigkeit des Entschlusses, die Ausführung der Tat fortzusetzen, fällt die Bedingung entsprechend aus, so ist dieses Verhalten wegen fehlender Tatentschlossenheit straflos, es sei denn, es sei in andererWeise als in der eines Versuches der beabsichtigten Tat strafbar 69 . Die Verfügungsmöglichkeit des Täters über den zur vollendeten Tat führenden Verlauf der Dinge unterscheidet den bedingten vom eventuellen Vorsatz. Als Beispiel diene der von B G E 103 (1977) IV 65 beurteilte drastische Sachverhalt: Zwei 23 Jahre alte Burschen griffen am 12.4.1974 nach einem Wirtshausbesuch nach anderen Opfern einen 54 Jahre alten Mann an, ersuchten ihn um Geld und warfen ihn um Mitternacht in die kalte Aare. Das Bundesgericht sah in diesem Vorgehen eine eventualvorsätzlich begangene Tötung im Sinne von StrGB Art. 111. Denn die Täter wußten, daß das Opfer in dem kalten Fluß mit starker Strömung ertrinken konnte, und hatten dies in Kauf genommen. Sobald sie den Mann ins Wasser geworfen hatten, konnten sie den weiteren Ablauf des Ereignisses nicht mehr beeinflussen; sie mußten es geschehen lassen, ob das Opfer sich selber ans Ufer retten konnte, ob andere ihm wirksam halfen oder ob es ertrank.

66 Einbruch ist nach Schweizer Recht nicht, wie gemäß § 2 4 3 , schwerer Diebstahl, sondern eine in Idealkonkurrenz von Hausfriedensbruch und Diebstahl, eventuell mit Sachbeschädigung, begangene Tat. Die Ausführungen zum Einbruch können sich nach Schweizer Recht zweifelsfrei nur auf den Hausfriedensbruch beziehen; o b das Eindringen in das Haus schon Diebstahlsversuch ist, kann nicht allgemein gesagt werden.

a 68 69

W. Schmid ( F n . 14) S . 5 6 / 7 . W. Schmid (Fn. 14) S. 58.

Siehe das in F n . 56 gegebene Beispiel.

Eventualvorsatz, bedingter Vorsatz und bedingter Handlungswille

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In solchen Fällen gibt es, wenn überhaupt und nach welcher Umschreibung auch immer ein Vorsatz angenommen werden kann, keinen Raum für einen bedingten Vorsatz. Es besteht nur die Ungewißheit, ob die Dinge sich so entwickeln werden, daß sich der Tatbestand einer bestimmten strafbaren Handlung, mit der der Täter sich - ohne weitere Bedingung - abgefunden hatte, verwirklicht 70 . O b der Eventualvorsatz stets die schwächste Form des Vorsatzes ist und sogar eine obligatorische Strafmilderung vorzusehen sei 71 , ist eine ganz andere Frage. Wenn nicht angenommen werden kann, ein Eventualvorsatz sei so deutlich und bestimmt gefaßt worden, wie es für jeden anderen Vorsatz gefordert wird, liegt bewußte Fahrlässigkeit, die nur ausnahmsweise strafbar ist, vor. Der den Eventualvorsatz kennzeichnende Verlust der Herrschaft über das Geschehen zeigt sich auch an dessen atypischen Fällen, in denen der Täter nicht sicher weiß, ob das Opfer eine vom gesetzlichen Tatbestand vorausgesetzte Eigenschaft aufweist oder nicht, aber damit rechnet und, die Zweifel in den Wind schlagend, die Tat dennoch begeht. Ein derartiger Sachverhalt kann vorliegen, wenn dem Täter ungewiß ist, ob das sexuell belästigte Kind noch im Schutzalter steht oder ob der Gegenspieler ein Beamter ist 72 . Und gerade bei dieser Spielart des Eventualvorsatzes ist er bei untauglichem Versuch möglich. So zeigt sich, daß der Eventualvorsatz nach Sachverhalt und systematischer Problematik vom wirklichen bedingten Vorsatz grundverschieden ist. Wenn er einer dogmatischen Figur ähnelt, dann der des Handelns auf Grund einer bewußt-ungewissen Lage, als deren extremste Möglichkeit er angesehen werden könnte. Der Eventualvorsatz ist deshalb auch terminologisch vom bedingten Vorsatz zu trennen und nicht bedingter Vorsatz zu nennen. Man kann sich fragen, ob an dem Ausdruck „bedingter Vorsatz" für die hier darunter begriffenen Sachverhalte festgehalten werden soll. Der Vorsatz, so zeigte sich, ist vom Entschluß als rein innere Tatsache dadurch unterschieden, daß er sich wenigstens in, allerdings straflosen,

70 Abweichend Trechsel (Fn. 7) Art. 18 Rdn. 13 II, der die Besonderheit des Eventualvorsatzes nicht in der fehlenden Kenntnis der zukünftigen Entwicklung des Sachverhaltes, sondern auf der Willensseite sieht. Auf Ingeborg Puppe, Der Vorstellungsinhalt des dolus eventualis, ZStrW 103 (1991), S. 1, konnte nicht mehr eingegangen werden. 71 So Noll 1981 (Fn. 9) S. 88, § 12 3; Noll/Trechsel, 1990 (Fn. 9) S. 86, ließ das Postulat der Strafmilderung fallen. 72 B G E 75 (1949) IV 5, E. 3; Trechsel (Fn. 7) Art. 18 Rdn. 13. Deshalb hat die Umschreibung des Eventualvorsatzes nicht zu lauten, der Täter sehe voraus, daß sein Verhalten den strafrechtlich verpönten Erfolg herbeiführen könne, und nehme dies in Kauf, sondern daß er voraussieht, sein Verhalten werde möglicherweise einen Straftatbestand verwirklichen, und sich damit abfinden, so Schultz (Fn. 11) S. 195, § 15 II 4 c bb.

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Vorbereitungshandlungen geäußert hat. Kommt es zu einem strafbaren Versuch, so kann am Vorsatz nicht mehr gezweifelt werden. Was bedingt sein kann, das ist der Wille, die Tat bis zur Vollendung weiterzuführen. Hat der Täter das Bewirken der Vollendung von einer Bedingung abhängig gemacht, so sollte von bedingtem Ausführungs- oder noch besser Vollendungswillen gesprochen werden, um schon mit dem Ausdruck bekannt zu geben, was eigentlich gemeint ist73. Am Ende des letzten Jahrhunderts bedeutete ein Oskar Bülow seinen gesetzestreuen Fachgenossen, daß ein Gesetz niemals die vollständige Rechtsordnung darstellt, sondern höchstens deren Entwurf oder ein Plan dazu sei74. Die Lehre sucht mit auf systematischer Grundlage beruhender Formulierung von Rechtsgrundsätzen und Ausbildung von Fallgruppen dem geltenden Recht näherzukommen. Aber ein wirklich geltendes Recht wird erst möglich durch die Richter und die Verwaltung, die in schöpferischer Tätigkeit das Gesetz anwenden und im Einzelfall konkretisieren. Es wird den Jubilar, der wie der Verfasser dem Richterstand angehört hat, nicht erstaunen, noch befremden, daß auch in bezug auf die Feststellung, ob zum Versuch genügende Tatentschlossenheit bekundet oder ob ein Eventualvorsatz gefaßt worden ist, in vielen, wenn nicht in den meisten Fällen erst die genaue Prüfung der Umstände des Einzelfalles zu einer Entscheidung führt. Dieser Rückgriff auf den Einzelfall ist um so bedeutsamer, als er, insbesondere hinsichtlich der Tatentschlossenheit als Voraussetzung strafbaren Versuches, an die Grenze zwischen Befund über die Strafbarkeit und Bestimmung der Strafwürdigkeit führt. Damit weist die Untersuchung von Eventualvorsatz, bedingtem Vorsatz und bedingtem Handlungswillen, die der auch von Günter Spendel vertretenen Auffassung des Vorsatzes als Handeln mit Wissen und Willen folgt, auf grundsätzliche Probleme der heutigen Strafrechtsdogmatik: Ob, in welcher Weise und wieweit soll der Richter über die Strafwürdigkeit im Einzelfall entscheiden und an der Lösung einer herkömmlicherweise dem Gesetzgeber zustehenden Aufgabe mitwirken dürfen. Damit verbunden ist das Problem, wie kann dafür gesorgt werden, daß nicht nur die Gesetzgebung, sondern auch im einzelnen Verfahren das Strafrecht in den Grenzen des Gesetzes ultima ratio bleibt. Anders gesagt, wie kann verhütet werden, daß eine von einem Urteil, vielleicht um des Opfers willen, vertretene ausdehnende Auslegung von der Lehre verallgemeinert wird und späteren Urteilen wiederum als Grundlage ausdehnender Auslegung dient. 73 Schon Schmid (Fn. 14) S. 76, VII, hatte dazu geraten, die Termini „bedingter Vorsatz" und „bedingter Entschluß" sollten „peinlich vermieden werden", wenn es um Unentschlossenheit, Tatgeneigtheit, Tatentschluß auf bewußt unsicherer Tatsachengrundlage oder um einen Rücktrittsvorbehalt geht. 74 Oskar Bülow, Gesetz und Richteramt, 1885, S.3f.

Zur gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts M A N F R E D SEEBODE

Bereits in einer seiner frühesten Arbeiten, dem Beitrag zur 1948 erschienenen Festschrift zum 70. Geburtstag von Gustav Radbruch 1 , hat Günter Spendel sich zu dem sein weiteres Werk kennzeichnenden 2 Rationalismus als Voraussetzung der Jurisprudenz bekannt. Er folgte darin seinem akademischen Lehrer Gustav Radbruch, der die Aufklärung als „das fruchtbarste Zeitalter in der Geschichte der Zivilisation"3 ansah, 1932 deutlich „die irrationalistische Zeitmode" verwarf und sich ausdrücklich als Rationalist bezeichnete4; gleich ihm ging Günter Spendel einen der Vernunft, Klarheit, Ordnung und Folgerichtigkeit verpflichteten Weg der Erkenntnis, ohne dabei zu übersehen5, daß nichts anzuerkennen außer der Vernunft ein ebenso gefährlicher Abweg ist wie die Vernunft schlechthin zu leugnen6, weil die Welt, dividiert durch die Vernunft, nicht ohne Rest aufgeht7. Die von Radbruch an seinem eigenen Lehrer Franz v. Liszt gelobte Vorliebe für „die klare Säulenord-

1 Spendel, Über eine rationalistische Geisteshaltung als Voraussetzung der Jurisprudenz, in: Beiträge zur Kultur- und Rechtsphilosophie (Festschrift für Gustav Radbruch), 1948, S. 68 ff. 2 S. insbes. Spendel, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, S. 26 ff; ders., Die Goldene Regel als Rechtsprinzip, in: Festschrift für F. v. Hippel, 1967, S. 491 ff. 3 Radbruch, Franz v. Liszt, in: Radbruch, Gesamtausgabe, hrsg. v. Arth. Kaufmann, Bd. 16, Biographische Schriften, bearb. v. Spendel, 1988, S. 25. 4 Radbruch, Rechtsphilosophie, Vorwort zur 3. Aufl., 1932, S.VII, in der 7. Aufl., besorgt von Erik Wolf, 1970, S. 84. 5 S. Spendel, Wider das Irrationale unserer Zeit, in: Festschr. f. Erich Schwinge, 1973, S. 21 ff, 38. 6 S. Pascal, Pensees (CEuvres, hrsg. v. L. Brunschvicg, Bd. 13, 1904, S. 186): «Ce sont deux exces egalement dangereux: d'exclure la raison et d'admettre que la raison», u. dazu Spendel (Fn. 1) S. 81. 7 Radbruch (Fn.4); zu dieser Abwandlung eines Goethe-Wortes s. Spendel (Fn. 1) S. 89, u. dens. in der Einführung zu den von ihm kommentierten Biographischen Schriften (Fn. 3) S. 13.

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nung eines architektonisch durchgebildeten Systems"8 bestimmt und trägt die Strafrechtslehre des Jubilars Sie ist jeglicher gefühlsmäßigen Begründung, allem Dunklen, einem „Volksgeist" und jedem „Fischen im Trüben" abhold, weil derart keine „Erleuchtung" zu erwarten ist9. Zugetan aber ist sie im Geiste der Aufklärung dem Vorrang vernunftgemäßer Erkenntnis und also rechtswissenschaftlichen Forschungsergebnissen, die wegen ihrer Folgerichtigkeit vor dem Forum der Vernunft Bestand haben, die sich dem Postulat des nüchtern-sachlichen ZuEnde-Denkens beugen, jegliche emotionale Rechtsentwicklung und die daraus folgende Unbestimmtheit des Rechts meiden, richterliche Willkür ausschließen und so die individuelle Freiheit durch klare Kennzeichnung der ihr systematisch gezogenen Grenzen sichern. Denn „Ordnung heißt Befreiung", erkannte Radbruch''. Eine gesetzliche Ordnung soll seit dem Zeitalter der Aufklärung Willkür und Irrationalität ausschließen, Recht und Freiheit sichern. „Frei sein", hat Voltaire gesagt, „heißt, nur von Gesetzen abhängig sein"10. Feuerbachs Imperativ „Nulla poena sine lege!"11 ist denn auch trotz verschiedener Vorläufer ein „Kind der Aufklärung"12, ebenso wie der allerdings erst Anfang dieses Jahrhunderts anerkannte, allgemeine Grundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, dem Otto Mayer diese Bezeichnung gab13. Das von der Aufklärung begründete und seit dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft wieder anerkannte Gebot rationaler Kriminalpolitik und vernunftbetonter Rechtserkenntnis stützen die Gesetzlichkeitsgrundsätze heute verfassungskräftig. Zwar schließt der Nullum-crimen-Satz eine emotionalem Volksgeist statt nüchterner Ratio folgende Strafgesetzge-

8 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, Vorwort zur 7./8. Aufl., 1929; in der 9. Aufl., bes. v. Konr. Zweigert, 1958, S. 9; in den Biographischen Schriften (Fn. 3) S. 25; s. dazu Spendel (Fn. 1) S. 71. 9 Vgl. Radbruch (vor. Fn.). 10 Voltaire, CEuvres completes, Bd. 38, Politique et Legislation, 3. Aufl., 1827, S. 104: «La liberte consiste ä ne dependre que des lois». 11 Feuerbach, Lb. des gemeinen in Deutschland gültigen peinlichen Rechts, 1801, §20. 12 So z . B . Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege, in: Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Die Grundrechte, Bd.III/2, 1959, S. 909 ff, 992; Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, S. 168; i. d. S. auch Dürig, Maunz/Dürig, G G , Art. 103, Rdn. 103; Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Strafrecht, 1977, S. 207; Hassemer, Einf. in die Grundlagen d. Strafrechts, 2. Aufl., 1990, S.252. 13 Otto Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, l . B d . , 1895, S. 74f. Zur Entwicklung z. Zt. der Aufklärung, zu früheren Normierungen und zur allmählichen vollen Anerkennung s. ζ. B. Selmer, JuS 1968, S. 489ff, 490f; Kloepfer, JZ 1984, S. 685; Krey/Weber-Linn, Festschr.f. G.Blau, 1985, S. 123ff, 139ff; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof, Hg., Hb. d. Staatsrechts, Bd. III, 1988, S. 315 ff, 322; Sydow, Die Lehre von den „Beweisverboten", 1976, S. 7 ff.

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bung keineswegs aus14, und selbst krasse Willkür kann die Bürger trotz gesetzlicher Verankerung des gegensteuernden Prinzips (vgl. Art. 4 Abs. 3 DDR-StGB 1968, Art. 99 DDR-Verf. 1968/74) treffen, wenn es schon mangels Gewaltenteilung nicht durchsetzbar ist und Unrechtsurteile gar noch scheinheilig bekräftigt. Doch unter der Herrschaft des Grundgesetzes ist der strafrechtliche Gesetzlichkeitsgrundsatz bei rationaler und insbesondere folgerichtiger Anwendung geeignet, trotz aller theoretischen und praktischen Schwierigkeiten seiner Verwirklichung15 eine parlamentarisch-demokratisch legitimierte und eindeutige Strafrechtsordnung zu sichern, die Willkür ausschließt und deshalb dem Richter den verführerischen Schluß von einem als strafwürdig empfundenen Verhalten auf das als strafbar bestimmte wirksam untersagt. Alle mit dem „strengen Gesetzesvorbehalt" (BVerfGE 75, S. 341; 78, S. 382) verfolgten Ziele werden um so eher und zuverlässiger erreicht, je konsequenter Theorie und forensische Praxis das Postulat berücksichtigen, je deutlicher sie Aussagen de lege lata von Vorstellungen de lege ferenda scheiden16, je klarer Gesetzesaussagen gelingen und je rationaler, analytischer und systematischer sie erfaßt und praktiziert werden. Dazu beizutragen ist die Aufgabe aller dem Recht Verpflichteten 17 , weswegen auch die rechtswissenschaftliche Ausbildung darauf ausgerichtet ist, emotionales Urteilen durch methodisches und logisches Denken zu ersetzen18. Nur für ein Teilgebiet des Strafrechts, dem allerdings nicht unbedeutenden (und gar die Drohung mit lebenslanger Freiheitsstrafe19 einschließenden) Bereich der durch Passivität verwirklichten Begehungsdelikte, kann hier der Frage nachgegangen werden, ob Gesetzgeber, Lehre und Praxis die Wege der Rechtsfindung und die Erkenntnisse einer für überwunden gehaltenen irrationalen Zeit unserer Geschichte tradieren

14 Feuerbach gestand zu, daß „die gemeine Volksmeinung . . . bei der Criminalgesetzgebung immer möglichst geschont werden muß" (Biographischer Nachlaß, hrsg. v. L. Feuerbach, Bd. 1, 2. Aufl., 1853, S.233). 15 S. nur Hassemer, AK-StGB, I, 1990, § 1, Rdn. 16, 30, 75, 90. 16 Zur Schädigung des geltenden Rechts und zur Rechtsunsicherheit durch „Verwischung der Argumentation de lege lata und de lege ferenda" allg. u. treffend Arzt, Gedächtnisschr. für Armin Kaufmann, 1989, S. 839 ff, 867 ff; s. auch schon Hettinger, Die „actio libera in causa": Strafbarkeit wegen Begehungstat trotz Schuldunfähigkeit?, 1988, S. 44; Reinh. v. Hippel, J R 1978, S.399; am Beispiel der Notwehr Seebode, Festschr.f. F . W . Krause, 1990, S.375ff.

Spendet, Festschr. f. Radbruch, S. 71 f. Treffend Mußgnug, JuS 1991, S.613f. 19 Vgl. BVerfGE 14, S.251; 26, S. 43: „Der Gesetzgeber muß die Strafbarkeitsvoraussetzungen um so präziser bestimmen, je schwerer die angedrohte Strafe ist", ähnl. BVerfGE 75, S.342. Krit. Schroeder, J Z 1969, S.778; Rogall, KK-OWiG, 1982, § 3 , Rdn. 34; Hassemer, AK-StGB (Fn. 15), § 1, Rdn. 26. 17

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oder wirklich frei sind von gefühlsmäßiger Umschreibung der Strafbarkeit, von Willkür, Inkonsequenz und Rudimenten einer „Rechtsgewinnung" aus dem „gesunden Volksempfinden", die der Jubilar ebenso geißelte wie deren unzulängliche forensische und wissenschaftliche Bewältigung 20 . Zunächst sei auf den Wert und insbesondere auf die aktuelle Wertschätzung der beiden verfassungsrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzipien eingegangen (I.), bevor sie auf § 13 StGB, die allgemeine Regelung des unechten Unterlassungsdelikts, anzuwenden sind (II.), um schließlich ein diese Vorschrift betreffendes Ergebnis zu finden (III.).

I. Das ältere strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip ist einerseits von dem jüngeren, allgemeinen erfaßt, andererseits strenger. Daraus ergibt sich, daß die Verfassungsmäßigkeit von Strafdrohungen und Strafen, den schwerwiegendsten und mit einer sozialethischen Mißbilligung verbundenen staatlichen Rechtseingriffen, zwar nach Art. 103 Abs. 2 GG und § 1 StGB als leges speciales zu beurteilen ist und nicht nach dem allgemeinen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit, daß aber die Anforderungen und Maßstäbe, die der spezielle Grundsatz für die Verfassungskonformität von Strafen aufstellt, sicher nicht hinter denen zurückbleiben dürfen, die das umfassendere rechts staatliche Prinzip für sonstige Belastungen des Bürgers voraussetzt. Ein vergleichender Blick auf die theoretische Wertschätzung und praktische Bedeutung der verwandten Verfassungsgebote im jeweiligen Rechtsgebiet möge einen ersten Eindruck davon vermitteln, ob sie jeweils ihrem Rang gemäß konsequent zur gesetzlichen Bestimmtheit und Berechenbarkeit hoheitlicher Maßnahmen herangezogen werden. 1. Unbestritten ist die überragende Bedeutung des in Art. 103 Abs. 2 GG garantierten Abwehrrechts. Es wird in § 1 StGB und § 3 OWiG wiederholt. In Art. 7 MRK und Art. 15 IPBR, zwei weiteren Bundesgesetzen, kommt es ähnlich zum Ausdruck. Es war nicht nur in der französischen Menschenrechtserklärung von 1789 und im Code Penal von 1810 enthalten, sondern zierte auch Feuerbachs bay er. StGB von 1813 (Art. 1) und war vor dem RStGB von 1871 schon in das für die Preußischen Staaten von 1851 aufgenommen. Seinen rechtsstaatlichen

20 Spendet, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung, 1984; ders., Festschr. f. Jescheck, 1985, S. 179 ff.

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Wert bestätigte die nationalsozialistische Unrechtsherrschaft, als sie es durch das Schlagwort „Kein Verbrechen ohne Strafe!" ersetzte21. Der außerordentliche Rang des Grundrechts22 aus Art. 103 Abs. 2 GG erklärt sich aus den Zielen des Gebots und aus seinem Zusammenhang mit anderen verfassungs- und strafrechtlichen Grundsätzen, die seine vielfache, allerdings seine Einzelaussagen nicht einheitlich betreffende Fundierung deutlich machen. „Nullum crimen, nulla poena sine lege scripta, stricta, certa, praevia!" hat Rechtssicherheit durch Vorausseh barkeit und Berechenbarkeit des staatlichen Strafens zu gewährleisten. „Jedermann soll vorhersehen können, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist" (BVerfGE 41, 319; 64, 393 f; 75, 341; 78, 382). Zu der Aufgabe eines rechtsstaatlichen Schutzes der Normadressaten tritt die Sicherung der Gewaltenteilung und des Demokratieprinzips. Es „soll sichergestellt werden, daß der Gesetzgeber selbst über die Strafbarkeit entscheidet" (BVerfGE 75, 341; 78, 382), so daß es den anderen Staatsgewalten verwehrt ist, die Voraussetzungen einer Bestrafung festzulegen. Zudem hat der Verfassungssatz die Gleichheit in der Anwendung des Strafrechts zu sichern und den „fragmentarischen Charakter" des Strafrechts zu wahren. Seit Feuerbach ist er mit dem Gedanken der Generalprävention verbunden, und sein Fundament ist auch deshalb breiter, weil sein Bezug zum Schuldprinzip nicht übersehen werden darf. Dieser Bezug weist es als Konkretisierung des Verfassungsauftrages aus, die Menschenwürde zu achten23. Bis heute vielfach zustimmend zitiert ist die Charakterisierung, die es durch Franz v. Liszt erfahren hat. Er

21 Näher z.B. Jescheck, Lb. d. Strafrechts AT, 4. Aufl., 1988, S. 118; Naucke, Strafrecht, 5. Aufl., 1987, S. 83; Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 27 ff; Kohlmann (Fn. 12) S. 207 ff; Rüping, Festschr.f. Oehler, 1985, S.27ff; ders., BK, 1990, Art. 103 Abs. 2, Rdn. 27 m. Nachw. unbestimmter nat.-soz. Strafgesetze. 22 So z.B. Düng, Maunz/Dürig, GG, 1960, Art. 103, Abs.2, Rdn.98; Raping, BK (vor. Fn.) Rdn. 15; Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl., 1991, §1, Rdn. 1; Rudolphi, SKStGB, §1, Rdn. 1; Rogall, KK-OWiG, §3, Rdn. 2; Otto, Allg. Strafrechtslehre, 3. Aufl., 1988, S.21; ähnl. Jescheck (vor. Fn.), S. 119: „Grundrechtsrang"; Sax (Fn. 12) S.997: „den Grundrechten wesensmäßig gleichgestellt"; Pieroth, Jarass/Pieroth, GG, 1989, Art. 103, Rdn. 18: „grundrechtsgleiches Recht". Zuweilen finden sich Charakterisierungen, die dem Prinzip nur „Verfassungsrang" (Hassemer, AK-StGB, I, 1990, § 1, Rdn. 1) zusprechen oder es als „Verfassungsgarantie" bezeichnen (Hill, in: Isensee/Kirchhof, Hdb. d. Staatsrechts, VI, 1989, S. 1305 ff, 1335). 23 S. nur Sax (Fn. 12) S. 998 f; Düng (Fn. 12) Rdn. 104; Kunig, in: v. Münch, GG, Bd. 3, 2. Aufl., 1983, Art. 103, Rdn. 17; anders Grünwald, ZStW 76. Bd., 1964, S. 11 f; ihm folgend eine verbreitete Lehre, s. z.B. Krey aaO (Fn.21) S. 134; Rudolphi, SK-StGB, § 1, Rdn. 2, die die Unterscheidung der Kenntnis von Unrecht und Strafbarkeit zur Grundlage und den Wortlaut des § 17 StGB für sich, dessen Sinnzusammenhang aber gegen sich hat; gegen die h.M. mit Recht Otto, Fn.22, S.237; Schroeder, LK, 10. Aufl., §17, Rdn. 7. Im übrigen ist, wie Roxin, Strafrecht Allg. Teil I, 1992, S. 74 (§5, Rdn. 25) bemerkt, in praxi regelmäßig entscheidend, daß „der Täter die Strafvorschrift hätte erkennen können".

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nannte den Grundsatz „das Bollwerk des Staatsbürgers gegenüber der staatlichen Allgewalt" und zugleich das Strafgesetzbuch „die Magna Charta des Verbrechers" 24 . Rob. ν. Hippel sah in dem Gebot treffend die „Grundlage des modernen Kulturstrafrechts"25. 2. Weniger eindrucksvoll und seltener sind entsprechende Formulierungen für den allgemeinen Verfassungsgrundsatz vom Vorbehalt des Gesetzes, der alle hoheitlichen Rechtseingriffe ebenfalls sowohl im Interesse der Rechtssicherheit als auch der bürgerlichen Freiheit und zur Sicherung sowohl der Gewaltenteilung als auch des Demokratiegebots verfassungswidrig sein läßt, die nicht durch Gesetz oder auf eindeutiger und klarer gesetzlicher Grundlage ergehen. Er zählt zwar seit der Weimarer Zeit unbestritten „zum eisernen Bestand der Staatsrechtsdogmatik" 26 und „figuriert unangefochten auf Platz eins der ,rechtsstaatlichen Grundsätze'" 27 , ist aber umfassend und ausdrücklich weder im Grundgesetz noch anderweitig bundesrechtlich28 normiert, wenn auch von Art. 20 Abs. 3 G G vorausgesetzt29 und jedenfalls als Verfassungsgewohnheitsrecht anzusehen30. Der trotzdem im Vergleich zum Nullapoena-Satz junge31 Gesetzesvorbehalt des allgemeinen Verfassungsrechts ist weniger streng als ersterer, weil zum einen der Exekutive ein gewisser Handlungsspielraum zu belassen ist, der bei enger Gesetzesbindung aufgehoben wäre, und zum anderen den Bürger Verwaltungshandeln regelmäßig nicht so schwer trifft wie Strafe. Vor allem aber wachsen die Bestimmtheitserfordernisse, die an die gesetzlichen Ermächtigungen zu stellen sind, mit dem Gewicht des Hoheitsaktes32. 3. Der allgemeine und jüngere Gesetzesvorbehalt hat an praktischer Bedeutung gewonnen. Sein Anwendungsbereich wurde erweitert. So sind seit 1972 wegen der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Gesetzesgebundenheit des Strafvollzuges (BVerfGE 33, 1 ff) die besonderen Gewaltverhältnisse entgegen der Auffassung von Otto Franz v. Liszt, Strafrechtliche Aufsätze und Vorträge, Bd. 2, 1905, S. 80. Rob. v.Hippel, Dt. Strafrecht, Bd. 2, 1930, S.34. 26 Starck, Der Gesetzesbegriff des Grundgesetzes, 1970, S. 288, Fn.4; zustimmend Stern, Das Staatsrecht der Bundesrep. Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl., 1984, S. 805. 27 Bäumlin/Ridder, AK-GG, 2. Aufl., Bd. 1, 1989, Art. 20, Abs. 1-3, III, Rdn.53. 28 S. aber Art. 58 Abs. 1 Verf. Baden-Württemberg; Art. 2 Abs. 2 Hess. Verf. Ώ BVerfGE 40, 248 f; Stern aaO (Fn.25), einschränkend Schnapp, in: v.Münch, Hg., GG, Bd. 1, 3. Aufl., 1985, Art. 20, Rdn.38. 30 Herzog, Maunz/Dürig/Herzog, GG, 1980, Art. 20, Rdn. VI/79. 31 Zur Entwicklung s. z . B . Herzog aaO (vor. Fn.) Rdn.59, 81; Selmer, JuS 1968, S. 489 f. 32 S. ob. Fn. 19 u. z . B . Benda, in: Benda/Maihofer/Vogel, Hdb. d. Verfassungsrechts, 1983, S. 491; Stern (Fn. 26) S. 830, 818; Riiping, BK, 1990, Art. 103 Abs. 2, Rdn. 21 m. weit. Rspr.-Nachw.; Tiedemann, Verfassungsrecht u. Strafrecht, 1991, S. 46. 24 25

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Mayer heute so gut wie unbestritten 33 und mit Recht 34 nicht mehr vom Gesetzmäßigkeitsgrundsatz ausgenommen. Und entgegen seiner klassischen Ausprägung erfaßt er heute nicht mehr nur die sog. Eingriffs-, sondern wenigstens tendenziell auch die Leistungsverwaltung 35 . Der Gesetzesvorbehalt ist inzwischen ein „alle grundsätzlichen Fragen, die den Bürger unmittelbar betreffen" 36 , erfassender, „demokratisch und rechtsstaatlich geprägter Parlamentsvorbehalt" 37 . Das Bundesverfassungsgericht hat im Anschluß an Stimmen im rechtswissenschaftlichen Schrifttum „eine Ausdehnung des allgemeinen Gesetzesvorbehalts über die überkommenen Grenzen hinaus" 38 bewirkt. Doch nicht nur der erweiterte Anwendungsbereich hat dem allgemeinen Gesetzlichkeitsprinzip erhöhte praktische Bedeutung verschafft. Gleichzeitig werden erhöhte Anforderungen an die Bestimmtheit, Klarheit und Durchschaubarkeit der Gesetze und an die Berechenbarkeit danach zulässigen staatlichen Handelns gestellt, was unser engeres Thema, die Frage nach der gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts, besonders berührt. Das Bundesverfassungsgericht hatte zunächst das schlechthin und allseits anerkannte Gebot der Klarheit und Bestimmtheit belastender Gesetze des Rechtsstaats noch als erfüllt angesehen, wenn „der Gesetzgeber wenigstens seinen Grundgedanken, das Ziel seines gesetzgeberischen Wollens" vollkommen deutlich machte 39 . Neuerdings verlangt es in Fortführung vorangegangener Rechtsprechung eine gesetzliche Grundlage, „aus der sich die Voraussetzungen und der Umfang der Beschränkungen klar und für den Bürger erkennbar ergeben und die damit dem rechtsstaatlichen Gebot der Normenklarheit entspricht" 40 . So formulierte das Gericht im sog. Volkszählungsurteil wegen des Rechts auf „informationelle Selbstbestimmung" und eines Eingriffs halber, der lange nicht als solcher gesehen wurde und jedenfalls an

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Anders Bleckmann, Staatsrecht II, 3. Aufl., 1989, S.362. S. insbes. zum Strafvollzug ζ. B. nur v. Kirchmann, Verhandl. d. Norddt. Reichstages, I, 1870, S. 177; v.Liszt, Strafr. Aufsätze u. Vorträge, I, 1905, S.328; Freudenthal, Die staatsrechtl. Stellung des Gefangenen, 1910; Merkel, Strafprozeß- u. Strafvollzugsrecht, 1931, S. 82; Schüler-Springorum, Strafvollzug im Übergang, 1969, S. 92 ff; Müller-Dietz, Strafvollzugsgesetzgebung u. Strafvollzugsreform, 1970, S. 72 ff; Seebode, MDR 1971, 98 ff; Böhm, Strafvollzug, 2. Aufl., 1986, S.22; Calliess/Müller-Dietz, StVollzG, 5. Aufl., 1991, Einl., Rdn.21f; Benda aaO (Fn.32) S.492. 35 S. z.B. Schmidt-Aßmann, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Hdb. d. Staatsrechts, I, 1987, S. 1021; Ellwein, in: Benda/Maihofer/Vogel, Hrsg., Hdb. d. Verfassungsrechts, 1983, S. 1145; Schnapp aaO (Fn.29) Rdn.43. 36 BVerfGE 40, 249. 37 Stern aaO (Rdn.26) S. 811; ders., Das Staatsrecht der BRep. Dtld., II, 1980, S. 574. 38 BVerfGE 40, 249. 39 BVerfGE 17, 314; 54, 247. 40 BVerfGE 65, 1 ff, 44. 34

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Intensität mit dem der doch häufig genug existenzvernichtenden Strafe nicht zu vergleichen ist. § 9 Abs. 1 VZG 1983 ließ es zu, die Ergebnisse der Volkszählung mit den Melderegistern zu vergleichen und zu deren Berichtigung zu verwenden41. Die Regelung wurde als verfassungswidrig erkannt, weil sie u.a. „in ihrem Inhalt unklar und daher in ihrer Tragweite für den Bürger unverständlich" sei42. Die „Auswirkungen dieser Bestimmung" (§ 9 Abs. 1 S. 2 a. F. VZG) seien vom Bürger „nicht mehr zu übersehen", sie verletze das Gebot der Normenklarheit 43 ebenso wie § 9 Abs. 3 a. F. VZG. Danach sollten den Gemeinden von den Statistischen Ämtern in der Volkszählung erhobene Daten u. a. „für eigene statistische Aufbereitungen" übermittelt werden dürfen. Die Formulierung „statistische Aufbereitungen" ist gewiß „ so ungenau, daß sie herangezogen werden kann, um die verschiedensten Aktivitäten zu decken" 44 . Wegen dieser Ungenauigkeit der gesetzlichen Voraussetzung eines Eingriffs in das informationelle Selbstbestimmungsrecht wurde § 9 Abs. 3 S. 2 a. F. V Z G als verfassungswidrig erkannt. 4. An die Verfassungsmäßigkeit der gesetzlichen Voraussetzungen einer Strafe als des schwersten staatlichen Rechtseingriffs werden demgegenüber deutlich geringere Anforderungen gestellt. Der ältere, gewichtigere, strengere, breiter fundierte, mit eindringlichen Worten geradezu gefeierte und im Gegensatz zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt auch ausdrücklich und gar mehrfach an herausgehobenen Stellen normierte Nullum-crimen-Satz hat bei unverändert eng belassenem Anwendungsbereich an Effektivität verloren. Die mit beachtlichen Gründen vertretene Mindermeinung45, er erfasse auch die Maßregeln, hat sich noch nicht durchgesetzt46. Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage jüngst ausdrücklich offengelassen47.

41 § 9 Abs. 1 VZG 1983: „Angaben der Volkszählung nach § 2 Nr. 1 und 2 können mit den Melderegistern verglichen und zu deren Berichtigung verwendet werden. Aus diesen Angaben gewonnene Erkenntnisse dürfen nicht zu Maßnahmen gegen den einzelnen Auskunftspflichtigen verwendet werden." 42 BVerfGE 65, 64. « BVerfGE 65, 65. 44 BVerfGE 65, 68. 45 S. z.B. Bruns, GA 1959, S.196, 207; Wassermann, AK-GG, 2. Aufl., Bd.2, 1989, Art. 103, Rdn. 46; Pieroth (Fn. 22) Rdn. 19; Jung, Festschr. f. Wassermann, 1985, S. 884 ff; Ransiek, Gesetz u. Lebenswirklichkeit, 1989, S. 103; Hassemer, Einf. (Fn. 12) S. 261; s. auch Baumann/Brauneck u.a., AE-AT, 1966, § 1 Abs.2 u. dazu Gallas, ZStW 80.Bd., 1968, S. 11 f.

« S. nur B G H S t . 2 4 , 106; Eser, Schönke-Schröder, StGB, 24.Aufl., 1991, § 2 , Rdn. 41 ff; Lackner, StGB, 19. Aufl., 1991, § 1 , Rdn. 8; Ebert, Strafr. AT, 1985, S.9; Baumann/Weber, Strafr. AT, 9. Aufl., 1985, S.88; Jescheck, Lb. d. Strafr. AT, 4. Aufl., 1988, S. 124; Tröndle, LK, 10. Aufl., §2, Rdn.52ff m. w. Nachw. 47 BVerfGE 74, 126.

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Ob außer der Strafbarkeit auch die Strafe gesetzlich bestimmt sein muß, ist zwar kaum noch umstritten. Die h. M. wirkt sich jedoch praktisch nicht aus, weil „weniger strenge Maßstäbe" 48 und eine relative Bestimmtheit 49 der Strafe genügen sollen, was wegen des Wesens der Strafzumessung gewiß kaum anders sein kann, aber zu gesetzlichen und von Lehre und Rechtsprechung tolerierten Strafrahmen geführt hat, die dem Bestimmtheitsgebot für die Rechtsfolgen nahezu jede Bedeutung genommen haben50. So hat denn der Bundesgerichtshof gar eine devisenrechtliche Norm, die Ahndungen „mit jeder gesetzlich zulässigen" Strafe, also geringer Geldstrafe bis lebenslänglicher Freiheitsstrafe, zuließ, als „hinreichend bestimmt" erachtet51. Über den im Ansatz gewiß richtigen Ausschluß des Strafverfahrensrechts aus dem Anwendungsbereich des Art. 103 Abs. 2 GG52 werden gesetzgeberische Entscheidungen toleriert, die auch materiell-rechtlichen Charakter haben und die „Strafrechtslage von Gesetzes wegen absichtlich offen" lassen53. Obwohl die vom Gesetzgeber vorgenommene Einordnung eines Rechtsinstituts nicht endgültig über die Zuordnung zum materiellen oder formellen Strafrecht entscheidet, werden Normen, die wie §153 a StPO wenigstens Doppelcharakter haben54, in praxi noch nicht am strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip gemessen55. Das Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit der Strafbarkeit hat das Bundesverfassungsgericht allerdings häufig und z.B. 1983 so betont: „Der Satz ,nulla poena sine lege' begründet eine strikte Bindung der Strafgerichte an das geschriebene materielle Strafrecht. Die Strafgerichte sind gehalten, den Gesetzge-

Eser (Fn. 46) § 1, Rdn.23. S. nur Spendet, Zur Lehre vom Strafmaß, 1954, S. 162. 50 So z.B. auch Schünemann, Nulla poena sine lege?, 1978, S.7f, 37f; Rausch, Der Staatsanwalt - Ein Richter vor dem Richter?, 1980, S. 160; Naucke (Fn.21) S.86; vgl. auch Jescheck (Fn.21) S. 117. Baumann/Weber (Fn.46) S. 120, kritisieren die h.L. in bezug auf die Anforderungen an die Bestimmtheit der Rechtsfolge mit Recht als „erstaunlich weitherzig". 51 BGHSt. 13, 191; zustimmend z.B. Stree, Deliktsfolgen u. Grundgesetz, 1960, S.24; ablehnend z.B. Rüping (Fn.32) Rdn. 70; Rausch (Fn.50); Eser (Fn.46) §1, Rdn.23. 52 Düng (Fn. 12) Rdn. 109; Maurach/Zipf, Strafr. AT, Tb.l, 7. Aufl., 1987, S. 120; Rrey (Fn. 12) S.238; Jescheck (Fn.21) S. 125; Rudolphi (Fn.22) Rdn. 10; BVerfGE 1, 423; 2}, 286. 53 Hassemer (Fn.22) Rdn. 17. 54 Rausch (Fn.50) S.63f; Rrahl, Die Rechtsprechung des BVerfG u. des BGH zum Bestimmtheitsgrundsatz im Strafrecht, 1986, S. 73. S. auch §42 österr. StGB u. dazu vergleichend Jescheck, SchweizZStrR 108 (1991), S. 150. 55 Dagegen mit Recht z.B. Baumann/Weber (Fn.46) S. 126; Jakobs, Strafr. AT, 2. Aufl., 1991, S. 67 f; Rrahl (Fn. 54) S. 68 ff, 157; Ransiek (Fn.45) S.54f; Roxin, Strafverfahrensrecht, 22. Aufl., 1991, S. 71. 48

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ber beim Wort zu nehmen; ihn zu korrigieren, ist ihnen verwehrt . . . Art. 103 Abs. 2 GG, der . . . hinreichend bestimmte Straftatbestände verlangt, will sicherstellen, daß jedermann vorhersehen kann, welches Verhalten verboten und mit Strafe bedroht ist" 56 .

Doch diese Worte erinnern an eine Warnung, mit der Dürig bereits vor über 30 Jahren Art. 103 GG kommentiert hat: „Das hört sich gut an, berechtigt aber nicht, die Augen vor der Wirklichkeit zu verschließen"57. Tatsächlich hat das Bundesverfassungsgericht über viele Jahrzehnte seiner durchaus umfangreichen Rechtsprechung zu Art. 103 Abs. 2 G G das Verfassungsgebot „wirkungslos gemacht", wie Naucke treffend festgestellt58 und in einer von ihm betreuten Dissertation Krahl im einzelnen nachgewiesen hat59. Denn das Verfassungsgericht hat vom Beginn seiner Rechtsprechung an für die praktische Bedeutung des Bestimmtheitsgebots verhängnisvolle und bis heute wirkende Maßstäbe gesetzt, die für sich genommen häufig plausibel erscheinen, in der Kumulation und durch ihre großzügige Anwendung aber das strafrechtliche Gesetzlichkeitsprinzip in eine Krise60 geführt haben, so daß es zu dem allgemeinen Gesetzlichkeitsgrundsatz heute in einem unerträglichen Gegensatz steht. In zahlreichen Entscheidungen hat das Gericht betont, das Strafrecht habe „der Vielgestaltigkeit des Lebens" Rechnung zu tragen61 und könne ohne allgemeine, unscharfe, unbestimmte oder „flüssige" Begriffe und ohne Generalklauseln nicht auskommen62. „Das Gebot der Gesetzesbestimmtheit" dürfe „nicht übersteigert" werden63; dies ergebe sich aus der Natur des Rechtsgebietes64, das dem „Wandel der Verhältnisse oder den Besonderheiten des Einzelfalles" Rechnung zu tragen habe65. Deswegen genüge es, daß Tragweite und Anwendungsbereich einer Strafvorschrift erst im Wege der Auslegung zu ermitteln seien66 und das Risiko einer Bestrafung erkannt werden könne67. Mit der bekannten Entscheidung, die die frühere Strafbarkeit des „groben Unfugs" (heute eine weiterhin unzureichend bestimmte Ordnungswidrigkeit, § 118 OWiG) als hinreichend bestimmt bezeichnete68, wurde die Rechtsprechung begründet,

56 BVerfGE 64, 393 f m. w. Rspr.-Nachw. und bestätigt u. a. in BVerfGE 71, 114 f; 73, 234; 82, 393 f. 57 Dürig (Fn. 12) Rdn.112. 58 Naucke (Fn.21) S.88. 59 Krahl (Fn.54) passim; zustimmend Müller-Dietz, GA 1987, S. 35. 60 Hassemer, Einf. (Fn. 12) S.254. «· BVerfGE 4, 358; 11, 237; 26, 42, 263; 28, 183; 73, 235; 78, 389. 62 BVerfGE 4, 358; 11, 237; 28, 183; 37, 208; 45, 371; 48, 56; 66, 355; 78, 389. a BVerfGE 14, 251; 48, 56; 75, 342; BGHSt. 18, 362. " BVerfGE 26, 203 f. 65 BVerfGE 14, 251; 48, 56. 66 BVerfGE 25, 285; 26, 42; 32, 363; 4!, 372; 73, 237; 78, 388. w BVerfGE 71, 115; 73, 235, 243. 68 BVerfGE 26, 41 ff.

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nach der dem Bestimmtheitsgebot eine unbestimmte, aber „durch eine jahrzehntelange gefestigte Rechtsprechung hinreichend präzisierte" N o r m genügen soll 69 . Diese und andere Relativierungen des Prinzips ließen die gesetzliche Bestimmtheit der Strafdrohung zur richterlichen Bestimmbarkeit des Strafbaren werden 7 0 . Über den wirklichen W e r t des Verfassungsgebotes macht sich denn die Literatur auch kaum noch Illusionen. Schon 1960 wurde dazu aufgefordert, das Bestimmtheitsgebot nur noch als „politisches Bekenntnis" aufzufassen und sich einzugestehen, daß es zu einem wenig sagenden Formalprinzip ausgehöhlt sei 71 . F. C. Schroeder ging bereits 1969 von einer „mit Sicherheit zu erwartenden völligen Relativierung des Bestimmtheitsbegriffs" aus 72 , und Kohlmann konstatierte „plein pouvoir" des Richters 73 . Inzwischen ist die Erosion des Prinzips immer häufiger erkannt. Kunig hält das Bestimmtheitsgebot f ü r „keine wirkliche Schranke" 74 , Schünemann es f ü r „weitestgehend preisgegeben" 75 ; er sieht in ihm den „Tiefpunkt des Nullapoena-Satzes" 76 . A n die Stelle der Resignation 77 , die sich der Lehre ob der skizzierten Rechtsprechung zu A r t . 103 Abs. 2 G G und der unbestreitbaren Schwierigkeit bemächtigt, einen gewissen „Bedarf an Vagheit" des Strafrechts-

69 BVerfGE 26, 43; ähnl. 28, 185; 45, 372; V , 262; 78, 388; zustimmend Hassemer, AK-StGB (Fn. 15) §1, Rdn.28; ablehnend u.a. Eser (Fn.46) §1, Rdn. 18; Jakobs, AT, 2. Aufl., S. 79; Rudolphi (Fn. 22) § 1, Rdn. 14; Kunig, in: v. Münch, Hg., GG, III, 2. Aufl., 1983, Art. 103, Rdn. 29; Schünemann (Fn. 50) S. 33; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 163; Schroeder, JZ 1969, S. 778; Tiedemann (Fn. 32) S.44. Zu §118 OWiG mit Recht krit. z.B. Bohnert, NStZ 1988, S. 134; Rogall, KKOWiG, 1982, §3, Rdn. 39; Göhler, OWiG, 9. Aufl., 1990, §118, Rdn. 3. 70 Eser (Fn.46) §1, Rdn.20; Krahl (Fn.54) S.407; Calliess, NStZ 1987, S.211 r.Sp. ob.; Kühl, StV 1987, S. 124. S. auch schon BGHSt.2, 196 („an Stelle des Gesetzgebers") u. dazu Kohlmann (Fn. 12) S. 152; Hassemer, JuS 1987, S. 315 mit Anm. 36. An §240 II StGB mit der Begr. geringere Bestimmtheitsanforderungen zu stellen, er schränke die Strafbarkeit ein (BVerfGE 73, 239), verträgt sich nicht mit Art. 103 II GG; denn §240 II StGB entscheidet über das Ob des Strafens {Starck, JZ 1987, S. 147; Kühl, StV 1987, S. 135), und die mangelnde Bestimmtheit macht deshalb den Strafrichter zum Gesetzgeber (Kühl aaO S. 124, 130), was BVerfGE 73, 238, immerhin als Gefahr erkennt. 71 Kielwein, Zehn Jahre Grundgesetz, 1960, S. 135. 72 Schroeder, JZ 1969, S. 778. 73 Kohlmann (Fn. 12) S. 155. 74 Kunig (Fn. 69); s. auch schon Marxen, Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, 1975, S. 258: „kein echter Prüfstein für die strafrechtliche Lehre". 75 Schünemann (Fn. 50) S. 8, 29; zustimmend Krey, Keine Strafe ohne Gesetz, 1983, S. 122f; ähnl. Krahl (Fn. 54) S. 339: „vom BVerfG und BGH im Grunde aufgegeben". 76 Schünemann (Fn. 50) S. 6. Nach Tiedemann (Fn. 32) S. 49 hat sich die Situation noch „weiter verschlechtert". 77 Rüping (Fn. 32) Rdn. 22, stellt eine solche fest, und sie findet sich ζ. B. bei Seelmann, Ak-StGB, I, 1990, §13, Rdn.2 a.E., 99ff; Roxin, Einf. in das neue Strafrecht, 1974, S.2f.

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systems 78 mit Art. 103 Abs. 2 GG in praktikable Grenzen zu verweisen79, muß jedoch das Bemühen treten, die Entwicklung umzukehren. Das fundamentale Prinzip des Rechtsstaats darf schließlich auch um der Glaubwürdigkeit der Jurisdiktion und Jurisprudenz willen nicht weiter nur „Verbalbekenntnis" 80 sein. Zwar hat der Bundesgerichtshof zeit seines Bestehens noch keine Strafnorm für zu unbestimmt gehalten. Doch das Bundesverfassungsgericht hat erkennen lassen, daß es dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip praktisches Gewicht zu verleihen geneigt ist. Erstmals hat es 1988 und erneut 1990 auf das Bestimmtheitsgebot gestützte Einwendungen gegen Strafnormen durchgreifen lassen81 und 1986 die Warnung vor dem „Verbalbekenntnis" und die nur zu berechtigte Kritik selbst aufgegriffen, daß es „dazu neige, die Möglichkeit von Verletzungen des Bestimmtheitsgebots und des Analogieverbots im Einzelfall allzu großzügig zu beurteilen"82. II. Stellt die heutige Achtung des Bestimmtheitsgebots den Tiefpunkt des Nulla-poena-Satzes dar, so kennzeichnet die praktizierte Strafbarkeit unterlassener Erfolgsabwendungen den Gipfel in der Mißachtung der Verfassungsgebote gesetzlicher Strafbegründung (lex scripta) und hinreichender Tatbestandsbestimmtheit (lex certa). 1. Aus dem Nulla-poena-Satz folgende Bedenken gegen das sog. unechte Unterlassensdelikt sind alt. Sie haben aber nur vereinzelt, wenn auch über Jahrzehnte immer wieder dazu geführt, diese Strafbarkeit gänzlich zu verneinen. Vor allem Hellmuth Mayer und Armin Kaufmann haben mehrfach ihre Verfassungswidrigkeit geltend gemacht83. Ob sie tatsächlich mit dem Analogieverbot zu begründen war, ob also das Begehen durch Unterlassen verfassungswidrig dem aktiven Tun gleichHassemer, A K - S t G B , §1, Rdn.18; den., Einf. (Fn. 12) S.259. " S. statt vieler z . B . Rogall (Fn. 19) Rdn.27; Krey (Fn.75) S. 124 m.Nachw.; Kühl, StV 1987, S. 125. 80 Krahl (Fn. 54) S. 339. S. auch Arm. Kaufmann, der zutreffend feststellte, daß beim unechten Unterlassungsdelikt der Widerspruch zum Nullum-crimen-Satz „verschleiert" wird (JuS 1961, S.175 r.Sp.). 81 B V e r f G E 78, 374 ff; 81, 298 ff, zur letzteren Entscheidung krit. Spendet, Zeitschr. „ M u t " , 1991, H.291, S . 1 8 f f , 2 2 f f ; Dreher/Tröndle (Fn.22) § 9 0 a , Rdn.6. 82 B V e r f G E 73, 236 unter Hinweis auf Krahl. 83 Hellm. Mayer, Das Strafrecht des Deutschen Volkes, 1936, S. 175; ders., SJZ 1947, Sp. 14f; ders., Strafr. AT, 1953, S.119ff; ders., Mat. ζ. Strafrechtsref., Bd. 1, 1954, S.275, 277; ders., Strafr. A T , 1967, S. 80; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1958, 2. Aufl., 1988, S.282; ders., J u S 1961, S.176. 78

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gestellt wurde oder ob die Begehungsdelikte die Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen einschließen, kann in diesem Zusammenhang heute dahinstehen. Denn der Gesetzgeber hat mit dem seit 1.1.1975 geltenden § 13 StGB, um dem verfassungsrechtlichen Einwand zu begegnen, entschieden, daß die Kommissivdelikte prinzipiell auch per ommissionem begangen werden können. Damit ist gesetzlich nahezu das wieder normiert, was schon die Partikularstrafgesetzbücher (mit Ausnahme Preußens) festlegten84, und zugleich ein beachtlicher Schritt zur verfassungsrechtlichen Sicherung des unechten Unterlassungsdelikts getan85. Er reicht jedoch, wie zu zeigen bleibt, nicht aus, strafwürdige Unterlassungen strafbar sein zu lassen. Ihm werden weitere Schritte des Gesetzgebers folgen müssen, um die Gefahr zu bannen, daß Art. 103 Abs. 2 G G und die Verfassungsrechtsprechung zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt mißachtet werden. 2. § 13 StGB ist heute die Grundlage für die Strafbarkeit desjenigen, der „es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Strafgesetzes gehört,... wenn er rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt" 86 . Damit ist zweierlei gesagt. Tatbestandsverwirklichung durch Unterlassen ist strafbar. Erforderlich ist aber zweitens eine rechtliche Handlungspflicht. Irgendeine andere, z . B . sittliche, genügt unstreitig nicht. Aber das Strafgesetz gibt keine Auskunft darüber, wann die erforderliche Rechtspflicht zum Tätigwerden besteht, sagt insbesondere nicht, woraus sie entstehen kann und wie sie beschaffen sein muß. Dies zu klären soll unter kurzem Rückgriff auf die geschichtliche Entwicklung des unechten Unterlassungsdelikts und unter Beachtung des Nulla-poena-Satzes versucht werden.

84 S. z.B. §1 Bad. StGB 1845; Art. 1 BayStGB 1813; Art. 1 HannStGB 1840; Art. 1 OldStGB 1814; Απ. 1 SächsStGB 1856; Art. 1 Sächs.-AltenburgStGB 1841; Art. 1 ThürStGB 1852; Art. 1 WürttStGB 1839. 85 Die ganz h. M. sieht die früheren, auf das Analogieverbot gestützten Einwände durch § 13 StGB als ausgeräumt an, so ζ. B. Stree, Schönke-Schröder, 24. Aufl., 1991, § 13 Rdn. 5; Jescheck (Fn. 21) S. 551; Jakobs (Fn. 55) S. 786. Für nichtssagend halten die Neuregelung jedoch z.B. Otto, Grundkurs AT (Fn.22) S. 179; Schiinemann, Grund und Grenzen der unechten Unterlassungsdelikte, 1971, S. 330. Der bedeutsamen Frage, ob § 13 StGB ein verfassungswidriges Analogiegebot (s. Haft, Strafr. Allg. Teil, 3. Aufl., 1987, S. 177 f) enthält (so Grünwald, ZStW 76, 1964, S.7; verneinend Krey, ob. Fn. 12, S.225f; Seelmann, AK-StGB I, 1990, §13, Rdn. 1), kann hier nicht gesondert nachgegangen werden. Zur weiteren Bedeutung des Analogieverbots beim unechten Unterlassungsdelikt s. Weber, Festschr. f. Oehler, 1985, S.93. 86 Auf das weitere und verfassungsrechtlich bedenkliche (s. ζ. B. Seelmann, vor. Fn., Rdn. 70; Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte u. der Gedanke der Ingerenz, 1966, S. 61 f) Kriterium des „Entsprechens" soll hier nicht eingegangen werden.

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Die die Strafbarkeit begründende Rechtspflicht wurde ursprünglich, auf Feuerbach zurückgehend, lediglich bejaht, wenn sie sich aus einem Gesetz oder aus Vertrag ergab. Feuerbach hatte ausdrücklich einen „besonderen Rechtsgrund (Gesetz oder Vertrag)" gefordert, „durch welchen die Verbindlichkeit zur Begehung begründet wird" und vermerkt: „ohne diesen (Rechtsgrund) wird man durch Unterlassung kein Verbrecher" 87 . Die Wissenschaft fügte zunächst eine Handlungspflicht aus vorangegangenem rechtswidrigem Verhalten hinzu88 und nahm von der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ab vor allem im Anschluß an A. M e r k e l zuweilen eine Garantenstellung auch aus rechtmäßigem vorangegangenem Tun an, wobei die Entstehung einer Rechtspflicht jeweils behauptet, aber nicht begründet wurde90. Die (engere) auf Gesetz und Vertrag abstellende „formelle Rechtspflichttheorie"91 war damit bereits aufgegeben und zugunsten einer sog. materiellen abgewandelt, was durchaus Widerspruch fand92. Erst spät hat sich die in der strafrechtswissenschaftlichen Standardliteratur der Vorkriegszeit, z.B. 1930 im großen Lehrbuch von Rob. ν. Hippel und in dem führenden Kommentar von Frank93 noch nicht angedeutete, geschweige denn erwähnte Auffassung gebildet und durchgesetzt, daß auch enge Lebensgemeinschaften, Haus-, Familien-, Gefahren- und Wohngemeinschaften Handlungspflichten begründen. Dies geschah durch die Rechtsprechung der nationalsozialistischen Zeit, nach Aufhebung des Nulla-poena-Satzes (Juni 1935) und (objektiv) begünstigt durch literarische Arbeiten, die an die Stelle der formellen Rechtspflicht eine „materielle" zu setzen suchten. Sie leiteten diese aus ebenso weiten wie unsicheren und auch schon auf die „Funktion" des Unterlassenden abstellenden Kriterien ab. Her-

Feuerbach (Fn. 11) ab der 2. Aufl. des Lehrbuches, 1803, §24. Näher van Gelder, Die Entwicklung der Lehre von der sog. Erfolgsabwendungspflicht aus vorangegangenem Tun im Schrifttum des 19. Jh., 1967, S. 33 ff; Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 29 ff; Brammsen, Die Entstehungsvoraussetzungen der Garantenpflichten, 1986, S. 341 ff. 89 Ad. Merkel, Von den Unterlassungsverbrechen etc., Krim. Abh. 1, 1867, S. 67 ff; entschiedener noch P. Merkel, Begehung durch Unterlassung, 1895, S. 31 ff. 90 S. nur van Gelder (Fn. 88) S. 105; H. Mayer, Strafrecht, 1936 (Fn. 83) S. 176, u. auch Welzel, Das dt. Strafrecht, 11. Aufl., 1969, S.216. 91 Die Bezeichnung „formelle Rechtspflichttheorie" wird uneinheitlich verwandt, wie hier Jakobs (Fn. 55) S. 799, Rdn. 26 m. Anm. 44, u. etwa Otto! Brammsen, Jura 1985, S. 532; Seelmann (Fn.85) Rdn.32; während z.B. Jescheck (Fn.21) S.561 f alle auf (angebliche) Entstehungsgründe der Rechtspflichten abstellende Lehren als „formelle" bezeichnet und diesen die ausschließlich nach materiellen Kriterien suchenden als „Funktionenlehre" gegenüberstellt. 87

88

Zahlr. Nachweise bei Allfeld, Lb. d. Dt. Strafr. AT, 9. Aufl., 1934, S. 113, N. 47. Frank, Das StGB für das Dt. Reich, 18. Aufl., 1931, § 1 , Anm. IV, S.17ff. S. auch v.Liszt/Schmidt, Lb. d. Dt. Strafr., I, 26. Aufl., 1932, S. 190 ff; Mezger, Strafr., 2./3.Aufl., 1933/49, S. 138 ff. Zur „Frühgeschichte" dieser Lehre s. Welp (Fn.88) S.27. 92 93

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ausgegriffen seien: Gesellschaftliche Erwartung und entsprechende „natürliche Regung", „psychischer Antrieb" 94 , für den Bestand der gesellschaftlichen Ordnung, nach dem Rechtsgefühl notwendige und im eigenen Herrschaftsbereich „selbstverändliche" Pflicht 95 , aus dem Geiste unserer Gesamtrechtsordnung herzuleitende Rechtspflichten und bei steigender Solidarität aller Menschen notwendige Uberleitung individualethischer Pflichten in rechtlich-soziale96, Stellung des Täters innerhalb des Gemeinschaftsganzen und Vertrauen auf die durchgängige Erfüllung der sittlichen Pflicht als Grundlage des staatlichen Organisationsplanes97. Das Reichsgericht stellte in einer grundlegenden und bis heute tatsächlich wegweisenden Entscheidung vom September 1935 ausdrücklich auf das auch im geänderten § 2 StGB erwähnte „gesunde Volksempfinden" ab98. Ein Teil der Lehre stimmte unverzüglich zu und forderte gar Weiterungen. Schaffenstein rief bereits 1936 zur „Besinnung auf die konkreten Ordnungen der deutschen Familie einerseits, der Haus- und Wohngemeinschaft andererseits"99 auf und ließ eine „Pflicht, die sich aus der völkischen Sittenordnung ergibt" genügen, „auch dann, wenn diese Pflicht irgendeine positivrechtliche Festlegung nicht erfahren hat" 100 . Nicht „normativistische Konstruktionen" oder „willkürlich herbeigezogene Paragraphen" führten hier zu „auch in ihrer Begründung unanfechtbaren Entscheidungen" 101 . „Nur der Verstoß gegen die im sittlichen Empfinden des deutschen Volkes wurzelnden Gebote" könne die strafrechtliche Verantwortung des Unterlassenden für den Erfolg begründen102. Ähnlich führte Ν agier 1938 in seiner umfangreichen Abhandlung „Die Problematik der Begehung durch Unterlassen", der wir den treffenden Ausdruck „Garant" verdanken, unter ausdrücklicher Berufung auf die Aufhebung des Gesetzlichkeitsprinzips aus: „Rechtmäßigkeit wie Widerrechtlichkeit bestimmen sich jetzt nach dem .gesunden Volksempfinden' . . . Nach Preisgabe der Feuerbachschen Rechtsregel (nullum crimen

v.Bar, Gesetz u. Schuld im Strafrecht, Bd. 2, 1907, S. 258 ff. Traeger, Festgaben f. Enneccerus, 1913, S. 71 ff. 96 Sauer, Frank-Festgabe, I, 1930, S. 223 ff; zustimmend Kissin, Die Rechtspflicht zum Handeln bei den Unterlassungsdelikten, 1933, S. 112 ff. 97 Kissin (vor. Fn.) S. 114. 98 RGSt. 69, 321 ff, 324; s. auch schon RGSt.66, 71 ff, 73 (Rechtspflicht aus persönl. Verhältnis). 99 Schaffstein, Festschr. f. Graf Gleispach (Gegenwartsfragen der Strafrechtswissenschaft), 1936, S. 76. 100 Wie vor. Fn., S.96. 101 Wie Fn.99. Dazu treffend z . B . Rudolphi (Fn. 86) S.39f: „irrationale Gefühlsentscheidung". 102 Schaffstein, DJ 1936, S. 769; ähnl. z.B. Niethammer, ZStW 51 (1938), S.437ff. 94 95

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sine lege) ist insoweit unser Strafrecht zur Rechtsstufe der vorliberalen Zeit zurückgekehrt"' 03 . . . „Dieses neue Rechtsdenken hat auch in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zu den Kommissionen durch Unterlassung seinen offiziellen Einzug gehalten. Vermöge der Ethisierung der Rechtspflege sind die Gerichte nicht mehr auf die Tarnung durch irgendwelche mühsam herbeigeholte Gesetzesvorschriften angewiesen . . . (Es) kann sich jetzt das oberste Gericht frank und frei zur sozialethischen Bindung bekennen" 104 . Deutlicher

konnten

die

strafrechtliche

Unbestimmtheit

und

die

A b k e h r v o m R a t i o n a l i s m u s der A u f k l ä r u n g nicht b e g r ü ß t w e r d e n . D e r neue

„Rechtsgrand"

des

Reichsgerichts

hat

„Lehre

und

Judikatur

z u n e h m e n d in seinen B a n n g e z o g e n " 1 0 5 . D i e N a c h k r i e g s r e c h t s p r e c h u n g ist d a v o n n i c h t a b g e r ü c k t 1 0 6 , s o n d e r n hat ihn n o c h weiter, ja n a c h verbreiteter B e u r t e i l u n g „bedenklich w e i t g e s p a n n t " 1 0 7 . E r s t in j ü n g s t e r Z e i t k o m m t sie z u b e g r ü ß e n s w e r t e n E i n s c h r ä n k u n g e n 1 0 8 , die allerdings ebenfalls u n b e r e c h e n b a r u n d rational s o w e n i g n a c h v o l l z i e h b a r sind w i e die H e r l e i t u n g e n u n d die A u s w e i t u n g e n . D i e n a c h d e m derzeitigen Stand d e r J u d i k a t u r u n d i m wesentlichen auch der L i t e r a t u r anerkannten vier, allerdings m i t e i n a n d e r v e r f l o c h t e nen u n d häufig (nicht o h n e W i d e r s p r u c h ) g e m i s c h t v e r w e n d e t e n hungsgründe

f ü r die n a c h § 13 S t G B unerläßliche b e s o n d e r e

pflicht z u m H a n d e l n ( G e s e t z , freiwillige Ü b e r n a h m e ,

EntsteRechts-

Ingerenz

und

F a m i l i e n - , L e b e n s - o d e r G e f a h r e n g e m e i n s c h a f t ) h a b e n die das u n e c h t e Unterlassungsdelikt kennzeichnende Rechtsunsicherheit nicht behoben. E b e n s o w e n i g v e r m o c h t e dies die neuere L e h r e , die sich vielfältig u m

Nagler, GS 111 (1938), S.40. Wie vor. Fn., S.42f. 105 Maurach/Gössel, Strafrecht Allg. Teil/2, 7. Aufl., 1989, S.203 (§46, Rdn.88). 106 So knüpft BGHSt. 19, 167 ff, unter Berufung auf „sittliche Pflicht", „Blutsbande" und „Rechtsempfinden" auch ausdrücklich an RGSt. 69, 321 ff, an (mit Recht krit. dazu Blei, Strafr. Allg. Teil, 18. Aufl., 1983, S. 322). Nagler hat in die 7. Aufl. des Leipz. Komm., 1954 (Einl., Anh. 2, S. 33), seine Ausführungen aus der 6. Aufl., 1944 (S. 64) unverändert übernommen: „Infolge der Einbeziehung der Sozialethik in den Rechtsbereich gehören auch die von der Volkssittlichkeit begründeten Obliegenheiten dazu". Nahezu unverändert wurden sie in die 8. Aufl., 1957 (S.36), aufgenommen (statt „Volkssittlichkeit" nun: „gemeinschaftsbezogenen Sittlichkeit"). Entsprechend wurde RGSt. 69, 323 von 1944 bis 1957 unter Berufung auf die „Volkssittlichkeit" (1957: „allgemeine Sittlichkeit") ausdrücklich zugestimmt (S.67; 1954: S.36; 1957: S.39). Weitere Nachw. der Kontinuität und Kritik bei Marxen (Fn.74) S.255f. 103

104

107 Maurach/Gössel (Fn.105). Ähnl. Stree, Schönke/Schröder, StGB, 24. Aufl., 1991, §13, Rdn. 53 („eine Art .Sippenhaftung'"); Baumann/Weher (Fn. 46) S. 244. S. auch die Rspr.-Nachweise u. -kritik bei Rudolphi, NStZ 1984, S. 149ff, u. z.B. Geilen, FamRZ 1961, S. 159: „gesetzlich nicht mehr kontrollierte Wucherung der Garantenpflichten"; Busch, Festschr. f. v.Weber, 1963, S. 199: „nicht überschaubare Ausdehnung". 108 So mit Nachw. ζ. B. Lackner (Fn. 46) § 13, Rdn. 7, 10 f; s. aber andererseits auch die Beurteilung durch Rudolphi, J R 1987, S. 164.

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eine Einteilung109 nach materiellen Kriterien bemüht und überwiegend nach Funktionen der Rechtspflichten systematisiert. Die entsprechende Unterscheidung von Obhuts- und Sicherungspflichten führte wohl zu differenzierten und z.T. zu konkretisierten Kriterien, birgt aber vor allem110 die Gefahr, die bedeutsamen Fragen nach der gesetzlichen Grundlage oder Herleitung der Handlungspflichten und ihrer verfassungsrechtlich hinreichenden Bestimmtheit in den Hintergrund treten zu lassen oder gar zu verdecken. Sie trägt jedenfalls zur Rechtspflichtbegründung kaum etwas bei, führt aber immer wieder zu ihr zurück111, so daß jede materielle Betrachtungsweise von der formellen nicht isoliert, sondern einer verbreiteten Lehre entsprechend mit ihr verbunden ist112. Derart zu konkretisierten und dem Bestimmtheitsgebot genügenden Erfolgsabwendungspflichten zu gelangen, ist allerdings schon dadurch wenigstens erschwert, daß sowohl bei den von der Rechtsprechung nach wie vor verwandten vier sog. formellen Grundlagen als auch und erst recht bei der materiellen Betrachtungsweise der neueren Lehren die Garantenstellungen sowohl in ihren Grundgedanken als auch in den übermäßig zahlreichen Einzelheiten noch ungeklärt und umstritten sind113, was näher darzulegen kaum nötig und hier auch nicht möglich ist. 3. Entsprechend wird denn auch die Strafbarkeit unterlassener Erfolgsabwendung, besser: die heute praktizierte und von der Lehre weitgehend geteilte „Rechtspflichtbegründung" i. S. d. „rechtlich dafür einzustehen" des §13 StGB im Schrifttum, so weit ersichtlich, nirgends als gesetzlich bestimmt bezeichnet114. Vielmehr bringt die Lehre (die Rechtsprechung geht auf die Frage nicht ein) neben einem verbreiteten Unbehagen sehr 109 Treffend stellt ζ. B. Wessels, Strafr. Allg. Teil, 21. Aufl., 1991, S. 229 (§ 16 II 4) den Entstehungsgründen der Garantenstellungen deren Einteilung nach neuerer Lehre gegenüber; s. auch Μaurach/Gössel (Fn. 105) S. 197. 110 Zur Gefahr der Ausweitung strafrechtlicher Haftung s. z.B. Jescheck (Fn.21) S. 562; Blei (Fn.106). 111 Arzt, JA 1980, S. 648 1. Sp.; Baumann/Weber (Fn. 46) S. 245; Stree (Fn. 107) Rdn. 9; ders., Festschr. f. H.Mayer, 1966, S. 146f; Jescheck (Fn.21) S.562; Jakobs (Fn.55) S.799, Rdn. 27; s. auch Weber, Festschr. f. Oehler, 1985, S. 86 ff. 112 So z.B. Arzt (vor. Fn.); Jescheck (vor. Fn.); Maurach/Gössel (Fn. 105) S. 197, Rdn. 64. Rudolphi, SK-StGB, 1988, §13, Rdn. 23, 25; sehr einschr. hingegen Jakobs (Fn.55) S.801 f. i» Lackner (Fn.46) §13, Rdn.7ff, 12f; Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl., 1991, §13, Rdn.5 b/c; s. auch Arzt, JA 1980, S. 553 („Nebel"); Roxin, JuS 1973, S. 198 1. Sp. 114 Anders noch Nagler/Mezger, LK, 8. Aufl., Bd.l, 1957, Einl., Anh.2/B I 2, S.35 (wie Nagler, LK, 6. Aufl., 1944, S. 63): „Tatsächlich nimmt der Garant eine scharf umrissene Pflichtenstellung ein, die durch genaue Merkmale objektiv bestimmt ist und daher an begrifflicher Faßlichkeit wie an praktischer Handhabung nichts zu wünschen übrig läßt", s. dazu ob. Fn. 106.

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häufig und deutlich das Gegenteil zum Ausdruck. Mal wird mehr der Mangel gesetzlicher Regelung, mal mehr der Verstoß gegen das Bestimmtheitsgebot gerügt. So stellt Jescheck sowohl in seinem Lehrbuch als auch im Leipziger Kommentar fest, daß „dem Bestimmtheitsgebot durch § 13 noch nicht in vollem Umfang Genüge getan" ist115. Lackner kommentiert, „auch nach Einführung des § 13" sei die „Problematik des unechten Unterlassungsdelikts im Hinblick auf den Bestimmtheitsgrundsatz nicht voll ausgeräumt". Denn „das Gesetz hat alle wesentlichen Sachfragen, die für die Abgrenzung relevant sind, ungelöst gelassen"116. Welzel kritisierte: „nur das Täterverhalten, nicht die täterschaftlichen Merkmale sind bei den unechten Unterlassungsdelikten ,gesetzlich bestimmt'" und der Satz „nulla poena sine lege" erfahre „eine tiefgreifende Einschränkung"117. Nach Haft hat er gar „kapitulieren" müssen118. Jakobs spricht in bezug auf § 13 StGB von einer „Unbestimmtheit der Regelung" und auch von einer „hochgradigen Unbestimmtheit der rechtlichen Einstandspflicht"119. Schmidhäuser stellt fest, daß mit § 13 „für die Rechtssicherheit ernstlich nichts gewonnen sein kann, da die Vorschrift gerade die entscheidenden Grenzlinien nicht angeben kann"120; und für Baumann/Weber ist „fraglich", ob „der von Art. 103 (2) G G geforderten gesetzlichen Bestimmung der Strafbarkeit Genüge getan ist".121 Dieselben „Zweifel" kann Eser „nicht unterdrücken", und ihm bleiben zudem „Bedenken wegen mangelnder ,Tatbestandsbestimmtheit'"122. Ahnlich stellt Roxin eine „bedauerliche Einbuße an Gesetzesbestimmtheit" fest, die allerdings wegen der nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung „sehr geringen Anforderungen an die Gesetzesbestimmtheit" in praxi Bestand haben werde123. Da die Grenzen der Garantenstellungen „in jedem Fall streitig" sind, hält auch Otto die aus Art. 103 Abs. 2 GG erwachsende „Problematik" für „nicht beseitigt"124. Bockelmann lehrte, daß die Garantenstellungen als unge-

115 Jescheck (Fn.21) S.551; ders., LK, 10. Aufl. (Lfg. 1979), §13, Rdn. 14; ders., SchwZStrR 91 (1975), S.24. 116 Lackner (Fn.46) §13, Rdn. 21. Ähnl. Maiwald, JuS 1981, S.473: „rechtsstaatliche Problematik . . . etwas entschärft". 117 Welzel (Fn. 90) S. 209. 118 Haft, Strafr. Allg. Teil, 3. Aufl., 1987, S. 178. »» Jakobs (Fn. 55) S. 787, Anm. 10 (ähnl. S. 799, Rdn. 26); S. 786, Rdn. 4. 120 Schmidhäuser, Strafr. Allg. Teil, 2. Aufl., 1984, S.389, Rdn. 9. Ähnlich Stree (Fn. 107) Rdn. 1 („keinerlei scharf umrissene Konturen") u. Rudolphi (Fn. 112) Rdn. 2/3. 121 Baumann/Weber (Fn. 46) S. 241. >22 Eser, Strafr. II, Studienkurs, 3. Aufl., 1980, S.57 (26/Rdn.9); ähnl. Stree (Fn. 107) Rdn. 6, u. deutlicher noch Seelmann (Fn. 77) Rdn. 2. 123 Roxin, JuS 1973, S. 198 l.Sp.; s. auch jüngst ders. (Fn.23) S.92. 124 Otto (Fn. 22) S. 172.

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schriebene, erweiternde Tatbestandsmerkmale „gegen den Grundsatz der Gesetzlichkeit der Strafe" verstoßen 125 . 4. Doch die allerdings rigorose 126 Konsequenz der Unvereinbarkeit des unechten Unterlassungsdelikts mit dem Nullum-crimen-Satz ziehen die Genannten nicht 127 . Die h. L. bestätigt vielmehr entgegen wenigen Einzelstimmen 128 ausdrücklich die Verfassungsmäßigkeit der Judikatur und ruft die Rechtsprechung lediglich auf, die unechten Unterlassungsdelikte einzugrenzen, obwohl sie z . T . gleichzeitg vage und uferlose Kriterien zur Begründung von Garantenpflichten entwickelt. Für die Vereinbarkeit der Strafpraxis und der h. L. zum unechten Unterlassungsdelikt mit Art. 103 II G G finden sich folgende fünf Begründungen. Keine überzeugt. a) Die von § 13 StGB geforderte rechtliche Einstandspflicht beschränke die in den Straftatbeständen auch für Unterlassungen ausgesprochene Strafbarkeit, wirke also in bonam partem 129 . Diese Auffassung ist verfehlt. Sie ließe es zu, das Gebot der gesetzlichen Bestimmtheit, also gleich zwei Erfordernisse, zu umgehen durch die Unterscheidung danach, ob die Grenzen der Strafbarkeit positiv (strafbarkeitsbegründend) oder negativ (einschränkend) gefaßt werden. Auf die alte Frage, ob die in Verbotsform gekleideten Straftatbestände tatsächlich auch Handlungsgebote aussprechen und derart das Unterlassen ebenso erfassen, was Schünemann mit guten Gründen „eine extravagante Vorstellung" nennt 130 , ist nur so viel zu sagen: Der Gesetzgeber hat die Frage mit § 13 StGB verneint, und mit der Behauptung der Tatbestandseinschränkung durch die Garantenlehren ist im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot nichts gewonnen. Denn sie setzt die Annahme uferloser, also äußerst unbestimmter Straftatbestände voraus 131 . 125 Bockelmann, Strafr. Allg. Teil, 3. Aufl., 1979, S. 140, weniger weitgehend Bockelmann/Volk, ebda., 4. Aufl., 1987, S. 137. 126 Jakobs (Fn.55) S. 786, Rdn.5. 127 Das kritisiert nachhaltig Schürmann (Fn. 69) S. 130 ff; s. auch schon Marxen (Fn. 74) 5. 260. 128 Hellm. Mayer, Lb., 1967, S. 80 f; Arm. Kaufmann (Fn. 83) S. 280 ff; Busch, Festschr. f. H.v. Weber, 1963, S. 199f; Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974, S.280, 340f, 355; Schürmann (Fn.69) S. 187f; weniger eindeutig: Grünwald, ZStW 70 (1958) S. 412 ff; Stratenwerth, Strafr. Allg. Teil, 3. Aufl., 1981, S.268. 129 Μaurach/Gössel (Fn. 105) S. 191, Rdn. 40, 42; Gössel, in: Eser/Kaiser / E. Weigend, Hg., 4. Deutsch-polnisches Kolloquium über Strafrecht u. Kriminologie, 1991, S. 315; Sax (Fn. 12) S. 1003; Fuhrmann, GA 1962, S. 172. 130 Schünemann (Fn. 85) S. 69. Arm. Kaufmann zählte die Behauptung zu den „Beschwichtigungsversuchen" (JuS 1961, S. 175 f). 131 Baumann, Strafr. Allg. Teil, 8. Aufl., 1977, S.250; Welze!, Lb. (Fn.90) S.209; ders., Ndschr. Gr. Strafrechtskom., Bd. 2, 1958, S.275; Eh. Schmidt, ebda. S.267, Anh. S. 151 („tatbestandsmäßiges Vakuum"). S. im übrigen Schöne (Fn.69) S. 140; Seelmann (Fn.85) Rdn. 2; Welp (Fn. 88) S. 143 ff.

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b) Zur Begründung der Verfassungskonformität wird zweitens geltend gemacht, der Verfassungsgeber habe die Praxis gekannt132. Eb. Schmidt hat in einer auf den historischen Willen des Verfassungsgebers gestützten, restriktiven Interpretation des Art. 103 GG die einzige Möglichkeit gesehen, über die verfassungsrechtlichen Bedenken hinwegzukommen 133 . Sie scheitert jedoch bereits an dem Nachweis, daß der Verfassungsgeber die Praxis anerkannte, ja, daß er überhaupt daran gedacht habe134. Die Grundlage des Arguments reduziert sich auf die Aussage, der Verfassungsgeber müßte die Praxis gekannt haben. Aus dem Fehlen einer Stellungnahme folgt keine Billigung. Jedenfalls bietet es sich nicht weniger an, eine mit Art. 103 II GG ausgesprochene Mißbilligung jeglicher parlamentarisch nicht legitimierten Strafarkeit anzunehmen, und insbesondere, daß der Verfassungsgeber eine Praxis und Lehre ablehnte, die nach Aufhebung des Nulla-poena-Satzes die Strafbarkeit unter Berufung auf eine „Volkssittlichkeit" ausgeweitet hatte. Deshalb kann nicht davon ausgegangen werden, der Verfassungsgeber habe das strafrechtliche Gesetzlichkeitsgebot, zu dem das Bestimmtheitsgebot zwingend gehört, selbst einschränken wollen. Zudem ist auf die allgemeinen Bedenken zu verweisen, die einer Sinn und Wortlaut verkehrenden historischen Auslegung entgegenzuhalten sind. c) Häufig und seit langem wird versucht, die mangelnde gesetzliche Bestimmtheit des strafbaren unechten Unterlassens unter Berufung auf Gewohnheitsrecht genügen zu lassen135. Es bestanden und bestehen über die Inhalte und Grenzen der durch Gerichtsgebrauch als Rechtspflichten gekennzeichneten Handlungspflichten erhebliche Meinungsverschiedenheiten. Die Entwicklung eines entsprechenden Gewohnheitsrechts wird deshalb folgerichtig bestritten136. Jedenfalls erfaßte es nur einen „Kernbereich"137 der derzeit bejahten Garantenstellungen. 132

Baumann/Weber (Fn. 46) S. 241, halten dies für ein Argument der h. L. Eb. Schmidt, Niedersehr. 2 (Fn. 121) S.281; entschiedener noch Schünemann (Fn. 85) S.260. S. jetzt auch Roxin (Fn.23) S. 92 (§5, Rdn. 76): „immanente Einschränkung des Gesetzlichkeitsprinzips". 134 Bockelmann, Niedersehr. Gr. Strafrechtskom., Bd. 2, 1958, S. 277; Welp (Fn. 88) S. 140; Schöne (Fn. 128) S.278. 135 Traeger (Fn. 95) S . 1 0 3 f ; Rob. ν. Hippel (Fn.25) S. 156; Blei (Fn. 106) S.322; Bockelmann (Fn. 125) S. 140; Bockelmann/Volk (Fn.125) S. 137; Sax (Fn. 12) S. 1003; Tröndle, LK, 10. Aufl., §1, Rdn. 27-, ]escheck (Fn.21) S.550; Rud. Schmitt, Festschr. f. Jescheck, I, 1985, S. 225; H. C.Maier, Die Garantiefunktion des Gesetzes im Strafprozeß, 1991, S. 16; BGHSt.2, 153. 136 Henkel, MKrim. 1961, S.185; Schöne (Fn. 128) S.336. Nach Stree, Festschr. f. H.Mayer, 1966, S. 155, ist es „fragwürdig". 137 Vgl. Otto (Fn. 22) S. 172; Langer, Festschr. f. Lange, 1976, S.243, der IngerenzHaftung aus dem „Kernbereich" ausnimmt. 133

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Auf ein solches, in seinem Umfang immer noch unbestimmtes Gewohnheitsrecht könnte allerdings § 13 StGB verweisen. Diese Verweisung umginge jedoch das Gesetzlichkeitsprinzip, da es gewohnheitsrechtlich, eben sine lege scripta begründetes Strafrecht zuließe, wäre also verfassungswidrig 138 . Das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts gilt nicht nur im Bereich des Besonderen Teils, sondern auch für den Allgemeinen Teil139. Entgegenstehende, mehr als gewohnheitsrechtliche Auslegungen und mithin auch „gewohnheitsrechtliche" Garantenlehren zulassende Auffassungen 140 entbehren der dogmatischen Begründung und entwerten unter Berufung auf durchaus beachtliche Praxisbedürfnisse und den eindrucksvollen, aber deshalb auch besonders weitreichenden Stand der allgemeinen Verbrechenslehre Art. 103 Abs. 2 GG erheblich, verschaffen insbesondere der rechtsprechenden Gewalt legislative Befugnisse und sind in sich nicht folgerichtig 141 . d) Die zu Recht viel kritisierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Strafbarkeit „groben Unfugs" angesichts einer Konkretisierung des Begriffs durch Rechtsprechung und Lehre als hinreichend bestimmt bezeichnete (BVerfGE 26, 41 ff), also statt der Bestimmung des Strafbaren durch den Gesetzgeber die durch die Dritte Gewalt ausreichen ließ, verführt zu der Argumentation, auch § 13 StGB sei auf diese Weise hinreichend bestimmt oder habe doch einen Bestimmtheitsgrad erreicht, mit dem man sich vorläufig begnügen könne142. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zu einer von Judikatur und Literatur erarbeiteten Bestimmtheit des Begriffs „grober Unfug" läßt sich jedoch, folgte man ihr allen grundsätzlichen und überzeugenden Einwänden zum Trotz, nicht auf § 13 StGB anwenden. Denn es fehlt ein vergleichbarer Begriff und insofern eine lex scripta, weil die etwa konkretisierten Garantenstellungen gar nicht benannt sind. Zum anderen 138 So ζ. B. Gallas, Studien zum Unterlassungsdelikt (1932-1963), 1989, S. 78; ausführl. Schünemann (Fn. 85) S. 73 f und jüngst Roxin (Fn. 23) S. 82 f. »' Düng (Fn. 12) Rdn. 112; Jescheck (Fn.21) S. 100; Baumann, Festschr. f. Jescheck, 1985, S. 112; Jakobs (Fn. 55) S. 67, Rdn. 9, S. 90, Rdn. 46; Rogall (Fn. 19) Rdn. 22; Bockelmann/Volk (Fn. 125) S. 17; Schünemann, Nulla poena (Fn. 50) S. 23 f; Hassemer, AK-StGB (Fn. 15) § 1 , Rdn. 66, 72; Hettinger (Fn. 16) S. 445 ff; Tiedemann (Fn.32) S.36; s. auch Paeffgen, ZStW 97 (1985) S. 524; Dencker, JuS 1979, S. 783; Stree (Fn. 136). 140 So z.B. bereits Traeger (Fn.95) S. 109f, u. heute u.a. Tröndle, LK (Fn. 135); Wassermann, A K - G G (Fn.45) Rdn. 48; Haft (Fn.85) S.48; H.C. Maier (Fn.135) S. 16, 136f; Rüping (Fn.32) Rdn.53; Rud. Schmitt (Fn.135) S.224ff m.w.Nachw. und dem Appell, das Gewohnheitsrecht aus der Verbrechenslehre zurückzudrängen (S. 226), der allerdings ohne verfassungsgerichtliches Verdikt kaum Folgen haben wird, und wenn, nur erheblich verzögert (Ubergangsfrist). 141 S. nur Tröndle, LK (Fn. 135) Rdn. 2, 20 und andererseits Rdn. 26, 27. 142 Jescheck (Fn.21) S.551; ders., LK, 10.Aufl., §13, Rdn. 14; den., Festschr. f. Tröndle, 1989, S.815; Lackner (Fn.46) §13, Rdn. 21; Stree (Fn. 107) §13, Rdn. 5.

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wäre deren Bestimmtheit allenfalls in einem engen und doch ungewissen „Kernbereich" nicht so umstrittener Fälle festzustellen. Das strafbare unechte Unterlassen ist auch durch die Rechtsprechung nicht derart festgelegt, daß „sich die Voraussetzungen und der Umfang" der Strafbarkeit „klar und für den Bürger erkennbar ergeben" (BVerfGE 65, 44). Vielmehr muß zur § 13 StGB betreffenden Rechtsprechung und Lehre festgestellt werden, was gegen §9 Abs. 1 S.2 VZG a. F. sprach: daß man „die Auswirkungen dieser Bestimmung nicht mehr zu übersehen vermag" (BVerfGE 65, 65). Das zeigen „die erheblichen Kontroversen, selbst zu den Grundlagen der Einstandspflicht" 143 und die Resignation des Gesetzgebers, der die Bestimmung des unechten Unterlassungsdelikts wegen des bisherigen Standes von Literatur und Rechtsprechung bewußt diesen für die Zukunft überließ 144 . e) Schließlich begründet man die Verfassungskonformität der praktizierten Strafbarkeit unechten Unterlassens damit, es sei dem Gesetzgeber angesichts des gegenwärtigen Standes der Dogmatik nicht möglich, eine dem Mangel abhelfende Normierung zu treffen. Man müsse sich angesichts der sonst auftretenden Strafbarkeitslücken wenigstens vorläufig145 mit einem weniger begnügen146. Diese Lehre gesteht wie der Gesetzgeber offen und ausdrücklich ein, daß das so hoch geschätzte Nullum-crimen-Gebot für das unechte Unterlassungsdelikt letztlich bedeutungslos ist. Toleriert und vorgezogen wird eine einst erklärtermaßen gegenüber dem Gesetzlichkeitsprinzip siegreiche Garantenlehre, die nach wie vor doch nur als Kern und „als alleinige Grundlage das Rechtsgefühl" 147 aufzuweisen hat. Aus ihm ergibt sich das Bedürfnis, entgegen Art. 103 G G zu strafen; und aus Art. 103 G G folgt die Notwendigkeit, dies zu kaschieren. Verwiesen wird auf den Satz „ultra posse nemo obligatur" 148 . Doch der Versuch, Art. 103 II G G damit aus den Angeln zu heben, ist aus zwei Gründen zurückzuweisen. Zum einen ließe sich die gewiß richtige Erkenntnis, daß Unmögliches nicht verlangt werden kann, vom Strafgesetzgeber nur in Fällen verwenden, in denen die Verfassung ihn verpflichtete, eine sog. Strafbarkeitslücke zu schließen. Eine solche Ver143 Jakobs (Fn. 55) S. 787, Rdn. 5, s. statt vieler ζ. B. Rudolphi, NStZ 1984, S. 150: „nach wie vor bestehende Unsicherheit in der Beantwortung der Grundfrage, welche Gesichtspunkte überhaupt zur Begründung einer Garantenstellung in Betracht kommen". 144 BT-Drucks. V/4095, S.8; Ε 1962, BT-Drucks. IV/650, Begr. S. 124 f. 145 Stree (Fn. 107) §13, Rdn. 6; Jescheck (Fn. 142). 146 Rudolphi, M D R 1967, S.2; Welzel, Lb. (Fn.90) S.209; Jakobs (Fn.55) S.787, Rdn. 5; ähnl. Maiwald (Fn. 116). 147 Busch, Festschr. f. v.Weber, 1963, S.203. 148 Rudolphi (Fn. 146). S. auch Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantieprinzip, 1972, S. 253 ff.

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pflichtung zur Pönalisierung der gesetzlich unbestimmten unechten Unterlassungsdelikte ist ebensowenig zu erkennen wie die Nachrangigkeit des Art. 103 Abs. 2 G G im Verhältnis zu einer solchen Pflicht. Im übrigen kam das deutsche Strafrecht zunächst ohne die Garantenstellungen aus Ingerenz und Lebens- oder Gefahrgemeinschaften aus, und manche ausländischen Rechte fassen den Bereich des strafbaren Unterlassens auch heute erheblich enger149 als bei uns praktiziert, befürwortet oder toleriert. Zum anderen ist nicht erwiesen, daß keine weitergehende gesetzliche Bestimmtheit des Unterlassungsdelikts zu erreichen sei. Zahlreiche inund ausländische Entwürfe einer über den geltenden § 13 StGB hinausgehenden Regelung150, z . B . §12 Alternativentwurf (1966) und § 8 Gegenentwurf Baumann (1963), begegnen der bisherigen Unbestimmtheit schon damit, daß sie die Entstehungsgründe der Handlungspflichten benennen. Es bleibt trotz aller Einwände151 auch der mehrfach vorgeschlagenen Möglichkeit nachzugehen, die Regelung des unechten Unterlassungsdelikts nicht im Allgemeinen Teil, sondern differenziert und bestimmt in Straftatbeständen vorzunehmen152, notfalls wie manche ausländischen Rechte oder Entwürfe153 auch unter Inkaufnahme von „Strafbarkeitslücken" statt unter Hinnahme eines Verstoßes gegen das fundamentale Strafrechtsprinzip. Die verschiedenen Vorschläge sind wegen einzelner Kritik, weil sie die Strafbarkeit einengen und vor allem deshalb nicht Gesetz geworden, weil weder in Grundfragen noch in Einzelheiten Klarheit oder Einigkeit zu erzielen war und man die weitere Entwicklung offenhalten wollte 154 . Dies aber läßt Art. 103 Abs. 2 G G nicht zu155.

III. Der bisherige Befund scheint zu der Feststellung zu führen, die Armin Kaufmann schon vor über 30 Jahren getroffen hat: „Die rechtsstaatliche S. nur Jescheck, Festschr. f. Tröndle, 1989, S. 795 ff; den., Lb. (Fn.21) S.553. Näher Schöne (Fn. 128) S. 318 ff; Jescheck, Festschr. f. Tröndle (vor. Fn.); E. Weisend/Zoll, ZStW 103. Bd., 1991, S.255; s. auch Buchala, 4. Deutsch-polnisches Kolloquium (Fn. 129) S. 12; Zoll, ebda. S. 336. 151 Stree (Fn. 107) Rdn. 6; Jescheck, Lb. (Fn. 21) S. 551; Rudolphi (Fn. 86) S. 59. 152 Schöne (Fn. 128) S. 243 ff; Grünwald, ZStW 70 (1958), S. 425 ff; Busch (Fn. 147) S. 203 ff; Roxin, Kriminalpolitik und Strafrechtssystem, 1970, 2. Aufl., 1973, jew. S. 19; s. auch Arm. Kaufmann, JuS 1961, S. 175 r. Sp.; Lenckner, JuS 1968, S. 305 1. Sp. 153 S. Jescheck, Festschr. f. Tröndle (Fn. 149). 154 S. nur BT-Drucks. V/4095, S. 8. 155 Düng (Fn. 12) Rdn. 112 a . E . ; Stratenwerth, Strafrecht Allg. Teil, 3. Aufl., 1981, S.268, Rdn. 988; Schürmann (Fn. 69) S. 188. Schon Armin Kaufmann beanstandete, daß „das praktische Bedürfnis nach Strafbarkeit über die rechtsstaatlichen Bedenken" gestellt wird (JuS 1961, S. 175 r.Sp.). 149 150

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Problematik der mangelnden Tatbestandsbestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts ist durch keine wie auch immer geartete dogmatische Konstruktion zu bewältigen"156. Ist also der Mindermeinung zuzustimmen, die das Nichtabwenden eines strafrechtlich mißbilligten Erfolges insgesamt mangels gesetzlicher Bestimmtheit für straflos hält? § 13 StGB führt, weil danach nur noch wegen Unterlassens strafbar ist, wer „rechtlich dafür einzustehen hat, daß der Erfolg nicht eintritt", bei verfassungskonformer Anwendung zu einer differenzierenden Lösung. Sie könnte verhindern, was Hellmuth Mayer so beschrieb: „Die Praxis bejaht die erforderliche Rechtspflicht, wo sie glaubt, einer solchen zu bedürfen, und verneint, wo sie freisprechen will" 157 . 1. Soweit § 13 StGB auf eine gesetzlich bestimmte Rechtspflicht zum Handeln verweist, steht das Nullum-crimen-Gebot der Strafbarkeit nicht entgegen. Allerdings sind schon im Hinblick auf den Wortlaut des §13 StGB, aber auch wegen dessen Zwecks, nicht die Verletzung einer jeden Rechtspflicht unter Strafdrohung zu stellen und die Strafbarkeit unechten Unterlassens nicht uferlos zu gestalten, nur die gesetzlichen Regelungen geeignet, eine rechtliche und auch strafrechtlich beachtliche Erfolgsabwendungspflicht zu begründen, die einen dem Straftatbestand des Handlungsdelikts entsprechenden Schutzzweck aufweisen und, wie man im Anschluß an ein von Josef Kohler erstmals verwandtes Bild vielfach formuliert, den Täter zum Schutz des verletzten Rechtsgutes „auf Posten stellen" 158 . Dies zu klären erleichtert vielfach die neuere „Funktionen-" oder die sog. materielle Rechtspflichtenlehre und ist selbstverständlich bei den Eltern nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, §§1626, 1631 B G B bezüglich des Kindeswohls der Fall, auch beim Hausbesitzer bezüglich der Passanten nach den gemeindlichen Satzungen, die eine Streupflicht bei Straßenglätte statuieren159. Hingegen ist der Ehepartner durch § 1353 B G B nicht auf Posten gestellt, Straftaten des anderen Ehepartners zu verhindern; § 1353 B G B , im übrigen insoweit keine „lex certa", macht den Ehepartner weder zum Garanten dafür, daß Dritte von Verletzungen durch den Ehepartner verschont bleiben, noch zu einem solchen zum Schutz des Ehepartners vor dessen Strafbarkeit160. Armin Kaufmann, JuS 1961, S. 175; ähnl den., Dogmatik (Fn.83) S.282. H. Mayer, Das Strafrecht etc. (Fn. 83) S. 178. 158 Kohler, Studien aus dem Strafrecht, I, 1890, S. 47; s. weiter ζ. B. Stree (Fn. 107) § 13, Rdn. 10; Maiwald, JuS 1981, S.475; Rudolphi, NStZ 1984, S. 151; Sturm, SondAProt. V/S. 1864. 159 So u.a. O L G Celle, NJW 1961, S.1939; Dreher/Tröndle (Fn. 113) §13, Rdn.6; wegen weiterer Beispiele s. u.a. Weber, Festschr. f. Oehler, S.90f. >«> So z.B. Stree (Fn.107) §13, Rdn.53; Lackner (Fn.46) §13, Rdn. 14; Wessels (Fn. 109) S. 232; Seelmann (Fn. 85) Rdn. 128; Ranft, JZ 1987, S. 910 f; anders die Rspr., vgl. RGSt.74, 285; BGH, NJW 1953, S.591; offengelassen in BGHSt. 19, 297. 156 157

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Was für die unmittelbare gesetzliche Handlungspflicht festgestellt wurde, gilt auch für die auf Gesetz beruhende (gesetzmäßige Weisung, rechtskräftiges Gerichtsurteil 161 ) und für den Fall, daß die Handlungspflicht vertraglich bestimmt und damit ebenfalls rechtlich (i. S. d. §13 StGB) begründet ist162, zumal die Bezugnahme auf eine gesetzliche Pflicht die vertraglichen einbezieht, da Verträge stets von einem Gesetz getragen werden und kraft Gesetzes verpflichten 1 ' 3 ; sie erlangen gem. §13 StGB strafrechtliche Bedeutung, wenn der rechtsgeschäftlich Verpflichtete zur Verhütung eines straftatbestandlichen Erfolges demgemäß „auf Posten gestellt" wurde, so daß Kohlrauschs Satz „Nichterfüllung eines Versprechens kann nicht zum Mörder machen!" zurückzuweisen ist. Im Gegensatz zu einer verbreiteten Meinung 164 vermag aber eine nur faktische Übernahme des Schutzes von Rechtsgütern auch im Zusammenhang mit weiteren Umständen (ζ. B. Gefahrbegründung/-erhöhung durch das Opfer im Vertrauen auf die Präsenz des Täters) keine rechtliche Erfolgsabwendungspflicht zu begründen 165 , sondern es ist auf eine wirksame Vereinbarung abzustellen, da nur eine solche neben dem unmittelbar anzuwendenden Gesetz eine rechtliche Verpflichtung schafft. Diese entfällt wiederum nicht dadurch, daß das Opfer von der verbindlich begründeten Erfolgsabwendungspflicht (ζ. B. der Badegast von einem Bademeister) nichts wußte 166 . Auf die faktische Übernahme als zusätzliches und regelmäßig zweckmäßiges 167 Kriterium braucht nicht verzichtet zu werden, soweit es als strafbarkeitseinschränkendes Gewohnheitsrecht angesehen werden kann. Da Verträge auch durch schlüssiges Verhalten und auch zugunsten Dritter eingegangen werden können, werden mit Hilfe der Garantenstellung aus Vertrag Unterlas-

161

S. z.B. Rob. ν. Hippel (Fn.25) S. 162. Anders z.B. Kohlrausch, StGB, 29.Aufl., 1930, Vorb. I 3 b , S. 14; Drost, GS 109 (1937), S. llOf; Kohlrausch/Lange, StGB, 38. Aufl., 1944, Vorb. VI 4; Stree (Fn. 136) S. 150 ff. 163 RGSt.39, 397; Eh.Schmidt, Niedersehr. (Fn.131) S.281; Welp (Fn. 88) S.27, Anm.7; Arzt, JA 1980, S.648 r.Sp., 652 r.Sp.; s. auch Baumann/Weher (Fn.46) S.247f. 164 So z.B. (im einzelnen z . T . divergierend) RGSt. 17, 261; Eben (Fn.46) S. 157; Jescheck Lb. (Fn.21) S.563f; Lackner (Fn.46) §13, Rdn.9; Rudolphi, SK-StGB (Fn. 112) Rdn.58; Arzt, JA 1980, S.713 l.Sp.; Stree (Fn. 136) S. 154 ff. 165 Stratenwerth (Fn. 155) S.271, Rdn. 1002; Nowakowski, Wiener Komm, zum StGB, hrsg. v. Foregger/Nowakowski, 13.Lfg., 1982, §2, Rdn. 10, 21. 166 Blei (Fn. 106) S.326; Stratenwerth (Fn. 155) S.271, Rdn. 1002; Herzberg, JZ 1986, S.691 ;Jakobs (Fn.55) S.817, Rdn. 49; anders Rudolphi (Fn. 112) Rdn. 59; Stree, Festschr. (Fn. 136) S. 155 ff. 167 Anders beim Bereitschaftsarzt und dem telefonisch verständigten, der Kommen zusagte, vgl. ζ. B. BGHSt. 7, 212; Maiwald, JuS 1981, S. 481; ders., ZStW 91 (1979), S. 975; Otto/Brammsen, Jura 1985, S.595. 162

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sungen erfaßt, und zwar ohne gekünstelte Konstruktionen, die heute vielfach nur mit der Behauptung für strafbar gehalten werden, Gefahrengemeinschaften oder enge Lebensgemeinschaften begründeten rechtliche Handlungspflichten168. Dies gilt beispielsweise für eine von Bergsteigern gebildete Gruppe (nicht aber bei zufälligen Gefahrgemeinschaften169, für die es mangels rechtlicher Bindung bei § 323 c StGB verbleibt 170 ) und das Unterlassen der Versorgung einer Kranken durch den, der sie in den Haushalt aufgenommen hat171. Allerdings kommen in Ubereinstimmung mit der h. M. nur solche Vertragspflichten in Betracht, die auf den Schutz des tatbestandlichen Rechtsgutes ausgerichtet sind, also Verträge, derentwegen der Unterlassungstäter i. S. d. §13 StGB „rechtlich dafür einzustehen" hatte, daß der strafrechtlich mißbilligte Erfolg nicht eintrat. Die „allgemeine Treuepflicht" des Arbeitnehmers macht diesen noch nicht zum Garanten für alle Rechtsgüter des Arbeitgebers 172 . 2. Weder bestimmt noch gesetzlich oder rechtsgeschäftlich begründet sind Garantenstellungen aus Ingerenz, aus engen Lebens- oder Gefahrgemeinschaften, aus eigenem Verantwortungs- oder Herrschaftsbereich. Strafbarkeit, die lediglich mit Hilfe dieser faktischen und nicht rechtlichen „Entstehungsgründe" bejaht wird, ist mit dem strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzip unvereinbar. Denn §13 StGB erfaßt sie nicht. Zwar ist die Gesetzesgläubigkeit der Aufklärung längst überwunden. Wir wissen, daß die von Montesquieu, Voltaire und auch von Feuerbach gewollte Gesetzesbindung weder möglich noch wünschenswert ist, vielmehr immer Interpretationen und Wertentscheidungen gefordert werden. Doch die Strafbarkeit muß unbestritten aus dem Gesetz zu erkennen sein, sich wenigstens ermitteln lassen, so daß sie für den Rechtsunterworfenen berechenbar und anhand des Gesetzes nachprüfbar173 bleibt, sich auf den erklärten Willen des Gesetzgebers und nicht statt dessen auf ein richterlich erkanntes, emotionales Strafbedürfnis gründet. Dazu ist erforderlich, daß das Strafgesetz wenigstens „eine feste und zuverlässige

168 So auch BaumannfWeher (Fn.46) S.251 f; vgl. weiter z.B. Lackner (Fn.46) §13, Rdn. 10. 169 Stree (Fn. 107) §13, Rdn. 24; Wessels (Fn. 109) S.229; Seelmann (Fn.85) §13, Rdn. 104; anders Arzt, J A 1980, S. 713 r. Sp.; unentschieden Baumann/Weber (Fn. 46) S. 251 f. 170 Vgl. dazu Spendet, LK, 10. Aufl., § 3 2 3 c (1988), Rdn. 36ff, 61, 77. 171 RGSt. 69, 321; Böhm, JuS 1961, S.180 r.Sp. Dritte, auch die im Haushalt lebende minderjährige Tochter, sind gegenüber der Erkankten nicht ohne weiteres i. S. d. § 13 StGB verpflichtet (zutr. Böhm aaO entgegen RGSt. 69, 323 f; Busch, Festschr. f. v.Weber, 1963, S. 198), meist aber nach § 3 2 3 c StGB, s. näher Spendel (Fn. 170) Rdn. 47. 172 Arm. Kaufmann (Fn.83) S.286; Böhm, JuS 1961, S.181 r.Sp.; Maiwald, JuS 1981, S. 481 1. Sp.; Rudolphi (Fn. 22) § 13, Rdn. 57; anders BGHSt. 5, S. 190. 173 S. z.B.Jescheck (Fn.21) S. 122.

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Grundlage für die Rechtsprechung" abgibt 174 . Die nicht aus Gesetz oder Vertrag, vielmehr lediglich aus Ingerenz oder faktischen Gemeinschaften abgeleiteten Garantenstellungen und die entsprechenden unechten Unterlassungsdelikte ergeben sich nicht aus dem Gesetz und sind insgesamt unbestimmt. Roxin nennt es mit Recht „ein offenes Geheimnis, daß die Rechtsprechung sich insoweit" (nämlich soweit außerstrafrechtlich keine Pflicht festgelegt ist) „in freier Rechtsfindung über das Fehlen einer tatbestandlichen Grundlage hinweggesetzt hat" 175 . Es handelt sich „eben nicht um Auslegung, sondern um eine Art von Gesetzesschöpfung" 176 . Deren Grundlage ist so unklar wie ihre Aussage. Allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz sind die aus Ingerenz oder Lebensgemeinschaften abgeleiteten Pflichten keine rechtlichen, sondern sittliche, sozialethisch begründete, vielfach verbreiteten Gefühlen entgegenkommende, aber auch entsprechend unbestimmte. Offen und konsequent hat das Reichsgericht sittliche Pflichten ausdrücklich zu rechtlichen erklärt, als es 1936 unter ebenfalls nicht kaschierter Zustimmung eines Teils der zeitgenössischen Literatur entschied: Die „rechtliche Verpflichtung ergibt sich . . . schon aus der sittlichen Pflicht der Frau, dem Manne und seinem Vermögen jede Unterstützung und Betreuung zuteil werden zu lassen" 177 , womit es ebenso verfehlt wie überdeutlich „den Gegensatz von rechtlicher und sittlicher Verpflichtung aufhob" 178 . Geilen hat bereits 1961 darauf aufmerksam gemacht, daß so Ergebnisse erzielt wurden, „die mit dem heutigen Entwicklungsstand der Rechtsprechung nahezu deckungsgleich sind"179, nun aber verdeckt mit einem durch Rechtsgefühl1*0 und Verfassung gleichermaßen beförderten und bis heute „üblichen Lippenbekenntnis" 181 zur Rech ispflicht. Die unbestreitbaren kriminalpolitischen Mängel der formellen Rechtspflichtlehre erbrachten eine „gesetzlich nicht mehr kontrollierte Wucherung der Garantenpflichten" 182 . Die eklatante Mißachtung des fragmentarischen Charakters des Strafrechts, der Gewaltenteilung und des Bestimmtheitsgebots sind

174 S. nur Dürig (Fn. 12) Rdn. 107; Tröndle (Fn.46) §1, Rdn. 12; Eser (Fn.46) §1, Rdn. 18 m.weit. Nachw. Zur Rspr. des BVerfG s. ob. Fn. 56. 175 Roxin, Kriminalpolitik u. Strafrechtssystem, 1970/1973, jew. S. 18. 176 Roxin (vor. Fn) S. 20, Anm. 44. 177 RGSt. 70, 207. 178 Schaffstein (Fn.99) S.71. 179 Geilen, FamRZ 1961, S.151. S. z.B. auch Brammsen (Fn.88), der RGSt.69, 321 ff im Ergebnis ausdrücklich zustimmt (S. 180, Anm. 180 mit Anm. 165). 180 Grünwald, ZStW 70, S.416; H.Mayer, Lb., 1967, S.78; Busch (Fn. 147) S.203. BGHSt. 25, 222, macht eine Garantenstellung aus Ingerenz von Billigkeitserwägungen abhängig; dazu Arzt, JA 1980, S. 716. 181 Geilen, FamRZ 1961, S. 152 l.Sp. 182 Geilen (vor. Fn.) S. 159 r.Sp.

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gestützt nicht nur von sozialethischen Vorstellungen, sondern auch von Untersuchungen, die „Rollenpositionen" des einzelnen soziologisch beschreiben und Erwartungen der Gesellschaft an Inhaber von „Rollen" oder Positionen zur Grundlage von Garantenstellungen erheben183. Solange die gesellschaftlichen Alltagserwartungen, mögen sie sich auch auf anerkannte und anerkennenswerte sittliche Pflichten stützen, aber vom Gesetzgeber nicht zu Rechtsansprüche begründenden Pflichten, eben Rechtspflichten gesteigert sind, können die gesetzlichen und rechtsgeschäftlichen Erfolgsabwendungspflichten durch soziologische Feststellungen nur konkretisiert werden. Doch wegen der Verletzung von rein tatsächlichen Erwartungen hat der Unterlassende nicht i. S. d. § 13 StGB dafür einzustehen, daß die strafrechtlich mißbilligte Schädigung unterbleibt. Die strafrechtliche Haftung aus Ingerenz ist als „freie Rechtssetzung" 184 oder „nackte richterliche Dezision" 185 zu Lasten des Unterlassenden, wie verschiedentlich in der Literatur ausgesprochen186, mit dem Nullum-crimen-Satz unvereinbar. Dasselbe gilt für Unterlassungen in engen Lebensgemeinschaften u. ä., da auch hier die behauptete Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung, wie ζ. B. Alexander Böhm187 festgestellt hat, nicht existiert und schon wegen der „Konturenlosigkeit des Begriffs der Lebensgemeinschaft"188 nicht bestehen darf189. 3. Die bisherigen Überlegungen führen zu folgendem Ergebnis: Das unechte Unterlassungsdelikt ist mit Art. 103 Abs. 2 G G insoweit vereinbar, als die von der allgemeinen Regelung in § 13 StGB geforderte Erfolgsabwendungspflicht gesetzlich oder vertraglich begründet ist. Handlungspflichten aus nur faktischen Gegebenheiten, ζ. B. aus vorangegangenem Tun oder Gemeinschaften als rechtlich begründete abzuleiten und daraus Strafbarkeit zu folgern, ist mit dem Grundsatz „Kein Verbrechen, keine Strafe ohne Gesetz!" unvereinbar. Eine etwaige 183 So stellt insbesondere Brammsen (Fn. 88) auf aus dem sozialen Alltagsleben zu ersehende „Muß-Erwartungen" ab, deren Mißachtung nach allgemein anerkannten Wertvorstellungen die Erhaltung der Funktionstüchtigkeit des gesamtgesellschaftlichen Ordnungssystems so schädigt wie aktive Rechtsgesetzverletzung (S. 129 f); s. auch Otto (Fn. 22), der meint, unter Verwertung der bisherigen Garantenlehren könne derart Art. 103 Abs. 2 GG Genüge getan werden (S. 180). 184 Schünemann, Grund u. Grenzen (Fn. 85) S. 318; ähnl. ders., ZStW 96 (1984), S. 304. 185 Schünemann, Nulla poena (Fn. 50) S. 5. 186 Lampe, ZStW 72 (1960), S. 106; Welze!, Lb. (Fn. 90) S. 216; Roxin, ZStW 83 (1971), S.403; Langer, Das Sonderverbrechen, 1972, S. 504f; Schünemann, GA 1974, S.236 (zurückhaltender ders., ZStW 96, S.309). 187 Böhm, JuS 1961, S. 180 r.Sp. 188 Geilen, FamRZ 1961, S. 153 l.Sp. 189 Ablehnend z.B. auch Kohlrausch/Lange, StGB, 43.Aufl., 1961, Vorb. II 3e, S.9; Geilen (vor. Fn.); Doering, MDR 1972, S. 665; Blei, Lb. (Fn. 106) S.320; Baumann/Weber (Fn. 46) S.251; Nowakowski (Fn. 165) Rdn.28.

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gewohnheitsrechtliche Anerkennung von Erfolgsabwendungspflichten genügt nicht, da sie das Verbot strafbegründenden Gewohnheitsrechts ebenso umginge wie das Bestimmtheitsgebot. Der Versuch des Gesetzgebers, ohne Normierung solcher Handlungsgebote den hier beschriebenen Bereich des unechten Unterlassungsdelikts durch Rechtsprechung und Lehre weiter fassen zu lassen, widerspricht dem Gebot gesetzlicher Bestimmtheit der Straftat und ist, um ein Wort Dürigs zu zitieren, „ein unzulässiges Ausweichen vor der Stringenz des Art. 103 Abs. 2 GG", mögen auch „ein Offenlassen von Streitfragen und ihr Uberlassen an Lehre und Rechtsprechung" in anderen Rechts gebieten „oft sehr weise" sein190. Entgegen der verfassungswidrigen 191 Intention des Strafgesetzgebers und entgegen einer verbreiteten Auffassung ist wegen des Wortlauts des §13 StGB und nach einer an Art. 103 Abs. 2 GG orientierten Auslegung der Vorschrift von einer die bisherige Praxis einschränkenden gesetzlichen Bestimmtheit des unechten Unterlassungsdelikts auszugehen. Wegen des strafrechtlichen Gesetzlichkeitsprinzips besteht keine andere Wahl, als in § 13 StGB eine Verweisung auf sog. formelle Rechtspflichten zu sehen. Es ist also unter Berücksichtigung der inzwischen erreichten Konkretisierungen der strafrechtlich relevanten Erfolgsabwendungspflichten an den Stand der Dogmatik des unechten Unterlassungsdelikts zur Zeit Feuerbachs anzuknüpfen. Hinzuzufügen ist allerdings, und zwar ebenfalls wegen § 13 StGB, daß die gesetzliche oder auf Gesetz beruhende (ζ. B. vertragliche) Handlungspflicht zwar erste und notwendige, nicht aber schon hinreichende Voraussetzung der Strafbarkeit unechten Unterlassens ist. Strafrechtlich bedeutsam ist nicht jede Rechtspflicht, sondern nur die hinreichend klare, bestimmte und eindeutige, deren Schutzzweck sich mit dem des Straftatbestandes deckt und die schließlich den Unterlassenden zur Erhaltung eben dieses Rechtsgutes vorsorglich „auf Posten" stellt. Mehr als 150 Jahre nach Feuerbachs Tod zwingen § 13 StGB und der Imperativ des Art. 103 Abs. 2 GG erst recht zur Besinnung auf die alte Lehre, wenn die Voraussetzungen der Strafe nicht weniger bestimmt sein sollen als die mit einer Volkszählung

190 Düng (Fn. 12) Rdn.112. Anders Herzberg (Fn.48) S.254, der die Abstinenz des Strafgesetzgebers für verfassungskonform hält, weil dieser dafür „wohl immer gute Gründe haben" werde. 1,1 Geerds, Festschr. f. Engisch, 1969, S.411. Wollte man trotzdem der Absicht des Gesetzgebers, mit § 13 StGB die Strafpraxis nicht zu ändern, Bedeutung beimessen, bliebe zu bemerken, daß diese Absicht mit den gleichzeitigen rechtsstaatlichen Erwägungen, die zu §13 StGB geführt haben, unvereinbar ist. Im übrigen hat BGHSt.36, 228, unter Betonung dessen, daß „keine Änderung der bisherigen Handhabung der unechten Unterlassungsdelikte" bezweckt wurde, den Strafrahmen des § 266 StGB durch Anwendung des §13 Abs. 2 StGB geändert.

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einhergehenden Rechtseingriffe. Der (partielle) Rückschritt ist deshalb ein Fortschritt. Entgegen Schünemann ist dieser Ansatz ebenso wie das verbreitete und auch internationale Bemühen um eine Positivierung der Erfolgsabwendungspflichten192 nicht als „offensichtlich indiskutabler Atavismus" zu verstehen193. Obwohl die „formellen" Rechtspflichten zahlreiche anderweitig „begründete" Fälle unechten Unterlassens auch ohne gequälte Konstruktionen strafbar sein lassen, bei zunehmender Regelungsdichte um so mehr, bleiben gewiß nach Gerechtigkeitsempfinden „Strafbarkeitslücken". Sie sind es, die zur Abkehr von der ursprünglichen Lehre geführt haben, zu „freier Rechtsfindung", „Wildwuchs verschiedenartiger Garantenstellungen", teilweise „unter weidlicher Benutzung nationalsozialistischen Gedankenguts"194, letztlich nur zu „einem dem Rechtsgefühl verträglichen Topoikatalog" 195 . Auch deshalb sollten sich die ausschließlich kriminalpolitischen und zu einem guten Teil berechtigten Argumente wie das, die „formellen" Rechtspflichten seien sowohl zu eng als auch zu weit196, ebenso wie jede andere Praktikabilitätserwägung oder jegliche Berufung auf eine vom Gesetzgeber unberücksichtigte Strafwürdigkeit nicht länger gegen Art. 103 Abs. 2 G G behaupten. Kriminalpolitische Erwägungen sind de lege ferenda zu berücksichtigen und werden unterstützt, je stringenter das Gesetzlichkeitsprinzip angewendet wird. De lege lata begründen Strafwürdigkeitsempfindungen nichts197. Bis der Gesetzgeber eine andere Regelung trifft, muß anders als bisher198 ein praktisches Strafbedürfnis in einigen nach § 13 StGB nicht erfaßten Fällen unechten Unterlassens dem unverzichtbaren Rechtsstaatsprinzip „Nullum crimen sine lege" weichen, es sei denn eine emotionale Strafrechtserkenntnis soll sich gegen die von Günter Spendel stets geförderte, gesetzestreue, rationale und auf ein folgerichtiges Zu-Ende-Denken ausgerichtete behaupten.

S. ob. Fn. 150 u. den Beitrag von Jescheck in dieser Festschrift. Schünemann, ZStW 96 (1984), S.298, ähnl. S.311. Ablehnend z.B. auch Schöne (Fn. 128) S. 322, 333; Seelmann (Fn.85), Rdn.33; Welp (Fn. 88) S.65; Rudolphi (Fn. 86) S. 28 f. 194 Schünemann (vor. Fn.) S. 304. 195 Schünemann (vor. Fn.) S.297, Anm. 32, in der Kritik an der Lehre von Arzt. 196 S. ζ. B. Seelmann (Fn. 85) Rdn. 33, und zum Alter dieses kriminalpolitischen Einwandes Welp (Fn. 88) S. 28 m. Nachw. 197 S. auch Hettinger (Fn. 16) S. 44 ff. 198 Vgl. Arm. Kaufmann, JuS 1961, S. 175. 192

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I.

Bekanntlich umschreiben, von wenigen Ausnahmen abgesehen, die gesetzlichen Tatbestände das strafbare Verhalten als ein positives Tun, etwa - um nur einige Vorschriften aus dem ersten Abschnitt des Besonderen Teils anzuführen — als Vorbereitung eines Angriffskrieges, als Verbreitung von Propagandamitteln oder als Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen 1 . Gleichwohl hat die ganz überwiegende Meinung 2 auch schon vor Inkrafttreten des 2. StrRG 3 die Strafbarkeit nicht auf Fälle des positiven Einsatzes von Energie beschränkt, sondern auch den Nichteinsatz potentieller Energie einbezogen, sofern den Täter eine sogenannte Garantenpflicht traf, die gewohnheitsrechtlich entwickelt wurde. Wegen der gegen diese Praxis unter dem Gesichtspunkt der lex certa und der lex stricta bestehenden Zweifel in verfassungsrechtlicher 4 Hinsicht 5 hat der Gesetzgeber nunmehr ausdrücklich in § 13 S t G B die Strafbarkeit des „unechten Unterlassens" eröffnet 6 . Wer nun aber geglaubt hatte, die „drei berichtigende(n) Worte des Gesetzgebers" würden „die ganze(n) Bibliotheken zu Makulatur" werden lassen 7 , sah sich bitter getäuscht: Nicht nur werden nach wie vor verfassungsrechtliche Bedenken angemeldet 8 , sondern der Gesetzgeber

§ § 8 0 , 86, 86 a StGB. RGSt. 10, 100; Nagler/Mezger, LK, 8. Aufl. 1957, Einl. Anhang II, Β I mit Nachweisen. 3 Ges. v. 3 0 . 7 . 1 9 7 3 , BGBl. I, S. 909, in Kraft getreten am 1 . 1 . 1 9 7 5 . 4 Statt aller H. Mayer, Strafrecht AT, 1953, S. 111 ff; Welzel, Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S.211. 5 Zu inhaltlichen Bedenken vgl. H. Mayer, Strafrecht A T (Studienbuch), 1967, S. 80. 6 Vgl. Ε 1962, Begr., S. 124. 7 v. Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft (hrsg. v. H . Meyer-Tscheppe), 1988, S . 2 9 . 8 Vgl. Schöne, Unterlassene Erfolgsabwendungen und Strafgesetz, 1974, S. 277 f; Schürmann, Unterlassungsstrafbarkeit und Gesetzlichkeitsgrundsatz, 1986, S. 126 ff; Seelmann, AK-StGB, 1990, § 13 Rdn. 1, 2 ; Stratenwerth, Strafrecht A T I, 3. Aufl. 1981, S. 268. 1

2

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hat bei einer Fülle von Streitfragen den Schwarzen Peter einfach weitergeschoben und ihre Klärung nach wie vor Rechtsprechung und Lehre überlassen 9 . Vor allem aber darf der Anwendungsbereich des § 13 StGB nicht überschätzt werden. Es ist nämlich keineswegs so, daß nunmehr jegliches Kommisivdelikt auch per omissionem begehbar wäre. Vielmehr wird in der Rechtswissenschaft für ganze Tatbestandsgruppen die Möglichkeit eines unechten Unterlassens geleugnet, so etwa bei Vorliegen einer abschließenden Sonderregelung, bei eigenhändigen Delikten und auch bei den schlichten Tätigkeitsdelikten 10 . Diesen letzteren Gesichtspunkt möchte ich herausgreifen und zu klären versuchen, ob tatsächlich nur die sogenannten Erfolgsdelikte der Regelung des § 13 StGB unterfallen. Die strafbarkeitsbegründende Bedeutung des tatbestandlichen Erfolgseintritts 11 hat ja schon vor nahezu vierzig Jahren der verehrte Jubilar in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung hervorgehoben 12 , ohne jedoch damit eine Stellungnahme zu unserem Problem abgeben zu wollen; es ging ihm vielmehr ausschließlich um die Zurückweisung subjektivistischer Tendenzen in der Strafrechtswissenschaft, die für die Reichweite der Unterlassungsstrafbarkeit allenfalls am Rande von Belang sein können 13 .

II. Daß neben dem Erfordernis einer Garantenstellung unter Umständen weitere Voraussetzungen vorliegen müssen, damit ein Nichttätigwerden einer Person in gleicher Weise zugerechnet werden darf wie eine positive Handlung, hat sich erst im Verlaufe der Beratungen der Großen Strafrechtskommission in den fünfziger Jahren allmählich herauskristallisiert, wurde aber von der Strafrechtswissenschaft schnell aufgenommen. Dabei ging es allerdings ganz überwiegend um die im letzten Halbsatz des § 13 StGB umschriebene Modalitätenäquivalenz 14 ; nur beiläufig wird auch die Frage aufgeworfen, was der Gesetzgeber mit der Eingangspassage „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, der zum Tatbestand eines Gesetzes gehört" gemeint haben könnte.

» Vgl. B G H S t . 36, 227 f; Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, §13 Rdn. 1. Weiterführend Rudolphi, SK-StGB, 5. Aufl. 1988, §13 Rdn. 4-15 mit Nachweisen auch zum jeweiligen Streitstand. 11 D a z u neuestens Degener, ZStW 103 (1991), 357 ff. 12 Spendet, Zur Notwendigkeit des Objektivismus im Strafrecht. In: ZStW 65 (1953), 519ff. 13 Vgl. unten V. 14 Eingehend Rudolphi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1965. 10

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1. In der strafrechtlichen Literatur 15 wird dazu überwiegend die Auffassung vertreten, das Gesetz habe die Strafbarkeit auf Erfolgsdelikte 16 beschränkt 17 , auf Delikte also, bei denen der Erfolg in der Verletzung oder konkreten Gefährdung des geschützten Handlungsobjektes liege. Hinzu komme in den Fällen der Beihilfe durch Unterlassen auch die Begehung der Haupttat 18 , weil diese als tatbestandsmäßiger Erfolg der Beihilfe anzusehen sei. Demgegenüber versteht eine Mindermeinung 19 unter Erfolg jedes tatbestandsmäßige Ereignis, das eine Strafbestimmung für die Vollendung einer Straftat voraussetze; danach sei auch bei schlichten Tätigkeitsdelikten grundsätzlich ein Erfolg vorhanden 20 . Eine etwas eingehendere Auseinandersetzung mit der Problematik findet sich lediglich bei Steiner und Schöne21. Letzterer sieht den Vorteil einer Beschränkung auf Erfolgsdelikte in der Möglichkeit einer einfachen Aussonderung von Bagatellfällen, meint aber, das sei vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt und zudem überflüssig, weil ausreichend anderweitige Eliminierungsmöglichkeiten bestünden. Demgegenüber stützt Steiner seine gegenteiligte Auffassung auf den Grundsatz der Tatbestandsbestimmtheit und den Strafgrund unechten Unterlassens, nämlich die „Gleichstellung mit einem durch einen Tatbestand des Besonderen Teils verbotenen aktiven Tun" 2 2 .

15 In der Rechtsprechung wird die Frage nur beiläufig behandelt: Während RGSt. 45, 210/213 ohne jede Begründung eine Beschränkung auf Erfolgsdelikte im engeren Sinne vornimmt, soll nach BayObLG, J R 1979, 289/291 mit klarstellender Anm. Horn, das Gegenteil „anerkannt" sein; ähnlich OLG Stuttgart, NuR 1987, 281. 16 Noch weitergehend will Nitze, Die Bedeutung der Entsprechungsklausel beim Begehen durch Unterlassen (§ 13 StGB), 1989, S. 131 f, sogar die verhaltensgebundenen Erfolgsdelikte ausscheiden. 17 Bockelmann/Volk, Strafrecht AT, 4. Aufl. \987,SAi3;Jescheck, LK, 10. Aufl. 1979, §13 StGB Rdn.2 und in: Tröndle-Festschrift, 1989, S. 795/796; Kahla, Das Problem des Pflichtwidrigkeitszusammenhangs bei den unechten Unterlassungsdelikten, 1990, S. 35; Nickel, Die Problematik der unechten Unterlassungsdelikte im Hinblick auf den Grundsatz „nullum crimen sine lege" (Art. 103 II GG), 1972, S.23 Fn.54; Rudolphi, SK-StGB, § 13 Rdn. 10, 24; Schmidhausen Strafrecht AT (Lehrbuch), 2. Aufl. 1975, S. 682; Seelmann, AK-StGB, §13 Rdn.68; Welzel, Strafrecht, S.211; Wessels, Strafrecht AT, 21. Aufl. 1991, S. 226. Einschränkend Preisendanz, StGB, 30. Aufl. 1978, §13 Anm. II 1 c und III 1. 18 So Jescheck und Rudolphi, jeweils aaO. Nach Bockelmann/Volk, aaO, soll dies für die Teilnahme ganz generell gelten. " Grünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt, Diss. Göttingen 1956, S. 19 und in: ZStW 70 (1958), 412/413 Fn.5; Jakobs, Strafrecht AT, 2. Aufl. 1991, S.785; Maurach/ Gössel, Strafrecht AT II, 7. Aufl. 1989, S.181f; Schönke/Schröder/Stree, StGB, 23. Aufl. 1988, § 13 Rdn. 3; Schürmann (Fn. 8), S. 19 ff, 32. 20 Baumann/Weber, Strafrecht AT, 9. Aufl. 1985, S.236; Dreher/Tröndle, StGB, 45. Aufl. 1991, §13 Rdn. 3; Jakobs, aaO; Uckner, StGB, §13 Rdn. 6. 21 Steiner, MDR 1971, 260 ff; Schöne (Fn. 8), S.326. 22 MDR 1971, 260 f.

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Die Fronten sind also verhärtet, und das Problem scheint keineswegs ausdiskutiert. Das spärliche Interesse, das die Frage im strafrechtlichen Schrifttum offensichtlich findet, dürfte in der geringen praktischen Bedeutung begründet sein, da die Mehrzahl der Straftatbestände als Erfolgsdelikte ausgestaltet sind und im übrigen eine Unterlassungsstrafbarkeit im Hinblick auf die Modalitätenäquivalenz nur selten in Betracht kommen wird. 2. Dann aber stünde eigentlich zu erwarten, daß das Schrifttum zum OWiG, dessen §8 durch das EGStGB23 dem §13 StGB nachgebildet wurde, sich eingehender mit der Problematik befassen würde, da ja im Bereich der Ordnungswidrigkeiten die reinen Tätigkeitsdelikte bei weitem überwiegen 24 . Doch weit gefehlt: In der Lehrbuch- und Kommentarliteratur25 findet sich in der Regel nur ein lapidarer Hinweis auf die Beschränkung des §8 OWiG auf Erfolgsdelikte 26 und - damit verbunden - auf seine praktische Bedeutungslosigkeit 27 . Demgegenüber sieht Rengier im Erfolg im Sinne des § 8 OWiG die Wirkung, „die von dem tatbestandlichen Ereignis ausgeht, das der Garant abzuwenden unterläßt" 28 , und weist darauf hin, daß diese kiminalpolitisch gebotene Ausweitung stillschweigend auch von den Vertretern der Gegenansicht praktiziert werde, soweit Überwachungsgaranten als Nebentäter durch Unterlassen 29 zur Verantwortung gezogen würden 30 .

V. 2 . 3 . 1 9 7 4 - BGBl. I, S. 469, 535. Statt aller Cramer, Grundbegriffe des Rechts der Ordnungswidrigkeiten, 1971, S. 44; Göhler, OWiG, 9. Aufl. 1990, vor § 1 Rdn. 14; Rengier, K K - O W i G , 1989, vor §8 Rdn. 16. Immerhin ist, worauf Rengier hinweist (KK-OWiG, § 8 Rdn. 12), die praktische Bedeutung der StVO-Ordnungswidrigkeiten - insbesondere des § 1 II StVO - nicht zu unterschätzen. 25 Auch hier ist die Rechtsprechung wenig ergiebig: Ohne eigenständige Begründung beschränkt OLG Köln, VRS 63, 394, eine Erstreckung des § 8 OWiG auf Erfolgsdelikte, während andere Oberlandesgerichte (vgl. etwa OLG Stuttgart, Die Justiz 1979, 389), ohne die Problematik anzusprechen, jegliches Untätigbleiben eines Uberwachungsgaranten erfassen. 23

24

26 J°rg> Ordnungswidrigkeitenrecht, 2. Aufl. 1980, S. 16; Rebmann/Roth/Herrmann, Gesetz über Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 1991, §8 Rdn. 2; Rosenkötter, Das Recht der Ordnungswidrigkeiten, 2. Aufl. 1988, S.36 Fn.4; Rotherg, OWiG, 5. Aufl. 1975, §8 Rdn. 1. Ebenso Göhler in älteren Auflagen seines Kommentars, der aber neuerdings auch ein anderes Verständnis für möglich erachtet; vgl. OWiG, §8 Rdn. 1. 27 Rebmann/Roth/Herrmann, Göhler und Rosenkötter, jeweils aaO. 2« K K - O W i G , §8 Rdn. 10. 29 Im Hinblick auf § 14 OWiG eine konsequente Übertragung des von Bockelmann und Jescheck vertretenen „erweiterten" Erfolgsbegriffs; vgl. dazu oben bei Fn. 18. 30 K K - O W i G , §8 Rdn. 11.

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Gegen eine Beschränkung des § 8 O W i G auf Erfolgsdelikte im engeren Sinne wendet sich auch Kopel, der unter Erfolg ein tatbestandlich mißbilligtes, abzuwehrendes Ereignis versteht31 und deshalb nicht nur den Uberwachungsgaranten erfaßt 32 , sondern auch schlichte Tätigkeitsdelikte einbezieht, soweit ein Erfolg dergestalt „assoziierbar" sei, „daß dieser sich als die Intensivierung oder als fortgeschrittenes Stadium der im Tatbestand beschriebenen Gefahrenlage darstellt" 33 . Bei reinen Formalverstößen jedoch, die nicht zu einem Verwaltungs- oder gar Sozialschaden führen könnten, etwa dem Nichtmitführen der Fahrerlaubnis 34 , sei kein Raum für eine Anwendung des § 8 OWiG 3 5 . Auch im Bereich des Ordnungswidrigkeitenrechts ist demnach - wie in dem des Strafrechts im engeren Sinne - ein Konsens nicht festzustellen, obgleich hier die Bedeutung des Theorienstreites für die forensische Praxis nicht geleugnet werden kann.

III. Möglicherweise könnte dieser Streit sehr leicht entschieden werden, nämlich dann, wenn sich aus der Natur der Sache zwingend die Richtigkeit der einen oder anderen Ansicht ableiten ließe. Zum einen könnte man ja daran denken, daß sich aus der Regelungsmaterie des § 13 StGB 3 6 - unechte Unterlassungsdelikte im Gegensatz zu den echten - denknotwendig eine Beschränkung aus Erfolgsdelikte ergibt, und zum anderen könnte man versucht sein, aus dem Erfordernis der Modalitätenäquivalenz die Unmöglichkeit einer Unterlassungstäterschaft bei reinen Tätigkeitsdelikten abzuleiten 37 . 1. Was den ersten Punkt betrifft, so unterscheidet 38 zwar eine gewichtige Mindermeinung im Schrifttum bekanntlich die echten und die unechten Unterlassungsdelikte nach dem formalen Kriterium, ob eine gesetzliche Regelung vorliegt oder nicht 39 . Demgegenüber grenzt die h. M. nach materiellen Gesichtspunkten ab: Echte Unterlassungsdelikte seien Straf-

31

Kopel, Die Unterlassung im Recht der Ordnungswidrigkeiten, Diss. Münster 1975,

S. 61 f. 32 33

A a O , S. 68 f, 77. A a O , S. 82.

Vgl. § § 4 II, 6 9 a I N r . 5 a StVZO. A a O , S. 86 ff. 36 Entsprechendes gilt hier wie auch im folgenden für § 8 O W i G . 37 So Bockelmann, Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission, Bd. 2, 1958, S. 2 7 7 und Bd. 12, 1959, S . 4 7 8 . 38 Gegen eine derartige Unterscheidung Schmidhäuser, Strafrecht AT, S . 6 5 7 f . 39 So Maurach/Gössel, Strafrecht A T II, S. 176 ff; Schönke/Schröder/Stree, StGB, vor § 13 Rdn. 137; Stratenwerth, Strafrecht A T I, S. 268; Welzel, Strafrecht, S. 202 f. 34

35

352

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taten, die sich im Verstoß gegen eine Gebotsnorm40 und bloßen Unterlassen einer gesetzlich geforderten Tätigkeit erschöpften, während bei den unechten Unterlassungsdelikten das Gebot nicht allein auf die Vornahme einer bestimmten Handlung, sondern direkt auf Erfolgsabwendung gerichtet sei41; die echten Unterlassungsdelikte seien demnach ein Spiegelbild der schlichten Tätigkeitsdelikte im Begehungsbereich, die unechten ein Gegenstück zu den Erfolgsdelikten 42 . Folgt man dem, so liegt nahe, für § 13 StGB, der nur eine Regelung der unechten Unterlassungsdelikte enthält43, den Schluß zu ziehen, daß eben ein Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte abgewendet werden müsse. Indes, derartige begriffsjuristische Ableitungen sind immer etwas mißlich, insbesondere wenn die Prämisse sich nicht aus der Natur der Sache ergibt, sondern auf Zweckmäßigkeitserwägungen beruht, wie dies bei Zugrundelegung der Differenzierung nach materiellen Gesichtspunkten der Fall ist44. Hinzu kommt, daß auch die Folgerung selbst keineswegs zwingend ist: Die Vertreter der h. M. selbst sprechen ja lediglich von „Spiegelung" oder „Gegenstück", postulieren also nur Ähnlichkeit, keine Gleichheit. Und in der Tat zeigt der Vergleich eines typischen schlichten Tätigkeitsdelikts mit einem der „klassischen" echten Unterlassungsdelikte, daß von einer lupenreinen Spiegelung nicht die Rede sein kann: Während §153 StGB unstreitig erfüllt ist, wenn ein Zeuge falsch aussagt, unabhängig davon, ob seine Aussage glaubhaft ist oder nicht45, hat bei einem Unglücksfall ein Passant seiner Pflicht nach § 323 c StGB nicht Genüge getan, wenn er nur irgendeine, möglicherweise unzweckmäßige, Hilfstätigkeit entfaltet; „er muß vielmehr die ihm zumutbare bestmögliche

40 Verschiedentlich wird der maßgebliche Unterschied auch darin gesehen, ob gegen eine Gebots- oder eine Verbotsnorm verstoßen wird; vgl. etwa Baumann/Weber, Strafrecht AT, S. 234, 236. Zutreffend hiergegen Jescheck, LK, vor § 13 StGB, Rdn. 84 Fn. 118; Schöne (Fn. 8), S. 247 ff. 41 Statt aller BGHSt. 14, 280/281; Blei, Strafrecht I, 18. Aufl. 1983, S. 309 f; Bockelmann/Volk, Strafrecht AT, S. 132f; Jescheck, LK, vor §13 StGB Rdn. 84 Fn. 118 und Strafrecht AT, 4. Aufl. 1988, S. 547 f mit weiteren Nachweisen. 42 Rudolphi, SK-StGB, vor §13 Rdn. 8; Wessels, Strafrecht AT, S.222f. 43 Unstreitig; statt aller Dreher/Tröndle, StGB, §13 Rdn. 3; Schönke/Schröder/Stree, StGB, § 1 3 Rdn. 1. 44 Vgl. Rudolphi, SK-StGB, vor §13 Rdn. 10; Schünemann, ZStW 96 (1984), 287/ 302, der einzig die eigene, von der h. M. abweichende, Differenzierung als sachlogisch bezeichnet. 45 Rudolphi, SK-StGB, 4. Aufl. 1989, vor § 1 5 3 Rdn. 10; Willms, LK, 10. Aufl. 1978, vor § 153 Rdn. 6. Hingegen sieht Schmidhäuser, Strafrecht AT, S. 213 Fn. 11, in § 153 StGB im Hinblick auf das Erfordernis der Wahrnehmung der Aussage durch das Gericht ein Erfolgsdelikt.

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Hilfe leisten" 46 . Damit erhellt, daß die Verhinderung eines schädlichen Erfolges nicht nur bloßer Gesetzeszweck ist47, sondern daß § 323 c S t G B eine Pflicht zur Erfolgsabwendung konstituiert 48 , der allerdings schon dann nachgekommen ist, wenn taugliche Hilfe geleistet wird; Spendet ist daher zuzustimmen, wenn er § 323 c StGB unter die konkreten Gefährdungsdelikte einordnet 49 . Da diese aber unstreitig zur Gruppe der Erfolgsdelikte zählen50, ist die Spiegelung „schlichte Tätigkeitsdelikte/ echte Unterlassungsdelikte" doch etwas getrübt. Warum sollte dann nicht auch das andere Gegensatzpaar - Erfolgsdelikte/unechte Unterlassungsdelikte - bei aller Ähnlichkeit nicht auch Unterschiede aufweisen? Zumindest ist nicht auszuschließen, daß mit dem Begriff des Erfolges, der gemäß § 13 StGB abgewendet werden muß, etwas anderes gemeint sein kann als die durch die Tathandlung verursachte und von ihr unterschiedene Wirkung am Handlungsobjekt 51 . 2. Eine - unter Umständen schwierige und zu keinem wirklich zwingenden Ergebnis führende - Auslegung des Erfolgsbegriffs wäre allerdings entbehrlich, wenn, wie Steiner meint 52 , das Erfordernis der Modalitätenäquivalenz den Anwendungsbereich des § 13 StGB auf Erfolgsdelikte beschränken sollte 53 . Nun ist gewiß richtig, daß bei reinen Erfolgsdelikten keine Kollisionen mit dem Erfordernis der Gleichwertigkeit bestehen54 und daß die Gleichstellungsklausel bei verhaltensgebundenen Erfolgsdelikten - etwa bei § 263 StGB - zwar häufig zu Unrecht vernachlässigt wird 55 , daß hier aber ihr typischer Anwendungsbereich liegt56. Soweit dann im konkreten Fall Gleichwertigkeit zu bejahen ist, beruht das sicher zu einem nicht geringen Teil darauf, daß eben ein mißbilligter tatbestandlicher Erfolg

46 BGHSt. 21, 50, 54. Ebenso Kopel (Fn. 31), S. 38 f; Rudolphi, SK-StGB, 4. Aufl. 1988, §323 c Rdn.2; Schöne (Fn.8), S.56ff; Schönke/Schröder/Cramer, StGB, § 3 2 3 c Rdn. 17; Seelmann, AK-StGB, §13 Rdn. 15; Spendel, LK, 10. Aufl. 1988, § 3 2 3 c StGB Rdn. 19; noch weitergehend Armin Kaufmann, Die Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte, 1959, S.208f. Die gegenteilige Auffassung (vgl. etwa Μaurach/Schroeder, Strafrecht BT II, 7. Aufl. 1991, S.43f) pönalisiert eigentlich nur die böse Gesinnung.

So aber Jescheck, LK, vor § 13 StGB Rdn. 84. Näher Herzberg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 22 ff. 49 LK, § 323 c StGB Rdn. 20. Ebenso Dreher/Tröndle, StGB, § 323 c Rdn. 1. 50 Statt aller Lackner, StGB, § 13 Rdn. 32. 51 Mit terminologischen Unterschieden Jescheck, Strafrecht AT, S. 234; Lackner, aaO; Wessels, Strafrecht AT, S. 5. 52 MDR 1971, 260 ff. 53 Vgl. auch Rudolphi, SK-StGB, §13 Rdn. 14. 54 Heute unstreitig; statt aller Jescheck, LK, § 13 StGB Rdn. 5. 55 Nachweise bei Lackner, LK, 10. Aufl. 1979, §263 StGB Rdn. 70. 54 Statt aller Rudolphi, SK-StGB, § 13 Rdn. 18 mit Nachweisen. 47 48

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eingetreten ist. Allein daraus aber kann man nicht schließen, daß bei reinen Tätigkeitsdelikten Gleichwertigkeit a priori zu verneinen sei. Das kann nämlich erst festgestellt werden, wenn sich trotz allen Bemühens keine Fälle finden lassen, bei denen die bloße Untätigkeit nicht denselben sozialen Sinngehalt aufweisen kann wie das im gesetzlichen Tatbestand beschriebene positive Tun. Hierfür kommen von vornherein Tatbestände nicht in Betracht, die wie etwa § 181 a StGB - eine bestimmte länger andauernde persönliche Lebenshaltung umschreiben 57 . Gleiches gilt dann, wenn der Gesetzgeber die tatbestandsverwirklichende Handlung sehr konkret gefaßt hat; so wird man in der Tat, wenn das „Hetzen von Hunden auf Menschen" pönalisiert sein sollte58, einen Tierhalter nicht unter dem Gesichtspunkt eines Unterlassungsdelikts bestrafen können, wenn er seinen Hund nicht zurückpfeift, der aus eigenem Antrieb über einen Dritten herfällt 59 . Sucht man aber nach Tatbeständen mit recht allgemein umschriebener Tathandlung, so wird man zwar fündig bei den Delikten, deren typischer Unrechtsgehalt in einer spezifischen Rechtspflichtverletzung besteht, die gleichermaßen durch Tun wie durch Unterlassen verwirklicht werden kann, wie etwa die Untreue (§ 266 StGB) oder die Rechtsbeugung (§ 336 StGB)60. Es besteht indes im Schrifttum 61 weitestgehend Konsens 62 , daß für derartige Unterlassungsfälle § 13 StGB nicht einschlägig ist, weil die Garantenstellung im Gesetz schon umschrieben ist, die Gleichwertigkeit sich aus der Gesetzesfassung ergibt und für eine Strafmilderung nach Abs. 2 kein Anlaß besteht 63 . Die Suche nach einem Tätigkeitsdelikt, das durch unechtes Unterlassen gleichwertig begehbar sein soll, gestaltet sich mithin recht schwierig, namentlich wenn es sich um einen Tatbestand handeln soll, dessen Einordnung in diese Gruppe außer Streit steht. Da sind nämlich einmal die unterschiedlichsten Definitionen, die uns das Schrifttum so reichhal-

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Rudolphi, SK-StGB, §13 Rdn. 10. §366 N r . 6 StGB a.F. 59 Steiner, M D R 1971, 260/261. 60 Vgl. BGHSt. 36, 227/228; Lackner, StGB, §266 Rdn. 2, §336 Rdn. 5; Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 4. Aufl. 1984, S.459ff; Spendel, LK, 10. Aufl. 1982, §336 StGB Rdn. 54. «i Anders aber die Rechtsprechung; vgl. BGHSt. 36, 227; BayObLG, JR 1989, 299/300 mit abl. Anm. Seebode; offengelassen noch in B G H , N J W 1982, 2881/2882. 62 Für diejenigen, die in den gesetzlich vertypten Tatbeständen echte Unterlassungsdelikte sehen, versteht sich das Ergebnis von selbst; vgl. Schänke/Schröder/Stree, StGB, §13 Rdn. 1 a; Steiner, M D R 1971, 260/261. 63 Dreher/Tröndle, StGB, §13 Rdn. 3; Jescheck, LK, §13 StGB Rdn. 10; Rudolphi, SK-StGB, §13 Rdn. 4, 6 und ZStW 86 (1974), 68/69; a.A. Schünemann, ZStW 96 (1984), 287/317. 58

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tig anbietet; gefordert wird beispielsweise eine „einfache Tätigkeit" 6 4 , ein „schlichtes aktives Tun" 6 5 , eine „Handlung, die selbst den tatbestandsmäßigen Schlußpunkt bildet" 6 6 , eine „Erschöpfung des Unrechtstatbestandes in einer Handlung" 6 7 , zu der ein „besonderer" 68 beziehungsweise ein „von der Handlung getrennter äußerer Erfolg" 6 9 nicht hinzutreten „dürfe" 70 beziehungsweise „brauche" 7 1 . Deshalb, aber auch im Hinblick auf die unterschiedlichen Auslegungen einzelner Tatbestandsmerkmale 72 gehen die Ansichten über die Zuordnung mancher Tatbestände auseinander, weshalb es schwer wird, ein klares Bild zu gewinnen. Einigermaßen unstreitig dürfte heute aber die Auslegung des Merkmals „Hilfeleisten" in § 2 5 7 S t G B dahingehend sein, daß die Tathandlung den Vortäter nicht besserstellen muß, sondern daß es ausreicht, wenn sie hierzu objektiv geeignet ist 73 . Dann aber erschöpft sich der Unrechtstatbestand im Handlungsvollzug, ohne daß ein hiervon abtrennbarer Erfolg hinzukommen müßte, was bedeutet, daß § 2 5 7 S t G B nach den obigen Definitionen wohl als Tätigkeitsdelikt zu qualifizieren ist 74 . Damit wäre dieser Tatbestand, leugnet man die Gleichwertigkeit, durch Unterlassen nicht begehbar 75 - ein Ergebnis, das von niemandem ernstlich vertreten wird 76 .

Baumann/Weber, Strafrecht AT, S. 133. Dreher/Tröndle, StGB, vor § 13 Rdn. 13. " Maurach/Zipf, Strafrecht AT I, 7. Aufl. 1967, S.276. 67 Jescheck, Strafrecht AT, S.237; ähnlich Schmidhäuser, Strafrecht AT, S.213; Schänke/Schröder/Lenckner, StGB, vor § 1 3 Rdn. 130; Wessels, Strafrecht AT, S.6. 68 Baumann/Weher, aaO. 69 Dreher/Tröndle, Jescheck, Schönke/Schröder/Lenckner, Wessels, jeweils aaO. 70 Schänke/Schröder/Lenckner, aaO. 71 Dreher/Tröndle, aaO; ähnlich Baumann/Weher und Jescheck, jeweils aaO. Eine inhaltliche Abweichung gegenüber der korrekteren Formulierung Lenckners dürfte nicht beabsichtigt sein. 72 Hingewiesen sei hier nur auf die bekannte Kontroverse zwischen Rechtsprechung und h. L. hinsichtlich des Merkmals „absetzen" und „Absatzhilfe" im Rahmen des § 2 5 9 StGB; dazu Lackner, StGB, §259 Rdn. 13ff. 73 BGHSt.4, 221; Dreher/Tröndle, StGB, § 2 5 7 Rdn.6; Lackner, StGB, § 2 5 7 Rdn.3; Schänke/Schröder/Stree, StGB, § 2 5 7 Rdn. 15; noch weitergehend Arzt/Weher, Strafrecht BT IV, 2. Aufl. 1989, S. 145 ff. 74 So auch Kopel (Fn.31), S.59f. Vgl. auch Samson, SK-StGB, 4. Aufl. 1986, §257 Rdn. 19. 75 Anders als bei den oben erwähnten §§266, 336 StGB steht der Täter hier nicht in einer spezifischen Pflichtenstellung, die es erlauben würde, unter Hilfeleisten sowohl ein positives Tun als auch ein Unterlassen zu verstehen. 76 Vgl. RGSt.53, 108; BGH, NJW 1979, 2681/2682; Dreher/Tröndle, StGB, § 2 5 7 Rdn.6; Lackner, StGB, § 2 5 7 Rdn.3; Samson, SK-StGB, § 2 5 7 Rdn.28, 29; Schänke/ Schröder/Stree, §257 Rdn. 17. 64 65

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Wenn aber auch nur ein Fall77 denkbar, ja sogar nicht ganz ohne praktische Bedeutung ist, bei dem trotz Vorliegens eines bloßen Tätigkeitsdelikts Gleichwertigkeit von Tun und Unterlassen zu bejahen ist, so ist es nicht angängig, vom Erfordernis der Modalitätenäquivalenz zwingend auf die Beschränkung des Anwendungsbereichs des §13 StGB auf Erfolgsdelikte zu schließen. IV. Wann eine derartige Beschränkung gleichwohl sinnvoll ist, kann daher nur die Auslegung der fraglichen Gesetzespassage ergeben. /. Wohl jeder Jurist, der bei der Lektüre des Strafgesetzbuches auf das Wort „Erfolg" stößt, denkt, insbesondere wenn es noch mit dem epithiton ornans „zum Tatbestand gehörend" versehen ist, unwillkürlich an den Erfolg, den eine tatbestandsmäßige Handlung bewirkt hat: Ein Schuß aus dem Hinterhalt ist gefallen, eine Leiche sinkt zu Boden. Wir wissen aber selbstverständlich alle, daß unter Erfolg durchaus auch etwas anderes verstanden werden kann. So definiert das Große Wörterbuch der Deutschen Sprache78 Erfolg als „positives Ergebnis einer Bemühung; Eintreten einer beabsichtigten, erstrebten Wirkung". Das aber kann in §13 StGB beim besten Willen nicht gemeint sein; geht es doch darum, daß der Garant ein negatives Ergebnis, einen gesetzlich mißbilligten Erfolg abzuwenden verpflichtet ist79! Wenden wir uns daher lieber dem zu, was Juristen, speziell Strafjuristen, meinen können, wenn sie von Erfolg sprechen. Neben dem schon erwähnten Erfolg im Sinne der Erfolgsdelikte als Eintritt einer von der Tathandlung gedanklich abgrenzbaren 80 Wirkung in der Außenwelt 81 , auch als Erfolg im engeren Sinne bezeichnet82, verstehen manche Autoren 83 unter Erfolg (auch) ganz allgemein jede Erfüllung eines Straftatbestandes - sogenannter Erfolg im weiteren 77 Vgl. auch das von Jakobs, Strafrecht AT, S. 834, gebildete Beispiel vom betrunkenen Steuermann. 78 Meyers Enzyklopädisches Lexikon, Bd. 30, 9. Aufl. 1979, S. 726. 7 ' Näher Kopel (Fn. 31), S. 61 ff. 80 Auch soweit der Erfolg als Teil der Handlung verstanden wird (vgl. insbesondere Mezger, Strafrecht, 3. Aufl. 1949, S. 95 f), ist die kausalgesetzliche Verknüpfung von Handlung und Erfolg anerkannt. 81 Statt aller Wessels, Strafrecht AT, S. 5. 82 Vgl. etwa Jescheck, Strafrecht AT, S. 234, 237. Kritisch Stratenwertb, Strafrecht A T I, S. 83. 83 Statt aller Maurach/Zipf, Strafrecht A T 1, S. 276; abl. Schmidhäuser, Strafrecht AT, S. 213 Fn. 12. Vgl. auch Lüderssen, Bockelmann-Festschrift, 1979, S. 181/188: „Es gibt überhaupt keinen Tatbestand ohne Erfolgsmoment. Beim Tätigkeitsdelikt ist der äußerliche Vorgang des Tätigwerdens der Erfolg, beim Erfolgsdelikt ein bestimmtes, über die

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Sinne 84 . Doch damit nicht genug; als Erfolg wird ferner - recht abstrahierend - die Verletzung oder Gefährdung des tatbestandlichen Schutzgutes85 oder - konkreter und wohl mit der h. M. übereinstimmend - die raum-zeitlich abgrenzbare Wirkung am Handlungsobjekt angesehen86. Und schließlich kann auch der Erfolgsunwert gemeint sein; so etwa, wenn der verehrte Jubilar dezidiert Position bezieht: „Denn das Recht und gerade das Strafrecht geht nun einmal seinem Wesen nach notwendig vom Erfolge aus, d. h. vom äußeren Verhalten, wogegen Ausgangspunkt der Moral das innere Verhalten, der gute Wille ist" 87 . Wäre als Erfolg im Sinne des § 13 StGB die Vollendung des Straftatbestandes, der Eintritt einer Rechtsgutsverletzung oder -gefährdung oder auch der Erfolgsunwert anzusehen, so wäre damit die Unterlassungsstrafbarkeit auch für schlichte Tätigkeitsdelikte grundsätzlich eröffnet. Nur bei Zugrundelegung des Erfolges im engeren Sinne 88 wäre § 13 StGB auf Erfolgsdelikte beschränkt. Daher ist zu klären, welche Interpretation hier zutrifft. 2. Wenn dem schlichten Wort „Erfolg" so viele unterschiedliche Bedeutungen beigemessen werden können, und es daher fraglich erscheint, wie es in einer bestimmten Vorschrift zu verstehen ist, gibt möglicherweise das Gesetz selbst brauchbare Anhaltspunkte, das ja häufig in anderem Zusammenhang das gleiche Wort verwendet. Freilich muß man sich davor hüten, wahllos aus dem Sachregister das betreffende Stichwort herauszusuchen, um dann alle aufgefundenen Bestimmungen zur Auslegung heranzuziehen 89 . Besser ist es da schon, wenn man die Fragestellung einengt und nach Vorschriften sucht, die gleichfalls von einem zum Tatbestand gehörenden Erfolg sprechen: Da ist einmal die Tatortbestimmung des § 9 StGB, für die weitestgehend anerkannt ist, daß weder der Eintritt einer konkreten Gefahr nach Begehung eines abstrakten Gefährdungsdeliktes als ein zum Tatbestand gehörender Erfolg anzusehen ist90 noch auch die nach

bloße Tätigkeit hinausgehendes Ereignis, beim erfolgsqualifizierten Delikt ein weiteres Ereignis." 84 Abweichend bezeichnen Baumann/Weber, Strafrecht AT, S. 201, „das nach außen in Erscheinung getretene Verhalten des Täters" als Erfolg im weiteren Sinne. 85 Vgl. etwa Welzel, Strafrecht, S.211. 86 So Jescheck, Strafrecht AT, S.234. 87 ZStW 65 (1953), 519/529. 88 Vgl. auch bei Fn. 82. 89 Vgl. etwa §§8, 111 II StGB. 90 Uckner, StGB, § 9 Rdn.2; Schönke/Schröder/Eser, StGB, § 9 Rdn.6; a. A. Lüttger, JZ 1964, 569/570.

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Vollendung erst eintretende Beendigung 91 . Wohl aber werden auch objektive Strafbarkeitsbedingungen einbezogen92, Umstände also, die nicht zum Unrechtstatbestand im engeren Sinne gehören. Das aber zeigt, daß selbst die Formulierung „zum Tatbestand gehörender Erfolg" nicht unbedingt „Erfolg im engeren Sinn" bedeuten muß. Das gleiche Ergebnis legt eine unbefangene Lektüre des §78 a S. 2 StGB nahe, nach dem die Verjährung erst dann beginnt, wenn ein zum Tatbestand gehörender Erfolg erst später - seil, nach Beendigung der Tat - eintritt. Versteht man diese gesetzestechnisch mißglückte Vorschrift jedoch dahin, daß mit „Tat" nur das Handlungselement der Tat umschrieben werden sollte93, so liegt die Deutung nahe, daß § 78 Satz 1 StGB schlichte Tätigkeitsdelikte zum Gegenstand hat, während Satz 2 sich auf Erfolgsdelikte bezieht; dann aber wäre der dort genannte Erfolg als solcher im engeren Sinne zu verstehen. Wie dem auch sei - weder dem § 9 StGB noch § 78 S. 2 StGB liegt eine dem § 13 StGB verwandte ratio zugrunde, weshalb als Fazit nur festgehalten werden darf, daß das Gesetz selbst der Passage „zum Tatbestand gehörender Erfolg" je nach Zusammenhang einen unterschiedlichen Sinngehalt beimißt. Wirklich weiterführend kann daher nur die Analyse solcher Tatbestände sein, die sich wie § 13 StGB mit der Abwendung beziehungsweise Nichtabwendung eines Erfolges befassen. Da wäre zunächst § 138 I StGB zu nennen, dessen ratio wohl fordert, daß die Abwendung des Erfolges auch die dem Pflichtigen mögliche Abwehr solcher Verletzungen mitumfaßt, die für sich - wie etwa eine Vergiftung gemäß §229 StGB - nicht der Anzeigepflicht unterliegen, wohl aber einen notwendigen Bestandteil der geplanten anzeigepflichtigen Tat - etwa eines Mordes - bilden94. Und da darüber hinaus der Katalog der anzeigepflichtigen Taten auch schlichte Tätigkeitsdelikte und Unternehmenstatbestände enthält95, wird damit zum Ausdruck gebracht, daß der Gesetzgeber hier nicht auf den Erfolg im engeren Sinne abstellen will. Von Erfolgsabwendung ist auch in einigen der zahlreichen Vorschriften des StGB die Rede, die die tätige Reue betreffen96. Wer beispielsweise das Unternehmen eines räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer aufgibt " OLG Frankfurt, wistra 1990, 271; Dreher/Tröndle, StGB, §9 Rdn.3; a.A. OLG Stuttgart, NJW 1974, 914; Jescheck, Strafrecht AT, S. 160 f. 92 Schänke/Schröder/Eser, StGB, § 9 Rdn. 7; Spendel, LK, 10. Aufl. 1985, §323 a StGB Rdn. 7; a.A. Stree, JuS 1965, 465/474. 93 So mit beachtlichen Gründen Kühl, JZ 1978, 549 ff; Lackner, StGB, §78 a Rdn. 1; Otto, Lackner-Festschrift, 1987, S. 715 f. 94 Hanack, LK, 10. Aufl. 1978, §138 StGB Rdn. 25 und §139 StGB Rdn. 34. 95 Vgl. §138 I Nr. 4 und Nr. 9 StGB. 96 Vgl. etwa §§239 a IV, 316 a II, 16 c IV StGB.

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und den Erfolg abwendet oder sich wenigstens hierum bemüht, kann nach §316 a II StGB von Strafe freigestellt werden. Während Rechtsprechung und h.M. 9 7 den Angriff auf den Kraftfahrer, z . B . das Spannen eines Seiles über die Straße, also die vollendete Tathandlung, als Erfolg ansehen, stellen andere erst auf die Realisierung der Absicht, etwa die Durchführung des Raubes, ab 98 . Es wird also auch hier der Erfolg nicht im engeren Sinne, sondern im weiteren oder aber als endgültige Rechtsgutsbeeinträchtigung verstanden. 3. Hingegen legt die Gesetzgebungsgeschichte des § 13 StGB eher eine enge Auslegung des Erfolgsbegriffs nahe: In der Begründung ihres Fassungsvorschlages „Wer es unterläßt, einen Erfolg abzuwenden, obwohl er rechtlich hierzu verpflichtet ist" betonten die Sachbearbeiter des Bundesjustizministeriums, „daß diese Pflichten auf Erfolgsabwendung bezogen sein müssen, . . . um eine sichere Abgrenzung von bloßen Tätigkeitspflichten der echten Unterlassungsdelikte zu gewährleisten"; Rechtsprechung und Lehre sollte es überlassen bleiben, den Erfolgsbegriff genügend weit, etwa unter Einschluß der Haupttat in Fällen der Beihilfe, zu bestimmen 99 . Demgegenüber traten die Unterkommissionsmitglieder Eb. Schmidt und Frankel in ihren „Leitsätzen zum Thema Unterlassungsdelikte" für die Fassung „Wer die Verletzung eines gesetzlichen Tatbestandes nicht verhindert" beziehungsweise „Wer einen gesetzlichen Tatbestand durch Unterlassen verwirklicht" ein 100 ; denn Erfolg der unechten Unterlassungsdelikte sei nicht nur das „Schlußstück" der tatbestandsmäßigen Kausalkette, sondern die Tatbestandserfüllung an sich, da sonst die unechten Unterlassungsdelikte zu Unrecht auf Erfolgsdelikte beschränkt würden 101 . In den mündlichen Beratungen sprach sich dann der Vertreter des Bundesjustizminsteriums für eine Beibehaltung des Erfolgsbegriffs aus, räumte aber ein, daß dieser durchaus auch im weiteren Sinn verstanden werden könne 102 . In der anschließenden Diskussion sowie den folgenden Sitzungen setzte sich dann aber die Auffassung durch 103 , daß aus logischen Gründen unechtes Unterlassen bei Tätigkeitsdelikten nicht in

97 BGHSt. 10, 320/322f; B G H , VRS 21, 206; Lackner, StGB, §316a Rdn.6; Schäfer, L K , 10. Aufl. 1978, §316 a Rdn.31ff mit Nachweisen. 98 Horn, SK-StGB, 4. Aufl. 1988, §316 a Rdn. 12; SchänkeISchröder!Cramer, StGB, § 3 1 6 a R d n . 11. 99 Niederschriften, Bd. 2 (Fn.37), Anh. S.159. 100 AaO, S. 151, 158. 101 Eh. Schmidt, aaO, S. 149, 152; Frankel, aaO, S. 155. 102 Schwalm, Niederschriften, B d . 2 (Fn.37), S.274. 103 Für ein weites Erfolgsverständnis lediglich Mezger, aaO, S. 274.

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Betracht komme 104 , zumindest aber nur sehr schwer vorstsellbar sei 105 . In der Begründung zu § 13 Ε 1962106 heißt es dann auch lapidar: „Tatbestände, die nur durch schlichtes Tätigwerden verwirklicht werden, sind daher durch Unterlassen grundsätzlich nicht begehbar" 107 . Im Verlauf der weiteren Reformbemühungen geriet die Problematik fast völlig in Vergessenheit: Der AE enthielt sich jeder Stellungnahme, und auch in den Beratungen zum 2. StrRG spielte sie keine Rolle mehr. Immerhin wies der Vertreter des Bundesjustizministeriums im Sonderausschuß Strafrecht darauf hin, daß der Begriff Erfolg nicht im engen Sinne der Verursachungsdelikte gemeint sei, sondern in einem weiten, also unter Einbeziehung schlichter Begehungstatbestände 108 . 4. Faßt man zusammen, so bleibt die betrübliche Erkenntnis, daß - wie in den meisten anderen Fällen ja auch - grammatikalische, systematische und historische Interpretation zu keinem eindeutigen Ergebnis führen. Man kommt daher nicht um die Frage herum, ob ein enges oder weites Verständnis des Erfolgsbegriffs sinnvollere Lösungen zeitigt: Soweit sich die Vertreter der ersteren Auffassung auf mangelnde Leistungsfähigkeit eines weiten Erfolgsbegriffs berufen 109 , mag das zwar für manche systematischen Zusammenhänge zutreffen. Ob dies aber gerade auch für die Auslegung des § 13 StGB zu gelten hat, ist eine Frage, die erst noch beantwortet werden muß 110 . Und wenn darüber hinaus darauf hingewiesen wird, daß die Begehung schlichter Tätigkeitsdelikte durch Unterlassen nur schwer vorstellbar sei111, so ist das allein kein hinreichender Grund, sie aus dem Anwendungsbereich des § 13 StGB auszuschließen: Zwar wird es sich der Gesetzgeber gut überlegen müssen, ob er Verhaltensweisen ohne praktische Relevanz pönalisieren soll oder nicht; ist aber wie hier die Strafbarkeit grundsätzlich eröffnet, besteht keinerlei Anlaß, seltene Fallgruppen wieder aus ihr herauszuneh-

104 Bockelmann, aaO, S.277 und Niederschriften, Bd. 12 (Fn.37), S.478 Fn.9; Gallas, Niederschriften, Bd. 12, S. 80; Koffka, Niederschriften, Bd. 12, S.445. 105 Jescheck, Niederschriften, Bd. 2, S.276f. 106 S. 126. 107 Anders verstand noch die Begr. zu § 13 Ε 1956 den Erfolg als „das im Tatbestand umschriebene Tatgeschehen schlechthin" (S.21). 108 Sturm, Protokolle über die Sitzungen des Sonderausschusses für die Strafrechtsreform in der 5. Wahlperiode, 1968, S. 1864. 105 So Degener, ZStW 103 (1991), 357/360 f; Nitze (Fn. 16), S. 127. Vgl. demgegenüber Horn, Konkrete Gefährdungsdelikte, 1973, S. 8 f; Sommer, Das fehlende Erfolgsunrecht, 1987, S. 124 f. 110 Der Zirkelschluß zeigt sich bei Nitze, wenn er die Untauglichkeit des weiten Erfolgsbegriffs mit der „sachwidrigen Ausweitung der Unterlassungsstrafbarkeit auf praktisch alle im Gesetz geschilderten Handlungsdelikte" begründet (aaO). Vgl. Fn. 105.

Zur Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte

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men, sofern deren Strafwürdigkeit außer Frage steht. Diese beurteilt sich im Rahmen des § 13 S t G B vor allem nach der Gleichwertigkeitsklausel, die, wie wir schon 112 gesehen haben, unter Umständen auch bei Tätigkeitsdelikten zu bejahen sein wird. Wesentlich gewichtiger erscheint mir da schon der Einwand, die weite Auslegung führe zur Auflösung der Tatbestände des Besonderen Teils 113 , doch würden diese Bedenken auch hinsichtlich der verhaltensgebundenen Erfolgsdelikte gelten 114 , die doch nach Auffassung der Vertreter eines engen Erfolgsbegriffs den einzigen Anwendungsbereich für die Gleichwertigkeitsklausel darstellen 115 . Soll diese nicht völlig überflüssig sein, muß man die Möglichkeit anerkennen, hier wie dort mit ihrer Hilfe ausufernde Tendenzen in der Rechtsprechung der Instanzgerichte in die Schranken verweisen zu können. Im übrigen aber sollte die Möglichkeit einer Unterlassungsstrafbarkeit nicht a limine verwehrt werden. Wenn nämlich der Gesetzgeber den erforderlichen Rechtsgüterschutz nicht mehr durch ein Verletzungsoder konkretes Gefährdungsdelikt in ausreichendem Maße gewährleisten zu können meint und deshalb die Strafbarkeitsgrenze dadurch vorverlagert, daß er nur eine typischerweise gefährliche Tätigkeit beschreibt 116 , wäre es geradezu kontraproduktiv, sollte dies zu einer Strafbarkeitseinschränkung durch Fortfall der Unterlassungsstrafbarkeit führen 117 . Wenn aber ohne Kollision mit strafrechtlichen Prinzipien durch extensive Auslegung einer Vorschrift ein an sich wünschenswerter Rechtsgüterschutz erreicht werden kann - warum nicht?

V. Voraussetzung ist allerdings eine Realisierungsmöglichkeit, die generell von der jeweiligen Gesetzesfassung, im konkreten Einzelfall aber auch davon abhängt, ob - ausnahmsweise - eine Gleichwertigkeit des Unterlassens mit der gesetzlichen Handlungsumschreibung gegeben ist. Letzteres festzustellen ist eine Aufgabe des zur Entscheidung berufenen Gerichts, so daß insoweit nähere Ausführungen entbehrlich sind.

Oben III. 2. So namentlich Jescheck, Tröndle-Festschrift, S. 795/796 F n . 5 ; Steiner, MDR 1971, 260/261 f. 114 So konsequent Nitze (Fn. 16), S. 131 ff. 115 Vgl. Jescheck, LK, § 1 3 StGB Rdn.5. 1 , 6 Damit soll nicht eine Gleichsetzung von Tätigkeitsdelikt mit abstraktem Delikt zum Ausdruck gebracht werden; so aber Bindokat, NJW 1966, 1907; Geidies, NJW 1989, 821; dagegen Kopel (Fn.31), S.76ff. 117 Zutreffend Kopel (Fn. 31), S. 80. 112

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Jörg Tenckhoff

Was aber den ersten Punkt betrifft, so wäre eine eingehende Analyse der in Betracht kommenden Straf- und Bußgeldvorschriften erforderlich, die indes nur im Rahmen einer monographischen Aufarbeitung erbracht werden könnte. Ich möchte aber nicht versäumen, wenigstens den Prüfungsmaßstab kurz anzudeuten: Es muß, und insoweit stimme ich Kopelm voll zu, eine Intensivierung der im Tatbestand umschriebenen rechtsgutgefährdenden Situation noch möglich sein; es gilt auch hier die von Welpm in ähnlichem Zusammenhang geprägte Kurzformel „je länger - je schlimmer". Bei der Anwendung dieser Faustregel ist zweierlei zu beachten: Einmal genügt - schon im Hinblick auf die Gleichwertigkeitsklausel die bloße Fortdauer des mißbilligten Zustandes nicht120; vielmehr muß wie auch bei den Erfolgsdelikten - eine Verschlechterung der Situation drohen, die es abzuwehren gilt. So wird man beispielsweise im Steinerschen Tierhalterfall 121 ein Hetzen von Hunden durch Unterlassen dann bejahen können, wenn der Täter seinen Hund so lange darben läßt, bis das arme Tier, durch Hunger scharf geworden, die Hausgenossen anfällt. Neben dieser, auf dem Gebiete des Tatsächlichen liegenden, negativen Entwicklung muß auch unter normativen Gesichtspunkten noch eine reformatio in peius möglich sein, da die Anwendung des § 13 StGB sonst zu einer Pönalisierung unrechtsirrelevanten Verhaltens führen würde. Daher ist erforderlich, daß das Unrecht des fraglichen Tätigkeitsdeliktes sich nicht - wie etwa bei manchen Sexualdelikten - im bloßen Handlungsvollzug erschöpft; es muß vielmehr die Verhinderung eines außerhalb der Tathandlung liegenden negativ bewerteten Zustandes intendiert sein122, was insbesondere bei den abstrakten Gefährdungsdelikten zu bejahen sein wird. Selbst wenn man also eine Anwendbarkeit des § 13 StGB auf schlichte Tätigkeitsdelikte bejaht, bleibt die Orientierung des Strafrechts am Erfolgsunwert gewahrt - ein wesentliches Anliegen des verehrten Jubilars, dem dieser Beitrag mit den besten Wünschen gewidmet ist.

AaO, S. 82. Welp, Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung, 1968, S. 20. 120 Daher wird die Fortsetzung einer im Ausland wirksam geschlossenen Mehrehe eines Ausländers im Inland nicht von §§171, 13 StGB erfaßt; vgl. Dippel, LK, 10. Aufl. 1986, § 171 StGB Rdn. 13 mit weiteren Nachweisen. '2' Vgl. oben bei Fn. 59. 122 Zutreffend Sommer (Fn. 109), S. 128 ff. 118

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Bewußte Beteiligung, ungewollte Folgen HANS WALDER

I. Fall-Konstellationen und Problematik Man kann auf verschiedene Weise mit andern Folgenreiches tun, das Vorgehen anderer samt Folgen dulden oder mit dem Unterlassen anderer und gewissen Ereignissen in Verbindung gebracht werden. Strafrechtlich bedeutsam ist dies vor allem bei der Mittäterschaft, bei der Teilnahme und bei der Haftung für fahrlässige Folgen gemeinsamen Handelns (wobei vorerst offenbleibt, was hier „gemeinsames Handeln" bedeutet). Selbst bei voneinander ganz unabhängigen Verhaltensweisen kann die Beweisfrage, wer allein für ungewollte Folgen kausal gewesen sei, Personen zusammenbringen, mindestens prozessual, indem bei unklarer Täterschaft gegen alle ermittelt wird. Mittäterschaft und Teilnahme als ein Zusammenwirken mehrerer Personen sind in Lehre und Praxis sehr eingehend dargestellt worden 1 . Man weiß, wie der Mittäter, der Anstifter und der Gehilfe einer vorsätzlichen Körperverletzung oder eines anderen Erfolgsdeliktes strafrechtlich zu erfassen sind, auch bezüglich der Folgen, welche ein Beteiligter zwar nicht selber verursacht, aber in Kauf genommen hat und sich deshalb anrechnen lassen muß. Ahnliches gilt in bezug auf die mittelbare Täterschaft. Sodann kennt man bei unabhängig Handelnden die strikte Anwendung des Kausalitätsbeweises 2 . Wenn Α und B, die nichts miteinander zu tun haben, nacheinander mit ihren Personenkraftwagen dieselbe Strecke befahren haben und einer von ihnen den bereits am Boden liegenden, angetrunkenen C überfahren und getötet haben muß, so ist zu beweisen, ob es Α oder Β getan hat. Fehlen entsprechende Aussagen oder Spuren, so kann keiner der Genannten strafrechtlich verantwortlich gemacht werden.

1 C.Roxin, Täterschaft und Teilnahme, (5. Aufl.) Berlin 1990; R. D. Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, München 1977. 2 J. Wessels, Strafrecht, Allgem. Teil, 20. Aufl., Heidelberg 1990, S. 45 ff. H.-H. Jescheck, Lehrbuch des Strafrechts, Allgem. Teil, 4. Aufl., Berlin 1988, S. 250 ff; G. Stratenwerth, Schweizerisches Strafrecht, Allgem. Teil I, Bern 1982, S. 134.

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Hans Walder

Noch nicht eingehend erörtert sind jene Fälle, in denen wenigstens zwei Personen bewußt zusammen handeln und ungewollte Folgen eintreten, bei welchen der Kausalzusammenhang mindestens ζ. T. unklar ist und bei denen es (wie bei Unterlassungsdelikten) eine personenbezogene, natürliche Kausalität nicht gibt3. Zwar kennt man bei den erfolgsqualifizierten Delikten ein gemeinsames, vorsätzliches Verhalten mit fahrlässig verursachten Folgen, und man war sich einige Zeit nicht einig, ob sich eine Mittäterschaft oder eine Teilnahme auch auf die ungewollten Folgen beziehen könne. In der Bundesrepublik ist dann aber die Vorschrift geschaffen worden (§11 Abs. 2): „Vorsätzlich im Sinne dieses Gesetzes ist eine Tat auch dann, wenn sie einen gesetzlichen Tatbestand verwirklicht, der hinsichtlich der Handlung Vorsatz voraussetzt, hinsichtlich einer dadurch verursachten besonderen Folge jedoch Fahrlässigkeit ausreichen läßt"4. In den nachstehenden Fällen geht es aber nicht um die Beteiligung an erfolgsqualifizierten Straftaten, sondern um ein gemeinsames, bewußtes, nicht unbedingt deliktisches Verhalten und ungewollte, aber tatbestandsm'i&ige Folgen. Dabei mag der Kausalzusammenhang zwischen dem Tun der einen und den Folgen bestehen, bei anderen aber nicht oder nicht beweisbar sein, und es stellt sich die interessante Frage, inwieweit eine Rechtspflicht zum Eingreifen, etwa aus Ingerenz, eine fehlende oder unbeweisbare Kausalität zu ersetzen vermag. Zwei Angestellte einer landwirtschaftlichen Genossenschaft werfen bei Stallungen große Strohballen von einem hochgeladenen Lastwagen auf den Boden hinunter. Sie fassen jeweils je ein Ende des gleichen schweren Ballens und schwingen ihn über die Wagenkante hinaus. Ein in der Nähe spielendes Kind wird dabei unvorsätzlich verletzt. Sind beide Angestellte für die Verletzung kausal? Mehrere Polizeibeamte müssen eine Verhaftung an einem sich kräftig Wehrenden vollziehen. Sie ringen den Betroffenen zu Boden. Dabei bricht sich dieser, von den Beamten nicht gewollt, den Arm. Soll man den genauen Nachweis dafür verlangen, welcher Beamte mit welchem Tun für den Armbruch kausal gewesen sei? Ein Hotel-Gerant (Geschäftsführer) weist zwei etwas unerfahrene Angestellte an, die Hotel-Terrasse von Schnee und Eis zu befreien.

Siehe aber C. Roxin, Anm. 1, S. 469 ff; R. D. Herzberg, Anm. 1, S. 72 ff. Auch bei erfolgsqualifizierten Straftaten im Sinne von § 11 Abs. II StGB ist Teilnahme möglich, trotz der fahrlässig verursachten Folge. Strafgesetzbuch und Nebengesetze, erläutert und fortgeführt von E.Dreher bzw. H. Tröndle, 45. Aufl., München 1991, § 1 1 Rdn.38. 3 4

Bewußte Beteiligung, ungewollte Folgen

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Vorsichtsmaßnahmen trifft er keine und befiehlt auch keine solchen. Vielmehr zieht er sich, ohne die Untergebenen zu kontrollieren, sofort wieder zurück. Die beiden Angestellten schaufeln nun Schnee und Eis auf den Vorplatz hinunter, den sie nicht vollständig überblicken können. Eine Person wird getroffen und verletzt. War der Gerant für die genannte Folge ursächlich? Er hat ja die beiden Schaufler zu ihrem Tun veranlaßt. U n d wie steht es mit den Angestellten? Man weiß nicht, wessen Wurf für die Körperverletzung kausal war. Zwei Dachdecker, Α und B, in einer Unternehmung zusammengeschlossen, decken auftragsgemäß und arbeitsteilig ein fremdes Hausdach ab, wobei sie, jeder allein, defekte Ziegel über den Dachrand auf den nicht voll überblickbaren Vorplatz des Hauses hinunterwerfen, ohne Vorsichtsmaßnahmen ergriffen zu haben. Ein Passant wird verletzt. Doch ist unbekannt, ob dies durch einen Wurf von Α oder Β geschehen sei. Ist deshalb eine strafrechtliche Verurteilung unmöglich? Das Schweizerische Bundesgericht hatte folgenden Fall zu entscheiden: Auf einer Fahrt bemerkten Α und Β auf der Straße am rechten Tössufer zwei große Steinbrocken, welche sie auf Anregung von Α den dortigen Abhang bzw. über einen überhängenden Felsen hinunterzurollen beabsichtigten. Die örtlichen Verhältnisse waren ihnen bestens bekannt. Insbesondere wußten sie auch, daß sich in jenem Bereich am Tössufer öfters Leute - vorwiegend Fischer — aufhielten, und es war ihnen bewußt, daß mit den großen Steinen eine Person, die sich zufällig im Gefahrenbereich aufhält, getroffen werden könnte. Β ging daher auf Vorschlag von Α ein paar Schritte nach vorn gegen den Abgrund, um zu klären, ob sich jemand unten am Abhang bzw. im Bereich des Tössufers aufhalte. Dabei rief er einmal laut, ob jemand unten sei. Er konnte allerdings von seinem Standort aus das rechte Tössufer nicht einsehen. Nachdem auf das Rufen niemand geantwortet hatte, kehre Β zu A zurück, behändigte den großen, über 100 kg schweren Stein und ließ ihn den Abhang hinunterrollen. Unmittelbar nachher rollte Α den kleineren, ca. 52 kg schweren Stein hinunter. Es steht fest, daß der unter dem Abhang befindliche Fischer C von einem der beiden Steine tödlich getroffen wurde, jedoch konnte nicht geklärt werden, von welchem der beiden. Das Bundesgericht hielt Α und Β der fahrlässigen Tötung für schuldig, wobei es u. a. wie folgt argumentierte: „Vorliegendenfalls steht fest, daß beide Angeklagten gemeinsam die beiden Steine den Abhang hinunterrollen lassen wollten." U n d weiter: „Bei einer derartigen Konstellation ist nicht danach zu fragen, ob der jeweilige Einzelbeitrag für den tatbestandsmäßigen Erfolg kausal geworden ist, sondern ob die Kausalität zwischen der gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung und dem

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Hans Wälder

eingetretenen Erfolg zu bejahen ist" 5 . Diese Begründung hat dem Bundesgericht einigen Widerspruch eingetragen, wobei die Kritiker an sich zutreffend erklärten, strafrechtliche Verantwortlichkeit dürfe nur aufgrund einer gesetzlichen Bestimmung ausgedehnt werden; im Vorsatzbereich gebe es zwar eine Mittäterschaft, nicht aber bei Fahrlässigkeiten. Die Kritiker prüften nicht, ob allenfalls ein anderer, gesetzlicher oder wenigstens anerkannter Ausdehnungsgrund der Strafbarkeit gegeben sei. II. Strafrechtliche Würdigung der Fälle Immer dann, wenn zwischen dem Tun eines Beteiligten und den tatbestandsmäßigen Folgen ein natürlicher Kausalzusammenhang 6 besteht und sich beweisen läßt, kann man eine erste, vorläufige Zurechnung für die (voraussehbaren) Folgen herstellen. Gibt es keinen Kausalzusammenhang oder läßt er sich nicht beweisen, dann scheitert man vorerst auf diesem Weg. Allein, Kausalität ist nicht der einzige Zurechnungsgrund im Strafrecht. Eine der wichtigsten weiteren Zurechnungsmöglichkeiten ist die Garantenbeziehung einer Person zu bestimmten Ereignissen, wie man sie bei den unechten Unterlassungsdelikten kennt 7 . Man pflegt zwar auch diese auf eine Kausalbeziehung abzustützen, indem man erklärt, eine solche sei gegeben, wenn beim Hinzudenken der unterlassenen Handlung der Erfolg entfiele, sonst nicht 8 . Eine Kausalbetrachtung ist an dieser Stelle des Lösungsweges aber (noch) nicht nötig. Maßgebend ist vorerst allein das, was man mit „Garantenstellung" bezeichnet. Sie bringt den Täter und seine Passivität mit einem bestimmten

5 BGE 113 IV 58. Dazu die Urteilsanmerkung „The Rolling Stones" in „recht", Bern 1989, S. 56 ff. 6 W e r in diesem Zusammenhang und im folgenden die Begriffe „Kausalzusammenhang", „ursächlich" usw. durch die modernere Formel ersetzen möchte, die Gefahr habe in den entsprechenden Erfolg umgeschlagen, darf dies tun. 7 H. Schultz, Einführung in den Allgemeinen Teil des Strafrechts. Erster Band, Bern 1982, S. 1 2 7 f f ; P. Noll/S. Trecbsel, Schweizerisches Strafrecht, Allgem. Teil I, Zürich 1986, S. 202 f f ; G. Stratenwertb, Fn.2, S. 170 ff; R. Häuser/]. Rebberg, Grundriß Strafrecht I, Zürich 1988, S. 181 ff; E.Dreher/H.Tröndle, Fn.3, R d n . 4 f f ; H.-H. Jescheck, Fn.2, S.561 ff; H.-J. Rudolphi/E.Horn/E.Samson, Systemat. Kommentar zum Strafgesetzbuch, Frankfurt a.M. 1988, vor § 1 3 Rdn. 1 ff; G.Jakobs, Strafrecht, Allgem. Teil, Berlin 1983, S . 6 4 5 f f ; O.Ranft, Rechtsprechungsbericht zu den Unterlassungsdelikten, Juristenzeitung 1987, S. 859 ff und 908 ff. 8 G. Spendel in seiner scharfsinnigen Analyse eines Unterlassungsfalles, „Zur Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte", Juristenzeitung 1973, S. 137 ff, die mich so beeindruckte, daß ich den Verfasser persönlich kennenlernen wollte; ich fand in ihm einen geschätzten Kollegen und Freund. Er wird mir verzeihen, wenn ich von einer etwas anderen Struktur des unechten Unterlassungsdeliktes ausgehe.

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Geschehen und den Folgen von Rechts wegen in Verbindung9. Zwischen Eltern und Kindern bestehen solche Beziehungen, zwischen Polizeibeamten und strafbarem Geschehen, zwischen Personen, die besondere Gefahren schaffen, und den tatbestandsmäßigen Folgen daraus, usw. Es kann sich um Beschützer- oder um Überwacherpflichten handeln10. Kein Garant der umschriebenen Art darf sagen, das in Frage stehende Geschehen gehe ihn nichts an, er brauche daher nichts zu unternehmen und lasse den Dingen ihren Lauf. Das Geschehen geht ihn von Rechts wegen etwas an. Man würde daher die Garantenstellung besser „Garantenbeziehung" nennen, denn sie ist nicht nur Stellung, sondern Beziehung zu bestimmtem Geschehen. Kausalitätsbetrachtungen greifen später ein, nämlich dann, wenn man zu prüfen hat, ob ein bestimmtes, pflichtgemäßes Tun des Täters tatsächlich geholfen, den Erfolg also (wahrscheinlich oder höchstwahrscheinlich) vereitelt hätte. An die Stelle einer Kausalbeziehung des Begehungstäters tritt u. U. eine Garantenbeziehung des Unterlassenden. Er soll als Garant eingreifen und bestimmte Folgen vereiteln. Wenn daher bei Prüfung der objektiven Zurechnung zwischen dem Tun einer Person und bestimmten Folgen ein Kausalzusammenhang fehlt oder nicht beweisbar ist, muß man ein mögliches Unterlassungsdelikt erwägen. Allerdings gibt es auch Vorgänge, in denen die Kausalität zwischen dem Tun der einen und dem Erfolg wohl „gespielt" hat, bei den andern jedoch nicht. Diese „andern", Passiven, müssen aber vielleicht als Garanten Verantwortung tragen. Wie wirken sich diese Überlegungen auf die eingangs genannten Fälle aus? Bei den beiden Autofahrern, welche unabhängig voneinander und nacheinander eine bestimmte Strecke befahren haben, wobei C getötet wurde, ist klar: Wenn weder Α noch Β ein für den Tod des C ursächliches Verhalten nachgewiesen werden kann, bleiben die beiden Automobilisten, wie ausgeführt, straffrei, denn auch eine wirksame Garantenbeziehung fehlt zwischen Α, Β und C, wie vorausgesetzt sei. Die zwei Angestellten, welche hochaufgeschichtete Strohballen „miteinander", d.h. beide jeweils den gleichen Strohballen fassend, vom Lastwagen hinuntergeworfen und jemanden verletzt haben, können unter dem Gesichtspunkt kausaler Körperverletzung grundsätzlich verantwortlich gemacht werden. Jeder Wurf, auch der verhängnisvolle, wurde von beiden zusammen getan. Jeder setzte Mitursachen zur Verletzungsfolge.

9 G.Arzt, Zur Garantenstellung beim unechten Unterlassungsdelikt, J A 1980, S.553; H. Walder, Die Kausalität im Strafrecht, Schweiz. ZStrR 1977, S. 152 ff. 10 E.Dreher/H.Tröndle, Fn.3, Rdn. 5 b / c ; K. Lackner, Strafgesetzbuch mit Erläuterungen, 13. Aufl., München 1991, §13, Rdn. 12.

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Die Polizeibeamten, welche beim Vollzug der Verhaftung einen Widerspenstigen zu Boden ringen mußten, waren ebenfalls „gemeinsam ursächlich" für die Verletzung des Häftlings. Jeder der Beamten war es als Mitverursacher. Im Fall der Schnee- und Eisschaufler war der Hotel-Gerant durch seine Anweisung an beide Angestellten für deren Verhalten kausal, und damit auch für eine der Folgen der Schaufelwürfe, für die Verletzung einer Person. Wie steht es aber mit den beiden Angestellten? Man weiß nicht, welcher von beiden für die Verletzung ursächlich war. In bezug auf den Vorgesetzten spielt es keine Rolle, wer den verhängnisvollen Wurf getan hat; der Gerant hat beide Angestellten veranlaßt und war daher so oder so kausal. Wie steht es aber mit den Schauflern? Gehen beide straffrei aus? Ein solches Ergebnis wird man in der Praxis bei gleichen oder ähnlichen Fällen durchaus finden können. Man begnügt sich mit dem einen, dem man die Tat beweisen und den man bestrafen kann. Bejaht man aber eine Rechtspflicht der Schaufler zu Sicherheitsmaßnahmen in bezug auf Personen, welche sich in der Gefahrenzone ihrer Schnee- und Eiswürfe aufhielten oder diese Zone durchquerten, so liegen die Dinge anders. Der Nachweis, wer von beiden Angestellten kausal gewesen sei, ist nicht mehr nötig. Beide hatten dann nach Übernahme der gemeinsamen, arbeitsteiligen und nicht ungefährlichen Aufgabe für eine Absperrung oder dgl. zu sorgen. Ob sie allerdings nach dem Verhalten ihres Vorgesetzten schuldig gesprochen werden können, muß in Anbetracht der wenigen Angaben im Sachverhalt offenbleiben. Grundsätzlich ist aber nicht nur der anordnende Vorgesetzte zu Sicherheitsmaßnahmen verpflichtet; auch die Untergebenen sind es, soweit ihnen das zugemutet werden darf. Den beiden Dachdeckern ist keine „gemeinsame" Kausalität nachzuweisen, nachdem jeder immer nur die von ihm behändigten, defekten Ziegel allein hinuntergeworfen hat. Man ist auch außerstande zu sagen, Α habe die Verletzung des C verursacht; es könnte ebensogut Β gewesen sein. Beide, Α und B, waren indessen verpflichtet, in Anbetracht der Gefährlichkeit von Teilen der gemeinsam übernommenen Aufgabe, Vorsichtsmaßnahmen zu treffen, jeder für sich und für den andern. Es gibt u. U. im betreffenden Rechtskreis sogar Vorschriften, welche Vorsichtsmaßnahmen bei solchen Arbeiten zu ergreifen seien. Hätte nur einer das Dach abgedeckt, so wäre der Kausalzusammenhang zwischen seinem Tun und der Verletzungsfolge evident, und man würde ihm ein gefährliches Verhalten, vor allem ein „Unterlassen" 11 von Vorsichtsmaß-

11 G. Spendet, Zur Unterscheidung von Tun und Unterlassen, FS Eb. Schmidt, Göttingen 1971, S. 193.

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nahmen (bei einem Tun) zur Last legen, u. U. auch einen Verstoß gegen Rechtsregeln für solche Arbeiten. Warum sollte die gleiche „Unterlassung" (auch ohne besondere Regeln) als Grundlage einer Ingerenz nicht genügen, wenn zwei oder mehr Personen gemeinsam die risikoreiche Aufgabe erfüllen, eine bestimmte, personenbezogene natürliche Kausalität aber nicht nachweisbar ist? Der Fall der „rollenden Steine" ist zwar vom Bundesgericht richtig entschieden worden, doch vermag die gegebene Begründung nicht zu überzeugen. Der vom Gericht verwendete Ausdruck der „gemeinsam vorgenommenen Gesamthandlung" und die angebliche Kausalität zwischen dieser Gesamthandlung und der Todesfolge verdecken die bei fahrlässigen Begehungsdelikten mit mehreren Beteiligten notwendige Prüfung, ob und inwieweit das Tun eines jeden für den Erfolg ursächlich gewesen sei. Vorerst könnte man allerdings erwägen: Ist Α nicht so oder so kausal geworden? Er hat Β dazu angeregt, einen Stein über den Abhang hinunterzurollen, wobei er in der Folge den anderen Stein selber und allein in Bewegung setzte. Entweder hat dann Α mit seinem Stein den Fischer getroffen oder B. Dabei würde Α in jedem Fall verantwortlich, denn er hat entweder mit seinem Stein den Fischer getötet oder Β zu dessen Tun mit Todesfolge veranlaßt. Β bliebe jedoch, was unbefriedigend ist, straflos, weil man nicht sicher sagen kann, sein Stein habe den Tod verursacht. Allein, es ist zweifelhaft, ob ein Gericht die bloße „Anregung" eines Kollegen als hinreichende Kausalität ansehen würde. Man kennt „Gefahrengemeinschaften", welche bei Bedrohungen von außen Garantenstellungen für die Gemeinschaftsmitglieder, also Beschützerpflichten begründen. Es gibt aber auch „gefährliche Gemeinschaften", welche Überwachungspflichten auslösen, um Risiken zu begegnen, die im Rahmen einer konkreten, gefährlichen Zielsetzung der betreffenden Gemeinschaft von einzelnen Mitgliedern ausgehen. Mit Recht erklärt H. Otto12, wer den jedermann rechtlich eingeräumten Verhaltensspielraum dadurch erweitere, daß er Gefahren für Rechtsgüter anderer begründe, wobei dann die betreffenden Güter unmittelbar verletzt würden, hafte prinzipiell als Garant, wegen seines gefährlichen Vorverhaltens, d. h. aus Ingerenz. Dieser Grundsatz gilt natürlich auch dann, wenn mehrere Personen zusammen den erwähnten Spielraum gefährlich erweitern. Α und Β sind übereingekommen, daß jeder je einen Steinbrocken auf gefährliche Weise über den Abhang hinunterrolle. Zwar hat A dies angeregt. Der riskante Entschluß ist aber schließlich von beiden gefaßt

12

H. Otto, Grundriß Strafrecht, Allgem. Strafrechtslehre, 3. Aufl., Berlin 1988, S. 192.

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Hans Walder

worden. Α und Β bestärkten sich so gegenseitig. Indem sie ihr Vorhaben arbeitsteilig in die Tat umsetzten, schufen sie eine Gefahr für das Rechtsgut eines andern, eine Gefahr, die dann (modern ausgedrückt) unmittelbar in einen tatbestandlichen Erfolg umschlug. Welcher Stein nach diesem Vorverhalten getroffen hat, spielt keine Rolle, denn jeder hatte für wirksame Vorsichtsmaßnahmen zu sorgen, jeder auch für das Vorgehen des andern. Da es jedoch unter den gegebenen Umständen kaum eine wirksame Vorsichtsmaßnahme gab, hätten Α und Β auf ihr Vorhaben verzichten müssen. Personengebundene Kausalität und Garantenbeziehung können miteinander verknüpft sein, besonders bei mehreren Beteiligten. Die einen Täter mögen kausal gehandelt haben, die andern in Form der unechten Unterlassung verantwortlich sein. Zu Unrecht werden die Unterlassenden mitunter nicht verfolgt, weil man einen kausal wirkenden Täter überführen kann (Fall des Hotel-Geranten und der Schaufler). Gibt es bei einem Erfolgsdelikt keine personengebundene Kausalität oder ist sie nicht nachweisbar, so ist zu prüfen, ob allenfalls eine Garantenbeziehung bestanden habe. Sie kann u. U. an die Stelle der fehlenden oder unbeweisbaren, personengebundenen natürlichen Kausalität treten (Fall der Dachdecker und der rollenden Steine).

Einwände gegen die Lehre von der Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung im Betäubungsmittelstrafrecht ULRICH W E B E R

I.

1. Günter Spendel, mit dem mich eine nahezu zehn Jahre währende kollegiale und freundschaftliche Zusammenarbeit an der Würzburger Juristenfakultät verbindet und dem ich für zahlreiche außerordentlich anregende strafrechtliche Gespräche zu danken habe, hat sich im Jahre 1974 in der ihm eigenen klaren und unmißverständlichen Diktion zur fahrlässigen Teilnahme an Selbst- und Fremdtötung geäußert1. Anlaß seiner Überlegungen war die Entscheidung BGHSt.lA, 342 aus dem Jahre 1972, deren Sachverhalt Spendel aus gebotenen didaktischen Gründen wie folgt vereinfacht hat: Ein Polizeibeamter suchte mit einer Frau, zu der er in engen Beziehungen stand, eine Gastwirtschaft auf. Obwohl ihm bekannt war, daß die Frau nach Alkoholgenuß Selbsttötungsabsichten zu fassen pflegte, legte er nach dem Gaststättenbesuch, wie es bei Antritt einer Autofahrt seine Gewohnheit war, seine geladene Pistole auf dem Armaturenbrett seines Kraftwagens ab. Während einer Fahrtpause ergriff die im Wagen mitgenommene Frau unbemerkt die Waffe und erschoß sich.

Der Bundesgerichtshof hat eine Strafbarkeit des Polizeibeamten wegen fahrlässiger Tötung (§222 StGB) verneint - ein Ergebnis, das Zustimmung verdient2 und das auch Spendel billigt. Aus der von Spendell für die Straflosigkeit des Polizeibeamten gegebenen, auch die ältere Literatur - wie bei ihm gewohnt - sorgfältig verwertenden, Begründung sei folgendes hervorgehoben3: - Der extensive Täterbegriff und der strafrechtliche Ursachenbegriff (Aquivalenztheorie) bilden unzweifelhaft sichere Ausgangspunkte für die Täter- und Teilnahmelehre.

So der Titel des Aufsatzes in JuS 1974, 749 ff. S. Arzt/Weber, Strafrecht Bes. Teil, Lehrheft 1, 3. Aufl. 1988, Rdn.212; Baumann/Arzt/Weber, Strafrechtsfälle und Lösungen, 6. Aufl. 1986, Fall 9. 3 Die folgende Wiedergabe ist beschränkt auf die Argumentation Spendeis zur Teilnahme an der vorsätzlichen Selbsttötung. Auf seine — ebenfalls Zustimmung verdienenden - Ausführungen zur fahrlässigen Teilnahme an vorsätzlicher Fremdtötung kann hier nicht eingegangen werden. 1

2

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Ulrich Weber

- Bei fahrlässigem Verhalten, das die vorsätzliche Selbsttötung eines anderen veranlaßt oder fördert, ist allerdings eine Einschränkung des extensiven Täterbegriffs und damit der Strafbarkeit angezeigt. - Eine solche Begrenzung ist jedoch mit den Lehren von der Unterbrechung des Kausalzusammenhangs, vom Regreßverbot und vom Schutzzweck der Norm nicht erreichbar. - Sie ergibt sich vielmehr aus der allgemeinen Täter- und Teilnahmeregelung des Gesetzes, die eine Wertung dahingehend enthält, daß die - begrifflich mögliche fahrlässige Beihilfe oder Anstiftung 4 nicht strafbar sein soll. - Diese gesetzgeberische Entscheidung darf nicht dadurch unterlaufen werden, daß fahrlässige Teilnahme in fahrlässige Täterschaft umgedeutet wird. - Dieses Ergebnis ist auch kriminalpolitisch vertretbar und angemessen. „Ist ein tatbestandsmäßiger Erfolg durch einen wissentlich und willentlich Handelnden verursacht worden, dann trifft ihn als den Tätlichsten und Vorsatztäter die Hauptverantwortung so sehr, daß das Recht sich damit begnügen kann, ihm die Alleinverantwortung aufzubürden und nicht auch noch auf den fahrlässig Ersthandelnden, der eine Vor- oder Mitbedingung gesetzt hat, zurückzugreifen" 5 .

2. Die vorstehend wiedergegebenen Überlegungen Spendeis, die weitgehende Zustimmung verdienen, beschränken sich zwar auf den der Entscheidung BGHSt. 24, 342 zugrunde liegenden Fall der fahrlässigen Veranlassung oder Förderung einer vom Suizidenten vorsätzlich und selbstverantwortlich ausgeführten Selbsttötung. Gleichwohl, ja gerade wegen ihres pointierten Zuschnitts auf den vom Lebensmüden vorsätzlich herbeigeführten Todeserfolg, können sie auch beitragen zur Bewältigung der seit der Entscheidung BGHSt. 32, 262 aus dem Jahre 1984 besonders lebhaft diskutierten Problematik der Fahrlässigkeitshaftung desjenigen, dessen pflichtwidriges Verhalten mitursächlich geworden ist für den Tod eines anderen, der diesen Erfolg - anders als der Selbstmörder - nicht gewollt, aber immerhin für möglich gehalten hat, also bewußt ein Risiko für sein Leben eingegangen ist. Ich habe derartige Fallgestaltungen in der gleichfalls in diesen Tagen erscheinenden Festschrift für Jürgen Baumann behandelt unter dem Titel „Objektive Grenzen der strafbefreienden Einwilligung in Lebensund Gesundheitsgefährdungen". Die Konstellationen sind dadurch gekennzeichnet, daß der Träger eines Rechtsguts, der Rechtsgutsinhaber R, in Kenntnis der daraus seiner Gesundheit oder seinem Leben erwach4 Daß der Gesetzgeber nicht gehindert wäre, auch sie unter Strafe zu stellen, belegt Spendet (JuS 1974, 752/753) mit dem zutreffenden Hinweis auf das SchriftwerkeG von 1870, einen Vorläufer des heutigen Urheberrechtsgesetzes, in dessen § 2 0 u. a. die fahrlässige Veranlassung eines anderen zur Veranstaltung eines Nachdruckes pönalisiert war. S. dazu näher auch U. Weber, Der strafrechtliche Schutz des Urheberrechts, 1976, S. 305 ff mit Anführung von einschlägigen Fallgestaltungen der Urheberrechtsverletzung. 5 Dieser Satz bezieht sich zwar in seinem Wortlaut auf die fahrlässige Mitverursachung des Todes eines Menschen, der von einem anderen vorsätzlich getötet wird. Aus dem Gesamtzusammenhang der Spendeischen Ausführungen ergibt sich aber, daß sich die Aussage auch auf die fahrlässige Mitverursachung eines vollverantwortlich unternommenen Suizids erstreckt.

Einwände gegen Beteiligung an eigenverantwortlicher Selbstgefährdung

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senden Gefahr mit der Vornahme riskanter Handlungen eines anderen einverstanden ist, allerdings in der Erwartung, die Gefahr werde sich nicht verwirklichen. Erfüllt sich diese Hoffnung nicht, sondern wird das aufs Spiel gesetzte Rechtsgut tatsächlich verletzt, im schlimmsten Falle der R getötet, so stellt sich die Frage nach der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Gefahr(mit-)verursachers G nach dem jeweiligen Verletzungstatbestand, z . B . §222 StGB, wenn G den eingetretenen Erfolg ebenfalls nicht gewollt, aber das Risiko in gleicher Weise wie R erkannt, also hinsichtlich des Erfolgseintritts bewußt fahrlässig gehandelt hat. Praktische Beispiele bilden - neben dem berühmten, vom Reichsgericht im Jahre 1923 entschiedenen Memel-Fall6 - riskante Verhaltensweisen im Straßenverkehr (R vertraut sich als Mitfahrer dem fahruntüchtigen Lenker G des Kraftfahrzeugs an, obwohl er das mit der Beförderung verbundene Unfallrisiko voll erfaßt) sowie, wie BGHSt. 32, 262 und weitere einschlägige Entscheidungen zeigen7, der gesundheits- und lebensgefährliche Rauschgiftkonsum des R, den G durch die Überlassung von Betäubungsmitteln oder, wie im Fall BGHSt. 32, 262, die Besorgung von Einwegspritzen ermöglicht hat. 3. In meinem Beitrag zur Baumann-Festschrift bin ich zu dem Ergebnis gelangt, daß jedenfalls in den Betäubungsmittelfällen, auf welche die vorliegende Untersuchung beschränkt werden muß, die Einwilligung des Konsumenten R in das mit dem Drogengenuß verbundene Risiko den die Gefahr mitverursachenden G, der Drogen oder Spritzbesteck liefert, nicht von der Strafbarkeit wegen fahrlässiger Körperverletzung oder Tötung befreien kann, wenn sich das Risiko dergestalt verwirklicht, daß R greifbare Gesundheitsschäden erleidet oder gar stirbt. Denn zum einen stehen die strafbewehrten Verbote des §29 Abs. 1 Nrn. 1,3 und 6 b B t M G einer wirksamen Disposition des R über seine Gesundheit und sein Leben entgegen, weil diese Vorschriften auch, ja sogar in erster Linie, die Volksgesundheit schützen und R über dieses überindividuelle Rechtsgut nicht verfügen kann. Zum anderen kann kein Zweifel daran bestehen, daß das die Suchtbefriedigung des R ermöglichende oder fördernde Verhalten des G gegen die guten Sitten verstößt, so daß sich die Unbeachtlichkeit der Einwilligung des R in das Risiko sowie die Rechtswidrigkeit der fahrlässig herbeigeführten Rechtsgutsverletzung (§§ 230,222 StGB) auch aus § 226 a StGB ergeben. Strafbarkeit des G nach den genannten Vorschriften ist demnach dann unausweichlich, wenn für ihn von einer täterschaftlichen Deliktsverwirklichung auszugehen ist.

RGSt. 57, 172. Vgl. ζ. B. BGH NStZ 1981, 350 = NJW 1981, 2015; BGH NStZ 1983, 72 = StV 1983, 148; BGH JZ 1991, 571 m.Anm. von Rudolphi; BayObLG StV 1982, 73. 6

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Gerade auch für den Fall BGHSt. 32, 262 mußte ich allerdings in dem erwähnten Festschriftbeitrag die Frage ausklammern, ob die Strafbarkeit des die Gefahr und den eingetretenen Erfolg mitverursachenden G daran scheitern kann, daß sein Tatbeitrag nicht täterschaftlicher Natur ist, sondern nur als straflose, fahrlässig geleistete Beihilfe zu werten ist, daß es sich m. a. W. lediglich um die Veranlassung, Ermöglichung oder Förderung einer eigenverantwortlich gewollten und verwirklichten Selbstgefährdung des Rechtsgutsträgers R handelt, die nach Auffassung des Bundesgerichtshofes8 nicht zur Strafbarkeit des G wegen eines Körperverletzungs- oder Tötungsdelikts führen kann. Diese Frage soll im folgenden behandelt werden. II.

1. Zunächst ist in Ubereinstimmung mit der oben wiedergegebenen Auffassung Spendeis9 festzuhalten, daß eine täterschaftliche Verantwortlichkeit des G nicht am fehlenden objektiven Zurechnungszusammenhang scheitern kann. Es ist unbestreitbar, daß sich das von G mitveranlaßte Risiko auf den Erfolgseintritt ausgewirkt hat. Wie ich in der Baumann-Festschrift' 0 in Auseinandersetzung mit Otto11 näher ausgeführt habe, ist diese Risikoverwirklichung dem G gerade in den Rauschgiftfällen auch deshalb zuzurechnen, weil die oben I 3 genannten Vorschriften des Betäubungsmittelgesetzes einer Verlagerung des Risikos aus dem Verantwortungsbereich des G in den des R zwingend entgegenstehen. Dies ergibt sich bereits aus der Memel-Entscheidung RGSt. 57, 172, wonach eine Befreiung des G von seiner Sorgfaltspflicht kraft Risikoübernahme seitens des R nur dann möglich ist, wenn die Freistellung keinem rechtlichen Verbot zuwiderläuft. 2. Auch Roxin geht12 davon aus, daß es in den Fällen tödlich verlaufenden Rauschgiftkonsums nicht an der Verwirklichung einer unerlaubten Gefahr fehlt; er meint aber, der Schutzzweck 13 der §§230, 222 StGB schließe bei der Mitwirkung an einer vorsätzlichen und verantwortlichen 8

BGHSt. 32, 262. JuS 1974, 749 (755). 10 Unter III 3. 11 Otto, Eigenverantwortliche Selbstschädigung und -gefährdung sowie einverständliche Fremdschädigung und -gefährdung, in: Festschrift für Tröndle, 1989, S. 157 ff; vgl. weiter: Kausaldiagnose und Erfolgszurechnung im Strafrecht, in: Festschrift für Maurach, 1972, S. 91 (99); JuS 1974, 710; Jura 1984, 536; Jura 1991, 443; Grundkurs Strafrecht, Allgemeine Strafrechtslehre, 3. Aufl. 1988, § 6 II 3 b. 12 In seiner Anmerkung zu BGHSt. 32, 262 in NStZ 1984, 411. 13 Grundlegend dazu Roxin, Zum Schutzzweck der Norm bei fahrlässigen Delikten, in: Festschrift für Wilhelm Gallas, 1973, S.241 f. 9

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Selbstgefährdung schon die Zurechnung zum objektiven Tatbestand aus. Auch wenn man der Schutzzwecklehre - im Gegensatz zu Spendet nicht grundsätzlich kritisch gegenübersteht, spricht sie in den Betäubungsmittel-Fällen viel eher für als gegen eine Erfolgszurechnung. Denn wo anders sollte der Schutzzweck der Strafvorschriften des BtMG, Gesundheitsschäden mit unter Umständen tödlichen Folgen im Interesse der Volksgesundheit zu vermeiden, wirksam zur Geltung gebracht werden, wenn nicht in den Fällen, in denen sich der Verstoß gegen die Gefährdungsverbote in der Gesundheitsschädigung oder Tötung eines konkreten Opfers niederschlägt, dem die Rolle eines Repräsentanten des Rechtsguts „Volksgesundheit" zukommt? 3. Roxin vertritt denn auch in seiner Besprechung der Heroin-Entscheidung BGHSt. 32, 26212 die Schutzzwecklehre nicht rigoros, sondern verbindet sie - ebenso wie der Bundesgerichtshof in der besprochenen Entscheidung - mit Elementen der Teilnahmelehre dergestalt, daß er in Fällen einverständlicher /Vem2 Zu dieser Neufassung Dahlhoff, NJW 1991, 208 ff. 13 RGSt. 71, 53 f. i" BGHSt. 20, 150 ff.

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Tatbestandsverwirklichung, auf das § 22 StGB bewußt restriktiv abstellt, erst in dem Augenblick beginne, in dem sich der Transport der Grenze nähert 15 . Damit führt die grundsätzlich begrüßenswerte Einschränkung der Versuchsstrafbarkeit im heutigen Außenwirtschaftsstrafrecht praktisch zur Straflosigkeit, da nach der genannten Ansicht vor der Annäherung an die Grenze keine strafbare Handlung vorliegt und nach Überschreiten der Grenze faktisch kaum noch Aussicht besteht, den Täter zu ergreifen und die Tat unmittelbar nachzuweisen. Ich habe dieses Beispiel des Beginnes der Außenwirtschaftsstraftat keineswegs zufällig gewählt. Vielmehr erhellt damit zugleich, warum im Vermittlungsausschuß der erste Entwurf der Regierung und der Koalitionsparteien scheiterte: Wie schon angedeutet, bekämpfte die SPD ebenso wie der Länderantrag Nordrhein-Westfalens und des Saarlandes die Betrauung des Zollkriminalinstitutes mit polizeilichen bzw. nachrichtendienstlichen Aufgaben im Vorfeld konkreten Tatverdachtes. Das Argument, aus rechtsstaatlichen Gründen die bisherige Aufgabenverteilung zu wahren und insbesondere die Telefonüberwachung nur als strafprozessualen Eingriff durch die Staatsanwaltschaft zuzulassen, hat sicher Gewicht. Bei näherem Zusehen war dieses Argument aber überhaupt von Anfang an nur deshalb haltbar, weil der erste SPD-Entwurf eines Gesetzes zur Einschränkung von Rüstungsexporten 16 die bisherigen Ordnungswidrigkeiten (des § 33 A W G ) zu Verbrechen heraufstufen und damit die Vorbereitung solcher Taten über § 30 StGB strafbar stellen wollte. Der Entwurf der Regierungsparteien schlug dagegen im Regelfall eine Ausgestaltung als Vergehen vor, das nur in besonders schweren Fällen oder bei Verstößen gegen ein UNO-Embargo zum Verbrechen qualifiziert werden sollte; die Vorbereitung eines bloßen Vergehens aber ist nach allgemeinen Grundsätzen straflos. Mit anderen Worten suchte (und sucht) der Regierungsentwurf das Problem durch eine bedenkliche verfahrensrechtliche Lösung zu bewältigen, während der SPD-Entwurf das materielle Strafrecht drastisch verschärfen wollte; daß auch letzteres alles andere als unbedenklich war, zeigt schon die Heraufstufung eines „normalen" AWG-Verstoßes, z . B . die ungenehmigte Ausfuhr einer einzigen Schußwaffe (etwa durch eine Privatperson im grenzüberschreitenden Reiseverkehr!), von der bloßen Ordnungswidrigkeit zum gemeingefährlichen Verbrechen. Folgerichtig sieht der neue SPD-Entwurf nunmehr entsprechend dem Gesetzgebungsbeschluß des Bundes-

15 Vgl. nur Vogler, in: LK, 10. Aufl. 1985, § 2 2 Rdn.62; krit. aber Schänke/Schröder/ Eser, 24. Aufl. 1991, § 2 2 Rdn.41 und Tiedemann, Wirtschaftsstrafrecht und Wirtschaftskriminalität Bd. I, 1976, S. 220 (223). 16 BT-Drucks. 12/120.

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tages vom 2 2 . 3 . 1 9 9 1 1 7 grundsätzlich nur Vergehen vor, deren Vorbereitung aber in einem § 34 Abs. 5 A W G unter Strafe gestellt werden soll; zugleich soll das Zollkriminalinstitut als zentrales Zollfahndungsamt die Befugnis erhalten, bei konkretem Verdacht von „erheblichen" Straftaten nach § 34 A W G gegenüber der Staatsanwaltschaft die Überwachung des Fernmeldeverkehrs nach § 1 0 0 a S t P O „anzuregen". In jedem Fall kann nur die - wie auch immer gestaltete - Zulassung der Telefonüberwachung das künftige AWG-Strafrecht hinreichend effektiv machen und zugleich eine gewisse Unehrlichkeit beseitigen, die darin liegt, daß bei nationaler Ablehnung der Telefonüberwachung durchaus Strafverfahren durchgeführt wurden und werden, deren Anfangsverdacht aus internationalen Abhöraktionen ausländischer Dienste stammt, wie in der Bundesrepublik an der Tagesordnung 18 und auch in Japan (im Fall eines Tochterunternehmens von Toshiba) bekannt. Der neue Regierungsentwurf betont angesichts dieses Zustandes das Bedürfnis nach Prävention und sucht damit die Betrauung des Zollkriminalinstitutes mit Uberwachungsfunktionen zu begründen 19 . 2. Die niedrigen Sanktionen in den meisten früheren Verfahren haben den Tätern sowie ihren Unternehmen regelmäßig einen erheblichen Teil des deliktisch erzielten Umsatzes oder Gewinnes belassen und damit insgesamt das Ziel effektiver Prävention verfehlt. Daher erging bereits am 1 8 . 5 . 1 9 8 8 ein Auftrag des Rechtsausschusses des Deutschen Bundestages an die Bundesregierung, Vorschläge zur wirksamen Abschöpfung rechtswidrig erlangter Gewinne insbesondere im Bereich des Drogenhandels und der Wirtschaftskriminalität zu unterbreiten 20 . Die daraufhin vorgelegten Regierungsentwürfe zur Einführung einer - der historischen Vermögenskonfiskation vergleichbaren - Vermögensstrafe sowie zur Erweiterung der Verfallsvorschriften21 bezogen sich zunächst nur auf den Bereich der Drogenkriminalität. Erst auf Anregung des Bundesrates 22 kündigte die Bundesregierung eine Prüfung der Einbeziehung auch der Straftaten des K W K G und des A W G an 23 . Jedoch stößt vor allem der

BR-Drucks. 193/91. Vgl. Bericht der BReg. v. 3.5.1991 über legale und illegale Waffenexporte in den Irak und die Aufrüstung des Irak durch die Bundesrepublik Deutschland, BT-Drucks. 12/ 487. Für eine Telefonüberwachung daher Oerter, ZRP 1992, 49 (54). " BR-Drucks. 449/91 S. 14. 20 BT-Drucks. 11/2597. 21 BT-Drucks. 11/5461 und BR-Drucks. 16/90. 22 BT-Drucks. 12/209, S. 4 ff. 23 Gegenäußerung der Bundesregierung zu der Stellungnahme des Bundesrates, BTDrucks. 12/218. 17 18

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Vorschlag einer Vermögensstrafe auf verfassungsrechtliche Bedenken24. Eine Verbesserung bei der Bekämpfung der Wirtschaftskriminalität und eine Steigerung der General- und Spezialprävention erhofft sich dagegen ein Entwurf der SPD-Fraktion 25 zur Abschöpfung von Gewinnen und zur Geldwäsche. Dieser Entwurf sieht u. a. vor, im Rahmen einer neu zu schaffenden Nebenstrafe eine Abschöpfung des Taterlöses zu ermöglichen, und bezieht ausdrücklich auch Umwelt- und Wirtschaftsstraftäter sowie Täter der organisierten Kriminalität ein. Alle neuen Entwürfe zur Reform des AWG wollen nunmehr die Vorschriften des StGB und des OWiG über den Verfall jedenfalls durch Einführung der Brutto- statt der bisherigen Nettogewinnabschöpfung verschärfen. Nicht berücksichtigt wird von allen Reformentwürfen, daß eine durchgreifende Verstärkung der Abschreckungs-Generalprävention vor allem durch Verhängung von strafrechtlichen Berufsverboten zu erreichen ist, die im deutschen Sanktionssystem - im Gegensatz zum Ausland - nur eine verschwindend geringe Rolle spielen. Daß strafrechtliche Berufsverbote von den potentiellen Rechtsbrechern sehr gefürchtet und damit abschreckungsintensiv sind, wird u. a. dadurch belegt, daß in allen ca. 60 Fällen, in denen jährlich in der Bundesrepublik ein strafrechtliches Berufsverbot ausgesprochen wird, dieses mit der Revision angegriffen wird. Daß auch das Berufsverbot auf (verfassungs)rechtliche Grenzen stößt, kann hier nicht weiter diskutiert werden26. - Auch der zeitlich befristete Ausschluß vom Außenwirtschaftsverkehr ist eine im deutschen Recht bisher unbekannte, im US-Recht aber offenbar bewährte und unternehmensspezifische Sanktion, die in paralleler Form in das Subventions- und Steuerstrafrecht europäischer Staaten Eingang gefunden hat und auch vom Europarat empfohlen wird27. Diese Maßnahme erscheint als hinreichend sinnvoll und effektiv, um den recht phantasielosen Rahmen deutscher Sanktionen gegen Wirtschaftskriminelle weiter aufzufüllen. 3. Die bei Verstößen gegen das Außenwirtschaftsrecht möglichen hohen Gewinne stellen kriminologisch einen starken Anreiz für die Begehung von AWG-Verstößen dar, wie selbst die außerstrafrechtliche Kommentarliteratur zum Außenwirtschaftsrecht hervorhebt28. Da ferner die sonst bei der Kriminalitätsbekämpfung wirksamen Mittel der informellen 24 Arzt, N S t Z 1990, 1 (5); J.Meyer, ZRP 1990, 85 (87f); Pieth, StV 1990, 558 (560f); Tiedemann, Revue Internationale de Criminologie 1991, 226 (239). 25 BT-Drucks. 11/5313. 26 Vgl. im einzelnen Tiedemann, in: Festschrift für Screvens, 1986, S. 93 ff mit Nachw. 27 Council of Europe, Recommendation on "Liability of enterprises for offences" N o . R (88) 18 vom 20.10.1988. 28 Vgl. Tiedemann, ZStW Bd. 82, 1970, S. 974 (Literaturbericht).

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Sozialkontrolle so gut wie völlig fehlen, liefert der Außenwirtschaftsverkehr und insbesondere der Außenwirtschaftsverkehr mit Rüstungsmaterial einen ähnlich hohen Kriminalitätsanreiz wie das EG-Recht mit seinem künstlichen System von Subventionen und Abschöpfungen zwecks Aufrechterhaltung der wirtschaftlichen Abschottung gegenüber dem Weltmarkt 29 . Allerdings hat die Kriminologie bisher kein auch nur einigermaßen anerkanntes Verfahren entwickelt, um messen zu können, durch welche strafrechtlichen oder außerstrafrechtlichen Maßnahmen Generalprävention - auch im positiven Sinne einer Steigerung und Festigung des Rechtsbewußtseins - in welchem Ausmaß verwirklicht werden kann. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts besteht hier eine Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers, solange die tatsächliche Wirksamkeit staatlicher Maßnahmen unsicher oder zweifelhaft ist30. In seinem Urteil zur lebenslangen Freiheitsstrafe meint das BVerfG 31 sogar recht optimistisch, es könne nicht grundsätzlich davon ausgegangen werden, daß Straftatbeständen keinerlei abschreckende Wirkung zukomme; wie hoch (oder wie gering) diese Abschreckungswirkung aber ist, bleibt offen. Weitgehende Einigkeit herrscht in der Kriminologie lediglich über die Binsenweisheit, daß die Generalprävention wesentlich durch die Intensität der Aufklärung und Verfolgung, also durch die Praxis der Ahndung von Verstößen, hergestellt wird. Die Vergrößerung des Entdeckungs- und Verurteilungsrisikos spielt auch bei den neueren ökonometrisch orientierten kriminologischen Ansätzen eine ausschlaggebende Rolle32. Die Betrauung einer zentralen spezialisierten Stelle mit der Aufdeckung von AWG-Verstößen verdient unter diesen Aspekten den Vorzug gegenüber dem Tätigwerden eines „normalen" Staatsanwaltes aufgrund eines Anfangsverdachtes, der im Regelfall erst durch die Mitteilung einer dritten Person oder Stelle entstehen kann, also nach geltendem Recht mehr oder weniger vom Zufall oder von der Aktivität ausländischer Nachrichtendienste abhängt.

III. Nach diesen wenigen, thesenhaft zugespitzten Überlegungen aus der empirischen (Wirtschafts-)Kriminologie wollen wir uns etwas genauer

29

Dazu Tiedemann, in: Festschrift für Pfeiffer, 1988, S. 101 ff mit zahlr. Nachw. BVerfGE 50, 290 (331 ff) m . w . N . ; enger etwa BVerfGE 39, 1 (44, 51 ff); dazu Tiedemann, Verfassungsrecht und Strafrecht, 1991, S. 51 f. 31 BVerfG 45, 187 (256). 32 Vgl. zuletzt Smettan, MschrKrim 1992, 19 ff. 30

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mit dem verwaltungsrechtlichen Instrumentarium befassen, das für die Kontrolle von Rüstungsexporten zur Verfügung steht. Dieser Blick auf das AußenwirtschaftsverzeWtengsrecht ist um so wichtiger, als die vorgelegten Gesetzentwürfe insoweit nur relativ wenige Änderungen vorsehen und ihr Reform-Heil entscheidend in einer Verbesserung des Strafrechts suchen, das freilich auf diesem Gebiet - ähnlich wie im Umweltbereich - besonders eng mit dem Verwaltungsrecht verknüpft, technisch gesprochen: akzessorisch, ist. Ahnlich wie bei den laufenden Reformarbeiten zum Umweltstrafrecht wollen die Reformvorschläge zum AWG diese Akzessorietät teilweise beseitigen, um nicht Bedingtheiten und Mängel des Verwaltungsrechts in die strafrechtliche Beurteilung übernehmen zu müssen. Dieser an sich zutreffende Ansatz in Richtung einer teilweisen Autonomie auch des Außenwirtschaftsstrafrechts hat Grenzen in dem Grundsatz der Einheit der Rechtsordnung, nach welchem Verwaltungsrecht und Strafrecht nicht (oder jedenfalls nicht ohne weiteres) denselben Vorgang einmal als rechtmäßig und zum anderen als rechtswidrig einstufen dürfen. Ein erstes Beispiel soll diesen Gedanken erläutern: Nach §48 Verwaltungsverfahrensgesetz ist ein Verwaltungsakt und damit auch eine Ausfuhrgenehmigung, der bzw. die mittels falscher Angaben erschlichen wurde, nicht nichtig, sondern nur rechtswidrig und damit bis zum Eintritt der Bestandskraft zurücknehmbar. Wer also eine Ausfuhrgenehmigung mit falschen Angaben über den Zweck oder die Zusammensetzung der Exportware oder über das Bestimmungsland des Exportes erschleicht, ist im Besitz einer gültigen, wenn auch rechtswidrigen Ausfuhrgenehmigung und handelt daher, wenn bis dahin keine Rücknahme erfolgt ist, im Zeitpunkt des Exportes nicht „ohne Genehmigung". Eine spätere Rücknahme der rechtswidrigen Genehmigung wirkt verwaltungsrechtlich nur ex nunc und kann überdies aus allgemeinen Grundsätzen im Strafrecht, das entscheidend auf den Tatzeitpunkt abstellt, keinesfalls zurückwirken. Die neuerdings im Umweltstrafrecht geführte strafrechtsdogmatische Diskussion darüber, ob eine derartige Genehmigung nicht strafrechtlich unter dem Gesichtspunkt des Rechtsmißbrauchs als unbeachtlich anzusehen ist33, stößt auf das Bedenken, daß das Handeln ohne Genehmigung im Außenwirtschaftsstrafrecht Gegenstand der Tatbestandsmäßigkeit ist und jedenfalls diese durch Art. 103 Abs. 2 GG, also durch den Grundsatz der gesetzlichen Bestimmtheit der Strafbarkeit, gegen eine Erweiterung des Strafbarkeitsraumes durch allgemeine Mißbrauchserwägungen geschützt ist. Die von

33 Lenckner, in: Festschrift für Pfeiffer S . 2 7 f f ; Tiedemann/Kindhäuser, NStZ 1988, 337 (343 f); Momberg, D e r Gedanke des Rechtsmißbrauchs im Umweltstrafrecht, 1989.

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der Bundesregierung vorgeschlagene Neufassung des §34 AWG löst dieses grundsätzliche Problem dadurch recht elegant, daß dem Handeln „ohne Genehmigung" das Handeln „auf Grund einer . . . erschlichenen Genehmigung" gleichgestellt und die Erschleichung legaliter definiert wird. Ahnlich formulieren der erste wie auch der zweite SPD-Entwurf und der Gesetzgebungsbeschluß des Bundestages vom 22.3.1991. Allerdings bleibt kritisch anzumerken, daß dieser gesetzestechnische „Kunstgriff" das innere Spannungsverhältnis zu § 48 Verwaltungsverfahrensgesetz nicht völlig beseitigt: Das Strafrecht geht vom Fehlen einer Genehmigung aus, obwohl eine (fehlerhafte) verwaltungsrechtliche Genehmigung vorliegt! Für unerträglich oder unvertretbar halte ich diese Lösung, deren Rückwirkung auf das Umweltstrafrecht bislang offen ist, freilich nicht, weil selbst ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil grundsätzlich nicht inter omnes wirkt und daher auch die Beurteilung (nicht: Aufhebung!) eines bestandskräftigen Verwaltungsaktes als rechtswidrig dem Strafrichter durchaus zusteht 34 . Übrigens geht der 5. Strafsenat des B G H klar davon aus, daß Angaben zu dem Endverbleibsland (Verbrauchsland) der Exportware nur zu den Genehmigungsvoraussetzungen gehören, diese Angaben aber nicht Inhalt und Bestandteil der Genehmigung werden, so daß der Export von Maschinenpistolen nach dem Bestimmungsland Osterreich nicht dadurch zu einem ungenehmigten wird, daß das vom Exporteur nicht oder falsch angegebene Endverbleibsland Südafrika ist35. Dies wird sich de lege ferenda ändern. Bereits aus diesen Andeutungen wird deutlich, welche zentrale Rolle die verwaltungsrechtliche Genehmigung für den Außenwirtschaftsverkehr mit sensiblen Gütern spielt. Dabei stellt das AWG vor allem auf die Ausfuhr, also das Verbringen über die Landesgrenze der Bundesrepublik ab, während das daneben anwendbare Kriegswaffenkontrollgesetz (KWKG) neben der Herstellung (§2) nicht etwa den Export, sondern den Transport innerhalb des Bundesgebietes für genehmigungspflichtig erklärt (§ 3) und hierdurch eine räumliche Vorverlagerung der verwaltungsrechtlichen Kontrolle zu erreichen sucht, da ein Export ohne Transport innerhalb des Bundesgebietes undenkbar ist36. Das in Ausführung des Gesetzgebungsauftrages von Art. 26 Abs. 2 GG ergangene „Gesetz über die Kontrolle von Kriegswaffen" betrifft zur Kriegsführung bestimmte Waffen, die in der (häufig geänderten) Anlage zu diesem Gesetz, nämlich in der sog. Kriegswaffenliste, aufgeführt sind. Für die

34 Tiedemann, Tatbestandsfunktion im Nebenstrafrecht, 1969, S. 279 f; Tiedemann/ Kindhäuser aaO S. 344. 35 B G H NStZ 1985, 367; ebenso Holthausen, NStZ 1988, 256 (259 f) m . w . N . 36 Näher dazu Schünemann, Art. Kriegswaffenkontrollgesetz, in: HWiStR 1985; Holthausen, RiW 1987, 893ff m . w . N .

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Genehmigungserteilung sind die „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und anderen Rüstungsgütern" vom 28.4.1982 maßgebend, nach denen der Handel mit Kriegswaffen innerhalb der Bundesrepublik und über ihre Grenzen hinaus in N A T O Länder grundsätzlich zu genehmigen ist, während der Export in NichtNATO-Länder grundsätzlich nicht genehmigt wird. Eine ausnahmsweise Genehmigung kommt nach diesen „Grundsätzen" nicht in Betracht, „wenn die innere Lage des betreffenden Landes dem entgegensteht", es sich also um ein Spannungsgebiet handelt, nämlich um ein Land, bei dem „eine Gefahr für den Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen besteht". Man weiß, daß die Genehmigungspraxis bis zur Golfkrise großzügig, richtiger gesagt: recht unbekümmert, war. Immerhin wurde aber bereits im November 1990 im Gefolge der ersten Strafverfahren gegen Verantwortliche der Imhausen Chemie das Kriegswaffenkontrollgesetz um strafbewehrte Verbote hinsichtlich der A-, Bund C-Waffen ergänzt, wobei nur die A-Waffen eine Ausnahme in bezug auf NATO-Länder erfahren (§§ 17 ff KWKG). Bemerkenswert ist diese Änderung des KWKG auch deshalb, weil sie schon das leichtfertige Fördern der Herstellung (usw.) dieser Waffen - auch im Ausland - unter Kriminalstrafe stellt, also ein Handeln inkriminiert, welches nach den Kategorien des Allgemeinen Teils fahrlässige Beihilfe wäre37. Dieses strafbewehrte Verbot greift international weit vor, wartet insbesondere nicht das Ende und die Ergebnisse der seit 1983 dauernden Bemühungen der UN-Abrüstungskonferenz in Genf um ein Chemiewaffenverbot ab und zeigt einen ersten Weg auf, wie dem Problem der Kontrolle des Exportes von Rüstungsgütern beizukommen ist: durch ein völliges oder nahezu völliges Verbot der Herstellung bestimmter, für die Massenvernichtung geeigneter Waffentypen. Für alle anderen Geräte und Materialien, die bestimmt oder geeignet sind, kriegerische Verwendung zu finden, bleibt es dagegen bislang bei der Möglichkeit einer verwaltungsrechtlichen Genehmigung. Diese wird im Bereich des AWG von der formularmäßigen Erklärung des Antragstellers abhängig gemacht, daß ihm „keine Hinweise darüber vorliegen", daß die Exportgüter „für militärische Zwecke verwendet werden". Mit dem Antrag auf Ausfuhrgenehmigung muß femer ein Nachweis des Endverbleibs der Waren im Käufer- bzw. Bestimmungsland eingereicht werden (§17 Außenwirtschaftsverordnung). Dieser Nachweis wird durch eine privatrechtliche Endverbleibserklärung des ausländischen

37 Zur Zulässigkeit dieses Vorgehens Tiedemann, in: Festschrift für Baumann, 1992. Zum Inhalt der neuen Strafvorschriften Holthausen, NJW 1991, 203 ff.

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Vertragspartners und eine Bestätigung der ausländischen erbracht. Die Formblätter lauten etwa folgendermaßen38:

Behörde

Endverbleibserklärung Zur Vorlage bei der Ausfuhrkontrollbehörde der Bundesrepublik Deutschland . . . versichere ich hiermit, daß die von der Firma . . . an uns gelieferten Waren zum Verbrauch/Verbleib in . . . bestimmt sind. Einen Reexport in Drittländer werde ich nicht ohne Zustimmung des Bundesamtes für Wirtschaft vornehmen. Ich werde die Waren nur unter der Voraussetzung einem Dritten im gleichen Land überlassen, daß dieser die in der vorstehenden Erklärung enthaltenen Verpflichtungen übernimmt und mir im Hinblick auf die Einhaltung von Verpflichtungen als zuverlässig bekannt ist. Unterschrift des Warenempfängers

Das behördliche Zertifikat ist inhaltlich noch dürftiger und besteht in der Bestätigung (ζ. B. des ausländischen Außenhandelsministeriums), daß die Behörde „die vorstehende Erklärung über Endverbraucher und Endverbrauch geprüft und für fehlerfrei erkannt hat". Ein solches Kontroll-System geht notwendigerweise von der Zuverlässigkeit und Gutgläubigkeit aller Beteiligten, also von dem Modell des redlichen Export- und Importkaufmanns in Deutschland und im Rest der Welt aus. Daß dieses Bild eine Fiktion und sein Gegenteil keineswegs nur ein übertreibendes Abbild einiger weniger schwarzer Schafe ist, läßt sich im gegenwärtigen Zeitpunkt gut belegen, nachdem die Ergebnisse der UN-Inspektionen im Irak den Staatssekretär Beckmann als Vertreter des Bundeswirtschaftsministeriums im Bundestag am 11. Oktober 1991 zu der Äußerung veranlaßt haben, die ausländische Beteiligung an der Entwicklung irakischer Massenvernichtungswaffen sei „erschreckend", und die SPD angesichts des voraussichtlichen Umfanges der Beteiligung deutscher Unternehmen am selben Tage gemeint hat, ihren Widerstand gegen die Betrauung des Zollkriminalinstitutes mit der Befugnis zur Überwachung des Telefonverkehrs aufgeben zu können. Falsche Endverbleibsbestätigungen zu erhalten, ist in weiten Teilen der Welt gegen ein geringes Bestechungsgeld möglich. Aus den Forschungen der noch jungen Wirtschaftskriminologie braucht als Beispiel nur darauf verwiesen zu werden, wie das sehr viel harmlosere und weniger gewinnträchtige Internationale Kaffeeabkommen mit seinen Quotenregelungen durch einen schwunghaften Handel mit inhaltlich falschen Import- und Exportzertifikaten unterlaufen wurde39. Die Kontrolle deutscher Behörden über derartige Vorgänge ist naturgemäß gering, da die deutsche Staatsgewalt und damit auch die Überprüfungsmöglichkeiten an der

38 Vgl. BAW (Bundesamt für Wirtschaft), Die Ausfuhr von Embargowaren, 3. Aufl. 1990. " Dazu Tiedemann, in: Schäfer (Hrsg.), Wirtschaftskriminalität, Weiße-KragenKriminalität, 1974, S. 19 (89 ff). Krit. auch Oerter, aaO S.53.

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deutschen Staatsgrenze enden. Eine bessere Sicherung und wirksamere Kontrolle ist ausschließlich auf internationaler Ebene zu erreichen, wobei mit Aussicht auf Erfolg nur einheitliche Wirtschaftsräume wie insbesondere die Europäische Gemeinschaft den Ausgangspunkt einer einheitlichen und räumlich weit reichenden Kontrolle bilden können. Erste Ansätze zu einer solchen einheitlichen Rüstungsexportpolitik zeigen sich in Überlegungen der EG zur Schaffung eines Exportregisters zur Kontrolle des Waffenhandels 40 . Mit dem Aspekt falscher Endverbleibsangaben ist ein weiteres zentrales Problem sowohl bei der nationalen als auch bei einer künftig hoffentlich internationalen Kontrolle des Waffenhandels angesprochen: das der Umgehung. Hier akkumulieren sich die tatsächlichen Aufdeckungs- und Nachweisschwierigkeiten mit Schwierigkeiten der rechtlichen Erfassung. In thesenhafter Zuspitzung läßt sich ganz allgemein für die Wirtschaftskriminalität sagen, daß die Gesetzesumgehung die Domäne großer und seriöser Unternehmen ist, während kleine und mittlere Betriebe sich eher plumpe Verstöße, Fälschungen und Manipulationen leisten, wie sie bereits aus der Reichsgerichts-Rechtsprechung zu dem früheren Straftatbestand der Schlechterfüllung von Heereslieferungsverträgen bekannt sind 41 . Die Gesetzesumgehung wird dadurch gekennzeichnet, daß der Täter es künstlich vermeidet, einen verbotenen Tatbestand zu verwirklichen; dem entspricht es (als sog. Erschleichung), daß es dem Täter gelingt, künstlich in den Anwendungsbereich einer ihn begünstigenden Norm zu gelangen 42 . Die Umgehung ist eng mit der Figur des Rechtsmißbrauches verwandt. Ihre rechtliche Behandlung wird dadurch erschwert, daß Umgehung, Erschleichung und Mißbrauchsgedanke strukturell der Analogie entsprechen, da der Täter in allen Fällen formal die Grenze des Normwortlautes achtet, während der Rechtsanwender diese Grenze überschreiten müßte, um die Fälle angemessen zu erfassen. Bekanntestes Beispiel sowohl aus dem Bereich des früheren Devisen- als auch aus dem des heutigen Steuerstrafrechts ist die Aufteilung oder Zerlegung eines Sachverhaltes (z.B. eines Exportes), der als solcher verboten ist, in einzelne Teile, die als solche nicht verboten sind. Weniger abstrakt gesprochen und auf das Außenwirtschaftsstrafrecht bezogen geht es beispielsweise um ein Verhalten wie das der Firma Rheinmetall, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem englischargentinischen Krieg um die Falkland-Inseln genehmigungsfreie Teile von Maschinen-Kanonen und Zwillingsflaksystemen nach Spanien lieferte, wo die Baugruppen montiert und an Argentinien weitergeliefert 40 FAZ v. 2 9 . 4 . 1 9 9 1 Nr. 99/18 D S. 1 und v. 2 3 . 8 . 1 9 9 1 Nr. 195 S. 10. Vgl. aber auch F A Z v. 1 2 . 1 0 . 1 9 9 1 Nr. 237 S. 11. 41 Vgl. nur RGSt. 59, 299 (303 ff). 42 Zusammenfassend Tiedemann, Art. Umgehung, in: HWiStR, 1985 ff, Erglfg. 1986.

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wurden 43 . Neben der Frage, ob Spanien oder Argentinien das Endverbleibsland der Exportware war - die spanische Montagefirma bestätigte wahrheitswidrig, daß das Material für die spanischen Streitkräfte bestimmt sei - , entsteht das nur für den Nichtjuristen einfache und selbst in benachbarten europäischen Rechtsordnungen unterschiedlich beurteilte Problem einer Zusammenschau aller Teilexporte, wobei sich in der Praxis die Schwierigkeiten dadurch steigern, daß der Exporteur zusätzlich Tochterunternehmen oder von ihm unabhängige Unternehmen zwischenschaltet, um die Zusammenschau rechtlich weiter zu verkomplizieren. Ahnlich wie die steuerrechtliche Rechtsprechung zur sog. Briefkastenfirma und die Praxis der EG zu Dumping-Importen stellt die Rechtsprechung zum A W G und zum KWKG darauf ab, ob nur ein unerheblicher Arbeitsaufwand erforderlich ist, um die Bausätze zur Waffe zusammenzusetzen, und löst mit dieser anspruchsvoll so genannten „Bausatztheorie" wenigstens einige der gröbsten Fälle 44 , die aber dogmatisch gesehen eher Schein- als echte Umgehungsgeschäfte sind. Ein weiteres Beispiel aus der neueren Rechtsprechung zu dem tatsächlich wie rechtlich einfachen Komplex von Scheingeschäften betrifft das Wegfeilen eines Sicherungsbügels, wodurch aus einer halbautomatischen Feuerwaffe eine Maschinenpistole wurde 45 . - Rechtlich schwieriger ist es schon bei der formularmäßigen Versicherung des Exporteurs, „daß die Ausfuhr nicht im Zusammenhang mit anderen eigenen Lieferungen und nach seiner Kenntnis auch nicht im Zusammenhang mit fremden Lieferungen steht, die zusammen eine Herstellung von Kriegswaffen im Sinne der Kriegswaffenliste ermöglichen". Ein aktuelles, mit dem Golfkrieg unmittelbar zusammenhängendes Beispiel hierfür ist der gegen die Firmen Daimler-Benz AG und Mercedes-Benz AG geäußerte Verdacht, daß die für den Abschuß von Scud-Raketen erforderlichen Aufbauten auf schwere Sattelschlepper, die von Daimler-Benz geliefert worden sein sollen, durch das französische Unternehmen Lohr mit Genehmigung der zuständigen französischen Stelle, in anderen Fällen durch die ebenfalls zu einer französischen Unternehmensgruppe gehörende Firma Marrel im Rheinland vorgenommen worden sein sollen 46 . Ohne ausdrückliche Gesetzesklauseln erfaßbar sind derartige Handlungen selbst bei feststehender Umgehungsabsicht nur dann, wenn der Wortlaut der Gesetzesbegriffe hinreichend weit ist, um durch eine extensive Interpretation auch die Umgehungshandlung noch unter sie zu subsumieren. Dies wird bei den Begriffen „Bestimmungsland", „Ver43 44 45 44

LG Düsseldorf NStZ 1988, 231. Vgl. Holthausen, NStZ 1988, 206 (208); rechtsvergleichend Oerter, BGH NStZ 1985, 367 f. FAZ Nr. 65 v. 18.3.1991 S. 19; Nr. 47 v. 25.2.1992 S.21.

aaO S.52.

Zur Geschichte eines Straftatbestandes des ungenehmigten Rüstungsexportes

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brauchsland", „Endverbleibsland" oder „Kriegswaffe" häufig möglich sein, ist dagegen für eine Zusammenfassung aller zu einem schließlich im Ausland hergestellten Endprodukt führenden wirtschaftlichen Aktionen mehrerer Beteiligter nicht möglich, es sei denn daß der Nachweis strafrechtlicher (Mit-)Täterschaft oder Teilnahme gelingt. In richtiger Erkenntnis dieser Schwierigkeiten sucht das Außenwirtschaftsrecht von jeher auch den Export von sensiblen Einzelteilen, Anlagen, Fertigungsunterlagen usw. zu kontrollieren, hinkt mit seiner in sog. Ausfuhrlisten zum Ausdruck kommenden Enumerationstechnik aber stets dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt und dem Erfindungsreichtum geschickter Gesetzesumgeher hinterher. Partielle Abhilfe wollen §34 Abs. 3 des ersten Regierungsentwurfes und alle neueren Entwürfe dadurch schaffen, daß auch bestraft wird, wer „die Ausfuhr dadurch fördert, daß er die auszuführende Ware oder Unterlagen zu ihrer Fertigung oder wesentliche Bestandteile davon zur Verfügung stellt", wobei das Lieferunternehmen sowohl von der fehlenden oder erschlichenen Genehmigung bei dem belieferten Unternehmen als auch von dessen Vorhaben einer ungenehmigten Ausfuhr Kenntnis haben muß. Natürlich bedeutet dies schon rechtlich nur eine auf die Konstellation der Zulieferung beschränkte Erweiterung, die zudem auf die Problematik des faktischen Nachweises der Kenntnis stößt. Immerhin ist der Regelungsvorschlag aber vorzugswürdig gegenüber dem ersten SPDEntwurf, der überhaupt keine Vorschrift zur Erfassung solcher Gesetzesumgehungen vorsah. Hätte man das „Ausnutzen" einer erschlichenen Genehmigung in § 322 b Abs. 3 StGB des ersten SPD-Entwurfs auf Fälle der Gesetzesumgehung erstrecken wollen, so wäre der Anwendungsbereich dieser Ausweitung äußerst gering gewesen, da nach diesem Entwurf der Täter eine Genehmigung ausnutzen mußte, die ihm selbst erteilt und durch Täuschung, Drohung oder Bestechung erwirkt wurde. Der Regierungsentwurf und alle anderen neuen Entwürfe stellen demgegenüber dem Exporteur den Extraneus gleich, der den fraudulenten Exporteur beliefert. Letztlich überlassen damit alle Entwürfe die generelle Lösung des Umgehungsproblems dem Verwaltungsrecht. Dies entspricht zwar in der Tendenz der Behandlung dieses Problems im Steuer- und Subventionsstrafrecht, welches ebenfalls keine strafrechtliche, sondern eine verwaltungsrechtliche Lösung vorsieht. Jedoch enthalten sowohl die Abgabenordnung als auch das Gesetz gegen mißbräuchliche Inanspruchnahme von Subventionen ausdrückliche Gesetzesklauseln, die vom Bundesverfassungsgericht abgesichert sind47 und sowohl Schein- als auch 47 BVerfGE 13, 290 (315 f); vgl. auch B G H wistra 1982, 108 f zu § 6 StAnpG (entsprechend § 4 2 A O 1977).

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Umgehungsgeschäfte erfassen, nämlich auf ihren wahren wirtschaftlichen Kern reduzieren. Es erscheint daher wünschenswert und dringlich, das Außenwirtschaftsgesetz in ähnlicher Weise zu ergänzen. Die Praxis behilft sich mit einer umstrittenen „wirtschaftlichen Betrachtungsweise", die im Außenwirtschaftsstrafrecht insbesondere zur sog. Geschäftsherrentheorie geführt hat 48 . Diese faktische Betrachtungsweise läßt zum Nachteil der Rechtssicherheit (und der Generalprävention!) zu Unrecht offen, wo die Strafbarkeit beginnt und wo sie endet. Sie erkauft den Vorteil einer Bestrafung in Einzelfällen mit einer Ablösung der Strafbarkeit von der gesetzlichen Straftatbestandlichkeit. Derselbe Einwand gilt gegenüber den hier behandelten Entwürfen, wenn diese das Vorliegen einer Erschleichung (der Genehmigung) davon abhängig machen, daß die der Genehmigung zugrunde liegenden Angaben („tatsächlicher Art") „unvollständig" sind. Es ist nicht recht ersichtlich, warum diese auf eine positive Täuschung und ihren Nachweis abstellende Lösung nicht - wie im Subventions- und Steuerstrafrecht (§§ 153 A O , 264 StGB) - durch praktikablere Unterlassensvorschriften ergänzt wird, nach denen auch die nachträgliche Nichtaufklärung über den Wegfall der Genehmigungsvoraussetzungen und über die zweckwidrige Verwendung der Genehmigung strafbar ist. Die einschlägigen Regelungen des Steuer- und Subventionsstrafrechts fangen gerade so zahlreiche Fälle auf, in denen der Vorsatz einer Täuschung durch positives Tun nicht besteht oder nicht nachweisbar ist 49 . Erst eine ausdrückliche verwaltungsrechtliche Umgehungsklausel würde auch zur Präzisierung der offenen und streitigen Frage beitragen, wann Angaben des Exporteurs „unvollständig" sind und daher nach den Entwürfen zu der strafrechtlichen Fiktion nicht erteilter Genehmigungen berechtigen. Solange das A W G keine ausdrückliche Umgehungsklausel enthält, begründen Angaben, die für die Beurteilung als Umgehung erheblich wären, keine Unvollständigkeit der Angaben, rechtfertigen also auch nicht die Annahme einer Erschleichung der Genehmigung. N u r eine bescheidene Teil-Lösung erreicht das Verwaltungsrecht mit dem neuen, seit März 1991 geltenden § 5 c A W V O , der die Ausfuhr von Waren und Fertigungsunterlagen für den Fall unter Genehmigungspflicht stellt, daß diese für die Errichtung oder den Betrieb einer Anlage zur Herstellung, Modernisierung oder Wartung von Waffen, Munition oder Rüstungsmaterial im Sinne der Ausfuhrliste bestimmt sind und der Ausführer hiervon Kenntnis hat50. Diese Teilregelung betrifft zugleich den schwierigen Bereich des Exportes von dual «se-Gütern, die sowohl 48

49 50

Vgl. Tiedemann, Tatbestandsfunktionen, S. 56 f. Tiedemann, J R 1983, 211 ff. BAnz. 1991, 1725.

Zur Geschichte eines Straftatbestandes des ungenehmigten Rüstungsexportes

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zivil als auch militärisch verwendbar sind. Die generelle strafrechtliche Erfassung dieses Problemkomplexes war zwischen den Entwürfen zunächst streitig: Der erste SPD-Entwurf eines neuen § 322 b StGB wollte in Abs. 2 den Export einschlägiger Waren, Unterlagen, technischer Daten oder Verfahren inkriminieren, wenn diese „für militärische Zwecke bestimmt sind"; Abs. 6 S. 2 ließ es ausreichen, daß der Täter die militärische Zweckbestimmung fahrlässig verkannte. Dies ging sehr weit, und es mußte gefragt werden, ob nicht eine Beschränkung auf grobe Fahrlässigkeit (Leichtfertigkeit) sinnvoller wäre. Immerhin erscheint aber der Ansatz dieses ersten SPD-Entwurfes richtiger und praktikabler als derjenige des Regierungsentwurfes und aller übrigen neuen Entwürfe, welche die dual use-Güter (der Ausfuhrliste C und des § 5 c AWVO) in §34 Abs. 2 AWG nur mit der uns bereits bekannten Klausel erfassen wollen, daß der Export dieser Güter „geeignet ist, die äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland, das friedliche Zusammenleben der Völker oder die auswärtigen Beziehungen der Bundesrepublik Deutschland erheblich zu gefährden".

IV. Zahlreiche weitere, insbesondere prozessuale Reformfragen können hier nicht im einzelnen angesprochen werden. Uneingeschränkt zu begrüßen ist sicher die in allen Entwürfen vorgesehene Änderung des § 3 Abs. 2 S. 1 AWG, nach dem die Erteilung der Genehmigung künftig insbesondere von der Zuverlässigkeit des Antragstellers abhängig gemacht werden kann51. Außerdem werden bereits seit März 1991 Anträge auf Ausfuhrgenehmigung nach dem AWG nur noch bearbeitet, wenn nach den Grundsätzen der Bundesregierung zur Prüfung der Zuverlässigkeit von Exporteuren von Kriegswaffen und rüstungsrelevanten Gütern vom 29.11.1990 ein sog. Ausfuhrverantwortlicher benannt wird. Diese dem Umweltverantwortlichen in Betrieben und Unternehmen vergleichbare Figur verschärft in einer aus kriminologischer Sicht begrüßenswerten Weise das Bestreben, die aus der Arbeitsteiligkeit der Betriebe und Unternehmen folgende faktische NichtVerantwortlichkeit zu bekämpfen. Auch die in den SPD-Entwürfen vorgeschlagene Statuierung einer behördlichen Anzeigepflicht, derzufolge die Genehmigungsbehörden den Verdacht einer AWG-Exportstraftat oder einer sog. ABC-Kriegswaffenstraftat unverzüglich den Strafverfolgungsbehörden mitzuteilen haben, erscheint - nach dem Modell des Steuerund Subventionsstrafrechts - zutreffend. Wer die neuere Geschichte der

51

Zu Parallelen im Steuer- und Zollrecht

Tiedemann,

N J W 1972, 657 (659).

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Reform des Wirtschafts- und Umweltstrafrechts kennt, weiß allerdings, daß über jeden der vorgenannten Gesichtspunkte ein eigener Beitrag geschrieben werden könnte. Demgegenüber soll hier zum Abschluß versucht werden, trotz aller Einzelheiten und teilweise ungelösten Grundfragen noch eine Antwort auf die Frage zu formulieren, ob Rüstungsexporte hinreichend kontrollierbar sind. Bekanntlich hatte das Bündnis 90 / G R Ü N E einen Gesetzentwurf zur Rüstungskonversion eingebracht, der vom Bundestag abgelehnt worden war. Die GRÜNE-Abgeordnete Wollenberger forderte in der mehrfach zitierten Bundestagsdebatte vom 21.2.1991 erneut ein „generelles Exportverbot für Waffen und Rüstungsgüter, das im Grundgesetz verankert ist" 52 . Für ein solches generelles Exportverbot beruft man sich gern auf das japanische Vorbild, das allerdings das einzigartige und weitgehend informelle Verwaltungskontrollmittel des Gyosei Sbidou besitzt, mittels dessen das Handelsministerium (MITI) ζ. B. Warnungen an die Unternehmen einsetzt, die zur Aufkündigung von Bankkrediten führen können usw. Selbst Japan hat damit aber nur den Export eigentlicher Kriegswaffen unterbinden, nicht dagegen das dual use itemProblem lösen und auch Umgehungen des COCOM-Gesetzes nicht verhindern können. Für den europäischen und insbesondere für den deutschen Bereich bleibt nach dem bereits in Kraft befindlichen grundsätzlichen Verbot der Herstellung von und des Handels mit A-, B- und C-Waffen insoweit nur die Sonderbehandlung der A-Waffen diskussionsbedürftig. Kein wirklicher Diskussionsbedarf besteht umgekehrt im Hinblick auf die grundsätzliche Zulässigkeit des Exportes von dual use-Gütern, bei denen aber sichergestellt werden muß, daß eine Nutzung für militärische Zwecke nach Möglichkeit ausgeschlossen wird. Insoweit erscheint es zweifelhaft, ob ein solcher Ausschluß durch die detaillierte Aufzählung in Ausfuhrlisten (besonders in Ausfuhrliste C) oder dadurch gewährleistet wird, daß der schon erwähnte § 5 c AWVO für militärische Anlagen die Genehmigungspflicht für Waren und Fertigungsunterlagen vorsieht, wenn der Ausführer von der Verwendung seiner Exportgüter in diesen Anlagen „Kenntnis" hat. Damit wird auf ein äußerst unpraktikables, da kaum je nachweisbares subjektives Merkmal abgestellt. Wie schon bemerkt, geht allerdings die zunächst von der SPD vorgeschlagene Einbeziehung selbst leicht fahrlässiger Unkenntnis viel zu weit; sie würde auch unsere Exportwirtschaft entscheidend beeinträchtigen. Es handelt sich um ein bislang rechtlich wie auch faktisch ungelöstes Problem, zumal allein die in allen gängigen Werkzeugmaschinen vorhandenen Computer letztlich

52

Prot. S. 426.

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auch militärisch genutzt werden können, also praktisch alle jährlich aus der Bundesrepublik exportierten 18 Millionen Güter auf ihre mögliche Verwendung für die Herstellung von Kriegsmaterial zu überprüfen wären. Beachtung verdient auch Art. 223 EWG-Vertrag, der nationale Regelungen der EG-Staaten nur für die Erzeugung von und den Handel mit „Waffen, Munition und Kriegsmaterial" zuläßt und Gleichheit der Wettbewerbsbedingungen auf dem Gemeinsamen Markt für alle „nicht eigens für militärische Zwecke bestimmten Waren" garantiert. Verwaltungs- wie strafrechtliche Alleingänge der EG-Mitgliedstaaten werden damit für dual use-Güter europarechtlich allenfalls erlaubt, soweit ein Export in Drittländer in Frage steht; daß dies - erneut - zu Schein- und Umgehungsgeschäften angeblicher Exporte in EG-Länder einlädt, kann kaum zweifelhaft sein. Eine enge Interpretation von Art. 223 könnte sogar nationale Regelungen von Drittland-Exporten in Frage stellen. Für die in der Mitte zwischen ABC-Waffen einerseits und dual useGütern andererseits stehenden „normalen" Kriegswaffen wie Panzer, Kampfflugzeuge, Raketen usw. (Ausfuhrliste A) ist es dagegen kein rechtliches, sondern ein politisches Problem, wie weit man den Export verbieten und ob man ihn jedenfalls auf das Gebiet der NATO-Staaten beschränken will. Erfahrungen insbesondere mit einigen südlichen NATO-Staaten, die zugleich Mitglied der EWG sind, stimmen eher pessimistisch, wenn es um die Einschätzung geht, ob wenigstens alle NATO-Staaten und ihre Rüstungsunternehmer sich an Endverbleibserklärungen halten werden. Uber den NATO-Mitgliedstaat Türkei habe ich in anderem Zusammenhang in einer Anhörung vor dem Britischen Parlament im Juli 1988 vorgetragen, daß die offizielle türkische Außenhandelsstatistik über einen Zeitraum von 10 Jahren um ein Drittel berichtigt werden mußte, weil aufgedeckt worden war, daß ein Drittel sämtlicher Exporte aus der Türkei Scheingeschäfte waren, um Ausfuhrsubventionen zu erhalten53. Und für Griechenland gibt es sogar Nachweise einer Beteiligung von Regierungsstellen am internationalen Betrug mit Abschöpfungen auf dem Getreidemarkt54. Immerhin erscheint aus kriminologischer und strafrechtlicher Sicht bei hinreichendem politischen Willen zur nationalen und supranationalen Kontrolle eine Beschränkung des Exportes von Rüstungsgütern auf die NATO-Staaten möglich und durchführbar. Sie wird nicht jeden Mißbrauch ausschließen, könnte aber die Mißbräuche auf ein erträgliches Maß herabdrücken. Als erträglich erscheint mir insgesamt jedes Ergebnis, welches verhindert, daß die Dritte Welt zum finanziellen Profit der Industrienationen auf- und hochgerüstet wird. 53 Tiedemann, in: Müller-Dietz, 25 Jahre Kolloquien der südwestdeutschen kriminologischen Institute, 1989, S. 78 f. 54 Vgl. EuGH EuZW 1990, 99ff m . A n m . Tiedemann,

Das Menschenbild des Grundgesetzes und die Neuregelung des Abtreibungsrechts im geeinten Deutschland HERBERT TRÖNDLE

Rechtspolitischer Hintergrund der verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Schutz Ungeborener Das Bundesverfassungsgericht hat im „Fristenlösungsurteil" 1 den Vorrang des Lebensrechts des ungeborenen Kindes gegenüber dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren stringent auf die Wertordnung des Grundgesetzes gestützt. Resümierend hat das Gericht in seiner ausführlichen Begründung - gerade im Hinblick auf ausländische Regelungen des Schwangerschaftsabbruchs - darauf hingewiesen, daß dem Grundgesetz „Prinzipien der Staatsgestaltung" zugrunde liegen, „die sich nur aus der geschichtlichen Erfahrung und der geistig-sittlichen Auseinandersetzung mit dem vorangegangenen System des Nationalsozialismus erklären lassen". Aus diesem Grunde „hat das Grundgesetz eine wertgebundene Ordnung aufgerichtet, die den Menschen und seine Würde in den Mittelpunkt aller seiner Regelungen stellt. Dem liegt . . . die Vorstellung zugrunde, daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen, auch dem scheinbar sozial ,wertlosen', unabdingbar fordert und der es deshalb ausschließt, solches Leben ohne rechtfertigenden Grund zu vernichten. Diese Grundentscheidung der Verfassung bestimmt Gestaltung und Auslegung der gesamten Rechtsordnung" 2 , zumal der Schutz der Menschenwürde unter der Unantastbarkeitsnorm des Art. 79 Abs. 3 G G steht. Zur Begründung des verfassungsrechtlichen Schutzes des ungeborenen Lebens hat das Bundesverfassungsgericht 3 somit gerade auf die „Erfahrungen mit einem Unrechts system" besonders abgehoben. Und dies ersichtlich im Gegensatz zur dissentierenden Richterin, die es für „ver1 2 3

B V e r f G E 39, 1 ff. B V e r f G E 39, 1, 67. AaO.

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Herbert Tröndle

fehlt, wenn nicht unsachlich" 4 hielt, „die Fristenlösung in die Nähe der Euthanasie oder gar der ,Tötung unwerten Lebens' zu rücken". Freilich ist das, was sie hierzu vortrug, wenig überzeugend und kehrt sich eher gegen sie. Denn: Kann der „Unwert eines Lebens" eigentlich noch deutlicher zum Ausdruck gebracht werden als durch dessen Freigabe zur Vernichtung? Das individuelle menschliche Leben erlaubt, solange die Gleichwertigkeit von geborenem und ungeborenem Leben anerkannt bleibt, keine Zäsuren im rechtlichen Lebensschutz. Jegliche Einschränkung träfe das Lebensrecht im Kern, denn das Ur-Recht und Menschenrecht auf Leben würde sonst für Macht- und Mehrheitsentscheidungen verfügbar. Es hatte daher gute Gründe, wenn das Bundesverfassungsgericht aus dem Erleben eines Unrechtssystems - auch für die Ungeborenen - „die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen unabdingbar fordert" 5 , weil „die Schutzverpflichtung des Staates" für das menschliche Leben als „die vitale Basis der Menschenwürde und (als) die Voraussetzung aller anderen Grundrechte" 6 umfassend ist und weil nur auf diese Weise auch der uneingeschränkte, verfassungsrechtlich gebotene Schutz für Behinderte, Gebrechliche und insbesondere am Lebensende gewährleistet bleibt. Der hochverehrte Jubilar, dem dieser Beitrag gewidmet ist, hat sich in seinem wissenschaftlichen Werk eingehend mit dem Niedergang des Rechts während der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft auseinandergesetzt, aber auch mit dem Ungenügen der Nachkriegsjudikatur bei der Bewältigung dieses staatlichen Unrechts 7 . Im demokratischen Rechtsstaat sind umfassende justizielle Kontrollmöglichkeiten darauf angelegt, staatlichem Unrecht zu wehren oder es zu beseitigen, vorausgesetzt, daß die zuständigen Kontrollorgane in Gang gesetzt und ihrer Aufgabe gerecht werden.

Mißachtung der verfassungsgerichtlichen Grundsätze in der Rechtswirklichkeit Auf dem Gebiet des Lebensschutzes Ungeborener erfüllt der demokratische Rechtsstaat seine Schutzaufgabe nicht 8 : Die Rechtssätze des Fristenlösungsurteils, das für Verfassungsorgane des Bundes und der B V e r f G E 39, 1, 80. B V e r f G E 39, 1, 67. 6 B V e r f G E 39, 1, 42. 7 Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung. Sechs strafrechtliche Studien, 1984. 8 Tröndle, Neuregelung des Lebensschutzes Ungeborener im geeinten Deutschland, Kirche und Gesellschaft N r . 179, 1 9 9 1 , S . 4 . 4 5

Das Menschenbild des Grundgesetzes

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Länder sowie für alle Gerichte und Behörden verbindlich ist (§31 BVerfGG), bleiben nicht nur in der Praxis weitgehend unbeachtet, sondern auch von staatlichen Stellen, seit dem Einigungsvertrag 9 - durch die Aufrechterhaltung der Fristenregelung in den neuen fünf Ländern sogar vom Gesetzgeber. Noch mehr: Karl Lackner10 weist in seiner neuesten Kommentierung zutreffend darauf hin, daß im Zusammenhang mit den sog. „flankierenden Maßnahmen" die Abtreibungshilfe (§§ 200 f, 200 g RVO, BeihVorschr. der Länder, § 1 Abs. 1 LohnFG) bei einem ,nicht rechtswidrigen Abbruch der Schwangerschaft durch einen Arzt' „in der Rechtswirklichkeit infolge Fehlens jeglicher Kontrolle zu einem Instrument staatlicher Unrechtsteilnahme geworden" ist. Isensee11 hat es schon früher „kurz und ohne Verklausulierung" wie folgt umschrieben: „Der Staat tötet". Nach dem Urteil des BayObLG vom 26.4.1990 12 , das sich an die Rechtsgrundsätze des Fristenlösungsurteils hält, ändert die Straffreiheit des Schwangerschaftsabbruchs in den Fällen der Notlagenindikation nichts an der Rechtswidrigkeit der Tat und an der (verfassungsrechtlich gebotenen und fortbestehenden) 13 Schutzverpflichtung gegenüber dem ungeborenen Leben. Die Anzeichen stehen nicht danach, als ob sich in absehbarer Zeit an der Diskrepanz zwischen dem verfassungsgerichtlich gebotenen Lebensschutz und der Rechtswirklichkeit Entscheidendes ändert. Zwar ist der Gesetzgeber auf Grund des Einigungsvertrags gehalten, bis Ende 1992 im vereinten Deutschland auch auf dem Gebiet des Lebensschutzes Ungeborener die Rechtseinheit zu verwirklichen und den Schutz besser zu gewährleisten, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist14. Die bisher eingebrachten Gesetzentwürfe 15 entsprechen - vom (parlamentarisch weniger aussichtsreichen) Gesetzentwurf der WernerGruppe 16 einmal abgesehen - weitgehend den Anforderungen des verfassungsgerichtlichen Urteils nicht. Es ist daher wiederum mit einer verfassungswidrigen Neuregelung zu rechnen. Und offen bleibt, ob und wann das Bundesverfassungsgericht erneut in der Sache entscheiden wird. Die Rechtstatsache ist einmalig, daß nicht nur die Praxis sich von verfassungsgerichtlichen Geboten wegentwickelt hat und staatliche Kontrollinstanzen dies hingenommen haben und hinnehmen, sondern 9 V. 3 1 . 8 . 1 9 9 0 i.V.m. Art. 1 des Einigungsvertragsgesetzes v. 23.9.1990 (BGBl. II S. 885, 889). 10 StGB, 19. Aufl. 1991 §218 Rdn. 14, ferner § 2 1 8 a Rdn.4. 11 NJW 1986, 1646. 12 NJW 1990, 2331. 13 BVerfGE 39, 1, 50. 14 Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages (Fn. 9). 15 Siehe Fn.31. 16 BT-Drucks. 12/1179 v. 20.9.1991.

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daß auch der Gesetzgeber - nach einer verfassungswidrigen Zwischenregelung im Einigungsvertrag - sich weiterhin anschickt, an der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung vorbeizulegeferieren. Oder ist etwa das Fristenlösungsurteil schlicht überholt, obsolet zufolge des Gangs der Ereignisse? Von interessierter Seite wird das gelegentlich behauptet. Dies wird aber schon dadurch widerlegt, daß gerade Kritiker des Fristenlösungsurteils an einer verfassungsgerichtlichen Klärung höchst uninteressiert sind. Der Normenkontrollantrag der Bayerischen Staatsregierung17 erfuhr daher heftige Kritik 18 . Immer wieder ist das Bestreben spürbar, einen neuen verfassungsgerichtlichen Spruch zu inhibieren oder (durch eine gesetzliche Neuregelung) zu erschweren oder sonst einer Entscheidung in der Sache selbst auszuweichen19. Das erklärt sich - für die rechtlich Informierten - aus der Überzeugungskraft der Rechtssätze des Fristenlösungsurteils, die es zwar hinsichtlich ihrer Akzeptanz in der medienbeeinflußten Öffentlichkeit immer schwerer haben mögen, gegen deren juristische Stringenz Durchgreifendes jedoch nicht vorgebracht werden kann. In jüngerer Zeit hat Schiinemann20 in einer eingehenden Analyse dargetan, daß die grundrechtsdogmatische Position des Fristenlösungsurteils mit den bisherigen Gegenargumenten nicht zu erschüttern ist. Wo liegen eigentlich die Gründe, die dazu geführt haben, daß in unserer Rechtswirklichkeit das, was im Fristenlösungsurteil als „vitale Basis der Menschenwürde" und als „Voraussetzung aller anderen Grundrechte" bezeichnet worden ist, inzwischen so wenig gilt? Ist hier „ein Wandel der . . . in der Bevölkerung herrschenden Anschauungen"21 eingetreten? Ein Wandel freilich, der nach ausdrücklicher Meinung des Bundesverfassungsgerichts22 an der Schutzverpflichtung des Staates nichts ändern könnte, da es dem Bundesverfassungsgericht23 „von der Verfassung aufgetragen ist, die Beachtung ihrer grundlegenden Prinzipien (hier: ,die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen') durch alle Staatsorgane zu überwachen und gegebenenfalls durchzusetzen...". Da nicht davon auszugehen ist, daß das Bundesverfassungsgericht von diesen Grundsätzen abgehen24 oder die biologischen Fakten sowie die Vgl. Wilms ZRP 1990, 472. Z.B. Fischer, Strafverteidiger 1990, 332. 19 Selbst das Bundesverfassungsgericht wich bisher einer Sachentscheidung aus: Nachw. bei Dreher-Tröndle, StGB, 45. Aufl. 1991, vor §218 Rdn.8g. 20 ZRP 1991, 387. 21 BVerfGE 39, 1, 67. 22 AaO. 23 AaO. 24 Reis NJW 1991, 220 ff; vgl. auch Eser ZRP 1991, 294. 17 18

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hieraus resultierenden menschenrechtlichen Konsequenzen 25 vernachlässigen könnte, sind die eingebrachten Gesetzentwürfe danach zu beurteilen, ob sie den Anforderungen des Fristenlösungsurteils entsprechen, ob sie also dem ungeborenen menschlichen Leben den gebotenen Schutz der Verfassung in dem Sinne gewährleisten, daß - der Staat - auch gegenüber der Mutter - sich schützend und fördernd in der Weise vor dieses Leben stellt, daß - während der ganzen Dauer der Schwangerschaft der Vorrang des Lebensschutzes vor dem Selbstbestimmungsrecht der Schwangeren gesichert i s r ' und daß ferner - die Gleichwertigkeit von geborenem und ungeborenem Leben 2 7 und - die grundsätzlich gebotene rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs im Gesetz zum Ausdruck kommt 2 8 , weil - wie es im verfassungsgerichtlichen Urteil heißt - „auf eine klare Kennzeichnung des Vorgangs als ,Unrecht' nicht verzichtet werden kann« 2 9 .

Verfassungsrechtliche Mängel der eingebrachten Gesetzentwürfe 3 0 Daß die eingebrachten Gesetzentwürfe 31 - von dem erwähnten Entwurf der Werner-Gruppe 32 abgesehen - diesen verfassungsgerichtlichen Anforderungen auch nicht annähernd entsprechen, liegt auf der Hand und bedarf einer ausführlicheren Darlegung nicht33. Vor allem sind die erwähnten Entwürfe - entgegen dem verfassungsgerichtlichen Gebot 34 auch der entscheidenden (und im geltenden Recht heftig umstrittenen) Rechtsfrage nach Recht und Unrecht35 ausgewichen und verleiten damit weiterhin zur bisherigen Fehlauslegung 36 , die lediglich „straffreien" Schwangerschaftsabbrüche in „nicht rechtswidrige" umzudeuten, um über die Sozialversicherung die Mittel der Solidargemeinschaft für die Abtreibungshilfe in Anspruch nehmen zu können. Die in allen Entwürfen vorgesehenen und im grundsätzlichen unbestrittenen sozialpolitischen Maßnahmen vermögen die staatliche „Verpflichtung zum indiviTröndle (Fn. 8) S. 14. B V e r f G E 39, 1 (Leitsätze). 2 7 B V e r f G E 39, 1, 59. 28 B V e r f G E 39, 1, 53. 2 9 B V e r f G E 39, 1, 46. 30 Das Nachfolgende gibt zum Teil die Stellungsnahme wieder, die der Verfasser vor dem Sonderausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens" des Deutschen Bundestags am 14.11.1991 abgegeben hat. 31 Gesetzentwürfe der C D U / C S U (BT-Drucks. 12/1178 neu), der S P D (BT-Drucks. 12/841) und der F D P (BT-Drucks. 12/551). 32 Vgl. Fn. 16. 33 Aus diesem Grunde wird auf die Gesetzentwürfe P D S / G r ü n e Liste (BT-Drucks. 12/ 898) und Bündnis 9 0 / D i e Grünen (BT-Drucks. 12/696) überhaupt nicht eingegangen. » B V e r f G E 39, 1, 59. 35 Vgl. Brießmann J R 1991, 397. 36 Nachw. bei Dreher-Tröndle (Fn. 19) vor §218 R d n . 8 i . 25

26

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duellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens"37 nicht zu ersetzen. Der verfassungsgerichtlich gebotene Vorrang dieses Lebensschutzes hat in keinem der hier kritisierten Gesetzentwürfe einen Niederschlag gefunden. Umgekehrt: Das Leben des ungeborenen Kindes steht nach diesen Entwürfen - offen oder kaschiert - letztlich allein in der Verfügungsgewalt der Schwangeren. - Der SPD-Entwurf setzt sich mit einer reinen Fristenregelung eindeutig und ganz bewußt - offensichtlich in der Erwartung, daß es zu keinem verfassungsgerichtlichen Spruch mehr kommt oder daß sich die Rechtsprechung ändert - über das verfassungsgerichtliche Gebot hinweg. - Hingegen hebt der FDP-Entwurf auf das Fristenlösungsurteil ab und glaubt allein schon durch die bereits im geltenden Recht obligatorische Beratung der Schwangeren den Vorrang des Lebensschutzes bewirkt zu haben38. Dieser ohnehin befremdliche Schluß ist um so weniger nachvollziehbar, als der FDP-Entwurf ausdrücklich von einer offenen, also dem Lebensschutz nicht einmal verpflichteten (!) Beratung ausgeht. - Ebensowenig sind Argumentationen haltbar, auf die sich der - an den sog. „Dritten Weg" der Bundestagspräsidentin Süßmuth39 anlehnend - Mehrheitsgesetzentwurf der CDU/CSU-Bundestagsfraktion40 stützt. In der Sache läuft er nicht nur verfassungsgerichtlichen Forderungen des Fristenlösungsurteils zuwider, er begegnet auch strafrechtsdogmatisch durchgreifenden Einwänden: Lenckner41 führte in der öffentlichen Anhörung vor dem Sonderausschuß des Bundestags42 zu Recht aus, daß dieser Mehrheitsentwurf „mit der überkommenen Rechtfertigungsdogmatik nicht zu vereinbaren" sei. Was als „Indikationsregelung" vorgestellt wird, ist - wie Büchner43 schreibt - nichts anderes als eine „Fristenregelung mit irreführendem Etikett". In der Tat: Dieser Entwurf neutralisiert in der Sache gerade die Kautelen, die das Wesen einer Indikationsregelung ausmachen, und steuert - wenn auch über umständliche Formulierungen - gerade den Effekt an, um den es den Fristenlösern seit Anbeginn ging. Denn auf das objektive Vorliegen der - ohnehin weiter und noch weniger scharf als im geltenden Recht gefaßten „psychosozialen Notlage" 44 kommt es de facto überhaupt nicht an: Die

37 38 39 40 41 42 43 44

BVerfGE 39, 1, 58. BT-Drucks. 12/551 S. 14. V. 23. 7.1990 (hierzu Tröndle [Fn. 8]). BT-Drucks. 12/1178 (neu). Manuskript S. 2, 8, 9. V. 14.11.1991. ZRP 1991, 435. §218 a Abs. 2 Nr. 1 des CDU/CSU-Entwurfs.

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Schwangere braucht nämlich dem Arzt nur darzulegen, daß für sie, also aus subjektiver Sicht, eine „schwerwiegende Konfliktsituation" gegeben ist. Demzufolge genügt es, daß der ausgesuchte Arzt - ohne die Darlegung überprüfen zu können oder auch nur zu dürfen — auch seinerseits unüberprüfbar ohne Zuziehung eines weiteren Arztes „zu der Erkenntnis gelangt, daß eine psychosoziale Notlage vorliegt und er seine ärztliche Beurteilung festhält" 45 ! Ganz unwillkürlich fragt man sich, was für einen Sinn eigentlich eine Strafnorm machen soll, über deren Anwendbarkeit allein diejenigen Personen „eigenverantwortlich" und unüberprüfbar zu entscheiden haben, von denen gerade die stärkste Gefährdung für das durch die strafrechtliche N o r m geschützte Rechtsgut ausgeht? Auf keinem anderen Gebiet würde ein solcher Gesetzesvorschlag auch nur ernst genommen. Er hätte daher auch nicht die Chance, wissenschaftsterminologisch - wie das durch EserAb geschah - als „notlagenorientiertes Diskursmodell" nobilitiert zu werden, dem „zumindest appellative" Wirkung beizulegen sei. Die strafrechtsdogmatischen Probleme und die Konsequenzen einer solchen verqueren Norm mit der völligen Subjektivierung der „psychosozialen Notlage" hat Lenckner47 in der bereits erwähnten Anhörung im einzelnen dargetan: Es läßt sich - so sagt er - „ein Rechtfertigungsgrund schlechterdings nicht mehr begründen", wenn dessen Basis nicht der objektive Sachverhalt, sondern rein subjektive „Darlegungen" und „Erkenntnisse" sein sollen. In der Tat. Recht kann schließlich nicht das sein, was der an der Rechtsgutsverletzung möglicherweise Interessierte für „Recht" hält! Damit zeigt sich aber auch, daß diejenigen, die in ihren Gesetzentwürfen einer ausdrücklichen Klärung der Frage nach „Recht" und „Unrecht" ausgewichen sind, in anderer Weise mit dem entscheidenden Sachproblem der Rechtsnatur der Indikationen konfrontiert werden.

Meinungen im Schrifttum Die hier kritisierten Gesetzentwürfe erhalten aber auch durch die sie favorisierenden Stimmen im Schrifttum keine hinreichende rechtliche Stütze. Auf Auffassungen, die den verfassungsrechtlich gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens von vornherein negieren oder dessen Vorrang mit verfehlter Argumentation bestreiten, kann nicht im einzelnen eingegangen werden. Das gilt insbesondere von der Fehlinterpretation des

45 46 47

§218a Abs.2 N r . 2 aaO. ZRP 1991, 297. Manuskript S. 6 ff.

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Art. 4 GG durch Monika Frommet*, die jeden Schwangerschaftsabbruch als eine „eigenverantwortliche Gewissensentscheidung" 49 auf das Grundrecht der Gewissensfreiheit (!) glaubt stützen zu können 50 . Es gilt aber auch für die Auffassung von Köhlerder von einer „freiverantwortlichen und wohlüberlegten Entscheidung" die „Übernahme des Personensorgerechts" für das Kind abhängen lassen will. Aus mehrfachen Gründen unhaltbar sind auch die „rechtsdogmatischen Überlegungen Margot von Renesses52, die - es sei hier nur auf die strafrechtliche Seite eingegangen - den „Selbstabbruch der Schwangeren als Unterlassungstat" begreift und hierbei nicht nur die Tatbestandsstruktur des §218 StGB verkennt, sondern - entgegen der ganz herrschenden Meinung in Rechtsprechung und Schrifttum — auch grundlegende Kriterien für die Unterscheidung von Tun und Unterlassen fehlinterpretiert 53 . Immer wieder wird außer acht gelassen, daß das zu schützende Rechtsgut, das ungeborene Kind, eben schon existiert. Es ist in diesem Sinne auch schon „auf der Welt". Deren Licht zu erblicken suchen freilich diejenigen dieses Kind zu hindern, die für seine Existenz die Verantwortung tragen. Ferner ist noch auf Bernsmann54 einzugehen, der das Beratungs- und Feststellungsverfahren des geltenden Rechts als „genehmigungsähnliche" Freigabe der Tötung Ungeborener interpretiert. Demgegenüber hat Lackner55 darauf hingewiesen, daß Bernsmann „einem einfachen Gesetz eine ihm nicht zukommende verfassungsrechtliche Wirkung beilegt". Dieses zutreffende Argument trifft freilich für alle Anhänger der sog. „Rechtfertigungsthese" zu, nach der - um der Konsistenz der einfachrechtlichen Regelung willen - alle indizierten Schwangerschaftsabbrüche rechtmäßig sein sollen. Schließlich kann hier nicht auf diejenigen Autoren eingegangen werden, die Argumentationen für eine Fristenlösung oder für die Streichung des §218 StGB dadurch zu liefern suchen, daß sie das Personsein vom Menschsein abkoppeln, für das Menschenrecht auf Leben und für die Menschenwürde lediglich ein (abgekoppeltes) „Personsein" für erforderlich halten, dessen Voraussetzungen sie nach ganz verschiedenen und vagen Kriterien selbst bestimmen 56 , wie Funktionsfähigkeit des Gehirns 48

ZRP 1990, 351. Hierzu im einzelnen Tröndle (Fn. 8) S. 12 ff. Hiergegen auch Schünemann ZRP 1991, 386. 51 GA 1988, 435. 52 ZRP 1991, 322; hiergegen mit Recht Büchner ZRP 1991, 433. 53 Hiergegen im einzelnen Beckmann, Vorschläge für die Neuregelung des Abtreibungsrechts, Beiträge 2 der Aktion Lebensrecht für Alle, 1991, S. 13. 54 Arbeit und Recht 1989, 10. 55 AaO(Fn.lO) §218aRdn.4. 56 Hierzu im einzelnen Tröndle, aaO (Fn. 8) S. 7. 49

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(Saß), Geburt (Ramm), Ich-Bewußtsein, Rationalität (Hoerster, Singerf7. Die mehr oder weniger willkürlichen und nicht einmal in sich schlüssigen Begründungen dieser Autoren 58 geben keine stichhaltige Begründung dafür, den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens zurückzunehmen. Außerdem ist seit Inkrafttreten des Embryonenschutzgesetzes 59 gesetzlich festgelegt, daß selbst das vornidative menschliche Leben an der Schutzgarantie des Art. 2 Abs. 1 S. 2 G G teilhat und es schon nach dem Gleichheitsgrundsatz des Art. 3 G G undenkbar wäre, Embryonen in vitro stärker zu schützen als die in utero. Nähere Erwähnung verdienen die Beiträge von Eser und Schünemann, die sich in jüngerer Zeit eingehender zu den Fragen der Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs und der vorliegenden Gesetzentwürfe geäußert haben.

Esers „notlagenorientiertes Diskursmodell" Eser60 vertritt in einer „Uberlegungsskizze" als Schlußfolgerung aus einer rechtsvergleichenden Analyse vorhandener Entwürfe und Modelle ein sog. „notlagenorientiertes Diskursmodell", dem in der Sache weitgehend der CDU/CSU-Mehrheitsentwurf folgt. Er bezeichnet dieses Modell als „Mittelweg" zwischen den „Extrempositionen" des (offensichtlich verfassungswidrigen) reinen „Fristenmodells auf Selbstbestimmungsbasis" und des „Indikationsmodells auf Drittbeurteilungsbasis", gegen das er bisher wenig erörterte Einwände von Gewicht erhebt. Freilich entspricht - wie schon dargelegt - dieser „Mittelweg" den verfassungsgerichtlichen Anforderungen nicht. Auch bleibt rätselhaft, was Eser für den Lebensschutz erwartet, wenn er vom Indikationsmodell die letzten (schwachen) Sicherungen dadurch zurücknimmt, daß er die „Dniibeurteilungsbasis" durch die „Se/&5ibestimmungsbasis" ersetzt, und was er ferner von dem mehrfach erwähnten appellativen Aspekt erhofft, wenn er zugleich eine non-direktive Beratung favorisiert. Esers Modell wird seinem eigenen Anspruch einer „sozialpolitisch konstruktiven Reform" 61 nicht gerecht, deren „Endziel" nicht nur „die Eindämmung des illegalen, sondern auch die Vermeidung des legalen Schwangerschaftsabbruchs" sein soll. Zunächst: Ist es überhaupt noch möglich, zwischen „legalem" und „illegalem" Schwangerschaftsabbruch in der Praxis auch nur zu unterscheiden, solange die Schwangere - wie

57 58 59 60 61

Hierzu Tröndle NJW 1991, 2540. Hierzu Tröndle aaO (Fn. 8) S. 7. V. 13.12.1990 (BGBl. I S.2746). ZRP 1991, 297; ferner JZ 1991, 1004, 1014. ZRP 1991, 292.

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Eser es für richtig hält - letztlich und unüberprüfbar ihre „selbstverantwortliche Entscheidung" über Leben und Tod ihres ungeborenen Kindes trifft? Er sagt, daß es bei individuellen Konflikten „unüberwindliche Grenzen der Darlegbarkeit und Objektivierbarkeit" gebe. Die Feststellung des Schuldumfangs und die Findung der gerechten Strafe sind eine ureigene und alltägliche Aufgabe des Richters und die Feststellung geringerer Schuld auch Aufgabe des ermittelnden Staatsanwalts. Schließlich kann sich die von Eser zum Maßstab erhobene „Gewissenentscheidung" auch nur an Normen orientieren. Daher belegt das seltsame, sonst nie zu hörende Argument der mangelnden Objektivierbarkeit, wie wenig die eigentlich konfligierenden Rechtsgüter noch im Blick sind. So spricht Eser62 im Zusammenhang mit der Beratung von den „Eigeninteressen des betroffenen Kindes", die „angemessen artikuliert werden" sollen, wo es doch für das Kind nur um eine „Alles-oder-nichtsEntscheidung"63 geht. Seine weiteren apodiktischen Hinweise („Gewissensentscheidungen"64 seien „nicht einfach durch andere ,vertretbar'") erinnern an feministische Argumentationen. Ihnen ist mit Stürnerhb zu erwidern, der zur „weiblichen Besetzung des Themas" mit Recht gesagt hat: „In rechtsethischen Grundentscheidungen kann es keine Sonderqualifikation eines Geschlechts geben". Schünemanns obligatorisches „Krisenmanagement" Beachtung verdient Schünemanns66 Argumentation, der einen verzweifelten Vorschlag gemacht hat, den Lebensschutz wirklich zu verbessern. Er lehnt es ab, an den bekannten Fristenlösungs- und Indikationsregelungen „herumzudoktern" und schlägt eine „in Gestalt eines obligatorischen Krisenmanagements stark armierte Fristenlösung" vor, über die noch zu sprechen sein wird. Nach Schünemanni7 ist es unhaltbar, den grundrechtlichen Schutz des Embryos und die prinzipielle Schutzpflicht des Staates gegenüber dem individuellen Leben - auch in seinen „nichtpersonalen" Früh-, Spät- und Zwischenphasen - in Frage zu stellen oder zu bestreiten. Er meint ferner68, daß die These vom lediglich moralischen Status des Embryos „ins Mark des (verfassungsgerichtlichen) Abtreibungsurteils zielt". Er bezeichnet schließlich diese These im Hinblick auf das EmbryonenZRP 1991, 297. So richtig Schünemann ZRP 1991, 385. 64 Hierzu Tröndle aaO (Fn. 8) S. 12. 65 J Z 1990, 716. » ZRP 1991, 397. 67 ZRP 1991, 385. 68 AaO. 62

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Schutzgesetz als „einen mit der gesamten Rechtsentwicklung nicht zu vereinbarenden, aus dem Rahmen vertretbarer Verfassungsinterpretation herausfallenden Mißgriff". In der Tat wäre, wenn der Embryo nur einen moralischen Status hätte, das strafbewehrte Verbot der „verbrauchenden Forschung" nach §2 des Embryonenschutzgesetzes verfassungswidrig. Denn die Integrität der Embryonen könnte dann gegenüber dem Grundrecht der Forschungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 3 G G nicht bestehen69. Auch sonst kennzeichnet Schiinemann70 die Ursachen und Gründe für die Ausweglosigkeit der Situation zutreffend: Er weist darauf hin, daß der Gesetzgeber schon das 15. Strafrechtsänderungsgesetz mit einem „gewissen Augurenlächeln" verabschiedet und ein ineffizientes Beratungssystem initiiert hat, das als „Pilatus-Geste" unfähig ist, „die Wertordnung des Grundgesetzes auch nur symbolisch zu kommunizieren". Dem will Schünemann durch sein Krisenmanagement begegnen in Anlehnung an die in der Mühlheim-Kärlich-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts 71 entwickelte Kategorie des Grundrechtsschutzes durch Verfahren. Danach soll in Konfliktfällen ein „Krisenmanager" mit einem von ihm organisierten und finanzierbaren Hilfsangebot der Schwangeren zur Seite stehen, um zu verdeutlichen, daß der Staat seine ihm durch Art. 2 Abs. 2 G G auferlegte Pflicht, sich vor das im Mutterleib entwickelnde Leben zu stellen, „wirklich ernst" nimmt. Eine heilsame Konsequenz dieses Vorschlages wäre immerhin, daß für Beratungsstellen, die den Lebensschutz als vorrangiges Beratungsziel nicht anerkennen, kein Raum mehr wäre. Denn die Forderung nach einer „offenen", neutralen Beratung geht im Grunde auf pseudopsychologische Quisquilien zurück, hinter denen sich die Absicht verbirgt, das Ungleichgewicht, das zwischen den konfligierenden Werten besteht, einzuebnen. Die These von der offenen Beratung verkennt ferner, daß eine staatliche oder soziale Beratung nicht außerhalb des Rechts stehen und sich nie auf die Begehung von Unrecht beziehen kann 72 . Bei der Steuer- oder Drogenberatung wird hierüber kein Wort verloren. Warum ist das eigentlich bei der Schwangerenberatung anders, wo es um das Leben eines ungeborenen Menschen geht? Eine offene Schwangerenberatung ist - wie F. C. Schroeder7} sagte - nichts anderes als eine Tarnkappe für die Option einer Freigabe der Tötung ungeborener Kinder. Sinn kann eine Beratung überhaupt nur machen, wenn und soweit sie auf die Erhaltung des ungeborenen Lebens gerichtet ist74. " Günther MedR 1990, 162. 70 ZRP 1991, 390. 71 BVerfGE 53, 65. 72 Hierzu im einzelnen Tröndle, Festschrift für Willi Geiger 1989 S. 198 ff. 73 JuS 1991, 365. 74

Vgl. auch Schünemann ZRP 1991, 391.

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Gegen Schünemanns Krisenmanagement ist aber einzuwenden, daß bei ausgebliebenem Erfolg letztlich - wie Konfliktschwangere und das abtreibungswillige Umfeld bald wissen werden - immer „fristenlösungsgemäß", also verfassungswidrig, verfahren wird. Wer also die Prozedur des Krisenmanagements durchzustehen bereit ist, darf - so er nur will straflos töten, selbst wenn ausreichende Hilfen zur Verfügung gestanden hätten. Das gilt dann auch - da ja das Strafrecht eliminiert werden soll für den in das Krisenmanagement miteinbezogenen, aber hilfsunwilligen Partner. Schünemanns „Grundrechtsschutz durch Verfahren" kann in solchen Fällen kontraproduktiv wirken: denn die Verfahrensbeachtung verbürgt sogar dort Straffreiheit, wo das Tdferunrecht am schwersten wiegt. Vor allem sind durchgreifende Einwände gegen Schünemann insoweit zu erheben, als er aus einer „schier einmaligen Konglomeration von Hindernissen" 75 auf die mangelnde Vermittelbarkeit der die Norm tragenden Wertordnung und deren fehlende Durchsetzbarkeit schließt und bereits hieraus folgert, daß sich die Aufrechterhaltung eines strafrechtlichen Schutzes nicht empfehle. Dies kommt, da der Wert des Rechtsgutes als Höchstwert unbestritten ist, einer partiellen Aufkündigung von Grundprinzipien der Rechtsordnung gleich. Das Bundesverfassungsgericht76 hebt ausdrücklich hervor, daß der Gesetzgeber, falls „in einem Teil der Bevölkerung der Wert des ungeborenen Lebens nicht mehr voll anerkannt" werde, nicht resignieren dürfe, sondern vielmehr den ernsthaften Versuch für einen wirksameren Schutz zu unternehmen habe. Auch der immer wieder gehörte Hinweis geht fehl, für die „Durchsetzbarkeit" eines hinreichenden Lebensschutzes sei zuerst einmal ein allgemeiner „Bewußtseinswandel" vorauszusetzen und zu schaffen. Träfe diese These zu, so erwiese sie die „Disponibilität der verfassungsmäßigen Grundrechte zugunsten gesellschaftlicher Strömungen" 77 . Wer die Einhaltung von Grund- und Menschenrechten sowie deren Fortgeltung - und sei es auch nur partiell - von der Durchsetzbarkeit des einfachen Rechts abhängig macht, argumentiert nicht mehr vom Recht, sondern von der Opportunität her. Er ermuntert auf diese Weise die nicht wenigen gesellschaftlichen Kräfte, die sich vornehmlich an der Macht und nicht am Recht orientieren, es mit der „Nicht-Durchsetzbarkeit" zu versuchen. Die Geschichte lehrt, und zwar gerade am Beispiel der Abtreibungsdiskussion, wie leicht und wie schnell kleine Gruppen,

75 76 77

A a O S. 389. BVerfGE 39, 1, 66. So der Arzt und Philosoph Hans Thomas, Scheidewege 1990/91, S. 135.

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wenn sie von den Massenmedien wirksam unterstützt werden, „politische Zwänge" herbeiführen können 78 . Würde künftig allen politischen „Ausweglosigkeiten" mit dem Hinweis auf die Akzeptanzbedürftigkeit abgeholfen, so ginge es den Grundrechten an die Substanz. Mit dem Argument der „Nicht-Durchsetzbarkeit" des Lebensschutzes könnte dann - angesichts der auf den Kopf gestellten Alterspyramide — auch versucht werden, Probleme der Altenpflege und der Kostenexplosion auf dem Gebiet des Gesundheitswesens über den „bequemen" Ausweg der aktiven Euthanasie „zu lösen". Soll dann auch im Wege des „Grundrechtsschutzes durch Verfahren" ein „Krisenmanager" in Funktion treten und soll dieser „Krisenmanager" am noch beschwerlicheren Lebensende Angehörige, Altenpfleger und Umfeld über Pflege und weitere Hilfen mit erheblichem Aufwand beraten, um hernach aber - unbeschadet des Beratungsergebnisses - die Tötung allein der Entscheidung der zur Pflege berufenen und mit ihr belasteten Person zu überlassen? Gewiß will das Schünemann nicht. Nur: Von seiner Argumentation her vermag er hiergegen nichts mehr auszurichten. Denn das Recht, zumal das Menschenrecht, darf - als letzter Rettungsanker der Schwachen! mit dem Einwand der „Nicht-Durchsetzbarkeit" nicht ausgehebelt werden, sonst könnte dieser Einwand dereinst auch von denen erhoben werden, die als Kinder erfahren haben, daß ihre Geschwister von den Eltern getötet wurden und daß der Staat nichts dabei fand und dazu noch verhalf. CDU/CSU-Minderheitsentwurf der Werner-Gruppe79 Gegenüber allen bisher kritisierten Gesetzentwürfen und Regelungsmodellen liegt dem CDU/CSU-Minderheitsentwurf der WernerGruppe jedenfalls ein in sich schlüssiges rechtliches Konzept zugrunde, das verfassungsgerichtlichen Forderungen entspricht, strafrechtsdogmatisch keinen Einwänden unterliegt und — vom Ansatz her - auch eine Verbesserung des Lebensschutzes erwarten läßt. Freilich bedarf eine Reihe von Detailfragen noch der Erörterung 80 , auf die hier im einzelnen nicht eingegangen werden kann. Dieser Entwurf wird als einziger der selbstverständlichen Voraussetzung einer sauberen Gesetzessprache gerecht. Er umschreibt den Tatbestand wie folgt: „wer ein ungeborenes Kind tötet". Die gängige Formulierung „wer eine Schwangerschaft abbricht" ist nämlich schon sachlich 78 Gante, §218 in der Diskussion. Meinungs- und Willensbildung 1945-1976, Düsseldorf, 1991 S. 131 ff. 79 BT-Drucks. 12/1179. 80 Vgl. hierzu z.B. die Stellungnahme von Lenckner (Fn.41) Manuskript S.4ff.

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nicht stimmig: Ein „Abbruch der Schwangerschaft" hat per se noch keine juristische Relevanz, dann nämlich nicht, wenn ζ. B. - gar nicht so selten - aus medizinischen Gründen die Geburt vorzeitig eingeleitet wird. Allein die Tötung ist der gemeinte tatbestandliche Akt. Die Tatbestandsumschreibung „Abbrechen der Schwangerschaft" ist übrigens schon strafrechtsdogmatisch ein Unikat 8 1 , weil der so umschriebene Tatbestand das geschützte Rechtsgut überhaupt nicht erwähnt. Für alle Straftatbestände ist das Rechtsgut aber Ausgangspunkt und Leitgedanke für die Tatbestandsbeschreibung, also der Zentralbegriff 82 . "Woher rührt eigentlich das Interesse, diesen semantischen Nebel nicht einmal aus der Gesetzessprache zu vertreiben? Würde hier der Gesetzgeber seiner Pflicht einer sachlich und strafrechtsdogmatisch gebotenen Verdeutlichung des Gesetzestextes gerecht, so träte auch „die von der Verfassung geforderte rechtliche Mißbilligung des Schwangerschaftsabbruchs . . . auch in der Rechtsordnung unterhalb der Verfassung deutlich in Erscheinung" 8 3 . Auch böte diese gesetzesterminologische Klärung einen bedeutsamen Anstoß für einen Bewußtseinswandel, dessen Ausbleiben oft gleisnerisch beklagt wird. Mit Recht hat der Werner-Entwurf die sog. „verkappte Fristenregelung" des § 2 1 8 Abs. 3 S . 2 StGB, die im wissenschaftlichen Schrifttum ganz überwiegend als verfassungswidrig angesehen wird 84 , nicht übernommen, wohl aber eine Straffreiheit bei besonderer Bedrängnis der Schwangeren - beschränkt auf 12 Wochen nach der Empfängnis vorgesehen. Sachgerecht ist es insbesondere, daß die vom Entwurf umschriebenen weiteren Fälle der Straflosigkeit ( § 2 1 8 a) nicht durch eine sog. Indikationsfeststellung vorweg bestimmt werden. Denn die Einwände, die fser 8 5 insoweit gegen das „Indikationsmodell auf Drittbeurteilungsbasis" erhoben hat, greifen jedenfalls mit der Begründung durch, daß bisher in der Tat „noch niemand auf den Gedanken gekommen ist", im Strafrecht „das Vorliegen von strafbefreienden Merkmalen", seien sie rechtfertigender oder entschuldigender Art (§§34, 35, 193 S t G B ) „von irgendeinem Dritten, geschweige einer Gutachterkommission ex ante prüfen und bestätigen zu lassen". In der Tat widerspricht es grundlegenden Prinzipien der rechtsstaatlichen Ordnung, eine staatliche oder eine private Stelle zu legitimieren, ex ante Rechtsfolgen zu bestimmen, die die Verletzung eines nicht disponiblen Rechtsguts im Falle einer Notlage

" Dreher-Tröndle (Fn. 19) vor §218 Rdn.5. 82 Jescheck, Strafrecht, 4. Aufl., 1988, S.231, 233. 83 So wörtlich das Petitum des Bundesverfassungsgerichts BVerfGE 39, 1, 53. 84 Nachw. bei Lackner (Fn. 10) §218 Rdn. 12. 85 ZRP 1991, 295.

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oder eines Interessenwiderstreits nach sich ziehen wird 86 . Ob und inwieweit grundsätzlich strafbare Rechtsverletzungen für den Täter strafbar sind, kann erst nach begangener Tat zuverlässig beurteilt werden und auch immer nur von der im Rechtsstaat hierfür kompetenten Stelle der Justiz. Hieraus folgt aber auch zwingend, daß die Voraussetzungen der Straflosigkeit in allen Fällen des Schwangerschaftsabbruchs nach der Tat gerichtlich überprüft werden können und müssen, falls Zweifel bestehen, ob die Straffreiheitsvoraussetzungen gegeben waren. Soweit es die Gesetzesentwürfe und auch Eser in seinem „notlagenorientierten Diskursmodell" explizit darauf anlegen, jede gerichtliche Überprüfung eines Schwangerschaftsabbruchs schon von Gesetzes wegen auszuschließen, ist das, solange das Gesetz den Schwangerschaftsabbruch für strafbar hält und nur unter bestimmten Voraussetzungen Straffreiheit gewährt, überhaupt nicht möglich: Der Gesetzgeber kann nicht für einzelne Straftatbestände die Geltung der allgemeinen Regeln des Straf- und Strafprozeßrechts nach Belieben dispensieren 87 . Denn auch überall sonst, insbesondere in den von Eser angeführten Beispielen der §§34, 35, 193 StGB, wo wegen Notsituationen oder bei Interessenkonflikten Strafbefreiungsgründe gegeben sind, ist deren Vorliegen stets überprüfbar. Es ist nicht einsehbar, daß für notlagenbedingte Schwangerschaftskonflikte etwas anderes gelten könnte. Wer Einwände hiergegen erhebt, gibt zu erkennen, daß es ihm im Zweifel gerade nicht um den Lebensschutz geht. Die Überprüfbarkeit, ob bei einem Schwangerschaftsabbruch die Gründe für eine Straffreiheit vorliegen, ist die Nagelprobe dafür, ob das Gesetz die entscheidenden Bedingungen für den verfassungsrechtlich gebotenen Lebensschutz erfüllt und den Vorrang des Lebensrechts sowie die Forderung nach einem besseren Lebensschutz ernst nimmt.

Ausblick Der „Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers", den „Schutz des vorgeburtlichen Lebens besser zu gewährleisten, als dies in beiden Teilen Deutschlands derzeit der Fall ist" (Art. 31 Abs. 4 des Einigungsvertrages), werden die hier kritisierten Gesetzentwürfe nicht gerecht. Das aufschlußreiche Werk des jungen Historikers Michael Gante „§218 in der Diskussion. Meinungs- und Willensbildung 1945-1976" 88 belegt in seiner objektiv-sachlichen und detailliert-annotierten Darstellung des 84 Siehe hierzu die Hackethal-Entscheidung des Verwaltungsgerichts Karlsuhe JZ 1988, 206. 87 Anders Eser, JZ 1991, 1012; vgl. hierzu aber Brießmann, JR 1991, 401. 88 AaO (Fn. 78).

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Ablaufs der Abtreibungsdebatte in den siebziger Jahren auf beklemmende Weise, daß aus den Vorgängen und Erfahrungen jener Jahre für die derzeitige Abtreibungsdiskussion Lehren nicht gezogen werden, jedenfalls nicht insoweit, als man überhaupt bereit ist, sich um einen besseren Lebensschutz zu bemühen. Schon 1974 wurde von den Anhängern der Fristenlösung und der Indikationsregelung die Beratung als „eigentliches Kernstück" der Regelung bezeichnet, obwohl damals schon „unter Verweis auf zum Teil statistisch begründete ärztliche Erfahrungen geltend gemacht wurde, daß die Schwangere insbesondere dann nicht für die Beratung zugänglich sei, wenn sie wisse, daß sie sich unabhängig von der Beratung zur Abtreibung entschließen könne" 8 9 . Dies hat sich weitgehend bewahrheitet. 90 bis 95 % der abtreibungswilligen Frauen suchen die Beratungsstelle vorentschieden auf 90 und von den Frauen, die noch nicht „fest entschlossen" sind, ist nur in 7,5 % der Fälle die soziale Beratung im Interesse des Lebensschutzes hilfreich 91 . Wenn daher Schünemann92 das Konzept der Entwürfe mit ihrem Kostenaufwand von rund 15 Mrd. D M für sozialpolitische Maßnahmen (Anspruch auf kostenlose Verhütungsmittel, Kindergartenplätze u. ä.) im Hinblick auf den Lebensschutz als „Fehlkalkulation" und eher als „eine Verbesserung der Sozialsituation der Geborenen (!)" einschätzt, so wird ein informierter und nüchterner Beurteiler dem wenig Uberzeugendes entgegenzusetzen haben. Was nämlich den verfassungsgerichtlich gebotenen „individuellen Schutz jedes einzelnen konkreten Lebens" 9 3 besonders verdeutlicht hätte (Unrechtskennzeichnung der Abtreibung und deren rechtliche Mißbilligung, Vorrang des Lebensschutzes, Ausschluß staatlicher Abtreibungshilfe), fand in den Entwürfen keinen Niederschlag. Insbesondere aber die Unüberprüfbarkeit der Abbruchentscheidung der Schwangeren ist für den Lebensschutz kontraproduktiv. Sie dient ausschließlich Interessen derjenigen (abtreibungswilligen) Schwangeren, die der Hilfe nicht bedürfen, sie verschmähen oder von ihrem Partner oder dem hilfsunwilligen Umfeld daran gehindert werden, sie anzunehmen. Allein sozialpolitische Maßnahmen richten in solchen sehr häufigen Fällen um so weniger aus, als im vereinten Deutschland starke gesellschaftliche Kräfte auf ein „Recht auf Abtreibung" pochen und sei es auch nur - was aber im Urteil der Allgemeinheit kaum einen Unterschied macht - im Sinne einer unüberprüfbaren „eigenverantwortlichen Entscheidung".

85 90

91 92 95

Gante (Fn. 78) S. 297. Pro familia Magazin 1/1991, S.29. Kauscb, Soziale Beratung Schwangerer, 1990, S. 56 ff., 64. ZRP 1991, 390. BVerfGE 39, 1, 58.

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„Die Wucht der Emanzipationswelle überspült das wehrlose werdende Leben", schrieb Stürner94 schon vor sechs Jahren. Die neuen Gesetzesentwürfe sind nicht geeignet, hieran etwas zu ändern, eher sind sie selbst Ausdruck dieser Entwicklung. Dabei sollte man sehen, daß Emanzipation - insoweit zu Recht - im Grunde nur Gleichberechtigung, nicht aber Durchsetzung von - vermeintlichen - Eigeninteressen auf Kosten Schwächerer einfordern kann. W o dies geschieht, ist Ideologie im Spiele. Tatsächlich kann in einer Wohlstandsgesellschaft die Tötung jährlich hunderttausender ungeborener Kinder nur auf dem Boden einer feministischen Ideologie und mit der - selbstzerstörerischen - Anmaßung begründet werden, autonom über das Leben anderer verfügen zu dürfen. Auch die Symbiose zweier Lebewesen gibt nichts dafür her, daß ein Lebewesen das Recht hätte, das andere zu vernichten. Die emancipatio kann man - von ihrem historischen Ursprung her gesehen - überhaupt nicht gründlicher mißverstehen, als daß man ein Tötungsrecht auf sie stützt, so wie es im alten Rom dem pater familias eigen war. Gesetzentwürfe, die von einer Fristenregelung ausgehen, aber auch Regelungsmodelle, die darauf hinauslaufen, auf anderem Wege ein „eigenverantwortliches" LetztentscheidungsrecÄi der Schwangeren über Leben oder Tod ihres Kindes anzuerkennen oder zu beanspruchen, verstoßen gegen einen vorgegebenen menschenrechtlichen Standard. Sie lassen sich auch nicht etwa auf eine breite Frauenmehrheit gründen. Ihre verbreitete Akzeptanz erklärt sich eher daraus, daß ein „eigenverantwortliches" Letztentscheidungsrecht vielen Vertretern des männlichen Geschlechts besonders gelegen kommt: Stellen sich unerwünschte Folgen aus einem Sexualverkehr ein, können die Männer die leicht zu mißbrauchende „eigenverantwortliche" Entscheidung der Schwangeren zuschieben und damit sich ihrer Verantwortung entledigen, und zwar auf Kosten der Solidargemeinschaft und immer zu Lasten des Kindes und der Schwangeren. Ist sie - wie das häufig der Fall ist - von Partner oder Umfeld total abhängig, muß sie sogar diese „Fremdbestimmung" als ihren „eigenverantwortlichen Gewissensentscheid" ausgeben und sich ihres eigenen Grundrechts nach Art. 6 Abs. 4 G G „auf Schutz und Fürsorge der Gemeinschaft" begeben. Verfechter der Fristenlösung und im Ergebnis vergleichbarer Regelungsmodelle ermöglichen es, sich der Verantwortung für zurechenbares eigenes Vorverhalten zu entziehen. Tatsächlich kommt die Fristenlösung in aller Regel Männerinteressen entgegen und läuft Fraueninteressen dort zuwider, wo die Nöte der Schwangeren am größten sind. Ist hier nicht auch eine Minderheit feministisch gesonnener Frauen mit einer

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J Z 1985, 753.

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Mehrheit von Männern im Bunde auf Kosten der im Stich gelassenen und wirklich bedrängten Frauen und der ungeborenen Kinder? Die im Gesetzgebungsverfahren befindlichen Regelungsmodelle belegen auf bedrückende Weise eine Abkehr vom Menschenbild des Grundgesetzes. Denn Regelungen, die menschliches Leben befristet zur Tötung freigeben, haben nichts gemein mit diesem Menschenbild, das auf vorgegebenen Menschenrechten ruht und sich nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts95 auf die Vorstellung stützt, „daß der Mensch in der Schöpfungsordnung einen eigenen selbständigen Wert besitzt, der die unbedingte Achtung vor dem Leben jedes einzelnen Menschen unabdingbar fordert". Ein Gesetzgeber, der dieses Lebensrecht vor der Geburt nicht uneingeschränkt anerkennt, sondern sich appellativ auf Hilfsangebote für Schwangere beschränkt, zugleich aber damit fortfährt, staatliche Abtreibungshilfen zu gewähren, hat sich von Grundprinzipien der wertgebundenen Ordnung der Verfassung gelöst und das rechtliche Fundament, auf dem der Lebensschutz Schwacher und Wehrloser ruht, preisgegeben.

95

BVerfGE 39, 1, 67.

Unrecht durch DDR-Rechtsprechung RUDOLF WASSERMANN

I. W e n n ein p o l i t i s c h e s S y s t e m , das U n r e c h t g e s e t z t u n d b e g a n g e n h a t , u n t e r g e g a n g e n ist, stellt sich die F r a g e des U m g a n g s m i t seinen H i n t e r lassenschaften. Begriffe wie A b r e c h n u n g , W i e d e r g u t m a c h u n g , Rehabilitierung 1 , S ä u b e r u n g u n d s t r a f r e c h t l i c h e A h n d u n g k e n n z e i c h n e n die P r o b l e m a t i k . A l s die Alliierten 1 9 4 5 das N S - R e g i m e beseitigten, s t a n d g a n z a u ß e r F r a g e , d a ß die v o n d i e s e m b e g a n g e n e n V e r b r e c h e n aufgeklärt u n d s t r a f r e c h t l i c h g e a h n d e t w e r d e n m u ß t e n . I n e r s t e r L i n i e e n g a g i e r t e n sich die Alliierten selbst 2 . A b e r a u c h die d e u t s c h e n S t r a f v e r f o l g u n g s b e h ö r d e n u n d G e r i c h t e n a h m e n sich n a c h d e r W i e d e r h e r s t e l l u n g d e r d e u t s c h e n G e r i c h t s b a r k e i t alsbald d e r s t r a f r e c h t l i c h e n A u f a r b e i t u n g d e r U n t a t e n des N S - R e g i m e s an 3 , allerdings n i c h t s y s t e m a t i s c h , s o n d e r n z u m e i s t a u f

1 Der Begriff bezeichnet die Wiederherstellung der Ehre, deren Verlust oder Minderung unrechtmäßige Entscheidungen politischer oder gerichtlicher Instanzen bewirkt haben sollen; er entstammt der kommunistischen Sprachpolitik (vgl. ζ. B. SED und Stalinismus, Dokumente aus dem Jahre 1956, Ostberlin 1990 mit einer Liste von 1955 bis 1962 rehabilitierter deutscher „Stalinopfer" - S. 149 ff), stand nach dem Umbruch in der D D R für die „Beseitigung stalinistischen Unrechts in der D D R " (vgl. Hans-Dietrich Lehmann, Rehabilitierung - Beginn einer Aufarbeitung 40jähriger DDR-Justiz, hektograph. Manuskript, 1990, S.3) und wurde durch das DDR-Gesetz vom 8.9.1990 (GBl. D D R I Nr. 60 S. 1459) in die deutsche Rechtssprache eingeführt. Kritisch dazu Rudolf Wassermann, Neusprech in Bonn, Die Welt Nr. 145 vom 25.6.1991, S.2. 2 Vgl. zu dem Prozeß vor dem Internationalen Militärgerichtshof und zu den Verfahren vor den Gerichten der Besatzungsmächte Adalbert Rückerl, NS-Verbrechen vor Gericht, Versuch einer Vergangenheitsbewältigung, 1982, S. 88 ff. 3 Rechtsgrundlage war vornehmlich das von den Alliierten erlassene Kontrollratsgesetz Nr. 10 vom 20.12.1945. Dieses Gesetz sollte der Ahndung von Verbrechen des NSRegimes gegen die Menschlichkeit dienen und faßte Sachverhalte, die unter die Tatbestände des deutschen Strafrechts fielen, mit anderen bisher straflosen Sachverhalten zusammen. Zur Entstehung und Anwendung des Gesetzes s. Martin Broszat, Siegerjustiz oder strafrechtliche Selbstreinigung?, Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte 1981, S. 484 ff, 516 ff. Die Rechtsprechung des Obersten Gerichtshofs für die Britische Zone zum Kontrollratsgesetz Nr. 10 behandelt Heinrich Jagusch SJZ 1947, Sp.620ff. Zur Diskussion über die Verbrechen gegen die Menschlichkeit s. insbesondere auch Gustav Radbruch SJZ 1947, Sp. 131 ff. Die Abneigung der deutschen Gerichte, das Kontrollratsgesetz Nr. 10 anzuwenden, weil dessen Rückwirkung gegen den Grundsatz des „nullum crimen, nulla poena sine lege" verstieß, wurde vielfach dadurch überwunden, daß man sich auf den Standpunkt

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Grund von Anzeigen aus der Bevölkerung 4 . Mißhandlungen, Tötungen und Freiheitsberaubungen aus dem Jahre 1933, Einzel taten in Konzentrationslagern, Erschießungen im Zusammenhang mit der Röhm-Affäre, strafbare Handlungen gegen „Nichtarier", die Tötung von Geisteskranken und die Tätigkeit von Standgerichten in den letzten Kriegsmonaten waren vorzugsweise Gegenstand dieser Verfahren, die 1948/49 ihren Höchststand erreichten5, aber dann infolge des Eintritts der Verjährung weniger schwerwiegender Delikte und vor allem wegen der allgemeinen Unlust, sich mit den Verbrechen der NS-Zeit zu befassen, zurückgingen. Erst Mitte der 50er Jahre wurde das anders, als im Anschluß an den Ulmer Einsatzgruppenprozeß im Herbst 1958 in Ludwigsburg die „Zentrale Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen" eingerichtet wurde 6 , um ungehindert von den Zuständigkeitsregelungen der Strafprozeßordnung umfassend und systematisch ermitteln zu können. In der Folgezeit kam es, mit dem Frankfurter Auschwitzprozeß 7 beginnend, zu jenen großen Strafverfahren wegen der Tötung von Juden, anderen „Fremdvölkischen" und Geisteskranken, die den Menschen in der Bundesrepublik die Augen über den Charakter des NS-Regimes öffneten und - nach der Beseitigung der Verjährungsfrist für Mord - zum Teil heute noch andauern. Es ist nicht einfach, die Bemühungen der bundesdeutschen Justiz um die Ahndung der NS-Verbrechen gerecht zu würdigen. Unter zeitgeschichtlichem wie moralischem Aspekt fällt sie im Ergebnis wohl positiv aus8. Indem enthüllt wurde, zu welch grausigen Verbrechen die auf

stellte, das zurückwirkende Recht habe schon vorher in nicht positivierter Form als übergesetzliches Recht gegolten; verschiedentlich vermieden die Gerichte auch eine Stellungnahme, indem sie in Tateinheit mit dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit auch wegen der Erfüllung von Einzeltatbeständen, die während der Tatzeit in Geltung waren, verurteilten. Vgl. dazu und zu den NS-Prozessen Rudolf Wassermann, Zur Geschichte des Oberlandesgerichts Braunschweig, in: ders. (Hrsg.), Justiz im Wandel, Festschrift des Oberlandesgerichts Braunschweig, 1989, S. 11, 101 ff. 4 Denunziationsprozesse waren das tägliche Brot der Justiz in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch des NS-Regimes. Bei den Freisprüchen in diesen Prozessen schlug oft das örtliche Milieu durch, insbesondere nach der Wiedereinführung der Schwurgerichte. Vgl. Rudolf Wassermann, FS OLG Braunschweig (Fn.3), S. 103. 5 Vgl. Adalbert Rückerl, aaO (Fn.2), S. 127. 6 Vgl. Adalbert Rückerl, aaO (Fn.2), S. 140ff. 7 Das große Echo, das der Auschwitzprozeß fand, ist nicht zuletzt der ausführlichen Presseberichterstattung zu verdanken. Bernd Naumann, Korrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, hat die Berichterstattung über den ersten Auschwitz-Prozeß in einem Buch niedergelegt: Auschwitz, Ein Bericht über das Strafverfahren gegen Mulka u.a., 1965. 8 Zur Bedeutung der NS-Prozesse für die politische Bewußtseinsbildung vgl. Rudolf Wassermann, Justiz und politische Kultur. Verfolgung nationalsozialistischer Gewaltver-

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Herrenmenschentum und Gewalttätigkeit gegründete Ideologie des NSSystems geführt hatte, wurde ein Beitrag zur Bildung eines politischen Bewußtseins geleistet, das in den Menschenrechten, die die Nazis verachtet hatten, die Grundlage sozialer wie politischer Kultur sieht. Gleichwohl fallen so starke Schatten auf dieses Bild, daß der Kritik zuzustimmen ist, wenn sie meint, daß die strafrechtliche Aufarbeitung der Vergangenheit für die Justiz alles andere als ein Ruhmesblatt darstellt. Heute, nach dem Untergang des SED-Regimes, stellt sich diese Problematik erneut. Nützlich wäre es in vielfacher Hinsicht, wenn jetzt, bei der Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit, das reiche Erfahrungsmaterial genutzt würde, das bei den Bemühungen um die Ahndung der NSVerbrechen angefallen ist. Gewiß bestehen wichtige Unterschiede zwischen der NS-Diktatur und der SED-Diktatur, die nicht übersehen werden dürfen. Die Parallelen sind jedoch bestürzend, weil beide Systeme das Recht als Instrument zur Unterdrückung der Bevölkerung und zur Eliminierung echter oder vermeintlicher Gegner einsetzten. Sollte man da nicht hoffen, daß man jetzt, 1991, klüger zu Werke geht als damals, 1945, als die Neuartigkeit der Situation die mit dem Aufbau der Bundesrepublik beschäftigten Politiker und Juristen überraschte? Oder müssen erneut 20 Jahre vergehen, bis man merkt, wie man bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der DDR-Vergangenheit hätte vorgehen müssen? Es gehört zu den Verdiensten Günter Spendeis, daß er konkret wie kein anderer die Fehler, Schwächen und Versäumnisse bundesdeutscher Strafjustiz und Strafrechtswissenschaft bei der rechtlichen Beurteilung der Verbrechen der NS-Justiz aufgedeckt und mit einer Entschiedenheit kritisiert hat, die unter Juristen ihresgleichen sucht. In den strafrechtlichen Studien, die er unter dem Titel „Rechtsbeugung durch Rechtsprechung" zusammengefaßt hat9, wie in seiner Bearbeitung des Rechtsbeugungstatbestandes (§ 336 StGB) im Leipziger Kommentar10 hat er aufgezeigt, in welcher Weise die Nachkriegsjudikatur die befriedigende Lösung der durch richterliches Versagen in der NS-Zeit entstandenen

brechen als Herausforderung für Rechtsprechung und Bewußtsein der Öffentlichkeit, in: Bernd Hey/Peter Steinbach, Zeitgeschichte und politisches Bewußtsein, 1986, S. 209 ff. 9 Vgl. Günter Spendel, Rechtsbeugung durch Rechtsprechung. Sechs strafrechtliche Studien, 1984. Die Sammlung wird ergänzt durch die weitere Studie: Günter Spendel, Mord durch ein „Standgericht" - SchwurGer. Würzburg und BGH, in: Justiz und NSVerbrechen, X.Bd., 1973, S.205, 233, JuS 1988, S. 856 ff. 10 Vgl. Strafgesetzbuch (Leipziger Kommentar), 10. Aufl., hrsg. von Hans-Heinrich Jescheck, Wolfgang Ruß und Günther Willms, 1978 ff, §336 (28. Lieferung 1982).

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Rechtsprobleme verfehlt hat11. Für die Lösung der durch die Unrechtsurteile der DDR-Justiz aufgeworfenen rechtlichen Fragen sind Günter Spendeis Darlegungen in hohem Maße hilfreich. Bevor darauf eingegangen wird, soll jedoch zunächst ein kurzer Uberblick über die politische DDR-Justiz gegeben werden. II.

Die Justiz führte im DDR-System kein durch Gewaltenteilung und richterliche Unabhängigkeit gesichertes Eigenleben. Das genaue Gegenteil war der Fall12. Den Beschlüssen der Führungsgremien der SED und dem Prinzip des „Demokratischen Zentralismus" unterworfen, hatte sie als Instrument des SED-Regimes zu dessen Aufbau und Festigung vor allem durch die Verfolgung des „Klassenfeindes", von „imperialistischen Agenten", von „Saboteuren", „Abwerbern", „Republikflüchtigen", „Hetzern", „Schädlingen", kurz: von politisch Mißliebigen, Andersdenkenden, Aufmüpfigen und Regimekritikern beizutragen. Wie sehr die der Parteilichkeit und „sozialistischen Gesetzlichkeit" verpflichteten, von der SED ausgewählten und gelenkten Justizkader dieser Aufgabe gerecht wurden, zeigt die hohe Zahl der jetzt den Bezirksgerichten der neuen Länder vorliegenden Anträge auf Rehabilitierung unschuldiger Verurteilter13. Zu berücksichtigen ist dabei, daß viele Opfer der DDRJustiz verstorben sind oder auf die Aufhebung des Urteils keinen Wert legen. Die wahre Zahl der Opfer ist also noch größer. Von der sozialistischen Strafjustiz, die den „vollständigen Bruch" mit dem bürgerlichen Strafrecht als einem Instrument der „Monopolbourgeoisie" vollzogen hatte14, verlangte das Regime den unversöhnlichen, 11 Zur Rechtsbeugung unter dem Nationalsozialismus s. insbesondere auch Günter Gribbohm, Nationalsozialismus und Strafrechtspraxis - Versuch einer Bilanz, NJW 1988, 2842, 2848. Der Wandel in der Einstellung zur NS-Justiz hat sich schrittweise vollzogen. Zum allgemeinen Durchbruch gelangte die kritische Einstellung erst in den beiden letzten Jahrzehnten. Ζ. B. wurde das Thema Justiz und Nationalsozialismus auf der Deutschen Richterakademie erst 1983 - auf niedersächsische Initiative - erstmals behandelt. Vgl. Rudolf Wassermann, Kontinuität oder Wandel?, 2. verb. Aufl., 1986, S.5. 12 Vgl. Rudolf Wassermann, Zur Reorganisation der Justiz in der DDR, ZRP 1990, 259 ff; ders., Ein epochaler Umbruch, Probleme der Wiedervereinigung, 1991, S. 147 ff; ders., Von der sozialistischen Rechtspflege zur Justiz des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats, in: Eckhard Jesse/Armin Mitter, Die Bundesrepublik Deutschland im Vereinigungsprozeß, 1992. 13 Im Juli 1991 lagen 60 000 Anträge vor, der Bundesjustizminister erwartete weitere 40 000. Vgl. die Presseinformation des Bundesministers der Justiz 36/91 vom 24.7.1991, S.3. 14 Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil, Lehrbuch, hrsg. von der Sektion Rechtswissenschaft der Humboldt-Universität (Ostberlin) und der Akademie für Staats- und Rechtswissenschaft der DDR (Potsdam-Babelsberg), Ostberlin 1976, S.30.

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schonungs- und kompromißlosen Kampf gegen das Verbrechen, um dieses - getreu den Lehren der sozialistischen Klassiker - allmählich „einzudämmen, im Leben der Gesellschaft zurückzudrängen und schließlich, in der Perspektive der entfalteten kommunistischen Gesellschaft, als gesellschaftliche Erscheinung zu überwinden" 1 5 . Die Crux dabei war zu erklären, wieso es in der D D R massenhaft Kriminalität gab, obwohl nach den Lehren der Klassiker im Sozialismus die sozialökonomischen Ursachen der Kriminalität im Kapitalismus beseitigt waren. Dank des neuen Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft, das auf prinzipieller Interessenübereinstimmung beruhte, brauche - so hieß es im Sozialismus niemand mehr Verbrecher zu werden, während im Kapitalismus, der einen tiefen Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft hervorrufe und die sozialen Beziehungen und Bindungen der Menschen zersetze, Kriminalität normal sei 16 . Wenngleich die Wirklichkeit die Theorie widerlegte, hielt man an dieser und, daraus resultierend, am Klassenwesen des sozialistischen Strafrechts 17 fest. Die Justiz hatte das sozialistische Strafrecht im Klasseninteresse anzuwenden und die Klassenfeinde schonungslos zu bekämpfen. Dabei kam es darauf an, stets der Parteilinie zu folgen und den von der Partei in den jeweiligen nach Entwicklungsetappen des Systems gestellten Aufgaben bei dem Aufbau, der Errichtung, der Festigung und der Entfaltung sozialistischer Macht- und Produktionsverhältnisse zu genügen, die als Ausdruck historischer Gesetzmäßigkeiten aufgefaßt und dargestellt wurden. Die sozialistische Kriminologie 18 und die sozialistische Strafrechtslehre unterschieden zwei Arten und Kriminalität, mit denen sich die Strafjustiz auseinanderzusetzen hatte. Die eine bildeten jene Verbrechen, „die die Kräfte des Kapitals unausgesetzt unternehmen, um die Arbeiterund Bauernmacht und ihre Errungenschaften zu beseitigen und den Kapitalismus zu restaurieren" 19 , die zweite die sog. allgemeine Kriminalität, die im Gegensatz zu der „konterrevolutionären Kriminalität des Kapitals" als „Ausdruck sozial-negativer Verhaltensweisen anarchischspontanen Charakters" begriffen wurden, als „spezifische Erscheinung

Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S. 28. Vgl. Kleines politisches Wörterbuch, Neuausgabe 1988, Ostberlin 1988, S.545. S.a. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S. 26 f zur „verheerenden kriminellen Verseuchung der kapitalistischen Gesellschaft, die mit dem Ubergang des Kapitalismus in sein imperialistisches Fäulnisstadium einsetzt und sich mit dem Fortschreiten seiner allgemeinen Krise weltweit vollzieht". 15

16

Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S.25ff. Vgl. etwa Erich Buchholz / Richard Hartmann /John Sozialistische Kriminologie, Ostberlin 1971. 19 Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S.31. 17

18

Lekschas / Gerhard

Stiller,

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des Nach- und Fortwirkens von Relikten der Ausbeutergesellschaft" 20 . Die Hauptstoßkraft der Strafjustiz 21 galt den sog. konterrevolutionären Delikten. Hier, bei dem, was im westlichen Sprachgebrauch als politisches Strafrecht zu bezeichnen wäre, lag der Schwerpunkt von Strafrechtspolitik und -praxis. Die Vorstellung, das „reaktionäre imperialistische System" wolle „unausgesetzt und in vielfältigster Weise die sozialistische Gesellschaft in ihrer Entwicklung politisch und ökonomisch und ideologisch stören" 2 2 , hatte ideologisch-traumatischen Charakter, sie leitete die Machthaber in der D D R ebenso nachhaltig wie seinerzeit die Avantgarde der Bolschewiki bei dem Terror, den sie in der Sowjetunion ausgeübt hatten. In der Art und Weise, in der sich die DDR-Strafjustiz betätigte, bestätigte sich die Erkenntnis, daß keine Unterdrückung durchgreifender ist als der Terror von Fundamentalisten, die sich als Vollstrecker historischer Gesetzmäßigkeiten verstehen. Einerseits von der marxistisch-leninistischen Ideologie indoktriniert, andererseits von der S E D angeleitet und kontrolliert, erwies sich die DDR-Justiz ebenso gefügig wie wirksam als Instrument des S E D Regimes im Kampf gegen „Klassenfeinde", „imperialistische Agenten", „Saboteure", „Abwerber", „Republikflüchtlinge", „Hetzer", „Schädlinge", wie die politisch Mißliebigen, Aufmüpfigen und Regimekritiker etikettiert wurden, wenn sie von verfassungsmäßigen Rechten wie Meinungsfreiheit und Freizügigkeit Gebrauch machten. Keineswegs haben die DDR-Richter und -Staatsanwälte, wie sie heute sagen, schlicht die Gesetze des Staates angewendet, dem sie dienten. Ohne Frage gab es DDR-Recht, das - nach dem berühmten Wort Gustav Radbruchs2} gesetzliches Unrecht war, weil es gegen überzeitliche Rechtsnormen, insbesondere gegen Menschenwürde und Menschenrechte verstieß, zu denen sich die DDR-Machthaber sonst wortreich bekannten. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß die Justiz vielfach erst durch manipulierende Auslegungen des Gesetzeswortlauts oder durch Fiktionen bei der Tatsachen- und Schuldfeststellung zu jenen Ergebnissen kam, die opportun waren und die Machthaber wünschten 24 . Wie die Justiz richtig hätte

Vgl. Strafrech:, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S.31 f. Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S . 5 9 f f . 22 Vgl. Strafrecht, Allgemeiner Teil (Fn. 14), S.51. 23 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, S. 105 ff. 24 Vgl. die Kritik, die eine Arbeitsgruppe von DDR-Juristen, der u. a. Ronald Brachmann und Adelhaid Brandt angehörten, in ihren Thesen zur Justizreform, N J 1990, S. 86, an der in der D D R damals wie heute verbreiteten Auffassung übten, die Richter und Staatsanwälte träfe keine Verantwortung für das DDR-Unrecht, da sie ja „nur" geltende, von ihnen nicht gemachte Gesetze angewendet hätten. Zutreffend wird darauf hingewiesen, daß dem Gesetz nur im seltensten Fall unmittelbar das Ergebnis der Beurteilung eines 20 21

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entscheiden müssen, zeigen nicht zuletzt die Kassationsentscheidungen, mit denen das Oberste Gericht der D D R nach der sog. Wende Urteile aufgehoben hat. Man braucht nur diese Urteile zu lesen, um am konkreten Fall zu erkennen, auf welche Weise die DDR-Justiz das Recht beugte in dem Bestreben, den von den Machthabern gewünschten „kompromißlosen" Kampf gegen Andersdenkende zu führen. Weder zu Beginn noch zu einem späteren Zeitpunkt konnte sich das Regime auf die Zustimmung der Menschen in jenem Teil Deutschlands stützen, den es sich gemäß dem Willen der sowjetischen Besatzungsmacht unterworfen hatte. Die Masse der Bevölkerung war auch durch intensive Agitation und Propaganda oder auch materielle Anreize nicht für den Kommunismus zu gewinnen. U m seine Herrschaft durchzusetzen und zu stabilisieren, waren die Machthaber auf Zwang und Gewalt, im Klartext: auf die Unterdrückung der Bevölkerung durch Polizei, Stasi und Justiz angewiesen. Strafrecht und Strafjustiz waren teils Ersatz, teils Ergänzung politisch wirksamer Mittel zur Aufrechterhaltung der SEDDiktatur. Was seit 1945 an Unrecht und Leid durch die Justiz den Menschen in der S B Z / D D R zugefügt wurde, haben zwei wichtige Bücher zu diesem Thema dargestellt. Karl Wilhelm Fricke, selbst aus politischen Gründen vom Staatssicherheitsdienst in die D D R verschleppt und dort verurteilt, hat in seinem 1979 in 1., 1990 in 2. Auflage erschienenen Werk „Politik und Justiz in der D D R " 2 5 die einzelnen Phasen der politischen Verfolgung von 1945 bis 1968 aufgezeichnet und mit einer Fülle von Dokumenten versehen, die konkret zeigen, wie die DDR-Justiz jeweils der Politik der S E D folgte. Seine Darstellung beginnt mit den Nachkriegsjahren, als die Justiz bei der „gesellschaftlichen Umgestaltung" und Sicherung der „antifaschistisch-demokratischen Umwälzung" mithalf etwa bei der fälschlich sog. Bodenreform und bei den Industrieenteignungen. Bei der Gründung der D D R im Jahre 1949 proklamierte die S E D die „Verschärfung des Klassenkampfes". Prompt befolgte die Justiz die stalinistischen Maximen, verhängte in den erwähnten Waldheimer Prozessen trotz fehlender Einzelschuld und nicht erbrachter Beweise hohe Strafen und ging mit äußerster Strenge gegen Andersdenkende vor. Einerseits veranstaltete sie - nach dem sowjetischen Vorbild aus den 30er Jahren - Schauprozesse gegen DDR-Staatsfunktionäre, denen sie - wie

konkreten Sachverhalts entnommen werden kann, sondern entscheidend ist, was man im Wege der Auslegung aus dem Gesetz herausliest oder hineininterpretiert. 25 Untertitel: Zur Geschichte der politischen Verfolgung 1945-1968, Bericht und Dokumentation. Verlagsort: Köln.

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im Herwegen-Brundert-Prozeß 26 - Sabotage der sozialistischen Wirtschaft zugunsten des Schutzes von Konzernen des imperialistischen Monopolkapitalismus vorwarf. Andererseits führte sie - wiederum nach sowjetischem Muster - Geheimprozesse gegen prominente Regierungsmitglieder durch, so gegen den CDU-Außenminister Dertinger, den CDU-Justizstaatssekretär Helmut Brandt, den LDPD-Handelsminister Hamann, denen „Verschwörung gegen die DDR" bzw. „desorganisierende Leitungstätigkeit" zur Last gelegt wurde. Auch gegen Angeklagte aus dem Westen, die durch Menschenraub in die Gewalt der DDR gelangt waren, aber nicht bereit waren, darüber zu schweigen und Geständnisse abzulegen, fanden Geheimprozesse statt. Im Zeichen des „Neuen Kurses" 1953 gelobte die Justiz dann Besserung und korrigierte ihre Verurteilungen hauptsächlich wegen sog. Wirtschaftsverbrechen, aber auch wegen „Boykotthetze" nach dem uferlosen Art. 6 der DDRVerfassung von 1949, der die Gerichte zu „undifferenziert hohen Strafen" veranlaßt hatte (wie damals die Justizministerin Hilde Benjamin einräumte, allerdings ohne Selbstkritik). Nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 aber wurden die „Rädelsführer" der Volkserhebung wieder unerbittlich verfolgt. Der Justizminister Max Fechner, der als stellvertretender SPD-Vorsitzender zusammen mit Grotewohl die SPD in die Vereinigung mit der KPD geführt hatte, mußte in einem Geheimverfahren als „Feind der Partei und des Staates" dafür büßen, daß er vor einer Rachepolitik gegen Streikende gewarnt hatte. Die Entstalinisierung in der Sowjetunion machte die DDR nicht oder nur unter starken Vorbehalten27 mit. Die Justiz wurde von der SED weiterhin angehalten, „wachsam zu sein gegenüber allen verbrecherischen Machenschaften der Feinde, gegen Sabotage und Diversionsakte, gegenüber der Schädlingstätigkeit" 28 . Wer damals Flüchtlingen aus der DDR half, im Westen Deutschlands in einem schlichten Kraftfahrzeugbetrieb Arbeit zu finden, machte sich für die DDR-Justiz der Abwerbung für die Rüstung des westdeutschen Militarismus und der Schädigung des sozialistischen Aufbaus schuldig 29 . Nach den Sperrmaßnahmen vom 13. August 1961 quittierte die Strafjustiz Fluchtversuche mit harten

26 Dazu Willi Brundert, Von Weimar bis heute. Im Spiegel eigenen Erlebens, 1965, S. 90 ff. S. a. Hilde Benjamin, Das Oberste Gericht der DDR im Kampf gegen Spionage und Sabotage, NJ 1952, S.244f. 27 So zutreffend Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR, 2. Aufl. Köln 1990, S. 331. 28 So Otto Grotewohl, Die Rolle der Arbeiter- und Bauernmacht in der DDR, in: Protokoll der Verhandlungen der 3. Parteikonferenz der SED, Bd. 2, Ostberlin 1956, S. 673. 29 Vgl. Urteil des Obersten Gerichts vom 2. 8.1961, in: Entscheidungen in Strafsachen, Bd. 5, S. 137 ff.

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Urteilen, sie sah darin „staatsgefährdende Gewaltakte". Die „Verleitung zum Verlassen der DDR" etikettierte sie als „Staatsverbrechen", ja als „Verbrechen gegen den Frieden und die Menschlichkeit"30, die Bemühungen Westdeutscher um Familienzusammenführung als Versuche, „den Frieden zu stören und der Westberlin als Frontstadt zugedachten Rolle gerecht zu werden". Neben dem voluminösen Buch von Fricke ist die wissenschaftliche, überaus gründliche Untersuchung von Wolfgang Schüller über die „Geschichte des politischen Strafrechts der DDR bis 1968"31 zu nennen, die die Entwicklung des materiellen politischen Strafrechts und des Strafprozeßrechts betrifft, aber auch die Urteilspraxis der Gerichte in der DDR einbezieht. Diese systematische Darstellung ist von hohem Wert, weil sie nicht nur die Genesis des politischen Strafrechts der DDR aus dem Besatzungsstrafrecht und die schnelle Anpassung des Strafrechts und seiner Anwendung an die Kursänderungen der SED-Politik deutlich macht, sondern bei den einzelnen Straftatbeständen die offizielle Auslegung und die praktische Anwendung gegenüberstellt, ferner die dargestellten Phänomene aus dem Selbstverständnis der sozialistischen Rechtspflege sowie aus den indirekten und direkten Eingriffen der SED erklärt und schließlich zu dem Ergebnis gelangt, daß die SED-Führung und die SED-Justiz sich durchaus darüber im klaren waren, daß rationale Argumentation in Rechtswissenschaft und Justiz durch Polemik und apologetische Propaganda ersetzt wurden. Ein Manko ist es natürlich, daß sowohl Schuller als auch Fricke die Zeit nach 1968 nicht behandeln. Jetzt stehen die bisher verschlossenen Quellen über diese Zeit zur Verfügung. Uber die Materialien der 1963 nach dem Mauerbau errichteten Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Erfassung in der DDR begangener Gewaltakte in Salzgitter hinaus - bei dieser Stelle waren bis Mitte 1990 30 752 Verurteilungen aus politischen Gründen registriert, die inzwischen den zuständigen Strafverfolgungsbehörden in Berlin und in den neuen Bundesländern mitgeteilt sind32 - haben sich die in Rummelsburg aufgefundenen Akten über Häftlingsfreikäufe33 als bedeutsam erwiesen, aber auch Aktenbestände bei den Dienststellen des Ministeriums für Staatssicherheit und bei den

30 Vgl. Urteil des Obersten Gerichts vom 16. 8.1961, in: Entscheidungen in Strafsachen, Bd. 2, S. 155 ff. 31 Ebelsbach 1980. Dazu die Bemerkungen eines Juristen aus der ehemaligen DDR: Uwe Ewald, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, NJ 1990, S. 420 ff. 32 Vgl. Heiner Sauer/ Hans-Otto Plumeyer, Der Salzgitter Report, 1991, S. 113. 33 Zu den Häftlingsfreikäufen s. Ludwig A.Rehlinger, Freikauf. Die Geschäfte der DDR mit politisch Verfolgten, Berlin 1989.

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Behörden der Staatsanwaltschaft. Es ist daher nunmehr möglich, konkrete Kenntnis über Tätigkeit der DDR-Strafjustiz auch in den letzten Jahrzehnten des Regimes zu gewinnen. Wie rechtlich bedenkenlos die DDR-Justiz vorging, ihre Unterdrückungsaufgabe zu erfüllen, zeigt die Art und Weise, wie der bereits erwähnte Art. 6 Abs. 2 der DDR-Verfassung vom 7. Oktober 1949 in den Dienst auf Unterdrückung und Abschreckung zielender politischer Strafjustiz gestellt wurde. In diesem Verfassungsartikel heißt es: „Boykotthetze gegen demokratische Einrichtungen und Organisationen, Mordhetze gegen demokratische Politiker, Bekundung von Glaubens-, Rassen-, Völkerhaß, militaristische Propaganda sowie Kriegshetze und alle sonstigen Handlungen, die sich gegen die Gleichberechtigung richten, sind Verbrechen im Sinne des Strafgesetzbuches. Ausübung demokratischer Rechte im Sinne der Verfassung ist keine Boykotthetze." Diese Verfassungsbestimmung enthielt weder konkrete Tatbestandsmerkmale noch zog sie faßbare Grenzen zwischen einer zu bestrafenden Handlung und der verfassungsrechtlich garantierten Ausübung des Grundrechts der freien Meinungsäußerung, der Presse- und der Versammlungsfreiheit. Das hinderte das Oberste Gericht der D D R jedoch nicht, in ihr ein unmittelbar geltendes Strafgesetz zu sehen, wobei der hohe Abstraktionsgrad der Bestimmung hochwillkommen war, erlaubte er doch eine extensive Anwendung. Art. 6 der DDR-Verfassung wurde auch zur Quelle der Normen über Staatsverbrechen im DDR-Strafrechtsergänzungsgesetz von 1957 34 und im sozialistischen Strafgesetzbuch von 1968 35 . Die Bestimmungen dieser Gesetze über staatsfeindliche Hetze ( § 1 9 des Strafrechtsergänzungsgesetzes, § 1 0 6 D D R - S t G B ) dienten der Unterdrückung von Meinungen und Auffassungen, die nicht mit der offiziellen SED-Politik übereinstimmten. Das erwähnte Auf und Ab in Strafrechtspolitik und Strafjustiz entsprach den Erfordernissen der jeweiligen SED-Politik. Hans-Dietrich Lehmann, ehemaligem Richter am Obersten Gericht der D D R und heutigem Rechtsanwalt, ist daher beizupflichten, wenn er sagt, daß im Wechselspiel zwischen Rücknahme und Ausdehnung des staatlichen Zwanges die jeweilige politische Situation im Lande ablesbar sei36.

34 Gesetz zur Ergänzung des Strafgesetzbuchs vom 11.12.1957 (GBl. DDR I S. 643). S. dazu Ernst Melsheimer, Das Strafrechtsergänzungsgesetz. Ein Gesetz der sozialistischen Demokratie, NJ 1958, S. 41 ff; Wolfgang Schuller (Fn. 31), S. 162 ff. 35 Strafgesetzbuch der DDR vom 12.1.1968 (GBl. DDR I S. 1). 36 Vgl. Hans-Dietrich Lehmann, 40 Jahre politische Strafjustiz in der DDR - ihr Beitrag zur Destabilisierung der sozialistischen Gesellschaftsordnung, hektograph. Manuskript, S. 10.

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Eine wichtige Rolle spielte die Strafjustiz bei Auseinandersetzungen innerhalb der SED. Zwar kam es in der DDR nicht zu Todesurteilen, wie sie in Ungarn, Bulgarien und der Tschechoslowakei gegen führende Kommunisten wie Rajk, Kostoff, Slansky und viele andere nach dem Muster der „Großen Säuberung" in der Sowjetunion gefällt wurden 37 . Auch in der DDR wurden jedoch Kommunisten, die nach 1945 aus westlicher Emigration in die DDR gekommen waren, strafrechtlich verfolgt. Das bekannteste Opfer dieser Säuberungen, bei dem Verbindungen zu dem Hilfskomitee des Amerikaners Noel Η. Field als Spionagetätigkeit für die USA gewertet wurden, war der Alt-Kommunist Paul Merker, der in den 30er Jahren in der obersten KPD-Führung für die Arbeit in den Betrieben zuständig gewesen, nach legaler Arbeit in Deutschland nach Mexiko emigriert und nach 1945 Politbüromitglied der SED gewesen war. Merker wurde 1952 verhaftet38, 1955 vom Obersten Gericht zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt, im Januar 1956 aus der Haft entlassen und einige Monate später vom selben Gericht, das ihn ins Zuchthaus geschickt hatte, freigesprochen. Spektakulärer noch waren die Prozesse gegen Harich, Steinberger und Hartwig im Jahre 1957 sowie der Nachfolgeprozeß gegen Janka, Just und andere. Hier ging es um die Ausschaltung von Situationsanalysen und Fehlerdiskussionen innerhalb der SED, mit denen der Philosophiedozent Wolfgang Harich und die anderen Verurteilten Kurskorrekturen zur Behebung der Schwierigkeiten anregen wollten, in die die SED geraten war. Das politische Motiv der SED bei diesen wieder auf Art. 6 der DDR-Verfassung gestützten Prozessen war neben der Unterbindung oppositioneller Regungen innerhalb der Partei vor allem die Verhinderung einer Diskussion über den Stalinismus, die in der Sowjetunion im Zusammenhang mit Chruschtschows Geheimrede auf dem XX. Parteitag der KPdSU aufgeflammt war 39 . Beide hier genannten Urteile wurden nach der Wende vom Obersten Gericht der DDR unter Freisprechung der Angeklagten aufgehoben 40 . 37 Vgl. Georg Hermann Hodos, Schauprozesse. Stalinistische Säuberungen in Osteuropa 1948-54, Zürich 1988. Hodos spricht in bezug auf die DDR von den durch Stalin „unterbrochenen Schauprozessen in Ostdeutschland" (aaO, S. 176 ff). 38 Vgl. Hodos, Schauprozesse (Fn.37), S. 191 ff. Dazu, wie der Altkommunist und spätere Sozialdemokrat Leo Bauer in das Räderwerk der Säuberungsjustiz geriet, s. a. Peter Brandt u.a., Karrieren eines Außenseiters, Leo Bauer zwischen Kommunismus und Sozialdemokratie 1912 bis 1972, 1983, S. 192 ff. 39 Chruschtschows Geheimrede ist abgedruckt, in: Chruschtschow erinnert sich, hrsg. von Strobe Talbott, 1971, S. 529 ff. In der DDR wurde sie bis zur sog. Wende im November 1989 nicht veröffentlicht. Danach wurde sie vom Verlag H.H. Dietz sogleich publiziert. 40 Vgl. „Dr. Wolfgang Harich, Dr. Bernhard Steinberger und Manfred Hartwig durch Kassationsurteil des Obersten Gerichts freigesprochen", NJ 1990, S. 206 ff; „Ungesetzli-

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Walter Janka hat darüber hinaus den Prozeßverlauf in einem Buch41 geschildert, das Einblick in die Einschüchterungspraxis der SED gibt und zeigt, wie beschämend gefügig sich selbst im Westen hochgeachtete DDR-Schriftsteller wie Anna Seghers verhielten. Keineswegs war die expansive Verwendung der Strafjustiz im Interesse der SED-Machthaber auf die beiden ersten Jahrzehnte der SEDHerrschaft beschränkt; sie hielt während der gesamten Zeit an, die diese währte. Die nach dem Umbruch in der DDR ergangenen Kassationsurteile decken den skandalösen Gebrauch der Strafjustiz durch Parteispitzen auf und enthüllen die Wahrheit über das untergegangene Regime. Zwei Fälle mögen hier für viele andere stehen. So war der später in die Bundesrepublik ausgewiesene Schriftsteller Rudolf Bahro vom Stadtgericht Berlin wegen Sammlung, Übermittlung und versuchter Übermittlung von Nachrichten sowie wegen Geheimnisverrats gemäß §§88 Abs. 1 und 2, 245 Abs. 1 DDR-StGB zu einer Freiheitsstrafe von acht Jahren verurteilt worden. Es ging darum, daß Bahro ein aus seiner Dissertation hervorgegangenes Manuskript mit Protokollen über die Befragung von Wirtschaftskadern in einem westdeutschen Verlag veröffentlicht hatte. Das Stadtgericht sah darin Spionage, nämlich die Sammlung von Informationen, die die Bundesrepublik im Kampf gegen die DDR unterstützten. Das Oberste Gericht der DDR rügte nach der Wende die Beweisführung und die Urteilsfeststellung, daß die Weitergabe an Informationsorgane in der Bundesrepublik einer solchen an den Bundesnachrichtendienst gleichzusetzen sei. Daß Bahro die im nachhinein mit einem Geheimhaltungsgrad versehenen Protokolle im Anhang seiner Dissertation vorher Bekannten übergeben habe, könne nicht rückwirkend als Geheimnisverrat betrachtet werden42. Vera Wollenberger, heute eine bekannte Politikerin des „Bündnis 90", wollte an einer Demonstration zum Gedenken an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht am Frankfurter Tor in Berlin teilnehmen und fertigte ein Transparent an, auf das sie schrieb: „Art. 27 der Verfassung der DDR. Jeder Bürger hat das Recht, seine Meinung frei zu äußern". Obwohl sie festgenommen wurde, bevor sie ihr Ziel erreichen konnte, verurteilte das Stadtbezirksgericht Berlin-Lichtenberg sie im Januar 1988 gemäß §217 StGB wegen Zusammenrottung zur 6monatigen Freiheitsstrafe. 1990 wurde dieses Urteil wegen rechtlicher Fehlerhaftigkeit aufgehoben. Die beabsichtigte Ansammlung sei verfassungsgemäß gewesen,

ches Urteil im Verfahren gegen Walter Janka, Gustav Just, Heinz Zöger und Richard Wolf aufgehoben", N J 1990, S . 5 0 f f . 41 Der Prozeß gegen Waiter Janka und andere. Eine Dokumentation, 1990. 42 Vgl. „Rehabilitierung von Dr. Rudolf Bahro durch Urteil des Präsidiums des Obersten Gerichts der D D R , NJ 1990, S . 2 8 7 f f .

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ebenso der Inhalt des Transparents, und die Angeklagte habe auch noch nicht mit der Ausführung ihrer Tat begonnen43. Ein auffallendes Merkmal der DDR-Justiz, das allenthalben zutage trat, war die erschreckende Vernachlässigung, ja Ignorierung der subjektiven Seite bei Straftaten, ein Vorgang, der den Richtern und Staatsanwälten bewußt und von ihnen gewollt war. Wenn Richter Ausführungen darüber machten, daß z.B. die Flucht in den Westen objektiv eine Förderung des Krieges und damit Kriegshetze sei, dann war das eine schlechthin abwegige Subsumtion, deren Zweck erkennbar war. Wenn aber darüber hinaus vom Täter nicht einmal das Bewußtsein, mit seiner Flucht den Krieg gefördert zu haben, verlangt wurde, dann bedeutete das, daß Kriegshetze ohne Wissen und Wollen, also schuldlos, begangen werden konnte. Wolfgang Schuller, dem die Analyse solcher Fälle zu danken ist, erinnert daran, daß in der DDR ein Bergmann, der zwar unvorschriftsmäßigerweise, aber ohne schädigenden Erfolg, zuviel Loren an die Lokomotive gekoppelt hatte, als Saboteur bezeichnet werden konnte, dessen Handlung lediglich noch keinen Erfolg hervorgerufen habe44. Nach der subjektiven Einstellung - Vorsatz, Fahrlässigkeit - wurde überhaupt nicht gefragt. Ebensowenig interessierte das Gericht, ob der Angeklagte sich der Rechtswidrigkeit seines Verhaltens bewußt war. Der Täter machte sich strafbar, auch wenn er nicht wußte, daß sein Verhalten strafbar war. Ein anderes Beispiel: In dem Prozeß gegen den bekannten Radsportler Harry Seidel, der als Fluchthelfer Tunnel gegraben hatte, um Bewohner des Ostsektors von Berlin nach dem Bau der Mauer zur Flucht zu verhelfen, wurde unterstellt, damit planten westdeutsche Stellen die „Entfachung militärischer Aktionen gegen die DDR", und Seidel nach dem DDR-Friedensschutzgesetz zu lebenslangem Zuchthaus verurteilt45. Westdeutsche Juristen, die nach dem Beitritt der DDR zur Bundesrepublik erstmals Urteile von DDR-Strafgerichten zu lesen bekamen, zeigten sich schockiert über die Sprache der politischen DDR-Justiz mit ihren Haßtiraden und Schimpfwörtern. Schlimmer noch als diese Urteilssprache war der Zynismus, mit dem Subsumtionen und Auslegungen entgegen dem offensichtlichen Wortsinn vorgenommen wurden.

43 Vgl. „Vera Wollenberger durch Kassationsurteil des Obersten Gerichts freigesprochen", NJ 1990, S. 289. 44 Vgl. Wolfgang Schuller, Geschichte und Struktur des politischen Strafrechts der DDR bis 1968, 1980, S.269. 45 Urteil des Obersten Gerichts der DDR vom 29.12.1962, NJ 1963, S . 3 6 f f . S.a. Wolfgang Schüller (Fn. 44), S. 214 f. Das Gesetz zum Schutze des Friedens stammt vom 5 . 1 2 . 1 9 5 0 (GBl. DDR I S. 1199).

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Oft beruhten die Urteile auf Scheinbegründungen oder verzichteten ganz darauf, Gründe anzugeben. Die Verurteilten bekamen die Urteile zumeist ohnehin nicht zu Gesicht. Die Höhe der Strafen, die in dem ersten Jahrzwölft des Regimes maßlos war, verringerte und differenzierte sich später, blieb aber weit höher als in der Bundesrepublik. Im Prozeßverlauf verhinderte die Maxime der Parteilichkeit, daß die Verteidigung echte Chancen gegen politische Anklagen hatte. An sich garantierten die Perfektion der Lenkungsmechanismen und die gut ausgebildete Fähigkeit der DDR-Justiz, den atmosphärischen Schwingungen der SED-Politik zu lauschen, die Verwirklichung der im Politbüro beschlossenen Politik. Gleichwohl verzichteten die Spitzengremien der Partei nicht darauf, auch direkt in die Rechtsprechung einzugreifen, etwa im Zusammenhang mit dem „Neuen Kurs" 1953. Im Jahre 1961 wurde ζ. B. ein freisprechendes Urteil des Obersten Gerichts auf Veranlassung des Zentralkomitees kassiert. Aufschlußreiches Material enthält das Zentralarchiv der S E D insbesondere über die Einflußnahme auf die berüchtigten Waldheimer Prozesse im Jahre 1950 46 . Diese Prozesse gegen von den Sowjets Internierte, die diese nach der Errichtung der D D R den D D R - O r g a n e n übergaben, wurden in Schnellverfahren abgewickelt. Bis auf zehn Fälle geschah das hinter verschlossenen Türen und stets nach dem Prinzip der sog. Kollektivschuld. U m die „parteimäßige" Abwicklung sicherzustellen, waren diese Verfahren Gegenstand von Beratungen und Festlegungen im Zentralsekretariat und Zentralkomitee der S E D , in denen die „grundsätzlichen" und „kaderpolitischen" Entscheidungen getroffen wurden, die die beschleunigte Aburteilung durch die zu bildenden Ausnahmegerichte und die gewünschte Höhe der Strafen zu gewährleisten hatten. Die vom Zentralkomitee gebildete Waldheimkommission gab dann — wie in einem Protokoll über die Beratung der Kommission mit den ausgewählten Richtern am 10. April 1950 festgehalten ist - den Auftrag, die Internierten als Feinde des „sozialistischen Aufbaus" unter allen Umständen hoch zu verurteilen ohne Rücksicht darauf, welches Material vorhanden war. Dem Spitzenfunktionär Hentschel wurde zusammen mit der Abteilungsleiterin Dr. Heinze vom DDR-Justizministerium die Umsetzung dieser Anordnungen übertragen.

46 Zu den Waldheimer Prozessen s. Karl Wilhelm Fricke, Politik und Justiz in der DDR (Fn.27), S. 205 ff; ders., Das justitielle Unrecht der Waldheimer Prozesse, NJ 1991, S. 209 f. Aus DDR-Sicht: H. Heinze, Kriegsverbrecherprozesse in Waldheim, NJ 1950, S. 250 ff; Günter Wieland, Ahndung von NS-Verbrechen in Ostdeutschland 1945-1990, NJ 1991, S. 49 ff; s. aber auch Rudi Beckert, Halbe Wahrheiten über Waldheimer Prozesse?, NJ 1991, S. 301 f; Wilfriede Otto, Die „Waldheimer Prozesse" - altes Erbe und neue Sichten, NJ 1991, S. 355 ff.

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Später übernahm das im selben Jahr - 1950 - geschaffene Ministerium für Staatssicherheit (MfS) die Programmierung der politischen Prozesse. Bis ins einzelne war vorgeschrieben, wann, wo, durch wen, wie und mit welchem Ergebnis die Verhandlungen durchzuführen waren. Die Gerichte hatten nur zu vollziehen, was angeordnet war. U m aufzuzeigen, wie solche Programmierung der Rechtspflege aussah, haben große deutsche Tageszeitungen Dokumente veröffentlicht, die konkrete Fälle betreffen. Einmal handelte es sich um die strafrechtliche Verfolgung des bekannten Physikochemikers und Regimekritikers Robert Havemann, der als überzeugter Marxist und Widerstandskämpfer den Stalinismus und Dogmatismus in der D D R angriff und auch gegen das SED-Regime nicht schwieg, als die Truppen des Warschauer Paktes 1968 in die Tschechoslowakei einmarschierten. Nach jahrelangem Hausarrest wurde Havemann 1979 wegen Devisenvergehens vor Gericht gestellt. Das Drehbuch des MfS für diesen Prozeß, als „Vorschlag zur Durchführung der gerichtlichen Hauptverhandlung gegen Robert Havemann vor dem Kreisgericht Fürstenwalde" betitelt und mit dem Datum des 4. Juni 1979 versehen, hat die Welt am 7. Mai 1991 veröffentlicht. Es beweist, daß das Ergebnis des Verfahrens vor dem Gerichtstermin am 14. Juni 1979 längst feststand. Der Ablauf der Hauptverhandlung, die „vor 20 bis 22 Zuhörern" stattfinden soll (um allen Eventualitäten vorzubeugen, nehmen bewährte MfS-Leute die Plätze ein), wurde minutiös geplant. Außer dem Ehepaar Havemann und dem Arzt des Angeklagten sei niemandem der Zutritt zu gestatten - schon gar nicht westlichen Korrespondenten. Von sechs Uhr morgens an erfolgte die Absicherung des Gerichtsgebäudes durch Kräfte „des BVfS (Staatssicherheit, der Verfasser) Frankfurt/Oder und Angehörige des V P K A (Volkspolizei, der Verfasser) Fürstenwalde", die mögliche Störaktionen zugleich fotografisch „dokumentieren" sollten. Die Strafkammer des Kreisgerichtes Fürstenwalde werde unter Vorsitz des Direktors Genösse H . tagen, die Beweisaufnahme besorge Staatsanwalt Genösse P., „wobei aufgrund des bisherigen Verhaltens Havemanns zu erwarten ist, daß ihm die begangenen Devisenstraftaten auf der Grundlage der Sachbeweise nachgewiesen werden müssen, ohne daß er selbst geständig ist". U n d : „Im Ergebnis der Beweisaufnahme wird der Staatsanwalt seinen auf eine Geldstrafe in Höhe von 10 000,- Mark gerichteten Strafantrag aufrechterhalten." Für die Beweisaufnahme seien zwei Stunden vorgesehen, im Anschluß daran ziehe sich das Gericht für eine Stunde zur Beratung zurück. „Legt Havemann gegen das Urteil innerhalb der Berufungsfrist von einer Woche Berufung ein", heißt es weiter, „erfolgt ca. 14 Tage später deren Verwerfung durch Beschluß des Bezirksgerichtes Frankfurt/Oder, wonach das Urteil rechtskräftig wird." Auch die Schlußbemerkung läßt

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Rückschlüsse auf das real existierende sozialistische Rechtsverständnis zu: „Der vorliegende Vorschlag ist mit dem Generalstaatsanwalt, dem Obersten Gericht und dem Ministerium für Justiz abgestimmt." Wie nicht anders zu erwarten, wurde Havemann zu 10 000,- Mark Geldstrafe verurteilt, die Berufung abgewiesen. Der zweite Fall, veröffentlicht in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 21. Mai 1991, betrifft das Vorgehen gegen den 1958 in die Bundesrepublik geflüchteten und danach wieder in die D D R zurückgelockten Offiziers der Grenzpolizei Smolka. Hier gab das Ministerium für Staatssicherheit die Todesstrafe vor, Minister Mielke vermerkte sein „Einverstanden" auf dem Vorschlag. Das Verfahren wurde anschließend genau so durchgeführt, wie das Ministerium es festgelegt hatte, die Todesstrafe wurde verhängt und vollstreckt.

III. Bei solchen Verhältnissen kann nicht zweifelhaft sein, daß eine Fülle von DDR-Strafurteilen von den Staatsanwaltschaften in Berlin und in den neuen Bundesländern unter dem Aspekt geprüft werden muß, inwieweit sich DDR-Richter und -Staatsanwälte strafbar gemacht haben. Spendeis Arbeiten können dabei nicht zuletzt deshalb von Nutzen sein, weil die Kritik, die Spendel, der im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen selbst Richter gewesen ist, an der Nachkriegsjustiz in der Bundesrepublik Deutschland geübt hat, in Anspruch nehmen kann, stets konstruktiv zu sein. Wenn er die Fehler untersucht, die der Justiz bei der Auslegung und Anwendung des Rechtsbeugungstatbestandes unterlaufen sind, zeigt er zugleich auf, wie die Justiz richtigerweise hätte verfahren müssen. Von Bedeutung ist zunächst die Unterscheidung von Nichturteil (einer nur scheinbar, rechtlich aber überhaupt nicht bestehenden Gerichtsentscheidung) und nichtigem Urteil (einem zwar wirklich vorhandenen, jedoch rechtlich unwirksamen Richterspruch) 47 . Bei den Waldheimer Urteilen u. B. steht die Qualität als Richterspruch ernstlich in Frage. Was seit dem Umbruch in der D D R über die sowjetischen Direktiven, die Einflußnahme seitens der SED-Spitze, die dem Strafverfahrensrecht Hohn sprechende Verfahrensgestaltung in hektischer Eile, die Nichterhebung von Beweisen, die Verurteilungen nach dem Prinzip der Kollektivschuld, ohne daß konkrete Handlungen vorgeworfen wurden, sowie die exzessive Höhe der verhängten Strafen bekanntgeworden

47 Vgl. Günter Spendel, L K § 336 Rdn. 131 f; ders., Rechtsbeugung (Fn. 9), S. 96 ff, 105; ders., JuS 1988, 856, 857.

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ist 48 , zwingt dazu, den in diesen Verfahren gefällten Urteilen jegliche Rechtswirksamkeit abzusprechen. Es handelte sich um Gewalt- und Willkürakte im Schein eines Rechts. Den Urteilen gingen Scheinverfahren 49 voraus, denen jede Rechtsqualität abging und die deshalb als rechtlich unbeachtlich zu betrachten sind. Es sei daran erinnert, daß das Kammergericht 1954 die Waldheimer Urteile in ihrer Gesamtheit für „absolut und unheilbar nichtig" erklärt hat 50 . Da die dabei von der Führungsspitze der SED praktizierte Einflußnahme der stalinistischen Rechtspraxis entsprach und gleichsam zum Strukturprinzip der D D R Justiz wurde - W. Otto51 spricht von der Beeinflussung durch stalinistisches Rechtsdenken, hypertrophierter Auffassung von der Rolle der Partei und Begründung des Klassenrechts muß auch bei anderen Verfahren besonders in dieser Periode geprüft werden, ob ihnen nicht überhaupt die Rechtsqualität fehlte. Aber auch in späterer Zeit ist ζ. B. bei den Verfahren, für die das MfS, wie oben dargelegt, die Drehbücher schrieb, die Frage aufzuwerfen, ob nicht politische Maßregelungen vorliegen, die nur juristisch verbrämt waren. Soweit Scheinverfahren und Nichturteile vorliegen, kann die von Radbruch52 beeinflußte Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs 53 , wonach richterliche Tätigkeit zu einer Bestrafung auch aus anderen Gesetzesvorschriften nur dann führen darf, wenn der Richter sich einer Rechtsbeugung schuldig gemacht hat, schon deshalb nicht angewendet werden, weil es an der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache fehlt. Es fragt sich allerdings, ob diese Rechtsprechung nicht ohnehin überprüft werden sollte. Begründet wird die Rechtsprechung durch die Erwägung, die Beschränkung der strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Richters bilde ein Teilstück in der Sicherung der Unabhängigkeit des Richters. In der NS-Zeit galt dieser Grundsatz bis in die Kriegsjahre. Dann wurde er durch Maßnahmen zur Lenkung der Rechtsprechung ausgehöhlt und durch die berüchtigte Reichstagsrede Hitlers vom 26. April 1942 beseitigt. Im sozialistischen Rechtssystem der D D R konnte trotz der Verfassungsbestimmung, wonach Richter in ihrer Rechtsprechung unabhängig sind (Art. 96 DDR-Verf. 1968/74), von

48 Vgl. etwa Karl Wilhelm Fricke NJ 1991, 209 ff; Rudi Beckert NJ 1991, 301 f; Wilfriede Otto NJ 1991, 355 ff sowie die im NJ 1991, 392 ff abgedruckten Materialien; s. a. Helmut Brandt, Hinter den Kulissen der Waldheimer Prozesse des Jahres 1960, 1965, S. 7. Brand war 1950 Staatssekretär im DDR-Justizministerium. 49 Vgl. Günter Spendel, Rechtsbeugung (Fn. 9), S. 105. 50 Vgl. KG N J W 1954, 1901 f. 51 Vgl. Wilfriede Otto NJ 1991, 358. 52 Vgl. Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, SJZ 1946, S. 105 ff. » Vgl. BGHSt. 10, 294 ff; 32, 364; NJW 1971, 574.

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richterlicher Unabhängigkeit überhaupt nicht die Rede sein, wie oben aufgezeigt. Damit aber entfällt in bezug auf die DDR-Urteile die argumentative Grundlage für die bundesdeutsche Rechtsprechung zur Sperrwirkung des Rechtsbeugungstatbestandes. Gegen die Auffassung der bundesrepublikanischen Rechtsprechung ist ohnehin einzuwenden, daß die Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit keineswegs das durch §336 StGB erstrebte Ziel oder gar sein Zweck ist. In Wahrheit geht es in dieser Bestimmung um den Schutz der Rechtsuchenden vor richterlichem Machtmißbrauch, also, wie Spendel mit Nachdruck betont hat, um die Sicherstellung der richterlichen Verantwortlichkeit, um objektiv falsche Entscheidungen zu verhindern 54 . Was der Richter den Rechtsuchenden schuldet, ist Unparteilichkeit 55 . Die Justiz der DDR sollte aber ihrer Zielsetzung gemäß gar nicht unparteilich verfahren und entscheiden; ihre Aufgabe war vielmehr, parteilich zu sein, nämlich vom Klassenstandpunkt aus zu verurteilen 56 . Wenden wir uns dem Rechtsbeugungstatbestand selbst zu, so ist unbeschadet der Zweifel, ob dieser überhaupt auf die DDR-Justiz angewendet werden kann, festzuhalten, daß Rechtsbeugung die vorsätzliche Verletzung des Rechts zugunsten oder zum Nachteil einer Seite ist. Gemäß §336 StGB wird ein Richter, ein anderer Amtsträger oder ein Schiedsrichter, der sich bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache dieses Delikts schuldig macht, mit Freiheitsstrafe von einem Jahr bis zu fünf Jahren bestraft. Im DDR-StGB war die Rechtsbeugung durch §244 gleichartig definiert, nämlich als wissentlich gesetzwidrige Entscheidung bei der Durchführung eines gerichtlichen oder Ermittlungsverfahrens, wobei Täter die Richter, die Staatsanwälte oder die Mitarbeiter eines Untersuchungsorgans (etwa des Ministeriums für Staatssicherheit) sein konnten. Wichtig ist, daß Rechtsbeugung durch Anwendung von Rechtsnormen begangen werden kann, die „gesetzliches Unrecht" sind. Daß es Rechtsnormen gibt, die trotz ihrer Gesetzesform materiell Unrecht sind, ist eine Erfahrung aus der Zeit des NS-Regimes, die man in der DDR erneut machen mußte. Ob solche Unrechtsnormen vorliegen, ist stets zu prüfen. Das demokratisch nie legitimierte SED-Regime stand - gelinde 54 Vgl. Günter Spendel., Rechtsbeugung (Fn. 9), S. 59; Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 107 f, 111. 55 Vgl. Fritz Bauer, Das „gesetzliche Unrecht" des Nationalsozialismus, in: Arthur Kaufmann (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Gustav Radbruch, 1968, S. 302, 303; „Die Kriminalisierung der Rechtsbeugung dient dem Schutz aller Prozeßparteien in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, ihrer gleichen Behandlung, nicht der Sicherung der richterlichen Unabhängigkeit". 56 Vgl. Grundlagen der Rechtspflege, Lehrbuch, hrsg. von einem Autorenkollektiv unter Leitung von Kurt Wünsche, Ostberlin 1983, S. 26.

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ausgedrückt - mit den Menschenrechten auf Kriegsfuß, es hatte keine Hemmungen, sich über Grundrechte hinwegzusetzen, auch wenn diese in die Verfassung hineingeschrieben waren. Was das Verbot, das Gebiet der Sowjetischen Besatzungszone und späteren DDR zu verlassen, und die Maßnahmen zur Verhinderung der Republikflucht angeht, ist in der bundesdeutschen Rechtsprechung anerkannt, daß diese Bestimmungen gegen fundamentale Grundsätze des Rechts und der Menschlichkeit verstoßen. So hat das Landgericht Stuttgart in seinem den sog. HankeFall betreffenden Urteil vom 11. Oktober 196357 folgendes ausgeführt: „Es ist offenkundig, daß die dem Regime in der SBZ Unterworfenen durch das allgemeine Ausreiseverbot und alle sonstigen Vorschriften und Maßnahmen, die auf die Verhinderung der „Republikflucht" hinzielen, gegen ihren Willen und unter Mißachtung ihrer Entscheidungsfreiheit gezwungen werden sollen, zur Aufrechterhaltung des Zwangsregimes beizutragen (vgl. BGH NJW 60, 876). Derartige, allein vom politischen Machtstreben getragenen gesetzlichen Knebelungen des Einzelmenschen finden sich in den Gesetzgebungen freiheitlich-demokratischer Staaten nicht, und zwar nicht nur, weil dort keine Notwendigkeit besteht, den Verlust eines großen Bevölkerungsteiles zu besorgen, sondern auch, weil sie schlechthin gegen die Würde des Menschen verstoßen, da sie ihn zum Gefangenen im eigenen Lande machen." Nach dieser Entscheidung, der seinerzeit nur vereinzelt widersprochen worden ist58, beruhen Verurteilungen wegen sog. Republikflucht auf der Anwendung von Normen, die als gesetzliches Unrecht anzusehen und deshalb unwirksam sind. Soweit es sich nicht um Unrechtsurteile in diesem Sinn handelt, kommt Rechtsbeugung in den Begehungsformen der Sachverhaltsfälschung, der falschen Rechtsanwendung und des Ermessensmißbrauchs in Betracht. Günter Spendet ist beizupflichten, wenn er diese Trennung als problematisch bezeichnet, weil Tatsachenverdrehung und ermessensmißbräuchliche Strafmaßbestimmung auch als falsche Rechtsanwendung zu begreifen sind. Tatsachenverdrehungen und -Verfälschungen kamen bei der DDR-Justiz vielfach vor. Oft war, wie z . B . bei der Judikatur nach Art. 6 der DDR-Verfassung von 1949 und in der Anwendung des Strafrechtsergänzungsgesetzes vom 11. Dezember 1957 (GBl. DDR I, 643), die Umbiegung des Sachverhalts Bestandteil des Rechtsfindungsvorgangs. Haben die DDR-Gerichte, wie jetzt oft behauptet wird, unangemessen hohe Strafen verhängt, um die Einbeziehung der Verur-

57 58

Vgl. LG Stuttgart N J W 1964, 63, 64. Etwa von Gerald Grünwald, J Z 1966, 633 f f ; s. neuerdings auch ders., StV 1991,

31 ff. 59

Vgl. Günter Spendet, Rechtsbeugung (Fn.9), S . 3 9 f f .

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teilten in den Häftlingsaustausch zu ermöglichen, so handelt es sich um Rechtsbeugung durch Ermessensmißbrauch. Bei Tathandlung „Beugung des Rechts" hat sich Günter Spendet prononciert auf den Boden der sog. objektiven Theorie gestellt, wonach der äußere Tatbestand der Rechtsbeugung dann gegeben ist, wenn der Richter oder Staatsanwalt bei der Leitung oder Entscheidung einer Rechtssache zugunsten oder zum Nachteil einer Partei das objektive Recht eindeutig verletzt. Den einleuchtenden Gründen, die er gegen die subjektive Theorie, die eine bewußt falsche Anwendung des Rechts verlangt, ins Feld führt, ist nichts hinzuzufügen. Ebenso wie nach Seebodes61 treffendem Hinweis Freislers Unrechtsurteile objektiv Rechtsbeugung gewesen sind, auch wenn er sie für Recht gehalten haben sollte, so erfüllen auch eindeutige Rechtsverletzungen der DDR-Justizfunktionäre den objektiven Tatbestand der Rechtsbeugung. Soweit das Oberste DDR-Gericht oder jetzt die Bezirksgerichte der neuen Bundesländer politische Fehlurteile aufgehoben haben, dürfte den ermittelnden Staats an wälten die Feststellung des objektiven Rechtsbeugungstatbestandes nicht schwer fallen. Aus früherer Zeit geben die oben erwähnten Fehlerdiskussionen der DDR-Justiz in ähnlicher Weise Aufschluß darüber, wie falsch selbst vom Standpunkt der DDR-Justiz aus die Gerichte das Recht ausgelegt und die Fakten unter die Normen des politischen Strafrechts subsumiert haben. Nach den Erschütterungen, die das Regime im Juni 1953 erlitt, übte z . B . selbst Hilde Benjamin Kritik an der Ausweitung der Straftatbestände. So betonte sie, „daß es notwendig ist, die bisherige Einseitigkeit unserer Betrachtung, die in erster Linie ausschließlich das Objekt des Verbrechens sah, zu überwinden" 62 . Des weiteren wurde damals die „undifferenzierte Anwendung der Strafgesetze" und die „unterschiedlose Beurteilung der Angeklagten" gerügt63. Beide waren zuvor erwünscht gewesen, ja gefordert worden. Wolfgang Schuller, der Äußerungen aus jener Zeit zusammengestellt hat (102 ff), zieht zutreffend die Schlußfolgerung 64 : Wenn angekündigt werde, nunmehr wolle man sich bemühen, Art. 6 der DDR-Verfassung auf die Verbrechen anzuwenden, die sich wirklich unmittelbar gegen den Bestand der D D R , ihre Regierung und ihre Grundlagen richteten, so heiße das, daß Art. 6 bisher (auch) auf Fälle angewandt worden sei, die sich eben nicht gegen das Regime gerichtet hatten. Für die Staatsanwaltschaft übte der DDR-Generalstaatsanwalt Melsheimer,

Vgl. " Vgl. 62 Vgl. " Vgl. « Vgl. 60

Günter Spendet, Rechtsbeugung (Fn.9), S. 74 ff. Manfred Seebode, aaO (Fn.54), S. 16. Hilde Benjamin N J 1953, 509. Helene Kleine N J 1953, 511. Wolfgang Schuller, aaO (Fn.44), S. 102 ff.

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ein früherer Kammergerichtsrat, Selbstkritik. N u r formal, so erklärte er 65 , habe sich diese an die Gesetze gehalten. Unterschiedlos, insbesondere ohne genügende Wirkung der Persönlichkeit des Beschuldigten, sei Anklage erhoben worden, wenn äußerlich der Tatbestand des Gesetzes erfüllt gewesen sei. Auch durch die Anwendung der Wirtschaftsstrafgesetze mit ihren hohen Strafen auf Bagatellfälle habe die Justiz Fehler begangen. Ein weiterer Standpunkt betrifft die Rechtswidrigkeit. Sind für deren Bestimmung subjektive Momente erforderlich, etwa die Überlegung oder Uberzeugung, pflichtwidrig zu handeln? Spendet* hat dies verneint, zu Recht: „Was Recht oder Unrecht ist, hat sich auch bei diesem Verbrechen nicht danach zu bestimmen, was der Täter denkt oder will, sondern was er tut und wie die Rechtsordnung dies beurteilt". Objektiv eindeutige Rechtsverletzungen unter den Voraussetzungen des Rechtsbeugungstatbestandes sind mithin rechtswidrig, sofern sie nicht ausnahmsweise durch Rechtfertigungsgründe gedeckt sind. In der Frage der Vorsätzlichkeit der Rechtsbeugung hat sich der Bundesgerichtshof 67 für seine Auffassung, Vorsatz sei bei der Rechtsbeugung nur in Form des direkten Vorsatzes zu verstehen, berechtigte Kritik eingehandelt. Auch Günter Spendet68 hat dem Bundesgerichtshof entgegengehalten, daß der Gedanke der richterlichen Unabhängigkeit keineswegs dafür spricht, den bedingten Vorsatz bei der Rechtsbeugung auszuschließen. Der öffentliche Unwille darüber, daß die Richter sich auf diese Weise ein Privileg verschafften, hat den Gesetzgeber nach der scharfen Kritik, die der Freispruch des ehemaligen VolksgerichtshofBeisitzers Rhese 69 gefunden hatte, 1974 veranlaßt, durch Änderung des Einführungsgesetzes zum StGB dem § 336 StGB eine Fassung zu geben, die klarstellt, daß der bedingte Vorsatz bei der Tat ausreicht. Hier ist zu beachten, daß §244 StGB D D R eine „wissentliche" Rechtsbeugung verlangt. Diese Formulierung zeigt an, daß die D D R für die Tat einen herausgehobenen Faktor des Wissens forderte, also den direkten Vorsatz. Bekanntlich haben Gerichte der Bundesrepublik bei NS-Richtern gemeint, daß unter Umständen manche Richter „als fanatische Nationalsozialisten von der unmenschlichen und rechtsstaatswidrigen Denkweise

Vgl. Ernst Melsheimer N J 1953, 512. Vgl. Günter Spendet, Rechtsbeugung (Fn. 9), S. 49. 67 Vgl. BGHSt. 10, 294; NJW 1971, 571. 68 Vgl. Günter Spendel, LK, 10. Aufl., 28. Lfg. 1982, Rdn. 77 ff, 89 ff; ders., Rechtsbeugung (Fn. 9), S. 59 ff; s. zu dieser Problematik vor allem auch Manfred Seebode, aaO (Fn. 54), S. 23 ff, 107 ff. 69 Das Rehse-Urteil des Berliner Schwurgerichts ist abgedruckt in NJW 1968, 1339 f. 65

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des NS-Regimes so durchdrungen waren, daß ihnen der unbedingte Rechtsbeugungsvorsatz gefehlt haben mag" (so wörtlich das Bundesverwaltungsgericht 70 ). Entgegen Spendet7' bejaht die herrschende Meinung72, daß der Vorsatz des ideologisch verblendeten Richters, der Unrecht für Recht gehalten hat, den Rechtsbeugungsvorsatz ausschließt. Als Fall des Verbotsirrtums wird Rechtsblindheit nicht angesehen, weil der Widerspruch zum Recht in § 336 StGB Tatbestandsmerkmal ist. Man wird gespannt sein dürfen, welchen Standpunkt die Rechtsprechung jetzt bei der Beurteilung der DDR-Urteile einnehmen wird - dies auch deshalb, weil jeweils zu prüfen ist, ob nicht die Berufung auf Rechtsblindheit eine bloße Schutzbehauptung ist, deren tatsächliche Voraussetzungen nicht vorliegen. Was den Verbotsirrtum angeht, so ist von Interesse, daß in der DDR die Lehre vom Bewußtsein der Rechtswidrigkeit nicht anerkannt, ja mit einer bis zu Beschimpfungen gehenden Emphase abgelehnt wurde. So heißt es im Amtlichen Lehrbuch Strafrecht, Allgemeiner Teil73, die Entwicklung dieser Theorie zeige, daß sie „nicht nur als wissenschaftlicher Ausgangspunkt zur Lösung der Schuldproblematik beim Vorsatz völlig ungeeignet ist, sondern daß sie von ihrer Geburtsstunde an unter Mißachtung all dessen, was als Recht von den Völkern allgemein anerkannt wird, jede Schwenkung der Justiz im Interesse des Kapitals bzw. Monopolkapitals, d. h. die Justizwillkür, enthielt." Auch später, als die DDR-Justiz gelegentlich auf das Bewußtsein der Rechtswidrigkeit Bezug nahm, wurde es bei Staatsverbrechen (§§ 96-111 StGB DDR) nie in Frage gestellt. Uberzeugungstäterschaft erhöhte nur die Schuld. Es ist bezeichnend, was führende DDR-Strafrechtler in ihrer auch von Schuller zitierten Abhandlung über Verantwortung und Schuld im DDR-Strafrecht dazu schrieben74: „In noch viel schärferem Maße gilt das für diejenigen, die auf Grund ihrer menschenfeindlichen oder der Arbeiter- und Bauernmacht feindlichen Haltung jegliches Schuldbewußtsein für die begangenen Verbrechen gegen den Frieden, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit oder Verbrechen gegen die DDR verloren oder gar nicht 70 Vgl. BVerwGE 26, 82, 87. Kritisch dazu Günter Spendet, Rechtsbeugung, S. 11 ff, 31 (dort wird es als grotesk bezeichnet, dem Richter, der aus Gleichgültigkeit, Rechtsblindheit, ja Rechtsfeindschaft seine objektive Rechtsbeugung nicht erkannt hat, den Vorwurf der vorsätzlichen Rechtsbeugung zu ersparen). S.a. BGH N J W 1968, 1340. 71 Vgl. LK-Spendet, § 3 3 6 Rdn. 18. 72 Vgl. Lackner, StGB, 19. Aufl. 1991, §336 Rdn.8. 73 A a O ( F n . 14), S.300. 74 John Lekschas/Wolfgang Loose/Joachim Renneberg, Verantwortung und Schuld im neuen Strafgesetzbuch, Ostberlin o.J. (1964), S. 96 f. Vgl. Wolfgang Schuller, aaO (Fn. 44), S.223.

Unrecht durch DDR-Rechtsprechung

651

erst haben aufkommen lassen. Das ist - wie die Untersuchung der Verbrechen dieser Art gezeigt hat - gerade für die schwersten Verbrechen dieser Art typisch. Die Abtötung des Gewissens, der Menschlichkeit und der Einsicht in die Notwendigkeit der Geschichte oder ähnliche Erscheinungsformen totaler moralischer Verkommenheit ist für viele dieser Verbrecher oft die persönlichkeitsbedingte Voraussetzung für die bewußte Entscheidung zu solchen an die Lebensgrundlagen der menschlichen Gesellschaft rührenden Verbrechen. Es geht deshalb keineswegs um die Heraushebung irgendeines Standpunktes der Gewalt oder abstrakter Staatsräson, wenn das fehlende Schuldbewußtsein bei solchen Verbrechen nicht als Schuldausschließung oder Schuldminderung anerkannt wird, sondern es ist vielmehr ein Ausdruck der Anerkennung eines ethischen Standpunktes in der Schuldtheorie, wenn gerade darin das eigentliche Verschulden und die größte Schuld erkannt wird, der ein Mensch fähig ist." Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, daß Schuller75 zum Ergebnis gekommen ist, die SED-Justiz habe den eigenen Strafanspruch wenig ernst genommen und sei sich bewußt gewesen, daß ein großer Teil der bestraften Taten wenig oder gar nicht strafwürdig gewesen sei. Er legt akribisch dar, daß und inwiefern trotz allgemeiner Bekanntheit der wirklichen Wortbedeutung die offizielle Auslegung dieser Wortbedeutung zuwiderlief und Vorschriften entgegen der eigenen Auslegung angewandt wurden. Materielle Bestrafung an sich irrelevanter Taten und die Präsumtion der Schuld seien Sachlagen gewesen, die der SED-Justiz bewußt gewesen seien. Der Charakter von Argumentation und Stil in der DDR-Justiz führe zu diesem Schluß: „Wenn rationale Argumentation in Rechtswissenschaft und Justiz durch Polemik und apologetische Progaganda ersetzt wird, ist das natürlich ein Vorgang, der den Beteiligten bewußt ist; insbesondere dann, wenn Gegnern scharfsichtig Dinge vorgeworfen werden, die man gerade selbst praktiziert." Daß die DDR-Richter und -Staatsanwälte bisher kaum Einsicht zeigen und viele sich als Opfer des Systems hinstellen, obwohl sie als dessen Handlanger in Wahrheit Täter waren, erinnert wiederum an die Zeit nach 1945. Spendel76 hat die Formulierung eines Schwurgerichts, die von „betrogenen Opfern einer verantwortungslosen Führung" sprach, zu Recht als verfehlt und „fast schon peinlich" bezeichnet, wenn man an die wirklichen Opfer der von ihnen begangenen Rechtsbeugung denkt. Es ist eine durch die zeitgeschichtliche Forschung erhärtete Wahrheit, daß die NS-Führung „nicht so viele Verbrechen hätte begehen können, wenn

75

76

Wolfgang Schuller, aaO (Fn.44), S.424. Vgl. Günter Spendel, JuS 1988, 836, 858.

652

Rudolf Wassermann

sie nicht so viele allzu willfährige und fanatische Handlanger gefunden hätte". Für das DDR-System gilt ein Gleiches. Niemand wurde gezwungen, den hochpolitischen Beruf des systemabhängigen Justizfunktionärs zu ergreifen. Wer das tat, kann sich heute nicht als Opfer des Systems ausgeben. Ebensowenig dürfte eine Entschuldigung der Täter durch Nötigungstatbestand in Betracht kommen. Was die Justizfunktionäre hätten befürchten müssen, wenn sie Recht gesprochen hätten, statt Unrechtsurteile zu fällen, wären Rügen, Nichtbeförderung (bzw. Nichtaufnahme in die Kaderreserve), allenfalls Entlassung gewesen. Die Furcht davor aber ist kein Entschuldigungsgrund 77 .

IV. U m einen Anhalt für die Zahl der gegenwärtig laufenden Ermittlungen zu geben, sei erwähnt, daß nach einer Mitteilung vom 2. August 199178 allein im Bezirk Frankfurt an der Oder die Staatsanwaltschaft in mehr als 200 Fällen gegen ehemalige DDR-Richter und -Staatsanwälte ermittelt. Die Ermittlungen betreffen vor allem frühere Verfahren wegen Republikflucht. Die hohe Zahl der Ermittlungen darf allerdings nicht zu der Annahme führen, daß mit ebenso zahlreichen Anklagen und Verurteilungen zu rechnen ist. Wie ein Damoklesschwert hängt die Verjährungsfrage über der strafrechtlichen Aufarbeitung der Vergangenheit. Das gilt auch für die Rechtsbeugung, deren Verfolgung in der Bundesrepublik nach fünf Jahren, nach dem Recht der D D R nach acht Jahren (§§62 Abs. 3, 244 D D R - S t G B ) verjährt. Im Einigungsvertrag ist man davon ausgegangen, daß nach dem Recht der D D R verjährte Straftaten nicht mehr verfolgt werden dürfen. Mit der Einbringung eines Gesetzentwurfs der Bundesregierung, der den Eintritt der Verjährung für solche Taten aufhebt oder hindert, die während des Bestehens der D D R aus politischen Gründen nicht verfolgt wurden, ist nach wiederholten Erklärungen des Bundesjustizminister 79 nicht zu rechnen. Für die strafrechtliche Ahndung der Verbrechen des SED-Regimes und seiner Handlanger kommt es daher darauf an, ob die Rechtsprechung sich wie nach 1945 erneut zu der Auffassung durchringt, daß die 77 In den NS-Prozessen hat sich immer wieder gezeigt, daß die tatbestandlichen Voraussetzungen für Nötigungsbefehlsnotstand nicht vorlagen; vgl. Adalbert Rückerl, aaO (Fn.2), S. 281 ff. 78 Vgl. die Angaben des kommissarischen Leiters der Staatsanwaltschaft, in: Der Tagesspiegel, 4.8.1991, S. 7. 79 Vgl. Presseinformation des Bundesministers der Justiz Nr. 41/91 vom 8.7.1991, S.3.

Unrecht durch DDR-Rechtsprechung

653

Verjährung von Straftaten, die unter dem Unrechtsregime nicht verfolgt wurden, während dieser Zeit ruhte80. Geschieht das nicht, so können gerade die schlimmsten Verbrechen, die in der DDR begangen wurden, nicht mehr verfolgt werden. Dieses Ergebnis wäre unter rechtlichen wie politisch-moralischen Gesichtspunkten denkbar unbefriedigend. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß eine solche Erledigung der Verfahren gegen DDR-Verbrecher der verbreiteten Unlust entspräche, die im Westen Deutschlands gegen die Durchführung solcher Verfahren herrscht - ganz im Gegensatz zum Osten, wo die Bevölkerung mit großer Mehrheit auf Prozessen gegen ihre Unterdrücker besteht. In der Tat macht nicht das Wegsehen, wie es im Westen oft empfohlen wird, frei, sondern erst das Hinsehen. Wer das Geschehene verdrängt, wird zum Gefangenen seiner Vergangenheit. Als Mahnung, über das Unrecht totalitärer Herrschaft nicht zur Tagesordnung überzugehen, sei deshalb an die Worte erinnert, die in der Bundesrepublik oft zitiert werden, seitdem Yad Vashem in Jerusalem errichtet worden ist: Das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung. Das gilt auch dann, wenn die Erinnerung nicht nur für die Täter schmerzlich ist, sondern auch für diejenigen, die - aus welchen Gründen auch immer - die Wahrheit über die DDR-Justiz nicht haben wissen wollen.

80 Vgl. BVerfG NJW 1953, 177; BGH 282.1952 - 5 StR 28/52; 9.7.1954 - 5 StR 218/ 54; BGH NJW 1962, 2309.

Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht KLAUS GEPPERT

I. An den Einsatz moderner elektronischer Atemalkoholtestgeräte knüpfen sich im Kampf gegen den Alkohol im Straßenverkehr große Hoffnungen. Unter anderem dieser Hoffnungen wegen hat es der Bundesrat noch im Frühjahr 1989 abgelehnt, einem Vorschlag der Kommission der Europäischen Gemeinschaften zu folgen und den zulässigen Blutalkoholgrenzwert europa-einheitlich auf 0,5 Promille festzulegen 1 . Er war der Ansicht, das Problem „Alkohol im Straßenverkehr" sei weniger mit einer Verschärfung der entsprechenden Grenzwerte als vielmehr mit einem Maßnahmenbündel zu bekämpfen, für das an erster Stelle die Anerkennung der Atemalkoholanalyse als Beweismittel vor Gericht und im Zusammenhang damit die Schaffung einer rechtlichen Grundlage zur Durchführung von Vortests ohne Verdachtskriterien genannt wurde 2 . Diese optimistischen Erwartungen sind noch gestiegen, seit im Frühsommer 1991 das vom Bundesminister für Verkehr beim Bundesgesundheitsamt in Auftrag gegebene „Gutachten zur Prüfung der Beweissicherheit der Atemalkoholanalyse" vorliegt 3 . Nach dieser Expertise darf die Atemalkoholanalyse jedenfalls nicht mehr als „Utopie eines forensisch brauchbaren Beweismittels" 4 bezeichnet werden. Sie läßt vielmehr hoffen, mit Hilfe dieser organisatorisch einfacheren und billigeren neuen technischen Methode die Verkehrssicherheit durch Verringerung der hohen Dunkelziffer bei Alkoholtaten im Straßenverkehr maßgeblich verbessern zu können.

1 Z u m Beschluß des Bundesrates v o m 2 1 . 4 . 1 9 8 9 siehe BR-Drucksache 70/89; zu den Empfehlungen der mitbefaßten Ausschüsse siehe BR-Drucksache 70/1/89 vom 10.4. 89. 2 Ebenso der Deutsche Verkehrssicherheitsrat in seiner Stellungnahme vom 3.Juni 1991. 3 Vorgelegt vom Institut f ü r Sozialmedizin und Epidemiologie des Bundesgesundheitsamtes, erarbeitet insbesondere von Günter Schoknecht unter Mithilfe von Klaus Fleck und Bernd Kophamel-Röder und veröffentlicht in der Schriftenreihe des Bundesgesundheitsamtes (Berlin: April 1991). 4 So aber noch Heifer, B A 1986, 229 ff.

656

Klaus Geppert

D i e E m p f e h l u n g des B G A - G u t a c h t e n s geht i m übrigen dahin, A t e m a l k o h o l a n a l y s e n jedenfalls dann als forensisch zuverlässiges B e w e i s m i t t e l anzuerkennen,

w e n n die A n a l y s e n mittels eichfähiger

elektronischer

M e ß g e r ä t e t y p e n m ä ß i g zugelassener B a u a r t u n d aus (mindestens) z w e i Meßsystemen

unterschiedlicher

analytischer

Spezifität

sowie

unter

A n w e n d u n g w e i t e r e r V o r s i c h t s m a ß n a h m e n z u s t a n d e g e k o m m e n sind 5 . E i n z e l h e i t e n t e c h n i s c h e r A r t interessieren uns hier n i c h t ; im H i n b l i c k auf n a c h f o l g e n d e rechtliche Ü b e r l e g u n g e n zu W i r k w e i s e und E i n s a t z der n e u e n G e r ä t e n u r so viel 6 : Mit diesen neuen Geräten nicht zu verwechseln sind jene in Kraftfahrerkreisen hinreichend bekannten „Pusteröhrchen" (Atemalkohol-Prüfgerät „Alcotest"), die sich ab einer bestimmten Blutalkoholkonzentration (BÄK) grünlich verfärben und deren Fehlermöglichkeiten so beträchtlich sind, daß zuverlässige Rückschlüsse auf eine exakte BÄK nicht möglich sind. Niemand beabsichtigt ernsthaft, die unzulänglichen Ergebnisse solcher Vortests als forensisch zuverlässigen Beweis anerkennen zu wollen. Die Rede ist hier von jenen meist auf dem Prinzip der Infrarotabsorption beruhenden elektronischen Geräten, die die Alkoholkonzentration in ausgeatmeter tiefer Lungenluft messen, auf Papier festhalten und auf diesem Weg auch eine quantitativ verwertbare Atemalkoholbestimmung liefern. Ebenso wie bei den traditionellen Alcotest-Röhrchen ist man auf die aktive Mitwirkung des Betroffenen angewiesen. Dieser hat in einem - und zwar sehr starken - Zug und ohne stotterndes Verzögern eine nicht ganz unerhebliche Menge Atemluft (mindestens 1,5 Liter) in einen Schlauch hineinzublasen7; das bloße Aufnehmen der Atemluft ζ. B. allein durch Vorhalten eines Schlauches wäre insofern völlig ungeeignet. Um einen möglichen Mundrestalkohol ausschließen zu können, darf die erste Atemalkoholprobe frühestens 15 Minuten nach Trinkende erfolgen; in einem zeitlichen Abstand von etwa weiteren fünf Minuten muß zudem eine zweite Atemmessung vorgenommen werden8. Im übrigen ist sicherzustellen, daß der Proband in dieser Zeit keine die Messung beeinflussenden Substanzen (Essen, Rauchen, weiteres Trinken, Mundspray u. ä.) zu sich nimmt.

II. U n s e r e G e r i c h t e haben es bislang abgelehnt, selbst mittels a l l e r m o dernster e l e k t r o n i s c h e r M e ß g e r ä t e u n d u n t e r B e a c h t u n g aller n u r d e n k baren

Sicherheitsvorkehrungen

gewonnene

Atemalkoholanalysen

als

forensisch v e r w e r t b a r e n Beweis a n z u e r k e n n e n . Freilich gilt unser n a c h -

Dazu BGA-Gutachten (Fn.3) S. 55 ff. Zusätzlich zum BGA-Gutachten (aaO S. 99 ff mit weiteren Nachweisen) siehe vor allem Grüner, Die Atemalkoholprobe: Grundlagen und Beweiswert (1985) und ArbabZadeh / P. Badura / Κ. Hoffmann / Marcol, Methodik und Genauigkeit von Atemalkoholbestimmungen, in: Atemalkohol 1985, 49 ff aus etwas älterer sowie insbesondere die zahlreichen Arbeiten von Schoknecht und seinen Mitarbeitern (u. a. Blutalkohol - im folgenden: BA - 1988, 345 ff; BA 1989, 71 ff; BA 1990, 145 ff) aus allerjüngster Zeit. 7 Dazu BGA-Gutachten (Fn.3), S. 17ff. 8 Vgl. BGA-Gutachten (Fn.3), S.23ff; vgl. auch Schoknecht, BA 1990, 151 und Grüner, Die forensische Bedeutung der Atemalkoholprobe (bisher unveröffentlichtes Manuskript), S. 15 ff. 5

6

Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht

657

folgendes Interesse nicht dieser, sondern der gewissermaßen vorverlagerten Frage, ob solche - im folgenden unterstellt: forensisch verwertbaren - Testergebnisse auch im Rahmen verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen gewonnen werden können. Auch in diesem Punkt sind vereinzelte europäische Nachbarn sowie einige überseeische Staaten deutlich weiter als wir. Ein kurzer rechtsvergleichender Überblick möge das Verständnis für die nachfolgenden Überlegungen erleichtern 9 : 1. Ebenso w i e bei uns stellt auch in der Schweiz die B A K - M e t h o d e an sich das einzige gesetzlich zugelassene Beweismittel zum N a c h w e i s der Trunkenheit im Straßenverkehr dar (Art. 55 SVG i. V. mit Art. 138 VZV) 1 0 . Die Kontrolle von Verkehrsteilnehmern ist n u r bei Anzeichen von Angetrunkenheit möglich; (nur) z u r Vorprobe ist fakultativ auch der Einsatz eines Atemprüfgerätes möglich (Art. 138 Abs. 3 VZV). Anders als bei uns ( § 8 1 a S t P O ) ist in der Schweiz auch die B A K - M e t h o d e nicht erzwingbar; doch wird nach Art. 91 Abs. 3 SVG w i e ein angetrunkener Kraftfahrer bestraft, w e r sich vorsätzlich einer amtlich angeordneten Blutprobe entzieht. Die A b l e h n u n g des nur fakultativen Atemalkoholtests w i r d nicht als strafbare Verweigerung angesehen. 2. Im Gegensatz dazu sind in Osterreich ausweislich von § 5 Abs. 1 der öst. S t V O auch A A K - T e s t s gesetzlich ausdrücklich vorgesehen; als das in aller Regel geringer w i r k e n d e Mittel sind sie der Blutentnahme grundsätzlich vorzuziehen. Der festgestellte A A K W e r t von 0,4 mg/1 steht auch beweisrechtlich einem B A K - W e r t von 0,8 Promille gleich. Forensisch verwertbar sind jedoch nur die Meßergebnisse, die aus enumerativ zugelassenen Meßgeräten stammen (§ 5 Abs. 2 a N r . b): es sei denn, die B A K - M e t h o d e habe zu einem anderen Ergebnis geführt (Abs. 4 a). Bei konkreter Vermutung sind die zuständigen Organe zwar berechtigt, B Ä K - oder A A K - M e s s u n g e n vorzunehmen (§ 5 Abs. 2), können dieses Recht aber nicht zwangsweise durchsetzen. Die W e i g e r u n g eines Beschuldigten ist jedoch mit derselben Sanktion bedroht wie die entsprechende A l k o holfahrt ( § 9 9 Abs. 1 N r . b und c StVO/Ö). Verdachtslose A A K - K o n t r o l l e n sind im Gesetz nicht vorgesehen. § 5 Abs. 2 StVO/Ö gibt den zuständigen Organen das Recht zu Atemalkoholtests nur dann, „wenn vermutet werden kann, daß sich diese Personen in einem durch A l k o h o l beeinträchtigten Zustand befinden". 3. Ähnlich sind die Regelungen in den Niederlanden 1 1 und in Kanada 1 2 . In beiden Ländern ist die A A K - M e s s u n g mittlerweile ausdrücklich gesetzlich vorgeschrieben und als legales Beweismittel anerkannt; die B A K - M e t h o d e ist nur noch bei körperlicher oder gesundheitlicher U n d u r c h f ü h r b a r k e i t einer A A K - M e s s u n g erlaubt. W ä h r e n d in den Niederlanden eine Vorprüfung mittels des Röhrchentests z w i n g e n d vorgeschrieben ist, hält man dies in Kanada bei schweren Verdachtsmomenten f ü r überflüssig. In beiden Ländern - in den Niederlanden seit 1974 sogar ausdrücklich gesetzlich normiert - sind verdachtslose Atemalkoholkontrollen grundsätzlich unzulässig; der Vortest soll auch hier nur einen bestehenden Verdacht bestärken b z w . ausräumen.

9 Weiterführend Fleck/Schoknecht, Bundesgesundheitsblatt 1990, 153 ff; vgl. auch Janiszewski, D A R 1990, 422 ( H i n w e i s auf Japan). 10 Siehe z u m Ganzen Händel, B A 1988, 319 (322 ff). " Dazu (in englischer Sprache) Muler/Neutehoom/Wessel, B A 1991, 94 ff; vgl. auch Fleck/Schoknecht, Bundesgesundheitsblatt 1990, 155. 12 Dazu vor allem Fleck, B A 1988, 380 ff.

Klaus Geppert

658

Kommt der Verdächtige seiner Pflicht zur Mitwirkung bei der AAK-Bestimmung jedoch nicht nach, droht ihm in den Niederlanden die maximale Strafhöhe der entsprechenden Trunkenheitsfahrt. In Kanada hingegen, wo Atem- ebenso wie Blutproben aus verfassungsrechtlichen Gründen der Einwilligung des Betroffenen bedürfen, wird bei einer „ohne berechtigten Grund" verweigerten Einwilligung automatisch eine alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit unterstellt, was die entsprechende Strafverfolgung nach sich zieht. 4. Auch in Frankreich ist die AAK-Methode schon des längeren als beweissicheres Analyseverfahren anerkannt13. Ab 0,4 mg/1 bzw. 0,8 Promille droht der Entzug der Fahrerlaubnis bzw. ein längeres Fahrverbot. Ahnlich wie in den meisten anderen Ländern14 findet in aller Regel ein Vortest und erst hiernach die genaue Messung statt. Verweigert die kontrollierte Person ihre Mitwirkung, hat dies zwar keinen Zwangstest, wohl aber die sofortige Sicherstellung des Führerscheins mit nachfolgendem Fahrverbot/Fahrerlaubnisentzug zur Folge. Bemerkenswerterweise wird die Alkoholkontrolle in Frankreich nicht an bestimmte konkrete Verdachtsmomente geknüpft. Kontrollmaßnahmen werden zum einen bei Unfällen mit Personenschäden oder bei groben Verkehrsverstößen durchgeführt, wobei man immerhin von einer abstrakt-generellen Verdachtslage gegenüber dem Betroffenen sprechen kann. Darüber hinaus können systematische Alkoholkontrollen im Straßenverkehr in Frankreich auch ohne jeden konkreten Verdacht oder Anlaß angeordnet werden, dann freilich nur auf Grund ausdrücklicher Anordnung der Staatsanwaltschaft.

III. Selbstverständlich finden auch s c h o n auf unseren Straßen A t e m a l k o h o l k o n t r o l l e n statt, w o b e i anstelle des „ P u s t e r ö h r c h e n s " v e r m e h r t auf m o d e r n e s elektronisches Gerät z u r ü c k g e g r i f f e n w i r d . Freilich handelt es sich a u c h dabei n u r u m Vortests auf freiwilliger Basis und n u r u m v e r d a c h t s b e z o g e n e K o n t r o l l e n . Z u r derzeitigen R e c h t s l a g e in aller K ü r z e : Sedes m a t e r i a e ist § 81 a Abs. 1 Satz 2 S t P O . D a n a c h k a n n die B l u t e n t n a h m e a u c h gegen den Willen des B e t r o f f e n e n d u r c h g e f ü h r t w e r d e n , richtet sich freilich n u r gegen einen „ B e s c h u l d i g t e n " . B e s c h u l d i g t e r in diesem Sinn ist jeder, gegen d e n auf G r u n d hinreichend Anfangsverdachts -

gemeint sind „ z u r e i c h e n d e tatsächliche

konkreten Anhalts-

p u n k t e " i. S. v o n § 1 5 2 A b s . 2 S t P O - bereits ein E r m i t t l u n g s v e r f a h r e n geführt o d e r mit A n o r d n u n g d e r B l u t e n t n a h m e k o n k l u d e n t eingeleitet wird 1 5 . D a § 8 1 a S t P O ü b e r § 4 6 A b s . 1 Satz 1 ( u n d mit der E i n s c h r ä n kung des A b s a t z e s 4 ) O W i G a u c h für das O r d n u n g s w i d r i g k e i t e n r e c h t gilt, g e n ü g t für die zwangsweise B l u t e n t n a h m e auch der V e r d a c h t eines bußgeldbewehrten

Verstoßes

gegen

die

0,8-Promille-Grenze

(§24 a

Dazu Fleck/Schoknecht, BA 1989, 376 ff. Gleiches gilt insofern auch für Großbritannien (Fleck/Schoknecht, Bundesgesundheitsblatt 1990, 154). 15 Vgl. statt vieler Kleinknecht/Meyer, StPO (40. Aufl.), Rdn. 2, KK-Pelcben, StPO (2. Aufl.), Rdn. 2 und LR-Dahs, StPO (24. Aufl.), Rdn. 6 bis 8 - je zu § 81 a. 13 14

659

Z u r Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht

StVG) 16 . Als ausreichende Verdachtsmomente werden u. a. ein für die kontrollierenden Beamten deutlich wahrnehmbarer Alkoholgeruch („Fahne"), gerötete („glasige") Augen, lallende Aussprache u. ä. angesehen17. Nicht zulässig ist die Blutentnahme jedoch, wenn durch sie erst herausgefunden werden soll, ob überhaupt ein Verdacht besteht. Wenn nun aber zur Bestärkung bzw. Ausräumung eines schon vorhandenen Verdachts auch bei uns allenthalben Atemalkoholtests angeboten werden18, stellt sich natürlich - das Qualitätsproblem erneut beiseite gelassen - die Frage, weshalb das Atemalkoholmeßverfahren lediglich als freiwilliger Vortest und nicht als ein „anderer körperlicher Eingriff" anzusehen ist, wie er ausweislich von § 81 a Abs. 1 Satz 2 StPO neben der Blutentnahme expressis verbis ebenfalls für zwangsweise zulässig erachtet wird. Die Bejahung dieser Frage hätte zur Folge, daß dem ersichtlich ungefährlicheren, unkomplizierteren und deutlich billigeren AAK-Meßverfahren nach dem Prinzip des geringstmöglichen Mittels der Vorzug vor dem traditionellen BÄK-Verfahren einzuräumen wäre19. Dem steht jedoch der Grundsatz entgegen, daß niemand gezwungen werden kann, sich in einem Strafverfahren selbst zu belasten („nemo tenetur se ipsum accusare"). Zwar ist der Streit um die rechtstheoretische Herleitung dieses Prinzips und seinen Umfang im einzelnen bis heute noch nicht restlos geklärt; doch ist in Literatur und Rechtsprechung jedenfalls für den vorliegenden Zusammenhang übereinstimmend anerkannt, daß kein Verdächtiger in einem gegen ihn gerichteten strafoder ordnungswidrigkeitenrechtlichen Verfahren gezwungen werden kann, durch aktives Tun - hier: durch kräftiges Pusten in ein Meßgerät an seiner eigenen Uberführung mitzuwirken. Daher ist seit vielen Jahren anerkannt, daß Atemalkoholtests jedweder Art nicht unter die in §81 a StPO genannten Zwangsmaßnahmen fallen20. Die hier normierte Ein-

16

Z u m Erfordernis eines Anfangsverdachtes vgl. auch N r . 1 des Gemeinsamen Erlas-

ses der Bundesländer z u r Feststellung von Alkohol im Blut bei Straftaten und O r d n u n g s widrigkeiten ( R i B A ) aus dem J a h r e 1977, abgedruckt bei Müblhaus/Janiszewski,

StVO

(12. Aufl.), R d n . 4 0 zu § 3 1 6 S t G B . 17

H i e r z u Hentschel/Bom,

18

N a c h N r . 4 c des erwähnten Erlasses ( F n . 16) soll eine Blutentnahme unterbleiben,

wenn

„bei vorschriftsmäßiger

Trunkenheit im Straßenverkehr (5. Aufl. 1990), R d n . 7. Beatmung

des Atem-Alkoholprüfgerätes

,Alcotest'

die

Verfärbung der Reaktionsschicht den auf 0 , 7 Promille eingestellten gelben Markierungsstrich nicht erreicht". 19

In diesem Sinn denn auch schon V o r j a h r e n Arbab-Zadeh,

20

F ü r die Rechtsprechung siehe v o r allem B G H V R S 3 9 ( 1 9 7 0 ) , 1 8 4 (185), B a y O b L G

N J W 1 9 8 6 , 2 6 1 5 ff.

N J W 1963, 772 und G A 1964, 3 1 0 , O L G Schleswig V R S 30 ( 1 9 6 6 ) , 3 4 4 (345),

OLG

Stuttgart Justiz 1971, 3 0 sowie erst jüngst O L G Düsseldorf J Z 1988, 9 8 4 . I m Schrifttum siehe L R - D a h s R d n . 19, K K - P e l c h e n Rdn. 4 , K.MR-Paulus R d n . 11 und Jagusch/Hentschel, S t P O - sowie Göhler,

R d n . 17,

Kleinknecht/Meyer

Straßenverkehrsrecht (31. Aufl.), R d n . 4 -

O W i G (9. Aufl.), § 4 6 Rdn. 2 3 .

je zu § 8 1 a

660

Klaus Geppert

griffsermächtigung verpflichtet einen Beschuldigten nur zu passiver Duldung der körperlichen Untersuchung und der dort genannten körperlichen Eingriffe; darin eingeschlossen sind freilich diejenigen die Untersuchung/den körperlichen Eingriff ermöglichenden aktiven Unterstützungshandlungen, wie sie ein Arzt bei seiner Untersuchung von seinem Patienten üblicherweise erwartet 21 . Weitergehende Aktivitäten der zu untersuchenden Person werden nicht verlangt. Viele Kraftfahrer wissen freilich überhaupt nicht, daß sie nicht verpflichtet sind, ins „Röhrchen" oder in ein anderes Atemalkoholmeßgerät zu blasen. Um so dringlicher stellt sich die Frage, ob die polizeilichen Hilfsbeamten der Staatsanwaltschaft vor Ort zu einer entsprechenden Belehrung verpflichtet sind. Entgegen berechtigten Stimmen im Schrifttum22 scheint die Praxis eine solche Belehrungspflicht mangels ausdrücklicher gesetzlicher Vorschrift nach wie vor nicht für erforderlich zu halten23 oder mit methodisch überholter Begründung aus einer entsprechenden Pflichtverletzung jedenfalls kein revisibles Beweisverwertungsverbot ableiten zu wollen 24 . Wer jedoch die Freiwilligkeit eines solchen Atemtests ernst nimmt, wird aus Gründen rechtsstaatlicher Fürsoge auch ohne ausdrückliche gesetzliche Pflicht für die Notwendigkeit einer solchen Belehrung plädieren. Im übrigen kann nicht nachdrücklich genug gegen die „beliebte" Praxis protestiert werden, aus der berechtigten Weigerung, freiwillig an einem Atemalkoholtestverfahren mitzuwirken, ein Indiz bezüglich des Verdachts einer strafrechtsrelevanten Trunkenheit herleiten zu wollen 25 . IV. Vor diesem Hintergrund ist nunmehr zu fragen, ob nach derzeitiger Rechtslage auf unseren Straßen nicht nur polizeiliche Kontrollen zur 21 Bei Blutentnahme wäre dies etwa Hochkrempeln der Ärmel, ggf. Entkleiden oder Einhaltung der richtigen Körperhaltung; vgl. LR-Dahs Rdn. 17 und Kleinknecht/Meyer Rdn. 10 - je zu §81 a - und LG Düsseldorf NJW 1973, 1930 f. 22 Siehe K M R - / W « * Rdn. 62 mit 17 und LR-Dahs Rdn. 21 - je zu §81 a. 23 Vgl. insofern vor allem OLG Hamm NJW 1967, 1524 (zu Testversuchen bei der Blutprobe); Zustimmung bei KK-Pelchen Rdn. 14 und Kleinknecht/Meyer Rdn. 32 - je zu §81a. 24 So offenbar BayObLG (nach Rüth) DAR 1966, 262 mit der Begründung, ein derartiges Beweisverbot komme nur unter den Voraussetzungen des § 1 3 6 a StPO in Betracht; ebenso KK-Pelchen Rdn. 14 und Kleinknecht/Meyer Rdn. 32 - je zu §81 a. Reichlich undeutlich insofern BGH VRS 29 (1965), 203 f (zur Problematik eines freiwilligen Trinkversuches). 25 Bedenklich insoweit BayObLG DAR 1963, 221; Skepsis in diesem Punkt auch gegen Janiszewski, Verkehrsstrafrecht (3. Aufl. 1989) Rdn. 367 und Hentschel/Born, Trunkenheit (Fn. 19), Rdn. 34.

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Prüfung der Fahrtüchtigkeit der Verkehrsteilnehmer - insofern also „Alkoholkontrollen" - erlaubt sind, sondern dabei auch verdachtsfreie Atemalkoholproben (notfalls zwangsweise) angeordnet werden dürfen: 1. Wie ausgeführt, regelt §81 a S t P O allein die passive Duldung einer körperlichen Untersuchung/der Entnahme einer Blutprobe. Die N o r m verpflichtet den Betroffenen nicht zur aktiven Mitwirkung an einer gegen ihn als Beschuldigten gerichteten repressiven staatlichen Verfolgungsmaßnahme und scheidet schon aus diesem G r u n d als gesetzliche Ermächtigungsgrundlage für verdachtsfreie Atemalkoholtests aus. Entsprechendes gilt für die Erforschung von Ordnungswidrigkeiten, die nach §53 Abs. 1 O W i G ebenfalls zureichende tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht einer Ordnungswidrigkeit (hier insbesondere 0,8-Promille-Verstoß gemäß §24 a StVG) voraussetzt. Auch in einem solchen Fall kann ein Betroffener angesichts der auch hier garantierten grundsätzlichen Aussagefreiheit (§§46 Abs. 1 und 55 O W i G , 136 Abs. 1 Satz 2 und 81 a StPO) nicht zur aktiven Mitwirkung an einer gegen ihn gerichteten repressiven Maßnahme verpflichtet werden 2 6 .

2. Die Befugnis zu verdachtsfreier Atemalkoholprobe könnte sich jedoch aus § 36 Abs. 5 StVO ergeben. Danach dürfen Polizeibeamte Verkehrsteilnehmer (außer zu Verkehrserhebungen auch) zur Verkehrskontrolle anhalten (Satz 1), und die Verkehrsteilnehmer haben deren Anweisungen zu befolgen (Satz 2). Eine allgemeine Verwaltungsvorschrift zu §36 Abs. 5 StVO stellt klar, daß Verkehrskontrollen sowohl solche zur Prüfung der Fahrtüchtigkeit der Führer oder der nach den Verkehrsvorschriften mitzuführenden Papiere als auch solche zur Prüfung des Zustandes, der Ausrüstung und der Beladung der Fahrzeuge sind. Somit steht außer Frage, daß Polizeibeamte schon nach derzeitiger Rechtslage Verkehrskontrollen zur Prüfung der Fahrtüchtigkeit der Kraftfahrer durchführen und dabei die betreffenden Verkehrsteilnehmer zum Anhalten verpflichten können. Diese Anhaltepflicht ist bußgeldbewehrt (§§49 Abs. 3 Nr. 1 StVO, 24 StVG)27. a) Eine andere Frage ist jedoch, ob §36 Abs. 5 StVO auch die Anordnung speziell von ylfewalkoholkontrollen mit der Folge gestattet, daß der Verkehrsteilnehmer notfalls gegen seinen Willen auch zur Durchführung speziell eines Atemalkoholtests angehalten werden kann 28 . Vom Wortlaut der Vorschrift her erscheint eine solche Auslegung jedenfalls nicht völlig abwegig, zumal der nachgestellte Satz 2 26

Vgl. auch Göhler,

O W i G , § 5 3 Rdn. 14 und §55 R d n . 8 sowie Kullik,

BA 1988,

366. 27 So auch ausdrücklich O L G Stuttgart VRS 59 (1980), 464 (465); allg. Zustimmung im Schrifttum: Dvorak, JR 1982, 448 und Jagusch/Hentschel, Rdn. 27 zu §36 StVO. 28 Speziell dazu auch Legat („Rechtliche Grenzen polizeilicher Alkoholkontrollen"), BA 1988, 374 ff und Kullik („Kontrollbefugnisse der Polizei im Straßenverkehr: Sind pauschale Kontrollen zulässig?"), BA 1988, 360 ff. Siehe insoweit generell auch Bucherer („Anhalte- und Kontrollrechte der Polizei und anderer Organe im Straßenverkehr"), Polizeiblatt Baden-Württemberg 1977, S. 50 ff.

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(„Die Verkehrsteilnehmer haben deren Anweisungen zu befolgen") diese Rechtsansicht zu stützen scheint: (1) Der Regelungsinhalt von § 36 Abs. 5 StVO erschließt sich am ehesten aus Absatz 1 dieser Vorschrift. Auch dort ist von polizeilichen Weisungen die Rede, die zu befolgen sind und deren Nichtbeachtung ebenfalls bußgeldbewehrt ist (§§36 Abs. 1, 49 Abs. 3 Nr. 1 StVO, 24 StVG). Wie der Bundesgerichtshof zur Klärung obergerichtlicher Uneinigkeit in seiner Grundsatzentscheidung BGHSt. 32, 248 ff zutreffend ausgeführt29 und das BayObLG 3 0 ergänzt und verdeutlicht hat, bezieht sich §36 Abs. 1 auf Grund seiner in § 6 Abs. 1 Nr. 3 StVG enthaltenen Ermächtigungsgrundlage nur auf Maßnahmen zur Erhaltung der Ordnung und Sicherheit im Straßenverkehr. Die Vorschrift betrifft folglich nur Weisungen oder Zeichen eines Polizeibeamten, die auf Grund einer konkreten Verkehrssituation einem gegenwärtigen Bedürfnis durch Regelung des - fließenden oder ruhenden - Verkehrs im Einzelfall dienen sollen. Demzufolge werden auch Weisungen erfaßt, die dadurch unmittelbar verkehrsbezogen sind, daß sie die von einem Verkehrsteilnehmer ausgehende und andauernde (!) Beeinträchtigung der Verkehrssicherheit beseitigen sollen. Vom Regelungszweck des § 36 Abs. 1 StVO nicht erfaßt sind demgegenüber Anhalteweisungen, die keinem solchen aktuellen Bedürfnis zur Regelung des fließenden/ruhenden Straßenverkehrs oder der Erhaltung seiner Sicherheit und Ordnung, sondern ausschließlich der Aufklärung/ Ahndung einer bereits begangenen, in ihrer verkehrsbeeinträchtigenden Wirkung jedoch nicht fortdauernden Verkehrsordnungswidrigkeit dienen. Ein derartiges Anhaltegebot ist ausschließlich repressiver Natur und beurteilt sich demzufolge allein nach den einschlägigen Regeln der - über §46 Abs. 1 OWiG auch im Bußgeldverfahren geltenden - StPO (z.B. §§ 163 b, 111 oder 127 StPO). Weil ein Beschuldigter nach anerkannten Normen des Straf- und Bußgeldverfahrens (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 163 a StPO, 46 Abs. 1 OWiG) nicht gezwungen werden kann, bei der Erforschung und Ahndung eines von ihm begangenen kriminal- oder bußgeldrechtlich relevanten Verkehrsverstoßes aktiv mitzuwirken, kann eine solchermaßen begründete Anhalteweisung nicht erzwungen werden. Folgerichtig darf sie auch nicht bußgeldbewehrt sein. Ebenfalls nicht in den Anwendungsbereich von § 36 Abs. 1 StVO fallen schließlich jene Anhalteweisungen, die allein der - wenngleich nur

29 Allenthalben Zustimmung insofern im Schrifttum: statt vieler Jagusch/Hentschel Rdn. 19, Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 12 und Rüth/Berr/Berz, Straßenverkehrsrecht (2. Aufl. 1988), Rdn. 3 - je zu §36 StVO. 30 NJW 1987, 1094 = DAR 1987, 91 = VRS 72 (1987), 132 = VM 1987, 26.

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in Stichproben durchgeführten - allgemeinen Verkehrskontrolle dienen. Für diese Fallgruppe wurde in §36 Abs. 5 der StVO vom 16. November 1970 (BGBl. 1/1565ff) in Ersetzung von § 2 a früherer Fassung eine spezialgesetzliche Anhaltepflicht des Inhalts eingeführt, daß Polizeibeamte die Verkehrsteilnehmer „auch" - gemeint: zusätzlich zu den Anhaltemöglichkeiten der vorangehenden Absätze - zur Verkehrskontrolle anhalten können. Verkehrskontrollen sind Maßnahmen der allgemeinen Vorbeugung zur Erhöhung der Verkehrssicherheit, also abstrakt-präventiver Natur und als solche dadurch charakterisiert, daß die Prüfung der individuellen Fahrtüchtigkeit des zu kontrollierenden Verkehrsteilnehmers bzw. des Zustandes/der Beladung des kontrollierten Fahrzeuges weder einem augenblicklichen Bedürfnis zur Regelung einer konkreten Verkehrssituation entspringt noch seine (Mit-)Ursache im Verdacht einer kriminal- oder bußgeldrechtlich relevanten Unzuträglichkeit hat. Die Tatbestände von Abs. 1 und Abs. 5 betreffen also verschiedene Sachverhalte und schließen sich gegenseitig aus31. Gibt der Fall dem Polizeibeamten nach Lage der Dinge Anlaß zur Vermutung, der betreffende Verkehrsteilnehmer könne alkoholbedingt fahruntüchtig sein, scheidet jedenfalls Abs. 5 von § 36 StVO für eine mögliche Anhalteanweisung aus; es handelt sich dann um eine unmittelbar verkehrsbezogene Weisung i. S. von Absatz 1 dieser Vorschrift32. Aus diesem Grunde geht es auch nicht an, das Anhaltegebot, das an einen wegen eines möglichen Verkehrsverstoßes aufgefallenen Verkehrsteilnehmer gerichtet war und das als verdachtsbezogen eben nicht bußgeldbewehrt sein kann, dadurch zu einem bußgeldbewehrten Fall des §36 Abs. 5 StVO machen zu wollen, daß der Polizeibeamte diesen Vorfall zum Anlaß nimmt, eben zugleich auch eine allgemeine Kontrolle z.B. der mitzuführenden Papiere durchzuführen33.

31 So auch nachdrücklich B a y O b L G N J W 1987, 1094; ebenso wohl auch Bucherer, Polizeiblatt Bad.-Wttbg. 1977, 50. 32 Bußgeldbewehrt (§§49 Abs. 1 N r . 3, 36 Abs. 1 StVO, 24 StVG) ist diese Weisung, weil das Anhalten auch hier nicht ausschließlich der Aufklärung/Ahndung einer begangenen Verkehrsstraftat/'Ordnungswidrigkeit, sondern zumindest auch der Beseitigung eines aktuellen verkehrsunsicheren Zustandes dient; denn ein betrunkener Fahrer gehört nicht ans Steuer eines Kraftfahrzeuges. 33 So zu Recht B a y O b L G N J W 1987, 1094 (insofern nachdrücklich gegen O L G Zweibrücken V M 1981, 83 sowie Bouska, D A R 1984, 34, Hentschel, N S t Z 1984, 272, Janiszewski, N S t Z 1983, 514 und Dvorak, J R 1982, 448); dem B a y O b L G ausdrücklich zustimmend Rüth/Berr/Berz, Straßenverkehrsrecht, Rdn. 19 zu § 3 6 S t V O sowie früher schon Bucherer, Polizeiblatt Baden-Wttbg. 1977, 53. Zu dieser Ansicht tendiert erklärtermaßen im übrigen auch B G H S t . 32, 248 ff; der 4. Strafsenat hat jedoch davon abgesehen, diese Rechtsansicht in die Beantwortung mitaufzunehmen, da die Vorlegungsfrage sich nur auf die Anwendbarkeit von §36 Abs. 1 S t V O bezog ( B G H S t . 32, 255).

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(2) In Literatur und Rechtsprechung ist allenthalben anerkannt, daß sich die Ermächtigungsgrundlage des § 3 6 Abs. 5 S t V O allein auf das Anhalten des Fahrzeuges als solches ( = rein passives Dulden) bezieht und lediglich solche tatsächlichen Unterstützungshandlungen (ζ. B. Herunterkurbeln des Seitenfensters, Offnen der Wagentür/des Kofferraumes, ggf. Aussteigen, Betätigung der Signal-, Brems- oder Beleuchtungseinrichtungen u. ä.) mit einschließt, wie sie erforderlich sind, damit die Polizei ihre Kontrollaufgabe überhaupt wahrnehmen kann 34 ; auch vor dem Hintergrund des strafrechtlichen Selbstbelastungsverbotes sind solche „Aktivitäten" einem Betroffenen durchaus zumutbar 35 . Die konkret vorzunehmenden Kontrollhandlungen selbst folgen nach alledem nicht aus § 36 Abs. 5 S t V O , sondern aus jeweiligen Spezialvorschriften. So ergibt sich die Befugnis zur Kontrolle des Führerscheins beispielsweise aus § 4 Abs. 2 Satz 2 S t V Z O und diejenige zur Prüfung des Fahrzeugscheines aus § 24 Satz 2 StVZO. Deutlich wird die Parallele auch im Fall der stets im Fahrzeug mitzuführenden Gegenstände (Feuerlöscher, Erste-Hilfe-Material, Warndreieck und Warnleuchten, windsichere Handlampen); auch hier gibt es mit § 3 1 b S t V Z O eine eigene Ermächtigungsnorm, derzufolge die betreffenden Gegenstände den Kontrollorganen zur Prüfung ihres vorschriftsmäßigen Zustandes auszuhändigen sind 36 . Darüber hinaus finden sich in der StVZO zahlreiche weitere Beispiele dieser Art: Zu verweisen ist u. a. auf §§ 4 a Abs. 1 Satz 3 (Mofa-Prüfbescheinigung), 15 d Abs. 2 (Fahrgastführerschein), 18 Abs. 5 Satz 1 und Abs. 6 Satz 1 mit 19 Abs. 2 Satz 2 (Betriebserlaubnisse für besondere Kraftfahrzeuge/Anhänger), 22 a Abs. 4 Satz 2 (Bauartgenehmigungen), 24 Satz 2 (besondere Fahrzeugscheine), 28 Abs. 1 Satz 3 (besondere Ausweise bei „roten Kennzeichen"), 29 e Abs. 2 Satz 3 (Fahrzeuge mit Versicherungskennzeichen), 31a Satz 3 (Fahrtenbuch), 57a Abs.2 Satz 4 (Fahrtschreiber) und 70 Abs. 3 a Satz 1 und Satz 2 StVZO (Bescheinigungen über erteilte Ausnahmegenehmigungen).

Alle diese spezialgesetzlichen Kontrollbefugnisse wären überflüssig, wenn sie bereits durch § 3 6 Abs. 5 StVO abgedeckt würden. Im übrigen wären diese Mitwirkungspflichten doppelt bußgeldbewehrt, nach §§ 49 Abs. 3 Nr. 1, 36 Abs. 1 und 5 StVO einerseits und §§ 69 a Abs. 1 Nr. 5,

34 Vgl. Jagusch/Hentschel Rdn.24, Riith/Berr/Berz Rdn.21 und Mühlhaus/Janiszewski Rdn.4 und 12 - je zu §36 StVO - sowie Dvorak, J R 1982, 449 f und Legat, BA 1988, 376 f: alle mit Rechtsprechungsbelegen. 35 Die Parallele zu §81 a StPO liegt auf der Hand, wo bekanntlich nicht nur der körperliche Eingriff als solcher erlaubt, sondern auch diejenigen - ggf. aktiven - Unterstützungshandlungen mitabgedeckt sind, die ein Arzt bei entsprechender freiwilliger Untersuchung von seinem Patienten erwartet: siehe o. Fn.21. 36 Zur Rechtslage vor Einführung des neuen §31 b StVZO siehe insoweit OLG Hamm DAR 1980, 1980.

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Abs. 2 Nr. 9 sowie Abs. 5 Nr. 4 a, 4 b, 6 a und 7 StVZO, 24 StVG andererseits; auch dies gäbe keinen rechten Sinn. Somit ist kaum anzunehmen, daß der Gesetzgeber gerade eine in Kraftfahrerkreisen wie für Politiker gleichermaßen „heiße" Entscheidung wie diejenige eines verdachtsfreien Atemalkoholtests als (angeblich) schon durch § 36 Abs. 5 StVO mitabgedeckt gesetzlich unerwähnt gelassen hat. (3) Diese Interpretation des §36 Abs. 5 StVO folgt auch aus seiner Entstehungsgeschichte 37 . Während ausweislich des früheren § 2 a der StVO vom 14. März 1956 (BGBl. 1/199 ff) den Weisungen und Zeichen der Polizeibeamten zum Anhalten seitens der betreffenden Verkehrsteilnehmer „zu folgen (gewesen) ist", war in §36 Abs. 5 der StVO vom 16. November 1970 lediglich noch davon die Rede, daß die Polizeibeamten Verkehrsteilnehmer „auch" zu Verkehrskontrollen und zu Verkehrserhebungen anhalten „dürfen". Auch wenn die neue Gesetzesformulierung nicht mehr auf das „Müssen" des Adressaten, sondern auf das „Dürfen" des Anordnenden abstellt, war damit in der Sache keine Änderung beabsichtigt; ausweislich der amtlichen Begründung sollte und wollte § 36 Abs. 5 n. F. „in knapper Form" den Inhalt des alten § 2 a StVO (1956) wiedergeben 38 . So bestand in der Folgezeit denn auch kaum Streit darüber, daß auch die neue Vorschrift den Verkehrsteilnehmer prinzipiell nur zum Anhalten und zum Befolgen der dazu ergangenen polizeilichen Anweisungen, nicht aber zu darüber hinausgehenden besonderen Mitwirkungsaktivitäten verpflichtet. Daher war es eigentlich unnötig, diese kaum mehr ernsthaft bestrittene Selbstverständlichkeit im Rahmen der 9. Änderungsverordnung zur StVO vom 22. März 1988 (BGBl. 1/465 ff) durch jenen erwähnten Satz 2 des §36 Abs. 5 gesetzlich zu verdeutlichen. Die amtliche Begründung bestand insofern denn nur aus einem Satz 39 : „Die neugefaßte Vorschrift legt dem Verkehrsteilnehmer die Verpflichtung auf, die Weisungen der Polizeibeamten zu befolgen und die Verkehrskontrolle zu ermöglichen."

Es wäre abwegig anzunehmen, daß der Gesetzgebere mit dieser knappen Begründung ein obergerichtlich geklärtes und im Schrifttum weithin gebilligtes Ergebnis in geradezu spektakulärer Weise wiederum hätte in Frage stellen wollen. b) Diese Interpretation des §36 Abs. 5 StVO entspricht der Auslegung, wie sie in Literatur und Rechtsprechung heute allenthalben vertreten 37 38 59

Dazu B G H S t . 32, 248 (254 f). Zitiert nach Verkehrsblatt 1970, 817. Verkehrsblatt 1988, 225.

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wird 40 . Also ist mit der Pflicht des betroffenen Verkehrsteilnehmers, auf Weisung des Polizeibeamten zwecks allgemeiner Verkehrskontrolle anzuhalten und sich der Kontrolle durch die Polizei zu stellen, selbstverständlich noch keine Pflicht zu einem - wenn auch nur verdachtsfreien Atemalkoholtest verbunden. Im Einzelfall kann freilich problematisch sein, was außer z . B . dem Herunterkurbeln des Seitenfensters o . ä . der zum Anhalten aufgeforderte Verkehrsteilnehmer alles tun muß, um die Verkehrskontrolle durch die Polizei zu ermöglichen. So ist ihm sicherlich zuzumuten, notfalls eine angemessene Zeit zu warten, bis unter mehreren angehaltenen/wartenden Fahrzeugen auch er an die Reihe kommt 4 1 ; doch wird diese Wartepflicht z . B . nicht zu dem Zweck ausgedehnt werden dürfen, jene 15-Minuten-Grenze zu erreichen, vor deren Ablauf ein Atemalkoholtest keine sicheren Ergebnisse zeitigt 42 . § 36 Abs. 5 S t V O deckt wohl auch die Aufforderung des Polizeibeamten, zum Zweck der Verkehrskontrolle auf die andere Straßenseite oder einige wenige Meter weiter zu fahren, damit die Uberprüfung der Papiere oder des Fahrzeugs ohne Verkehrsbeeinträchtigung durchgeführt werden kann 43 . Problematisch ist in diesem Zusammenhang schließlich, ob die Polizei den anläßlich verdachtsfreier Verkehrskontrolle angehaltenen Kraftfahrer - wie es auch bei uns üblich ist - auch danach fragen darf, o b und gegebenenfalls wieviel Alkohol er getrunken habe. Die Frage ist zu verneinen. Selbstverständlich „darf" der Polizeibeamte so fragen; ebenso selbstverständlich ist es jedoch nach allem, was soeben ausgeführt wurde, daß der Verkehrsteilnehmer die Antwort darauf schuldig bleiben kann 44 und ihm dieses Schweigen nicht als Indiz einer alkoholbedingten Fahruntüchtigkeit angelastet werden darf.

40 Siehe insoweit vor allem O L G Hamm VRS 57 (1979), 371 (372), OLG Koblenz VRS 61 (1981), 68 (69) und 392 (393), OLG Köln VRS 64 (1983), 59 (60) und wohl auch BayObLG VRS 72 (1987), 132 (133) = DAR 1987, 91. Für das Schrifttum vgl. statt vieler Jagusch/Hentschel Rdn. 24, Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 12, Rüth/Berr/Berz Rdn. 21 f - je zu §36 StVO - sowie Dvorak, J R 1982,449 f, Bouska, DAR 1984, 34, Kullik, BA 1988, 368 und Legat, BA 1988, 377. 41 So zu § 2 a StVO a.F. schon OLG Celle VRS 17 (1959), 150ff; so dann auch O L G Köln VRS 67 (1984), 293. Zustimmend Mühlhaus/Janiszewski Rdn. 13 und Rüth/Berr/ Berz Rdn. 21 - je zu §36 StVO. 42 Dies folgt auch aus einem Umkehrschluß aus §81 a StPO: während bei der Blutentnahme auch körperliches Festhalten/zwangsweises Verbringen zum Blutentnahmearzt als notwendiges Mittel zum erlaubten körperlichen Zwangseingriff - gestattet ist, ist beim freiwilligen Atemalkoholtest natürlich auch kein unterstützendes Festhalten etc. gestattet. 43 Zu streng O L G Koblenz VRS 61 (1981), 68 und O L G Köln VRS 64 (1983), 59; zustimmend insoweit jedoch Jagusch/Hentschel Rdn. 24 und Rüth/Berr/Berz Rdn. 22 - je zu §36 StVO. 44 So bezüglich von Angaben im Rahmen von „Verkehrserhebungen" auch Jagusch/ Hentschel, Rdn. 24 zu §36 StVO.

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Auf diese Weise löst sich auch der (angebliche) Widerspruch zu jener erwähnten Verwaltungsvorschrift, die ausdrücklich auch die „Prüfung der Fahrtüchtigkeit der Führer" des jeweiligen Fahrzeugs der Verkehrskontrolle nach § 36 Abs. 5 StVO zuordnet. Selbstverständlich muß die Polizei den zur Verkehrskontrolle angehaltenen Kraftfahrer auch auf seine alkoholbedingte Fahrtüchtigkeit überprüfen; sie kann diese Aufgabe freilich nur in der Weise erfüllen, daß sie den Kraftfahrer bei der Kontrolle der Fahrzeugpapiere und bei der Uberprüfung des ordnungsgemäßen Zustandes des Fahrzeuges und seiner Beladung sorgfältig beobachtet. Ergibt sich so ein Verdacht, ist der Weg für repressive Maßnahmen nach §81 a StPO (Blutentnahme bzw. freiwilliger AlcoVortest) frei. Die beobachtende Tätigkeit des Polizeibeamten stellt für sich allein keinen staatlichen Eingriff dar, der einer besonderen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfte. J. Auch die Generalklausel der Polizeigesetze scheidet als Eingriffsgrundlage für verdachtsfreie Atemalkoholtests aus, setzt doch auch sie die im Einzelfall belegte Wahrscheinlichkeit einer nicht unerheblichen Rechtsgüterverletzung voraus. Liegen aber tatsächliche Anhaltspunkte für eine solche hinreichende Schadenswahrscheinlichkeit vor, ist begrifflich eine Verdachtslage nach §81 a StPO gegeben, die präventive Maßnahmen der Gefahrenabwehr gerade ausschließt. Somit führt auch ein Rückgriff auf den polizeilichen Begriff der „Gefahrerforschung" nicht weiter. Zwar ist dafür nicht die sichere Annahme einer bestehenden Gefahrenlage erforderlich; doch muß auch hier ein zumindest konkreter Gefahrenverdacht vorhanden sein 45 . Man wird nicht von jedem Verkehrsteilnehmer sagen dürfen, er sei ein potentieller Trunkenheitstäter.

V. Daraus folgen weitere strafverfahrensrechtliche Schwierigkeiten: 1. Die Nichtbefolgung eines (ausschließlich) zur Verkehrskontrolle erfolgten Haltegebotes ist, wie bereits ausgeführt, bußgeldbewehrt (§§49 Abs. 3 Nr. 1, 36 Abs. 5 StVO, 24 StVG). Ausweislich von BGHSt. 32, 248 ff (insoweit heute wohl unbestritten) sind jedoch nicht bußgeldbewehrt jene Anhalteweisungen der Polizei, die allein die Verfolgung einer bereits beendeten - wichtig: und nicht fortwirkenden - Verkehrsordnungswidrigkeit ermöglichen sollen. Bei dieser Rechtslage drängt sich die Frage auf, ob aus den gleichen Gründen strafrechtlichen Selbstbelastungsverbotes („nemo tenetur se ipsum accusare") die Bußgeldbewehrung nicht auch dann zu entfallen hat, wenn ein von der Polizei völlig verdachtsfrei angehaltener Kraftfahrer weiterfährt, um sich bei der nachfolgenden (rein beobachtenden) Kontrolle nicht der Gefahr auszu-

45 Dazu Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht (10. Aufl. 1991), Rdn. 130 und Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr (9. Aufl. 1986), S.226f.

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setzen, wegen möglicher Trunkenheit im Straßenverkehr belangt zu werden: a) Der vielzitierte Grundsatz, daß niemand zu strafrechtlicher Selbstbelastung gezwungen werden dürfe ( „ N e m o tenetur se ipsum accusare") wird vom Gesetz in den §§ 136 Abs. 1 Satz 2 und 243 Abs. 4 Satz 1 StPO (Schweigebefugnis des Beschuldigten) gewissermaßen als selbstverständlich vorausgesetzt 46 . Darüber hinaus gewährt dieser mit Verfassungsrang ausgestattete und zunehmend nicht nur aus dem Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 G G ) , sondern (auch) aus dem Kernbereich der Art. 1 und 2 Abs. 1 G G hergeleitete Grundsatz dem Beschuldigten eines Straf- oder Bußgeldverfahrens die globale Garantie negativer Mitwirkungsfreiheit 47 . BVerfG und B G H haben mehrfach klargestellt, daß die negative Mitwirkungsfreiheit — wichtig: jedenfalls im Bereich des Strafprozesses - nicht allein auf förmliche „Vernehmungen" beschränkt ist, ein Beschuldigter in einem gegen ihn gerichteten Ermittlungsverfahren vielmehr überhaupt nicht verpflichtet werden kann, in irgendeiner Form zur eigenen Uberführung tätig zu werden und an einer Untersuchungshandlung eines Strafverfolgungsorgans aktiv mitzuwirken 48 . Dem Recht zur Passivität entspricht insoweit konstitutiv das negative Abwehrrecht des Bürgers, sich vom Staat nicht zur Selbstbelastung durch aktives Tun zwingen zu lassen. Umgekehrt bedeutet dies, daß dem strafverfolgenden Staat vor dem Hintergrund des „nemo tenetur"-Satzes die Statuierung passiver Duldungspflichten nicht verwehrt sein kann und auch die gesetzgeberische Befugnis nicht ausgeschlossen ist, aktive Selbstbegünstigungshandlungen zu pönalisieren, um dadurch Passivität des Beschuldigten zu

46 Siehe insofern auch Art. 145 Abs. 3 N r . g des Internationalen Paktes vom 19. Dezember 1966 über bürgerliche und politische Rechte, der von der Bundesrepublik Deutschland mit Gesetz vom 15. November 1973 ( B G B l . U/1533 ff) ratifiziert worden ist. Die Vorschrift lautet: „Jeder wegen einer strafbaren Handlung Angeklagte . . . darf nicht gezwungen werden, gegen sich selbst als Zeuge auszusagen oder sich schuldig zu bekennen." 47 Siehe insoweit vor allem die Grundsatzentscheidung B V e r f G E 56, 37 ff („Gemeinschuldner"-Beschluß), w o das Bundesverfassungsgericht den „nemo tenetur"-Satz als „selbstverständlichen Ausdruck einer rechtsstaatlichen Grundhaltung" bezeichnet, „die auf dem Leitgedanken der Achtung vor der Menschenwürde beruhe" (S.43); in dieser Richtung schon B V e r f G E 38, 105 (113) und wohl auch B G H S t . 14, 358 (364). Der Bundesgerichtshof scheint diesen Satz eher im grundgesetzlichen Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 G G ) ansiedeln zu wollen; vgl. B G H S t . 31, 304 (308) und B G H S t . 34, 39 (46). Weiterführendes Schrifttum: Rogall, Der Beschuldigte als Beweismittel gegen sich selbst (1977), S. 124 ff, Reiß, Besteuerungsverfahren und Strafverfahren (1987), S. 201 ff, Nothhelfer, Die Freiheit von Selbstbezichtigungszwang (1989), S. 9 ff und Hartmut Schneider, G r u n d und Grenzen des strafrechtlichen Selbstbegünstigungsprinzips (1991), S. 27 ff. 48

B G H S t . 34, 39 (46); ähnlich B G H S t . 32, 248 (253) und B G H N J W 1990, 1426.

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erzwingen 49 . Auch hier heißt Freiheit einmal mehr, daß keiner tun muß, was er nicht will, nicht aber, daß jeder tun kann, was er will (].].

Rousseau).

Dies gilt zunächst einmal auch dann, wenn der strafbewehrte Zwang zur Untätigkeit die Gefahr einer Strafverfolgung erhöht; denn insoweit wird nur ein allgemeines Lebensrisiko realisiert, von dem der „nemo tenetur"-Satz keineswegs entbinden will. Freilich wird dieser Satz vom BVerfG dahin relativiert, daß in diesem Fall das Erzwingen von Passivität dem Schutz von Drittinteressen zu dienen habe und sich keinesfalls allein in der bloßen Förderung der staatlichen Strafverfolgungstätigkeit erschöpfen dürfe 50 . O b dieses für den Strafprozeß entwickelte „nemo tenetur"-Prinzip freilich auch für andere staatliche Beweisverfahren Wirkung entfaltet, darüber sind sich B G H und BVerfG anscheinend nicht ganz einig. Während der Bundesgerichtshof einem Beschuldigten offenbar nur gestatten will, an der Untersuchungshandlung eines „Strafverfolgungsorgans" nicht aktiv mitwirken zu müssen 51 , formuliert das Bundesverfassungsgericht in seinem „Gemeinschuldner"-Beschluß ( E 5 6 , 3 7 ff) von seinem verfassungsrechtlichen Ausgangspunkt aus zu Recht sehr viel weiter; denn unzumutbar und mit der Würde des Menschen unvereinbar wäre ein Zwang, durch eigene Aussagen - zu ergänzen insoweit: auch durch Aussagen vor anderen als nur speziell vor Strafverfolgungsorganen! - die Voraussetzungen für eine strafgerichtliche Verurteilung oder die Verhängung entsprechender Sanktionen liefern zu müssen 52 . Derartige Aussage- oder Auskunftspflichten außerhalb der StPO können zu folgenschweren Interessenkonflikten führen. So muß etwa der konkursrechtliche Gemeinschuldner, der nach § 100 K O dem Konkursverwalter und dem Gläubigerausschuß zu umfassender Auskunft verpflichtet ist und dessen Angaben gegebenenfalls durch Vorführung oder Beugehaft erzwungen werden können, natürlich befürchten, an diesen seinen eigenen Angaben in einem möglichen Strafverfahren - zu ergänzen: in dem er als Beschuldigter/Zeuge zur Aussage an sich nicht gezwungen werden könnte (§§ 136 Abs. 1 Satz 2, 55 StPO) - festgehalten zu werden. Diesen Konflikt hat das BVerfG bekanntlich dahin gelöst, daß der Gemeinschuldner im Interesse der

49 So letztlich schon BVerfGE 16, 191 (193 f) zur früheren Fassung von §142 StGB. Dazu Rogall, Der Beschuldigte (Fn.49), S. 158, Eser, ZStW 79 (1967), 573 mit Fn.35 und H. Schneider, Selbstbegünstigungsprinzip (Fn. 49), S. 28 ff. 50 Dazu schon BVerfGE 16, 191 (193 f)- Ausführlich dazu Rogall aaO S. 158 ff, Reiß aaO S. 171 ff und H. Schneider aaO S. 30 f; zusammenfassend SK StPO-Rogall, Rdn. 132 vor § 133. 51 B G H S t . 34, 39 (46). 52 BVerfGE 56, 37 (49).

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Konkursgläubiger zwar unbeschränkt Auskunft zu geben hat, diese Auskünfte in einem gegen den Schuldner geführten Strafverfahren freilich nicht gegen ihn verwertet werden dürfen53. Der Bundesgerichtshof tut sich ersichtlich schwer, die verfassungsgerichtliche „Beweisverbots"Lösung in seiner eigenen Rechtsprechung entsprechend umzusetzen 54 . b) Bei Zugrundelegen dieser Erkenntnisse erweist sich die Nichtbefolgung der Anhaltepflicht auch im Ausgangsfall sehr wohl als bußgeldbewehrt 55 . Im Rahmen verdachtsfreier Verkehrskontrolle lediglich anhalten und warten zu müssen bedeutet für jemanden, der erst durch das spätere Testergebnis - möglicherweise - zum Verdächtigen wird und in den Kategorien des Strafverfahrensrechts mangels entsprechenden Inkulpationsaktes überhaupt noch nicht „Beschuldigter" ist56, nicht, zu einer besonderen Aktivität gezwungen zu werden. Es verwirklicht sich insofern nur das allgemeine Lebensrisiko, als Regelverletzer ertappt zu werden, von dem auch der „nemo tenetur"-Satz niemanden befreien kann und will. Dieses Prinzip stellt einem Rechtsbrecher im übrigen selbstverständlich keinen Freibrief aus, einen Normverstoß sanktionsfrei fortsetzen zu dürfen. Darauf liefe ein Verzicht auf die Bußgeldbewehrung im vorliegenden Fall hinaus; denn im Augenblick der auf §36 Abs. 5 StVO gegründeten Anhalteanweisung ist die - mögliche - Trunkenheitsfahrt ja noch nicht beendet. Insofern liegt der Fall maßgeblich anders als bei der ebenfalls bußgeldbewehrten Namensverweigerung ( § 1 1 1 OWiG), bei der im übrigen selbst die verfahrensrechtliche Stellung als formell „Beschuldigter" nicht in jedem Fall eine Rechtfertigung bedeutet 57 . Schließlich erschöpft sich die bußgeldbewehrte Anhaltepflicht im Ausgangsfall auch keineswegs nur in der mittelbaren Förderung staatlicher Strafverfolgung, dient sie doch einem wichtigen Drittinteresse, nämlich der Förderung der allgemeinen Verkehrssicherheit durch flächendeckende/stichprobenartige Verkehrskontrollen.

2. Selbstverständlich bleibt einem Verkehrsteilnehmer unbenommen, die Frage des Polizeibeamten, ob und wieviel Alkohol er getrunken habe, (auch) im Rahmen einer verdachtsfreien Verkehrskontrolle ebenso freiwillig zu beantworten wie sich freiwillig einem Atemalkoholtest zu unterziehen. Wußte der Verkehrsteilnehmer, daß er hierzu nicht ver53 BVerfGE 56, 37 (51): „Dieses Schweigerecht wäre illusorisch, wenn eine außerhalb des Strafverfahrens erzwungene Selbstbezichtigung gegen seinen Willen strafrechtlich gegen ihn verwertet werden dürfte." 54 Siehe insoweit nur BGH N J W 1991, 1426 (dazu Geppert, JK 90, StPO § 136 Abs. 1/ 4) zur strafrechtlichen Verwertbarkeit von im Asylverfahren gemachten Angaben. 55 Ebenso Dvorak, JR 1982, 450. 56 Näher dazu Geppert („Notwendigkeit und rechtliche Grenzen der informatorischen Befragung' im Strafverfahren"), Oehler-Festschrift (1985), S. 323 ff (besonders S. 326 ff). 57 Weiterführend dazu K K OWiG-Rogall, R d n . 5 7 f f zu § 1 1 1 .

Zur Einführung verdachtsfreier Atemalkoholkontrollen aus rechtlicher Sicht

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pflichtet war, steht der beweismäßigen Verwertung einer solchen Atemalkoholprobe - deren forensische Verwertbarkeit wiederum unterstellt nichts im Wege. Ob freilich Gleiches bei entsprechender Unkenntnis des Betroffenen gilt, hängt davon ab, ob die Polizei eine entsprechende Belehrungspflicht trifft. Insofern handelt es sich letztlich um die gleiche Frage, wie sie auch für die Situation des freiwilligen „Alcotests" zu beantworten ist. Wie bereits ausgeführt, hält die Praxis mangels ausdrücklichen Gesetzesbefehls eine Belehrungspflicht dort nicht für erforderlich. Es ist nicht anzunehmen, daß sich an dieser Einschätzung ohne Eingreifen des Gesetzgebers vorliegend etwas ändern wird. VI.

Sollte sich der Gesetzgeber aus Klarstellungsgründen für die Schaffung einer präventivpolizeilichen Ermächtigung zur Durchführung verdachtsfreier Atemtests entschließen, würde sich in Kraftfahrerkreisen auch ohne entsprechende gesetzliche Belehrungspflicht sehr schnell herumsprechen, daß solche Atemtests freiwillig sind oder - selbst wenn verbindlich - jedenfalls tatsächlich nicht erzwungen werden könnten 58 . Bliebe aber eine entsprechende Mitwirkungspflicht sanktionslos, wäre die Gefahr nicht von der Hand zu weisen, daß die befohlene Mitwirkungspflicht nicht befolgt wird. So wird auch unser Gesetzgeber - wie es bereits in jenen Ländern der Fall gewesen ist, in denen schon heute mit Atemalkoholtests gearbeitet wird - nicht um die Lösung der Frage herumkommen, mit welchen rechtlichen Mitteln die Durchführung verdachtsfreier Atemalkoholtests erzwungen werden kann (Problematik der Erzwingbarkeit von Atemalkoholtests): 1. Es wäre jedenfalls nicht statthaft, aus der Verweigerung einer Atemalkoholprobe eo ipso den Verdacht rechtserheblicher Trunkenheit herleiten zu wollen, um so den repressiven Weg über § 81 a StPO einschlagen zu können. Dies wäre Umgehung zwingenden Rechts. Aus gleichem Grund ist es bedenklich zu sagen, eine solche Weigerung sei „unklug", weil jedenfalls geeignet, einen schon bestehenden Verdacht zu „erhärten"59. A u f § 15 b S t V Z O dürfen sich B e f ü r w o r t e r dieser „eleganten" Lösung im übrigen nicht berufen. G e w i ß kann nach st. R s p r . des Bundesverwaltungsgerichts auf die Ungeeignet-

58 Ungeeignet wäre insofern auch das Uberstülpen einer A r t v o n „Tauchermaske" ganz abgesehen davon, daß über die U n z u m u t b a r k e i t einer solchen T o r t u r unter dem A s p e k t der Menschenwürde (Art. 1 G G ) w o h l niemand ernsthaft nachdenken w i r d (zutreffend Schneble, B A 1 9 8 0 , 349). 59 So aber Hentschel/Born, Trunkenheit, Rdn. 34; ähnlich Janiszewski, Verkehrsstrafrecht, R d n . 3 6 7 .

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heit einer Person zum Führen von Kraftfahrzeugen geschlossen werden, wenn sie sich ohne triftigen Grund weigert, ein nach Maßgabe des § 15 b Abs. 2 StVZO gefordertes amts- oder fachärztliches (Nr. 1) oder das Gutachten einer medizinisch-psychologischen Untersuchungsstelle (Nr. 2) beizubringen oder daran mitzuwirken 60 . Diese Judikatur paßt freilich nur dort, wo gerade die Weigerung, an einer aus Gründen der Verkehrssicherheit behördlich angeordneten medizinisch-psychologischen Untersuchung mitzuwirken, „die von einem Kraftfahrzeugführer zu fordernde Einsicht dafür vermissen (läßt), daß die Sicherheit des Straßenverkehrs seinen eigenen Belangen vorgeht" 6 1 . Insofern ist die Weigerung, sich einer Begutachtung zu stellen, vergleichbar dem Erfordernis einer theoretischen oder praktischen Prüfung; wer sich einer solchen Prüfung nicht stellt, ist eben „durchgefallen". Man wird jedoch nicht mit gleicher Berechtigung sagen dürfen, daß eo ipso als „betrunken" oder jedenfalls trunkenheits„verdächtig" zu gelten hat, wer sich der Prüfung eines Atemalkoholtests nicht stellt. Im übrigen setzt eine solche Schlußfolgerung voraus, daß die entsprechende Anordnung zu Recht ergangen, d. h. hinreichender Anlaß zur Anordnung der jeweiligen Untersuchung gegeben war 62 . Auf die Problematik verdachtsloser Atemalkoholtests übertragen, läuft demzufolge auch dieser Ausweg auf die Frage hinaus, ob eine ausschließlich präventivpolizeilich begründete Pflicht, an einem Atemalkoholtest mitzuwirken, rechtens wäre (dazu unter 5).

2. Zum rechtlichen Scheitern verurteilt wäre danach auch die Lösung, auf die Verweigerung eines gesetzlich gebotenen Atemalkoholtests nach französischem Vorbild mit sofortiger Sicherstellung/Beschlagnahme des Führerscheins zwecks nachfolgenden Fahrverbotes oder anschließender Entziehung der Fahrerlaubnis reagieren zu wollen. Eine solche Maßnahme wäre eindeutig repressiver Art und in ihren rechtlichen Voraussetzungen an den Maßnahmen auszurichten, denen sie als Eilmaßnahme zu dienen bestimmt. Ein vorläufiges - strafrechtliches - Fahrverbot (§ 44 StGB) wäre nun aber eindeutig als verfassungswidrige Verdachtsstrafe zu bewerten, und auch die Anordnung einer als präventiven Maßregel der Besserung und Sicherung ausgestalteten - vorläufigen (§ 111 a StPO) oder endgültigen (§§ 69 und 69 a StGB) - Entziehung der Fahrerlaubnis setzt den hinreichend sicheren Nachweis zukünftiger Gefährlichkeit (i. S. von Ungeeignetheit zum Führen von Kraftfahrzeugen) voraus. Eine solche Gefahr ist verdachtsfrei nicht zu belegen. 3. Somit geht es auch nicht an, einem Verkehrsteilnehmer, der ohne berechtigten Grund die Atem- oder Blutprobe verweigert, automatisch alkoholbedingte Fahruntüchtigkeit oder den gesetzlich maßgeblichen BÄK- oder AAK-Grenzwert zu unterstellen, um ihn auf diese Weise dem entsprechenden Straf- oder Bußgeldtatbestand unterwerfen zu können. Diese vereinzelt im Ausland praktizierte Lösung ist keine

ω So grundlegend BVerwGE 11, 274 ff = VRS 20 (1961), 71 ff; vgl. auch BVerwG D A R 1988, 390 und VRS 52 (1977), 317 (319) sowie O L G Koblenz DAR 1990, 154 (155) und O V G Berlin VRS 45 (1973), 231 (232). Weitere Nachweise bei Jaguscb/Hentschel, Rdn. 13 zu § 15 b StVZO. 61 So wörtlich BVerwG VRS 20 (1961), 71 (72). 62 So zu § 15 b Abs. 2 StVZO ausdrücklich BVerwG N J W 1982, 2885; vgl. zuletzt auch O L G Koblenz D A R 1990, 154 f.

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Lösung; auch sie verstößt eindeutig gegen Prinzipien unseres Schuldstrafrechts und gegen das Gebot der Unschuldsvermutung63. 4. Da im übrigen auch Beugehaft oder Zwangsgeld den Nachweis rechtserheblicher Betrunkenheit oder die Feststellung des Trunkenheitsgrades durch Zeitablauf eher verhindern würden, scheiden auch sie als ersichtlich ungeeignete Mittel allein schon aus diesem Grund aus.

5. Somit bliebe - wie vereinzelt empfohlen64 und in Österreich schon gesetzlich praktiziert - schließlich als letzter Ausweg, die Verweigerung des Atemalkoholtests als solche zur eigenen Ordnungswidrigkeit zu machen. Auch wenn damit die eigentliche Crux der Atemalkoholkontrolle - ihre de facto nicht mögliche Erzwingbarkeit - nicht völlig gelöst wäre, wäre ein solcher Bußgeldtatbestand sicherlich in der Lage, auf einen Verkehrsteilnehmer verstärkten Druck auszuüben. Fraglich ist freilich, ob ein solcher - kriminalpolitisch durchaus sinnvoller - eigener Bußgeldtatbestand auch verfassungsrechtlicher Nachprüfung standhält. Selbst wenn die gesetzliche Mitwirkungspflicht ausschließlich präventivpolizeilich begründet würde, bliebe zu konstatieren, daß eine bis dahin unverdächtige Person zu einer Aktivität gezwungen würde, die sie in die Gefahr einer strafrechtlichen Selbstbelastung bringen kann. Damit würde auch eine solche Gesetzeslösung wiederum in den Grenzbereich des verfassungsrechtlichen „Nemo-tenetur-Grundsatzes" führen, der aus guten Gründen auch im Ordnungswidrigkeitenrecht gilt65 und dessen Schutzbereich vom Bundesverfassungsgericht ganz bewußt über den engen Bereich des Straf- und Ordnungswidrigkeitenverfahrens auf andere staatliche Beweisverfahren erstreckt wird66: a) Damit ist die noch lange nicht ausdiskutierte Grundsatzfrage angesprochen, bis zu welchen verfassungsrechtlichen Grenzen einem Bürger außerhalb eines Strafverfahrens Auskunfts- oder Dokumentationspflichten einschließlich der Pflicht zur Vorlage/Aushändigung der entsprechenden Unterlagen auferlegt werden dürfen, durch deren Erfüllung er in die Gefahr straf- oder ordnungswidrigkeitenrechtlicher Verfolgung geraten kann67. Zum Stichwort „Präsentation von Beweismaterial" immerhin so viel: Ebenso Janiszewski, DAR 1990, 422. So etwa von Kullik, BA 1988, 371. 65 Vom BVerfG mehrfach klargestellt; vgl. nur BVerfGE 55,144 (150 f) und 56, 37 (49). Weiter dazu SK StPO-Rogall, Rdn. 133 und 148 vor § 133 und Dingeldey, NStZ 1984, 529 f. 66 Dazu auch Nothhelfer, Freiheit von Selbstbezichtigungszwang (Fn. 47), S. 83. " Weiterführend SK StPO-Rogall, Rdn. 143 ff vor § 133, Stürner („Strafrechtliche Selbstbelastung und verfahrensförmige Wahrheitsermittlung"), NJW 1981, 1757 ff, Reiß („Gesetzliche Auskunftsverweigerungsrechte bei Gefahr der Strafverfolgung in öffentlichrechtlichen Verfahren"), NJW 1982, 2540 f, Dingeldey („Der Schutz der strafprozessualen Aussagefreiheit durch Verwertungsverbote bei außerstrafrechtlichen Aussage- und Mitwir63 64

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Die Rechtsprechung unterscheidet zwischen gesetzlich befohlenen Auskunftspflichten einerseits und zu präventiver Gefahrenabwehr/Kontrolle angeordneten Dokumentations- und den entsprechenden Herausgabepflichten andererseits. Angesichts sonst drohender Selbstbelastung sind die öffentlich-rechtlichen Auskunftsansprüche in aller Regel mit einem ausdrücklichen Auskunftsverweigerungsrecht verbunden 68 . W o ein solches gesetzliches Verweigerungsrecht fehlt, sind die Kriterien der „Gemeinschuldner"-Entscheidung (BVerfGE 56, 3 7 ff) heranzuziehen. Danach ist die Selbstbezichtigungsfreiheit zwar ein zwingendes Verfassungsgebot, steht als solches aber seinerseits unter dem Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung. Dies bedeutet, daß eine Einschränkung der Selbstbelastungsfreiheit prinzipiell nur dann erlaubt ist, wenn ansonsten schutzwürdige Rechte Dritter beeinträchtigt würden und weniger einschneidende andere Mittel nicht ersichtlich sind69; in diesem Fall ist der Betroffene trotz Gefahr späterer strafrechtlicher Eigenbelastung zur Aussage verpflichtet. Zum Ausgleich dafür statuiert das BVerfG hinsichtlich der erzwingbaren Auskünfte im Hinblick auf ein mögliches späteres Strafverfahren ein umfassendes Beweisverwertungsverbot. Hinsichtlich der - behördlicher Überwachung dienenden - Mitwirkungspflichten in Form von Dokumentationspflichten aller Art einschließlich der jeweiligen Vorlagepflicht 70 wendet die Judikatur den Grundsatz der Selbstbelastung bisher jedoch nicht an71. Begründet wird dies damit, daß sich das verfassungsrechtliche Selbstbelastungsverbot nur auf Auskünfte i. e. S. und nicht auf Dokumentations- oder Vorlagepflichten anderer Art beziehe. Ein weiteres Verständnis dieses Grundsatzes lasse sich auch nicht aus der Verfassung ableiten, da gerade im präventiven Bereich meist keine besseren und die Handlungsfreiheit des

kungspflichten"), NStZ 1984,529 ff und Nothhelfer, Freiheit von Selbstbezichtigungszwang (Fn. 49), S. 88 ff. 68 Siehe die Beispiele in BGHSt. 32, 248 (253 f). 69 Dazu ausdrücklich BVerfGE 55, 144 (148). 70 Aus dem verkehrsrechtlichen Bereich ist diesbezüglich insbesondere die Auflage eines Fahrtenbuches nach §31 a StVZO (dazu BVerfG NJW 1982, 568 und BVerwG NJW 1981, 1852; vgl. auch Himmelreich, NJW 1975, 1199, Bottke, DAR 1980, 238ff, Lienen, DAR 1980, 41 und früher schon Harthun, NJW 1962, 2289 ff) sowie der Fahrtenschreiber nach § 5 7 a StVZO zu nennen (auch dazu Lienen aaO). Darüber hinaus wird schon seit geraumer Zeit überlegt, ob zu besserer Unfallaufklärung nicht alle Kraftfahrzeuge mit einer Art „Black Box" als Unfallschreiber ausgerüstet sein sollten (dazu Jagusch/Hentschel, Rdn.3 zu §57 a StVZO). 71 Dazu vor allem BVerfGE 55, 144 ff (zur Vorlage von Geschäftsunterlagen eines Binnenschiffers nach §31 a des Binnenschiffahrtsgesetzes), BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1982, 568 und BVerwGE 18, 107ff und NJW 1981, 1852ff (zur Fahrtenbuchauflage nach §31 a StVZO) und BVerwG DÖV 1984, 73 ff (zur Vorlage von Arbeitszeitnachweisen nach § 4 Abs. 3 Nr. 2 des Fahrpersonalgesetzes).

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Pflichtigen weniger einschränkenden Mittel der Überwachung ersichtlich seien. Immerhin wird vorsichtig erwogen, die Grundsätze des „Gemeinschuldner"-Beschlusses (Beweisverbotslösung) im Einzelfall auch auf die Fälle der Dokumentationspflichten zu übertragen72. Daß das Bundesverfassungsgericht es außerhalb der StPO/des O W i G bislang ablehnt, das Selbstbelastungsverbot auch auf die Präsentation von Beweismaterial zu erstrecken, ist zu bedauern73. In Fällen dieser Art sollte man vielmehr wie folgt differenzieren74: (1) Gegen gesetzliche Aufzeichnungs- und Dokumentationspflichten als solche bestehen unter dem Gesichtspunkt des Selbstbelastungsverbotes keine rechtlichen Bedenken. Schließlich hat es der Betroffene - wie etwa beim Fahrtenschreiber (§ 57 a StVZO) oder beim Unfallschreiber - selbst in der Hand, durch normgerechtes Verhalten zu verhindern, daß beweisrelevante Vorgänge aufgezeichnet werden müssen. (2) Gegen die Pflicht zur Vorlage, Herausgabe oder Aushändigung solcher Dokumente ist vor dem Hintergrund des Selbstbelastungsverbotes rechtlich im übrigen auch dann nichts zu erinnern, wenn diese Unterlagen bereits begangene Straftaten/Ordnungswidrigkeiten betreffen. Dabei handelt es sich der Sache nach weniger um die Pflicht, durch eigene Aktivität Beweise gegen sich zu produzieren, als vielmehr um die Duldung der Einsichtnahme in diese Papiere durch das zuständige Kontrollorgan 75 , mit anderen Worten: es handelt sich materiellstrafrechtlich betrachtet - um Unterlassen durch aktives Tun 76 . Insofern drängt sich eine Parallele zu §§81 äff StPO auf, wo einem Betroffenen ja ebenfalls jene Handreichungen zugemutet werden, wie sie zur Ermöglichung des körperlichen Zwangseingriffes erforderlich sind. Im übrigen folgt dieses Ergebnis nicht zuletzt auch aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip und dem Erfordernis des geringstmöglichen Eingriffs, ist die Aushändigung entsprechender Unterlagen doch taugliches und meist unverzichtbares Mittel zur Verwirklichung des Gesetzeszweckes (präventive Überwachung). Andernfalls hätte es der Pflichtige in der Hand, die staatliche Überwachung an maßgeblichem Punkt zu lähmen.

72 73

74

So etwa BVerfG N J W 1982, 568 zur Fahrtenbuchauflage nach § 3 1 a StVZO. Nachdrückliches Bedauern insofern auch bei SK StPO-Rogall, Rdn. 146 vor § 133.

Ähnlich SK StPO-Rogall, Rdn. 146 vor § 133.

Deutlich diesen Aspekt betonend BVerwG D Ö V 1984, 73 (74). Dazu auch Arzt, Der Einfluß von Beweisschwierigkeiten auf das materielle Recht, in: Strafrechtliche Probleme der Gegenwart (Wien 1981), S. 77 ff (S. 96 ff) und Volk, Zur Abgrenzung von Tun und Unterlassen, in: Tröndle-Festschrift (1989), S. 219 ff (S. 231 ff). 75 76

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(3) Problematisch sind aber jene Fälle, in denen der Pflichtige ohne jeden Bezug zur Dokumentation einer bereits begangenen Straftat/Ordnungswidrigkeit gesetzlich angehalten wird, durch eigene Aktivität neue Beweismittel zu schaffen. Selbst wenn die betreffende Mitwirkungspflicht ausschließlich präventiv begründet wird, greift sie in diesem Fall eindeutig in den legitimen Schutzbereich des „Nemo tenetur"-Prinzips ein77. Nach den vom BVerfG entwickelten Kriterien ist demzufolge zunächst zu klären, ob die zu einer Selbstbelastung führende Aktivität vor dem Hintergrund des Verhältnismäßigkeitsprinzips und des Erfordernisses des geringstmöglichen Eingriffs geboten und - wenn ja - ob ein schutzwürdiges Drittinteresse vorhanden ist, das selbstverständlich auch ein staatliches Allgemeininteresse (ausgenommen nur das Strafverfolgungsinteresse als solches) sein kann. Sind beide Fragen zu bejahen, muß der im Interesse Dritter/der Allgemeinheit handlungspflichtige Einzelne im Hinblick auf ein gegen ihn gerichtetes mögliches Straf-/Bußgeldverfahren durch ein Beweisverbot mit Fernwirkung geschützt werden. b) Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erweist sich nicht nur die Pflicht zu nachträglichen Fahrtenbucheinträgen als bedenklich 78 , sondern eben auch die Pflicht eines Verkehrsteilnehmers, sich im Rahmen einer Verkehrskontrolle einem wenngleich verdachtsfreien Atemalkoholtest unterziehen zu müssen. Daß general- wie spezialpräventiv ähnlich effektive andere Uberwachungsmaßnahmen nicht vorhanden sind und demzufolge flächendeckende oder nur stichprobenartige Verkehrskontrollen zur Auffindung alkoholisierter Kraftfahrer zwecks Hebung der Verkehrssicherheit im dringenden Interesse der Allgemeinheit liegen, wird niemand in Frage stellen wollen. Entscheidet sich der Gesetzgeber für eine solche Pflicht bzw. sichert er diese durch einen entsprechenden Bußgeldtatbestand ab, was beides für sich allein rechtlich noch nicht zu beanstanden wäre, folgt daraus aber zugleich die Notwendigkeit, ein möglicherweise „positives" AAK-Ergebnis jedenfalls in einem nachträglichen Straf- oder Bußgeldverfahren nicht verwerten zu dürfen. Also könnte auch ein strafgerichtliches/behördliches Fahrverbot (§§44 StGB, 25 StVG) ebensowenig auf diesen Beweis gestützt werden wie eine etwaige strafgerichtliche Entziehung der Fahrerlaubnis (§§69, 6 9 a StGB, l i l a StPO). Das positive AAK-Ergebnis etwa für ein rein behördliches Fahrerlaubnisentziehungsverfahren (§4 StVG) nutzen zu wollen, verbietet sich dann wohl ebenfalls. Die negative Bindungswirkung des § 4 Abs. 2 StVG geht zwar nicht so weit, daß die Verwaltungsbehörde insoweit überhaupt kein auf Entziehung gerichtetes Verfahren einleiten dürfte; doch würde es wohl dem Sinn dieser Vorschrift widersprechen, wollte man ein strafbzw. ordnungswidrigkeitenrechtliches Beweisverbot nur hier, nicht aber auch in einem 77 78

Ebenso Nothhelfer, Freiheit von Selbstbezichtigungszwang (Fn. 47), S. 92. Ebenso Bottke, DAR 1980, 238ff und SK StPO-Rogall, Rdn. 146 vor §133.

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behördlichen Entziehungsverfahren gelten lassen, das für den Betroffenen doch auf das gleiche Ergebnis hinausläuft.

VII. Bei diesem Ergebnis 79 kann man dem Gesetzgeber nicht raten, eine spezialgesetzliche Regelung zur Durchführung anlaßfreier Atemalkoholkontrollen zu schaffen 80 . Eine solche Vorschrift könnte letztlich nicht mehr leisten, als § 36 Abs. 5 StVO bereits nach geltender Gesetzeslage zu leisten in der Lage ist. Sollte sich der Gesetzgeber gleichwohl für eine entsprechende Mitwirkungs/?/7icÄi entscheiden und deren Erzwingbarkeit gegebenenfalls durch einen eigenen Bußgeldtatbestand absichern wollen, wäre ein „positives" AAK-Ergebnis in einem nachfolgenden Straf- oder Bußgeldverfahren beweisrechtlich nicht zu verwerten. Bei dieser Rechtslage liefe der Zweck einer verdachtslosen Atemalkoholkontrolle - mehr Sicherheit im Straßenverkehr durch bessere Kontrolle und größere Allgemeinabschreckung - Gefahr, möglicherweise in sein Gegenteil verkehrt zu werden. Daher ist dem Gesetzgeber zu raten, es bei der derzeitigen Gesetzeslage zu belassen, sich wie bisher bei der - durchaus verstärkten Uberprüfung von möglicherweise angetrunkenen Verkehrsteilnehmern im Rahmen allgemeiner Verkehrskontrollen mit sorgfältiger Beobachtung zu begnügen und im übrigen auf den Einsatz jenes in den U S A entwickelten Gerätes zu hoffen, das sich „passiver Alkoholsensor" nennt u n d - n a c h Art einer Taschenlampe z . B . in das Wageninnere hineingehalten - das Vorhandensein von Atemalkohol registriert 81 . Ein solches Gerät würde der schon bisher erlaubten verdachtslosen polizeilichen Sichtkontrolle im Rahmen von § 36 Abs. 5 StVO entsprechen und als solche zur Verdachtsbegründung oder -ausräumung in der Lage sein. So wäre der Weg zu einer Blutentnahme (§ 81 a StPO) bzw. zu einem freiwilligen Atemalkoholtestdessen forensische Verwertbarkeit unterstellt - als dem geringer beeinträchtigenden Mittel frei. Ich sehe nach alledem den unschätzbaren Wert moderner Atemalkoholanalysen nicht im Bereich verdachtsfreier Kontrollen, sondern im forensischen Bereich als (Teil-)Ersatz für die traditionelle Blutentnahme.

79 Es entspricht im übrigen der Konzeption des Gesetzes in § 71 des Zollgesetzes, auf die sich Janiszewski ( D A R 1990, 422) für seine Forderung nach einer gesetzlichen Regelung der Atemalkoholkontrolle beruft. Gerade § 71 ZollG macht deutlich, daß dem verdachtsfrei Betroffenen nur passive Duldungspflichten (Abs. 2 Satz 1 und Satz 2) auferlegt werden und „nach den Umständen dienliche Hilfe" aktiver Art (Satz 3) von ihm nur insoweit erwartet wird, als der Betroffene sich den Kontrollpersonen gegenüber „auszuweisen" (Satz 1) und ihnen zu „ermöglichen" hat, an Bord oder von Bord zu gehen (Satz 2). Ausweislich von § 71 A b s . 3 Satz 1 hat der Betroffene körperliche Durchsuchungen nur passiv „zu dulden"; zudem sind sie expressis verbis nur „bei Verdacht" erlaubt. 80 81

Anderer Ansicht insofern aber Heifer/ /Pluisch Z R P 1991, 425 f. Siehe hierzu Legat, B A 1988, 377.

Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme des Carl von Ossietzky-Prozesses nach 60 Jahren ULRICH

KLUG

In Darstellungen der Geschichte der Weimarer Republik und ihres Zusammenhangs mit der Vorgeschichte des zweiten Weltkrieges erinnert man sich immer wieder des Schicksals des Schriftstellers und Journalisten Carl von Ossietzky, der 1935 den Friedensnobelpreis erhielt. Er warnte vor Militarismus und Nationalsozialismus. 1938 starb er in Berlin an den Folgen der Folterungen, die er im Konzentrationslager Esterwegen erleiden mußte. In einem aufsehenerregenden Prozeß am 23. November 1931 wurde er wegen eines angeblichen Verbrechens nach § 1 Abs. 2 des Gesetzes gegen den Verrat militärischer Geheimnisse vom 3. Juni 1914 (RGBl. I S. 195) vom 4. Strafsenat des Reichsgerichts zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, weil unter seiner Schrifleiterverantwortung und mit seiner ausdrücklichen Zustimmung in der Zeitschrift „Die Weltbühne" am 12. März 1929 ein von dem Mitangeklagten W. Kreiser, der ebenfalls zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt wurde, unter dem Pseudonym Heinz Jäger verfaßten Artikel „Windiges aus der deutschen Luftfahrt" veröffentlicht worden war. Unter dieser Überschrift wurde die Völkerrechts- und gesetzwidrige, den Vertrag von Versailles verletzende, geheime deutsche Luftwaffenaufrüstung ironisch gegeißelt. Daß diese Verurteilung rechtswidrig und deshalb zumindest objektiv eine Rechtsbeugung war, wird heute soweit ersichtlich von niemandem bestritten. Der Bundesgesetzgeber hat daraus mit Recht im 8. Strafrechtsänderungsgesetz vom 25.6.1968 die erforderlichen Folgerungen gezogen und im §93 Abs. 2 StGB festgelegt, daß Tatsachen, „die unter Geheimhaltung gegenüber den Vertragspartnern der Bundesrepublik Deutschland gegen zwischenstaatlich vereinbarte Rüstungsbeschränkungen verstoßen", keine Staatsgeheimnisse sind. Die beiden Verurteilten glaubten sicher sein zu können, daß eines Tages nach der Wiederherstellung von Demokratie und Rechtsstaat eine Rehabilitierung erfolgen werde. Nach der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutschlands stellte Rosalinde von Ossietzky-Palm, die in Schweden lebende Tochter des Nobelpreisträgers, beim Kammergericht in

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Ulrich Klug

Berlin einen Antrag auf Wiederaufnahme des durch das vorgenannte Urteil abgeschlossenen Verfahrens, in dem es 1931 keine Rechtsmittelinstanz geben konnte. Das Reichsgericht entschied in dieser Sache erstund zugleich letztinstanzlich. Der 1. Strafsenat des Kammergerichts hat den Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens durch Beschluß vom 11. Juli 1991 „als unzulässig verworfen"'. Dieser Beschluß wurde mit einer sofortigen Beschwerde angefochten. Eine Entscheidung, für die der Bundesgerichtshof zuständig ist, lag, als dieser Beitrag geschrieben wurde, noch nicht vor. Der seinerzeitige Ossietzky-Fall und seine Behandlung durch die deutsche Justiz — einst und jetzt - haben historische Bedeutung. Wichtige Rechtsfragen werden aktuell.

I. Dem Reichsgericht sind sowohl bei der Prüfung der Tatbestandsmäßigkeit als auch bei der Erörterung der Rechtswidrigkeit des Verhaltens von Ossietzky erstaunliche Fehler unterlaufen. Als besonders wesentlich für die Tatbestandsmäßigkeitsprüfung sei herausgegriffen die Ablehnung des Beweisantrags, mit dem 19 Zeugen benannt worden waren. Unter diesen befanden sich folgende Ausländer: Oberstleutnant a . D . Reboul, Paris; Laurent Eynach, Deputierter, Paris; Houard, Herausgeber von „Les Ailles", Paris; Blondel, Herausgeber von „L'Aerophile", Paris; Liottu, Herausgeber der „Revista Aeronautica", Rom, und Witkowski, Herausgeber des „Lot Polski", Warschau. Mit zwei Argumentationen wurde die Vernehmung dieser und der weiteren benannten Zeugen vom Reichsgericht abgelehnt: Zunächst wird dem Begriff der „Luftinteressenten" 2 , den die Verteidigung im Beweisantrag benutzt habe, die „erforderliche Bestimmtheit" abgesprochen, obwohl es auf diese Eigenschaft erkennbar in keiner Weise ankam; denn weder die Bejahung noch die Verneinung der Bestimmtheit der Charakterisierung von Interessen konnte geeignet sein, die Bedeutung der hier in Betracht kommenden Zeugenaussagen entscheidend zu beeinflussen. Man bedenke nur den Fall, ein luftfahrtinteressenloser Zeuge aus der Reihe der benannten Pariser Persönlichkeiten hätte bekundet, ihm habe ein höherer französischer Ministerialbeamter mitgeteilt, man wisse in den zuständigen Dienststellen Bescheid über die in Rede stehenden Aufrüstungsaktivitäten des deutschen Militärs. Der „Weltbühne"-Artikel habe dort keine Neuigkeiten vermittelt. Das

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K G , J R 1991, S. 479 ff. So in den Akten. Wohl ein Schreibfehler.

Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme

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Bestimmtheitsargument des Reichsgerichts wäre als irrelevant erkennbar geworden, denn die Aussage wäre auch ohne ein Luftfahrtinteresse des Zeugen beweiserheblich gewesen. Ebenso vorbei am Wesentlichen geht der Hinweis auf die Relativität des Begriffs des Geheimseins, bei dessen Anwendung der 4. Senat sich auf eine Entscheidung des Vereinigten 2. und 3. Senats vom 16.12.1893 (RGSt. 25, 45, 48) beruft. Hier hat man es mit einem zentralen Problem des „publizistischen" Landesverrats zu tun. Das Reichsgericht dehnt dieses Tatbestandsmerkmal so aus, daß die Grenzen kaum noch sichtbar gemacht werden können. Gleichgültig soll es u. a. sein, ob „kleinere oder größere Personenkreise des Inlands, die Bewohner eines Ortes oder Landstriches des Inlandes" Kenntnis hatten von den geheimen Tatsachen, wobei sich, wie der Senat im Ossietzky-Prozeß betont, „dieser Personenkreis nicht einmal notwendig auf das Inland zu beschränken braucht". Damit geht die rechtsstaatlich zwingend vorgeschriebene Bestimmtheit der Straftatbestände verloren, zumal in der in Bezug genommenen Entscheidung aus dem Jahre 1893 gesagt wird, es ändere sich nichts, wenn „sämtliche Bewohner einer Ortschaft oder eines ganzen Landstriches" 3 genau unterrichtet seien4. Es solle bei der rechtlichen Würdigung des „Weltbühne"-Artikels „ausschließlich" darauf ankommen, „daß die Nachricht einer fremden Regierung oder einer in ihrem Interesse tätigen Person im Interesse der eigenen Wehrmacht verborgen zu halten ist". Die Einführung des neuen §93 StGB mit dem Begriff des begrenzten Personenkreises hat einen verfassungsrechtlichen, aus dem 19. Jahrhundert stammenden Notstand beseitigt5. Die sich in dieser Weise dokumentierende Parteilichkeit des Senats wurde im übrigen noch dadurch verstärkt, daß man sich bei der Tatsachenfeststellung und bei der Wertung dieser Tatsachen als geheimhaltungsbedürftig „im Interesse der Landesverteidigung, wie auch für das Wohl des Deutschen Reiches" allein auf die eidliche gutachtliche Bekundung des Zeugen und Sachverständigen Major Himer vom Reichswehrministerium und dazu des Sachverständigen Ministerialrat Dr. Wegert vom Verkehrsministerium sowie auf das schriftliche Gutachten des Auswärtigen Amtes gestützt hat. Alle drei Sachverständigen standen auf der Gegenseite und waren den angeklagten Publizisten und Pazifisten

Hervorhebungen vom Verf. Vgl. hierzu Günter Kohlmann, Der Begriff des Staatsgeheimnisses und das verfassungsrechtliche Gebot der Bestimmtheit von Strafvorschriften, 1969, S.89, 90, 105, 106, 110, 111 mit weiteren Nachweisen. 5 Zu den trotz dieser Reform verbleibenden Bestimmtheitsproblemen vgl. Ulrich Klug, Skeptische Rechtsphilosophie und humanes Strafrecht, Band 2, Materielle und formelle Strafrechtsprobleme, 1981, S. 268 ff. 3 4

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feindlich gesinnt. Sie waren Vertreter derjenigen Behörden, die sich für die Völkerrechtsverletzung und die gesetzwidrigen Aktivitäten eingesetzt hatten. Entlastungszeugen wurden nicht vernommen. Von Objektivität und Fairness der Justiz kann unter diesen deutlichen Umständen nicht die Rede sein. Aber selbst dann, wenn die erörterten Rechtsfehler in den Urteilsbegründungen des Reichsgerichts bestritten würden, könnte die Entscheidung gegen Ossietzky gleichwohl auf keinen Fall als rechtmäßig anerkannt werden, denn zumindest fehlt es - die Tatbestandsmäßigkeit einmal unterstellt - an der Rechtswidrigkeit der Veröffentlichung über die Luftwaffenaufrüstung. In dem beanstandeten „Weltbühne"-Artikel wurde das unbestritten völkerrechtswidrige Verhalten des Staates gerügt. Die Luftwaffenaufrüstung verletzte Völkerrechtsverpflichtungen des Deutschen Reiches, insbesondere Art. 198 des Versailler Vertrages und damit zugleich das diese Bestimmung in innerstaatliches Recht umsetzende Gesetz (Art. 4 Reichsverfassung). Dies publizistisch zu verwerten und zu diskutieren war ein Recht der Presse, deren Freiheit Art. 118 der Verfassung des Deutschen Reiches garantierte. Um diese eindeutige Rechtslage kümmerte sich der Senat jedoch kaum. Er erwähnt zwar in der Urteilsbegründung nach der „Schuldfeststellung" die Völkerrechtsproblematik, stellt aber nur kurz fest, daß die Angeklagten sich darauf berufen hätten, daß sie völkerrechtswidriges Verhalten hätte rügen wollen, und daß sie geglaubt hätten, ein Recht zur öffentlichen Rüge zu haben. Diesem Verteidigungsvortrag wird dann lediglich entgegengehalten: „Dem eigenen Lande hat jeder Staatsbürger die Treue zu halten; auf Durchführung der Gesetze kann er nur durch Inanspruchnahme der hierzu berufenen innerstaatlichen Organe hinwirken, niemals aber durch Mitteilungen an ausländische Regierungen oder deren Organe (RG-Urt. v. 28. August 1923 in 7.J. 69/23)". Bei dieser Argumentation tritt die rechtliche Substanz hinter die unbegrenzte nationalistische politische Ideologie zurück. Hinzukommt, daß der Kern des Anliegens, das mit den TVessepublikationen verfolgt wird, überhaupt nicht getroffen wird, denn es ging ja nicht um Mitteilungen an ausländische Regierungen oder deren Organe, sondern eindeutig um ein Aufrütteln der deutschen politischen Öffentlichkeit im friedenspolitischen Sinne. Man befürchtete schon damals, daß durch die rechtswidrige Aufrüstung eines Tages Kriegsgefahren heraufbeschworen würden. Und genau dies haben die Verleiher des Friedensnobelpreises an Carl von Ossietzky richtig gesehen, während dem Reichsgerichtssenat das hier rechtswidrig eingesetzte Idol der „Treue" zum eigenen Land höher stand als die hochrangigen anerkannten, den Frieden sichernden Völkerrechtsprinzipien, sowie das liberale Verfassungsrecht der Pressefreiheit nach Art. 118 der Weimarer Verfassung.

Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme

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Bedenklich an der Reichsgerichtsentscheidung ist ferner nicht zuletzt, daß in ihr eine bahnbrechende Rechtserkenntnis unberücksichtigt blieb, für die gerade dieses Gericht mit den berühmten Entscheidungen des 1. Senats vom 1 1 . 3 . 1 9 2 7 und 2 0 . 4 . 1 9 2 8 ( R G 61, 242 u. 62, 137) die entsprechenden Möglichkeiten eröffnet hatte. In seinem gegen von Ossietzky und Kreiser erst am 2 3 . 1 1 . 1 9 3 1 ergangenen Urteil hat der 4. Senat die Frage nicht einmal erwähnt, geschweige denn geprüft, ob nicht - die Tatbestandsmäßigkeit unterstellt - die Kollision von Völkerrecht, Verfassungsrecht und Strafrecht die Prüfung der Frage erzwinge, inwieweit möglicherweise eine Rechtfertigung der Publizisten unter dem Gesichtspunkt des übergesetzlichen Notstandes in Betracht komme. Nahegelegen hätte das gewiß, zumal jene wichtigen Urteile schon mehr als drei Jahre zurücklagen und in der Wissenschaft die Einführung dieses Rechtfertigungsprinzips in die Rechtsprechung schon seit längererem empfohlen worden war 6 . Spätestens dieser Aspekt hätte zum Freispruch führen müssen. Das unumgängliche Fazit ist die Feststellung, daß die Reichsgerichtsentscheidung gegen Carl von Ossietzky und seinen Mitangeklagten zumindest objektiv eine Rechtsbeugung gewesen ist 7 . Vieles spricht dafür, daß auch die subjektiven Voraussetzungen seinerzeit erfüllt gewesen sind. Bei einem Eingehen auf diese Problematik müßte erinnert werden an die seinerzeitige Streitfrage, ob auch bedingter Vorsatz, so wie das heute im Gesetz seit 1974 festgelegt ist, zur Strafbarkeit führen kann. An der Beendigung dieses Streites hat der Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, bekanntlich maßgeblich mitgewirkt 8 .

II. Nachdem sogar der Gesetzgeber inzwischen durch eine Änderung des Strafgesetzbuches in nicht überbietbarer Eindeutigkeit bereits im Jahr 1968 mit der Ausschaltung der Strafbarkeit bei öffentlicher Bekanntgabe illegaler Staatsgeheimnisse seine Mißbilligung der seinerzeitigen Verurteilung von Ossietzky zum Ausdruck gebracht hatte 9 , lag es für seine Tochter nahe, nach der Wiedervereinigung der beiden Teile Deutsch-

6 Vgl. zur Entstehungsgeschichte des jetzigen § 3 4 StGB Hans Joachim Hirsch, L K 10. Aufl. 1985, § 3 4 vor Rdn. 1 mit weiteren Nachweisen. 7 Zum Begriff der objektiven Rechtsbeugung vgl. Günter Spendet, LK 10. Aufl. 1982, § 336 Rdn. 36 ff und Manfred Seebode, Das Verbrechen der Rechtsbeugung, 1969, S. 26 ff. 8 Vgl. Günter Spendel in: Radbruch-Gedächtnisschr., 1968, 312; NJW 1971, 537; Heinitz-Festschr., 1972, 445; Karl-Peters-Festschr., 1974, 163. - Manfred Seebode, aaO (Fn.6) 103; in: ZRP 1973, 239. 9 Im 8. Strafrechtsänderungsgesetz v. 25.6.1968, §93 Abs. 2 StGB.

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lands ein Wiederaufnahmeverfahren zur Rehabilitierung auch in formeller Hinsicht zu versuchen. Indessen hat der 1. Strafsenat des Kammergerichts in Berlin durch Beschluß vom 11.7.1991 diesen Antrag auf Wiederaufnahme des Strafverfahrens „als unzulässig verworfen, weil die Antragstellerin keinen gesetzlichen Wiederaufnahmegrund geltend gemacht und kein geeignetes Beweismittel angeführt hat (§ 368 Abs. 1 StPO)". Geprüft hat der Senat nur, ob ein Wiederaufnahmegrund nach § 3 5 9 Nr. 5 StPO oder nach § 3 5 9 Nr. 2 StPO vorliegt. Er ist dabei erstens zu dem Ergebnis gekommen, daß sich aus dem Wiederaufnahmeantrag keine neuen Tatsachen oder Beweismittel ergeben, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten zu begründen geeignet sind, und zweitens, daß auch die in § 359 Nr. 2 StPO geregelten Voraussetzungen für eine Freisprechung nicht erfüllt sind. Bei Nr. 2 geht es darum, daß das Wiederaufnahmebegehren zusätzlich auf den Vortrag gestützt wurde, die beiden von dem Reichsgericht vernommenen, inzwischen verstorbenen Sachverständigen hätten zuungunsten des Verurteilten falsch ausgesagt und sich damit einer Verletzung der Eidespflicht schuldig gemacht. Auch insoweit kommt der Senat des Kammergerichts zu dem Ergebnis, der Wiederaufnahmeantrag sei unzulässig, „denn das Vorbringen ergäbe keinen konkreten Tatverdacht, der zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens ausreichen würde (vgl. Kleinknecht/ Meyer, §364 StPO Rdn. 1)". Diese Entscheidung über den Wiederaufnahmeantrag und ihre Begründungen sind in mehrfacher Hinsicht bedenklich. Der wichtigste Einwand ist die Feststellung, daß hier verfassungswidrig entschieden wurde. Dies ergibt sich aus folgenden Gründen: Bei rechtsstaatskonformer Auslegung hätte das Vorliegen des § 9 3 Abs. 2 StGB, der, wie bereits erwähnt wurde, im Widerspruch zur Reichsgerichtsentscheidung gegen Carl von Ossietzky steht, zu der Feststellung führen müssen, daß die Voraussetzungen des § 359 Nr. 5 StPO erfüllt sind. Im § 9 3 Abs. 2 StGB hat der Gesetzgeber seinen Willen eindeutig dahingehend erkennen lassen, daß illegale Tatsachen keine Staatsgeheimnisse sind. Er hat also seine Meinung über eine Tatsachensituation zum Ausdruck gebracht und dabei offensichtlich den Ossietzky-Fall und die Problematik des sog. publizistischen Landesverrats bedacht. Infolgedessen ist zu prüfen, ob die Voraussetzungen für die Anwendung des §359 Nr. 5 StPO erfüllt sind. Das ist zu bejahen; denn hier geht es um Rechtstatsachen, die besonders konkret sind. Bei der Einführung des § 9 3 Abs. 2 StGB geht es um die Kundgabe des Gesetzgeberwillens, der so präzis ist, daß nicht nur eine dogmatische, sondern eine reale Durchschlagswirkung gegeben ist. Die Richtigkeit der Auffassung von Karl Peters, daß auch Rechtstatsachen

Überlegungen zum Versuch einer Wiederaufnahme

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Tatsachen i. S. des §359 Nr. 5 StPO sein könnnen, ergibt sich hier besonders deutlich10. Folgt man jedoch der Auffassung nicht, daß derartige Gesetzesänderungen neue Tatsachen i. S. des §359 Nr. 5 StPO sind, hätte man eine grundgesetzwidrige, weil dem Rechtsstaatsprinzip widersprechende, Gesetzeslage feststellen müssen. Hieraus würde sich dann für den 1. Strafsenat des Kammergerichts eine Vorlagepflicht beim Bundesverfassungsgericht gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ergeben. Daß es sich bei den Normen des Strafverfahrensrechts um nachkonstitutionelles Recht handelt, wie das für das Entstehen der Vorlagepflicht erforderlich ist, sollte nicht zweifelhaft sein. An den überaus zahlreichen Änderungen der StPO ist erkennbar geworden, daß der Gesetzgeber das Strafverfahrensrecht nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes in seinen Willen aufgenommen hat. Gerade das Strafprozeßrecht hat als Ganzes einen so starken rechtsstaatlich bedingten Wandel erlebt, daß es in das negative Entscheidungsmonopol des Art. 100 Abs. 1 GG einzubeziehen ist11. Hinzukommt, daß die StPO am 7.4.1987 mit den zahlreichen Änderungen (BGBl. I, 1074, 1319) ausdrücklich als Neufassung bekannt gemacht wurde, wodurch besagt wurde, daß der Gesetzgeber nicht nur die zunächst angeordneten Einzeländerungen, sondern auch die in die Gesamtfassung mitaufgenommenen unveränderten Teile „als geltendes Recht angesehen wissen will und deren Geltung befohlen hat" 12 . Für den Fall, daß die Vorlage vom Bundesverfassungsgericht aus formellen oder materiellen Gründen negativ beschieden würde, ist noch zu bedenken: 1. Würde das Bundesverfassungsgericht das Vorlagerecht nach Art. 100 Abs. 1 GG verneinen, könnte der Bundesgerichtshof im Rahmen der Entscheidung über die sofortige Beschwerde (§372 StPO) die Verfassungsrechtslage prüfen. - Allerdings wird sich dieser Hinweis vermutlich bis zum Erscheinen dieses Festschrift-Beitrages so oder so erledigt haben. 2. Falls das Vorlagerecht aber vom Bundesverfassungsgericht bejaht, die Verfassungswidrigkeit jedoch im Rahmen des Kontrollverfahrens nach Art. 80 ff BVerfGG verneint würde, bliebe der Tochter von Carl von Ossietzky noch die Anrufung der Europäischen Menschenrechtskommission (Art. 25 ff EMRK) übrig. Das wäre ein Weg, der zu 10 Vgl. Karl Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S.674 und ders., Fehlerquellen im Strafprozeß, Band III, 1974, S. 63 ff mit weiteren Nachweisen. - Für die Gegenposition vgl. Kleinknecht/Meyer, StPO, 40.Aufl. 1991, §359 Rdn.24 und Löwe-Rosenberg, 24.Aufl., 1984, Gössel, Rdn. 66. " Karl Peters, Strafprozeß, 4. Aufl. 1985, S.93. 12 Vgl. Maunz, in: Maunz-Dürig, Komm. z. GG, Loseblattausgabe, Art. 100 Rdn. 16.

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einer Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte führen könnte (Art. 47 EMRK). 3. Eine weitere Möglichkjeit wäre ein Appell an den Gesetzgeber. Die möglicherweise unbefriedigende justizielle Behandlung des Friedensnobelpreisträgers wäre eine schwerwiegende Motivation für eine Änderung der StPO mit dem Ziel, das Wiederaufnahmerecht dahingehend zu reformieren, daß Rechtstatsachen - zumindest aber Gesetzesänderungen - begründungsrelevant werden können. 4. Zu denken wäre schließlich noch an einen weiteren Appell an den Gesetzgeber. Man könnte anregen, ein Rehabilitierungsgesetz zu erlassen nach dem Vorbild des Rehabilitierungsgesetzes vom 6.9.1990 (DDR-GBl. I 1459), dessen Fortgeltung nach Maßgabe des Art. 3 Nr. 6 der Vereinbarung zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der D D R zur Durchführung und Auslegung des Einigungsvertrages vom 18.9.1990 (BGBl. II 1239) vereinbart wurde13. Beim Erlaß eines solchen Gesetzes könnte auch die Einbeziehung der nationalsozialistischen strafrechtlichen Terrorurteile nach dem Hamburger Konzept des „Entwurfs eines Gesetzes zur Beseitigung nationalsozialistischer Unrechtsurteile" (Bundesratsdrucksache 586/85 vom 5.12.1985) erwogen werden. Der Kammergerichtssenat hat in seinem Ossietzky-Beschluß ausgeführt, er habe das Urteil des Reichsgerichts nicht nach der Art eines Revisionsgerichts auf Rechtsfehler zu prüfen. Insbesondere sei es ihm versagt, die Rechtsprechung des Reichsgerichts zum „publizistischen Landesverrat" durch Veröffentlichung von Verfassungsverstößen (vgl. u. a. bereits RGSt. 62, 65) im Lichte neuerer Rechtsprechung (vgl. u. a. BGHSt. 20, 342) und der inzwischen erfolgten gesetzlichen Regelung (vgl. besonders §93 Abs. 2 StGB) neu zu bewerten und als eine Art „Rehabilitierungsgericht" tätig zu werden. Vielmehr sei der Senat an die strengen Wiederaufnahmevorschriften der StPO gebunden. Das liest man nicht ohne Verwunderung, denn an verfassungswidrige StPO-Vorschriften ist der Senat keineswegs gebunden. Diese Problematik hätte man hinsichtlich einer Rechtstatsache wie die des neuen § 93 Abs. 2 StGB mindestens prüfen müssen. Und ein Rehabilitierungsgericht ist das im Wiederaufnahmeverfahren entscheidende Gericht ja wohl nahezu stets, da es dem Verurteilten oder seinen Angehörigen, wenn sie antragsberechtigt sind, nach § 361 Abs. 2 StPO, in der Regel um die Wiederherstellung der Ehre, also um echte Rehabilitierung, zu gehen pflegt. Im Fall von Carl von Ossietzky und seiner Tochter wird das sicherlich besonders deutlich. Daran ändert auch die Enge der StPO-Vorschriften nichts. 13 Einigungsvertrag = Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands vom 3 1 . 8 . 1 9 9 0 ( B G B l . II 889).

Prozessuale Wahrheit und Revision RAINER PAULUS

V o r gut einem V i e r t e l j a h r h u n d e r t schrieb Günter Spendel1 über die „fundamentale Bedeutung des W a h r e n " ; so notwendig, es zu suchen, so schwierig sei, es zu finden, weil „problematisch seine Erkennbarkeit". Zumal im S t r a f v e r f a h r e n : Philosophen u n d Erkenntnistheoretiker d ü r fen, begründet gleichermaßen w i e unverbindlich, streiten über ihre Wahrheit(en) 2 ; der - theoretisch ü b e r oder/und praktisch im P r o z e ß arbeitende - Jurist m u ß wissen, was seine W a h r h e i t bedeute. D e n n gem. § 2 4 4 II S t P O ist, als die Zentralaufgabe jedes Verfahrens, b e w e i s f ö r m i g die „ W a h r h e i t " zu erforschen, u n d das Revisionsgericht p r ü f t auf Rüge 3 , o b das „Tat"-Gericht dieser RechtspFi'icht genügt hat ( § 3 3 7 I, II S t P O ) . U m so m e h r enttäuscht - t r o t z Spendeis D i k t u m - das Ergebnis d o g m a tischer B e m ü h u n g e n unseres Säkulums: ungeklärt ist jener prozessuale W a h r h e i t s b e g r i f f , und - als „Tatfrage" - prinzipiell irreversibel sei, o b das G e r i c h t ihn rechtsrichtig konkretisiert habe. Das Folgende skizziert, w i e prozessuale W a h r h e i t zu verstehen u n d volle Revisibilität der „Tatfrage" - weil n o t w e n d i g e Rechtsfrage 4 - begründbar ist 5 .

Wahrheitsfindung im Strafprozeß, JuS 1964, 465. Näher Verf., Bedingungen rechtswissenschaftlicher Begriffsbildung, in: FS F.W.Krause, 1990, S. 51, 69-71 mit Nachweisen. 3 Dazu unten II 2 a. 4 Vgl. bereits Verf., KMR-Kommentar zur StPO, 7. Aufl., 1980, §244 Rdn. 24-33, insbes. Rdn. 27. 5 Ungeachtet - ζ. T. schon frühzeitiger - resignativer Warnungen wie: „Knoten, dessen Lösung allen Menschenwitz übersteigen würde" (Dohna, Das Strafprozeßrecht, 3. Aufl., 1929, S. 199); es blieben nur mehr „eine Handvoll vergessener Ähren" auf einem „abgeakkerten Feld" aufzulesen (Kadecka, Empfiehlt sich im Rechtsmittelverfahren gegen ein Gerichtshofurteil eine Uberprüfung der Tatfrage?, Ref. z. 8.DJT, 1937, in: Ges. Aufsätze, hrsg. von Rittler/Nowakowski, 1959, S. 199); wo „genau die Grenzen der Eingriffsmöglichkeit in die tatrichterliche Beweiswürdigung liegen, vermag heute niemand zu sagen" (F.-W. Krause, Grenzen richterlicher Beweiswürdigung im Strafprozeß, in: FS K. Peters, 1974, S. 323, 331); „dogmatische Ratlosigkeit" (Rieß, Zur Revisibilität der freien tatrichterlichen Uberzeugung, GA 1978, S. 257, 261). Denn der Neuansatz einer Lösung dieser „Frage ohne Antwort" (H.-E. Henke, Rechtsfrage oder Tatfrage - eine Frage ohne Antwort, ZZP 81 [1968], S. 196 ff, 321 ff) ist von einem außerhalb des circulus vitiosus bisheriger Argumentationsfülle liegenden archimedischen Punkt her zu entwickeln. 1

2

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Rainer Paulus

I. Der Wahrheitsbegriff des §244 II StPO 1. Logisch-empirischer

Begriff der ontologischen

Wahrheit6

a) Befund: Die formal-strukturelle, aristotelisch-scholastische Wahrheitsdefinition „veritas est adaequatio intellectus et rei"7 wird für das Strafprozeßrecht inhaltlich nahezu einhellig konkretisiert in dem ontologischen Sinn der res als realer Sachverhalt („Tat" = historisches Ereignis i. S. d. §§ 155 I, 264 I StPO), der adaequatio als freie Überzeugung (§ 261 StPO) und des intellectus als (urteilsförmige) Aussage des Gerichts: diese sei „wahr", wenn Uberzeugung und Wirklichkeit übereinstimmen8; es gehe um „materielle Wahrheit"9, Verfahrenszweck sei „VerHinweis: Künftige Hervorhebungen in den wörtlichen Zitaten sind jeweils solche im Original. 6 Dazu Verf. (Fn.2), S.70f. 7 Aristoteles, Metaphysik, Die Lehrschriften, hrsg. von Gohlke, 1951, Μ 7: „Wahr ist es, vom Seienden zu sagen, es sei, und vom Nichtseienden, es sei nicht"; Kant, Kritik der reinen Vernunft, I, in: Werke III, hrsg. von Weischedel, 1968, S. 103: „Wahrheit" bestehe „in der Übereinstimmung der Erkenntnis mit ihrem Gegenstande"; Jarcke, Bemerkungen über die Lehre vom unvollständigen Beweise . . . , NACrR 8 (1825), S.97, 98: „Die Wahrheit liegt in der Ubereinstimmung der Uberzeugung des urtheilenden Subjects mit dem erkannten Objecte"; C.J.A. Mittermaier, Die Lehre vom Beweise im deutschen Strafprozesse . . . , 1834, S. 63 f: „Wahrheit" sei „die Ubereinstimmung der Vorstellung von einem Gegenstande mit dem wirklichen Wesen desselben"; Engisch, Wahrheit und Richtigkeit im jur. Denken, 1963, S. 6: Wahrheit als „Ubereinstimmung einer Aussage . . . mit dem Sachverhalt, der in der Aussage ausgesagt wird". 8 Vgl. z.B. §393 PrCrimO v. 1805: „Der Richter hat hinreichende Gewißheit, wenn für die Wahrheit eines Umstandes vollkommen überzeugende Gründe vorhanden sind und nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ein bedeutender Grund für das Gegentheil nicht wohl denkbar ist"; BGHSt. 10, 208, 209: Für die Schuldfrage komme es allein darauf an, „ob der Tatrichter die Uberzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht"; Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, §227: Das Gericht habe den „empirischen Inhalt, wie eine Thatsache ist" bzw. die „empirische Wahrheit einer Begebenheit zu erkennen"; C.J.A. Mittermaier, Das deutsche Strafverfahren, I, 1832, S.358f: „Ueberzeugung . . . von der Wahrheit", „Wahrheit der die Anklage begründenden Thatsachen"; Hellwig, Wahrheit und Wahrscheinlichkeit im Strafverfahren, GS 88 (1922), S. 417, 442: Wahrheit sei „eine Eigenschaft des Objekts . . . Wahrscheinlichkeit dagegen ist eine Beziehung, welche das Subjekt zwischen dem Objekt und einer sich auf dieses Objekt beziehenden Vorstellung herstellt"; Sauer, Allg. Prozeßrechtslehre, 1951, S. 105: Wahrheit lasse sich „bestimmen als die möglichste Übereinstimmung einer Aussage (eines Urteils) rilit ihrem Gegenstand, als möglichste Annäherung von Einzelheiten an das ihrer Aufgabe gemäß zugeordnete Ganze (des geschichtlich-sozialen Lebens)"; Spendel (Fn. 1), S.466: „Wahrheitsfindung im Strafprozeß bedeutet . . . als Sachverhaltsaufklärung Wirklichkeitserkenntnis"; Freund, Normative Probleme der „Tatsachenfeststellung", 1987, S. 13, 41, 43, 47 (u.pass.): Erfordernis einer „ontologischen Urteilsbasis". 9 Η. M.; vgl. ζ. B. Eh. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, I, 2. Aufl., 1964, Rdn. 363 ff; Henkel, Strafverfahrensrecht, 2. Aufl., 1968, S. 100; Spendel (Fn. 1), S. 466: „Bei keiner der . . . richterlichen Tätigkeiten wird die . . . Definition der Wahrheit als der Übereinstimmung zwischen Gegenstand und Denken, zwischen dem ,wirklichen' und

Prozessuale Wahrheit und Revision

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wirklichung des materiellen Rechts"10, d.h. „Bestrafung Schuldiger, Schutz Unschuldiger"u, gerichtliche Wahrheitssuche bedeute (normativ begrenzte) Historikerarbeit12. Ist die Ubereinstimmung (adaequatio) zwischen Vorstellung (Aussage) und Wirklichkeit (Sachverhalt) als (gerichtliche) Überzeugung das wahrheitskonstituierende Maßprinzip der StPO, kann § 244 II StPO (Beweiserhebung und Aufklärungspflicht) nicht eigenständige Voraussetzung'3, sondern nur instrumentale Folge

dem vorgestellten' Sachverhalt, zwischen d e r . . . tatsächlich begangenen und der gedanklich festgestellten Straftat so deutlich wie bei der Tatsachenermittlung". 10 H.M.; vgl. z.B. RGSt. 72, 156 („Das Strafverfahren dient der Rechtsfindung. Diesen Zweck kann es nur erreichen, wenn es auf Wahrheit aufgebaut ist."); BVerfG NJW 1966, 243, 1259 u. 1703; 1972, 2216 (ständ. Rspr.); Beling, Deutsches Reichsstrafprozeßrecht, 1928, S. 25; R. v. Hippel, Der Deutsche Strafprozeß, 1941, S. 3; Eb. Schmidt (Fn. 8), Rdn.20, 24; Volk, Wahrheit und materielles Recht im Strafprozeß, 1980, S. 18 ff, 24. Vgl. bereits P.J.A. Feuerbach, Betrachtungen über das Geschwornen-Gericht, 1813, S. 112: Zweck der „Criminalgerichtsbarkeit ist volle Gerechtigkeit und, weil der gerechte Wille die Erkenntniß des Gerechten voraussezt, Wahrheit". 11 Für alle: Eb. Schmidt (Fn. 8), Rdn. 21. Vgl. auch Schmidhäuser, Zur Frage nach dem Ziel des Strafprozesses, in: FS Eb. Schmidt, 1961, S. 511, 522: „ideales Ziel". 12 Jarcke (Fn. 7), S. 104 („Zwischen dem Historiker und dem Criminalrichter waltet... eine Aehnlichkeit ob, daß die Ueberzeugung beider eine historische Ueberzeugung ist ..."); Mittermaier (Fn. 7), S. 64 („Uns beschäftigt das Wesen der historischen Wahrheit"); Möhl, Uber das Urtheilen rechtsgelehrter Richter ohne gesetzliche Beweistheorie, ZStrVerf. 2 (1842), S.277, 283 (der jur. Beweis bedeute niemals mathematische, sondern nur „geschichtliche" Gewißheit); Ulimann, Lehrbuch des Deutschen Strafprocessrechts, 1892, S.322 („die Rechtspflege muss sich bei ihrer Aufgabe auf die für alle thatsächliche Erkenntniss massgebende historische Gewissheit beschränken, welche die Möglichkeit des Gegentheils nicht ausschliesst"); Mezger, Der psychiatrische Sachverständige im Prozeß, 1918, S. 26 ff, 41 ff, 46 („Der Historiker und der Richter suchen die individuellen Tatsachen ..."); Beling (Fn. 10), S. 281 („Das gesamte Beweisrecht steht im Strafprozeß unter dem Gedanken der,materiellen Wahrheitserforschung': alle Tatsachenfeststellung soll mit historischer Treue erfolgen . . . " ) ; Niethammer, Der Kampf um die Wahrheit im Strafverfahren, in: FS Sauer, 1949, S. 26, 27 (Richter als „Geschichtsforscher"); Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, 3. Aufl., 1963, S. 39 ff, 61 Anm. 2; ders. (Fn. 7), S. 6 („Der Jurist verfährt nicht anders als der Historiker, wenn er Beweise erhebt und würdigt, um dahinter zu kommen, wie sich etwas zugetragen hat"); Spendet (Fn. 1), S. 466; Krause (Fn. 5), S. 325; Freund (Fn. 7), S. 19. 13 So aber ζ. B. Niemöller, Die strafrichterliche Beweiswürdigung in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, StV 1984, 431 („Die Beweiswürdigung beginnt dort, wo die Beweisaufnahme endet"); Meitrer, Beweiserhebung und Beweiswürdigung, in: GedS H. Kaufmann, 1986, S. 947, 953 f, 958 ff, 960 („strikte Trennung von gebundener Beweiserhebung und freier Beweiswürdigung"); Moos, Die Ausdehnung der Nichtigkeitsbeschwerde auf die Beweiswürdigung nach §281 Abs. 1 Z . 5 a StPO, ÖJZ 1989, 97, 135, 140 (Stoffsammlung durch Beweiserhebung gehe seiner Bewertung bei der Beweiswürdigung „gedanklich und prozedural voraus").

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aus

Rainer Paulus

§261

StPO

sein 1 4 ;

dies bestätigt a u c h die

prozeßgeschichtliche

E n t w i c k l u n g des § 2 4 4 I I S t P O 1 5 . b) Kritik: StPO)

D a s W a h r h e i t s k r i t e r i u m d e r „freien U b e r z e u g u n g "

aber inhaltlich

zureichend z u definieren, ist bis heute

gelungen u n d m u ß t e scheitern angesichts verfehlten empirischen

Denkansatzes:

(§261 nicht

„materiellrechtlich

weil das an sich a n z u s t r e b e n d e

Idealziel

„ a b s o l u t e r " , „materieller" W a h r h e i t i n d u k t i o n s l o g i s c h u n d w e g e n stets b e g r e n z t e r m e n s c h l i c h e r Erkenntnisfähigkeit u n e r r e i c h b a r sei 1 6 , m ü s s e u n d dürfe das G e r i c h t sich begnügen m i t als W a h r h e i t i. S. d. § § 2 4 4 II, 2 6 1 S t P O „ g e l t e n d e r " 1 7 (objektiv „ h o c h g r a d i g e r " b z w . „an Sicherheit

14 Verf. (Fn.4), §244 Rdn. 112, 122, 143, 220. Strukturell Gleiches gilt für das Verhältnis der Beweiserhebungsverbote zu den Beweisverwertungsverboten (vgl. Verf., Beweisverbote als Prozeßhandlungshindernisse, in: GedS K.Meyer, 1990, S.309, 326f). 15 Nach den Motiven (Hahn, Die gesammten Materialien zur StPO . . . , 1. Abt., 1880, S. 192) findet §207 des StPO-Entwurfs, worauf §244 II StPO i.d.F. v. 1.2.1877 („In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten . . . bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein") beruht, „seine Rechtfertigung" in §§ 135 II, 223 des StPO-Entwurfs (heute: §§ 155 II, 264 StPO), und enthalte die „Ablehnung eines Beweisantrags . . . den Ausspruch, daß der angetretene Beweis, selbst wenn er die Behauptung des Antragstellers bestätigte, auf die richterliche Ueberzeugung . . . ohne Einfluß sein würde", so daß der Ablehnungsbeschluß „im gewissen Sinne schon ein Bestandtheil des Endurtheils" sei. M.a. W.: „freie" Uberzeugung legitimierte Freiheit der Beweisaufnahme. Erst rund 50 Jahre später entwikkelte — wiederum als Konsequenz aus Rationalitäts- und Begründungsanforderungen zu §261 StPO (dazu unten I 2 b aa, bb) - das RG (dazu im einzelnen Sarstedt/Hamm, Die Revision in Strafsachen, 5. Aufl., 1983, S. 197 ff) ein Beweisantragsrecht mit grundsätzlichem Beweisantizipationsverbot, das zunächst in §244 II StPO („Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist") i. d. F. d. Gesetzes v. 28.6.1935 (RGBl. I S. 44; zu Einschränkungen in der NS-Zeit vgl. Meurer [Fn. 13], S. 955-957) und schließlich durch das REinhG v. 20.9.1950 (BGBl. I S.455) in § 244 II-V StPO Gesetz geworden ist. 16 Pars pro toto: RGSt. 61, 202, 206 (vgl. Fn. 17); BGHSt. 10, 208, 209 = JR 1957, 368 m. Anm. Eb. Schmidt; Dohna (Fn. 5), S. 97 (Uberzeugung als Ziel des Beweises „kann nie den Grad absoluter Gewißheit erreichen"); Herdegen, Bemerkungen zur Beweiswürdigung, NStZ 1987, 193, 198; Meurer, Beweiswürdigung, Uberzeugung und Wahrscheinlichkeit, in: FS Tröndle 1989, S. 533, 547. Zu Ulimann s. Fn. 12. - Gleiches meinen Hinweise in stand. Rspr. auf die Irrelevanz rein „abstrakt-theoretischer" Zweifel bzw. Möglichkeiten anderen faktischen Geschehens (ζ. B. RG DRZ 1927 Nr. 964; 1928 Nr. 236; JW 1928, 116 m. Anm. Mannheim; JW 1929, 862, 863 f m. Anm. Alsberg; BGH NJW 1951, 83 u. 122; BGHSt. 10, 206, 211; BGH NStZ 1982, 478,479; 1984, 180; 1990 [Miebach], 27; MDR 1989, 371); vgl. auch Wimmer, Überzeugung, Wahrscheinlichkeit und Zweifel, DRZ 1950, 390, 402: „Nichtbezweiflung von Bezweifelbarem". 17 Vgl. Hellwig (Fn. 8), S. 442 (S. 443: „Fiktion"); Herdegen, Tatgericht und Revisionsgericht - insbesondere die Kontrolle verfahrensrechtlicher „Ermessensentscheidungen", in: FS Kleinknecht 1985, S. 173, 177 u. 179 (richterliche Uberzeugung „steht für die Wahrheit"). Fundamental RGSt. 61, 202, 206: „Ein ,absolut sicheres' Wissen - demgegenüber das Vorliegen eines gegenteiligen Tatbestandes ,absolut ausgeschlossen' wäre — ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit überhaupt verschlossen. Wollte

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grenzender") Wahrscheinlichkeit18 oder/und (subjektiver) Gewißheit19. Dann aber ist evident entweder der vorausgesetzte durch einen davon

man eine Sicherheit so hohen Grades verlangen, so wäre eine Rechtsprechung so gut wie unmöglich. Wie es allgemein im Verkehr ist, so muß auch der Richter sich mit einem so hohen Grade von Wahrscheinlichkeit begnügen, wie er bei möglichst erschöpfender und gewissenhafter Anwendung der vorhandenen Mittel der Erkenntnisse entsteht. Ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit gilt als Wahrheit, und das Bewußtsein des Erkennenden von dem Vorliegen einer so ermittelten hohen Wahrscheinlichkeit als die Uberzeugung von der Wahrheit". 18 So i. S. eines kantianischen Wahrheitsbegriffs (vgl. Kant [Fn. 7; II; in: Werke IV], S. 687: „Das Fürwahrhalten ist eine Begebenheit in unserem Verstände, die auf objektiven Gründen beruhen mag, aber auch subjektive Ursachen im Gemüte dessen, der urteilt, erfordert. Wenn es für jedermann gültig ist, sofern er nur Vernunft hat, so ist der Grund desselben hinreichend, und das Fürwahrhalten heißt alsdann Überzeugung ..."); RGSt. 61, 202,206(Vgl. Fn. 17; im Anschluß an RGZ15,338,339); 75,324,327; R G J W 1929,862,863; 1930, 761; 1935, 543; BGH MDR 1989, 371; Geyer, Lehrbuch des gemeinen deutschen Strafprozeßrechts, 1880, S.693; Glaser, Handbuch des Strafprozesses, Bd.I, 1883, S.346f, 349; Rupp, Der Beweis im Strafprozeß, 1884, S. 29, 36; Mezger (Fn. 12), S. 159 ff; Gleispacb, Das deutsch-österreichische Strafverfahren, 1919, S. 213; Hellwig (Fn. 8), S. 442, 448, 450; Sauer(Fn. 8), S. 106 f, 151; ders., Grundlagendes Prozeßrechts, 1919,S. 64f, 66 ff; Vincke, Die Gewißheit als hochgradige Wahrscheinlichkeit, GA1973,266,269 ff; Cuypers, Die Revisibilität der strafrichterlichen Beweis Würdigung, 1974, S. 65 ff; Heescher, Untersuchungen zum Merkmal der freien Überzeugung in § 286 ZPO und § 261 StPO, 1974, S. 79 ff, 92 f; Musielak, Grundfragen des Beweisrechts, 2. Teil: Beweiswürdigung, JuS 1980, 427, 428; Rieß (Fn. 5), S.271, 272, 277; Schlüchter, Das Strafverfahren, 2. Aufl. 1983, Rdn. 567; Herdegen (Fn. 16), S. 198; ders. (Fn. 17), S. 175 f, 177,179; Freund (Fn. 8), S. 22-25. Deutlich auch BGHZ 53,245, 256 (Fall „Anastasia"): „absolute Gewißheit" sei nicht gefordert; der Richter dürfe sich „mit einem für das praktische Leben brauchbaren Grad von Gewißheit begnügen . . . , der den Zweifeln Schweigen gebietet, ohne sie völlig auszuschließen". Dazu schon Feuerbach (Fn. 10), S. 123 f: „Jede historische Gewißheit, so wie die moralische, nach welcher wir über menschliche Handlungen entscheiden, i s t . . . zuletzt aus blossen Elementen der Wahrscheinlichkeit zusammengesezt... Je . . . öfter wir das Eine in Begleitung des Andern wahrgenommen haben, je weniger Beispiele des Gegentheils unserer eigenen oder fremden Beobachtung vorgekommen sind, desto höher steigt bei der Gewißheit der einen Thatsache die Wahrscheinlichkeit der andern, bis sie den Grad erreicht, wo sie zur Gewißheit wird, vor welcher alle Wahrscheinlichkeit des Gegentheils schwindet... Allein es gibt keine Wissenschaft, welche die Elemente der Gewißheit... darstellen, und im Allgemeinen bestimmen könnte, wo die Gewißheit, wo die Wahrscheinlichkeit zu finden". 19 Hegelianischer Denkansatz (vgl. Hegel [Fn. 8], § 227 zur Unterscheidung von Tatund Rechtsfrage: „Die erste Seite, die Erkenntniß des Falles in seiner unmittelbaren Einzelheit und seine Qualificirung, enthält für sich kein Rechtsprechen. Sie ist eine Erkenntniß, wie sie jedem gebildeten Menschen zusteht. Insofern für die Qualifikation der Handlung das subjektive Moment der Einsicht und Absicht des Handelnden wesentlich ist, und der Beweis ohnehin nicht Vernunft- oder abstrakte Verstandesgegenstände, sondern nur Einzelheiten, Umstände oder Gegenstände sinnlicher Anschauung und subjektiver Gewißheit betrifft, daher keine absolut objektive Bestimmung in sich enthält, so ist das Letzte in der Entscheidung die subjektive Ueberzeugung und das Gewissen . . . " ) der h. M.; vgl. z.B. RGSt. 72, 156; O L G Celle NJW 1976, 2030 m. Anm. Peters JR 1978, 82; Alsberg (Fn. 16), S. 863; Bohne, Zur Psychologie der richterlichen Uberzeugungsbildung, 1948, S. 19 ff; Küper, Die Richteridee der Strafprozeßordnung und ihre geschichtlichen Grundlagen, 1967, S. 294-298 m. zahlr. Nachw.; Henkel (Fn. 9), S. 351; Peters, Strafprozeß, 4. Aufl.

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diversen Wahrheitsbegriff substituiert oder lediglich „Wahrheitsnähe" in qualitativ minderwertigeren Maßprinzipien gefordert, ohne daß dargetan oder ersichtlich ist, wie jenes /-erkenntnistheoretische Argument, außerjuristisches Handeln und Entscheiden zu legitimieren sicherlich geeignet20, ohne weiteres auch recAisgenügend dem Sein folgendes Sollen - positiv - begründen könnte. Somit ist die postulierte Prämisse ontologischer Wahrheit in Frage zu stellen; dazu zwingt weitere interne Kritik. aa) „Objektive Wahrscheinlichkeit" und „subjektive Gewißheit" sind weder je für sich noch miteinander verknüpft21 taugliche Maßkriterien prozessualer Wahrheit. (1) Objektive Wahrscheinlichkeit: Wo Wahrscheinlichkeit, wie hoch quantifiziert auch immer, umschlägt in Wahrheitsqualität, ist nicht begründbar: £w/>zVzsc/?-erkenntnistheoretisch weder mittels Häufigkeitsskaldierungen von Erfahrungswerten des Alltags oder der Statistik22

1985, S. 298 ff; Krauß, Das Prinzip der materiellen Wahrheit im Strafprozeß, in: FS Schaffstein, 1975, S. 411, 425; Käßer, Wahrheitserforschung im Strafprozeß, 1974, S. 44 ff; Walter, Freie Beweiswürdigung, 1979, S. 133 ff; Fezer, Strafprozeßrecht II, Jur. Studienkurs, 1986, 17/41; YLK.(2.)-Hürxthal, §261 Rdn.2; Kleinknecht/Meyer, StPO, 40.Aufl. 1991, §261 Rdn. 2; Prutting, Grundprobleme des Beweisrechts, JA 1985, 313, 315-320. Grundlegend RGSt. 66,163,164 („Objektive Wahrheit ist nur gedanklich vorstellbar. Ihr Nachweis durch menschliche Erforschung und Erkenntnis ist begrifflich unmöglich, weil diese als an die erkennende Person gebunden von Natur subjektiv, also relativ sind . . . Auch dem Richter ist deshalb die Findung absoluter Wahrheit verschlossen; auch er vermag sich nur . . . zu einer für sein richterliches Gewissen gültigen, also subjektiven oder relativen Wahrheit, nämlich zur richterlichen Überzeugung durchzuringen") und-im Anschluß an BGH GA 1954, 152, 153 - BGHSt. 10, 208, 209 (es komme allein darauf an, „ob der Tatrichter die Uberzeugung von einem bestimmten Sachverhalt erlangt hat oder nicht; diesepersönliche Gewißheit ist für die Verurteilung notwendig, aber auch genügend. Der Begriff der Uberzeugung schließt die Möglichkeit eines anderen, auch gegenteiligen Sachverhaltes nicht aus; vielmehr gehört es gerade zu ihrem Wesen, daß sie sehr häufig dem objektiv möglichen Zweifel ausgesetzt bleibt. Denn im Bereich der vom Tatrichter zu würdigenden Tatsachen ist der menschlichen Erkenntnis bei ihrer Unvollkommenheit ein absolut sicheres Wissen über den Tathergang, demgegenüber andere Möglichkeiten seines Ablaufs unter allen Umständen ausscheiden müßten, verschlossen"). Vgl. schon Köstlin (zit. nach Küper aaO, S.221, 226): das Urteil müsse „innerste Uberzeugung des Richters zu seinem letzten Fundamente haben". Verf. (Fn.2), S.70f. Im Sinn „hochgradiger Wahrscheinlichkeit überkreuzt mit subjektiver Nichtbezweiflung": Rieß (Fn.5), S.271, 277; Herdegen (Fn. 17), S. 179; den., Grundfragen der Beweiswürdigung, in: Die revisionsgerichtliche Rechtsprechung der Strafsenate des BGH, 1986, S. 106, 115; Küper (Fn.19), S.295; Schlüchter (Fn.18), Rdn. 567; Roxin, Strafverfahrensrecht, 22. Aufl. 1991, § 15 C II 1 a; Neumann, Die Abgrenzung von Rechtsfrage und Tatfrage und das Problem des revisionsgerichtlichen Augenscheinsbeweises, GA 1988, 387,400. Vgl. bereits Peters (Fn. 19), S.298: „Grundsatz der objektiv-subjektiven Beweiswürdigung". 22 Vgl. - insbes. zu zivilprozessualen Beweislastentscheidungen - Kegel, Der Individualanscheinsbeweis und die Verteilung der Beweislast nach überwiegender Wahrschein20 21

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(zumal aus zusammentreffenden hohen Wahrscheinlichkeiten wiederum nur - wenn auch höhere - Wahrscheinlichkeit folgt), noch mit Hilfe kreisschlüssiger Leerformeln 23 , daß Wahrscheinlichkeit so hoch sein müsse, daß die Annahme des Gegenteils „unvernünftig" wäre 24 , daß sie „in die Nähe einer für jeden Verständigen anzunehmenden Gewißheit rückt", „als vertretbar akzeptabel erscheint" bzw. „daß deren Bezweiflung . . . als unvertretbar im Sinne eines höchstwahrscheinlich mit der Realität nicht übereinstimmend bezeichnet werden kann" 25 , wie generell auch nicht am Maßstab „intersubjektiver" 26 Akzeptanz bzw. Überzeugungskraft27 für einen „besonnenen Beobachter" 28 , „vernünftigen", „gewissenhaften", „lebenserfahrenen" Beurteiler 29 , weil derartige idealtypische Maßfiguren weder empirisch noch normativ existieren und „Intersubjektivität" nur (mögliche) Folge, nicht aber Voraussetzung wahrer Aussagen sein kann 30 ; so wird denn auch von kompetentester Seite eingeräumt, daß für den „Begriff der hochgradigen Wahrscheinlichkeit . . . ein exakteres Explikat noch nicht gefunden worden ist" 31 . Auch normativ ist jener qualitative Sprung nicht nachweisbar etwa als

lichkeit, 1967, S. 321 ff; R. Schreiber, Theorie des Beweiswertes für Beweismittel im Zivilprozeß, 1968, S. 41; Maassen, Beweismaßprobleme im Schadensersatzprozeß, 1975, S. 5 ff, 32 ff, 51; Bender/Röder/Nack, Tatsachenfeststellung vor Gericht, Bd. 1,1981, S. 174,177 f, 193 ff, 199; Mötsch, Vom rechtsgenügenden Beweis, 1983. Ferner Cuypers (Fn. 18), S. 80 ff; Käßer (Fn. 19), S.41 ff, 44ff. - Abi.: Greger, Beweis und Wahrscheinlichkeit, 1978, S. 94-113; Walter (Fn. 19), S. 173-189; Prutting (Fn. 18), S. 315-320. 23 Zutr. Freund (Fn. 8), S. 77 f: „begriffliche Leerformeln". 24 So z.B. Geyer (Fn.18), S.693; Hellwig (Fn.18), S.450. 25 So etwa Rieß (Fn.5), S.272, 273. 26 Zur grundsätzlichen Untauglichkeit der „Intersubjektivität" als Wahrheitskriterium vgl. Verf. (Fn. 2), S.73f. 27 Nowakowski, Reform der Rechtsmittel im Strafverfahren, Gutachten, in: Verh. des 2. ÖJT 1964, Bd. I, S. 6ff, 16f, 22, 61 f; Moos (Fn. 13), S. 103; Steininger, Die Kontrolle der Tatfrage im schöffengerichtlichen Verfahren - Geschichte, Gesetz, Praxis, Reform, 1989, S. 359, 360. 28 BGH VRS 39 (1970), S. 103. 29 Sauer (Fn.18), S. 76 f, 85; Döhring, Die Erforschung des Sachverhalts im Prozeß, 1964, S. 449, 466 ff; Heescher (Fn.18), S.65; ähnlich Musielak (Fn.18), S.429. Vgl. auch Herdegen (Fn. 16), S. 198 (Erfordernis der intersubjektiven „Diskutierbarkeit" und „Einsehbarkeit [.Gültigkeit'] für den Sachkundigen"); ders. (Fn. 17), S. 177 (Tatsachen und Tatsachenzusammenhänge, „die intersubjektiv - jedem nach rationalen Kriterien die Wahrheitsfrage prüfenden Subjekt - das Bewußtsein eines hohen Grades von Wahrscheinlichkeit vermitteln"); Moos (Fn. 13), S. 103 („Ab einem gewissen Erkenntnisstand kann es . . . nicht auf die subjektive Vernunft des Richters, sondern nur darauf ankommen, was allgemein von einem erfahrenen und einsichtigen Menschen unter den konkreten Umständen für vernünftig gehalten wird, oder mit anderen Worten, was intersubjektiv überzeugt"). 30 31

Verf. (Fn. 2), S. 74. Herdegen (Fn. 16), S. 199.

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„Legitimationsfrage" für ein „Fehlurteilsrisiko", einer „Verurteilung trotz bestimmter Zweifel" bzw. „welche Bedingungen des absolut verbürgten Erfassens der materiellen Wahrheit bei einer Verurteilung außer Betracht bleiben dürfen und welche nicht" 32 ; denn diese Konzeption setzt ebenfalls eine von Wahrheit diverse Wahrscheinlichkeit voraus 33 , ohne das nicht hinwegdiskutierbare, auch hier fragliche Maß empirischer Wahrscheinlichkeit als „Wahrheit" definieren zu können. (2) Subjektive Gewißheit: Auch sie ist weder empirisch noch normativ Bedingung für (Gegenteiliges zu behaupten implizierte eine petitio principii), sondern nur (mögliche) Folge von - anderweitig gegründeter — „Wahrheit" als „die innere Zustimmung des Urteilenden zu dem gedanklich als richtig erkannten Ergebnis" 34 i. S. eines „persönlichen Evidenzerlebnisses" 35 . Der psychologische Befund, daß persönlichkeitsgebundene36, irrational-dezisionistische 37 , gefühlsmäßige38 Komponenten die Uberzeugung, verstanden als subjektive Gewißheit, mitkonstituieren, disqualifiziert sie, logisch-empirische Wahrheit zu begründen 39 , Rechtsentscheidungen zu legitimieren40. Prozessuale Wahrheitsfindung

So Freund (Fn. 8), S.26, 57, 58, 71. Daß unter Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten das „Fehlurteilsrisiko" tolerabel sei, sofern in concreto die Entscheidung „eindeutig höherrangigen Wert" gegenüber einer „Inkaufnahme der Verurteilung eines möglicherweise Unschuldigen" (Freund [Fn. 8], S. 67) dann habe, wenn vom Angeklagten „von Rechts wegen zu verantworten" sei, daß „die ,Tatsachenfeststellung' mit der geschehenen Wirklichkeit nicht übereinstimmt" (aaO, S. 70), überzeugt nicht, weil damit die verfassungs- und prozeßrechtlich verbürgte Mitwirkungsfreiheit des Angeklagten bei der Wahrheitsfindung konterkariert würde. 34 Alsberg (Fn. 16), S.863. Ebenso Greger (Fn.22), S.36; Herdegen (Fn. 17), S. 177 („innerliche Bejahung des . . . gefundenen Ergebnisses"). 35 Fezer (Fn. 19), 17/41. Vgl. auch Bohne (Fn. 19), S.42: „Durchdrungensein von der Gültigkeit eines Urteils, die innerlich festgegründete Bestimmtheit des Denkwillens, der sich der logischen Zustimmung (Beifall, Synkathesis) nicht erwehren kann infolge unmittelbarer und mittelbarer Evidenz"; Küper (Fn. 19), S. 296: „gesamtpsychischer Erlebnisvorgang" . 36 Mezger (Fn. 12), S.43ff, 159 ff; Bohne (Fn. 19), S. 55 ff, 76 ff; Engisch (Fn. 12), S. 94ff; Krause (Fn.5), S. 54; Müller-Dietz, Der Wahrheitsbegriff im Strafverfahren, in: Zeitschrift f. evang. Ethik, 1971, S.257, 262; Fezer (Fn. 19), 17/40. 37 Alsberg (Fn. 16), S.863; Rieß (Fn.5), S.265; Küper (Fn. 19), S.296 m.w.Nachw.; Herdegen (Fn. 16), S. 197; ders. (Fn. 17), S. 174. 38 Greger (Fn.22), S. 19; Fezer (Fn. 19), 17/40; Moos (Fn. 13), S. 105. 39 Lebenserfahrung, Intuition, Vorverständnisse etc. können nur Mittel sein, im Rahmen der Beweiserhebung (§244 II StPO: Aufklärungspflicht) die erforderlichen Erkenntnisquellen heranzuziehen und zweckdienlich auszuschöpfen, nicht aber Maßstäbe sachgerechter Beurteilung und Würdigung (§261 StPO). 40 Herdegen (Fn. 17), S. 174. Vgl. bereits Jarcke (Fn. 12), S. 100 („Welche Garantie hat der Mensch für die Richtigkeit seines Urtheils, oder dafür, daß sein Fürwahrhalten mit der Wahrheit übereinstimme? . . . Die einzige Garantie dafür kann nur in den Gründen liegen; sie kann namentlich nicht in der Uberzeugung selbst liegen, sonst hätte der Mensch bei sich 32

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als z w a r rational u n d rechtlich nicht verifizierbarer, letztlich aber e n t scheidender Persönlichkeitsakt w ä r e insoweit eine rechtsstaatlich u n e r trägliche A n m a ß u n g . Rechtsstaatlich u n v e r z i c h t b a r d e n n o c h ist solche „ U b e r z e u g u n g " in a n d e r e m Sinn: aus Gründen41.

„Wahrheit"

-

rechtlich-verantwortungsethischen

jedenfalls zu L a s t e n D r i t t e r -

darf

nicht

b e a n s p r u c h e n , w e r selbst „ u n w a h r h a f t i g " ist 4 2 ; seinem eigenen G e w i s s e n z u folgen hat der R i c h t e r für sich selbst das R e c h t ( A r t . 1 1 , 2 1 G G ) 4 3 , g e g e n ü b e r D r i t t e n die Pflicht 4 4 . Schließlich ist „ U b e r z e u g u n g "

kein

und bei andern nur zu untersuchen, ob er oder ob der andere überzeugt sey . . . " ) und Mittermaier (Fn. 7), S. 69, 70 (kein genügendes Wahrheitskriterium sei rein subjektives „Fürwahrhalten", in dem „wir etwas für wahr annehmen, ohne uns entweder der Gründe dafür deutlich bewußt zu sein oder ohne völlig zureichende Gründe zu haben"). Ferner: C. Schmitt, Gesetz und Urteil, 2. Aufl., 1969, S. 98 („... ein Kriterium der Richtigkeit kann keine psychologische Analyse liefern"); Klug, Juristische Logik, 4. Aufl. 1982, S. 3 (es ist „von Wissenschaft nicht mehr zu reden" und kann „keine sinnvolle Diskussion geben, . . . wo nur noch der Austausch von Stimmungen, Emotionen und Gefühlen möglich ist"); Freund. (Fn. 8), S.52f, 54. 41 Küper (Fn. 19), S.297; Volk (Fn. 10), S. 8f, 12, 18 („Element normativer Legitimation von Entscheidungen"); Herdegen (Fn. 16), S. 197. 42 Zur (subjektiven) „Wahrhaftigkeit" vgl. Spendel (Fn. 1), S.465; Käßer (Fn. 19), S. 41 ff; Herdegen (Fn. 17), S. 175 („Wer ernsthaft etwas behauptet, verbürgt sich für die Wahrheit des Behaupteten . . . Mit dem Urteil gibt der Tatrichter . . . die Versicherung ab, daß er selbst an die . . . Behauptung glaubt, die Feststellung für wahr und geeignet hält, auf sie den Urteilsspruch zu stützen . . . " ) . In gleichem Sinn bereits v. Wiek, Zur Theorie des Indicienbeweises, NACrR 1852, 468, 474 (Bei der Beurteilung der richterlichen Entscheidung sei zu fragen: „hat der Richter selbst als wahrhafter Zeuge gesprochen? D.h. hat er das, was vor Gericht ausgesagt ist, treu und unentstellt seinem Urtheile untergelegt, und hat er seine Ueberzeugung wirklich so ausgesprochen, wie er sie in sich trägt? In beiden Beziehungen ist der Richter nichts als Zeuge"). 43 Zur Handlungsverantwortung vor der Gewissensinstanz vgl. nur RGSt. 66, 163, 164 (zit. in Fn. 19); BGHSt. 10, 208, 209 (vgl. bereits Fn. 19; und: „Es ist . . . die für die Schuldfrage entscheidende, ihm allein übertragene Aufgabe des Tatrichters, . . . nur seinem Gewissen verantwortlich zu prüfen, ob er die an sich möglichen Zweifel überwinden und sich von einem bestimmten Sachverhalt überzeugen kann oder nicht"); BVerfG NJW 1991, 2893 f (nahezu wortgleich wie BGH aaO); v. Hippel (Fn. 10), S. 100 („Überzeugung" des Richters, daß er „die Tat nach seinem Wissen und Gewissen als feststehend erachtet"); Lampe, Richterliche Uberzeugung, in: FS Pfeiffer 1987, S. 353, 368 (subjektive Gewißheit als „Maßstab, an dem der Richter sich selbst ,vor seinem Gewissen' messen kann"); Herdegen (Fn. 17), S. 178 („In der Anerkennung des subjektiven Moments liegt die Respektierung der Persönlichkeit des Richters"). Dazu auch schon Ψ. Endemann, Die Beweislehre des Civilprozesses, 1860, S. 639 („Kein Gesetz, selbst wenn es Entscheidungsgründe anbefiehlt, kann verhindern, daß trotzdem flüchtig oder gewissenlos verfahren wird. In letzter Instanz hängt Alles von dem Geist der Rechtsprechung ab, den das positive Gesetz weder zu schaffen, noch zu hindern vermag"). 44 Vgl. den Richtereid nach § 38 DRiG ( „ . . . nach bestem Wissen und Gewissen . . . zu urteilen . . . " ) ; Kiiper (Fn. 19), S.297. Auch Hegel (zit. in Fn. 19); v.Savigny, Ueber Schwurgerichte und Beweislehre im Strafprozesse, GA 6 (1858), S. 469, 476 („Die Gewähr für die Wahrheit des Unheils über die Thatfrage ist . . . darin zu suchen, daß der

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Tatbestandsspezifikum des §261 S t P O , sondern notwendige Bedingung jeder Rechtsentscheidung, deren Richtigkeit (bzw. Wahrheit) der, welcher Recht spricht, sich persönlich sicher sein muß. (3) Die Kombination zweier je für sich untauglicher Kriterien könnte „Wahrheit" konstituieren, käme dieser Verbindung über ein quantitatives Mehr hinaus eine kategorial neue Qualität zu 45 . Welches Verifikationskriterium diesen Sprung zu leisten vermöchte, ist weder dargetan noch erkennbar. bb) Prozeßdogmatisch unlösbar widerspricht eine ontologisch-materiell begriffene „Wahrheit" (§§244 II, 261 S t P O ) dem Verfahrensziel eines „gerechten" (Sach-)Urteils. Das „Fehlurteil" ist prozeßimmanent vorprogrammiert, weil angesichts faktisch und rechtlich begrenzter Erkenntnismöglichkeiten 46 - prinzipiell notwendig - die Wirklichkeit als Entscheidungsbasis ganz oder teilweise verfehlt wird. Zu Versuchen, das „unrichtige Sachurteil als Zentralproblem der allgemeinen Prozeßrechtslehre" 4 7 unter jener Wahrheitsprämisse zu legitimieren, läßt sich streiten nur darüber, welche der jeweils unzureichenden Begründungen die weniger schlechte ist 48 : Nach (gegenwärtig kaum noch vertretener) „materieller Rechtskrafttheorie" verändert das einen Unschuldigen verurteilende oder einen Schuldigen freisprechende Urteil rechtskonstitutiv die materielle Rechtslage; gemäß „prozessualer Rechtskrafttheorie" (h. M.) ist das die materielle Rechtslage nur deklaratorisch feststellende Urteil, falls sachlich unrichtig, zwar „rechtswidrig", soll aber dennoch den unschuldig Verurteilten gem. herrschender, allerdings nach Spendeis Kommentierung des § 3 2 StGB in Frage zu stellender Meinung ausnahmslos ohne Notwehrrecht verpflichten, die Vollstreckung zu dulden 49 .

2. Normativer

Begriff semantischer

Wahrheit

a) Grundlegung: Formalrechtlich (unten aa) und rechtsinhaltlich (unten bb) erweist auch externkritisch-prozeßrechtliches Denken es als notwendig, den prozessualen Wahrheitsbegriff neu zu definieren. Urtheilende neben dem unerschütterlichen Willen, der Wahrheit die Ehre zu geben, die erforderlichen Kenntnisse und Fähigkeiten besitze, und daß er davon in besonnener Reflexion Gebrauch mache"). 45 Ablehnend auch Lampe (Fn. 43), S. 368 f. 46 Oben 11 b. 47 Sax, ZZP 67 (1954), S. 21 ff. 48 Vgl. auch Sax, in: KMR-Kommentar zur StPO, 7. Aufl. 1980, Einl.XIII 10. 49 Zur „Rechtswidrigkeit" des Fehlurteils s. Eb. Schmidt (Fn.9), Rdn.275ff, 286; Roxin (Fn. 21), §50 Β 1 3 ; zur Notwehr des „unschuldig" Verurteilten Spendel, Leipz. Komm., 10. Aufl., Bd. 2, 1985, §32 Rdn. 104 ff.

Prozessuale Wahrheit und Revision

697

aa) „Wahrheit" i . S . d . § 2 4 4 II i . V . m . §261 S t P O stellt das Gericht, diese Normen konkretisierend, prozeßhandlungsförmig50 im Vorgang der Überzeugungsbildung durch Beweiswürdigung fest. Denn die „freie Uberzeugung" des §261 S t P O „ist ein Rechtsbegriff" 5 1 , seine Anwendung eine Rechts&uss&ge,. So wenig wie (prozessuale) Wahrheit ist aber auch Recht kein als ontologisch oder axiologisch vorgegeben zu Erkennendes, sondern stets ein in konkret-juristischer Entscheidung Werdendes, zu Schaffendes. Es ist nicht Gegenstands- oder Erkenntnis-, sondern (semantisches) Aussagenprädikat52. Gleiches gilt für die (i. d . R . urteilsförmige) Aussage des Gerichts über Sachverhalt ( § 2 6 7 I I S t P O : „die für erwiesen erachteten Tatsachen") und überzeugungsbildende Beweiswürdigung (§261 StPO): Sie ist (prozessual) wahr, wenn rechtsrichtig und, dies vorausgesetzt, auch dann kein „Fehlurteil" 53 , wenn sie nicht übereinstimmt mit ontologischer Wirklichkeit und ihrer materiellrechtlichen Bewertung 5 4 . bb) Rechtsrichtig ist seine Erkenntnis, falls das Gericht prozeßordnungsgemäß die Unschuldsvermutung widerlegt (Verurteilung) oder als unwiderlegbar (Freispruch, Einstellung) erkennt 55 . Dieser Nachweis prozessualer Wahrheit bedarf rechtlich zureichender Begründung (Art. 103 I G G , § 3 4 StPO). b) Folgerungen: Prozessual-semantische Wahrheit als rechtsrichtige Aussagenverifikation 56 mit prozeßzielbestimmter „Finalstruktur" 57 ist auch im Bereich - prozeßhandlungsmäßiger 58 - Seins-Behauptungen

Ausführlich Verf. (Fn. 14), S.31 Off, 3 1 6 f . v. Hippel (Fn. 10), S. 386, 597, der fortfährt: „Freie Beweiswürdigung bedeutet . . . logische Schlußfolgerung aus gewissenhaft festgestellten Tatsachen. Verstößt eine rechtlich erhebliche Feststellung gegen diese Anforderungen, so beruht das Urteil auf Rechtsirrtum und unterliegt der Aufhebung". 50 51

52 Zum Ganzen Verf. (Fn. 2), S. 56 f, 62 ff, 68 ff, 72 ff. - Vgl. bereits Verf. (Fn. 4), § 244 Rdn. 4—7, 1 9 - 2 2 , 4 3 ; Verf., Rechtsdogmatische Bemerkungen zum Urkundenbeweis in der Hauptverhandlung des Strafverfahrens, JuS 1988, 873, 874.

Verf. (Fn. 52), S . 8 7 4 A n m . 4 . Zudem angesichts der Unschuldsvermutung (Art. 6 II M R K ) die Figur eines (konkreten) Straftäters „im materiell-rechtlichen Sinn" der Rechtsordnung fremd ist; materiellrechtlich gibt es nur die (abstrakt-hypothetischen) Strafnormen. 53

54

Im einzelnen Verf. ( F n . 4 ) , § 2 4 4 R d n . 3 0 2 - 3 1 0 ; Verf. (Fn. 14), S . 3 1 3 - 3 1 6 . Verf. (Fn. 2), S. 72 ff. 57 Müller-Dietz ( F n . 3 6 ) , S . 2 6 1 , 264, 270. 58 Zu Bewertungskategorien für prozessuale Rechtsrichtigkeit vgl. Verf. (Fn. 14), S. 3 1 8 - 3 2 5 . 55

56

698

Rainer Paulus

über Unterstätze konkret-rechtlicher Sollensaussagen rechtlich begründungsbedürftig59 und begründbar60. aa) Der historische Befund ist eindeutig: „Frei" (§261 StPO) nur von abstrakt-generellen, subsumtiv anzuwendenden gesetzlichen Beweiswürdigungsregeln61, sollte das Gericht im Wege nicht mehr rechtlicher Subsumtion, sondern - zuverlässigerer - logisch-empirischer Begründung sich die „Überzeugung" bilden, „Wahrheit" festgestellt zu haben. Als die Errungenschaft des „reformierten Strafprozesses" des ^ . J a h r hunderts62 war „an die Stelle der gesetzlichen Beweistheorie eine wissenschaftliche Beweistheorie getreten"63, eine Beweistheorie aus §261 StPO.

59 Weil „im modernen Rechtsstaat richterliche Entscheidungen niemals unbegründet sein dürfen" (Klug [Fn.40], S. 156). Vgl. schon v. Savigny (Fn.44), S. 491: Entscheidungsgründe „haben eine doppelte Bedeutung; einmal, indem sie die gründliche Erwägung befördern, und sodann, indem sie die Anfechtung des Erkenntnisses durch Rechtsmittel sowie die Prüfung durch den höheren Richter vorbereiten und möglich machen". R. v.Hippel (Fn. 10), S. 362 weist auf den Aspekt des „Vertrauens in die Gerechtigkeit der Strafrechtspflege" und darauf hin, daß man „überzeugen" könne „nicht durch Behauptungen, sondern nur durch Gründe" (zu §267 I I StPO). Schließlich BVerfGE 40, 101, 105; 47, 182, 189; 54, 43, 46; 58, 353, 357: „Die wesentlichen, der Rechtsverfolgung und Rechtsverteidigung dienenden Tatsachenbehauptungen müssen jedenfalls in den Entscheidungsgründen verarbeitet werden" (dazu auch Verf. [Fn. 4], Rdn. 62 vor § 33). Umfassend: Brüggemann, Die richterliche Begründungspflicht, 1971; Lücke, Begründungszwang und Verfassung, 1987. 60 Auch aus diesem rechtlichen Grund darf ein — ganz oder teilweise - irrational gegründetes Evidenzerlebnis „subjektiver Gewißheit" (oben 11 b aa [2]) kein prozessuales Wahrheitskriterium sein. 61 v. Savigny (Fn. 44), S. 485 f: „Der Gesetzgeber . . . vermag keine Regeln aufzustellen, welche . . . die Wahrheit des richterlichen Ausspruchs verbürgen. Die Regeln, wonach der reflektierende Verstand sein Urtheil bildet . . . , beruhen auf Sätzen der Erfahrung und auf Kenntniß der sittlichen und sinnlichen Natur des Menschen. Allerdings kann die Wissenschaft hierin Erfahrungen verbreiten, Prinzipien entwickeln und dem Richter und der Gesetzgebung vorarbeiten . . . Das, was wir Gewißheit einer Thatsache nennen, beruht auf so vielen einzelnen, in ihrer Zusammenwirkung nur dem einzelnen Fall angehörenden Elementen, daß sich dafür gar keine wissenschaftlichen allgemeinen Gesetze geben lassen". 62 Umfassende Nachweise bei Küper (Fn. 19), S. 214—245. 63 Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 11. Aufl. besorgt von K. Zweigert, 1964, S.329.

Prozessuale Wahrheit und Revision

699

Ländergesetzlich normiert 64 und wissenschaftlich anerkannt 65 , war „freie Uberzeugung" Sache allein der Logik, des Verstandes, der Vernunft 66 . Durchgesetzt hatte sich die Auffassung 67 , daß jene Rationalität der

M Glaser, Beiträge zur Lehre vom Beweis im Strafprozeß, 1883, S. 31. Vgl. bereits § 393 PrCrimO (zit. in Fn.8). Nach Einführung der freien Beweiswürdigung: §19 113 des Preuß. Gesetzes v. 17.7.1846 (dazu Ahegg, Betrachtungen über das Gesetz betr. das Verfahren in den bei dem Kammergerichte und dem Criminalgerichte zu Berlin zu führenden Untersuchungen . . . , ACrR 1847, 103ff, 155ff): „Der erkennende Richter hat fortan unter genauer Prüfung der erhobenen Beweise . . . nach seiner freien . . . Uberzeugung zu entscheiden, ob der Angeklagte schuldig oder nicht schuldig sei. Er ist aber verpflichtet, die Gründe, welche ihn dabei geleitet haben, in dem Urteil anzugeben"; §249 12 des Entwurfs der 2PO (heute: §286 I 2 ZPO): „In dem Urteil sind die Gründe anzugeben, welche für die richterliche Uberzeugung leitend gewesen sind". 65 Feuerbach (Fn. 18), S. 121 f („Das Vermögen, . . . über irgend eine Thatsache oder Begebenheit Wahrscheinlichkeit oder Gewißheit zu haben, liegt allein in dem Verstände . . . Gleichwohl kann jedes Erkennen zweifacher Art seyn, entweder ein wissenschaftliches Erkennen, oder ein nicht wissenschaftliches, gemeines. Bei jenem ist sich der Verstand seiner Gründe bewußt, nicht bei diesem"), 140 (der „wissenschaftliche" Verstand „ist erst dann überzeugt, wenn ihn feste Gründe zur Ueberzeugung zwingen"); Jarcke (zit. in Fn.40); Möhl (Fn. 12), S. 283 („geschichtliche" Gewißheit werde hergestellt „durch einen Inbegriff objektiver, die Uberzeugung des Richters bestimmender Gründe"); Mittermaier, Die Mündlichkeit, das Anklageprinzip, die Oeffentlichkeit und das Geschwornengericht ..., 1845, S. 367 („Zur gründlichen Abwägung der Beweise gehört nicht blos Kenntniß der Lebensverhältnisse und der menschlichen Handlungsweise, sondern auch eine Fülle von Erfahrungen über die Gefahren gewisser scheinbar gewichtiger Beweise, ein logischer Geist, welcher die Thatsachen zergliedert und richtige Schlüsse zieht, Uebung in einer scharfen Kritik des Materials . . . " ) ; v. Savigny (zit. in Fn. 61); Arnold, Prüfung der Beweise ohne gesetzliche Beweistheorie, GS 10 (1858), 40, 43 (Beweiswürdigung bedürfe der „Regeln der Logik und der Wahrscheinlichkeit, letztere gegründet auf die Erfahrung"); 'Walther, Lehrbuch des bayer. Strafprozeßrechts, 1859, S. 324 („freie Beweiswürdigung" bedeute „Freiheit, welche . . . sich . . . durch Logik und Erfahrung leiten lässt"); Ortloff, Beweisregeln und Entscheidungsgründe im Strafprozesse, GA 8 (1860), 461, 473 (Forderung einer wissenschaftlich-praktischen Beweistheorie mit „in der vorzugsweisen Berücksichtigung des konkreten Falles mit Beobachtung allgemeiner, aus dem Erfahrungswissen hergenommener Regeln"); Endemann (Fn. 43), S. 4 („Die freie Beweistheorie . . . folgt lediglich dem, was die konkrete Erkenntniß des Stoffs, die praktische Erfahrung und das Denkgesetz dem Gewissen befehlen"), 633 f („Wahrheitsfindung nach freier logischer Ueberzeugung . . . will materielle Wahrheit nach vollständigster, gründlichster Erkenntniß der Wahrheitsgründe in ihrer konkreten Beschaffenheit, vermittelst derjenigen Prüfung, welche das allgemeine Denkgesetz und das Gewissen befehlen, aufsuchen"), 634 f („Die Ueberzeugung soll das Ergebniß einer reinen und gründlichen Verstandesoperation darstellen"); Dollmann, System des bayer. Strafprozessrechts, 1864, S. 91 f („freie Beweiswürdigung" verweise den Richter an die Beobachtung der Gesetze der „Logik und Lebenserfahrung, an eine gewissenhafte Abwägung der Gründe und Gegengründe auf dem Wege der Reflexion").

« Küper (Fn. 19), S.243f; vgl. auch Kant (zit. in Fn. 18). 67 Anders - in der Tradition der „conviction intime" (Art. 342 Code d'Instruction Criminelle v. 1808), verstanden i. S. eines intuitiv-gefühlsmäßigen, subjektivistisch-irrationalen Fürwahrhaltens - ζ. B. Feuerbach (Fn. 18), S. 33 („Da der Ausspruch der Jury blos

Rainer Paulus

700

B e w e i s w ü r d i g u n g der Ü b e r z e u g u n g s b i l d u n g d u r c h B e r u f s r i c h t e r u n d ( L a i e n - ) G e s c h w o r e n e gleichermaßen eigen w a r 6 8 . D e r als s o verstanden von

ihm

vorgefundene

„Grundsatz

der

freien

Beweiswürdigung"

bedurfte für d e n G e s e t z g e b e r „ g e g e n w ä r t i g nicht m e h r der R e c h t f e r t i g u n g ; er liegt allen in neuerer Z e i t ergangenen d e u t s c h e n S t r a f p r o z e ß ordnungen zugrunde"69. D a ß G e s e t z g e b e r u n d lex lata in §267

I StPO

(in S. 2 sogar n u r

instruktioneile Sollvorschrift 7 0 ) auf f o r m a l e Dokumentation w ü r d i g u n g s v o r g a n g s in Urteilsgründen

des B e w e i s -

v e r z i c h t e n 7 1 , spricht, genau bese-

hen, nicht gegen, s o n d e r n geradezu für rechtlich g e f o r d e r t e jedenfalls inhaltliche

Rationalität

bezweckte § 2 6 7

gerichtlicher

Uberzeugungsbildung.

Insoweit

I S t P O ursprünglich nicht, eine D a r l e g u n g s -

bzw.

B e g r ü n d u n g s p f l i c h t ( r u d i m e n t ä r ) z u statuieren, s o n d e r n die in § 3 4 S t P O - auch f ü r U r t e i l e - n o r m i e r t e 7 2 z u suspendieren v o r allem 7 3 aus z w e i p r o z e s s u a l e n G r ü n d e n . Erstens die Anfechtungsirzge: Beweisergebnisse,

ζ. Z . gesetzlicher B e w e i s t h e o r i e n

Bewertung der Rechtsfrage,

war

durch subjectives Fürwahrhalten bestimmt werden soll, sind die Geschwornen wegen ihres Ausspruches unverantwortlich. Sie haben kein anderes Gesez als ihr Gewissen, keinen andern Richter als ihr eigenes Bewußtseyn. Ihr Ausspruch gleicht dem Spruche eines Orakels, welcher . . . in seinen Gründen unerforschlich und stets heilig ist"); Köstlin, Der Wendepunkt des deutschen Strafverfahrens im 19. Jahrhundert, 1849, S.25, 33, 120 f; Binding, Grundriss des Gemeinen Deutschen Strafprocessrechts, 1881, S. 132 („Schwurgerichtsurteile stehen „in scharfem Gegensatze zu allen übrigen": sie „können keine Gründe für die Entscheidung der Schuldfrage geben, weil das Verdict ohne solche ergeht"). Zum Ganzen Schwinge, Der Kampf um die Schwurgerichte bis zur Frankfurter Nationalversammlung, 1926, S. 88 ff; Küper (Fn.19), S. 214 ff. 68 Jarcke (Fn. 12), S. 102 f; Mittermaier, Uber den neuesten Zustand der Ansichten . . . über den Indicienbeweis . . . , NACrR 1844, 274, 293 f; den., Uber den Zustand der Strafproceßordnung in Deutschland . . . , NACrR 1854, 120, 134 („Das Geschäft des Urtheilens über die Schuldfrage ist die nämliche geistige Arbeit des Ueberlegens und der Abwägung der Beweise, mögen Staatsrichter oder Geschworne zu urtheilen haben"); Ahegg (Fn. 64), S. 163 f; Glaser (Fn. 64), S. 32; Ulimann (Fn. 12), S. 325; Gleispach (Fn. 18), S.213; Küper (Fn.19), S.225. 69 Motive (Fn. 15), S. 198. 70 Zum „Ordnungscharakter" des §267 12 StPO als Folge aus §261 StPO vgl. Verf. (Fn. 4), §267 Rdn.38. 71 Eine „bedenkliche Wendung, welche die Entwicklung eines gesunden Beweisrechts hindert und der Revisionsinstanz auch die Aufgabe der Gesetzesanwendung erschwert..." (Glaser, Handbuch des Strafprozesses, II, 1885, S. 586 Anm.69). 72 Motive (Fn. 15), S.210. 73 In den späteren Kommissionsberatungen nicht übernommen (vgl. Küper [Fn.19], S.299) wurde die Argumentation (abl. auch v.Kries, Lehrbuch des Deutschen Strafprozeßrechts, 1892, S. 587) der Motive (Fn. 15), S.211, das Gesetz müsse „auf die Forderung verzichten, daß die verschiedenen Richter in den Gründen ihrer Ueberzeugung übereinstimmen . . . Deshalb ist die Forderung, daß die Gerichte die Gründe ihrer Ueberzeugung in dem Urtheil angeben sollen, bei Kollegialgerichten nicht selten geradezu unerfüllbar". Auch für den Gesetzgeber beruhte also die „Uberzeugung" inhaltlich auf „Gründen"!

Prozessuale Wahrheit und Revision

701

n a c h damaliger Auffassung rein faktischer, l o g i s c h - e m p i r i s c h e r gang in m ü n d l i c h - u n m i t t e l b a r e r H a u p t v e r h a n d l u n g in h ö h e r e r I n s t a n z rechtlich u n ü b e r p r ü f b a r 7 4 , dungsbedürftig 7 5 .

Zweitens

das Schwurgericht

geworden,

folglich nicht (Jury) 7 6 :

Vorsomit

begrün-

Naturgemäß

w a r den G e s c h w o r e n e n nicht a b z u v e r l a n g e n , die (inhaltlichen) G r ü n d e für

ihren

-

schon

deshalb 7 7

„Wahrspruch " formal

mit

darzulegen 7 9 ,

Rechtsmitteln

unanfechtbaren 7 8

-

ein prozessuales Defizit d e r J u r y -

Verfassung 8 0 , das a u c h nicht w i r k s a m auszugleichen w a r d u r c h die

-

k a u m praktizierte 8 1 - Befugnis d e r B e r u f s r i c h t e r , g e m . § 3 1 7 a. F . S t P O die „Urtheilsfällung zu v e r s a g e n " , falls „sie ihrerseits d e r U e b e r z e u -

74 Motive (Fn. 15), S.211; RGSt. 2, 136, 138; 3, 51; 3, 250, 251; 4, 313, 314f; 15, 85 f; Feuerbach (Fn. 10), S.33; Glaser (zit. in Fn.71); v. Hippel (Fn.10), S.596. - Vgl. auch die Hinweise der Motive, „daß mit dem Prinzip einer auf mündlicher Verhandlung beruhenden Urtheilsfällung, . . . die nicht auf dem Grunde positiver Beweisregeln, sondern auf einer freien Beweiswürdigung beruht, eine Appellation grundsätzlich unvereinbar ist . . . " (S. 242 f zur Berufung), und „daß dem Revisionsrichter die Beurtheilung des rein Thatsächlichen nicht zusteht . . . " (S.251 zur Revision), insbesondere daß „die rein thatsächliche Würdigung des Straffalls, also namentlich die Würdigung der erbrachten Beweise, von der Thätigkeit des höheren Richters ausgeschlossen bleiben muß. Diese Würdigung ist dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen, und das von diesem festgestellte thatsächliche Ergebniß ist für die höhere Instanz maßgebend, insoweit dasselbe nicht etwa im Wege eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen worden ist. Die Aufgabe des höheren Richters besteht nur in der rechtlichen Beurtheilung der Sache . . . " (S. 250). 75 Vgl. Motive (Fn. 15), S.95 (zu §28 StPO-Entwurf = heute §34 StPO): „Soweit gerichtliche Entscheidungen durch Rechtsmittel anfechtbar sind, bedarf es schon mit Rücksicht auf diese der Angabe der Entscheidungsgründe". 76 Beseitigt durch die „Emminger-Reform" von 1924 und ersetzt durch einen Spruchkörper mit drei Berufsrichtern und sechs Geschworenen. 77 Hier dahinstehen kann, ob der Spruch der Geschworenen mit Rechtsmitteln unanfechtbar schon deshalb sei, weil er „als von dem ganzen Volke selbst erkannt betrachtet" werden müsse (Mittermaier [Fn. 8], S. 395; vgl. auch S. 399). 78 RG (wie Fn.74); Feuerbach (Fn.18), S.33; Glaser (Fn.71), S.586 Anm.69; v.Hippel (Fn. 10), S.596. 79 Feuerbach (Fn. 10), S.205; Endemann (Fn.43), S.638; Binding (Fn.67), S. 132; Ulimann (Fn. 12), S.329; Gleispach (Fn.18), S.213; Schwinge (Fn.67), S. 89; Sarstedt, Beweisregeln im Strafprozeß, in: FS Hirsch 1968, S. 171, 173 f; Krause (Fn.5), S.324; Paeffgen, „Ermessen" und Kontrolle, in: FG K.Peters 1984, S.61, 80. Vgl. auch Hauser, Zur Reform der Rechtsmittel im Strafprozeß, insbesondere der Anfechtung von Tatsachen, OJZ 1981, 533: Beseitigung der klassischen Jury in den Schweizer Kantonen (zuletzt 1980 Freiburg), seit Art. 227 der Schweizer Bundes-StPO v. 1934 eine Begründung kantonaler Urteile verlangt und ein Urteil des Kassationshofs des Bundesgerichts von 1952 (BGE 78 IV 134 ff) dies - zumindest in Form eines detaillierten Fragebogens auch für Schwurgerichtsurteile forderte. 80 81

Vgl. bereits Feuerbach (Fn. 10), S. 135 ff, 140. v.Kries (Fn. 72), S.632.

702

Rainer Paulus

gung" w a r e n , „daß die G e s c h w o r e n e n bei A b g a b e ihres Spruchs z u m Nachtheil des A n g e k l a g t e n sich geirrt haben" 8 2 . bb) Selbst heute n o c h w i r d kaum bezweifelt, daß angesichts §267 12 StPO, einhellig als nicht zwingende S o l l v o r s c h r i f t begriffen, das G e s e t z eine B e g r ü n d u n g d e r Überzeugungsbildung durch B e w e i s w ü r d i g u n g i m Urteil nicht vorschreibe, daß folglich die gleichwohl in der revisionsgerichtlichen Rechtsprechung der letzten ca. 6 0 Jahre 8 3 entwickelten, sehr weitgehenden Begründungsanforderungen 8 4 , deren V e r l e t z u n g die R e v i sion begründen kann, gesetzlicher G r u n d l a g e entbehre 8 5 , sogar als gesetzwidrig abzulehnen 8 6 , zumindest aber Richterrecht praeter legem 8 7 sei, das die Rechtssicherheit beeinträchtige 8 8 . D e m ist entgegenzuhalten: Sedes materiae ist nicht § 2 6 7 1 2 S t P O , sondern sind (wieder) §§261, 34 StPOm. D e n n erstens hat § 2 6 7 1 2 S t P O seine (Begrenzungs-)Funktion mit Beseitigung des J u r y - S y s t e m s 1 9 2 4 v e r l o r e n ; entfällt sein Z w e c k , endet das G e s e t z . Zweitens bedeutet, gesetzgeberischer und auch derzeit

82 Motive (Fn. 15), S.235 (zu §272 des StPO-Entwurfs im Anschluß an Art. 253 Code d'Instruction Criminelle v. 1805). 83 Umfassende Darstellungen bei Hempfling, Die Tatsachen in der Rechtsprechung der Revisionsgerichte in Strafsachen, Diss. 1956, S. 24-51, 67-69; Schmid, Der Revisionsrichter als Tatrichter, ZStW 85 (1973), 360, 361, 365, 370-375; Cuypers (Fn. 18), S. 144-199, 265-307, 326-328, 403-111; Fezer (Fn. 19), 17/57-66 u. 20/19-28; ders., Die erweiterte Revision - Legitimierung der Rechtswirklichkeit?, 1974, S. 51 ff; ders., Möglichkeiten einer Reform der Revision in Strafsachen, 1975, S. 65-94, 97-129, 142-170; Otto, Möglichkeiten und Grenzen der Revision in Strafsachen, NJW 1978, 1, 3-10; Peters, Der Wandel im Revisionsrecht, in: FS K.Schäfer, 1980, S. 137ff; Niemöller (Fn. 13), S.433ff; LR(23.)Meyer, §337 Rdn. 108, 118-135, 143-145; LK(U.)-Hanack, §337 Rdn. 131-179; Maul, Die Uberprüfung der tatsächlichen Feststellungen durch das Revisionsgericht in der neueren Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, in: FS Pfeiffer, 1987, S.409, 411—418. Zur österreichischen Rspr. Steininger (Fn.27), S. 134—175; zur zivilgerichtlichen Judikatur Gottwald, Die Revisionsinstanz als Tatsacheninstanz, 1975. 84 Dazu unten I I 2 a a a und baa. 85 Schmid (Fn. 83), S. 369; Otto (Fn. 83), S. 1; Niemöller (Fn. 13), S. 432; Maul (Fn. 83), S. 419 f. 86 Roxin (Fn.21), §53 DIU3. 87 Rieß (Fn. 5), S. III, 277; Otto (Fn. 83), S. 10; Schünemann, Grundfragen der Revision im Strafprozeß, JA 1982, 71, 73; Paeffgen (Fn. 78), S.78 Anm.75; LR(24,)-Hanack, Rdn. 7 vor § 333; Steininger (Fn. 27), S. 18. 88 LR(24,)-Hanack, Rdn. 5 u. 11 vor §333, §337 Rdn. 130; Fezer (Fn. 19), 20/28. 89 Dazu auch v. Hippel (zit. in Fn. 51). Näher Verf. (Fn. 4), § 267 Rdn. 36-38. Bereits in den „Protokollen der Kommission für die Reform des Strafprozesses", Bd. 1, 1905, S.246f ist eine Ergänzung des §267 I StPO (Angabe auch der „Gründe, weshalb diese Tatsachen für erwiesen erachtet wurden") gefordert, weil erkennbar sein müsse, „ob das Gericht seiner Pflicht zur eingehenden Prüfung und Würdigung der Beweisergebnisse nachgekommen sei und ob die Feststellung der erheblichen Tatsachen auf rechtlich einwandfreien Schlußfolgerungen beruhe".

Prozessuale Wahrheit und Revision

dominierender Auffassung

zuwider90,

703

logisch-empirische

Rationalität

der B e w e i s w ü r d i g u n g n i c h t „ T a t - " , s o n d e r n R e c h t s f r a g e , weil „ A n w e n d u n g " der V e r f a h r e n s n o r m 9 1

des § 2 6 1

StPO:

dieser u n d n u r dieser

(inhaltliche) V o r g a n g ist ( f o r m a l ) z u d o k u m e n t i e r e n in rechtlich ü b e r prüfbaren

Urteilsgründen92;

eine

davon

verselbständigte

„Darstel-

l u n g s - " , „ F e s t s t e l l u n g s - " b z w . „ B e r i c h t s p f l i c h t " 9 3 , auf d e r e n V e r l e t z u n g das — bereits v e r k ü n d e t e - U r t e i l i m übrigen nicht „ b e r u h e n " ( § 3 3 7 I S t P O ) k ö n n t e 9 4 , ist nicht b e g r ü n d b a r . cc) Ist prozessuales Wahrheitskriterium

w e d e r eine „objektive W a h r -

scheinlichkeit" n o c h „subjektive G e w i ß h e i t " ( o b e n 1 1 b), s o n d e r n die prozessuale

Rechtsrichtigkeit

beweiswürdigender

Uberzeugungsbildung

( § § 2 4 4 II, 2 6 1 S t P O ) , so ist die Urteilsaussage ü b e r die „ T a t f r a g e " w a h r ( u n d das U r t e i l rechtsrichtig), w e n n der in ihr behauptete Sachverhalt d u r c h G r ü n d e rechtlich

bewiesen w i r d , d a m i t rechtlich

als „ T a t s a c h e "

i. S. d. § § 2 4 4 II, 2 6 7 1 1 S t P O giW\ die U n s c h u l d s v e r m u t u n g widerlegt 9 6 . D e r rechtsqualitative

M a ß s t a b ist abzuleiten w i e d e r u m aus der F u n k t i o n

des Strafverfahrens 9 7 : G e w ä h r l e i s t u n g sozialer O r d n u n g d u r c h R e c h t s -

90 Zutr. auf §261 StPO abstellend v. Hippel (zit. in Fn.51); Klug (Fn.40), S. 157f; Gössel, Die Nachprüfung von Tatsachenfeststellungen in der Revisionsinstanz in Strafsachen, in: Schlosser u.a., Tatsachenfeststellung in der Revisionsinstanz, 1982, S. 117, 133. Vgl. auch Herdegen (Fn.21), S. 116: „Ich wage die Prognose, daß die Fragen der Beweiswürdigung für die Zukunft des Revisionsrechts von entscheidender Bedeutung sein werden". - Anders die ganz h. M.; vgl. für alle: Rieß (Fn. 5), S. 269; LR(24.)-Hanack, § 337 Rdn. 120 („Verfahrensrechtlich ist der Tatrichter nicht verpflichtet, . . . die Beweiswürdigung im Urteil mitzuteilen"). « Unten I I 2 a b b . 92 Verf. (Fn. 4), §244 Rdn. 40. Vgl. schon Endemann (Fn.43), S.638: „Die freie Beweiswürdigung findet in der Forderung von Entscheidungsgründen keinen Widerspruch . . . " - ebenso Glaser (Fn. 64), S. 31 f; Binding (Fn. 67), S. 132 - „Im Gegentheil hat sie erst, indem sie diesem Erforderniß genügt und stets im weitesten Sinn öffentliche Kritik der Wahrheitsprüfung . . . vor Augen hat, ihre volle Berechtigung". 93 So aber die h.M. (z.B. LR[24,]-Hanack, §337 Rdn. 120ff; Kleinknecht/Meyer [Fn. 93], §337 Rdn.21), wesentlich zurückgehend auf Fezer (Fn. 19), 20/18-32 (pointiert 20/19: „Damit haben sich auf der .Darstellungsebene' weitreichende revisionsgerichtliche Prüfungsmöglichkeiten entwickelt, während die Beweiswürdigung selbst der revisionsgerichtlichen Kontrolle naturgemäß entzogen bleibt"), sowie Reform (Fn. 83), S. 9, 62 ff, 70, 76, 91, 113, 130f, 155f, 170-176 u. öfter.-Zur „Darstellungsrüge" gem. §281 Nr. 5 österr. StPO vgl. Nowakowski (Fn.27), S.22, 27, 29; Moos (Fn. 13), S.97f, 102, 139, 140 (S. 101: es seien „formale Mängel der Darstellung und inhaltliche Mängel der Beweiswürdigung grundsätzlich verschieden"); Steininger (Fn.27), S. 134-175.

Zutr. Fezer (Fn. 19), 20/53 und 20/70. Verf. (Fn.4), §244 Rdn. 21. Der „vom positiven Recht verwendete Tatsachenbegriff ist ein Rechtsbegriff wie jeder andere" (Scheuerle, Beiträge zum Problem der Trennung von Tat- und Rechtsfrage, AcP 157 [1958/59], S. 1, 9). % Oben I2a. 97 Verf. (Fn. 14), S. 313 ff, 315 f. 94

95

704

Rainer Paulus

güterschutz im Wege prozeßförmiger Konkretisierung der (hypothetisch-imperativen Normen materiellen Strafrechts. Deshalb ist für die prozessuale „Wahrheits"-Frage aus ÄecAisgründen keine höhere Erkenntnisqualität zu fordern, als sie im sozialen Leben mit den dort gegebenen Mitteln bestmöglich zu leisten ist98. Konkordanz semantischer und ontologischer „Wahrheit" ist zwar faktisch möglich, aber rechtlich nicht notwendig. Ihr Fehlen verletzt auch nicht den materiell-rechtlichen Schuldgrundsatzdenn angesichts der Unschuldsvermutung ist real-ontologische „Schuld" stets nur hypothetischer Art, im sozialen Leben rechtlich relevant wird „Schuld" erst durch prozeßförmigen Nachweis in einer rechtskräftigen Sachentscheidung100. Daraus folgt: Weil „Überzeugung" (§261 StPO) Rechtsbegriff101 und ihr Gegenstand die Richtigkeit einer Rechtsaussage ist, wird nun auch begründbar, daß trotz in concreto abweichenden faktischen Zweifels bzw. Glaubens das Gericht rechtlich überzeugt sein muß (wenn etwa logisch-mathematische Regeln, Allgemeinkundigkeit102 oder empirisch-wissenschaftlich feststehende Gesetzmäßigkeiten103 eine bestimmte Schlußfolgerung - normativ - erzwingen) bzw. nicht überzeugt sein darf (ζ. B. bei auf Konklusion allein aus einem sonstigen, nicht nomologischen Erfahrungssatz beruhender subjektiver Gewißheit); denn rational zu begründen ist eben eine nicht auf ontologischer Wirklichkeit, sondern auf Rechtsrichtigkeit entscheidungsförmiger „Aussage" bezogene Gerichtsüberzeugung. Und zweitens leuchtet nun ein, daß für Aussagenrichtigkeit rechtsrelevant nicht rein abstrakttheoretische, sondern nur verfahrensgegründete konkret-empirische Argumentationsmöglichkeitenm sein dürfen, die geeignet sind, die Stringenz der Uberzeugungsbildung zu erschüttern und - als Folge

98 Richtig ist daher nur das Ergebnis der Begründung (oben I I b mit Fn. 16), eine „absolute" Wahrheit sei, weil regelmäßig nicht erreichbar, im Strafverfahren auch nicht zu verlangen. 99 Dazu etwa BVerfGE 20, 323, 331; 45, 187, 259; BGHSt. 2, 194, 200f; 10, 35, 38. 100 So i. E. auch Freund (Fn. 8), S. 67 f. 101 Oben I 2 a mit Fn.51. 102 Notorisch sind Individualtatsachen und Allsätze, „welche dergestalt allgemein bekannt sind, daß kein vernünftiger Grund, sie in Zweifel zu ziehen, vorhanden ist" (RGSt. 16, 327, 330 f). 103 Ungenau formuliert die Rspr., daß hier für gegenteilige Uberzeugungsbildung „naturgemäß kein Raum mehr" sei (BGHSt. 10, 208, 211; 29, 18, 21). Bindung an allgemeingültige, nomologische Erfahrungssätze, insbesondere gesicherte wissenschaftliche Erkenntnisse (BGHSt. 6, 70, 72 f; 21, 157, 159; 30, 251, 252 f; B G H NStZ 1990, 232, 233 u. 491, 492; 1991, 481) „ist vielmehr Wesensmerkmal rechtsrichtiger Überzeugungsbildung" (zutr. Μ eurer [Fn. 16], S. 544). 104 Im Ergebnis Gleiches ist gemeint, wenn nach allg. M. nur „vernünftige" bzw. „konkrete" Zweifel die Uberzeugungsbildung hindern können (ausführlich Walter

Prozessuale Wahrheit und Revision

705

dessen - R a u m z u geben einem „reasonable d o u b t " (i. S. u n w i d e r l e g t e r p r o z e s s u a l e r U n s c h u l d s v e r m u t u n g ) an ihrer Richtigkeit 1 0 5 .

II. Revisibilität gerichtlicher Wahrheits-Aussagen 1. Die „Tatfrage" als Rechtsfrage Noch

a) Meinungsstand:

immer

gilt -

gesetzgeberischer

Intention

gemäß 1 0 6 - n a h e z u unbestritten, daß d o g m a t i s c h die „ T a t f r a g e " ( = S a c h verhaltsfeststellung u n d B e w e i s w ü r d i g u n g im U r t e i l ) als prinzipiell

irrevi-

sibel v o n d e r revisionsgerichtlich ü b e r p r ü f b a r e n „ R e c h t s f r a g e " (§ 3 3 7 1 , II S t P O ) a b z u g r e n z e n sei. aa)

Subsumtionstechnische

B e g r ü n d u n g s v e r s u c h e aus § 3 3 7 S t P O - „ V e r -

letzung des G e s e t z e s " , falls „eine R e c h t s n o r m nicht o d e r nicht richtig angewendet

w o r d e n ist" - erscheinen angesichts diverser E i g e n a r t im

Syllogismus 1 0 7

verwendeter

Begriffe

(„rechtliche",

„natürliche")

im

wesentlichen in drei, allerdings nicht exakt t r e n n b a r e n F o r m e n : (1) D e r frühesten, rein logisch-begrifflichen

Unterscheidung

zwischen

f a c t u m ( U n t e r s a t z ) und ius ( O b e r s a t z ) 1 0 8 folgen vergleichbare A n s ä t z e 1 0 9 : T a t s a c h e u n d R e c h t s s a t z k ö n n t e n w e g e n gegenseitiger W e s e n s f r e m d h e i t erst dann vereinigt w e r d e n , w e n n die T a t s a c h e abstrakter und die N o r m

[Fn. 19], S. 88 ff). In Wahrheit geht es jedoch nicht um (psychologische) „Zweifel" (a. M. früher Verf. [Fn. 4], §244 Rdn. 151), sondern um Begründungselemente! 105 Zu einzelnen Begründungselementen unten II 2 b. IM Motive (zit. in Fn. 74); ebenso die Motive zur ZPO (dazu Wach, Die That- und Rechtsfrage bei der Revision im Civilprozeß, JW 1881, 73, 74). 107 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung, Teil II, Buch I Kap.X: „Hingegen liefert den förmlichsten und großartigsten Syllogismus . . . jeder gerichtliche Prozeß. Die . . . Kriminalübertretung ist die Minor . . . Das Gesetz für solchen Fall ist die Major. Das Urteil ist die Konklusion, welche daher, als ein Notwendiges, vom Richter bloß .erkannt' wird". 108 w a c b (Fn. 106), S. 75 f, 76-78; den., Vorträge über die Reichszivilprozeßordnung, 2. Aufl. 1896, S. 285 ff; Stein, Das private Wissen des Richters, 1893, S. 13, 107 ff; Birkmeyer, Deutsches Strafprozessrecht, 1898, S. 712; v. Kries (Fn. 73), S. 295; Beling, Bindings Lehre von der Abstimmung im Strafgericht, ZStW 37 (1916), S. 365, 381. 109 Abi. Radbruch, Rechtsidee und Rechtsstoff, ARSP 17 (1923/24), S.343, 347, 349: „Bei der Rechtsanwendung wird die mittels sozialer Begriffe vorgeformte Gegebenheit den diesen Begriffen nachgebildeten Tatbestandsbegniien subsumiert. So erscheinen übereinstimmende Begriffe bei der Beantwortung der Tat- und bei der Beantwortung der Rechtsfrage, es wird zu einer Sache des Beliebens, ob man die Anwendung solcher Begriffe als tatsächliche Feststellung oder als rechtliche Würdigung aufmacht, und die auf diesem Gegensatz gegründete Unterscheidung von Berufung und Revision erweist sich . . . als . . . undurchführbar".

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konkreter gestaltet worden sei 110 ; der in diesem Individualurteil („aktuelles Sein") gedachte Sachverhalt sei ohne „Trennungskomplikationen" 1 1 1 unter in Begriffsurteilen gedachte Rechtsbegriffe („potentielles Sein") subsumierbar 1 1 2 ; setze der in „reine" Tatsachen bezeichnende Begriffe aufzulösende „ O b e r s a t z " voraus, „daß gewisse normative Vorstellungen vorliegen", so sei es „Rechtsfrage", welchen Inhalts jene normativen Vorstellungen sein müssen, dagegen „Tatfrage", ob diese Vorstellungen in der Laiensphäre auch tatsächlich vorgelegen haben 113 ; unter „Berücksichtigung der Entwicklungen und Resultate der modernen Logik, analytischen Sprachphilosophie und Wissenschaftstheorie" 1 1 4 seien Rechts- und Tatfrage abgrenzbar bei Betrachtung der Sätze, die eine logische Ableitung des konkreten richterlichen Urteils gestatten, nämlich Rechtssätze einerseits und faktisches Geschehen (bzw. Zustände) beschreibende Sätze andererseits 115 . (2) Erkennend, daß bereits in die Feststellung von Tatsachen (etwa bei Prüfung ihrer Relevanz oder ihrem Begreifen „als" etwas) Wertungen einfließen, unterscheidet ein zweiter Lösungsansatz zwischen Tatsachenfeststellung als Ermittlung des Objekts der richterlichen Beurteilung und Tatsachenbewertung als „alles, was nicht Tatsachenfeststellung ist" 1 1 6 , zwischen kognitivem Tatsachenurteil (Faktenerkenntnis) und dezisiver

Sauer (Fn. 18), S . 6 2 f . ' » D a z u Scheuerle ( F n . 9 5 ) , S. 42-73. 112 Scheuerle ( F n . 9 5 ) , S . 2 0 f f , 3 6 f f , 41, 7 2 f . 1,3 Zippelius, Einf. in die jur. Methodenlehre, 1971, S. lOOf. 114 G r u n d l e g e n d Rüßmann, Z u r A b g r e n z u n g von Rechts- und Tatfrage, in: K o c h ( H r s g . ) , J u r . Methodenlehre und analytische Philosophie, 1972, S. 242, 243. Ihm folgend Kuhlen, D i e Unterscheidung v o n Rechts- und T a t f r a g e und ihre Bedeutsamkeit für das Strafprozeßrecht, in: B u r g m a n n / F ö g e n / S c h m i n c k ( H r s g . ) , C u p i d o L e g u m , 1985, S. 99, 101-105; Neumann ( F n . 2 1 ) , S. 3 8 9 f f , 393 ff. - Ähnlicher A n s a t z bei Nierwetberg, D i e Unterscheidung v o n Tatfrage und Rechtsfrage, J Z 1983, 237: die Unterscheidung zwischen „Sachverhalt als G e s c h e h e n " u n d „Sachverhalt als A u s s a g e " (S. 238), also zwischen „sprachlich-begrifflichem" und „außersprachlichem" Bereich bilde die „theoretische Grenzlinie zwischen T a t - und R e c h t s f r a g e " (S. 240). 110

115 Rüßmann (Fn. 114), S. 261. U n d weiter: Wenn nicht das faktische Geschehen mit Begriffen beschrieben werde, die auch schon z u r N o r m f o r m u l i e r u n g verwendet worden sind, seien weiterhin notwendig beteiligt Sätze über die Sprache - semantische Regeln - , welche die Begriffe der Rechtssätze mit denen der das faktische Geschehen beschreibenden Sätze s o verbänden, daß eine Ableitung des konkreten richterlichen Urteils möglich werde. D i e Rechtssätze und die Sätze der Sprache unterfielen der R e c h t s f r a g e n - K o m p e t e n z des Revisionsgerichts. Allein die Wahrheit der Sachverhaltsschilderung sei ihr entzogen (S. 261), jedoch auch insoweit nur „bei den singulären empirischen Sätzen über Begebenheiten, die von den Instanzgerichten selbst beobachtet w o r d e n s i n d " , w o z u nicht die A n w e n d u n g von Erfahrungssätzen zähle (S. 269). 116 Mannheim, Beiträge zur Lehre von der Revision wegen materiell-rechtlicher Verstöße im Strafverfahren, 1925, S . 4 0 f , 61 ff.

Prozessuale Wahrheit und Revision

707

rechtlicher Faktenbewertung als „willensmäßig neue Schöpfung" 1 1 7 , zwischen Wirklichkeit und Werturteil 118 . (3) Die Möglichkeit exakter rechtslogischer Abgrenzung von „Tat-" und „Rechtsfrage" wird grundsätzlich bejaht mit Begründungen wie: „Tatsachenfeststellung" habe es „mit der Existenz von ,wirklichkeitsartigen' Gegenständen zu tun, deren Vorhandensein letztlich auf Grund von Wahrnehmung festgestellt" werde, die Subsumtion drehe „sich dagegen um die Gleichsetzung des konkreten Falles mit den vom gesetzlichen Tatbestand gemeinten Fällen auf Grund von Wertung oder Erfahrung" 1 1 9 , und die „Subsumtion eines real gesetzten konkreten Sachverhalts unter einen Begriff" könne gedeutet werden „als die Einordnung dieses Sachverhalts, des ,Falles', in die Klasse der durch den Rechtsbegriff bzw. den abstrakten Tatbestand des Rechtssatzes bezeichneten Fälle" 120 , wobei „nichts Konkretes mit Abstraktem, sondern Konkretes mit Konkretem verglichen" werde 121 ; oder: angesichts des „Gebots logisch-begrifflicher Trennung" bestimme sich „die Unterscheidung von Tatsachenfeststellung und rechtlicher Würdigung nach der Herkunft des jeweils vom Richter angewandten faktischen oder rechtlichen Obersatzes" 1 2 2 ; oder: eine rechtliche Würdigung liege „immer dann vor, wenn unter Rechtsbegriffe (d.h. unter im Rahmen der Umgangssprache verwendete Ausdrücke) subsumiert wird" 1 2 3 . Diese dritte Auffassung räumt jedoch eine allerdings nur rechtspraktische — Untrennbarkeit ein für „Gesamtsituationen", in denen auf Unwägbarkeiten komplexer persönlicher, unmittelbarer Eindrücke beruhende, bewertend-intuitiv getroffene tatrichterliche Feststellungen sprachlich nicht mitteilbar seien 124 . bb) Revisionsrechtliche Ableitungen, die eine rechtslogisch-begriffliche Lösung für undurchführbar erachten 125 und Wesen/Zweck der Revision als Trennungskriterium heranziehen, gehen in zwei Richtungen 126 : Mezger (Fn. 12), S. 84 ff, 175 ff. Pohle, Revision und neues Strafrecht, 1930, S . 2 6 f f , 33 ff, 43 ff. 119 Engisch (Fn. 12), S. 82 ff, 102 ff, 113. 120 Engisch, Einführung in das juristische Denken, 7. Aufl. 1977, S. 56. 121 Engisch (Fn. 120), S. 199 A n m . 4 3 . 122 H.-E. Henke, Die Tatfrage, 1966, S. 139-147, 308. 123 Roxin (Fn.21), §53 D I U 1; ebenso Schünemann (Fn. 87), S. 74. 124 Engisch (Fn. 12), S . 1 0 2 f , 113; Henke (Fn. 122), S.308 i . V . m . S. 177-187; Frisch, Revisionsgerichtliche Probleme der Strafzumessung, 1971, S. 234 f. 125 Vgl. bereits Radbruch (zit. in Fn. 109). 126 Ahnliche Ergebnisse, im einzelnen jedoch abweichende Begründungen bei Kuchinke, Grenzen der Nachprüfbarkeit tatrichterlicher Würdigung und Feststellungen in der Revisionsinstanz, 1964, insbes. S. 124,132 (zusammenfassend S. 223): Unterscheidungskriterium sei die „funktionelle Bedeutung einer Feststellung im Rahmen eines richterlichen Beurteilungszusammenhanges". D a aber jede Feststellung und Frage irgendwie auf die 117 118

708

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(1) Eine Auffassung sieht - für die Sachrüge - den Zweck der Revision primär darin, Rechtseinheit zu schaffen und das Recht fortzubilden. Daher habe „sich der Revisionsrichter nur mit demjenigen Teil des Urteils der Vorinstanz zu befassen . . d e m Richtliniencharakter innewohnt, der also zum Muster für künftige Entscheidungen dienen kann . . . Nur typische, rechtsgrundsätzliche Verstöße sind nachprüfbar, das konkrete Tatbild ist irrevisibel"127. (2) Die andere, Einzelfallgerechtigkeit als Revisionszweck in den Vordergrund stellende Ansicht128 hebt entscheidend ab auf Erkenntnismöglichkeiten und Leistungsfähigkeit des Revisionsgerichts129 zur Herbeiführung einer „besseren und wertvolleren Entscheidung"130; mit der Folge der Irrevisibilität sei dies prinzipiell nicht der Fall bei Feststellungen, die der Tatrichter auf der Grundlage strengbeweislicher Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsmaxime getroffen habe131. b) Kritik: Trotz dieser hervorragenden Bemühungen ist das „klassische Problem" 132 einer positiven rechtstheoretischen Scheidung von „Tat-" und „Rechtsfrage" bisher mit Hilfe weder jener (logisch-)begrifflichen noch der revisionsrechtlichen Kriterien gelöst133, und die Revisionsgerichte134 ließen jene rechtswissenschaftlichen Versuche - völlig zu Recht in toto auf sich beruhen: gewichtige Anzeichen für falschen Denkansatz, in dessen Axiom „Tatsachenfeststellung, also Irrevisibilität" Grund und Aufgaben der Rechtsprechung und der Revisionszwecke bezogen seien, könne sich „der Grund ihrer Relevanz nur aus spezifischen Zwecken ergeben, die außerhalb des sachlichrechtlichen Zusammenhanges liegen". Diese Zwecke seien „im Prozeßrecht zu suchen, so daß vom Standpunkt des Trennungsproblems diejenigen Fragen relevant sind, deren Problematik mit Rücksicht die generellen Ziele einer bestimmten sachlich-rechtlichen Norm und die spezifischen Zwecke des Prozeßrechts so erheblich sind, daß sie als Rechtsfragen gelten müssen". Im sog. „tatsächlichen Sachverhalt" seien nur solche „Elemente zusammengefaßt, deren Fixierung im Hinblick auf eine bestimmte durch die Rechtsnorm indizierte Problemlage und die Aufgaben der Revision von geringerer Bedeutung sind". Schwinge (Fn.67), S.48f, 50 ff, 56 ff. Maßgeblich entwickelt von Peters, Tat-, Rechts- und Ermessensfragen in der Revisionsinstanz, ZStW 57 (1938), S.53, 70 ff. 129 Ähnlich Henkel (Fn. 9), S. 375; Eh. Schmidt, Lehrkommentar zur StPO und zum GVG, II, 1957, §337 Rdn. 16; den., Deutsches Strafprozeßrecht, Ein Kolleg, 1967, Rdn. 384 f; Warda, Dogmatische Grundlagen des richterlichen Ermessens im Strafrecht, 1962, S. 73, 77, 178ff; Rieß (Fn.5), S.269f. 130 Peters (Fn. 128), S.69. 131 Peters (Fn. 128), S.70; ders. (Fn.19), S.638f; ders. (Fn.83), S. 137ff. 132 Scheuerle (Fn.95), S.2. 133 Dazu Fn. 5. Vgl. auch Otto (Fn. 83), S. 2; Neumann (Fn. 114), S. 395 (zu der von ihm favorisierten „logisch-begrifflichen" Trennung): „Der Stein der Weisen ist auch mit dem Kriterium der logischen Struktur einer Behauptung nicht gefunden". 134 Übersichtsnachweise in Fn. 83. 127 128

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Folge verwechselt sind135. Ohne hier weder mögliche noch nötige Einzelkritik der Ansichten genügt es, auf Grund des bisher Erarbeiteten die prozessualen Denkprämissen neu zu setzen; aus ihnen ist zwanglos abzuleiten, daß festgefahrener Dogmatik zuwider die „Tatfrage" grundsätzlich nicht irrevisibel, sondern gemäß § 337 StPO überprüfbar ist. aa) Gegen (rechts-)logisch-empirische, im ontologischen Wahrheitsbegriff verhaftete Auffassungen, Rechtskontrolle gem. §337 StPO müsse „zwangläufig die Gegenüberstellung von Tatsächlichem und Rechtlichem begünstigen"' 36 , ist entscheidend einzuwenden, daß revisionsgerichtlicher Prüfungsgegenstand die Rechtsrichtigkeit („Wahrheit") der (semantischen) Aussage (im Urteil) des Tatgerichts über den „Sachverhalt" (§ 267 11 StPO) als Ergebnis und über die „Beweiswürdigung" (§261 StPO) als Vorgang der „Wahrheitserforschung" (§ 244 II StPO) ist, nicht etwa die Existenz des „Sachverhalts" oder/und die Beweiskraft (als solche) der Beweisergebnisse (im einzelnen bzw. in ihrer Gesamtheit) 137 ; jene „Aussage" aber ist stets „Rechtsfrage", weil Konkretisierung („Anwendung" i . S . d . §337 II StPO) der §§244 II, 261 StPO 138 . Über sie hat das Revisionsgericht am Maßstab des § 337 StPO rechtsrichtig (meta-rechtlich) in Beschluß- (§349 StPO) oder Urteilsform (§§353, 354 StPO) „auszusagen", ob es überzeugt 139 sei, daß das Tatgericht materielles oder formelles Recht nicht verletzt hat (§337 II StPO) bzw. daß auf einer nachgewiesenen Gesetzesverletzung das Urteil jedenfalls nicht „beruht" (§337 I StPO) 140 . bb) Die revisionsrechtlichen Lösungsvorschläge scheitern, weil — unbegründbar - sie bestimmte Revisionszwecke als absolute, zumindest „primäre", postulieren 141 . Den Zweck der Revision normiert §337 StPO; „Rechtseinheit", „materielle Gerechtigkeit" 142 , „Gewährung realistischen 135 Vgl. bereits Verf. (Fn.4), §244 Rdn.25. Zutr. auch Gössel (Fn. 90), S. 1 1 7 f f . Wohl erstmals gesehen von Schmid (Fn. 5), S. 366, allerdings noch ohne inhaltliche Begründung und im wesentlichen indiziert allein durch das Ergebnis einer Rechtsprechungsanalyse. 136 Otto (Fn. 83), S.2. 137 Verf. (Fn.4), §244 Rdn.26. 138 Oben I2a. 13 ' Vgl. oben 11 baa(2) (2. Absatz). 140 Verf. (Fn.4), §337 Rdn.3. 141 Verf. (Fn.4), Rdn.6 vor §333. 142 Eine „Leistungstheorie' (Peters [Fn. 128], S. 56 ff; Henkel [Fn. 9], S. 375; Eh. Schmidt [Fn. 129], §337 Rdn.7; Zipf Die Strafmaßrevision, 1969, S. 174 f; Rieß [Fn.5], S.270; Schünemann [Fn. 87], S. 74) abstrakt-genereller Art ist nicht begründbar. Ziel des Instituts „Revision" kann nur sein, was das Revisionsgericht grundsätzlich besser als das Tatgericht zu leisten vermag und (deshalb) rechtlich bewirken darf (krit. auch Schmid [Fn. 5], S. 369; Fezer, Möglichkeiten [Fn. 83], S. 84 f; Neumann [Fn. 21], S. 389). Das hängt ab von seinen Erkenntnisquellen; welche ihm zur Verfügung stehen, ist Ergebnis rechtspragmatischer

710

Rainer Paulus

Rechtsschutzes" 143 sind nur (mögliche) Wirkungen jenes Rechtsgrunds im Einzelfall. Er ist kein anderer als der des Strafverfahrens: justizförmige Prüfung, ob die Unschuldsvermutung widerlegt sei oder nicht, allerdings im Wege nun nicht mehr einer (appellatorischen) Verifikation, sondern nur noch (kassatorischen) Falsifikation. Diese wegen Art. 101 I 2 GG zugleich verfassungsrechtlich bedeutsame Kompetenzverteilung144 zwischen Tat- und Revisionsgericht und deren qualitativ diversen Erkenntnisgrundlagen (im Strengbeweisbereich) verbieten dem Revisionsgericht „tatgerichtsgleiche" Aussagen über faktische Umstände zur sog. Schuldund Straffrage145; diese bedürfen rechtsnotwendig der Zuverlässigkeitsgarantien unmittelbar-mündlichen Strengbeweises in einer Hauptverhandlung146. 2. Folgerungen für Gegenstand und inhaltliche revisionsgerichtlicher Kontrolle

Grenzen

a) Den Prüfungsgegenstand (§352 StPO) konstituiert die (jeweils zulässig erhobene) Sach- (§ 344 II 1,2. Alt. StPO) und/oder 147 Verfahrensrüge (§344 II 1, 1. Alt., II StPO)148. aa) Sachrüge: Ihre klassische Domäne ist die Subsumtion der „für erwiesen erachteten Tatsachen" unter die „gesetzlichen Merkmale der Straftat" (§ 2 6 7 1 1 StPO) mit ihren beiden Konstitutivelementen: Rechtsrichtigkeit der Normauslegung und der Sachverhaltsaussage als Bedingungen - nur in concreto möglichen - richtigen Rechts149. In sich fehlerhafte „Sachverhalte" führen zur „Verletzung des Gesetzes" (§337

Erwägungen (insbesondere der Prozeßökonomie, Verfahrensbeschleunigung) des Gesetzgebers. Mit ihrer Hilfe hat - eine selbstverständliche Folge - das Revisionsgericht in seinem Bemühen um das Recht soviel „Rechtseinheit" (Rechtssicherheit) und soviel „Einzelfallgerechtigkeit", wie jeweils nach den konkreten Umständen nur möglich, zu schaffen. '« Schünemann (Fn. 87), S. 71, 73; Roxin (Fn. 21), § 53 Β II. - Abi. Rieß (Fn. 5), S. 269 Anm.73. ' « BVerfG NJW 1991, 2893, 2894. 145 Insoweit zutr. ist die Prämisse, „daß die rein thatsächliche Würdigung des Straffalls . . . dem Richter erster Instanz ausschließlich überlassen" (Hervorhebung von mir) ist, falsch jedoch die Folgerung, daß dieses „festgestellte thatsächliche Ergebniß . . . für die höhere Instanz maßgebend" (Motive, zit. in Fn. 74), weil rechtlich unüberprüfbar, sei. 146 Zum Ganzen Verf. (Fn.4), §244 Rdn. 349-366. 147 Strittig ist, ob „Tatfragen"-Fehler als Verletzung einer „Rechtsnorm über das Verfahren" (Minderheitsmeinung; Nachw. in Fn. 156) oder einer „anderen Rechtsnorm" (h. M.; Nachw. in Fn. 155) zu rügen seien, letzteres teils mit der Begründung, Denkgesetze und Erfahrungssätze seien als „Normen des ungeschriebenen Rechts" zu beachten (BGHSt. 6, 70, 72; O L G Braunschweig NJW 1955, 1202; KMR[6.]-5«x, §337 Anm. 1 c). 148 Die Verletzung in jeder Verfahrenslage von Amts wegen zu beachtender Prozeßvoraussetzungen bedarf keiner eigenen Revisionsrüge. 149 Oben I 2 a a a .

Prozessuale Wahrheit und Revision

711

S t P O ) , d. h. der den U r t e i l s t e n o r tragenden „ a n g e w e n d e t e n V o r s c h r i f t e n " ( § 2 6 0 V S t P O ) , auf G r u n d d e r S u b s u m t i o n . F o l g l i c h ist (auf S a c h r ü g e ) a u c h die tatgerichtliche Sachverhalts-Aussage

revisionsgerichtlich über-

prüfbar 1 5 0 , o b sie alle V o r a u s s e t z u n g e n für m e t h o d e n g e r e c h t e S u b s u m t i o n u n t e r die „ a n z u w e n d e n d e n " R e c h t s n o r m e n enthält 1 5 1 , und z w a r — o h n e n u r formelhafte, unklare, unverständliche W e n d u n g e n -

hinreichend

substantiiert 1 5 2 , widerspruchsfrei, l ü c k e n l o s , unzweideutig und im E i n klang mit gesicherten A l l s ä t z e n des D e n k e n s u n d der Empirie 1 5 3 . bb)

Verfahrensrüge:

O b die - v o n d e r S a c h v e r h a l t s - A u s s a g e z u u n t e r -

scheidende 1 5 4 - tatgerichtliche Beweiswürdigungs-Aussage

(§261

StPO)

im W e g e d e r Sach- 1 5 5 o d e r Verfahrensrüge 1 5 6 angreifbar ist, b e s t i m m t d e r C h a r a k t e r der als nicht o d e r nicht richtig a n g e w e n d e t ( § 3 3 7 II S t P O ) gerügten N o r m . (1) Proze&begrifflich

handelt es sich u m eine Verfahrensrüge,

da gericht-

liche B e w e i s w ü r d i g u n g s a u s s a g e n die V e r f a h r e n s n o r m des § 2 6 1 p r o z e ß h a n d l u n g s m ä ß i g 1 5 7 konkretisieren. Verfahrenstechnisch

StPO

bedarf sie

150 Vgl. OGHSt. 1, 117; BGHSt. 3, 213, 215; 14, 162, 165; BGH NJW 1978, 113, 115; Klug (Fn. 40), S. 157 f. 151 Umfassende Einzelnachweise bei LR(24,)-Hanack, §337 Rdn. 131-136, 141-143; Fezer (Fn.19), 20/10-17; vgl. auch u. II2baa mit Fn. 170. 152 RGSt. 71, 25, 26; BGH NStZ 1981, 33; Niemöller (Fn. 13), S.433; Maul (Fn. 83), S.411. 153 Α. M. (Subsumtion nur in ihrem „rechtlichen" Element revisibel, Sachverhaltsaussagen selbst bei „empirischer Unmöglichkeit" unangreifbar) noch RGSt. 8, 351, 355; Löwe, StPO, 4. Aufl. 1884, § 376 a. F. Anm. 12 a; Stein (Fn. 109), S. 111; Reling (Fn. 10), S. 412, 413 (insbes. dort Anm. 5). 154 Vgl. Stein (Fn. 109), S. 125; Mezger (Fn. 12), S. 172: Für die Subsumtion interessiere nur, daß - nicht auch, wie - Tatsachen festgestellt worden sind. Drost, Das Ermessen des Strafrichters, 1930, S. 69: Mißt ein Schneider die zur Anfertigung eines Anzugs benötigte Meterzahl irrtümlich vom Stoff Α anstatt vom Stoff Β ab, so hat er nicht falsch „gemessen", wohl aber unrichtig „ausgewählt" (d. h. beide Vorgänge sind an Hand unterschiedlicher Kriterien zu bewerten). 155 H.M., insbes. die Rspr.; grundlegend RGSt. 61, 151, 154 („Die Berücksichtigung allgemeiner Erfahrungssätze, Denkgesetze und Auslegungsregeln fällt nicht in das Gebiet der durch §261 StPO dem Tatrichter vorbehaltenen Beweiswürdigung und der hierauf gestützten Feststellung von Tatsachen . . . , sie gehört vielmehr zur ,richtigen' Anwendung der Rechtsnorm auf die festgestellten Tatsachen, die das Revisionsgericht nach § 337 StPO nachzuprüfen hat"); BGHSt 3,213,215; Sarstedt, Die Revision in Strafsachen, 4. Aufl. 1962, S. 227; Schmid (Fn. 5), S. 376, 382; Eh. Schmidt (Fn. 129), Nachtrag I, 1967, § 337 Rdn. 20; Kleinknecht, StPO, 35. Aufl. 1981, § 337 Rdn. 11; Otto (Fn. 83), S. 5 ff; LR(23.)-Af^er, § 337 Rdn. 99; LR(24.)-Hanack, §337 Rdn. 144; KK(2,)-Pikart, §337 Rdn. 29. 156 Mezger (Fn. 12), S. 26 ff; v. Hippel (Fn. 10), S. 387; Schwinge (Fn. 67), S. 198; Sarstedt (Fn. 78), S. 180; Klug (Fn. 40), S. 157; Henkel (Fn. 9), S. 376 Anm. 6; Gössel (Fn. 90), S. 137; Fezer, Grenzen der Beweisaufnahme durch das Revisionsgericht, in: Ebert (Hrsg.), Aktuelle Probleme der Strafrechtspflege, 1991, S.89, 90, 113. 157

Verf. (Fn. 14), S.316f; vgl. bereits o. I 2 b (mit Fn.58).

712

Rainer Paulus

jedoch nicht förmlicher Begründung nach §344 112 StPO158. Wegen des ausschließlich prozeßökonomischen Zwecks dieser Vorschrift, das Revisionsgericht der Pflicht zu entheben, zur Aufspürung nicht bereits aus den schriftlichen Urteils gründen ersichtlicher (und auch kein Prozeßhindernis begründender) Mängel die Akten, insbesondere das Hauptverhandlungsprotokoll, durcharbeiten zu müssen159, ist dieses Normziel bereits erreicht, wenn - in den vom Gesetzgeber des Jahres 1877 noch nicht gesehenen Fällen160 - Beweiswürdigungsfehler schon aus der Urteilsurkunde ersichtlich sind. Der diesem Sinn und Zweck des § 344 II 2 StPO zu deutende Wortlaut des § 344 II 1 StPO hindert eine umfassende revisions gerichtliche Nachprüfung in den Urteilsgründen nicht, falls die Rüge einer „Verletzung des Rechts" (vgl. §3371 StPO) - gleichgültig, ob in einer der beiden Formen des § 344 II 1 StPO oder nur allgemein — formund fristgerecht (§ 345 StPO) erhoben ist: Sie wäre also zwar inhaltlich eine Verfahrensrüge, müßte, um zulässig zu sein, aber weder der grundsätzlich dafür vorgesehenen Form des § 344 II 2 StPO entsprechen noch ausdrücklich das Urteil wegen Verletzung des §261 StPO als „Rechtsnorm über das Verfahren" (§344 II 1 StPO) anfechten161. (2) Hieraus ergibt sich: Für die Verfahrensrüge zu § 261 StPO genügt prozeßtechnisch die Form der Sachrüge, wenn rechtsfehlerhafte beweiswürdigende „Uberzeugungsbildung" 162 , beweisverbotswidrige 163 Verwertung von Erkenntnissen als zum „Inbegriff der Verhandlung" gehörend164, Nichtausschöpfung des prozessual verwertbaren „Inbegriffs der Verhandlung" 165 oder bei rechtsrichtiger Beweiswürdigung „sich aufdrängender" Erkenntnisquellen (§244 II StPO)166 bereits in den Urteilsgründen manifest sind167. Sie bedarf dagegen der Form des § 344 II 2 StPO, falls derartige - sodann in der Revisionsbegründung als Verletzung der jeweiligen Einzelvorschriften darzulegende - Mängel urteilsexternen Nachweis erfordern.

So i. E. auch Sarstedt (Fn. 78), S. 180. Selbst dann nicht, wenn ein konkreter Fehler in procedendo gerügt ist: Die Schlüssigkeit dieser Rüge muß sich allein - ohne Verweisungen auf andere Schriftstücke oder Aktenbestandteile - aus der Revisionsbegründungsschrift selbst ergeben (§ 344 II 2 StPO). 160 Dazu oben 12 b aa sowie Fn. 74. 161 Verf. (Fn. 4), § 2 4 4 Rdn. 39. 162 Einzelheiten unten II 2 b. 163 Etwa §252 StPO (dazu BGHSt. 15, 347; 21, 149). >" Zutr. Fezer (Fn. 156), S. 100; ders. (Fn. 19), 20/47. 165 BGH NStZ 1991, 548 m . w . N . 166 Aufklärungspflicht (§244 II StPO) ist Folge rechtsrichtiger Uberzeugungsbildung (§261 StPO). Vgl. ο. 1 1 a; Verf. (Fn.4), § 2 4 4 Rdn. 143. 167 A . M . Meurer (Fn. 13), S . 9 5 3 f f , 960. 158

159

Prozessuale Wahrheit und Revision

713

b) Den Maßstab der Prüfung 168 , ob §261 StPO verletzt sei, normiert §337 StPOm: falsifikatorischer revisionsgerichtlicher Nachweis einer „Gesetzesverletzung" (§337 II StPO). aa) Die tatgerichtliche Beweiswürdigungsaussage verletzt § 261 StPO etwa170 bei: Verstößen gegen die sprachliche (ζ. B. Begriffsvertauschungen), mathematische oder allgemeine ( z . B . Kreisschlüsse) Logik; Verwendung nicht zwingender Folgerungen oder Erfahrungssätze (als Prämissen eines Schlusses) als zwingend (und umgekehrt); Anwendung eines nicht oder nicht in dieser Form existenten Erfahrungssatzes (bzw. Offenkundigkeit) oder Nicht- bzw. Fehlanwendung (z.B. Verkennung des Beweiswerts) eines Erfahrungssatzes (als Prämisse eines Schlusses); Verwendung von Nichtbewiesenem (ζ. B. nur Vermutungen) oder nicht Festgestelltem (ζ. B. unbegründetes Hinwegsetzen über die Ansicht eines Sachverständigen; Nichtanführung der Beweisergebnisse oder der Fehlerquellen ausschließenden - Voraussetzungen für die Durchführung naturwissenschaftlicher, medizinischer oder sonstiger kriminalistischer Beweismethoden) als Prämissen für Schlußfolgerungen; widersprüchlicher, inhaltsleer-formelhafter, unverständlicher oder lückenhafter (ζ. B. Nichtausschöpfung oder fehlende Würdigung aller aus dem Urteil erkennbaren Umstände und/oder Beweismittel auf naheliegende, sich aufdrängende Möglichkeiten tatsächlicher Art hin) Beweiswürdigung. bb) Weil nur ein §261 StPO verletzender nachgewiesener Verfahrensfehler171 das Urteil revisionsrechtlich falsifizierbar macht, bleibt die Beweiswürdigungs-Aussage irrevisibel und folglich (!) „Tatfrage", wenn z . B . tatgerichtliche Schlußfolgerungen aus Beweisergebnissen zwar nicht (positiv) zwingend oder zumindest wahrscheinlich, aber auch nicht denkgesetzlich „unmöglich"m und nicht „unvertretOben II 1 bbb. Unrichtig Rieß (Fn. 5), S. 268, daß für den Bereich der Beweiswürdigung der „Versuch des Gesetzgebers von 1877, die Revisionsgrenze mit dem Begriff der Rechtsverletzung zu erfassen,... als gescheitert gelten" müsse. Im Gegenteil: den Motiven (zit. in Fn. 74 a. E.) ist beizupflichten mit der Maßgabe, daß „im Wege eines gesetzwidrigen Verfahrens gewonnen" auch ein solches „thatsächliches Ergebniß" ist, das auf Verletzung des §261 StPO infolge Beweiswürdigungsfehlern beruht. 170 Das Folgende ist ein Konzentrat der Rspr.-Zusammenstellungen der zu Fn. 83 Genannten. Unübertroffen Klug (Fn. 40) zu syntaktischen (S. 160-169), semantischen (S. 169-170) und pragmatischen (S. 170-173) Paralogismen. Ergänzend o. II2aaa zur „Sachverhalts"-Aussage. 171 Dazu Verf. (Fn.4), §244 Rdn.348. 172 Nahezu einhellige Meinung. Vgl. BVerfG NJW 1991, 2893, 2894; BGHSt. 10, 208, 210 = JR 1957, 368 m.Anm. Eb. Schmidt; BGHSt. 11, 1, 4; 12, 311, 315; 25, 365, 367; 26, 56, 62; 29, 18, 20; BGH NJW 1951, 325; GA 1974, 61; StV 1981, 508; 1983, 359; BayObLG GA 1970, 220. - Ebenso zum Nichtigkeitsgrund des §281 Nr. 5 der österr. 168

714 bar"m

Rainer Paulus

b z w . „ w i l l k ü r l i c h " m sind. S c h o n deshalb ist es d e m R e v i s i o n s g e -

richt auch versagt, durch eigene Beweiswürdigung im Strengbeweisbe-

StPO: Unanfechtbarkeit bei „nicht geradezu unschlüssiger" Folgerung, bei nicht „geradezu grobem Fehlschluß"; vgl. Foregger/Serini, Die österr. StPO, 4. Aufl. 1989, Anm. zu §281 Nr. 5; PallinlMeyerhof.er, Das österr. Strafverfahrensrecht, III/2, 1967, §281 Ziff. 5 Nrn. 64 ff, 74 ff; Hager/Meiler, Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung, Wien 1986, S.47; Steininger (Fn. 27), S. 214 f. - In diesem Sinn bereits Glaser (Fn. 64), S. 124 (zum Indizienbeweis an Hand von Erfahrungssätzen): Man gehe nicht vom Obersatz aus und prüfe, ob der Untersatz darunter paßt, sondern von einer konkreten Tatsache und versuche, ob die aus ihr abgeleitete Generalisierung denkgesetzlich möglich ist. - Davon zu unterscheiden sind denkfehlerhaft als zwingend erachtete Schlüsse (vgl. Klug [Fn. 40], S. 166-169) etwa aus „nicht zwingenden" Erfahrungssätzen (ο. II 2 b aa; vgl. ζ. B. BGH NStZ 1981,33; 1982,478; 1986, 325 u. 373; J R 1983, 163 m. Anm. Peters); ersichtlich solche Fälle sind gemeint, wenn der Satz „Schlußfolgerungen müssen nur möglich sein" als „irreführend" (so Herdegen [Fn. 17], S. 175 f; vgl. auch Maul [Fn. 83], S. 416 f) bezeichnet wird. 173 Vgl. BGHSt. 29, 18; Schmid (Fn. 5), S. 362, 374, 382-390 m. Nachw.; Nowakowski (Fn. 27), S. 16 f, 61 f; Volk (Fn. 10), S. 27; Niemöller (Fn. 13), S. 440; Fezer (Fn. 19), 20/27. Das gilt vornehmlich für tatrichterliche Auslegung von Willenserklärungen (RG JW 1938, 1013; KG J R 1980, 291 m.Anm. Volk; dazu Wach [Fn. 106], S.79f; Schmid [Fn.5], S.381 f; Kuhlen [Fn.114], S. 103; LR [24.]-Hanack, §337 Rdn. 117-119; KK[2.]-Pikart, §337 Rdn. 3; a. M. - Deutung des Geschriebenen/Gesagten sei Rechtsfrage - Nierwetherg [Fn. 114], S. 241). - Außerhalb §261 StPO - weil Frage, ob die Sachverhaltsaussage (§267 11 StPO) subsumtionsfähig hinreichend (ggf. im Wege des § 267 13 StPO) substantiiert ist - liegt tatgerichtliche Konkretisierung „unbestimmter" (wertausfüllungsbedürftiger) Rechtsbegriffe (dazu Verf. [Fn.4], §337 Rdn. 24; Peters [Fn. 128], S. 72-75; Schünemann [Fn. 87], S. 74 f; Gössel [Fn.90], S. 134; Paeffgen [Fn. 78], S.63f, 89; Kuhlen [Fn.114], S. 123 ff; Herdegen [Fn. 17], S. 181 f; Neumann [Fn.21], S. 398 f; Fezer [Fn. 156], S.98; ausführlich Pfitzner, Bindung der Revisionsgerichte an vorinstanzliche Feststellungen im Strafverfahren, 1988, S. 165-195), etwa ob eine Strafe (§46 StGB) nicht übermäßig hart bzw. unvertretbar milde, sondern „angemessen" sei (Schmid [Fn. 5], S. 392-397; Frisch [Fn. 124], S. 88ff; Zipf [Fn. 142], S. 163-182; LR[24,]-Hanack, §337 Rdn. 180, 194-204; Fezer [Fn. 19], 20/17), eine Handlungspflicht (§13 StGB) begründet (BGHSt. 19, 152, 155 f), eine Verteidigung (§32 StGB) „erforderlich" (RGSt. 55, 82, 85), eine Abbildung (OLG Frankfurt JZ 1974, 516) pornographisch (§184 StGB), eine Äußerung (RGSt. 67, 373, 374) oder Karikatur (OLG Hamburg J R 1985, 429 m.Anm. Geppert) beleidigend (§185 StGB), Gewahrsam (§242 StGB) gegeben (RGSt. 55, 82, 85), die Sache (§248 a StGB) geringwertig (BGHSt. 6, 41, 43), Verstandesschwäche i.S.d. §60 Nr. 1 StPO (Herdegen [Fn. 17], S. 187; a.M.: BGHSt. 22, 266, 267), Verdacht gem. §60 Nr. 2 StPO (BGH [Holtz] MDR 1980, 630; 1983, 281) oder Verhandlungsunfähigkeit (RGSt. 57, 373; BGH NStZ 1984, 178) zu §§205, 206 a StPO begründet, ein Beweismittel (§244 III 2 StPO) ungeeignet (RG J W 1927, 2467 m.Anm. Mannheim; 1930, 637 m.Anm. Alsberg) oder unerreichbar (BGH NStZ 1982,212 u. 341; 1984, 375), das Hindernis (§251 12 StPO) nicht zu beseitigen (BGH NStZ 1984, 178) oder die Entschuldigung (§329 I StPO) genügend (RGSt. 61, 175; 64, 239, 245) sei. Revisionsgerichtlich dem Tatrichter insoweit zugestandener „Ermessens-" bzw. „Beurteilungsspielraum" (dazu Fezer [Fn. 156], S. 96—98 m. Nachw.) ist also nicht Voraussetzung, sondern (mögliche) Konsequenz rechtsrichtiger Normkonkretisierung. 174 Hauser (Fn. 79), S. 536 f; Schultz, Zur Reform der kantonalen Rechtsmittel, SchwZStrR 98 (1981), S.203, 206, 208 Anm. 27; Rehberg, Ein einheitliches Rechtsmittel für den Zürcher Strafprozeß, in: GedS P.Noll, 1984, S.357, 362.

Prozessuale Wahrheit und Revision

715

reich die des T a t g e r i c h t s (positiv) z u ersetzen 1 7 5 o d e r (negativ) z u m i n d e s t ü b e r jene revisionsrechtlichen P r ü f u n g s m a ß s t ä b e hinausgehende „ e r h e b l i c h e " b z w . „ s c h w e r w i e g e n d e B e d e n k e n " gegen die Sachverhalts- u n d / o d e r B e w e i s w ü r d i g u n g s a u s s a g e geltend zu m a c h e n 1 7 6 . c) Mittel

revisionsgerichtlicher U b e r p r ü f u n g sind stets - ü b e r z u t r e f -

fende I n t e r p r e t a t i o n der R e c h t s n o r m e n hinaus -

v o n den

konkreten

B e d i n g u n g e n m ü n d l i c h - u n m i t t e l b a r e r H a u p t v e r h a n d l u n g unabhängige, d e m R e v i s i o n s g e r i c h t b e k a n n t e o d e r v o n i h m freibeweislich festzustellende logische u n d empirische Allsätze die Tatsachengrundlzge

im jeweils weitesten Sinn. W a s

rechtsrichtiger Revisionsentscheidung

betrifft,

ist z u u n t e r s c h e i d e n : aa)

Strengbeweisförmig

zu gründende177, nur metarechtlich

überprüf-

bare T a t s a c h e n a u s s a g e n kann u n d darf das R e v i s i o n s g e r i c h t nicht tiv) ersetzen

(posi-

d u r c h eigene, auf F r e i b e w e i s b e r u h e n d e T a t s a c h e n a u s s a g e n ,

sofern diese a b w i c h e n v o n d e m , w a s p r o z e s s u a l w i e d e r u m der F e s t s t e l lung auf G r u n d m ü n d l i c h - u n m i t t e l b a r e r H a u p t v e r h a n d l u n g also tatrichterlicher E n t s c h e i d u n g v o r b e h a l t e n w ä r e .

bedürfte,

Kompetenzmäßig

ergibt sich:

175 BGHSt. 10, 208, 210; 20, 164; 29, 18, 20; BayObLGSt. 1965, 32. Vgl. auch unten II2caa. 176 Einer dem „Nichtigkeitsgrund" des §281 Nr. ία der österr. StPO („wenn sich aus den Akten erhebliche Bedenken gegen die Richtigkeit der dem Ausspruch über die Schuld zugrunde gelegten entscheidenden Tatsachen ergeben"), eingefügt durch das österr. StrRÄG v. 1.3.1988 (Moos [Fn. 13], S.97: „Änderungen von geradezu säkularer Bedeutung") ähnlichen Regelung - grundsätzlich befürwortend ζ. B. Peters, Gutachten z. 52.DJT 1978, B d . I C S.7ff, 25 ff, 32 ff; Rieß, Referat z. 52.DJT, Bd. II, L S. 8 ff; Hauser (Fn. 79), S. 537; Moos (Fn.13), S.97 ff, 135 ff; vgl. auch §314 II des „Diskussionsentwurfs für ein Gesetz über die Rechtsmittel in Strafsachen" v. 1975, abgedruckt bei Fezer, Möglichkeiten (Fn. 83), S. 302 f - bedarf das deutsche Strafverfahrensrecht (zur Reformdiskussion Fezer aaO, S.6ff, 13 ff; LR [24.]-Hanack, Rdn. 14-19 vor §333) nicht. Denn bereits de lege lata sind erstens „erhebliche Bedenken" ohnehin nur begründbar (vgl. bereits Gleispach [Fn. 18], S. 329 Anm. 1) mit Rechtsfehlern der Sachverhalts- und Beweiswürdigungsaussage, die - in richtiger Praxis - die Revisionsgerichte schon gegenwärtig beanstanden (abl. daher auch u. a. Bertel, Das mangelhaft begründete Urteil im österr. Strafprozeß, in: Die Entscheidungsbegründung in europ. Verfahrensrechten, 1974, S. 179 ff, 189 ff; Rehberg [Fn. 172], S. 364; Fezer [wie Fn. 83], Möglichkeiten S. 94 ff, 185 ff u. Erweiterte Revision S. 51 ff; Krauth, Zu den Bemühungen um eine Rechtsmittelreform in Strafsachen, in: FS Dreher 1977, S. 697 ff; Sarstedt, Zur Reform der Revision in Strafsachen, in: FS Dreher 1977, S.681, 685; Stellungnahme des Richtervereins beim BGH, DRiZ 1976, 17f), und ist zweitens oben dargelegt, daß die revisionsgerichtliche Nachprüfung der „Tatfrage" prinzipiell unbeschränkt statthaft, insbesondere die Unterscheidung zwischen inhaltlichen und darzustellenden Beweiswürdigungsgründen nicht begründbar ist. 177

Oben I l b b b a.E.

716

Rainer Paulus

(1) Grundsätzlich nur (kassatorisch) falsifizierbar auf Verfahrensrüge178 sind tatgerichtliche Aussagen über Art und Inhalt der Beweisergebnisse, vor allem darüber, wie und was der Angeklagte bzw. eine Beweisperson ausgesagt hat oder welcher „Sachbestand" augenscheinsbeweisförmig „vorgefunden" (§86 StPO) worden ist. Infolge gerichtlicher Wahrnehmungs- (bzw. Verstehens-) oder Erinnerungsfehler basiert Beweiswürdigung auf prozessual „nichtigen" Prämissen179; sie verstößt gegen §261 StPO („Inbegriff") und Art. 103 I GG (der Angeklagte konnte zu einem gerichtlich - irrig - angenommenen Beweisergebnis nicht Stellung nehmen)180, dessen Verletzung möglichst bereits das Rechtsmittelgericht zu beheben hat181. Der ganz h. M. 182 zuwider sind auch nicht aus der Urteilsbegründung selbst ersichtliche derartige „Feststellungsmängel" revisibel183, sofern sie an

178 In ihr sind gem. §344 112 StPO anzuführen: der tatsächliche Inhalt eines Beweisergebnisses und die davon abweichende Darstellung im Urteil. Ob der gerügte Verfahrensfehler begangen war, ermittelt das Revisionsgericht i. d. R. durch Einholung dienstlicher Erklärungen Prozeßbeteiligter, u. U. zusätzlich einer Stellungnahme des Vernommenen, ggf. auch an Hand eines Inhaltsprotokolls (§273 II StPO); da dieses den Verfahrensfehler jedoch nur indizieren kann (§274 StPO gilt nicht), weil revisionsrechtlich relevante Beweisergebnisse grundsätzlich allein das Urteil feststellt (BGHSt. 20, 18, 20; zit. in Fn. 182), erscheint prozeßökonomisch die Forderung de lege ferenda nach einem Inhaltsprotokoll auch in Strafkammersachen nicht berechtigt (a.M. Fezer [Fn. 156], S. 113f). 179 BayObLG JZ 1965, 291 (§261 StPO gebiete auch, daß die „Erkenntnisquellen in einer Weise benutzt werden, wie dies dem Gang der Hauptverhandlung auch wirklich entspricht"); Pfitzner (Fn. 173), S. 121. 180 Dazu allg. BVerfGE 6, 12, 14; 29, 345, 347f (ständ. Rspr.). Vgl. auch Pfitzner (Fn. 173), S. 155; Hanack, Die Rspr. des BGH zum Strafverfahrensrecht, JZ 1973, 727, 729: angesichts BGHSt. 22, 26 (revisionsgerichtliche „Rekonstruktion der Hauptverhandlung" zulässig bei Verstoß gegen Art. 103 I GG infolge Verwertung nicht zum „Inbegriff der Hauptverhandlung" gewordener Erkenntnisquellen) könne „die bisherige Rechtsprechung" - d.h. grundsätzliches Verbot einer „Rekonstruktion der Hauptverhandlung" (BGHSt. 15, 347, 349; 17, 351, 352; 21, 149, 151; 29, 18, 20 f = J R 1980, 168 m.Anm. Peters; 31, 139, 140; BGH StV 1984, 185, 186; Fezer [Fn. 19], 20/45-47) - „leicht noch weitere und problematische Durchbrechungen erfahren".

BVerfGE 41, 243, 248 f; 47, 182, 191. Vgl. BGHSt. 10, 18, 20 („Das Ergebnis der Hauptverhandlung festzustellen und zu würdigen ist allein Sache des Tatrichters; der dafür bestimmte Ort ist das Urteil. Was in ihm über das Ergebnis der Verhandlung zur Schuld- und Straffrage festgestellt worden ist, bindet das Revisionsgericht; ein Gegenbeweis ist nicht zulässig"). In gleichem Sinn RGSt. 5, 352, 353; 49, 315, 316; BGHSt. 15, 347, 349; 17, 351, 353; 21, 149, 151; 31, 139, 140 = NStZ 1983, 278 m.Anm. Fezer; 35, 238, 241; BGH MDR 1966, 164; Härtung, Zur Frage der Revisibilität der Beweiswürdigung, SJZ 1948, 579; Verf. (Fn. 4), §244 Rdn.361, §261 Rdn.39; Schmid (Fn.5), S.374; KK(2.)-//