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German Pages 846 [848] Year 1984
Festschrift für Heinz Hübner zum 70. Geburtstag
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Festschrift für HEINZ HÜBNER zum 70. Geburtstag am 7. November 1984
herausgegeben von
Gottfried Baumgärtel
Hans-Jürgen Becker
Ernst Klingmüller
Andreas Wacke
w DE
G 1984
Walter de Gruyter • Berlin • New York
CIP-Kurztitelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Festschrift für Heinz Hübner zum 70. [siebzigsten] Geburtstag am 7. November 1984 / hrsg. von Gottfried Baumgärtel... - Berlin ; New York : de Gruyter, 1984. ISBN 3-11-009741-9 N E : Baumgärtel, Gottfried [Hrsg.]; Hübner, Heinz: Festschrift
© Copyright 1984 by Walter de Gruyter & Co., 1000 Berlin 30. Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung sowie der Ubersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. Printed in Germany Satz und Druck: Saladruck, 1000 Berlin 36 Buchbindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Buchgewerbe G m b H , 1000 Berlin 61
Grußwort Am 7. November 1984 vollendet der Privatrechtler und Rechtshistoriker Heinz Hübner sein 70. Lebensjahr. Während seiner Tätigkeit als Hochschullehrer an den Universitäten Erlangen, Saarbrücken und Köln hat der Jubilar ein breites wissenschaftliches Forschungsfeld bearbeitet, das von der römischen Rechtsgeschichte bis zur Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, vom Bürgerlichen Recht bis zum Recht der Medien reicht. Neben diesem ungewöhnlichen wissenschaftlichen Engagement hat er durch Jahrzehnte hindurch aufopferungsvolle Tätigkeit im Bereich der akademischen Selbstverwaltung, des Hochschulrechts, der Wissenschaftspolitik und der Fortbildung von Erwachsenen geleistet. Der vorliegende Band soll einmal ein Zeichen des Dankes, zugleich aber auch ein Spiegel des Wirkens des Geehrten sein. Mit der Herausgabe dieser Festschrift verbinden die Herausgeber die besten Wünsche für seine Gesundheit und die erfolgreiche Fortführung seines wissenschaftlichen Werkes. Die
Herausgeber
Inhalt Grußwort
V
Rechtsgeschichte Amsterdam: Eine neue Interpretation von Ulpian. Dig. 4.2.9.5-6. Uber die Abhilfe gegen matus
HANS ANKUM,
3
Köln: Der Städel-Paragraph (§ 84 BGB)
21
Frankfurt am Main: Zur Entwicklung des Schiedsvertrags im Ius Commune - Die ambicabilis compositio und der Schiedsspruch ex aequo et bono
35
Leiden: Ein später Vertreter der niederländischen Schule: Johann Ortwin Westenberg (1667-1737)
47
HANS J Ü R G E N B E C K E R ,
HELMUT COING,
R O B E R T FEENSTRA,
MAX KAISER, Hamburg/Salzburg:
Die vindicatio pignoris' zwischen ,ius civile' und ,ius praetorium' . . . .
63
Köln: Betrachtungen zur Reislamisierung im Recht
85
ERNST KLINGMÜLLER,
Freiburg im Breisgau: Die eigentliche Bedeutung von actum agere und actum est
101
Passau: Zur Vorgeschichte der verschuldensunabhängigen Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel nach § 538 BGB
121
D E T L E F LIEBS,
KLAUS L U I G ,
THEO MAYER-MALY,
Salzburg:
Das Eigentumsverständnis der Gegenwart und die Rechtsgeschichte . . .
145
Köln: Steuerprotest in der Antike
159
Zürich: Zur Regelung des Besitzes im französischen Code civil
173
JENS P E T E R M E I N C K E ,
HANS P E T E R ,
CLAUSDIETER SCHOTT,
Zürich:
Gesetzesadressat und Begriffsvermögen
191
VIII
Inhalt
Regensburg:
D I E T E R SCHWAB,
Geschichtliches Recht und moderne Zeiten - Einige Gedanken zu Leben und Werk von Karl Gareis HANS HERMANN S E I L E R ,
Hamburg:
Uber die Vergütung von Dienstleistungen des Geschäftsführers ohne Auftrag WALTER SELB,
215
239
Wien:
Gedanken zur römischen ,lex imperfecta' und zu modernen Normvorstellungen in der Rechtsgeschichte
253
DIETER SIMON, Frankfurt am Main: Gewissensbisse eines Kaisers D I E T E R STRAUCH,
263
Köln:
Das geteilte Eigentum in Geschichte und Gegenwart
273
HANS THIEME, Freiburg im Breisgau: Friedrich Pilgers ,Wezlarische Annalen' (1791) - Ein Zeugnis deutscher Aufklärung aus juristischer Sicht
295
M A R C E L THOMANN, S t r a s b o u r g :
Theorie und Praxis der „Menschenrechte" an der Rechtsfakultät Straßburg im 18. Jahrhundert
313
WOLFGANG WALDSTEIN, S a l z b u r g :
Zum Reskript Hadrians über Operae bei fideikommissarischer Freilassung GUNTER WESENER,
Das Scheingeschäft in der spätmittelalterlichen Jurisprudenz, im usus modernus und im Naturrecht FRANZ W I E A C K E R ,
325
Graz:
337
Göttingen:
Ius civile und lex publica in der römischen Frühzeit
357
Zivilrecht ROBERT BATTES, B o n n :
Auseinandersetzung, Rückabwicklung, Entgelt. Leistungen an den Partner während der Ehe oder des nichtehelichen Zusammenlebens und ihre Auswirkungen im Fall der Scheidung oder Trennung G O T T F R I E D BAUMGÄRTEL,
Das Verhältnis der Beweislastverteilung im Pflichtteilsrecht zu den Auskunfts- und Wertermittlungsansprüchen in diesem Rechtsgebiet. . . BODO BÖRNER,
379
Köln:
395
Köln:
Offene und verdeckte Stellvertretung und Verfügung
409
Inhalt
IX
UWE DIEDERICHSEN, Köln: D e r Auslegungsdissens HERMANN D I L C H E R ,
421
Bochum:
Besteht für die Notwehr nach § 227 B G B das Gebot der Verhältnismäßigkeit oder ein Verschuldenserfordernis?
443
P E T E R HANAU, K ö l n :
Die Entscheidungsfreiheit des Richters im Recht der Arbeitnehmerhaftung ULRICH HÜBNER,
467
Köln:
Personale Relativierung der Unwirksamkeit von Rechtsgeschäften nach dem Schutzzweck der N o r m GERHARD KEGEL,
487
Köln:
Zum heutigen Stand des I P R : Stoffbewältigung
505
HANS K I E F N E R , M ü n s t e r :
Entstehung einer Eigentümergrundschuld bei mißglückter Hypothekeneinigung? R O L F KNÜTEL,
Von Landanschwemmungen und Schätzen. Die commoda ex re veudita und § 4 4 6 B G B MANFRED L I E B ,
521
Bonn:
551
Köln:
Aufgedrängter Vertrauensschutz? Überlegungen zur Möglichkeit des Verzichts auf Rechtsscheinsschutz, insbesondere bei der Anscheinsvollmacht ALEXANDER L Ü D E R I T Z ,
575
Köln:
Die Überarbeitung des deutschen Schuldrechts im Lichte internationaler Erfahrungen, insbesondere in den Niederlanden
593
DIETER MEDICUS, M ü n c h e n :
Gedanken zum Nebenbesitz
611
WOLFRAM MÜLLER-FREIENFELS, F r e i b u r g i m B r e i s g a u :
,Haftungsvertreter' und Stellvertreter
627
KLEMENS P L E Y E R , K ö l n :
Die Minderanmeldung einer teilvalutierten Sicherungsgrundschuld durch eine Bank im Zwangsversteigerungsverfahren
655
ANDREAS W A C K E ,
Gefahrerhöhung als Besitzverschulden. - Zur Risikoverteilung bei Rückgabepflichten im Spannungsfeld der Zurechnungsprinzipien casum sentit dominus, tur Semper in more und versari in re illicita
669
H A R M P E T E R WESTERMANN, B i e l e f e l d :
Widerspruch gegen Belastungsbuchungen in Krise und Insolvenz des Lastschriftschuldners
697
X
Inhalt
HERBERT WIEDEMANN,
Köln:
Thesen zum Schadenersatz wegen Nichterfüllung
719
Medienrecht ROBERT DITTRICH, W i e n :
Überlegungen Schallträgern
zum Urheberrechtsschutz
ULRICH MEYER-CORDING,
von Bearbeitungen
von
Köln:
Die provozierenden entstellenden' Inszenierungen der Theaterregisseure DIETRICH OEHLER,
737
745
Köln:
Die strafrechtliche Bekämpfung der Piratensender auf Hoher See. 3. Seerechtskonferenz und Europäisches Ubereinkommen
753
F R I E D R I C H - W I L H E L M VON S E L L , K ö l n :
Kooperativer Rundfunkföderalismus in der Bewährungsprobe
765
IGNAZ S E I D L - H O H E N V E L D E R N , W i e n :
Die Dritte Welt und die geostationären Weltraumsatelliten
781
UDO STEINER, R e g e n s b u r g :
Zur Kulturförderung durch den öffentlich-rechtlichen Rundfunk
799
K L A U S STERN, K ö l n :
Ehrenschutz und „allgemeine Gesetze" Bibliographie
815 831
Rechtsgeschichte
Eine neue Interpretation von Ulpian Dig. 4.2.9.5-6 über die Abhilfen gegen metus* HANS ANKUM
Die klassischen Juristenfragmente, die die Kompilatoren - nicht ohne Textänderungen - in den Digenstentitel Quod metus causa gestum erit aufnahmen, gehören zu den schwierigsten der uns überlieferten römischen Rechtsquellen. Die meisten dieser Fragmente gaben in der modernen Romanistik zu den verschiedensten Interpretationen Anlaß. Wenn ich für zwei Paragraphen aus dem 11. Buche von Ulpians Ediktskommentar eine neue Interpretation den bisherigen hinzufügen möchte, um damit meine freundschaftliche Verbundenheit mit meinem Kölner Kollegen Heinz Hübner zum Ausdruck zu bringen, so geschieht dies deshalb, weil die bis jetzt vorgeschlagenen Lösungen beweisbar unrichtig sind. I. Aus Lenels Palingenesie geht hervor, daß Ulpian sich am Anfang des II. Buches ad edictum zum Thema der restitutiones in integrum äußerte1 und daran seinen Kommentar zum Ediktsabschnitt Quod metus causa gestum erit anschloß2. Seit Lenels Rekonstruktion des julianischen Edictum Perpetuum wird fast ohne Ausnahme angenommen, daß dieser Ediktsabschnitt drei Stücke enthielt: das Verheißungsedikt der restitutio in integrum (hiernach: r. i. i.) propter metum, das Verheißungsedikt der actio quod metus causa (von der man sich nicht vorstellen kann, daß sie im Edikt nicht proponiert gewesen wäre)3, sowie schließlich die Muster-
* In einem Seminar über ,in bortis alicuius esse' habe ich mit den Teilnehmern die hier behandelten Ulpian-Fragmente diskutiert. Meinen Mitarbeitern, Frau B. Bergsma-van Krimpen, Frau M.J.E. G. van Gessel-de Roo, sowie den Herren E.H. Pool und L. C. Winkel danke ich für Ihre Diskussionsbeiträge, die mir wertvolle Anregungen gaben. Die Resultate der gemeinsamen Seminararbeit sollen in naher Zukunft in einer größeren Abhandlung zusammen mit Frau Van Gessel und Herrn Pool publiziert werden. - Meinem Kölner Kollegen und Freunde Andreas Wacke danke ich für eine gründliche Überarbeitung meines vorliegenden Textes in stilistischer Hinsicht. 1 Vgl. O.Lenel, Palingenesia Iuris Civilis [hiernach: Pal.] (Lipsiae 1889) Sp.460 N r . 368. 2 Siehe Lenel, Pal. II Sp. 460-465 N r . 369-382. 5 So mit Recht gegen Kupisch (hiernach zitiert in Anm. 5): M. Käser, Zur in integrum restitutio, besonders wegen metus und dolus, SZ 94 (1977) S. 114.
Hans Ankum
4
formel
dieser
actio
in
Unbezweifelbar
quadruplum.
kommentierte
U l p i a n a m A n f a n g des D i g e s t e n f r a g m e n t s 4 . 2 . 9 die r. i. i. u n d an dessen Ende
die actio
quod
metus
causa
( h i e r n a c h : a. q. m. c.).
Seit
Lenels
Palingenesie 4 ist es üblich, die Z ä s u r z w i s c h e n die § § 6 u n d 7 z u stellen. N a c h allgemeiner M e i n u n g bezieht sich § 6 n o c h auf die r. i. i., w ä h r e n d im § 7 die a. q. m. c. e r ö r t e r t w i r d . Z w i s c h e n diesen beiden § § 6 u n d 7 ließen die K o m p i l a t o r e n - so m e i n t m a n - ein m e h r o d e r w e n i g e r g r o ß e s S t ü c k des U l p i a n t e x t e s ausfallen, w e l c h e s u n t e r a n d e r e m das V e r h e i ß u n g s e d i k t d e r a. q. m. c. enthielt. V o n dieser h y p o t h e t i s c h e n R e k o n s t r u k t i o n scheint m i r n u n einiges sicher z u sein. W i e aus den W o r t e n rescissa
alienatione
hervorgeht,
spricht U l p i a n i m § 4 n o c h ü b e r die r. i. i. W i e sich aus d e n W o r t e n a m A n f a n g des § 7 u n d quadruplo
officio
condemnandum
in d e r
M i t t e desselben § 7 folgern läßt, ist das T h e m a des § 7 die
a.q.m.c.5.
iudicis
eum
N i c h t m i t klaren A r g u m e n t e n b e w e i s b a r ist indessen die R i c h t i g k e i t d e r allgemeinen, auf Lenel
z u r ü c k g e h e n d e n A n s i c h t , w o n a c h die § § 5 u n d 6
z u r r. i. i. g e h ö r e n . D a alle bisherigen E r k l ä r u n g s v e r s u c h e b e z ü g l i c h d e r § § 5 u n d 6 , w e l c h e auf dieser v o n den I n t e r p r e t e n diskussionslos als richtig a n g e n o m m e n e n P r ä m i s s e b e r u h e n , gescheitert sind - w i e ich sub N r . 2 - 4 erweisen werde
bin ich z u d e r H y p o t h e s e gelangt, d a ß sich
die Z ä s u r n i c h t z w i s c h e n d e n § § 6 u n d 7, s o n d e r n z w i s c h e n d e n § § 4 u n d 5 befindet. M i c h s t ü t z e n d auf diesen n e u e n A u s g a n g s p u n k t , d a ß U l p i a n 4 Lenel, Pal. II Sp. 462 Anm. 2. Vor dem Fragment Nr. 374, das mit D. 4.2.9.7 anfängt, schreibt Lenel in dieser Anmerkung: „Incipit hic alterius edicti interpretado, quo praetor in quadruplum actionem pollicebatur." 5 Aus den Ausführungen im Text geht schon hervor, daß die originelle, mit Scharfsinn von B.Kupisch in seinem Buche „In integrum restitutio und vindicatio utilis bei Eigentumsübertragungen im klassischen römischen Recht" (Berlin-New York 1974) entwickelte These mich nicht überzeugt hat, wonach in Fällen von Ubereignungsgeschäften die r. i. i. sowohl durch eine dingliche Klage, in deren formula die Veräußerung hinwegfingiert wurde, als auch durch eine persönliche actio arbitraria wie die a. q. m, c. verwirklicht werden konnte. Auch Käsers inhaltsreiche und klare Abhandlung, SZ 94 (1977) (s.o. Anm. 3), der die meisten Thesen von Kupisch akzeptiert, brachte mich nicht zu einer anderen Meinung. Die Hauptthese von Kupisch steht m. E. in klarem Widerspruch zu den Ediktsworten „Quod metus causa gestum erit, ratum non habebo". Damit spricht der Prätor aus, daß er erzwungene Rechtsgeschäfte nach seinem Rechte als ungültig behandeln werde. Wenn mit einer persönlichen actio arbitraria (z. B. mit der a. q. m. c.) geklagt wird, wird das erzwungene Rechtsgeschäft aber nicht vom Prätor als ungültig behandelt. Vielmehr geht auch der iudex von der Gültigkeit des Rechtsgeschäfts aus; nur wird der Beklagte vom Richter dazu veranlaßt, die formwirksam mittels mancipatio erworbene Sache zurückzuübereignen. Kupischs These führte ihn zu m. E. unrichtiger Interpretation zahlreicher Digestenstellen. Vgl. z.B. gegen seine Auslegung von Julian D.21.2.39 pr. meine Abhandlung „L'actio de auctoritate et la restitutio in integrum dans le droit romain classique", in: Maior viginti quinqué annis, ed. by J. E. Spruit (Assen 1979) S. 13-17. Vgl. zu Kupisch aber auch die einfühlsam referierende Rezension von Benöhr, AcP 176 (1976) 247-255.
Eine neue Interpretation von Ulpian über die Abhilfen gegen metus
5
sich in d e n § § 5 u n d 6 s c h o n m i t der a. q. m. c. - u n d n i c h t m e h r m i t d e r r. i. i. - befaßte, w e r d e ich d a n n sub N r . 5 - 7 eine n e u e I n t e r p r e t a t i o n dieses P a s s u s ' v o r s c h l a g e n 6 . D a ß w i r bei d i e s e m V e r s u c h z u e r g r ü n d e n , w a s U l p i a n u n d d e r v o n i h m zitierte Julian g e m e i n t h a b e n , ü b e r eine m e h r oder minder große Wahrscheinlichkeit nicht hinauskommen w e r den, bin ich m i r b e w u ß t . Dem
im folgenden
abgedruckten
lateinischen T e x t füge ich
eine
w o r t g e t r e u e Ü b e r s e t z u n g h i n z u , die m e i n e eigene D e u t u n g n o c h n i c h t ersichtlich m a c h t . D. 4.2.9.5-6 (Ulpianus libro 11. ad edictum): §5. Iulianus libro tertio (1. quarto7) digestorum putat eum, cui res metus causa tradita est, non solum reddere, verum et de dolo repromittere debere. §6. Licet tarnen in rem actionem dandam existimemus, quia res in bonis est eius, qui vim passus est, verum non sine ratione dicetur, si in quadruplum egerit, finiri in rem actionem, vel contra. §5. Julian äußert im dritten (vierten) Buche seiner Digesten die Auffassung, daß derjenige, dem eine Sache aus Furcht übertragen worden ist, nicht nur (die Sache) zurückgeben, sondern auch eine repromissio de dolo abgeben soll. §6. Obwohl wir jedoch der Meinung sind, daß eine dingliche Klage gegeben werden soll, weil die Sache in bonis desjenigen ist, der das Opfer des Zwanges wurde, wird aber nicht ohne Grund gesagt werden, daß wenn er (mit der a. q. m. c.) auf das Vierfache geklagt hat, die dingliche Klage ein Ende nimmt, und umgekehrt. 2. D e m § 5 w i r d i m S c h r i f t t u m w e n i g A u f m e r k s a m k e i t g e w i d m e t . D i e bisherigen I n t e r p r e t e n 8 n e h m e n einen Z u s a m m e n h a n g s o w o h l m i t d e m v o r a n g e h e n d e n § 4 an ( w a s m i r nicht richtig v o r k o m m t ) als a u c h m i t d e m n a c h s t e h e n d e n § 6 ( w a s m i r richtig erscheint) 9 . U m d e n b e h a u p t e t e n Z u s a m m e n h a n g mit dem § 4 zu überprüfen, wollen wir zunächst den § 4 kurz erläutern: D. 4.2.9.4 (Ulpianus libro 11. ad edictum): Volenti autem datur et in rem actio et in personam rescissa acceptilatione [vel alia liberatione] . Dem Gezwungenen wird, wenn er (von diesen Rechtsmitteln Gebrauch machen) will, sowohl eine dingliche Klage mach Rückgängigmachung der mancipatio> als auch eine persönliche Klage nach Rückgängigmachung der acceptilatio [oder eines anderen Schulderlasses] gegeben.
' Ich referiere unten Nr. 7, bevor ich meine eigene Auffassung über das Konkurrenzproblem mitteile, auch kurz über die von früheren Autoren vorgetragenen Meinungen zu diesem Problem. 7 Am Anfang des 4. Buches seiner Digesten (oder, was ich nicht völlig ausschließe, am Ende des 3. Buches) kommentierte Julian den Ediktsabschnitt Quod metus causa gestum erit; vgl. Lenel, Pal. I Sp. 324-325 Nr. 46-48. * Siehe bes. U. von Lübtow, Der Ediktstitel „Quod metus causa gestum erit" (Greifswald 1932) S. 125-126; H. Coing, Die clausula doli im klassischen Recht, Festschrift F.Schulz (Weimar 1951) S. 100; Käser, SZ 94, S. 112-113. 9 Siehe unten Nr. 6 S. 15.
6
Hans Ankum
Dem Gezwungenen steht nach Ulpian eine dingliche Klage zu (nämlich die rei vindicatio, wenn er Eigentümer nach ius civile, bzw. die actio Publiciana, wenn er Eigentümer nach prätorischem Recht war), sowie eine persönliche Klage, nachdem der Prätor die von ihm vorgenommene mancipatio oder förmliche liberado10 mittels einer r. i. i. rückgängig gemacht hat11. Wie aus dem Wort volenti hervorgeht, kann der Gezwungene aber statt dessen auch die a. q. m. c. erheben12. Die Kompilatoren behielten die Worte rescissa acceptilatione bei, weil auch nach justinianischem Recht eine Rückgängigmachung (jetzt durch richterlichen Befehl) der erzwungenen acceptilatio notwendig war. Bei der traditio als unter Justinian einzig verbliebener Eigentumsübertragung war dies jedoch nicht mehr erforderlich. Darum eliminierten die Kompilatoren bei den anderen klassischen Ubereignungsformen, insbesondere bei der mancipatio, die Worte rescissa alienatione u.dgl. im Digestentitel 4.2. Im Digestentitel 4.4 über die Minderjährigenbenachteiligung ließen sie jedoch die Worte rescissa alienatione stehen13. Der Grund für diesen Unterschied ist, daß die Kompilatoren Ulpians Lehre über die Nichtigkeit erzwungener formloser Rechtsgeschäfte14 auf die traditio anwandten. Da dem gezwungenen Tradenten die voluntas dominii
transferendi
fehlte15, konnte er wegen der nichtigen traditio ohne richterlichen Restitutionsbefehl sofort die rei vindicatio erheben. Falls jedoch ein minor bei einer traditio ,captus' war, galt auch im justinianischen Recht wie im klassischen der Wille zur Eigentumsübertragung nicht als fehlend; daher mußte der Richter zuvor die traditio ,rescindere Diese oder jedenfalls eine verwandte Auslegung des § 4 bestimmt bei den modernen Interpreten, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem folgenden §5 annehmen, die Deutung des darin auftretenden Julianzitats. Julian habe ihrer Meinung nach von einer res (mancipi) metus causa mancipata und von einer rei vindicatio rescissa mancipatione
gesprochen. Die Kompilatoren hätten statt dessen hier res metus causa tradita geschrieben, sie meinten eine ohne Reszission dem Gezwunge10 Wahrscheinlich setzten die Kompilatoren die Worte vel alia liberatione an die Stelle der Worte vel nexi liberatione, weil die nexi liberatio im justinianischen Recht nicht mehr vorkam. 11 Die r. i. i. bedurfte nach modernen Ansichten nicht eines separaten Dekrets in einem besonderen Vorverfahren. Die actio resdssoria und das Restitutionsdekret konnten zum selben Zeitpunkt verfügt werden. Bevor der Prätor das Dekret (sei es auch implizit) erlassen hatte, konnte allerdings von einem bonitarischen Eigentum des gezwungenen Manzipanten keine Rede sein; anders Kupisch (o. Anm. 5) S. 223 Anm. 429. 12 Vgl. Paulus D. 4.2.21.6. 13 Vgl. Ulpian D. 4.4.13.1; siehe auch die praetoria cognitio in Iul. D. 21.2.39.pr. M Vgl. A. S. Hartkamp, Der Zwang im römischen Privatrecht [hiernach: Zwang] (Amsterdam 1971) S. 102-106. 15 Siehe Gaius D. 41.1.9.3.
Eine neue Interpretation von Ulpian über die Abhilfen gegen metus
7
nen zustehende rei vindicatio. Bei dieser nach klassischem Recht reszissorischen, nach justinianischem Recht normalen rei vindicatio sollte nun der Drohende aufgrund des richterlichen arbitrium die Sache dem Bedrohten zurückgeben und obendrein eine stipulatio de dolo eingehen. Die judiziale repromissio de dolo diente dem Kläger als Garantie gegen Rechtsverluste aufgrund von Verfügungsgeschäften des Beklagten während der Zeit, in der er Eigentümer war16. Meistens handelt es sich um Sklaven, die vom Beklagten (bedingt) freigelassen oder verpfändet wurden. Im klassischen Prozeß über die rei vindicatio rescissoria war allerdings die Bedeutung der repromissio de dolo gewiß sehr beschränkt. Die vindizierte Streitsache galt nach prätorischem Recht als dem Kläger immer gehörig gewesen, da die erzwungene mancipatio hinwegfingiert wurde. Vom Beklagten vorgenommene Verfügungen behandelte der Prätor als ungültig. Meistens war also bei einer rei vindicatio rescissoria ebenso wie bei der normalen rei vindicatio (falls nicht der Beklagte post litem contestatam die vindizierte Sache usukapiert hatte)17, eine repromissio de dolo völlig überflüssig18. O b sie bei der reszissorischen Eigentumsklage überhaupt von Bedeutung gewesen sein kann, hängt ab von der Antwort auf die Frage, ob gegen erzwungene Freilassungen eine restitutio propter metum zulässig war. Hartkamp" hielt eine Restitution gegen solche Freilassungen niemals für statthaft. Soweit die Texte eine Restitution contra libertatem ausdrücklich verweigern, beziehen sie sich alle auf zu restituierende Minderjährige20. Die ratio gilt allgemein:
16 Die Fälle dieser judizialen repromissio de dolo sind aufgeführt von H. Coing (o. Anm. 8) S. 99-103. Siehe auch Käser, Das römische Zivilprozeßrecht (München 1966) S. 259 Anm. 27. 17 Uber die Pflicht des Beklagten zum de dolo cavere in diesem Falle Gai. D. 6.1.18/20. " Da nach justinianischem Recht dem Gezwungenen zur Rückerlangung der metus causa tradierten Sache einfach die gewöhnliche rei vindicatio zustand, hatte die repromissio de dolo keinen Sinn mehr, weil vom Beklagten vorgenommene Verfügungen als Geschäfte eines Nichteigentümers ohne weiteres nichtig waren. Die Kompilatoren versuchten, dieser repromissio eine andere Funktion zu geben. In D. 4.2.9.7 fügten sie die Worte ne forte deterior res sit facta hinzu. Danach sollte die repromissio offenbar dazu dienen, den Beklagten vor dolosen Wertminderungen der zu restituierenden Sache zu schützen. " Hartkamp, Zwang S. 136-145; zust. Wacke (u. Anm. 20). 20 Siehe D.4.3.7 pr.; D.4.4.9.6; C. 2.30.1-4; W.W. Buckland, The Roman law of slavery (Cambridge 1908) S. 566-567. Unklar ist, ob in Ulp. D. 4.3.7 pr. die Worte nulla in integrum restitutio darauf deuten, daß niemals eine r. i. i. contra manumissum möglich war (so Wacke in seiner ausführlichen Interpretation d. St., SZ 94, 1977, 236 ff, 241 ff mit Anm. 259), oder ob das nur gilt für die dort erörterten Fälle einer r. i. i. propter aetatem. In Ulp. D. 4.4.9.6 liest man: Adversus libertatem quoque minori a praetore subveniri impossibile est. Näheres Studium wird zu entscheiden haben, ob hier zu übersetzen ist: „Auch gegen Freilassungen" (ebenso wie im vorangehenden § 5, der mit cessabit restitutio endet) „kann einem minor nicht vom Prätor geholfen werden", oder: „Auch einem minor"
8
Hans Ankum
Einmal freigelassene Sklaven sollen nicht in die Unfreiheit zurückkehren wegen des favor libertatis. Bisweilen werden aber Ausnahmen von der Unmöglichkeit einer Restitution gegen Freilassungen angenommen21. Da es nicht vollkommen klar ist, wie die römischen Juristen diese Frage bei der r. i. i. propter metum beurteilten22, ist es nicht ganz sicher, ob im Prozeß über die vom Gezwungenen angestrengte rei vindicatio rescissoria eine repromissio de dolo überhaupt von Bedeutung gewesen sein kann. Anders liegt die Sache, wenn im klassischen Recht gegen den Besitzer mit einer (arbiträren) a. q. m. c. geklagt wurde. Aufgrund der erzwungenen Manzipation erlangte der Drohende und seine Rechtsnachfolger zivilrechtlich Eigentum. Der Beklagte mußte, um seiner Verurteilung in quadruplum zu entgehen, die Sache dem Kläger zurückmanzipieren. In diesem Fall bedarf der Kläger des Schutzes vor zwischenzeitlich vom Beklagten wirksam vorgenommenen Freilassungen oder anderen Verfügungen. Aus diesem Grunde ist es wahrscheinlicher, daß in § 5 von der a. q. m. c. die Rede war und nicht von einer reszissorischen rei vindicatio. Diese Vermutung wird fast zur Gewißheit, wenn man den Anfang des § 7 liest. Dort erklärt es Ulpian zum Inhalt der vom Richter aufzuerlegenden restitutio im Prozeß über die a. q. m. c., daß der Beklagte außer der Rückübereignung auch eine repromissio de dolo abgeben müsse ,sicut dictum est'. Die Autoren, welche den § 5 auf die rei vindicatio ficticia beziehen, sehen sich dazu gezwungen, die Worte sicut dictum est im § 7 für interpoliert zu erklären; denn von einer repromissio de dolo war bei der a. q. m. c. im Ulpiankommentar ja noch nicht die Rede gewesen. So schrieb z. B. Going23: „Bedenklich ist das im jetzigen Zusammenhang auf § 5 zu beziehende,sicut dictum est', das in diesem Sinne bei Ulpian nicht gestanden haben kann." Nimmt man statt dessen an, daß schon die im
(wie allen anderen) „kann der Prätor gegen eine Freilassung nicht zu Hilfe kommen". Das üblicherweise nachgestellte ,/ii//gedanken. Er konkretisiert sich in der mit der Verpfändung verbundenen Abrede des Inhalts, daß das Pfand, wenn es nicht bis zur Fälligkeit gelöst werden würde, dem Gläubiger entweder in solutum gegeben90 oder verkauft91 sein sollte. Diese Vereinbarungen bewirkten auf der älteren Stufe, daß sich bei Nichtlösung das Pfandeigentum des Gläubigers zu (quiritischem) Volleigentum ergänzte, auf der späteren, daß der Gläubiger an Stelle seines bisherigen Pfandrechts vermöge einer traditio brevi manu das Eigentum erwarb. Hatte der Verpfänder für den Fall der Nichtlösung dem Gläubiger die Sache .verkauft', so hatte er ihm nicht nur das in bonis habere zu verschaffen, sondern das habere licere, das über jenes hinausgeht, indem es den Verkäufer verpflichtet, dem Käufer das ,Haben und Behalten' zu verschaffen, aber außerdem etwa res mancipi zu manzipieren oder zu Das Fragment gehört zur condictio furtiva, s. Lenel, Paling. Ulp. Nr. 1058. Dafür reiche Lit. im Ind., ebenso T R 47,324 A . 2 5 4 ; SZ 99,270 f; Ankum, RIDA 3 27,126; 130. Vgl. auch Pap.-Ulp. D. 13.7.22 pr. (die 2. Frage: multo magis hoc erit dicendum in eo, quod ex condictione consecutus est), dazu die eben zitierte Lit. 87 So Erbe, Die Fiduzia (1940) 56; ihm folgend Frezza, Le garanzie delle obbligazioni II: Le garanzie reali (1963) 351. 88 Dazu SZ 99, 271. 8 ' T R 44,244ff; 251 ff; 279ff und 47,208ff mit Lit., insb. F.Peters, (Hamburger) Studien im röm. Recht (1973) 137 ff. 90 Ulp. D . 4 6 . 3 . 4 5 p r . ; Alex. C.8.19.1.1; Diocl. C . 4 . 5 1 . 4 ; 8.13.13 u.a. Zu Konstantins Verbot der lex commissoria, C T 3.2.1 (320), daraus C. 8.3.34.3, s. T R 44,252. 91 Tryph. D.20.5.12pr. mit Pap. vat. 9; Paul. D. 13.7.20.3; 20.4.17; Marci. D.20.1.16.9; 46.3.44; Mod. D.20.6.9pr. u.a. Vgl. T R 47,210 A . 9 1 . - Der Kaufpreis besteht entweder unmittelbar in der Befreiung von der gesicherten Schuld, oder er wird mit dieser verrechnet. 85
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injurezedieren92, womit er das quiritische Eigentum, wenn der Verkäufer es hatte, von diesem erwarb. Im Fall der vereinbarten datio in solutum war, unabhängig vom Schulenstreit über die zivile oder prätorische Befreiungswirkung93, regelmäßiger Leistungsinhalt die Verschaffung des quiritischen Eigentums an den Gläubiger. Der Verfallgedanke liegt anfangs auch der Verwertung durch den Pfandverkauf zugrunde, der den mit den eben geschilderten Abreden bewirkten Verfall später stark zurückdrängte, aber nicht verdrängte94. Der Gläubiger empfing die Rechtsmacht zur Veräußerung der Sache zunächst aus diesem Verfall; erst später aus der Einwilligung des Verpfänders in diesen Verkauf95. 6. Daß die bereits verpfändete Sache demselben oder anderen Gläubigern für weitere Schulden ,nachverpfändet' wird96, ist nach älterem Recht unmöglich, weil das auf den Erstgläubiger übertragene Pfandeigentum dem Verpfänder kein Recht mehr beläßt, über das er durch weitere Verpfändung verfügen könnte. Erst im hochklassischen Recht wird eine zweite Verpfändung unter der (aufschiebenden) Bedingung anerkannt, daß das Erstpfand erlischt97; ferner eine Verpfändung des superfluum im Sinne des ,Mehrwerts', um den der bei einem späteren Verkauf zu erzielende Preis die durch das Erstpfand gesicherte Forderung übersteigt98. Daß der Nachpfandgläubiger an der bereits verpfändeten Sache sofort ein unbedingtes, vom Erlöschen des Erstpfandrechts unabhängiges Pfandrecht erwirbt, das dem Erstpfand im Rang nachsteht, ist erstmals bei Marcellus D. 44.2.19 überliefert99. Nach älterem Recht war mithin eine Nachverpfändung allgemein ausgeschlossen, also auch dann, wenn die erfolgte Verpfändung den Sachwert nicht vollständig ausschöpfte, so daß eine Verpfändung des ,Mehrwerts' möglich gewesen wäre. Das wird sich daraus erklären, daß man auf der Stufe der funktionellen Eigentumsteilung das ,Resteigentum' des Verpfänders als einer weiteren Teilung nicht mehr zugänglich 92 Vgl. nur etwa bei der actio empti die praescriptio pro actore: ,ea res agatur de fundo mancipando', Gai. 4.131a; RP 1,551 A.53. 93 Gai. 3.168; RP 1,638. Zur Erklärung s. Käser, SZ 90 (1973) 211; 100 (1983) 91 (unter b); 101 (1984) bei A.482. ,4 TR 44,280 ff; 47,210 ff. 95 Gai. 2.64; TR 44,281 A.283. 96 Dazu s. Käser, St. Grosso 1 (1968) 27-76, insb. 31 ff ( = Ausgewählte Schriften 2 [1977] 169 ff mit Nachbemerkungen ebd. 219); TR 44,265 f; 47,207; seither Biscardi, SZ 86 (1979) 146ff; Appunti (o. A.28) 218ff. 97 Afr. D.20.4.9.3; s. auch Paul. D.20.3.3 (l.Teil). 98 Gai. D.20.1.15.2; Nerva-Proc.-Paul. D.20.4.13; s. TR 47,207 mit Lit. 99 Weitere Stellen in TR 44,266 A.203; Paul. D.44.2.30.1; Marci. D. 20.4.12pr./7; Ulp. D. 20.1.10.
D e vindicatio pignoris' zwischen ,ius civile' und ,ius praetorium'
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ansah; jedenfalls war auch die Vorstellung einer Rangfolge der Pfandrechte noch unbekannt. 7. Eine mit honorarrechtlichen Mitteln verwirklichte Sonderregel begünstigt den Verpfänder, der den Pfandgegenstand mit Erlaubnis des Pfandgläubigers veräußert100. Sofern dieser die Erlaubnis nicht salva causa pignoris erteilt, sich also den Fortbestand seines Pfandrechts nicht vorbehalten hat, erhält der Erwerber gegen die actio Serviana des Gläubigers die exceptio ,si non voluntate créditons pignus veniit'm, die im Ergebnis einem Verzicht des Gläubigers auf das Pfandrecht gleichkommt. Die vorbehaltlos erteilte Veräußerungsbefugnis gewährt dem Verpfänder den Vorteil, die Sache unbelastet vom Pfandrecht verkaufen und dabei einen höheren Preis erzielen zu können. Der Gläubiger vertraut darauf, daß der Verpfänder ihn auch ohne die Pfandsicherung befriedigen werde102. VI. Die dingliche Pfandklage als ,actio utilis* der Vindikation 1. Sieht man von der zuletzt angeführten, singulären Vergünstigung durch eine prätorische exceptio (in factum) ab, so hat der vorige Abschnitt zwar nur wenig Konkretes für einen Fortbestand ziviler Elemente, aber auch keine weiteren Indizien dafür ergeben, daß aus der Beschränkung des dinglichen Pfandschutzes auf die prätorische a. Serv. Schlüsse auf einen rein honorarrechtlichen Charakter der gesamten Pfandordnung zu ziehen wären103. So werden wir das Fehlen einer zivilen vind. pign. als eine Sondererscheinung zu erklären haben, für die wir die Begründung in den Schwierigkeiten gefunden zu haben glauben, 100 Der Zustimmung des Eigentümers bedarf ferner die Verpfändung des ususfructus, s. Pap.-Marci. D . 2 0 . 1 . 1 1 . 2 , dazu zuletzt Käser, SZ 101 (1984) A . 4 1 2 . 101 Ulp. D . 2 0 . 6 . 4 . 1 ; Marci. eod. 8.6 ff, die exceptio in § 9 . Vgl. ,Stud.' 258 mit Berichtigungen zu T R 4 4 , 2 6 6 f, w o die Lit. angeführt ist ( W a g n e r , Metro, Impallomeni, ferner Wacke, SZ 91 [1974] 265 f). 102 Abweichend noch T R 4 4 , 2 6 6 f. - In eod. 8.10 läßt sich der Verkäufer v o m Käufer in einer cautio versprechen, dieser werde den Preis bis zum Forderungsbetrag dem Gläubiger bezahlen. 103 Auf die obligationenrechtliche actio pigneraticia brauchen wir hier nicht einzugehen. Sie ist v o m Prätor mit einer formula in factum concepta geschaffen und, wie ich vermute, in nachgajanischer Zeit durch eine - vielleicht, wenngleich nicht notwendig, nachträglich in den endgültigen Bestand des Edikts aufgenommene - formula in ius concepta mit der Klausel exfide bona ins ius civile rezipiert worden; s. Näheres in T R 4 7 , 2 1 4 ff; 2 2 2 ff (zur actio contraria), auch SZ 99,256 A . 42 und insbes. SZ 101 (1984) 85 A . 3 9 0 (zu Ankum und Noordraven). D o c h setzt die Klage überhaupt kein dingliches Pfandrecht voraus, sondern nur die Abrede darüber, daß eine (zumeist, aber nicht immer, zugleich übergebene) Sache für eine Forderung verpfändet sein soll. Zur Haftung, wenn die Sache nicht dem Verpfänder gehört, oder wenn ein sonstiger Rechtsmangel besteht, s. etwa T R 4 7 , 2 2 3 A . 163 (mit Lit.); 2 2 4 f f und o. bei A . 33,35.
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die dem Kläger bei einem Beweis des quiritischen Eigentums des Verpfänders entgegenstanden. Seitdem jedoch die prätorische Ordnung hier dem bonitarischen Eigentum sogar den Vorrang vor dem quiritischen einräumte, war mit dem in bonis esse, das die formula Serviana beim Verpfänder fordert, dem Rechtsbedürfnis in befriedigender Weise genügt. 2. Neuestens hat sich indes ein Argument dafür gefunden, daß man die a. Serv. in gewissem Sinn geradezu als zivile Klage verstanden hat. Ich entnehme dies den jüngsten Studien W. Selbs zu den actiones utiles und in factum104. Er führt dort eindrucksvolle Gründe dafür an, daß diese beiden Begriffe in der vor- und frühklassischen Zeit bestimmte, deutlich voneinander abgegrenzte Inhalte hatten, die noch bei Julian eingehalten, bei den späteren Juristen aber, schon bei Gaius, miteinander vermengt wurden. Auf der älteren Stufe seien diese beiden Arten von Abwandlungen vorgegebener actiones (directae; ,Grundklagen') nur überliefert, soweit sie zivile Aktionen mit formulae in ius conceptae waren; nicht in Fällen von formulae in factum conceptae, die - mindestens auf dieser Stufe - keine intentio im technischen Sinn hatten105. Dem steht nicht im Wege, daß auch prätorische, als utiles bezeichnete Aktionen in diese Zeit zurückgehen 106 , von denen manche persönliche Klagen bereits im Edikt als utiles bezeichnet waren 107 . Für die Beurteilung der Pfandklagen sind in diesem Zusammenhang zwei Stellen zu betrachten, die beide auf Julian zurückgehen, den Juristen, der einerseits offenbar als letzter die ursprünglichen Sinngehalte von actiones utiles und in factum noch streng auseinander gehalten, andererseits auf das Schicksal der a. Serv. vermutlich durch ihre Erweiterung von der Verpächterklage zu einer allgemeinen Pfandklage bedeutenden Einfluß genommen hat. a) D. 8.1.16 (Iul. 49 dig.) Ei, qui pignori fundum accepit, non est iniquum utilem petitionem servitutis dari, sicuti ipsius fundi utilis petitio dabitur. idem servari convenit et in eo, ad quem vectigalis fundus pertinet.
104 ,Actiones in factum und Formeltechnik, Vorbemerkungen zu einer geplanten Untersuchung' (Fs. Demelius [1973] 223 ff);,Formulare Analogien in actiones utiles und in factum am Beispiel Julians' (St. Biscardi 3 [1982] 317ff); ,Formulare Analogien...' bei vorjulianischen Juristen (St. Sanfilippo, im Druck; mir dankenswerterweise vom Verfasser im Ms. überlassen). Vgl. meine Übersicht in SZ 101 (1984) 95 ff. 105 Selb, SZ 95 (1978) 494, doch s. zur späteren Entwicklung, schon bei Gai. 4.46 und 60, die Lit. in meinem RZ 239 A. 10, auch 249 A. 31. 106 Zur häufig belegten actio Serviana utilis in verschiedenen Verwendungen s. SDHI 45,24-27 mit Quellen und Lit. 107 Vgl. SZ 101 A. 437; auch Selb, St. Biscardi, 3,344 zu Iul.-Ulp. D. 29.4.10 pr.
De vindicatio pignoris' zwischen ,ius civile' und ,ius praetorium'
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Der Pfandgläubiger, dem das herrschende Grundstück einer Servitut verpfändet ist, kann die vindicatio servitutis als actio utilis geltendmachen108, ebenso wie ihm auch wegen des Grundstücks selbst eine utilis petitio zusteht. Mit dieser kann nichts anderes gemeint sein als die vind. pignoris, die Julian hier bezeichnenderweise als utilis im Verhältnis zu einer dinglichen Herausgabeklage auffaßt. Als eine solche kommt jedoch unter den zivilen actiones in rem als Regeltyp keine andere in Betracht als die rei vindicatio™. Selb deutet die actio utilis des Pfandgläubigers als die wegen des Pfandrechts „abgewandelte Grundklage aus dem verpfändeten Recht", sieht also als Grundklage die vindicatio servitutis an, nicht die Servianauo. Der Sache nach steht jedoch fest, daß in unserem Fall die Formel der act. ut., außer der Servitut des Verpfänders, auch die aus der Verpfändung folgenden Klauseln enthalten haben muß, beispielsweise ,... inter ... convenisse, ut ius eundi agendi in eo fundo Ao.Ao.pignori esset propter pecuniam debitam eamque neque solutam.. . m . Die Formel muß mithin Elemente der vind. servitutis und der a. Serv. vereinigt haben. Dem steht nicht im Wege, daß die Juristen die Klage der Kürze halber nur nach dem individualisierenden Gegenstand, hier der Servitut, bezeichnet und die pfandrechtliche Seite als nach dem Sachverhalt selbstverständlich weggelassen haben. Die vind. servitutis war hier eine zivile Grundklage, wie einst die rei vind. aus Sachverpfändung. Das in bonis habere der a. Serv. war unerheblich, wenn das quiritische Eigentum des Verpfänders am herrschenden Grundstück vom Beklagten nicht bestritten wird, sondern der Streit, dem Text zufolge, nur um die verpfändete Servitut geht112. Daraus wird sich folgern lassen, daß hier auch das Pfandrecht, weil vom quiritischen Eigentümer bestellt, als ziviles Recht gedeutet wurde113. 108
Von der vindicatio
servitutis
ohne utilis
spricht Ulp. D. 43.25.1.5 ( d e t e n t i o n e m
interpoliert für petitionem, s. Ind.), wo unsere Julianstelle zitiert ist; ebenso Gai. D. 39.1.9; Grosso (o. A. 19) 285. Aber utilis kann sowohl vom Klassiker weggelassen wie von Justinian gestrichen sein, s. RP 2,67 A. 23. im Das ist nahezu unbestritten, vgl. etwa Schlichting (o. A. 71) 129 mit weiterer Lit.; Selb, St. Biscardi 3,335 mit A. 49. Anders d'Ors, Iura 20 (1969) 98, der die Grundklage zur act. ut. hier in der von ihm angenommenen selbständigen vind. pign. sieht; ebenso Valino (o. A. 18) 72;80, doch vgl. hiergegen o. A . 2 , auch Schlichting 129 A. 1. - Irrig zu fr. 16 sowohl TR 44,243 A. 58 wie SDHI 45,22 A. 74. 110 St. Biscardi 3,335, hier auch gegen meine Formelvorschläge in Iura 20 (1969) 172 ff für die Fälle der Forderungsverpfändung. 111 Das Weitere nach Lenel, EP 494 f. 112 Zur Verpfändung der Servitut ohne das Grundstück s. Pomp.-Paul. D. 20.1.12; RP 1,443 A. 42. 113 Der Schlußsatz von fr. 16 erweitert das zuvor Gesagte auf den verpfändeten/»«¿hj vectigalis, der vermutlich durch eine rei vindicatio utilis dinglich geschützt war, s. o. A. 20.
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b) Die Abwandlung als actiones utiles durch Julian findet sich auch beim interdictum Salvianum in D . 4 3 . 3 3 . 1 pr.-2 114 . Selbni beruft sich hier darauf, daß der prätorische Ursprung des Interdikts nichts über die Konzeption 116 aussage; „die zivile Konzeption ist jedoch gerade bei den actiones in rem eher eine Frage der Definition. Alle dinglichen Klagen werden nämlich traditionell auf längst bekanntes ziviles, nicht erst vom Prätor geschaffenes Recht zurückgeführt". Dafür läßt sich als sichere Grundlage die gemeinsame geschichtliche Herkunft von der legis actio sacramento in rem anführen. Folgt man dieser historischen Ableitung, die mir eher einleuchtet als die deduktive, dann finden wir damit den zivilen Ausgangspunkt des dinglichen Pfandschutzes bestätigt, der sich nach unserem Befund, trotz der nach Stil und Inhalt prätorischen Formelkonzeption, in der klassischen Pfandrechtsordnung in manchen Zügen erhalten hat.
Die prätorische Abwandlung der rei vind. mag hier einer zivilen Grundklage gleichgehalten worden sein. 114 Zum int. Sah. s. TR 44,240 A. 43 und eingehend SDHI 45,14 ff. Vgl. Kreller, SZ 64 (1944) 306 ff; 320 ff, überzeugend gegen Lenel, SZ 3 (1882) 180 ff; EP 490 ff, der das fr. 1 auf die a.Serv. beziehen wollte. Im übrigen s. Wubbe 194 ff; zuletzt Selb 345 ff. 115 Ebenda 345. 116 Zur Formel s. Kreller 324 u.a.; Käser, SDHI 45,16. Lenels Argumente überzeugen heute nur mehr teilweise.
Betrachtungen zur Reislamisierung im Recht* ERNST KLINGMÜLLER
Wie das umfangreiche Œuvre des Jubilars erweist, galt sein besonderes Interesse auch der Frage, wie aus einem Zusammenwirken von autochthonen deutsch-rechtlichen und allochthonen römisch-rechtlichen Vorstellungen und Institutionen schließlich die Ausformung eines neuen Rechtes erwachsen und welche Bedeutung diesem historischen Prozeß für das Verständnis des lebendigen Rechtes der Gegenwart beizumessen ist. In ähnlicher Weise bietet heute die oft proklamierte Reislamisierung Anlaß zu einer Betrachtung, ob und vor allem inwieweit unter Zurückdrängung geltender europäischer Rechtssysteme ein Wiederaufleben der Shari'a in einzelnen islamischen Ländern möglich und durchführbar ist. Wie in einem historischen Hohlspiegel zeichnen sich Möglichkeiten und Grenzen einer solchen effektiven Rückbesinnung in einem kurzen Rückblick auf die Anfänge eigenständigen juristischen Denkens im Islam und die allmähliche Inkorporierung religiös-normativer Vorstellungen in das angewandte Recht und ihre Systematisierung ab, ergänzt durch einen ebenfalls notgedrungen kurzen Ausblick auf einzelne Versuche einer modernen Verifizierung alter systemgebundener Anschauungen. In einem berühmten und vielzitierten Brief des 2. Kalifen Umar an seinen Stadthalter sind die Prinzipien der Rechtsprechung und der Einsatz der Rechtsquellen kurz und pragmatisch zusammengefaßt 1 . Eine ähnliche noch nicht ganz so dezidierte Ansicht soll übrigens auch schon Mu'adh Ihn Djalal 2 dem Propheten gegenüber vertreten haben, als dieser ihn vor seiner Entsendung in den Yemen fragte, nach welchen Grundsätzen er in seinem neuen Wirkungskreis Recht sprechen werde. In diesen Uberlieferungen zeigt sich recht eindrucksvoll, wie und in welcher Rangfolge von diesen Rechtsquellen Gebrauch gemacht werden * Auf eine korrekte Umschrift der arabischen Termini und Namen sowie auf detaillierte Verweisungen mußte aus technischen und Raum-Gründen verzichtet werden, zumal sie auch für die juristische Deutung der skizzierten Entwicklungslinien weitgehend entbehrlich sind. 1 Die französische Ubersetzung der wichtigsten Version mit einem umfassenden Nachweis auch arabischer Quellen bei E. Tyan, „Histoire de l'Organisation Judiciaire en Pays d'Islam", Leiden i960, S. 24. 2 I. Goldziher, „Die Zahiriten", Leipzig 1884, S. 8.
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soll, die in ihrer Differenzierung von einem allmählich entwickelten Rechtsbewußtsein Zeugnis geben. Neben dem Koran als erster Rechtsquelle steht mehr oder weniger gleichberechtigt die Sunna, d.h. die prophetische Tradition 3 ; es folgt für die Ergänzung etwaiger Unsicherheiten oder Lücken die Analogie4 im Wege der Annäherung. Dazu kamen noch einige Anweisungen des Kalifen zum Verfahren, wie etwa Beweisregeln und Beweiswürdigung; - fundamentaler Aufriß eines Systems, das sich schon in dieser Struktur von anderen Rechtssystemen - etwa dem jüdischen oder dem noch geltenden römischen Recht in entscheidenden Punkten abhob. Man hat dieses islamische Recht, die Shari'a, zutreffend als eine Pflichtenlehre charakterisiert5, der als ius externum der zwingende Charakter weitgehend fehlt. Im Grunde kennt die Shari'a keine apodiktischen Rechtssätze wie das jüdische Recht 6 , das diese teils aus Fluchformeln, teils aus kasuistischen Sätzen durch Verallgemeinerung und Abstrahierung der Rechtsfolgen gewonnen hat. Aber ebenso fern liegt auch der Gedanke eines praetorischen Ediktes oder eines magistralen Gebotes - einer lex. Dem gläubigen Muslim ist die Frage nach dem Geltungsgrund eines Rechtssatzes verwehrt; das Recht gilt letztlich als ein Geschenk Gottes 7 . Diese hier nur kurz skizzierten Eigentümlichkeiten ergeben sich aus der komplexen Entstehung dieses islamischen Rechtes. Sie gelten noch heute. „The essential fact is that circumstances in the present, contemporary phase of Islamic jurisprudence are parallel with those which prevai3 Die Sunna des Propheten umfaßt sein Tun, sein Sprechen und auch sein stillschweigendes Billigen. Die Praxis ist mündlich und in später steigendem Umfang schriftlich in Form von Berichten über einzelne Begebenheiten (hadith) fixiert, denen bald präjudizielle Bedeutung beigemessen wurde. Im 1. Jahrhundert nach dem Tode Muhammed's wurde nur die Sunna des Propheten anerkannt. Später wurden auch seine Genossen einbezogen. Neben den einschlägigen Stichworten in der Enzyklopädie des Islam [EI 1 und EI 2 , soweit erschienen] vgl. vor allem I. Goldziber, „Muhammedanische Studien", Bd. 2, Halle 1890, „Hadith und Sunna", S. 1 ff. 4 Qiyas, der Analogieschluß, über dessen Anwendungsumfang viel gestritten worden ist. Später wurden nähere Regeln entwickelt, wieweit ein Qiyas überhaupt zulässig ist. Er diente vielfach auch dazu, reformistische und neumodische Meinungen etwas zu legalisieren. 5 Eine Deontologie hat sie Snouk Hurgronje in „le Nature du Droit Musulman" (selected works, Leiden 1957), S.256, genannt. 6 Vgl. dazu G. Fohrer, „Das sogenannte apodiktisch formulierte Recht und der Dekalog" in Kerygma und Dogma, Göttingen 1965, S.49. 7 Ganz anders als etwa das Römische Recht, dem die Idee vom göttlichen Ursprung des (Privat)Rechtes schon in seiner archaischen Periode völlig fernlag; so F.Schulz, „Geschichte der römischen Rechtswissenschaft", Weimar 1961, S. 10; demgegenüber Snouk Hurgronje, a. a. O., „II est défendu de rechercher pourquoi telle règle se présente, de telle f a ç o n . . . la volonté d'Allah n'est pourtant pas soumise au contrôle de notre logique."
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led during its earliest period; the problems that confront Islamic lawyers today are similar to those which confronted their predecessors in the first two centuries of Islam, in the seventh and eighth centuries A. D. 8 ." Zu den großen Aufgaben, vor die sich die junge islamische Gemeinde9 nach der ersten großen Welle der Eroberung am Ende des 7. Jahrhunderts gestellt sah, war die dauernde Inkorporierung der rasch okkupierten Länder in ein sich entwickelndes islamisches Gemeinwesen, dessen rechtliche Struktur sich nicht nur auf dem Gebiete der Verwaltung und der so lebenswichtigen Steuern, sondern ebenso auch im Bereich des gesamten Zivil- und Handelsrechtes erst allmählich ausformte. Aber es zeugt von der starken Ausstrahlungskraft der Botschaft Muhammeds, daß sich das Zusammenwachsen der eroberten Länder zu einer großen islamischen Gemeinde ziemlich rasch und ohne größere Komplikationen vollzogen hat. Die bald auftretenden politischen Auseinandersetzungen und dogmatischen Streitigkeiten blieben bei aller Vehemenz und Bitternis insofern intern, als der Gedanke der allumfassenden islamischen Gemeinde nicht ernsthaft in Frage gestellt worden ist. Auch nach dem Auseinanderfallen des alten Umaiyadenreiches um 750 n. Chr. erwies das einigende Band des islamischen Glaubens, wenn auch in vielfachen kulturellen Schattierungen und politischen Differenzierungen, seine verbindende Kraft; und in gleicher Weise kann trotz aller ebenfalls vielfältigen Schattierungen von einem einheitlichen islamischen Recht gesprochen werden, das sich zudem erst nach dem ersten Zerfall im 2. und 3. Jahrhundert der islamischen Zeitrechnung im Grunde nach in Ost und West letztlich gleichen Prinzipien in Auseinandersetzung mit den politischen regionalen Rechten und Gegebenheiten voll entwickelt hat. Eine solche geistige Auseinandersetzung der jungen Religionsgemeinschaft mit den Systemen der alten gewachsenen Kulturen in den eroberten Ländern konnte auf die Dauer nicht ausbleiben. Erste Wirkung hatte übrigens schon die Begegnung und Auseinandersetzung Muhammeds mit der jüdischen10 und der christlichen Lehre gezeitigt, welche der
8 J. Schacht, „Problems of Modern Islamic Legislation" in Studia Islamica, Bd. XII, Paris 1960, S. 99. 9 Als religiöser Staatsbegriff - umma - erfaßt sie alle Muslime, wo immer sie leben. Der Gedanke des Staatsgebietes als ein konstitutives Element des Staates hat auch in dem sehr viel später entwickelten Staatsrecht - etwa bei al-Mawardi in „al-ahkam as-sultaniya" - nie konkrete Gestalt angenommen. Andererseits ist der islamische Glaube als einigendes Band auch bei allen politischen und dogmatischen Auseinandersetzungen nie ernsthaft in Frage gestellt worden; und auch heute dient der Gedanke an die allumfassende islamische Gemeinde der neuerlichen Reintegration. Durch die globale Auseinandersetzung hat er vor allem seitens der Fundamentalisten eine merkliche Aktivierung erfahren. Vgl. dazu neuerdings A.J. Wensink, „Muhammed and the Jews of Medina" - with an excursus Muhammad's Constitution of Medina by J. Wellhausen, Berlin 1982.
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Prophet mit einem kühnen dogmatischen Schwung seiner neuen Lehre als Vorstufen eingliederte. Ahnlich der Aufgabe, vor die sich wenige Jahrhunderte zuvor die Römer bei der Erfassung der neuen Provinzen gestellt sahen, die sie durch Schaffung eines Reichsrechtes mit entsprechenden Konzessionen an das Provinzialrecht in den politischen Griff zu bekommen versuchten, erwies sich auch die Herausforderung der Historie an die Muslime. Hierbei zeigte sich allerdings das einigende Band des Islams als eine, wenn auch mitunter zerklüftete, aber im Ganzen doch immer wieder tragfähige Grundlage für einen Monumentalbau, wenn auch mit vielen Anbauten und Nebeneingängen. Das Hauptportal aber verkörperten, um im Bilde zu bleiben, die heiligen Stätten, die nach festen Riten auch heute noch von Muslimen der ganzen Welt und Anhängern der verschiedensten Rechtsschulen im Dienst und im Gefühl dieser Einheit besucht werden. Den alten regionalen, z. T. stark ausgeprägten Rechtssystemen - etwa in Persien und Ägypten mit seinem hochentwickelten Wasser- und Verwaltungsrecht - konnten die muslimischen Eroberer kein eigenes Rechtssystem entgegengesetzen. Der eingangs erwähnte fiktive Brief Umars erfaßt die Lage durchaus, wenn er den Muslimen empfiehlt, sich zunächst auf den Koran - auch insoweit - zurückzuziehen und ihn sowie ihre einheimische, religiös bestimmte Tradition als Maßstab zu nehmen. Entscheidend für die ganze weitere Entwicklung war der Ansatzpunkt: Die Methode war, im Grunde genommen, defensiv und defektiv; für eine aktive Rechtsgestaltung, für die Errichtung eines „römischen Systems" gaben die aus ganz anderer Sicht verkündeten Offenbarungsvorschriften, welche nicht die Beziehung der Menschen untereinander, sondern ihre Beziehungen zu Gott regelten, primär nicht genug her. Nur relativ wenige Koranverse beinhalten konkrete Rechtsgestaltung und nur ganz wenige Verse sind als Rechtssätze mit klarem Tatbestand und klaren daran geknüpften Rechtsfolgen ausgeformt. Zunächst blieben daher die Muslime darauf angewiesen, die bisher geübte Rechtspraxis in den eroberten Ländern anzuerkennen und ihre Verwaltung danach auszurichten. Sie konnten allenfalls prüfen, ob diese Praxis im einzelnen einen Widerspruch zum Koran oder auch zu ihren sonstigen allgemein anerkannten Anschauungen als Muslime aufwies. Diese Situation mag einer der tieferen Gründe dafür sein, daß wir zunächst keine effizienten politisch eingefärbten Rechtspersönlichkeiten, wie etwa im römischen Recht - was der Jubilar so eindringlich geschildert hat - vorfinden. Weitere Faktoren von denen gleich noch zu handeln ist, haben diese Tendenz verstärkt und zu einer Sonderstellung des islamischen Rechts, der Shari'a, sowie der Rechtswissenschaft, dem Fiqh, im gesellschaftspolitischen System der islamischen Welt geführt.
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Wir hören in der islamischen Frühzeit kaum etwas über die prägende Wirksamkeit muslimischer Juristen. Solange der Prophet lebte, entschied er Streitfälle, die vor ihn gebracht wurden; und nach seinem T o d e fungierten seine Nachfolger, zumindest die ersten Kalifen, als Richter mit höchster Autorität, die aber nicht primär aus ihrer richterlichen Funktion erwachsen war. In den ferner liegenden Zentren, wie Irak und Syrien, aber auch Yemen und Ägypten, sprachen die Stadthalter Recht, und zwar unter starker Einbeziehung des jeweils lokalen Rechts, ohne das eine einigermaßen funktionierende Steuerverwaltung überhaupt nicht denkbar gewesen ist. Unabhängig und fern von diesen weltlichen Umtrieben waren es religiöse Kräfte, welche ganz wesentlich zur A u s f o r m u n g des islamischen Rechts beigetragen haben. Inwieweit einzelne politische Entscheidungen oder Maßnahmen eine solche fromme Kritik hervorgerufen haben, entzieht sich für die Frühzeit unserer Kenntnis. Indessen ist es nicht ausgeschlossen, und es würde auch jeder menschlichen Erfahrung widersprechen, wenn derartige kritische Fälle bei den häufigen Begegnungen der F r o m m e n - vor oder nach dem Gebet - nicht miteinander besprochen worden wären. Wir können ferner annehmen, daß sich auch schon in der Frühzeit in den einzelnen regionalen Zentren fromme Leute zu kontemplativen Gesprächen zusammengefunden haben, die sich nicht immer in religiösen Betrachtungen erschöpft haben mögen. D i e geistige Situation für solche Gespräche war in dieser religiös sensiblen, nachhellenistischen Zeit durchaus vorhanden". Solche zunächst losen Gemeinschaften frommer Persönlichkeiten bildeten sich im Irak ( K u f a und Basra, w o vor allem von Hasan al-Basri12 eine starke Wirkung ausging), ebenso auch im H i d j a z (Medina und Mekka) sowie in Syrien (Beirut und Damaskus). Dabei konnte es nicht ausbleiben, daß in den Kreis dieser Betrachtungen auch die staatliche Politik einbezogen wurde. Aktuellen Anlaß dafür mag sehr bald die politische Praxis der U m a i y a den-Herrscher geboten haben, die nicht nur durch ihre Auseinandersetzung mit Ali und seinen Anhängern G r u n d zu einer solchen religiöspolitischen Kritik geliefert hat; darüber hinaus war ihr allgemeiner Lebens- und Regierungsstil den frommen Kreisen bald ein D o r n im Auge. Konnten als allgemeine juristische Bezugspunkte frommer Betrachtungen zunächst nur die im Koran näher geregelten bzw. angesprochenen G e b o t e in Betracht kommen, so gab der Streit mit den
11 Zum möglichen Einfluß antiken Rechts und Rechtsdenkens vgl. J. Schacht „Foreign Elements in ancient Islamic Law" in Journal of Comperative Legislation and International Law, 1950 (part. 3,4), S. 9ff mit weiterer Literatur. 12 Dazu H.H. Schaeder „Hasan al-Basri" in Der Islam, Bd.XIV, S . 4 2 f f ; H.Ritter „Studien zur islamischen Frömmigkeit Hasan al-Basri's" in Der Islam, Bd. X X I , S. 1 ff.
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Aliden genügend Anlaß, sich auch rechtspolitischen Fragen zuzuwenden, um diese nunmehr nach koranischen Maßstäben zu werten. Dies führte bald zur Konstituierung einzelner Gemeinschaften, die eigene Glaubens- und Lehrsätze entwickelten13. Darüber hinaus wurden nunmehr auch weitere Gebiete des täglichen Lebens in diese Betrachtungen einbezogen und auf ihre Vereinbarkeit mit den religiösen Vorschriften überprüft. Dafür stand zunächst neben dem Koran und einigen überlieferten Traditionen nur wenig Anschauungs- bzw. Vergleichsmaterial zur Verfügung, so daß ein mehr oder weniger ausgestaltetes Gewohnheitsrecht sowie auch der „consensus prudentium" zur Beurteilung eines Problems oder eines Falles herangezogen wurde. Zur Legalisierung einzelner Ansichten berief man sich gern auf Präzedenzfälle aus der Zeit des Propheten, wie sie von einzelnen seiner Zeitgenossen überliefert wurden. Mit wachsendem zeitlichem Abstand wuchs meist auch die Autorität der angeführten Gewährsmänner. Dabei vollzog sich die Auseinandersetzung mit der lokalen Tradition und die allmähliche Durchdringung mit islamischen Gedankengut in den einzelnen Reichsteilen nach dem gleichen Modus, zumal auch genügend Kontakte untereinander bestanden und gepflegt wurden. Der Ausbau, bzw. die Weiterentwicklung dieser Übung mußte zu einer starken Rückorientierung führen, die nun in einem juristischen Kontext ausgestaltet wurde. Wegen der allgemein anerkannten These, daß im Koran grundsätzlich alle Probleme geregelt seien, blieb der rechtsschöpferische Weg nach vorn, wie ihn in klassischer Form das römische Edikt vorgezeichnet hatte, versperrt. Die Weiterentwicklung konnte und durfte sich nur in einer innovativen Ausschöpfung der vorgegebenen Rechtsquellen vollziehen, um deren Aufbau sich die Rechtswissenschaft in ganz anderer Weise bemüht hat als etwa in den westlichen Rechten, denen ein solches 13 Der politische Kampf um die Macht zwischen den Umaiyaden und den Anhängern Ali's führte nicht nur zu einer politisch und rechtlich separaten selbständigen Entwicklung seiner Anhänger, der Shi'iten, sondern gab darüber hinaus auch Anlaß zur Bildung einzelner rechtlich bedeutsamer Gruppen im sogenannten sunnitischen Islam. So sahen z . B . die in der späten Umaiyaden-Zeit aufkommenden Murdjiten trotz der von ihnen mißbilligten gottlosen Politik der Herrscher davon ab, ihnen die Gefolgschaft ebensowenig zu versagen wie den nachfolgenden Abbasiden. Diesbezügliche Hadithe über die Rechtmäßigkeit einer derartigen politischen Loyalität wurden von angesehenen Rechtslehrern wie Abu Yusuf oder Shaibani gesammelt und in ihren Werken veröffentlicht; vgl. Goldziher, „Muh. Stud.", Bd. II, S. 88. Die Lehren der wenig später auftretenden Qadariten mit einem ersten Schwerpunkt in Syrien, welche die strenge Prädestinationslehre einer scharfen Kritik unterzogen, haben vor allem mit ihrer Willensfreiheit allmählich auch hinsichtlich des subjektiven Elementes bei der Wertung rechtsgeschäftlicher Handlungen eine entsprechende Bedeutung erlangt. Dazu Kadariten E P und Niya EI 1 sowie I. Goldziher, „Vorlesungen über den Islam", Heidelberg 1910, Kap. II, Die Entwicklung des Gesetzes.
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göttliches numerus-clausus-System fremd war. Auch die späteren Bemühungen um eine freie Rechtsschöpfung14 (idjtihad) haben im Grunde den religiösen Rahmen nur sehr viel weiter gezogen, aber nie gesprengt. Wenn sich auch diese allmähliche Herausbildung eines juristischen Denkens in den einzelnen Zentren des islamischen Reiches ziemlich gleichförmig vollzogen hat, so gab es doch auch Unterschiede, die weniger in der Struktur als vielmehr in Einzelheiten begründet lagen, vielleicht auch etwas mehr in der politischen Akzentuierung ihrer Führer, die allerdings erst im späteren Stadium der Entwicklung stärker in Erscheinung getreten ist. Im übrigen ist ein bisher wenig beachtetes Phänomen, daß solche meinungsbildenden Entwicklungen, wenn sie einen gewissen Grad der Dezidierung erreicht haben, aus der Anonymität der Bewegung in eine Konkretisierung, d.h. Personifizierung drängen. Während sich die frommen Leute in Basra gern als Autorität auf Hasan al-BasrP beriefen, führten z. B. die frommen Leute aus Kufa ihre Tradition, d.h. ihre traditionellen Ansichten zunächst auf einen Mann namens Ibrahim al-Nakha'i (st. 96/714/15) zurück, von dem allerdings Authentisches nicht bekannt ist. Etwas jünger ist der nächste Gewährsmann, Hammad Ibn Sulayman (st. 120/738). Aber erst in der Mitte des 2. islamischen Jahrhunderts hatte sich genügend Stoff angesammelt, so daß eine Systematisierung angebracht und lohnend erschien. Sie erfolgte zum einen durch einen Qadi Ibn Abi Laila (st. 148/798), zum anderen durch einen frommen Gelehrten, Abu Hanifa (st. 150/ 767). Auch von ihm ist kein Werk unmittelbar erhalten. Er ist vielmehr eigentlich erst durch seine Schüler, Abu Yusuf (st. 182/798) und Shaibani (st. 189/805) zum Gründer einer Schulrichtung16 im nachhinein erfolgreich hochstilisiert worden, indem sie sich zur Begründung ihrer Ansichten und Theorien, die nunmehr auch in überlieferten Werken vorlagen, auf ihren Meister Abu Hanifa beriefen. Ein besonders beliebter Kronzeuge aus alter Zeit, auf den sich Traditionarier verschiedener Richtungen gern berufen, war Ibn Mas'ud (st. 14 idjtihad, das selbständige Bemühen um eine eigenständige Entscheidung aequo et bono; s. dazu unten. 15 Ein starker politischer Impuls mag auch von Hasan al-Basri ausgegangen sein. Vgl. dazu J. Obermann „Political Theology in Early Islam - Hasan al-Basri's Treatise on Qadar" in Journal of the American Oriental Society, Vol. 55, S. 138 ff. 16 Oder auch Ritus - madhhab - von einer Wurzel mit der Bedeutung „gehen", ebenso wie auch Shari'a in der Grundbedeutung „Weg". Der Ausdruck kommt in dieser gleichnishaften Bedeutung bereits im Koran vor (Sure XLII, 13; X L V , 18), das Wort madhhab hingegen nicht. Das Hauptwerk von Malik trägt übrigens den bezeichnenden Titel „almuwatta'". - Das Gleichnis des Weges war offensichtlich orientalisches Gemeingut (vgl. Joh. Ev., Kap. 14, V . 6 ; s.a. 2.Mos., Kap.32, V . 8 ; Ps. 1,6.
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32/652/53)17, der zu den ältesten Anhängern des Propheten gehörte; nach dessen Tode wurde er nach Kufa entsandt, wo er höhere Amter bekleidete. Nicht nur er selbst, sondern z.T. auch seine Zeitgenossen, mit denen er engeren Umgang gepflegt hatte, wurden von den Nachfahren verschiedener Schulrichtungen als Gewährsmänner für ein Hadith in Anspruch genommen. Abu Hanifa stand in seiner theologischen Grundhaltung der von den Umaiyaden und ihren Stadthaltern praktizierten „Staatsreligion" ebenso wie ihrer praktischen Politik kritisch, ja ablehnend gegenüber, ohne jedoch dieser Kritik offen Ausdruck zu geben. Daß er als Begründer seiner Lehrrichtung alsbald anerkannt wurde, lag nicht zuletzt daran, daß seine bedeutenden Schüler Abu Yusuf und Shaibani, gleichsam der Systematiker der hanafitischen Schule, in dem jungen aufstrebenden Abbasidenstaat hervorragende Ämter bekleideten und auch entsprechendes wissenschaftliches Ansehen genossen. Eine ähnliche stufenweise Entwicklung läßt sich auch in Medina nachzeichnen; einer ersten anonymen Periode folgte zum Anfang des 2. Jahrhunderts die Personifizierung der Gewährsmänner auf die sieben Weisen von Medina, mit dem historischen Durchgriff auf den Prophetengenossen Ibn Abbas (st. 32/652/53), als Lokalheros in der Schwesterstadt Mekka sowie auf den Kalifen Umar (st. 23/644) und seinen Sohn Abdallah Ibn Umar (st. 73/693) für Medina. Auch hier spielt zunächst die lokale Tradition die entscheidende Rolle, die sich allerdings auf die Dauer gegenüber der unitarischen auf den Propheten und seine Zeitgenossen ausgerichteten kanonischen Tradition nicht behaupten konnte, sondern in ihr aufging. Personell mündet diese Entwicklung, gleichsam in der dritten Stufe, hier in dit Lehre von Malik Ibn Anas, mit seinem Standardwerk al-Muwatta', das allerdings in einem festen Text nicht von ihm, sondern erst von seinen Schülern in verschiedenen Versionen festgehalten und der Nachwelt mit Kommentaren überliefert ist und das nun den wissenschaftlichen Stand in der zweiten Hälfte des 2. islamischen Jahrhunderts widerspiegelt18. Die Rechtsentwicklung im 3. Bereich, in Syrien, zeigt in dieser Frühzeit weniger prägnante Züge. Hier ist Auza'i (st. 157/774), gleichsam Repräsentant der „Syrischen Schule", wichtiger dogmatischer Orientierungspunkt. Obwohl Syrien einem vergleichsweise stärkeren Einfluß fremden Rechtsdenkens ausgesetzt war als etwa die Stätten der Arabischen Halbinsel, weist seine Lehre, soweit sie uns überliefert ist, stärkere 17 Ihm sagt man nach, daß er zwar im Gesetz Bescheid gewußt habe, aber keine Autorität für die überlieferten Aussprüche des Propheten gewesen sei; I. Goldziher, a.a.O. S. 12. " Zu alledem J.Schacht „Introduction to Islamic Law, Oxford 1966, Kap. 5 und 6.
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archaische Züge auf als etwa diejenigen seines Zeitgenossen Abu Hanifa. Dies mag damit zusammenhängen, daß er der einheimischen lebenden Tradition stärker verhaftet war als einem kritischen Dogmatismus, für den die umaiyadische Politik reichlich Stoff geboten hätte. Seine Nähe zur Regierung in Damaskus mag ihn in seiner Loyalität bestärkt haben, obwohl er auch rege Verbindung mit seinen irakischen Gesinnungsgenossen hielt. Seine Beziehungen zu den nachfolgenden Abbasiden sind trotz einzelner persönlicher Bande nicht gut gewesen; vor allem fehlten ihm einflußreiche Schüler am Hofe von Bagdad, die seiner Lehre zum allgemeinen Durchbruch hätten verhelfen können. So konnte sich seine Schule im Abbasiden-Reich nicht lange behaupten, und auch im späteren umaiyadischen Westreich ist sie bald in der Schule von Malik aufgegangen. Hingegen hat die syrische Opposition die qadaritische und die muta'zilitische Bewegung stark unterstützt, die zum Siege der Abbasiden wesentlich beigetragen hat und gleichsam ihre offizielle Theologie geworden ist. Juristisch bedeutsam ist, daß die starre Prädestinationslehre durch ihre Betonung der Gerechtigkeit Gottes gegenüber dem verantwortlichen - da mit einem freien Willen ausgestatteten - Menschen umgestaltet wurde. Damit weiteten sich natürlich auch die rechtswissenschaftlichen Perspektiven, deren aktuelle Problematik bisher von den Modernisten kaum gesehen ist". Während die Gründung, oder besser die allmähliche Konstituierung der hanafitischen und der malikitischen Rechtsschulen noch in die Anfangszeit der gewaltsamen Ablösung der Umaiyaden durch die Abbasiden zurückreicht - was auch nicht ohne Einfluß auf die geistige Haltung ihrer Vertreter geblieben ist - fällt die Entstehung der dritten shafi'itischen - Rechtsschule in die politisch zunächst etwas ruhigere Abbasidenzeit. Im Gegensatz zu Abu Hanifa und Malik, bei dem der junge Sbafi'i (st. 209/820) noch gehört hatte, sah er sich nach anfänglichem Zögern doch als Begründer eines neuen Madhhab an, der sich vor allem später von seiner Wahlheimat Ägypten aus und mit Unterstützung der dortigen Herrscher in den islamischen Ländern durchsetzte. Sbafi'i ist der große Systematiker, durch den der inzwischen stark angewachsene religiös-rechtliche Stoff seine endgültige Ausgestaltung erfahren hat. Er reduziert den rechtlichen Rohstoff der beispielgebenden religiösen Tradition formal auf die Berichte über den Propheten und die Prophetengenossen mit strenger Prüfung der Uberlieferungskette für die einzelnen Hadithe; zugleich bemüht er sich um eine allgemeine dogmatische Grundlage, um den Rechtsstoff zu formalisieren und das System zu 19 D e r Einfluß der muta'zilitischen Lehre auf die Shari'a bzw. das Fiqh ist bisher noch nicht näher einsichtig; und ähnliches gilt für den Einfluß der griechischen Philosophie auf das speziell islamische Rechtsdenken.
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objektivieren, indem er die freie Rechtsschöpfung durch Verweisung auf die Analogie disziplinierte, ohne allerdings auf die Rechtsquelle der Anerkennung allgemeiner Regeln durch den Konsensus der Rechtsgelehrten zu verzichten. Neben der Analogie im Einzelfall will er auch Ausnahmen von der Regel im Wege der Analogie zulassen, um damit den Weg auch für eine begrenzte freie Rechtsschöpfung freizugeben. Die universalistische Ausweitung für die Anwendung des Konsensus führte dann später zur Anerkennung einer absoluten Zeitgrenze, nach der ein weiterer Konsensus nicht mehr herbeigeführt werden kann, so daß insoweit jedenfalls eine völlig freie Rechtsschöpfung nach Billigkeit der dogmatische Boden entzogen ist. Andererseits können einzelne Neuerungen doch geduldet werden, soweit sie den religiös-moralischen Anforderungen genügen. Zur Komplettierung sei auch noch kurz auf die vierte spätere Rechtsschule hingewiesen, die auf eine primäre Schulgründung durch Ahmed Ihn Hanbai (st. 241/855) zurückgeht und die im 19. und 20. Jahrhundert als „Staatsreligion" der Wahhabiten auf der Arabischen Halbinsel besondere politische Bedeutung erlangt hat. Dogmatisch liegen die Unterschiede dieser etwas puritanischen Richtung in der differenzierten Auswertung der vorhandenen Rechtsquellen. Das gleiche gilt für weitere Schulen, die gleichzeitig, oder auch in den folgenden Jahrhunderten entstanden und zu einem großen Teil auch wieder eingegangen sind. Dogmengeschichtlich bieten sie kaum etwas grundsätzliches Neues. Auch im Rahmen der Shi'a20, jener großen Gruppe verschiedener islamischer Glaubensgemeinschaften, deren gemeinsamer Ursprung fast immer in der Anerkennung von Ali, dem Schwiegersohn des Propheten als rechtmäßigem Kalifen lag, hat sich das religiös bestimmte Recht in ähnlicher Weise entwickelt. In der dogmatischen Struktur unterscheiden sich die Rechtsschulen prinzipiell wenig. Die Differenzen liegen in der unterschiedlichen Anwendung anerkannter Prinzipien und Wertmaßstäbe. Relevant bleibt bis in die jüngste Zeit das Ausmaß, das einer freien Rechtsschöpfung (idjtihad) eingeräumt werden kann. Nach moderner shi'itischer Anschauung haben die Ayatullahs das Recht einer sehr weitgehenden freien Rechtsfindung, die nur durch allgemeine religiöse Vorschriften begrenzt ist. Damit war die Grundlage für ein geschlossenes Rechtssystem gelegt, das in den nachfolgenden Jahrhunderten kaum grundsätzlich verändert worden ist21. In der Neuzeit hat sich der Rechtsstoff durch die technische Entwicklung sowie durch die großen wirtschaftlichen und gesell20
Hier muß der Hinweis auf das Stichwort Shi'a in EI' genügen. Zusammenfassender Uberblick bei Sezgin, Geschichte des arabischen Schrifttums, Leyden, Bd. I, 1967 S. 50 ff; speziell zum Hadith, 2. Kap. und zum Fiqh 4. Kap. 21
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schaftlichen Implikationen stark ausgeweitet; die weitere rechtspolitische Entwicklung ist jedoch daran, vom Familien- und Erbrecht abgesehen, weitgehend vorbeigegangen und hat auf europäischer Basis neu gegründet. Erst die Modernisten22 des beginnenden 20. Jahrhunderts und die Fundamentalisten unserer Zeit haben - nicht zufällig in zeitlicher Parallele mit einem auflebenden Nationalismus - auch das alte Gedankengut der Shari'a wieder zu beleben versucht und dabei die Ansicht vertreten, daß das vorhandene Instrumentarium der Shari'a ausreiche, um allen Anforderungen der Gegenwart an das Recht zu genügen. Darin mag ein nicht unberechtigter Stolz auf jene Leistungen mitschwingen, welche die Begründer der erwähnten alten Rechtsschulen erbracht haben, um sich mit ihren im Glauben verankerten Rechtsideen damals gegenüber einer anders denkenden Umwelt erfolgreich durchzusetzen; und in ähnlicher Weise wird auch heute wieder der Koran als unvergängliche und unverzichtbare Basis in der Rechtslehre angesehen und gewertet. Dabei ist die Shari'a ohne Rückgriff auf den religiösen Traditionsstoff, der das Anschauungsmaterial, die inhärenten Wertungsbegriffe, liefert, nicht praktikabel. Die meisten der alten muslimischen Juristen waren auch Sammler von Traditionsmeldungen. Nicht nur zeitlich nebeneinander, sondern auch in einem sachlichen Miteinander sind bereits zu Anfang des 2. islamischen Jahrhunderts feste Hadith-Sammlungen entstanden. Sie wurden schon bald nicht mehr nur nach der Quelle ihrer Uberlieferer, sondern nach dem Stoff sachlich geordnet und zusammengestellt, so daß im Bedarfsfall, wenn der Anschauungsstoff in den einzelnen FiqhWerken nicht ausreicht, darauf zurückgegriffen werden konnte. So gesehen sind die späteren großen Hadith-Sammlungen zugleich „Rohmaterial" für eventuell zu treffende Entscheidungen; und gleiches muß auch für die allmählich entstehenden zahlreichen Fetwa-Sammlungen (Sammlung von Responsa) der einzelnen Schulen gelten, die je nach ihrem Verfasser hohes Ansehen genossen und zur Rechtsfindung benutzt wurden, andererseits aber - ebensowenig wie die Fiqh-Bücher keine irgendwie geartete präjudizielle Wirkung entfaltet haben. Der erkennende Richter war zwar formell an die Lehre und Prinzipien einer Rechtsschule für die einzelne Entscheidung gebunden, im übrigen aber in ihrer Anwendung und Auslegung frei und auch nicht durch früher von ihm gefällte Entscheidungen in seinem Urteil eingeschränkt23. Er
22 Vor allem von den Modernisten der älteren Generation, Muhammad Abduh und Rashid Rida; vgl. dazu J.Jomier „Le Commentaire Coranique du Manar - Tendences Modernes de l'Exégèse Coranique en Egypte", Paris 1954, insbes. Kap.I „Mohammad Abduh-Rachid Rida" und Kap. VI „Le Droit Musulman". 25 7'yan a . a . O . , S. 172ff.
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konnte sogar verschiedene Fälle nach verschiedenen Schulmeinungen entscheiden. Aber anders als etwa im englischen Recht fehlt den Urteilen die rechtsstabilisierende Bindungswirkung. Der Koran und der Traditionsstoff, wie er in der Sünna und den großen Fiqh-Werken festgeschrieben ist, enthalten in erheblichem Umfang für die rechtlich bedeutsamen Handlungen religiöse Wertungsmaßstäbe, die an einem 5stufigen Schema gemessen werden, das aus dem Begriffspaar gut-schlecht bzw. erlaubt-verboten entwickelt worden ist. Danach sind die Handlungen zu klassifizieren in unbedingt geboten bzw. nur empfohlen oder unbedingt verboten bzw. verwerflich. Zwischen beiden Begriffspaaren bleibt ein Freiraum für wertfreie „neutrale" Handlungen, die weder von einem Verbot noch von einem Gebot erfaßt werden 24 . Ihre Rechts Wirksamkeit entfalten diese Wertungen nun durch den Filter einer Skala, welche die Rechtswirksamkeit nach dieser moralischen Wertung einstuft, und zwar a) eine voll gebilligte Handlung, bei der sowohl die Essentialia als auch die Akzidentalia den religiösen Vorschriften entsprechen. b) eine mißbilligende Handlung, die zwar den Voraussetzungen unter a) formell genügt, aber in ihrer Zielsetzung oder Durchführung von einem Verbot oder einer Mißbilligung erfaßt wird. c) eine bedenkliche (fehlerhafte) Handlung, bei der zwar die Essentialia erlaubt, die Akzidentialia aber verboten sind. d) eine ungesetzliche Handlung, bei der beide Elemente ungesetzlich sind. Daraus ergibt sich hinsichtlich der Rechtswirksamkeit, daß Handlungen nach a) als bindend, nach b) und c) als anfechtbar und nach d) als nichtig angesehen werden. In der Praxis läßt sich die Wertung der einzelnen Handlungen allerdings nicht schematisch vom Religiösen auf den rechtlichen Bereich übertragen. Hier gab es bei den einzelnen Schulen vielfach Unterschiede mit unterschiedlichen Ergebnissen. Ein berühmtes Beispiel ist der Abschluß eines Kaufvertrages während des Freitag-Gebetes, der als verwerflich, aber vielfach trotz des religiösen Makels als rechtlich gültig angesehen wird. Ebenso ist die Ernennung eines unwürdigen Muslims zum Kadi ungültig, aber seine Urteilssprüche sind gültig. Das Obligationenrecht hat den muslimischen Juristen ein weites Betätigungsfeld hinsichtlich der Bewertung von Objekten und Handlungen geboten; hier liegen nun auch in der Neuzeit wesentliche Möglich24 Zur Grundformel s. Goldziher S. 120 ff.
„Vorlesungen", S. 106f; Schacht
„Introduction",
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keiten, um Rechtsgeschäfte des modernen wirtschaftlichen Lebens als erlaubt und damit als gültig dem Shari'a-Recht zu adaptieren. Indessen haben die vielfältigen Versuche der älteren Modernisten nicht verhindern können, daß das Zivilrecht in den islamischen Ländern - mit Ausnahme des Familien- und Erbrechtes - sowie auch das Staatsrecht von modernen laizistischen Kodifikationen nach europäischem Vorbild überlagert und verdrängt worden sind. Bei diesen Gesetzgebungswerken wurde de facto der universale Geltungsanspruch des Koran und damit der religiöse Geltungsgrund der Gesetze einfach negiert, die einzelnen legislativen Neuschöpfungen konnten nicht mehr an den göttlichen Ge- und Verboten gemessen werden. Es blieb allenfalls ein grober Raster in Form eines Vetos, das in einzelnen muslimischen Ländern von einem jeweils gebildeten geistlichen Rat eingelegt werden konnte, sofern einzelne Vorschriften ganz offensichtlich gegen religiöse Ge- und Verbote verstießen. Hier setzen nun die modernen Fundamentalisten ein, indem sie - sehr viel weitgehender als die bisherige Praxis - einzelne moderne Bestimmungen als mit den koranischen Vorschriften unvereinbar und daher nicht (mehr) für anwendbar erklären. Mitunter werden auch einzelne interessante Ersatzlösungen nach islamischem Recht punktuell angeboten. Hier könnte sich also die islamische Rechtswissenschaft noch einmal - gleichsam wie in ihren Anfängen - vor die Aufgabe gestellt sehen, in einem dialektischen Prozeß ihrem heteronomen System Geltung zu verschaffen. Ein beliebtes Beispiel aus der jüngsten Zeit dafür ist die Anwendung bzw. Weitergeltung des koranischen Zins/Wucherverbotes (Riba)25, das heute offiziell in Saudisch Arabien und neuerdings auch wieder im Iran zur Geltung gelangt ist. Als Ersatzlösung auf dem Kapital- und Geldmarkt wird auf eine islamische Institution (mudaraba) zurückgegriffen, die nach Art einer stillen Gesellschaft mit Gewinnbeteiligung arbeitet und in Kombination mit anderen Rechtsinstituten auch differenzierten Anforderungen des Kapitalmarktes gerecht werden soll. Auf islamrechtlicher Basis arbeitet seit einigen Jahren eine islamische Bank in verschiedenen islamischen Ländern mit unterschiedlichem Erfolg 26 . Im 25 D a z u EI 1 „ R i b a " ; zur Behandlung im klassischen Fiqh D.Santillana „Istituzioni di Diritto Musulmana", Bd. II, S. 389 ff. A u s der umfangreichen modernen Erörterung sei hier nur exemplarisch auf einen Aufsatz in der offiziösen Zeitschrift al-Adala hingewiesen, die v o m Ministerium für Justiz sowie für islamische Angelegenheiten und Auqaf in A b u Dhabi herausgegeben wird, betitelt „Der Riba im System der islamischen Shari'a" (arabisch), H . April 1980, 9. J g . , S. 2 ff. - In einem Urteil der Kammer für Handelssachen in Djidda v o m 1 5 . 5 . 1 3 8 9 H . wird die Zinsnahme ausdrücklich verurteilt. 26 Zur mudaraba nach klassischem Fiqh Santillana a. a. O . , Bd. II, S. 323 f f ; modern alAdala, H . August 1979, 8. J g . , S. 1 ff. - Dieses Institut mag sich bei Agrarkrediten noch am ehesten bewähren, aber schwerlich bei Krediten an die Industrie oder den Staat. - Z u
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Strafrecht sei an das A l k o h o l v e r b o t erinnert, das in steigendem Maße z. T. auch ohne ausdrückliches Verbot - wieder stärker befolgt wird. In der Presse wird v o n der Wiedereinführung des islamischen Strafrechtes im Sudan, bzw. der Verhängung einzelner Strafen nach altem Recht berichtet. Pakistan hat im Steuerwesen auf die Zakat-Steuer zurückgegriffen und in einzelnen Lebensbereichen hat sowohl der Iran als auch Lybien wieder islamische Rechtsbräuche eingeführt. In den Golf-Emiraten läßt die Rechtsprechung näheres Eingehen auf islamische W e r t - und Unwertvorstellungen in steigendem Umfang erkennen; die Forderungen auf eine Reislamisierung der Gesetze sind auch in Kuwait erwogen, aber bisher nicht akzeptiert worden. D e r Ruf nach einer Wiedereinführung der muslimischen Shari'a verbindet sich meistens mit einer Kritik an den derzeitigen Rechtszuständen und -systemen, ohne daß aber bisher hinreichende Verbesserungsvorschläge auf islam-rechtlicher Basis gemacht worden wären - mit A u s nahme des Bankgeschäftes und eines ersten, in der Praxis noch nicht bewährten, Versuches bei Gründung einer Versicherungsgesellschaft nach islamischen Recht 27 . Die Entwicklung hat gezeigt, daß auf Lehrmeinungen von Rechtsschulen allein ein sicher funktionierendes Rechtssystem auf die Dauer modernen Bankgeschäften ohne Zinsen sei auf das Material des islamischen Finanzunternehmens Dar al-Mal al-Islami mit Sitz in Genf hingewiesen; gegründet 1981 von Repräsentanten aus folgenden Staaten: Bahrain, Guinea, Kuwait, Malaysia, Pakistan, Qatar, Saudisch-Arabien, Sudan, Vereinigte Arabische Emirate. Zu den bei der Gründung verabschiedeten Grundsätzen gehört „... to eliminate Riba from ummat al-Islam since Riba . . . banned by Allah". Nach dem Geschäftsbericht 1983 werden - natürlich ohne direkte Zinsnahme - folgende Bankgeschäfte betrieben: profit-sharing, trust financing, leasing, leasing purchase, interestfree loan (praktisch nur für gemeinnützige und humanitäre Zwecke). - Der Saudi Industrial Development Fund gibt zinslose Darlehen bei einer entsprechenden Bearbeitungsgebühr. Nach geltendem Wertpapierrecht Saudisch-Arabiens sind Zinsen verboten. Ebenso neuerdings in Iran (Law on Interestfree Banking vom 15.9.1983). 27 Das Versicherungsgeschäft war schon lange Zeit ein Stein des Anstosses, obwohl bereits sehr früh - gegen Ende des 18. Jahrhunderts - der hanafitische Rechtsgelehrte Ibn Abidin Versicherungsabschlüsse der Muslime, zumindest mit ausländischen Versicherungsgesellschaften, für erlaubt erklärt hatte. Dazu A.Nallino „Delle Assicurazioni in Diritto musulmano hanafita" in Oriente Moderno 1927, S. 446 ff. - Das Dar al-Mal alIslami hat kürzlich eine islamische Versicherungsgesellschaft auf genossenschaftlicher Basis (takaful) gegründet, die ohne Zinsen arbeitet. Nicht zu übersehen ist bisher, wie sich die Zusammenarbeit mit dem internationalen kapitalistischen Rückversicherungsmarkt gestalten wird, zumal wenn man die Begründung für diese Islam-gerechte Sonderform liest: „... western insurance is a form of gamble where the insured can lose his funds to the companies; western policies are written to constitute an indefinite contract, in opposition to the will of Allah. - Ein genereller Überblick und Vergleich mit den normalen Geschäftsbanken bei T. Wohlers-Scharf und K. Nienhaus „Arab and Islamic Banks, Petrocapital and Development" in Orient, Opladen 1982, S. 243 ff.
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nicht gründen kann; ihm mangelt es an der notwendigen Autorität, um nicht nur Gerechtigkeit sondern auch Rechtssicherheit zu bieten. Klassisches Beispiel aus dem Arbeitsbereich des Jubilars ist Kaiser Justinian, der einzelne Lehrmeinungen durch Aufnahme in das corpus iuris mit verbindlicher Rechtswirkung ausstattete. Erwägungen über eine Kodifizierung des Gedankengutes der Shari'a sind in letzter Zeit wieder angestellt worden, aber eine solche große Lösung dürfte auf erhebliche, nicht nur interne, sondern stärker noch externe Schwierigkeiten stoßen, weil eine internationale Zusammenarbeit z.B. rechtlich verschieden strukturierter Kapitalmärkte kaum denkbar ist. Eine andere Frage wäre, ob es gelingt, in größerem Umfang einzelne Elemente des islamischen Rechtes in das derzeit, in einzelnen islamischen Staaten praktizierte laizistische Recht einzufügen und im Wege einer allmählichen Durchdringung das moderne Recht an islamischen Wertvorstellungen auszurichten, wie sie voranstehend kurz skizziert worden sind. Die Geschichte der Rezeption des römischen Rechtes in Deutschland hat gezeigt, und auch dafür lassen sich aus Arbeiten des Jubilars Beispiele anführen, daß eine solche Synthese zwischen verschiedenen Rechtssystemen möglich ist. Allerdings haben diese hier lange Zeit nebeneinander bestanden, ehe sie durch den Gesetzgeber zusammengefügt wurden. Bei der großen Zahl der islamisch orientierten Staaten bleibt zunächst abzuwarten, wieweit sich derartige Bestrebungen in einzelnen Ländern mit ihren ganz verschieden ausgerichteten Rechtsstrukturen realisieren lassen, ehe an eine große Harmonisierung auf islamisch-rechtlicher Basis für die gesamte islamische Gemeinde, die Umma zu denken wäre.
Die eigentliche Bedeutung von actum und actum est
agere
D E T L E F LIEBS
I. Fragestellung Actam rem, actum oder acta agere und actum est oder acta res est sind Redewendungen der lateinischen Umgangssprache. Sie bedeuten ,sich vergeblich bemühen, etwas Sinnloses tun, Erledigtes betreiben'; actum est ,es ist nichts mehr zu machen, ist aus, ist vorbei, ist Schluß*. Woher kommen diese Wendungen? Der Jurist vermutet nicht erst heute1, daß sie zurückgehen auf die rechtliche Bedeutung von agere: gerichtlich vorgehen, klagen', von der Partei gesagt. Die Erfahrung, daß, wer einmal geklagt hat, wegen derselben Sache nicht noch einmal klagen kann, läge den Wendungen also zugrunde. Läßt sich diese Vermutung erhärten? Insbesondere: Lassen sich die Wendungen einem bestimmten Prozeßrecht zuweisen, das im Laufe der römischen Geschichte ja mehrmals grundlegend wechselte? Den Versuch, diese Frage zu beantworten, widme ich dem verehrten Kenner der römischen Prozeßpraxis. Auf das römische Prozeßrecht führte die Wendungen schon der römische Filologe Donat in der Mitte des 4.Jhs. n.Chr. zurück. In seinem Terenzkommentar erläutert er Vers 54 der Komödie Eunuchus wie folgt: ACTUM EST de iure translatum.
Vers 419 der Komödie Phormio
so:
„ACTUM" AIUNT „NE AGAS" „aiunt" dicimus, cum proverbium significamus. a c t a r e s est, de qua sententia prolata sit.
Vers 465 der Andria: ACTUM EST in summa rerum desperatione ponitur, ut „actum est, ilicet, peristi" ( = Eun. 54 f). haec res secundum ius civile dicitur, in quo cavetur, ne quis rem actam apud iudices repetat. sie ipse in Phormione „actum aiunt ne agas" ( = Vers 419).
1 Über die heute dazu vertretenen Meinungen unterrichtet kurz Käser, Das römische Zivilprozeßrecht (München 1966) 93 Fn. 39. Dort auch Fundstellen. Weitere im Thesaurus linguae Latinae Bd. 1 Sp. 1394 f Z. 83-28.
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Detlef Liebs
Und Vers 232 der Adelphoe: A C T U M A G A M proverbium, id est: nihil agam. quod enim in iure2 semel iudicatum fuerit, rescindi et iterum agi non potest. sie in Phormione „actum aiunt ne agas" ( = Vers 419).
Nach Donat knüpfen beide Wendungen also an die Unabänderlichkeit des (rechtskräftigen) Urteils an. Nun galt im 4. Jh. n. Chr. aber ein ganz anderes Prozeßrecht, nämlich der Kognitionsprozeß vor Beamten von der Klagerhebung bis zum Urteil, während zur Zeit des kommentierten Terenz im 2.Jh. v.Chr. noch das Legisaktionenverfahren mit seinen Spruchformeln im Schwange war, die zur Prozeßeinleitung vor dem Prätor aufzusagen waren, und mit einem zweiten Abschnitt vor dem Geschworenenrichter für Beweisaufnahme und Urteil. Deshalb ist zweifelhaft, ob Donats Auskunft stimmt, insbesondere seine Fixierung auf das Urteil. Zur Zeit von Terenz bedeutete agere in rechtlichem Zusammenhang an sich nur ,klagen', genauer: ,Klage erheben', d.h. im alten Legisaktionenverfahren feierliches Aufsagen der Spruchformel vor dem Prätor3, und erst später auch erfolgreich klagen'4. Nach altrömischem Recht hatte, wer eine (persönliche) Klage erhoben hatte, den ihr zugrundeliegenden materiellen Anspruch verbraucht. Eine zweite Klage konnte zwar angestrengt werden, war aber am Ende abzuweisen; eine zweite Klage war nutzlos5. Gehen wir deshalb die lateinischen Texte, in denen die Ausdrücke vorkommen, der Reihe nach durch. II. Actum agere 1. Die beiden ältesten Belege finden sich bei Plautus. Der eine in Vers 703 der Kästchenkomödie (Cistellaria). Ein Kästchen ist verschwunden. Halisca, die Sklavin der Besitzerin, verfolgt Spuren im Sand, bis sie nicht mehr weiterführen. Da ruft sie aus: actam rem ago. quod periit, periit: meum corium cum cistella. Verlorene Müh. Was hin ist, ist hin: mit dem Kästchen mein Fell. 2 Bedeutet hier unspezifisch ,im Bereich des Rechts' wie in den Scholia Danielis zu Vergil, Äneis 12, 727; u. bei Agröcius, Ars de orthogr. S. 119 f ed. Keil, Gramm. Lat. VII. Zu beiden Liebs, in: Ztschr. d. Savigny-Stiftung f. Rechtsgesch., Romanist. Abt. (i. folg. SZ) 85 (1968) 248. 3 Im einzelner Käser, R Z 57 ff. Abweichend G.Jahr, Litis contestatio (Köln 1960) 72 f: ein mehrgliedriger, sich über eine gewisse Zeit erstreckender Vorgang, an dessen Vollendung sich erst die von Gajus, inst. 4, 108, genannte Wirkung geknüpft habe. Dagegen überzeugend Käser a. a. O. Zur Deutung der Wortformen Käser, Das altrömische ius (Göttingen 1949) 326, 334 ff. 4 Liebs, Die Klagenkonkurrenz im röm. Recht (Göttingen 1972) 173 F n . 2 4 7 ; s.a. 150 Abs. 3 u. 186. 5 Im einzelnen Liebs, Die Klagenkonsumption des römischen Rechts, SZ 86 (1969) 169 ff.
Die eigentliche Bedeutung von actum agere und actum est
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2. Die zweite Plautusstelle ist Vers 259/260 des Pseudolus. Nachdem der Kuppler Ballio dem Liebhaber seiner Sklavin Phoenicium, Calidor, alle Barmittel abgeknöpft hat, verweigert er ihm den weiteren Zutritt zu ihr. Calidor beklagt sich schließlich beim Kuppler, wie übel er sein Geld bei ihm verloren habe. Dieser entgegnet: mortua verba re nunc facis. stultus es, rem actam agis. Leere Worte redest du daher. Du Idiot, vergeudest deine Zeit.
An beiden Stellen denkt niemand an einen Prozeß; beide Male kann actam rem agere ohne Verlust von mitschwingenden Nebenbedeutungen mit ,etwas Sinnloses tun' übersetzt werden. In der zweiten Stelle spielt Ballio mit rem actam auch nicht etwa auf einst mit Calidor getätigte Kuppeleigeschäfte an, die seiner Ansicht nach abgetan wären, weshalb Calidor sich nicht auf seine damaligen Leistungen berufen könne. Darum ging es nämlich in Vers 256: C A L I D O R : dedi dum fuit. B A L L I O : non peto quod dedisti. C.: Solang was da war, gab ich's her. B.: Ich verlang nicht, was du gegeben hast.
Daraufhin hatte Calidor es mit dem Versprechen, seine Gegenleistung später zu erbringen, versucht. Auch damit abgewiesen, verlegt er sich in Vers 258/59 aufs Wehklagen. Und dieses Wehklagen beantwortet Ballio in Vers 259/260 nicht mehr mit Argumenten, sondern schilt es nichtsnutzig, für einen unablässigen Geschäftemacher wie ihn ein schwerwiegender Einwand. 3. Die Hauptfigur der Terenzkomödie Phormio ist ein braver Armenanwalt, der kein Honorar verlangt, sondern sich zu Tisch laden läßt, ein „Parasit". Er hat die Abwesenheit des Bürgers Demipho genutzt, um dessen liebeskrankem Sohn Antipho zur Heirat mit der armen Phanium zu verhelfen. In Athen ist gesetzlich bestimmt, daß eine mittellose Waise von ihren unverheirateten männlichen Verwandten die Ehe verlangen kann. So gab sich Phormio vor Gericht als Phaniums Onkel und Antipho mit seinem Einverständnis als ihren Vetter aus. Zurückgekehrt will Demipho die Sache rückgängig machen, notfalls selbst vor Gericht gehen. Bevor er das aber tut, bietet er Phormio an, gegen fünf Minen Mitgift selbst das Mädchen zu heiraten. Da dieser ablehnt, hält Demipho ihm vor, er sei mit Phanium ja genauso verwandt wie Antipho. Darauf erwidert Phormio nur (Vers 419): „actum" aiunt „ne agas". Es heißt, man soll nichts betreiben, was erledigt ist.
Damit meint er: Phanium wurde von einem Verwandten geheiratet, weshalb ihn die Bestimmung nicht mehr treffen könne. Nicht etwa sind die von Demipho angedrohten gerichtlichen Schritte gemeint. Auf die
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Heirat bezogen ist das Sprichwort nicht unpassend gewählt, da man sich auch nach griechischer und römischer Sitte nur einmal verheiratete. Rechtlich war sowohl in Rom als auch in Athen Scheidung und Neuverheiratung möglich, worauf Demipho auch hinauswill, wie sich aus seiner Antwort ergibt. Phormio erklärte mit dem Sprichwort dies nur für untunlich, nicht auch für rechtlich unmöglich; er wird nicht prägnant den Rechtsakt der Eheschließung gemeint haben, sondern stellte das Heiraten als gesellschaftliches Handeln unter eine Sozialnorm6. 4. In der Komödie Die Brüder (Adelphoe) muß der Kuppler Sannio in dringenden Geschäften nach Zypern reisen, will er hohe Verluste vermeiden. Äschinus versucht, diese Zeitnot seines Gegners in einem Streit, bei dem er klar im Unrecht ist, auszunützen, um ihn zu einem ungünstigen Vergleich zu bringen. Sannio wägt ab (Z. 232-235): nunc si hoc (das Vergleichsangebot) omitto, actum agam ubi illinc rediero, nil est, refrixerit res: „nunc demum venis? quor passu's? ubi eras?", ut sit satius perdere, quam hic nunc manere tarn diu aut tum persequi. W e n n ich das jetzt ausschlage, betriebe ich, wenn ich von dort zurückgekommen bin, Erledigtes; nichts ist, die Sache ist erkaltet: „Jetzt erst kommst du? W o r a n hast du gelitten? W o warst du?", so daß es besser ist zu verlieren (bei dem Vergleich), als jetzt so lange (wie für einen Prozeß erforderlich) hier zu bleiben oder die Sache später zu verfolgen.
Hier geht es in der Tat um einen Prozeß, den Sannio anzustrengen erwägt: Rei vindicatio, actio furti manifesti und actio iniuriarum würden dem Kuppler im damaligen Rom ein Vielfaches von dem, was ihm jetzt geboten wird, einbringen, von den verschiedenen hier einschlägigen Interdikten ganz abgesehen. So genau wird Sannio seine Rechte allerdings nicht gekannt haben bzw. war es von Terenz nicht gemeint, spielt das Stück doch in Athen. Außerdem mußte der verachtete Kuppler damit rechnen, daß der gegnerische Bürgerssohn falsche Zeugen beibringt, womit er bereits gedroht hat. Vor allem aber, so meint er, verschlechtere ein Aufschub seines gerichtlichen Vorgehens bis zur Rückkehr von der Sklavenmesse auf Zypern seine Position vor Gericht erheblich. Wie soll das zugehen, wenn für die Reise ein bis zwei Monate zu veranschlagen waren? Eine Ausschlußfrist kann Sannio also nicht meinen, nur eine faktische Verschlechterung seiner Position; die ausgemalten Fragen sind solche des gegnerischen Anwalts, der ihn damit unglaubwürdig zu machen versuchen wird. Auch hier ist actum agere 6 Gegen übertriebene Festlegung von Plautus und Terenz auf Rechtsbegriffe ztr. P. Witt, Die Ubersetzung von Rechtsbegriffen, dargestellt am Beispiel der in ins vocatio bei Plautus und Terenz, in: Studia et Documenta Historiae et Iuris 37 (1971) 2 1 7 f f .
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also nicht wirklich i. S. v. ,eine schon entschiedene Sache einklagen, einen schon geführten Prozeß noch einmal führen' gebraucht, sondern im ganz allgemeinen Sinn von ,Sinnloses tun' - sofern nicht gar mit den neueren Terenz-Herausgebern 7 ac tum agam zu lesen ist. 5. A m 11. März 49 v. Chr. schreibt Cicero seinem Freunde und Bankier Atticus. Der Bürgerkrieg zwischen Cäsar und Pompejus ist seit zwei Monaten im Gang, und Cicero, der sich zunächst auf sein Gut Formianum zurückgezogen hat, erhält soeben die (falsche) Nachricht, Pompejus habe mit seinen Truppen Italien verlassen. N u n , da die Würfel gefallen zu sein scheinen, reut es Cicero, Pompejus nicht gefolgt zu sein. Er zeiht sich der Undankbarkeit und der Untreue. Der letzte Absatz beginnt mit den Worten (Ad Atticum 9, 6 §7): Sed acta ne agamus, reliqua paremus.
Mit diesen Worten ermannt sich Cicero, sich nicht länger mit Dingen abzugeben, die nicht mehr zu ändern sind, und die verbliebenen Möglichkeiten zu nutzen; Geschehenes ruhen zu lassen und an die Z u k u n f t zu denken. Acta agere bedeutet hier so viel wie ,verpaßten Möglichkeiten nachhängen', was ebenso nutzlos ist wie einen entschiedenen Prozeß noch einmal aufrollen. 6. Gut zwei Wochen später, am 28. März, schreibt Cicero gleichfalls aus Formiae den Brief 9, 21 (18) an Atticus. Am 17. hatte Pompejus tatsächlich Brindisi in Richtung Osten verlassen. Aus grundsätzlich optimatischer Gesinnung und Dankbarkeit, weil Pompejus Ciceros Konsulatspolitik schließlich doch gerühmt hatte 8 , neigt Cicero dessen Partei zu, hätte aber trotzdem gern vermittelt. U m dies weiterhin tun zu können, aber auch aus Unentschlossenheit und Abscheu vor dem Bürgerkrieg, ist er Pompejus noch nicht gefolgt, im Gegensatz zum Großteil des Senats und der Regierung. Dieses Verhalten legte Cäsar als abwartende Neutralität aus und machte sich H o f f n u n g , nach seinen militärischen Anfangserfolgen Cicero jetzt auf seine Seite ziehen zu können. Cäsars Zumutung, zu einer von ihm einberufenen Senatssitzung möge Cicero erscheinen, ohne allzu konkret gegen die Fortsetzung des Bürgerkriegs zu plädieren, hat Cicero zurückgewiesen. Es kam zum Bruch, was Cicero nach seiner verfänglichen Korrespondenz mit Cäsar endlich mit Stolz erfüllt. Er ist jetzt entschlossen, so bald als möglich zu Pompejus zu fliehen. Das kann er Atticus aber nur verschlüsselt mitteilen. In § 3 heißt es: 7 So Sextus Prete (Heidelberg 1954); u. ]. Marouzeau (Paris 1949). Wie im Text noch Robert Kauer u. Wallace M. Lindsay (Oxford 1926). ' S. Cicero, Ad Atticum 1, 13 §4. Hier zitiert nach der Tusculum-Ausgabe von Helmut Kasten (München 1959).
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. . . continuo . . . ego (sc. proficiscor) Arpinum. inde exspecto quidem "hakaytvaay illam tuam. ,tu malim' inquies ,actum ne agas". etiam illum ipsum, quem sequimur, multa fefellerunt.
Exspecto Xakaytvaav illam tuam ist eine Anspielung auf ein Epigramm des Leonidas von Tarent', das Atticus im gleichen Zusammenhang zwei Wochen vorher angebracht hatte10. Es beginnt: 'O jtXöog (boalog- xal yäg XaXayEiiaa xeXöwv fjör| nenßXcoxEv yw' xagiac, ¡¡¿cpugoc;. Cicero will mit exspecto usf. also sagen, daß er auf eine Gelegenheit wartet, sich einzuschiffen, d.h. zu fliehen. Mit ,tu malim' usf. unterstellt er gleich einen Einwand des Empfängers, den er wiederum mit dem Hinweis beantwortet, auch Pompejus habe sich oft täuschen lassen. Was ist mit actum ne agas nun genau gemeint? Die Flucht, für die es jetzt möglicherweise zu spät ist? Liest man zunächst nur bis agas, so scheint das die sinnvollste Deutung zu sein. Der Schlußsatz des Abschnitts erweckt aber alsbald wieder Zweifel: Wieso sind Irrtümer des Pompejus ein Trost, wenn es darum geht, ob man noch fliehen kann? Wenn Cicero sagt, Pompejus habe sich oft täuschen lassen, so meint er wahrscheinlich dessen zeitweiliges Zusammengehen mit den Populären und besonders mit Cäsar. Diesen „Irrtum" des Pompejus setzt Cicero offenbar in Parallele zu einem eigenen, seiner nunmehr zerstörten Hoffnung, Cäsar zum Einlenken bewegen zu können. Diesen Versuch muß ihm gerade Pompejus konzedieren: Er wird Cicero noch aufnehmen, auch wenn seine Parteinahme recht spät kommt. Actum ne agas ist daher auf die Parteinahme zu beziehen; es bedeutet eine Warnung, zu prüfen, ob sie in Wahrheit nicht schon geschehen sei, nämlich für Cäsar durch Ciceros langes Zurückbleiben und jenen Brief an Cäsar", den der Empfänger als Parteinahme für sich ausgelegt und verbreitet hatte12. In jener dem Freund in den Mund gelegten Mahnung drückt sich Ciceros Furcht aus, zwischen den Fronten zu stehen und die Freiheit der Entscheidung, in beiden Richtungen, verloren zu haben, ein Grundthema in all seinen Briefen jener Wochen13. Mit agas ist die öffentliche Parteinahme für Pompejus durch Flucht aus Casars Machtbereich gemeint; die sprichwörtliche Redensart actum agere steht hier für ,zu spät kommen, noch kommen, nachdem die Fronten sich schon herausgebildet, die Parteien sich schon geschieden haben; post festum erscheinen'. Erhalten in der Anthologia Palatina 10, 1. S. Cicero, Ad Atticum 9, 8 (7) § 5. 11 Ad Atticum 9, 12 (11) A. 12 Cicero, Ad Atticum 9, 22 (8, 9) §§ 1 u. 2. 13 S. z . B . Ad Atticum 9, 17 (15) § § 2 a . E . u. 3.
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Dieser Interpretation scheint sich aber eine andere Schwierigkeit entgegenzustellen. Atticus hatte die ganzen Wochen Cicero geraten, noch nicht zu fliehen und erst abzuwarten, wie die Dinge sich entwikkeln14. Nun von ihm die Warnung zu hören, inzwischen sei es zu spät, wirkt geradezu zynisch. Und daß Atticus sich Cicero gegenüber zynisch benommen hätte, ist unglaubhaft. Wenn man nun aber actum agere übersetzt,Uberflüssiges, Unnötiges tun', so daß Atticus Cicero mahnen würde, noch immer abzuwarten, dann stimmte - ganz wie bei der ersten Möglichkeit - der folgende Satz nicht dazu. Cicero scheint die Warnung nicht als zynisch zu empfinden. Der Freund, dessen Stimme Cicero hier zu vernehmen meint, vertritt ganz allgemein die Stimme der Besonnenheit. Und in der Tat mangelte in diesen kritischen Monaten Cicero selbst die Fähigkeit zu besonnener Überlegung sehr; nur der maßvollen Beratung durch den Freund ist es zu danken, daß er keine unüberlegten Handlungen begangen hatte. Das war Cicero bewußt, weshalb er beinahe täglich seinen Rat erbat. Actum agere wird hier also auf eine Lage bezogen, die der dessen sehr ähnlich ist, der einen Prozeß noch einmal beginnt: eine Parteinahme, die, wenn geschehen, nicht rückgängig gemacht (oder gar erneut vorgenommen) werden kann, nachdem sie (gegen Pompejus) vollzogen war (bzw. der mahnenden Stimme zu sein schien), wie wenn nichts geschehen sei, erneut - und in entgegengesetztem Sinn - tun; also etwas tun, was man eigentlich nicht kann. 7. Nach Cäsars Ermordung am 15.März 44 v.Chr. schrieb Cicero, seinem Freunde Atticus gewidmet, den filosofischen Dialog Laelius vel de amicitia. Darin gibt Lälius praecepta zum Thema Freundschaft, warnt insbesondere vor Leichtfertigkeit: (§ 8 4 ) . . . virtuti opera danda est, sine qua nec amicitiam neque ullam rem expetendam consequi possumus; ea vero neglecta qui se amicos habere arbitrantur, tum se denique errasse sentiunt, cum eos gravis aliquis casus experiri cogit. (§ 85) quocirca (dicendum est enim saepius) cum iudicaris, diligere oportet, non cum dilexeris iudicare. sed cum multis in rebus neglegentia plectimur, tum maxime in amicis et diligendis et colendis; praeposteris enim utimur consiliis et acta agimus, quod vetamur vetere proverbio. nam implicati ultro et citro vel usu diuturno vel etiam officiis repente in medio cursu amicitias exorta aliqua offensione disrumpimus.
Es ist nicht ganz leicht, den genauen Gang des Gedankens zu erfassen. U m meine Auffassung in den kritischen Punkten zu verdeutlichen, wähle ich daher eine freie Parafrase, die sich auf das Problematische beschränkt. U m eine große Freundschaft hervorzubringen, müsse man wie für alle großen Dinge virtus aufbringen; lasse man sie außer acht, so erlange man keine wirklichen Freunde, wie sich bei der ersten Probe 14
S. vor allem 9, 1 (10); aber auch 9, 14 (13) §§2 u. 5; u. 9, 17 (15) §5.
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herausstellen werde. Daher müsse man sich den Partner vorher genau ansehen und dürfe erst dann Freundschaft schließen, nicht umgekehrt. Bei der Freundschaft räche sich Leichtsinn ganz besonders, wörtlich: werden wir aber in vielen Dingen . . . bestraft, so ganz besonders... Man folge nämlich verkehrten Ratschlägen, d.h. des allzu sorglos gewonnenen und erhaltenen Freundes, denn Ratschläge von dritter Seite könnten nicht mit enim angeknüpft sein15. Und überhaupt16 betreibe man eitle Dinge, wenn man solche Freundschaften pflege. Denn auf Grund irgendeiner Kränkung im täglichen Hin und Her der Geschäfte löse man diese Freundschaften schnell wieder auf17. Cicero braucht die Wendung hier also einfach für ,etwas Sinnloses tun'. 8. Um 15 v. Chr. befaßt Livius sich mit dem Jahr 205 v. Chr.: Publius Cornelius Scipio, der spätere Africanus, hat sein Konsulat angetreten. Bei der Verteilung der Befehlsbereiche verlangt Scipio für sich Sizilien und Africa, um durch unmittelbare Bedrohung Karthagos Hannibal zum endgültigen Abzug aus Italien zu veranlassen und die Entscheidung auf afrikanischem Boden herbeizuführen. Vorher hatte Scipio öffentlich erklärt, wenn der Senat ihm Africa nicht freiwillig zuweise, werde er es sich mit Hilfe des Volkes verschaffen. In der Senatssitzung tritt ihm deshalb der Cunctator entgegen, beginnend mit einer Anspielung auf Scipios Entschlossenheit, ein ablehnendes Votum des Senats zu überspielen (28, 40, 3): Scio multis vestrum videri, patres conscripti, rem actam hodierno die agi et frustra habiturum orationem qui tamquam de integra re de Africa provincia sententiam dixerit. . . . 5. . . . consulem peccare arbitror qui de re transacta simulando se referre senatum ludibrio habet, . . .
Der Sinn dieser Worte ist klar: Quintus Fabius Maximus wendet sich dagegen, daß dem Senat Sachen unterbreitet werden, die schon ausgemacht sind, d.h. ihm nur noch die Möglichkeit der Zustimmung zu lassen. Rem actam agi heißt hier ,eine schon entschiedene Sache verhandeln'. Mit rem actam meint Fabius also keine verhandelte Sache18, denn
15 Anders offenbar M.Seyffert in seinem Kommentar zu der Schrift (2. Aufl. von C.F. W. Müller Leipzig 1876, Neudruck Hildesheim 1965) S.498. 16 Es ist gewiß kühn, aus einem schlichten et einen gedanklichen Neuansatz herauszulesen, wo eine einfache Tautologie näher zu liegen scheint; doch ist anders das den folgenden Satz einleitende nam nicht unterzubringen. 17 Ganz anders interpretiert die Stelle Seyffert (o. A. 15) S.497f: actum agere bedeute, vergeblich den Bruch einer Freundschaft zu heilen versuchen. Eine solche Aussage läßt sich indessen nicht in den Gedankengang der Stelle einfügen. Seyffert haftete vermutlich zu sehr an Donat.
" Wobei das Verhandeln im Senat auch technisches agere wäre, s. Georges, Ausführliches lateinisch-deutsches Handwörterbuch s. v. II B 5 b).
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verhandelt wurde diese Sache bisher nicht; Scipio hatte seinen Entschluß selbstherrlich gefaßt. 9. Die Streitschrift des Hieronymus gegen die Pelagier entstand Ende 415 und Anfang 416 n . C h r . und hat die Form eines Dialogs zwischen dem Ketzer Critobulus und dem Katholiken Atticus. Auf ein Argument des Critobulus antwortet Atticus, ohne auf die Sache einzugehen ( 1 , 2 4 ) : Nugaris nec meministi illius proverbii „actum ne agas"; et in eodem coeno volutaris, imo latere lavas.
Die Beschimpfung beginnt mit dem Vorwurf, zu tändeln, und steigert sich dann in recht derber Weise. Actum ne agas heißt hier einfach »nutzloses Zeug tun', wird von Hieronymus also im geläufigsten Sinne gebraucht.
III. Actum est 1. In der Kästchenkomödie versetzt Halisca wenige Verse vor der oben II 1 behandelten Stelle, bevor sie die Spuren im Sand gewahrt (Vers 684/ 85): perii, opinor, actum est, ilicet me infelicem et scelestam! Ich bin verloren, glaub ich, es ist aus. D a steh ich nun, ich unglückliche, elende.
Halisca hat schwere Bestrafung zu gewärtigen, sie ist „verloren". 2. Zu Beginn der Komödie Pseudolus, aus der die oben II 2 besprochene Stelle stammt, erfährt Calidor, daß seine Geliebte am folgenden Tag einem mazedonischen Offizier, der sie gekauft hat, übergeben werden soll. D a ihm auch Pseudolus nicht helfen zu können scheint, verzweifelt er und will sich erhängen. Seine Äußerungen dazu leitet er ein mit den Worten (Vers 84): actum est de me hodie. H e u t e ist es aus mit mir.
Womit er sagen will: ,Ich überlebe diesen Tag nicht. Das ist das Ende.' Am Ende der Komödie aber ist es der Kuppler Ballio, der, nachdem er erfahren hat, daß Pseudolus ihm das Mädchen abgelistet hat und er es dem Käufer also nicht übergeben kann, ausruft (Vers 1221): actum'st de me. iam morior, Simo. Ich bin verloren. Jetzt sterb ich, Simo.
Die Wendung ist auch hier Ausdruck grenzenloser Verzweiflung. 3. Die dritte Plautusstelle findet sich in der Komödie Das Seil (Rudens). Palästra, eine Freie, die aber in die Hände eines Kupplers geraten war, ist ihm durch Schiffbruch glücklich entkommen. Doch wurde auch Labrax,
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der Kuppler, gerettet, der sie im Venustempel findet und vom Götterbild losreißt. Auf der Flucht aus dem Tempel begegnet ihr der Diener ihres Freundes, Trachalio, der sie anspricht. Palästra aber dringt auf eine rettende Tat (Vers 683): nisi quid re praesidium apparas, Trachalio, acta haec res est. Wenn du jetzt nichts zu unserem Schutz unternimmst, Trachalio, ist alles vorbei.
Labrax wird nämlich alsbald aus dem Tempel stürzen und sie packen. Dann wäre es rasch mit ihrer Freiheit vorbei. 4. In der Komödie Stichus muß der Titelheld, ein Sklave, anhören, wie seine Freundin, die Sklavin Stephanium, erklärt, ihn und einen anderen Sklaven gleichermaßen zu lieben und sich - die Sklaven halten ein Mahl zwischen beide legen zu wollen. Darauf er (Vers 751): vapulat peculium, actum est. Mein Vorrat wird zugrundegerichtet. Es ist aus.
Stichus hat für das Mahl von seinem Herrn einen Krug alten Wein geschenkt bekommen, den er nunmehr nicht nur mit seinem Nebenbuhler, sondern auch mit ihr wird teilen müssen. 5. In Vers 308 des Trinummus mahnt Philtio, ein athenischer Bürger, seinen Sohn Lysiteles, sich nicht von seinen Neigungen beherrschen zu lassen: si animus hominem pepulit, actum'st. animo servit, non sibi. Wenn Launen einen Menschen beherrschen, ist's um ihn geschehen. Er frönt seinen Launen, nicht sich.
Auch hier bedeutet actum est nichts weiter als ,es ist nichts mehr zu machen' ohne Nebenbedeutung aus dem Rechtswesen. In Vers 595 fürchtet der Sklave Stasimus, sein junger Herr Lesbonicus werde, nachdem er all seinen Besitz durchgebracht hat, für die Mitgift seiner Schwester auch noch den letzten Acker hergeben, der den beiden gerade noch das Existenzminimum einbringt. In diesem Fall würde dem Lesbonicus nur übrigbleiben, sich als Söldner zu verdingen, was für Stasimus das mühevolle Los eines Soldatenknechts bedeutete. Er versucht deshalb, dem Vater des Bräutigams, der das Mädchen auch ohne Mitgift nähme, den Acker zu verleiden, denn: id si alienatur, actum'st de collo meo. Wenn das noch weggegeben wird, dann gute Nacht, mein Nacken.
Der Arme schleppen.
muß
dann
Soldatengepäck
auf
langen
Fußmärschen
6. In der Terenz-Komödie Das Mädchen aus Andros (Andria) will Simo seinen Sohn Pamphilus standesgemäß verheiraten, dessen Freundin,
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eben die Fremde aus Andros, unmittelbar vor der Niederkunft steht. Am für die Hochzeit bestimmten Tag belauscht Simo die Sklavin des Mädchens, welche gerade die Hebamme holt und dieser beteuert, der Freund ihrer Herrin werde ihr treu bleiben und das Kind aufziehen. Darauf Simo in Vers 464/65: o Iuppiter, quid ego audio? actum'st, siquidem haec vera praedicat. Bei Gott, was hör' ich? Wenn die die Wahrheit sagt, ist's aus.
Er meint damit, daß aus der Hochzeit und seinen pädagogischen Bemühungen nichts wird, da die Braut und ihre Familie den neugeborenen Bastard des Bräutigams nicht hinnehmen werden. An einen Prozeß, gar ein Urteil, erinnert auch hier nichts. 7. In Der Selbstquäler (Heautontimorumenos) schildert der athenische Bürger Chremes dem Mitbürger Menedemus, wie aufwendig die Geliebte seines Sohnes nach dessen Weggang zu leben sich angewöhnt habe. Einmal habe er sie bewirtet (Vers 456): quod si iterum mihi sit danda (sc. cenam), actum siet. Müßte ich sie aber noch einmal bewirten, wär's aus mit mir.
Ein zweites Mal würde er ihren Ansprüchen nicht genügen können, würde er bankrott werden, wie er drastisch behauptet. Syrus dagegen, Sklave des Chremes bzw. seines Sohnes, steht auf seiten der jungen Leute, die Geld brauchen, und fürchtet in Vers 564, sein alter Herr habe seinen und des jungen Herrn Plan, an das Geld des alten heranzukommen, entdeckt: acta haec res est. perii. Diese Sache ist aus. Ich bin geliefert.
Bei der anschließenden Vernehmung des Sohnes durch den Vater merkt er zwar, daß dieser den Plan noch nicht entdeckt hat. Im nächsten Augenblick aber droht sich der Sohn zu verraten (Vers 584): actum'st. hic priu' se indicarit, quam ego argentum effecero. Es ist aus. Der verrät sich, bevor ich das Geld herbeigeschafft hab.
Hier ist actum est wieder bloß unspezifischer Ausdruck des Schreckens. In Vers 564 ist die Bedeutung nur wenig spezieller: „Dieser Plan ist gescheitert". 8. In Der Eunuch entschließt sich der athenische Jüngling Phädria zu Beginn zwar, sich von der Hetäre Thais, die mit ihm spielt, zu trennen, kann aber nicht standhaft bleiben. Sein Sklave Parmeno schilt ihn (Vers 53-55): infecta pace ultro ad eam venies indicans te amare et ferre non posse. actum'st, ilicet, peristi.
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Noch vor dem Friedensschluß gehst du ungerufen zu ihr und verrätst, daß du liebst und es nicht ertragen kannst. Es ist aus, geh, du bist verloren.
Sein Herr ist der Thais ausgeliefert; um seine Menschenwürde ist es geschehen. Im zweiten Teil der Komödie droht Phädria dem Eunuchen Dorus (Vers 717): actum'st, siquidem tu me hic etiam, nebulo, ludificabere. Es ist aus, wenn du Windbeutel mich jetzt auch noch zum Narren hältst.
Was da aus ist, erfährt weder Dorus noch der Zuschauer und soll wohl auch im Dunkeln bleiben: gewiß nicht lediglich Phädrias Wohlwollen, aber wohl auch noch nicht das Leben des Dorus. Und in Vers 985 ist actum'st gar nichts weiter als ein Schreckensruf des Familienvaters bei der Nachricht von einer Verschwendung seines Sohnes. 9. In Die Brüder (.Adelphoe) schließlich, auf die schon einmal unter II 3 einzugehen war, hat Aschinus durch eine Freundestat den falschen Eindruck erweckt, er liebe die für den Freund geraubte Sklavin. Davon erfährt Geta, der Diener der armen Witwe Sostrata, deren Tochter von Aschinus schwanger ist. Wie er nach Hause kommt, jammert er (Vers 324 f): periimus. actum'st. Wir sind verloren. Es ist um uns geschehen.
Abgesehen von dem seiner jungen und auch der alten Herrin zugefügten Schmerz wird die Familie ohne die Unterstützung des Aschinus materielle Not leiden; und niemand mehr wird Pamphila unter den obwaltenden Umständen heiraten. 10. 80 v. Chr. hatte Cicero seine erste Verteidigung in einem Strafprozeß. Der unschuldige Sextus Roscius aus Ameria war unter Sullas Diktatur von Günstlingen des Diktators, die das Vermögen des ermordeten Vaters an sich gebracht hatten, des Vatermordes angeklagt worden. Der jugendliche Cicero geht mutig aufs Ganze und deckt das Komplott auf. Am Schluß wendet er sich an die Richter, etwa zwanzig Senatoren als Geschworene. Für seinen Mandanten wie für die Gemeinschaft bleibe in diesen schweren Zeiten nur eine Hoffnung (§ 150): vestra pristina bonitas et misericordia. quae si manet, salvi etiam nunc esse possumus. sin ea crudelitas, quae hoc tempore in re publica versata est, vestros quoque animos - id quod fieri profecto non potest - duriores acerbioresque reddit, actum est, iudices; inter feras satius est aetatem degere quam in tanta immanitate versari. eure einstige Güte und Barmherzigkeit. Wenn die fortbesteht, dann ist unsere Rettung auch jetzt noch möglich. Wenn aber die Schonungslosigkeit, die jetzt gerade im Innern des Staates gewütet hat, auch eure Gesinnung verhärtet und verbittert (was wahrhaftig niemals geschehen kann), dann ist es aus, ihr Richter; dann ist es besser, sein
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Dasein unter den wilden Tieren hinzubringen, als inmitten dieser fürchterlichen Roheit zu leben".
„Es ist aus" mit der Gesittung; mit der Möglichkeit, in der Gemeinschaft ein gesittetes Leben zu führen. Der Grund dafür wäre zwar ein Richterspruch, aber kein agere im rechtstechnischen Sinn. Keine prozessuale Rechtsfolge ist hier gegenwärtig: nicht die Unabänderlichkeit einer Verurteilung für seinen Mandanten beklagt Cicero, sondern die sozialen Kosten einer Rechtsbeugung jetzt. 11. Am 29. November 58 v. Chr. schreibt Cicero vom Ort seines Exils, Dyrrhachium, an Frau und Kinder in Rom. Er schätzt die Aussichten für seine Rehabilitierung ein, Epist. ad fam. 14, 4 (3), 3 a. E.: nunc spes reliqua est in novis tribunis plebis et in primis quidem diebus. nam si inveterarit, actum est. Jetzt ruht all meine Hoffnung auf den neuen Volkstribunen, und zwar auf den ersten Tagen ihrer Amtszeit. Wird die Sache nämlich auf die lange Bank geschoben, dann ist es vorbei.
Wenn die neuen Volkstribunen nicht alsbald tätig werden, sind die Aussichten erst einmal dahin. 12. Am 31. Juli 51 v. Chr. erreichte Cicero die erste Stadt seiner Provinz Kilikien, Laodikea am Lykos in Südwestkleinasien, wo er zwar herzlich begrüßt wurde, da er im Gegensatz zum allgemeinen Brauch die Provinz nicht auszubeuten versprach. Weit weg von Rom und seinem Getriebe fühlt er sich aber todunglücklich und bittet seinen Freund Atticus im Brief vom 3. August (5, 15), etwas dagegen zu unternehmen, wenn sein Prokonsulat um ein weiteres Jahr verlängert werden sollte (§ 1 gegen Ende): si progrogatur, actum est. Wenn es verlängert wird, ist es aus mit mir.
Aus wäre es mit Ciceros geistigem Leben und mit dem Politisieren, sein ganzer Lebensinhalt. 13. Wie fast täglich in den ersten Monaten des Bürgerkriegs) ahres 49 v. Chr., schrieb Cicero, der sich, wie unter 115 und 6 schon gesagt, auf sein Gut bei Formiae am Meer im südlichen Latium zurückgezogen hat, auch am 20. März einen langen Brief an seinen Freund Atticus in Rom, das von Cäsar beherrscht wird: 9, 13 (12). Soeben hat er erfahren, Pompejus sei in Brindisi von Cäsar eingeschlossen. Den Untergang des Vertreters der gerechten Sache vor Augen, hadert er mit sich, daß er dem politischen Freund nicht im Unglück beistehen kann, weil er sich ihm " Ubersetzung von Manfred Fuhrmann
(Zürich 1970).
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nicht sofort angeschlossen hat, da er nicht Genosse seines Sieges hatte sein wollen; militärisch hatte Cicero wohl den erfahrenen Pompejus für Cäsar überlegen gehalten. In innerer Verzweiflung schreibt er jetzt (§ 3 gegen Ende): actum est. nulla re iam possum iuvari, qui ne quid optem quidem iam habeo nisi ut aliqua inimici misericordia liberemur. E s ist aus. Nichts kann mir mehr helfen, der ich nicht einmal mehr eine Wahl treffen kann, außer mich vor irgendwelchen Gnadenakten des Feindes zu befreien.
Er denkt offenbar an Selbstmord. 14. Livius berichtet um 26 v. Chr. in Buch 1 seines Geschichtswerks Ab urbe condita: Als im hohen Alter des römischen Königs Servius Tullius der Sohn des vorigen Königs Tarquinius Priscus, Tarquinius Superbus, Nachfolger werden sollte, rief er, königliche Befugnisse sich anmaßend, den Senat zusammen. Und die Senatoren kamen (Liv. 1, 47, 9): alii . . . iam de Servio actum rati. andere, weil sie glaubten, mit Servius sei es schon aus.
Sie hielten ihn offenbar für tot. 15. Uber Roms Auseinandersetzungen mit Veji 479 v. Chr. heißt es bei Livius 2, 48, 5: at a Veiente hoste clades accepta temeritate alterius consulis actumque de exercitu foret, ni K . Fabius in tempore subsidio venisset. A b e r v o m vejentischen Feind steckte man eine Niederlage ein wegen der U n b e s o n nenheit des andern Konsuls; und um das H e e r wäre es geschehen gewesen, wenn nicht Käso Fabius (der erste Konsul) rechtzeitig zu Hilfe gekommen wäre.
Das römische Heer wäre von den Vejentern vernichtet worden20. 16. 473 v. Chr. konnten der Senat und die Konsuln nach der Ermordung des gefährlichen Volkstribunen Genucius frei schalten wie eh und je, ohne daß die verbliebenen Volkstribunen einschritten. Die Plebs war tief betroffen (Liv. 2, 55, 2): dicere actum esse de libertate sua. sie sagten, mit ihrer Freiheit sei es aus.
Die Plebs fürchtete offenbar, das Volkstribunat habe seine Rolle ausgespielt21. 17. 445 v.Chr. schließlich hielt der Volkstribun Gajus Canulejus bei seinem Kampf um Ehegemeinschaft zwischen Patriziern und Plebejern und um den Zugang der Plebejer zum Konsulat eine lange Rede, in deren 20 21
Vgl. Liv. 40, 40, 4 zum Jahr 180 v. Chr. bei einer Schlacht in Spanien. Vgl. Liv. 7, 18, 9 z u m Jahr 354 v. Chr.
Die eigentliche Bedeutung von actum agere und actum est
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Verlauf er fragt, ob, wenn ein des Amtes würdiger Plebejer zum Konsul gewählt werden kann (Liv. 4, 3, 7), stare urbs haec non poterit? de imperio actum est 22 ? kann dann der Staat nicht mehr bestehen? Ist es mit der hoheitlichen Gewalt vorbei?
18. In einem anonymen Grabgedicht aus Umbrien auf einen zwanzigjährigen Soldaten haben die Eltern dichten lassen (Bücheler, Carmina epigraphica 409 Z. 8): actum'st, excessi, Spes et Fortuna valete. Es ist aus, ich schied von hinnen; Glück und Hoffnung lebet wohl.
19. Zu Beginn seines 56. Briefes an Lucilius schildert Seneca d . J . den Lärm einer Bade- und Sportanlage: si vero pilicrepus supervenit et numerare coepit pilas, actum est. W e n n aber ein Ballspieler daherkommt und die Bälle zu zählen beginnt, ist es aus.
20. In den wohl aus Quintilians Unterricht hervorgegangenen kleineren Deklamationen ist als Nr. 309 die abschließende Verteidigungsrede eines überführten Entführers entworfen, den das Opfer - das genotzüchtigte Mädchen hatte ein Wahlrecht - heiraten zu wollen erklärt hat. Im ersten Teil, S . 2 1 6 Z. 12f der Ausgabe von C.Ritter, erklärt er: actum de me erat, si in aliam incidissem. wenn ich an eine andere geraten wäre, wäre es um mich geschehen gewesen.
21. In seiner Dankrede auf Trajan, am 1.September 100 n . C h r . im römischen Senat gehalten, lobt der jüngere Plinius auch die vom Kaiser veranlaßten Reparaturarbeiten an der Niltal-Bewässerung. In Kapitel 31 § 6 versteigt er sich zu der Behauptung: actum erat de fecundissima gente, si libera fuisset. um das äußerst fruchtbare Volk wäre es geschehen, wenn es frei wäre.
Ohne die römische Herrschaft wären die Ägypter, deren Bevölkerungswachstum im Altertum sprichwörtlich war, nicht in der Lage, auch nur sich selbst zu ernähren, da ohne römische Ingenieurkunst und römischen Gemeinsinn das hochentwickelte und eigentumsbeschränkende Bewässerungssystem nicht funktionierte. 22. Als Nero kurz vor seinem Ende nach dem Abfall Galliens auch vom Abfall Spaniens erfuhr, brach er, so berichtet Sueton (Nero 42, 1), zusammen: actum, de se pronuntiavit. Rief, mit ihm sei es aus.
Nero sieht sein Ende als Herrscher und Lebewesen voraus. 22
Vgl. Liv. 4, 38, 3 u. 27, 9, 14 zu den Jahren 4 2 3 u. 2 0 9 v. Chr.
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23. In seiner Alexandergeschichte schildert Curtius Rufus im 3. Buch, Kapitel 12, wie sich die Frauen des persischen Hofes, die Alexander bei Issos in die Hände gefallen waren, beim Nahen griechischer Offiziere ängstigten ( § 8 ) : ii, qui in vestibulo erant, ut armatos conspexere, rati actum esse de dominis, in tabernaculum currunt, . . . Die, welche im Vorraum (des persischen Königszelts) waren, rannten, als sie die Bewaffneten erblickten, im Glauben, um ihre Gebieterinnen sei es geschehen, ins Innere, . . .
Die persischen Frauenwächter glaubten offenbar, Königin und Königinmutter sollten getötet werden. 24. Im 6. Buch, Kapitel 11, berichtet Curtius Rufus über das Ende des Philotas. E r sagt unter Folter aus, Hegelochus habe geäußert ( § 2 3 ) : Hunc (sc. Alexandrum) igitur regem agnoscimus, qui Philippum dedignatur patrem? actum est de nobis, si ista perpeti possumus. Sollen wir den (Alexander) also als König anerkennen, der Philipp verachtet, seinen Vater? Es ist aus mit uns, wenn wir das ertragen können.
Mit der Libertät der Makedonen ist es vorbei, wenn sie Alexanders Anwandlungen, sich vergöttern zu lassen, dulden. 25. Florus berichtet über den Pyrrhussieg 280 v . C h r . (1, 13, 8): actum erat, nisi elephanti converso in spectaculum bello procurrissent, . . . Es wäre aus gewesen (mit Pyrrhus und seinem Heer), wenn nicht die Elefanten, den Krieg in eine Schau verkehrend, eingegriffen hätten, . . .
König Pyrrhus hätte den Krieg schon damals verloren. 26. Wenig später geht es um den zweiten punischen Krieg, und zwar um Hasdrubals Versuch, 216 v . C h r . seinem Bruder Hannibal von Spanien aus zu Hilfe zu kommen (1, 2, 50): actum erat procul dubio, si vir ille se cum fratre iunxisset. Es wäre zweifellos aus gewesen, wenn dieser Mann sich mit seinem Bruder vereinigt hätte.
Für die Römer wäre die Lage hoffnungslos gewesen. 27. Schließlich drückt sich Florus ähnlich noch einmal bei Schilderung der catilinarischen Verschwörung aus (2, 12, 5): actum erat de pulcherrimo imperio, nisi illa coniuratio in Ciceronem et Antonium consules incidisset, . . . Mit unserem herrlichen Reich wäre es aus gewesen, wenn diese Verschwörung nicht in das Konsulat von Cicero und Antonius gefallen wäre.
Catilina hätte das römische Reich zunichte gemacht.
Die eigentliche Bedeutung von actum agere und actum est
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28. Im Sommer 252 n. Chr. schreibt der christliche Bischof von Karthago, Cyprian, an seinen römischen Kollegen Kornelius (Ep. 59, 2, 2): quod si ita res est, frater carissime, ut nequissimorum timeatur audacia et quod mali iure adque aequitate non possunt, temeritate ac desperatione perficiant, actum est de episcopatus vigore et de ecclesiae gubernandae sublimi ac divina potestate. Wenn es sich aber so verhält, liebster Bruder, daß man die Unverschämtheiten übler Elemente fürchten muß und diese, was sie nach Recht und Gerechtigkeit nicht können, mit Verwegenheit und Tollkühnheit erreichen, ist es aus mit der Macht des Bischofsamtes und seiner erhabenen und göttlichen Kraft, die Kirche zu leiten.
Cyprian hatte erfahren, daß seine karthagischen Gegner bei Kornelius durch Drohung mit einem öffentlichen Auftritt Eindruck gemacht hatten. 29. Ammian zitiert zum Jahr 359 n. Chr. eine verschlüsselte Botschaft römischer Gesandter am persischen Hof, die mit den Worten schloß (18, 6, 18): actum et conclamatum est, ni caverit Graecia. Wenn Griechenland nicht auf der Hut ist, ist es aus und vorbei.
Der sassanidische Großkönig will die römischen Ostprovinzen wiedererobern. An der Ostgrenze ist höchste Wachsamkeit geboten, sonst erobern die Perser ganz Kleinasien. 30. In seiner zweiten Invektive gegen die graue Eminenz in Ostrom, den Eunuchen Eutrop, aus dem Jahr 399 n. Chr., als dieser zum Konsulat gelangt war, schimpft Claudian Carmen 20 Vers 123 f: actum de trabeis esset, si partibus una mens foret Hesperiis. Um das Konsulat wäre es geschehen, wenn im westlichen Reichsteil der gleiche Sinn geherrscht hätte.
Claudian meint, daß die Würde eines Konsuln keinem Eunuchen zukomme, woran sich die Regierung Westroms: Kaiser Honorius mit Feldmarschall Stilicho in Mailand, wo Claudian einen höheren Beamtenposten bekleidete, gehalten habe. Ostrom gebe die hohe Würde der Lächerlichkeit preis. 31. 386 n. Chr. beschwerten sich bei Kaiser Magnus Maximus in Trier die dort zu einem Konzil versammelten gallischen und spanischen Bischöfe über Martin, Bischof von Tours, der, zusammen mit Bischof Theognistus im Streit mit den Priszillianisten eine maßvolle Linie vertretend, die Kommunion mit der scharfmacherischen Mehrheit verweigert hatte (Sulpiz Severus, Dialog 3, 12, 1): actum esse de suo omnium statu, si Theogniti pertinaciam, qui eos solus palam lata sententia condemnaverat, Martini armaret auctoritas.
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Es sei mit ihrer aller Stellung aus, wenn die Unverfrorenheit des Theognitus, der sie ganz allein durch sein Urteil öffentlich verdammt hatte, von Martins Ansehen unterstützt werde.
Es geht um die Stellung der Bischöfe in ihren Gemeinden, die von maßvollen Kollegen wie Martin untergraben wird. IV. Folgerungen 1. In allen 44 angeführten Belegen für actum est o. ä.23 bedeutet die Wendung einheitlich ,es ist aus, vorbei, Schluß', ganz undifferenziert. Sie scheint der Umgangssprache anzugehören. Plautus und Terenz stellen allein 15 Belege24. Weitere fünf finden sich in Briefen25. Livius legt den Ausdruck Anführern in der Schlacht26, Volksrednern27 und Senatoren28 in den Mund oder schildert Stimmungen2'; wohl daher wird der Ausdruck von den sprachlich anspruchsloseren Historikern Curtius Rufus und zumal Florus häufiger und undifferenziert verwandt. Bei Ammian dagegen begegnet er nur in einer absichtlich dunkel gehaltenen, verschlüsselten Botschaft30. Sulpiz Severus schließlich könnte mit dem Ausdruck, der fanatischen Bischofsmehrheit in den Mund gelegt31, deren Unbildung haben kennzeichnen wollen, wovon sein maßvoller und gerechter Held um so heller absticht. Wie kann die Bedeutung ,es ist aus' aber entstanden sein? Agere bedeutet in der Gemeinsprache ,treiben', zumal von Vieh, in übertragender Bedeutung ,betreiben', insbesondere von Geschäften aller Art gesagt. Wie kann etwas „aus" sein, wenn es betrieben worden ist? Ich vermag keine andere semantische Brücke zu erkennen als die Klagenkonsumption. Im republikanischen Zivilprozeßrecht und z. T. noch im Prinzipat wurde, wie gesagt, durch Erhebung einer persönlichen Klage das ihr zugrundeliegende Forderungsrecht „verzehrt"; es konnte nicht noch einmal geltend gemacht werden, mag die Klage auch zu nichts geführt haben, gar steckengeblieben sein. Wenn Klage erhoben worden war, war es mit dem Anspruch aus, und die Partei war auf Weiterverfol23 Außer den unter III 1-31 genannten (bei 2 u. 5 je zwei, bei 7 u. 8 je drei, bei 15 u. 16 je eine weitere in den Fußnoten und bei 17 dort zwei weitere) sind unter I drei (DonataStellen genannt. Schließlich wäre noch Glossae Vaticanae udSt. efractetopragma actaresest (ed. Götz III 516, 5) zu nennen, was aufzulösen ist ertax^T) TÖ ngäy\ia acta res est. 24 Oben III 1-9. 25 Oben III 11-13, 19 u. 28. 26 4, 38, 3 u. 40, 40, 4. 27 4, 3, 7. 2» 27, 9, 14. 29 1, 47, 9; 2, 55, 2; u. 7, 18, 9. 30 Oben III 29. 31 Oben III 31.
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gung der Klage verwiesen. Unsere Hauptquelle zum klassischen Zivilprozeßrecht, die Institutionen des Gajus, führen ein entsprechendes dictum der veteres, also der republikanischen Juristen, an32. Diese gefährliche Wirkung der Klagerhebung, die mir mit der gesetzlichen Personalvollstreckung zusammenzuhängen scheint, war offenbar allgemein geläufig. Die Wendung actum est bestätigt auch, daß sie alt war: Zur Zeit des Plautus, also um 200 v.Chr., war die Übertragung der Bedeutung in die Gemeinsprache vollzogen. 2. Nicht genau das gleiche gilt für die verwandte, weniger einfache Redensart actum agere ,Wirkungsloses, Nutzloses tun'. Dafür haben wir zwölf Zeugnisse: zwei bei Plautus"; zwei bei Terenz, der zum erstenmal ausdrücklich bezeugt, daß es sich um ein Sprichwort handelt34; drei bei Cicero 35 ; eines bei Livius36; zwei bei Donat37 und eines bei Donats Schüler Hieronymus 38 . Keine selbständige Bedeutung hat dagegen ein anonymer spätantiker Kommentar zu Vers 232 der Adelphoe von Terenz 39 : A C T U M AGAM finitum faciam et perditum.
Hier ist lediglich Donat fortgesponnen, nämlich verallgemeinert, was die Wendung um ihre Spitze bringt40. Lebendig war diese Redensart also nur bis Livius, d.h. in der Literatur der beiden letzten vorchristlichen Jahrhunderte. Die spätantiken Kommentare zu diesen Texten bekräftigen, daß die Wendung damals nicht mehr lebendig war. Bei ihrer Deutung ist nun freilich ein formaler Gesichtspunkt nicht außer acht zu lassen: Sie verdankt ihre schlagwortartige Wirkung ihrer Eigenart als Unterfall der Figura etymologica: der Reduplikation eines Zeitworts mit Hilfe seines Perfektpartizips, was auch sonst, in weniger festen Wendungen vorkommt: capere capta", extinguere extinctos42,
Gai. 3, 180 u. dazu Liebs, SZ 86 (1969) 180ff. Oben II 1 u. 2. 34 Oben II 3 aiunt; u. 4. 35 Oben II 5-7. 36 Oben II 8. 37 Oben I zu Phormio 419 und Adelphoe 232. 3» Oben II 9. 39 Ed. Schlee (1893) S. 152 Z. 23 f. - Gänzlich abzusehen ist in diesem Zusammenhang von actum als Akkusativ von actus mit agere bei Skävola, Responsa IV, Dig. 40, 5, 41 § 13, was ,Buch halten' bedeutet, s. dens. Dig. 40, 7, 40 § 8 u. Ulpian Dig. 3, 15, 16. 40 Ähnlich Johann Baptist Hofmann u. Anton Szantyr, Lat. Syntax u. Stilistik (München 1965) 39. 41 Riese, Anthologia Latina I2 4, 14. 42 Auetor ad Herennium 4, 65. 32
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facta facere43, schließlich44 noch rem iudicatam iudicare45 oder puerum perditum perdere46. Indessen wurde all dies nicht sprichwörtlich. Uberflüssig kann auch dicta dicere oder facta facere sein; unzulässig ist rem iudicatam iudicare; sinnlos capere capta, extinguere extinctos und inventum inveniri; schmählich puerum perditum perdere. Wenn über all diese Möglichkeiten, sich auszudrücken, actum agere den Sieg davongetragen hat, so muß etwas Außersprachliches, etwas besonders Eindrucksvolles hinzugekommen sein. Dafür aber bietet sich allein die konsumierende Wirkung des gerichtlichen agere an. Sie galt zumal im Legisaktionenprozeß, wurde von der Lex Iulia iudiciorum privatorum 18 v. Chr. für den Formularprozeß in begrenztem Umfang beibehalten, hatte im Kognitionsprozeß aber keine griffige Grundlage mehr. Im Gegensatz zu actum est, das die Verbindung zu seiner rechtlichen Grundbedeutung schon vor Plautus verloren zu haben scheint, scheint bei actum agere die Verbindung zum Recht für Cicero, Livius und Donat noch lebendig zu sein; bei actum est dagegen nur für Donat. Dementsprechend ist mit dem Verblassen der rechtlichen Erscheinung auch das Sprichwort actum agere verdämmert. Donats Auskunft hierzu ist nicht mehr korrekt, insofern er allein auf das Urteil abstellt und die Klagerhebung nicht einmal mehr erwähnt.
43 Properz, Elegie 3, 25, 16; Plautus, Miles 734; u. Ennius, Annalen 314. Dazu Ernst Neumann, De cottidiani sermonis apud Propertium proprietatibus (Diss. phil. Köln 1925) 50. 44 Johann Baptist Hofmann, Lateinische Umgangssprache (2. Aufl. Heidelberg 1936) § 88, bringt viele weitere Beispiele und deutet die Abundanz. 45 Plautus, Rudens, Vers 19. 44 Cicero, Epist. ad fam. 14, 3 (1) §5 g.E.
Zur Vorgeschichte der verschuldensunabhängigen Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel nach §538 BGB KLAUS L U I G
I. §538 BGB 1. §538 BGB belastet den Vermieter mit einer vom Verschulden unabhängigen Schadensersatzpflicht für alle bei Abschluß des Mietvertrages vorhandenen Mängel der vermieteten Sache. Diese Haftung des Vermieters wird im Vergleich mit der Haftung des Verkäufers nach §463 BGB und auch mit der Haftung des Unternehmers nach §635 BGB als sehr streng angesehen1. Man ist der Ansicht, daß diese Regelung aus sozialen Gründen in das BGB aufgenommen worden sei und somit praktisch die erste Regel eines modernen sozialen Mietrechts darstelle; wobei vielfach die Vorstellung mitschwingt, daß dieser historische Befund die Garantiehaftung des § 538 BGB vor Aushöhlung durch Interpretation schützen müsse2. Von anderer Seite wird jedoch gerade dem historischen Gesetzgeber eine „verfehlte Ansicht" und eine „unrichtige Verallgemeinerung einer einzigen Digestenstelle" vorgeworfen und damit eine Restriktion des §538 historisch legitimiert3. Der bisher ausführlichste Versuch einer Präzisierung des Anwendungsbereiches des §538 mit historischen Mitteln stammt von Krampe\ Krampe schlägt vor, § 538 so anzuwenden, daß „die Auslegung des jeweiligen Mietvertrages im Einzelfall entscheide", ob und in welchem Umfange die Garantiehaftung eingreife. Diesem Vorschlage einer „kasuistischen Behandlung der Sachmängelhaftung des Vermieters" steht nach Krampe die „historische" sozialpolitische Motivation des Gesetzgebers, auf die sich etwa Koller beruft, schon deswegen nicht entgegen, weil diese Motivation in der
1 Vgl. dazu und zum Folgenden mit Einzelnachweisen: Voelskow, Münchener Kommentar, § 538 BGB. - Für Information über die gemeinrechtlichen Parallelen zum Kaufrecht und für Hilfe bei der Beschaffung der Literatur habe ich Gabriele Freudling zu danken. 2 So I. Koller, Die Risikozurechnung (München 1979), S. 118-119 („Damit würde man jedoch die Intentionen des historischen Gesetzgebers durchkreuzen"). 3 H.Honseil, Positive Vertragsverletzung, in: Jura 1979, S. 196. 4 Ch. Krampe, Die Garantiehaftung des Vermieters für Sachmängel (Berlin 1980).
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Geschichte des §538 BGB gar keine Rolle gespielt hat4'. Krampes positives historisches Argument demgegenüber ist, daß die kasuistische Behandlung dem antiken römischen Recht entspreche. Krampe plädiert also dafür, daß sich das moderne Recht in dieser Frage „an die kasuistische Lösung der Römer annähert". Das sind „historische Gründe" für seinen Lösungsvorschlag, der „dogmengeschichtlich abgesichert" wird4b. Im einzelnen sieht Krampe die Entwicklungsgeschichte der Vermieterhaftung wie folgt: Das römische Recht behandelte die Haftung des Vermieters kasuistisch, wie sich insbesondere aus D. 19.2.19.1 ergeben soll. In Abkehr davon hat der BGB-Gesetzgeber nur einen der Fälle von D. 19.2.19.1, nämlich die Garantiehaftung für die Weinfaß-Vermietung zur „allgemeinen Regel erhoben". Damit hat der Gesetzgeber aber nicht nur das römische Recht (so wie Krampe es als moderner Romanist übrigens nicht ganz unkontrovers - interpretiert) mit seiner kasuistischen Methode aufgegeben, sondern zugleich auch „den Rechtszustand des 19. Jahrhunderts verändert", in dem die wohl vorherrschende (aber keineswegs allein herrschende) Meinung die Ulpian-Stelle D. 19.2.19.1 als Verschuldenshaftung interpretiert hatte4'. Diese Annahme einer doppelten Änderung einer ja gar nicht mit Gewißheit für uns heute feststellbaren Rechtslage mindert meines Erachtens den Wert von Krampes historischer Beweisführung. Außerdem fehlt die Erwähnung der „historischen" Vorbilder, auf die sich die Juristen berufen haben, die im Gegensatz zur vorherrschenden Verschuldenshaftung die Garantie des Vermieters ins BGB gebracht haben. Ohne Versuch der Bewertung der eventuellen gemeinrechtlichen Wurzeln der Garantiehaftung scheint mir aber der historische Rückgriff auf das römische Recht unter Uberspringung der gemeinrechtlichen Traditionen für die Entwicklungsgeschichte der Vermieterhaftung nicht erhellend und als Argument für die Behandlung von § 538 BGB de lege lata nicht brauchbar zu sein. Deswegen und wegen des Einsatzes von zum Teil in ihren historischen Voraussetzungen nicht ganz aufgeklärten und auch einander widersprechenden historischen Argumenten in der Diskussion um §538 BGB soll hier dessen Vorgeschichte erneut geschildert werden5. Das Ergebnis dieser Untersuchung kann der Orientierung im Umgang mit Problemen der Vermieterhaftung generell und speziell im Umgang mit § 538 BGB dienen, so wie Heinrich Hübner es stets für die Dogmengeschichte des Privatrechts gefordert und vorexerziert hat. Eine AbsicheSo Krampe, S.20, 21, 3 8 ^ 0 , m . E . zutreffend. Siehe F n . 7 a . Krampe, S.21, 62, 63. 4c Krampe, S. 21-31. 5 Alle Nachweise zum Nachstehenden bei: H. H. Jakobs und W. Schubert (Hrsg.), Die Beratung des Bürgerlichen Gesetzbuchs, II (1980), S. 428 ff. 4i
4b
Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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rung von positiven dogmatischen Ergebnissen darf man aber von der so verstandenen Dogmengeschichte nicht erhoffen. 2. Der Redakteur des Obligationenrechts, Franz v. Kübel, hatte zum Mietrecht keine Vorlage erarbeiten können. Deswegen wurde in der 1. Kommission der Dresdener Entwurf zum Ausgangspunkt für die Erörterung des Mietrechts genommen. Art. 545 Abs. 3 Dresdener Entwurf lautete: „Hat der Vermiether einen zur Zeit der Schließung des Vertrages vorhandenen Mangel dem Miether arglistig verschwiegen, oder den späteren Eintritt des Mangels verschuldet, so kann der Miether auch Schadensersatz und, wenn der Miether durch die Mangelhaftigkeit der gemietheten Sache einen Schaden erlitten hat, insbesondere auch Ersatz dieses Schadens von dem Vermiether verlangen."
Dabei fehlt — im Vergleich zum Kauf — die Schadensersatzhaftung für zugesicherte Eigenschaften; außerdem ist — wie beim Kauf und abweichend vom generellen Prinzip der Verschuldenshaftung — die Haftung für zur Zeit der Schließung des Vertrages vorhandene Mängel an das Vorliegen von Arglist geknüpft. Der Fall der Zusicherung war aber im Dresdener Entwurf nicht ausdiskutiert worden. Denn der 1. Kommission lag noch ein von v. Kübel ausgearbeiteter vollständiger Entwurf zur Abänderung des Mietrechts des Dresdener Entwurfs vor, in dessen § 3 f . Kübel vorschlug, die Schadensersatzhaftung für arglistiges Verschweigen auf den Fall der Zusicherung einer nicht vorhandenen Eigenschaft auszudehnen. Danach sollte die Bestimmung lauten: „Ist zur Zeit der Schließung des Vertrages eine zugesicherte Eigenschaft nicht vorhanden gewesen oder ein damals vorhandener Mangel von dem Vermiether dem Miether wissentlich verschwiegen worden, so hat der letztere . . . den Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung."
Somit stand am Anfangspunkt der Vorarbeiten für das BGB ein Vorschlag, der der heutigen Garantiehaftung des §538 B G B diametral entgegenstand: Nicht einmal für Fahrlässigkeit sollte der Vermieter haften, sondern nur für Zusicherungen und Arglist. Demgegenüber ist die Garantiehaftung des heutigen § 538 durch einen Vorschlag von Winscheid in die Debatte eingeführt worden. Windscheid beantragte in der 1. Kommission folgende Fassung der Vorschrift über die Schadensersatzhaftung des Vermieters: „War der Mangel schon zur Zeit der Schließung des Vertrages vorhanden..., so hat der Miether außerdem Anspruch auf Schadensersatz." Das bedeutete die Erstrekkung der Haftung für Zusicherungen auf alle vertragsmäßigen Eigenschaften. Dieser Antrag fand in der Kommission ohne weiteres Zustimmung. Dafür waren folgende Überlegungen maßgebend:
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„Anlangend nun einen sonstigen, den vertragsmäßigen Gebrauch des Miethers ausschließenden oder beeinträchtigenden Mangel, so könne die völlige Gleichstellung eines solchen Mangels mit einem Mangel der ersten Art (sc. Zusicherung, K. L.) zweifelhaft erscheinen. Gleichwohl müsse für die völlige Gleichstellung entschieden und davon ausgegangen werden: der Vermiether habe eine den vertragsmäßigen Gebrauch des Miethers bedingende Tauglichkeit stillschweigend zugesichert. Eine solche Unterstellung liege nicht allein in Rücksicht auf das Wesen des Miethvertrags sehr n a h e . . "
In den Motiven lautet die Begründung dann wie folgt: „Als Mangel einer zugesicherten Eigenschaft ist aber nach der Auffassung des Entw. jeder von dem Vermieter zu vertretende (sie!) Mangel zu behandeln. Die Unterstellung, daß der Vermiether eine dem (sie!) vertragsmäßigen Gebrauche des Miethers bedingende Tauglichkeit der Miethsache nicht blos versprochen, sondern zugleich stillschweigend garantirt hat, liegt in Rücksicht auf das Wesen des Miethvertrages sehr nahe. Ohnehin führt die Anwendung des § 504 in allen denjenigen Fällen, in welchen die Beseitigung des Mangels objektiv möglich ist, zu demselben Resultate; denn der Miether hat mit den Anspruch auf Erfüllung auch den Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung. Nur für diejenigen seltenen Fälle, in denen die Beseitigung des Mangels objektiv unmöglich ist, bringt die Annahme eines stillschweigenden Garantieversprechens eine über die allgemeinen Grundsätze hinausgehende Haftung des Vermiethers wegen Schadensersatzes mit sich."
Diese Zitate sind meiner Meinung nach wichtiger für die Überlegung, daß die Zusicherung zum Wesen des Mietvertrages gehöre, als für die dadurch verursachte Ausdehnung der Schadensersatzhaftung auf Fälle der Unmöglichkeit. Im Gegensatz zu der Annahme von Krampe5* scheint mir die Kommission diese Ausdehnung hingenommen zu haben ohne genaueres Nachdenken über die Konsequenzen für einen Mangelfolgeschaden, weil nämlich gerade die stillschweigende Zusicherung als zum Wesen des Mietvertrages gehörend angesehen wurde. In erster Linie sind also die Hintergründe dieser Auffassung vom Wesen des Mietvertrages aufzudecken und nicht die Überlegungen zum Mangelfolgeschaden. Dabei wird folgendes deutlich. Im Gegensatz zum Kauf war offensichtlich ein Mietvertrag ohne Vereinbarung darüber, was nun der „vertragsmäßige Gebrauch" sei, nicht denkbar6. Während also der normale Verkauf ohne besondere Beschreibungen und dementsprechende Zusicherungen vonstatten ging, so daß das Vorliegen einer Zusicherung ein besonders festzustellender Sonderfall war, vollzog sich der Abschluß eines Mietvertrages in dieser Sicht nie ohne besondere Erklärungen über den geplanten Gebrauch, so daß „wesensmäßig" besondere Erklärungen vorlagen, die man - wie beim Kauf - als Zusicherung ansah. Entscheidend war also die Annahme, daß ein Vermieter das beim Aushandeln des „vertragsmäßigen Gebrauchs" Gesagte auch zusichere. Das aber 51 6
Krampe, S. 36. Vgl. Motive II, S. 373, 374 (bei Mitgdan II, S.208).
Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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genügte. D a m i t w a r das P r o b l e m der objektiven H a f t u n g des V e r m i e t e r s im wesentlichen entschieden. D e m e n t s p r e c h e n d b e s t i m m e n § § 5 0 5 , 5 0 6 des E I : § 505. Leidet die Sache zur Zeit der Ueberlassung an den Miether an dem Mangel einer zugesicherten Eigenschaft oder an einem Mangel, welcher ihre Tauglichkeit zu dem vertragsmäßigen Gebrauche aufhebt oder mindert, . . . §506. Der Miether hat gegen den Vermiether außer den im §505 bestimmten Rechten Anspruch auf Schadensersatz wegen Nichterfüllung, wenn einer der im § 505 bezeichneten Mängel zur Zeit der Schließung des Vertrages vorhanden gewesen oder später durch einen von dem Vermiether zu vertretenden Umstand eingetreten, . . . ist. I n d e r V o r k o m m i s s i o n des R e i c h s j u s t i z a m t e s b e a n t r a g t e
Struckmann
d a n n j e d o c h w i e d e r , die H a f t u n g des V e r m i e t e r s auf A r g l i s t u n d b e s o n ders z u g e s i c h e r t e E i g e n s c h a f t e n z u b e s c h r ä n k e n . D i e s e r A n t r a g
fand
j e d o c h kein G e h ö r . I n d e n P r o t o k o l l e n des R e i c h s j u s t i z a m t e s heißt es: „Der § 506 wurde sachlich beibehalten. Es lagen zwei Abänderungsvorschläge vor, welche die Voraussetzungen des Schadensersatzanspruches des Miethers wegen der zur Zeit des Vertragsabschlusses vorhandenen Mängel abweichend vom Entwürfe bestimmen wollten. Nach dem einen Vorschlage sollte dieser Anspruch, entsprechend dem § 385, nur stattfinden einerseits beim Fehlen zugesicherter Eigenschaften, andererseits bei solchen die Tauglichkeit für den vertragsmäßigen Gebrauch ausschließenden Mängeln, welche der Vermiether arglistig verschwiegen hat. Dagegen ging der zweite Vorschlag davon aus, daß eine derartige Unterscheidung der bezeichneten beiden Arten von Mängeln nicht durchführbar sei, und wollte daher den Vermiether wegen aller ihm bekannten Mängel haften lassen. Gegen diesen Vorschlag wurde eingewendet, derselbe gehe theils nicht weit genug, indem er auch bei Zusicherung einer Eigenschaft den Vermiether nur bei Kenntniß ihres Nichtvorhandenseins haften lassen wolle, theils zu weit, insofern er ihn auch wegen solcher die Tauglichkeit beeinflussender Mängel haften lassen wolle, welche er zwar gekannt, aber auch als dem Miether bekannt vorausgesetzt habe. Diesen Vorschlägen gegenüber wurde der Entwurf aus den in den Motiven S.377 dargelegten Gründen gebilligt." I m G e g e n s a t z z u s o vielen a n d e r e n V o r s c h l ä g e n des E I hat die F r a g e d e r V e r m i e t e r h a f t u n g keinen S t u r m e n t r ü s t e t e r K r i t i k e n t f a c h t , ist aber andererseits a u c h n i c h t -
w a s m a n e t w a v o n Gierke
hätte
erwarten
k ö n n e n - auf begeisterte Z u s t i m m u n g gestoßen 6 5 . 61 Keine Stellungnahme zu dieser vermeintlich sozialen Regel findet sich bei Gierke, Der Entwurf eines bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht (Leipzig 1889), S. 105, 259, wo sich Gierke kritisch zum Verschuldensprinzip des Entwurfs äußert. Neutral auch v. Gierke, Deutsches Privatrecht, Band III (München und Leipzig 1917) § 196 Note 50. O. Bahr,Gegenentwurf zu dem Entwürfe eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Kassel 1892), § 479, S. 101, sieht nur eine Haftung für Zusicherungen und betrügerisches Verschweigen vor (so wie Mommsen). J. Hellberger, Die Sachmiethe nach dem Schweizerischen Obligationenrechte mit Berücksichtigung des gemeinen Rechtes und des Entwurfes eines bürgerlichen Gesetzbuches für das Deutsche Reich (Zürich 1889), S. 56-58, macht Sintenis für die objektive Haftung verantwortlich und spricht sich für ein Verschuldensprinzip aus, wie es dem gemeinen Recht entspreche (mit zahlreichen Nachweisen bes. der Rechtsprechung). Boyens, Miethe und Pacht, in: Gutach-
126
Dementsprechend
Klaus Luig
blieb § 5 0 6
wesentlichen unangefochten.
EI
in der zweiten K o m m i s s i o n
im
In den P r o t o k o l l e n der 2. K o m m i s s i o n
heißt es d a z u unter B e t o n u n g des Z u s a m m e n h a n g e s v o n Z u s i c h e r u n g und Garantiehaftung 7 : „Der § 506 wurde von keiner Seite beanstandet... In zweiter Lesung lag zu § 483 (Entw. II) ein Antrag vor, folgenden Zusatz zu beschließen: ,War der bei Abschluß des Vertrages vorhandene Mangel aller Sorgfalt unerachtet nicht zu entdecken, so tritt die Verpflichtung zum Schadensersatze nicht ein.' (Der Antrag entspricht einem Vorschlage Hamburgs. Vgl. HGB. 560 Abs.2, sächs. GB. § 1198, Schweiz. ObligR. §277.) Die Mehrheit lehnte den Zusatz aus folgenden Gründen ab: Es sei keineswegs eine Singularität, wenn der §483 den Vermiether zum Schadensersatze verpflichte ohne Rücksicht auf ein ihm zur Last fallendes Verschulden. Für den Fall, daß die geschuldete Leistung von Anfang an subjektiv unmöglich sei, habe sich die Kom. auf den gleichen Standpunkt gestellt. Beim Verkaufe einer mangelhaften Sache sei der Käufer allerdings, vorbehaltlich seiner Schadensersatzansprüche für den Fall eines dem Verkäufer zur Last fallenden Verschuldens, auf die ädilizischen Klagen der Wandelung und Minderung beschränkt. Dies könne indessen für das Verhältniß zwischen dem Vermiether und dem Miether nicht entscheidend sein. Dem Wesen des Miethvertrages entspreche es, daß dem Vermiether eine Garantiepflicht auferlegt werde für die Tauglichkeit der vermietheten Sache zu einem bestimmten Gebrauchszwecke, eine gleiche Garantiepflicht werde beim Kaufe regelmäßig ohne eine besondere Vereinbarung nicht übernommen. Die strengere Haftung des Vermiethers entspreche mithin den wirthschaftlichen Zwekken des Miethvertrages. Diese Haftung auf Kosten des Miethers abzuschwächen, erscheine vom sozialpolitischen Standpunkte aus bedenklich..." Dies blieb der einzige H i n w e i s auf „sozialpolitische" Ü b e r l e g u n g e n in den gesamten Gesetzgebungsarbeiten 7 ". D e r A n t r a g H a m b u r g s w u r d e bei der Revision des E II u n d im J u s t i z a u s s c h u ß des Bundesrates erneut gestellt. D i e B e g r ü n d u n g dafür w a r folgende: „Der §483 verpflichtet den Vermiether unabhängig von einem demselben zur Last fallenden Verschulden zum Schadensersatz wegen Nichterfüllung, wenn die vermiethete Sache bei dem Abschluß des Vertrags mit einem Mangel der im § 482 Abs. 1 bezeichneten Art behaftet gewesen ist. Wenn diese weitgehende Haftung des Vermiethers nun auch im Prinzip nicht beanstandet werden soll, so erscheint es doch billig und den Verhältnissen des Verkehrs entsprechend, eine Einschränkung derselben dahin eintreten zu lassen, daß die Verpflichtung des Vermiethers zur Leistung von Schadensersatz fortfällt, wenn der Mangel aller Sorgfalt unerachtet nicht zu entdecken war. - Zu verweisen ist dabei auf Art. 560 des Handelsgesetzbuches, welcher die Haftung des Verfrachters für Seetüchtigkeit des Schiffes in gleicher Weise einschränkt." N a c h d e m B e r i c h t des H a m b u r g e r Bevollmächtigten Sieveking
wurde
dieser A n t r a g dann aber n a c h R ü c k s p r a c h e mit d e m s t i m m f ü h r e n d e n ten aus dem Anwaltsstande (Berlin 1890), S. 735, 736, begrüßt die Regelung des E I insbesondere als Fortschritt gegenüber dem ALR. 7 Bei Mugdan II, S. 813. Dementsprechend legt Krampe diesem Standpunkt zu Recht auch keine große Bedeutung bei. Vgl. Krampe, S. 37—40. Hier befreit die Erhebung des historischen Befundes die moderne Interpretation (etwa Kollers, vgl. oben Fn. 2) von überflüssigen Fesseln.
Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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Bevollmächtigten Lübecks nicht weiter verfolgt - in der Erwägung, daß das Recht des Vermieters zum vertraglichen Ausschluß der Gewährleistungshaftung (ausgenommen nur der Fall der „Arglist") „dem Vermiether genügenden Schutz gewähre"7b. So hat man schließlich die im Grunde allein auf Vorschlag Windscheids in den Entwurf gelangte verschuldensunabhängige Haftung des Vermieters ins B G B aufgenommen wegen der beruhigenden Versicherung, diese doch nach der Ansicht der 1. und 2. Kommission dem Wesen des Mietvertrages entsprechende strenge Haftung des Vermieters sei abdingbar und werde also in der Praxis keine Rolle spielen. Dieses überraschende Ergebnis legt die Frage nach den Gründen Windscheids nahe. II. Windscheid Windscheid formuliert in seinem „Lehrbuch des Pandektenrechts" fast im Stile eines Gesetzbuches: „Hat die vermiethete Sache einen den Gebrauch beeinträchtigenden Fehler, so haftet der Vermiether dem Miether auf das Interesse, wenn er den Fehler arglistigerweise verschwiegen hat, ferner wenn er die Abwesenheit desselben ausdrücklich oder stillschweigend zugesagt hat; .. ,8" In der diesen Satz rechtfertigenden Fußnote verweist Windscheid als wichtigste gesetzliche Grundlage für die objektive Einstandspflicht bei stillschweigender Zusicherung auf D. 19.2.19.1 und D. 19.1.6.4; sodann auf D. 19.2.45.1 für die Ablehnung der Haftung für bloße Fahrlässigkeit und schließlich auf D. 39.2.13.6 für den Ausschluß der Haftung bei Kenntnis des Mieters selbst. Weiter verweist er (für die verschuldensunabhängige Haftung des Vermieters) auf Sintenis, der diese nach Ansicht von Windscheid ebenfalls aus D. 19.2.19.1 und D. 19.1.6.4 abgeleitet haben soll, sowie (für eine bloße Arglisthaftung im übrigen) auf Fr. Mommsen, der sich ebenfalls in erster Linie auf D. 19.2.19.1 gestützt hatte. Sodann zitiert Windscheid noch 9 Urteile aus Seufferts Archiv, davon gehen zwei' von einer reinen c«/pd-Haftung des Vermieters aus, zwei liegen neben der Sache10, eines läßt sich nur für die Arglisthaftung verwenden", zwei weitere sprechen zwar vom „Interesse praestiren"
^ Daraus folgt auch, daß die von Lorenz und anderen vorgeschlagene Einschränkung der Vermieterhaftung vom historischen Gesetzgeber gerade nicht gewollt war. In diesem Punkte ist bisher die aus der Historie zu ziehende Folgerung noch nicht diskutiert worden. Vgl. Latenz, Schuldrecht, Band II, §48111. 8 Windscheid II, §400, bei Note 9. ' Seuff. Arch. Bd. 1, Nr. 338, Bd. 35 Nr. 21. 10 Seuff. Arch. Bd. 12 Nr. 149, 150. " Seuff. Arch. Bd. 16 Nr. 214.
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Klaus Luig
ohne Verschulden aber nur als obiter dictum", und nur ein Urteil13 geht von der objektiven Einstandspflicht für stillschweigende Zusicherungen aus, beschränkt sich aber auf den nicht ausdehnbaren Spezialfall der Faßvermietung. Als Grundlage für eine verschuldensunabhängige Haftung des Vermieters kraft stillschweigender Zusicherung für alle anfänglichen Mängel ist das zitierte Material aus Gesetzgebung (Corpus iuris), Wissenschaft und Rechtsprechung nicht sehr tragfähig. Das Schwergewicht liegt denn auch offensichtlich für Windscheid und die von ihm zitierten Sintenis und Mommsen auf D. 19.2.19.1. Dieser Eindruck wird bestätigt durch eine Bemerkung in den Materialien, die dem Dresdener Entwurf als Grundlage für die Erörterungen in der 1. Kommission beigegeben waren. Dort heißt es (bei der Übersicht über die „gemeinrechtliche Doktrin und Praxis"): „Es handelt sich hier wesentlich um die Auslegung der 1.19 §.1 D. locati 19,214." Das bedeutet aber, daß bei Beginn der Gesetzgebungsarbeiten geltendes Recht in der Frage der Haftung des Vermieters das war, was sich bei richtiger Auslegung als der Inhalt von D. 19.2.19.1 ergab. Für ein Gesetzbuch, das im wesentlichen den bestehenden Rechtszustand kodifizieren sollte, kam es also auf den Inhalt dieser Digestenstelle an, die Ulpians Ediktskommentar entnommen war15. III. Römisches Recht: D. 19.2.19.1 Bei einem Versuch der Deutung der für die Haftung des Vermieters nach gemeinem Recht und damit auch für das BGB so wichtigen Digesten-Stelle ist es angemessen, vom Stand der modernen Diskussion auszugehen, und sich erst dann der Auslegung dieser Stelle durch Windscheid und seine Zeitgenossen und erforderlichenfalls auch frühere Juristenschulen zuzuwenden. Die nachstehenden Überlegungen wollen jedoch nicht für die Romanistik etwas Neues bringen, sondern nur den Boden bereiten für das Verständnis der Interpretationen der gemeinrechtlichen Juristen. Ausgangspunkt für meine Überlegungen ist dabei, daß Krampes vielleicht zutreffende „kasuistische" Deutung, es handele sich um zwei verschiedene Arten von Mietverträgen mit zwei notwendigerweise verschiedenen Haftungsmaßstäben, für die Juristen des Usus modernus eine Kapitulation bedeutet hätte vor der Aufgabe, dem Text des Gesetzes einen generellen Sinn zu geben. D. 19.2.19.1 sagt:
Seuff. Arch. Bd. 39 Nr. 297, Bd. 40 Nr. 286. Seuff. Arch. Bd. 7 Nr. 31. 14 Die Vorlagen der Redaktoren..., hrsg. W.Schubert, Schuldrecht 2 (1980), S.271. 15 Zur Neigung des Gesetzgebers, möglichst wenig zu ändern, vgl. H.H. Jakobs, Wissenschaft und Gesetzgebung im bürgerlichen Recht (Paderborn 1983). 12
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Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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„Wer undichte Fässer vermietet, so daß der Wein des Mieters ausläuft, haftet auf Schadensersatz, ohne sich zu seiner Entlastung auf Unkenntnis berufen zu können." Diese Stelle kann einmal als Beispiel für das generelle Prinzip angesehen werden, daß ein Vermieter einer Sache, die sich als fehlerhaft herausstellt, stets ohne Entlastungsmöglichkeit auf vollen Schadensersatz haftet (so wie es § 538 B G B vorsieht). Der Ton der Stelle läge dann auf den Worten: „Der Vermieter kann sich nicht auf Unkenntnis berufen." Der Ton kann aber auch auf „Faß" liegen. Dann bedeutet die Stelle, daß jedenfalls bei der Vermietung undichter Fässer kein Fall denkbar ist, bei dem die Unkenntnis des Vermieters entschuldbar wäre. Wobei dann aber diese Feststellung sinnvoll sein kann vor dem Hintergrund der Überzeugung, daß es sich bei anderen Gegenständen genauso verhalten kann und bei wieder anderen Dingen sehr wohl entschuldbare Unkenntnis vorliegen kann. Danach wäre der Rechtssatz, der dieser Entscheidung zugrunde liegt: Der Vermieter haftet bei unentschuldbarer Unkenntnis des Mangels auf Schadensersatz. Daß der Ton dieser Stelle aber auf „Faß" liegt, und nicht auf der Regel „die Unkenntnis des Vermieters ist nicht entschuldbar", folgt aus der Tatsache, daß sogleich im nächsten Satz dieser Lex von anderen Gegenständen außer Fässern die Rede ist. Somit ist also zweierlei festzuhalten: 1. Der Vermieter haftet bei unentschuldbarer Unkenntnis des Mangels auf Schadensersatz. 2. Der Vermieter von Fässern befindet sich, wenn er den Mangel nicht kennt, stets in unentschuldbarer Unkenntnis. Ulpian fährt fort: „Anders, wenn du eine Weide verpachtet hast, auf der giftige Kräuter wachsen. Dann nämlich wird Schadensersatz gezahlt werden, wenn das Vieh eingeht oder krank wird. So jedenfalls, wenn du Bescheid weißt; warst du aber in Unkenntnis, dann verlierst du nur das Recht auf den Pachtzins." Der zweite Fall ist danach, wenn man ihn ebenfalls, soweit möglich, für sich betrachtet, wie folgt zu interpretieren: Der Verpächter einer Weide haftet auf Schadensersatz nur bei positiver Kenntnis des Mangels (sc. der Existenz giftiger Kräuter). Daraus kann man angesichts der Tatsache, daß der Fall der Faß-Vermietung soeben anders entschieden worden ist, sicher nicht den Schluß ziehen, daß generell jeder Vermieter nur bei positiver Kenntnis des Fehlers hafte. Vielmehr liegt der Ton hier auf „Weide". Danach würde der Vergleich mit der Entscheidung im Fässer-Fall nahe legen, daß diese Stelle besagen will, bei der Verpachtung einer Weide sei die Unkenntnis des Verpächters stets entschuldbar. Diese Feststellung ist aber nicht sinnvoll. Die Deutung, daß bei der Weidepacht die Unkenntnis des Verpächters immer und unter allen Umständen entschuldbar ist, so daß stets nur positive Kenntnis des
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Verpächters die Schadensersatzhaftung auslöst, schießt weit über das Ziel hinaus. Warum beim Verpächter einer Weide Unkenntnis (ganz gleich, ob entschuldbar oder - was doch jedenfalls denkbar ist - unentschuldbar) stets die Haftung ausschließen soll, ist nicht einzusehen. Vielmehr kann man nach der eben vorgetragenen Deutung des ersten Falles, allenfalls die Feststellung erwarten, daß bei der Verpachtung einer Weide die Unkenntnis des Verpächters - wegen der Schwierigkeit der Kontrolle - normalerweise leicht entschuldbar ist. Wäre nämlich das Prinzip, daß den Vermieter nur positive Kenntnis haftbar macht (demonstriert am Beispiel der Weide), dann wäre es doch gar nicht möglich, außerdem festzustellen, es gebe auch Fälle, in denen die Unkenntnis nie entschuldbar sei - denn dann schlösse Unkenntnis stets die Haftung aus, ohne daß man nach entschuldbar oder nicht zu fragen hat. Und umgekehrt: Wenn die Feststellung sinnvoll sein soll, bei Fässern sei die Unkenntnis des Vermieters unter keinen - denkbaren - Umständen entschuldbar, kann ein vernünftiger Jurist kaum sagen wollen, daß bei der Vermietung einer Weide stets eine entschuldbare Unkenntnis vorliege - ja, vorliegen müsse. Deswegen kann also, wenn nicht ein unaufhebbarer Widerspruch zum ersten Falle bestehen bleiben soll, der Sinn des Weide-Beispieles nur sein: Hier sei Unkenntnis normalerweise - was zu ergänzen wäre entschuldbar. Nur so gesehen, stehen beide Fälle unter dem gleichen Obersatz: Der Vermieter haftet bei Kenntnis und bei nicht entschuldbarer Unkenntnis. Ausgeschlossen sind damit - wenn man die beiden Fälle überhaupt unter einen Hut bringen will - sowohl die objektive Einstandspflicht des Vermieters (für die man nach der Kenntnis überhaupt nicht zu fragen brauchte) als auch die Beschränkung seiner Haftung auf Kenntnis (die den Hinweis auf eine ignorantia non excusata sinnlos machen würde). Die überwiegende Interpretation dieser Lex in der modernen Literatur läuft darauf hinaus, daß in diesen beiden Fällen eben wegen der Verschiedenheit im Tatsächlichen auch verschiedene Haftungsmaßstäbe anzuwenden seien16. Das leuchtet aber nicht ganz ein. Natürlich kann man sagen, daß es wegen der leichteren Prüfbarkeit von Fässern oder wegen der Notwendigkeit der Beschreibung der Fässer (die wie eine Zusicherung wirkt) (Käser, Honsell, Medicus) oder, weil der Vermieter die Fässer selbst erst 16 Vgl. P. Stein, Fault in the formation of contract (1958), S. 100ff.; Käser, SZRom. 74 (1957) 166; Medicus, Id quod interest (1962), S. 155; H.Honsell, Quod interest (1969) 134; Mayer-Maly, Locatio conductio (1956), S. 169; K.Heldrich, Das Verschulden bei Vertragsabschluß (Leipzig 1924) 21.
Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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ohne Mitwirkung des Mieters auswählt oder, weil bei einem undichten Faß der Schaden unvermeidbar ist, daß also aus all diesen Gründen der Faßvermieter dem Vorwurf der Fahrlässigkeit kaum entgehen könne. Das heißt aber doch nicht, daß seine Haftung gar nicht von diesem Vorwurf abhängen soll. Und zum zweiten Fall läßt sich natürlich argumentieren, daß ja nicht immer etwas passieren müsse, wenn einige giftige Kräuter auf der Wiese sind (Mayer-Maly), daß der Pächter ja eine bestimmte Weide pachtet, die er sich selbst ausgesucht hat (Stein), daß die Worte „Ich verpachte dir diese Weide" keine besondere Beschaffenheitsbeschreibung enthalten, sondern eher „so, wie sie da liegt" (Stein), daß der Verpächter des Landstreifens die Giftkräuter in der Regel gar nicht beseitigen kann (Heldrich). Aber all das läßt doch nicht den Schluß zu, daß deswegen der Verpächter auf keinen Fall für Fahrlässigkeit haftet, selbst wenn er im Einzelfall leicht feststellen kann, daß die Kräuter besonders giftig sind, wie die Weide genau beschaffen ist, daß dem Pächter auch mit einem anderen Stück Weide gedient wäre etc. Die moderne Auslegung dieser Stelle beachtet auch nicht genügend, daß ihre Ansicht zu einer Lücke im Haftungssystem führt: Der fahrlässige Verpächter von Weiden und weidenähnlichen unbeweglichen Gegenständen haftet nicht für Fahrlässigkeit. Das ist aber ein rechtspolitisches Problem, das von der Norm her zu rechtfertigen wäre (Kann das Gesetz auf die Haftung für Fahrlässigkeit beim Vermieter verzichten?) und nicht von der tatsächlichen Lage her (Unter welchen Umständen handelt der Verpächter eines Grundstücks fahrlässig?). Offen bleibt dann allenfalls noch die Frage, ob man auf der Grundlage des Obersatzes: „Der Vermieter haftet nicht für Fahrlässigkeit", den Faß-Fall (und alle ähnlichen Fälle) als Fälle von Haftung für stillschweigend übernommene Garantie deuten kann. Der Vermieter garantiert natürlich, daß die Fässer in Ordnung sind. Wenn nicht, muß er dem Mieter andere verschaffen. Darin liegt aber doch noch nicht die Zusage, den ausgelaufenen Wein zu ersetzen17. Wenn man aber keine stillschweigende Garantie annehmen kann und eine ausdrückliche fehlt, bleibt als Haftungsgrund schließlich auch im Falle der Faßvermietung nur die Fahrlässigkeit übrig. Und wenn man von da aus wieder auf die Landverpachtung schaut, ergibt sich auch hier eine Fahrlässigkeitshaftung: Warum soll jemand, der einen Fehler der vermieteten Sache nur schlecht erkennen und verhindern kann, den also in Praxi weniger schnell der Vorwurf der Fahrlässigkeit trifft, überhaupt nicht für seine Fahrlässigkeit haften, selbst wenn sie im Einzelfall evident ist?
17 Insoweit geht Stein recht weit, der andererseits - gegen Buckland - den Landvermieter zu mild behandeln will.
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Natürlich ist ein Haftungssystem denkbar, nach dem der Vermieter einerseits für besonders zugesicherte Eigenschaften haftet und bei Fehlen einer Zusicherung nur für ihm positiv bekannte Mängel. So regelt ja auch §463 die Haftung des Verkäufers. Nicht möglich ist aber ein Haftungssystem im Mietvertrag, nach dem der Vermieter einerseits ohne Verschulden kraft fingierter Zusicherung für alle Eigenschaften der Mietsache haftet und andererseits nur für ihm bekannte Mängel. Dieses System kann man also auch nicht aus D. 19.2.19.1 herauslesen. Denn auch wenn man die Art der Haftung von den Gegenständen des Mietvertrages abhängig macht (für Fässer und verwandte Gegenstände haftet man absolut, für Weiden und verwandte Gegenstände haftet man nur bei Kenntnis), bliebe doch die Frage offen, warum es denn keine Gegenstände gibt, bei denen man - was doch eigentlich allgemein als der Normalfall galt und gilt - einfach für jedes Verschulden haftet. Auch kann man nicht sagen, daß bei Fässern eine Beschreibung notwendig ist (= dictum), mit der Folge der objektiven Haftung für dicta, und daß andererseits Weiden schlechthin ohne jede Beschreibung des vertragsmäßigen Gebrauchs vermietet werden können, weswegen der Vermieter nur für Kenntnis hafte. Es gibt also keinen Grund dafür, bei Fässern stets eine Zusicherung anzunehmen, und bei Weiden nie. Es gibt aber gute Gründe dafür, bei Fässern und ähnlichen Dingen „normalerweise" eine Zusicherung anzunehmen, und bei Weiden ebenso „normalerweise" nicht: Dann aber hat die Stelle ihren Sinn nur vor dem Hintergrund des generellen Prinzips der c«//w-Haftung für alle Fälle, die weder zum Normal-Typ „Faß" noch zum Normal-Typ „Weide" gehören - also für alle anderen Gegenstände - und das ist die Mehrzahl der zu vermietenden Sachen. Nach allem verbleibt es dabei, daß ein verschiedener Haftungsmaßstab innerhalb des Systems der Vermieterhaftung unwahrscheinlich ist. Wahrscheinlicher ist die Geltung der generellen culpaHaftung mit von Fall zu Fall festzusetzenden Anforderungen an das Wissenkönnen und Wissenmüssen des Vermieters.
IV. Von den Glossatoren zum Usus modernus Vor dem Hintergrund dieser Einsichten in den Sinn der Lex 19 § 1 des Digestentitels „Locati conducti" (19.2) ist nun die Auslegung dieser Stelle bei Windscheids Vorgängern zu betrachten, wobei man, um Zusammenhänge, die auch den hier zu nennenden Autoren stets bewußt waren, nicht zu zerreißen, sinnvollerweise bis auf die Glossatoren zurückgreifen sollte. Bereits Irnerius schied bei der Frage der Haftung des Vermieters den Zufall vom Verschulden des Vermieters und gab dem Mieter im ersten Fall das Recht zur Minderung des Mietzinses und nur für den Fall des Verschuldens des Vermieters auch einen Anspruch auf
Haftung des Vermieters für anfängliche Mängel
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das Interesse, das auch den Gewinnausfall umfassen sollte, oder eine Vertragsstrafe (als pauschalierten Schadensersatz). Von einer Beschränkung der Haftung auf Arglist ist ebensowenig die Rede wie von einer verschuldensunabhängigen Schadensersatzpflicht. Beides paßt nicht in das Weltbild des Irnerius18. Accursius" verknüpfte die Frage nach der Haftung des Vermieters dann enger mit § 1 der Lex D. 19.2.19. Den Fässerfall betrachtete er als Spezialregelung für die Faßvermietung. Accursius fragte nach dem Grund für die unterschiedliche Lösung der beiden Fälle in D. 19.2.19.1 („sed cur aliterf") und gab die Antwort: „Weil er (der Vermieter) bei den Fässern einfach nicht in Unkenntnis sein durfte, bei der Weide konnte er aber auch ohne Rechtsverletzung in Unkenntnis des Fehlers sein. Denn, was man leichter wissen kann, wird für den Fall, daß man es nicht weiß, schwerer geahndet." Damit ist aber für Accursius die eventuelle Unkenntnis bei den Fässern „inexcusabilis" (nach ihr wird also gar nicht gefragt), während sie bei einer Weide normalerweise „excusabilis" ist. Die ganze Lex war demnach für Accursius Ausdruck des generellen Prinzips der Haftung für jedes Verschulden. Accursius rechtfertigt den Text, wie es Aufgabe der Glossatoren ist, auf Grund der Annahme eines Prinzips, das ebenfalls typisch für die Glossatoren ist, aber nicht ausgesprochen werden muß, nämlich daß der Vermieter nur für Verschulden, aber auch für jedes Verschulden hafte - dessen Vorliegen natürlich, wie das Corpus iuris zeigt, je nach tatsächlicher Lage nach anderen Kriterien bejaht oder verneint werden muß. Von Bartolus berichtet die eben angeführte glossierte Ausgabe der Digesten die Äußerung: „Qui locat vasa vitiosa scienter vel ignoranter, ad totum interesse tenetur. in aliis rebus distinguitur sciens ab ignorante." Damit erklärt er die objektive Haftung für die lecken Fässer zum Spezialfall und nimmt für alle anderen Fälle eine Haftung des Vermieters nur bei Kenntnis („sciens") an. Die Erörterung der Vermieterhaftung bei Donellus20 zeigt besonders deutlich, daß die Auszeichnung „reifer Systematiker" Donellus nicht nur zukommt, weil er die Kapitel „persona, res, actio" neu angeordnet hat, sondern weil er jede einzelne Institution in einem systematischen Zusammenhang vorträgt, der auf einer fortschreitenden Folge von Dichotomien beruht. Donellus trennt zuerst die Sachmiete von der
" Zu diesem Text des Irnerius s. G. Otte, Die Rechtswissenschaft, in: Die Renaissance der Wissenschaften im 12. Jahrhundert, hrsg. P. Weimar (Zürich 1981) S. 126. " Corpus iuris civilis . . . Accursii . . . commentariis (Parisiis 1559) bei D. 19.2.19.1. Ebenso Odofredus (nach Krampe, S. 23 n. 35). 20 Hugonis Donelli Libri vigintiocto, in quibus ius civile universum... (Hanoviae 1612) S. 637 ff.
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Werkmiete. Bei der Sachmiete schuldet der Vermieter zuerst die Herstellung der Möglichkeit des Gebrauchs (uti frui licere). Dazu gehört Besitzeinräumung (possessio) Gebrauchsermöglichung (usus) und die Möglichkeit der Fruchtziehung (fructuum perceptio). Zweitens muß der Vermieter dafür sorgen, daß der Mieter keinen Schaden erleidet (indemnis locatio) dadurch, daß ihm possessio, usus oder fructuum perceptio entgeht. Die für diesen Fall geschuldete Schadlosstellung umfaßt zweierlei: Freistellung von der Mietzinszahlung und Erstattung des Interesses. Dabei tritt die Freistellung von der Mietzinszahlung auch dann ein, wenn possessio, usus und fructuum perceptio dem Mieter auf Grund von Zufall nicht gewährt werden können. Auf Schadensersatz haftet der Vermieter aber nur bei culpa. In zwei Fällen hat der Mieter jedoch auch ohne Verschulden des Vermieters einen Schadensersatzanspruch, bei der evictio rei locatae und bei der Vermietung undichter Fässer nach D. 19.2.19.1. Donellus hält diese Ausnahmen aber für so wenig selbstverständlich, daß er ihnen eine besondere Begründung widmen möchte. Dieser berechtigte Zweifel (iusta dubitatio) an der Richtigkeit der Lösung hängt bei der Faßvermietung natürlich mit D. 19.2.19.1 zusammen. Zur unterschiedlichen Lösung der beiden dort aufgeführten Fälle meint Donellus (Ubersetzung): „Es fragt sich also, wenn beide in Unkenntnis sind, warum dann nicht für den Fall, daß die Schuld des Vermieters in beiden Fällen gleich ist, nicht auch beide auf Schadensersatz haften; und wenn keine Schuld vorliegt (sc. an der Unkenntnis, K. L.) warum dann beide nicht nur die Mietzinsforderung erlassen müssen. Ich weiß, man kann sagen, wer in Unkenntnis vermietete, konnte (vielleicht) mit gutem Grund nicht wissen, daß giftige Kräuter auf der Wiese seien, da es nicht jedermanns Sache ist, giftige Kräuter von guten zu unterscheiden. Wer aber undichte Fässer vermietet, konnte den Mangel feststellen. - Ich aber spreche von demjenigen - sagt Donellus -, der gerade das nicht feststellen konnte. Der aber haftet nichts desto weniger auf Schadensersatz, weil er bei der Faßvermietung, gerade durch die Verwendung des Begriffes ,Faß' auch ein dichtes Faß vermietet hat oder eine Zusage hinsichtlich seiner Unversehrtheit abgegeben hat, weil etwas kein Faß ist, wenn es kein Gefäß ist, und kein Gefäß, wenn es nicht geeignet ist zum Aufbewahren von Flüssigkeit. Was aber bei Verkauf oder Vermietung Verkäufer und Vermieter (zu)gesagt haben, dafür müssen sie einstehen". Donellus macht deutlich, daß gerade die Haftung des unschuldigen Faßvermieters das Hauptproblem darstellt („Ich aber spreche von demjenigen, der gerade das nicht feststellen konnte"). Haftungsgrund ist in diesem Falle für Donellus nicht das Verschulden (— den Fehler erkennen können), sondern die Zusage des Vermieters. Die liegt aber nach Donellus bei der Faßvermietung stets vor, weil ein undichtes Gefäß kein „Faß"
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sein kann, wohingegen offensichtlich der Gebrauch des Wortes „Weide" durch den Verpächter nicht die Zusicherung enthält, daß die Weide auch frei von Giftkräutern ist. Für die weitere Auslegung von D. 19.2.19.1 scheint mir hieran entscheidend zu sein, daß Donellus - als erster - bereit ist, bei der Vermietung stillschweigende Zusicherungen anzunehmen, die ohne weiteres Verschulden zu einer vollen Interessehaftung führen. Donellus nimmt eine solche Zusicherung zwar nur für den Fall der Faß Vermietung an (und vielleicht für ähnliche Fälle, jedenfalls aber nicht für den Fall der Verpachtung einer Weide - und ähnliche Fälle). Aber da nicht diskutiert wird, was noch als „faßähnlich" anzusehen und somit gleichzubehandeln sei, ist hier ein Einfallstor eröffnet für die Verallgemeinerung der Garantiehaftung des Faßvermieters, wie sie später - und mit durchschlagendem Erfolg - Windscheid vorgenommen hat. Wichtig ist wohl auch, daß die Garantie, die ein weiteres Verschulden entbehrlich macht, auf dem bloßen Gebrauch des Wortes „Faß" beruht, ohne daß damit der Vermieter die Absicht verbinden muß, eine gesteigerte Garantie zu übernehmen. Im übrigen entzieht sich Donellus der Beantwortung der Frage, warum „Faß" nur heißen soll „Gefäß ohne Leck", und „Weide" auch heißen kann und darf „Grasland mit giftigen Kräutern". Der Fall der Weide-Verpachtung bleibt demgegenüber in den Augen von Donellus ein ganz normaler Fall der culpa-Haftung, ohne Einschränkung auf dolus. Für die Zukunft offen bleibt also bei der Lösung von Donellus lediglich die Frage nach einer eventuellen Verallgemeinerungsfähigkeit der Annahme eines Dictums im Faß-Falle. Damit bleibt aber auch die Lösung des Donellus bei aller Genauigkeit im Distinguieren und Dichotomieren im Grunde sowohl als Interpretation des autoritativen römischen Textes wie auch als sachliche Lösung unbefriedigend. Trotzdem muß man feststellen, daß die Genauigkeit und Deutlichkeit der Auslegung des Textes selbst und der systematischen Verknüpfung der einzelnen Elemente des Instituts der Vermieterhaftung nach Donellus bis zum 19.Jh. nicht mehr erreicht werden. Der Faden der Geschichte der stillschweigenden Zusicherung wird erst im 19. Jahrhundert wieder aufgenommen werden können. Auch Cuiacius20' gelangt nur zu dem Ergebnis, daß bei Fässern die Unkenntnis nie eine Entschuldigung verdiene, weil solche Behälter, wie die Literatur zur Landwirtschaft ergebe, genau untersucht werden könnten. 201 J. Cuiacius, Recitationes solemnes ad titulum . . . Digestorum, in: Opera omnia (Neapoli 1727) Band VII, zu D. 33.6, Sp. 1450 Buchst. D - E und Sp. 1451 Buchst. A (mit Erörterung von D. 19.2.19.1).
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Die Mehrzahl der Autoren des 17. und 18.Jahrhunderts verbleibt danach in den mehr oder weniger deutlich artikulierten Bahnen einer reinen Verschuldenshaftung, d.h. einer Haftung nicht ohne Verschulden (trotz „dolia") und einer Haftung für jedes Verschulden (trotz „saltus"). Dafür können hier nur Beispiele angeführt werden, wobei es immer darauf ankommen soll, daß hier der generelle Rechtssatz deutlich gemacht wird, der sich jeweils hinter den Interpretationen zeigt. Wesenbeck21 meint, der Vermieter hafte auf vollen Schadensersatz, wenn der Fehler leicht zu erkennen war und die Sache zu einem bestimmten Gebrauch gleichsam vom Hersteller selbst vermietet worden sei (wie eben die Fässer vom Faßbinder), so daß diese Vermietung zu seinem Handwerk gehöre und er damit Güte und Fehlerlosigkeit der Sache zusichere. Anders sei die Lage, wenn der Fehler so verborgen sei, daß auch der allervorsichtigste Vermieter sich täuschen könne, wie z. B. bei der Verpachtung der Weide mit giftigen Kräutern. Wesenbeck verläßt hier die Pfade der culpa-Haftung nicht, ihm geht es nur darum, unter welchen Umständen dem Vermieter leichter oder weniger leicht ein Vorwurf gemacht werden kann. Nicht ausgeschlossen ist, daß sich der Faßvermieter im Einzelfall exkulpieren kann. Und ebensowenig ist ausgeschlossen, daß der Verpächter der Weide haftet, weil er im konkreten Falle leicht den schlechten Zustand der Weide erkennen konnte. Deswegen darf man aber die Ausführungen von Wesenbeck nicht als unzulänglich ansehen. Aus der Mehrzahl der Kommentare und Lehrbücher wird deutlich, daß sich die Fälle der Haftung für Schäden des Mieters auf der Grundlage der generellen culpa-Haftung gut lösen ließen. Die großen Auseinandersetzungen betrafen vielmehr die Probleme des Zinsnachlasses wegen Mißwuchses und außerordentlicher Unglücksfälle, die das B G B mit seinem „formalistischen Radikalismus"22 völlig ignoriert hat. Voet zielt auf das „scire debere" des Vermieters selbsthergestellter Sachen. Und Brunnemann sagt ausdrücklich, daß dies so nicht nur für Gefäße gelten müsse, sondern auch bei allen anderen Dingen22'. Bei Gotbofredus23 liegt in der Randnote zu D. 19.1.6.4 (auf die bei D. 19.2.19.1 einfach verwiesen wird) das Schwergewicht darauf, daß jedenfalls bei Fässern auch der hafte, der die Fehlerhaftigkeit nicht 21 H. Hahn, Observata ad Wesenbecii . . . commentarios (Francofurti et Lipsiae 1706) ad C. 4.65. 22 O. v. Gierke, Der Entwurf, S.243. 1 22' Voet und Brunnemann werden hier zitiert nach der italienischen annotierten Ausgabe von Glücks Pandekten durch Serafini und Cogliolo, Band 19, S. 142, 143 (zu Glück §1051). 23 Gotbofredus, Corpus iuris civilis (Francofurti 1663).
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positiv kenne. Dadurch wird aus der Faßhaftung der Normalfall einer Verschuldenshaftung. Struve24 schneidet die Verschuldensfrage nicht ausdrücklich an, da er das Problem von Folgeschäden beim Mieter nicht behandelt, sondern nur den Ersatz der Aufwendungen für vom Mieter durchgeführte Reparaturen. So heißt es dort: „Der Vermieter muß dafür einstehen, daß der Mieter die Sache gebrauchen kann." Das wird in der Note erläutert: „Hierher gehört insbesondere die Verpflichtung des Vermieters, den Mieter schadlos zu stellen, wenn er eine ungeeignete Sache übergibt (D. 19.2.19.1), oder der Mieter Aufwendungen macht, um die Sache zu erhalten (D. 19.2.55.1)." Daraus läßt sich eine gewisse Neigung zur Garantiehaftung entnehmen. J. H. Böhmers Ausführungen in der „Introductio in ius Digestorum" 25 betreffen nur die Verschuldenshaftung. In seinen „Exercitationes" empfiehlt Böhmer den Vermietern, eine Verzichtsklausel des Mieters für Geltendmachung aller Schäden in den Vertragstext aufzunehmen und umgekehrt mahnt er die Mieter 26 , sich darauf nicht einzulassen, da sie „ex natura contractus" das Risiko für Zufälle nicht trügen.
Für Heineccius27 ist es eindeutig so, „ut locator et conductor sibi invicem
praestent
culpam
levem".
Demgemäß kann der Mieter klagen
auf „damnum saltem culpa levi datum resarciendum". Leyser2" berichtet
folgenden Fall: „Hat der leztere Sturmwind die Meyerey auf Titii Guthe umgeworffen, und darunter 3 Pferde nebst 15 Stück Rind-Vieh ertödtet." Nach Leyser muß die deswegen erhobene Schadensersatzklage des Pächters Erfolg haben, weil der „Schaden eigentlich aus der schlechten Beschaffenheit der Gebäude entstanden" sei, wofür der Verpächter hafte, und zwar nach D . 19.2.19.1 sogar in dem Falle, daß der Vermieter nichts von der mangelhaften Beschaffenheit der Sache gewußt habe, aber darauf komme es in dem zu entscheidenden Falle gar nicht an, da der Pächter öfter Klage über den schlechten Zustand der Gebäude geführt habe. Hier also Haftung bei positiver Kenntnis des Mangels. Obwohl es darauf nicht ankommt, da der Vermieter auch haftet, wenn er nichts „von Mangel und Schadhaftigkeit gewußt" hat. Die Frage, ob D . 19.2.19.1 auch Haftung bei Nicht-Wissenkönnen meine, wird nicht angeschnitten. 24 Struve, 12, Nr. 8.
25
Jurisprudentia romano-germanica (Francofurti ad Moenum 1760) Lib. 3, Tit.
Böhmer, ad D. 19.2, Nr. 11, 28.
J. H. Böhmer, 479 und 487-489. 26
Exercitationes ad Pand., Tomus III (Gottingae 1748) Exerc. 52, S. 478,
27 J.G. Heineccius, Elementa iuris civilis secundum ordinem Institutionum, §§924, 929. Für „culpa levissima" wird nicht gehaftet. Eine Garantie liegt völlig fern. 28 Leyser, Meditationes ad Pandectas, Spec. 117 Med. 4.
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Leyser bestätigt nur, daß dolus des Vermieters jedenfalls nicht erforderlich ist. Für eine objektive Haftung des Mieters wird man dieser Stelle aber nichts entnehmen können. Vermutlich war Leyser dieser Ansicht nicht. Denn zum Ausgangspunkt seiner Erörterung des Falles nimmt er die Regel „respereat suo domino". Es bleibt also auch bei Leyser bei der generellen culpa-Haftung - ohne Verschärfung und ohne Milderung. Das Naturrecht trägt zu dieser Frage nichts bei. Direkt zum Problem äußert sich Wolff in seinen Grundsätzen 29 , § 637: „Wenn also jemand mit Wissen eine fehlerhafte Sache vermiethet; so muß er dem, der sie gemiethet, davor stehen (§415)30: Wenn er es nicht weiß und seine Unwissenheit unüberwindlich ist; so muß er doch . . . die Miethe erlassen." Eine verschuldensunabhängige Haftung kommt danach, wie sich auch aus den entsprechenden Stellen bei den anderen Naturrechtslehrern ergibt, nicht in Betracht. Offen bleibt bei Wolff der Fall der „überwindlichen Unwissenheit". Dank Wolffs systematischer Arbeitsweise kann man aber aus den generellen Regeln über die Unwissenheit 31 den Schluß ziehen, daß Wolff hierfür eine Haftung des Vermieters annahm. Bei dieser ganz „normalen" Verschuldenshaftung des Vermieters verbleibt es bis zum Ende der Epoche des Usus modernus. Zeugnis dafür geben die Ausführungen in Müllers Promtuarium 32 , in Westphals „Lehre des gemeinen Rechts vom Kauf, Pacht, Mieth- und Erbzinskontract" 33 , wo es heißt: „Man muß also den allgemeinen Gedanken hier zum Grunde legen: Es kommt bey Gewähr der Mängel darauf an, ob der Vermiether und Verpächter solche haben wissen können oder nicht. Auf den Unterschied zwischen Gefässen und Wiesen kommt nichts an", und endlich auch in ThibautsM Pandekten. Zum Fässer-Fall sagt Glück35, wenn sich der Mangel bei genauer „Ansicht" schon durch die äußeren Sinne entdecken lasse, so könne sich der Verpächter nicht mit Unwissenheit entschuldigen. Dann war eben die Unkenntnis vermeidbar und der Verpächter handelte schuldhaft. Zur Verpachtung der Weide meint Glück, wenn man der Sache selbst den Fehler nicht ansehen könne, sondern erst durch die „Erfahrung", dann kommt es darauf an, ob dem Verpächter diese Erfahrung bereits bekannt war oder nicht. Nur im ersten Fall hafte er auf das Interesse. Aber auch damit verbleibt Glück bei den Grundsätzen der Verschuldenshaftung. Er will lediglich sagen, 29 30 31 32 33 54 15
Chr. Wolff, Grundsätze des Natur- und Völkerrechts (Halle 1754) §637. Also Schadensersatz leisten, wie §415 ergibt. §§3, 17, 33, 34. Lipsiae 1787, s.v. Locatio conductio, Vol. VII, S. 1044ff, hier N r . 2 1 auf S. 1050. Leipzig 1789, §963, S.721. Tbibaut, System des Pandekten-Rechts, 2. Aufl., Band II (Jena 1805) §862. Ausführliche Erläuterung der Pandecten, Band 17 (Erlangen 1815) §1051, S.361.
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bei einer Weide fehle es normalerweise an tatsächlichen Gründen für ein Wissenmüssen und Wissenkönnen des Verpächters. Er will aber nicht sagen, daß es bei Weiden ein Wissenmüssen von Rechts wegen gar nicht gebe oder umgekehrt bei Fässern nach dem Wissenkönnen nie gefragt werde.
V. Die naturrechtlichen Kodifikationen Die naturrechtlichen Kodifikationen bringen keine wesentliche Änderung in das bisher gezeichnete Bild des Systems der Vermieterhaftung. Nach A L R I 21 §§272, 273 hat der Vermieter die Sache in brauchbarem Zustand zu übergeben. Bei Verstoß gegen diese Verpflichtung soll er auf Schadensersatz haften. Der Haftungsmaßstab wird in dieser Vorschrift nicht erwähnt. Nach der herrschenden Praxis und Lehre36 galt dafür aber in Ubereinstimmung mit den allgemeinen Haftungsgrundsätzen der allgemeine Verschuldensmaßstab (mit Ausschluß der culpa levissima)*'*.
Insbesondere nach der Ansicht von Koch37 bedeutete das in der Sache eine völlige Ubereinstimmung des preußischen Rechts mit dem gemeinen Recht. Im österreichischen A B G B finden sich keine besonderen Regeln über die Haftung des Vermieters. Es gelten also die allgemeinen Grundsätze für entgeltliche Verträge, wie sie in den §§922 ff. niedergelegt sind, insbesondere also die gleichen Regeln wie beim Kauf. Da die Auslegung der Gewährleistungsregeln des A B G B alle Bewegungen der gemeinrechtlichen Diskussion über die Haftung des Verkäufers mitvollzogen
56 Förster/Eccius, Preuß. Privatrecht, 4. Aufl., Band II (Berlin 1882) §136, S. 214-216; H. Dernburg, Das Obligationenrecht Preußens und des Reichs, 4. Aufl. (Halle 1889) § 168, S. 469 ff, mit weiteren Nachweisen. 36 ' Mißverständlich zur culpa levissima H.-J, Hoffmann in NJW 1967, S.51, und danach auch Krampe, S. 18-19. Wenn jemand den „gemeinrechtlichen Verschuldensmaßstab der culpa levissima wieder einführt", so bedeutet das den Wegfall der Haftung für eine nur ganz geringe Fahrlässigkeit bei prinzipieller Verschuldenshaftung, aber keineswegs im Falle einer gesetzlichen Garantiehaftung, daß „der Vermieter... von der Haftung für Mangelfolgeschäden freibleiben (soll), wenn ihm auch nicht der leichteste Vorwurf gemacht werden kann" oder „wenn nicht ersichtlich ist, welche auch noch so geringe Sorgfaltspflichtverletzung der Vermieter begangen haben soll" (so aber Krampe, S. 18, 19). „Culpa levissima" oder „leichteste Fahrlässigkeit" zielen also auf Haftungsfreistellung trotz Verschulden. So zuletzt BAG NJW 1983, 1693. 37 C. F. Koch, Recht der Forderungen nach Gemeinem und nach Preußischem Rechte, Band III (Breslau 1843) S. 740.
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hat, ist für unsere Frage nach der Garantiehaftung des Vermieters dem österreichischen Recht des 19. Jh. nichts zu entnehmen38. Demgegenüber sind die Worte des Art. 1721 Code civil („Ii [le bailleur] est dû garantie au preneur pour tous les vices ou défauts de la chose l o u é e . . . - S'il résulte de ces vices ou défauts quelque perte pour le preneur, le bailleur est tenu de l'indemniser", von vielen Interpreten als Anordnung einer verschuldensunabhängigen Schadensersatzhaftung des Vermieters verstanden worden39. Andere Autoren jedoch 3 ' 1 vertraten die Ansicht, daß der Code civil in diesem Punkte das alte Recht nicht habe ändern wollen und nach dem Vorbild von Pothier („Lorsque le locateur devait par sa profession" und „hors ces cas le locateur, qui n'a pas connu, ni dû connaître...") und Domat („doit savoir" . . . „n'ait pu ni connaître") beim Verschuldensprinzip des Usus modernus verblieben sei. Angesichts dieser Divergenzen muß man davon ausgehen, daß auch die Diskussion im französischen Recht den Gesetzgeber des B G B nicht maßgeblich hat beeinflussen können39b.
VI. Pandektenwissenschaft Deswegen wird es bei der Suche nach den wirklichen Gründen für den § 538 B G B in erster Linie ankommen auf die unmittelbar vor Windscheid in der Pandektenwissenschaft geführte Diskussion um die Auslegung der Stelle D. 19.2.19.1. a) Die ganz überwiegende Mehrheit der Pandektisten verbleibt bei der Auslegung der Digestenstellen, die die Haftung des Vermieters regeln, bei der Ansicht des Usus modernus, daß der Vermieter nur für culpa hafte und stets für culpa hafte.
38 Vgl. L.Ritter von Kirchstetten Com. zum österr. A B G B (Leipzig und Wien 1872) S. 453—459; Krainz/Pfaff/Ehrenzweig, System des österr. allg. Privatrechts, Band 2 (Wien 1900) §§322, 338 und 369. 39 Ludwig Frey, Lehrbuch des französischen Civilrechts, Band III (Mannheim 1840) S. 50, mit Hinweis auf Pothier (n. 109 ff), Delvincourt (III 121) und Sirey X X X V I I I I . 602, sowie - mit anderer Ansicht - Duvergier (III 341) und Duranton (XVII 63). Ebenso Zachariae/Crome, 8. Aufl. Band II (1894) §346, bei dem aber die Liste der Autoren mit abweichender Meinung ( = Verschuldenshaftung) überwiegt. 3'" Also Duvergier und Duranton. Vgl. auch Glück, Pandekten, ital. Ausg. von Serajini et Cogliolo, Bd. 19, S. 142, und die dort Zitierten. 39b Anders Krampe, der der vermeintlich objektiven Haftung des französischen Rechts großen Einfluß auf das BGB zugesteht, S. 32, 63, 65.
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Dies ist die Ansicht von Arndts40, Brinz41, Busch42, Dernburg", Göschen44 (der für die Weide Fahrlässigkeit allerdings erst dann annehmen will, wenn der Verpächter den Fehler nicht nur hätte kennen, sondern ihm auch hätte abhelfen können), Hasse45 (gemessen am Maßstab der custodia eines vernünftigen Mannes), Leonhard46 (wobei für das Verständnis von dessen Text wichtig ist, daß er gegen die Annahme einer Beschränkung der Haftung auf dolus kämpft, aber nicht positiv etwas zur objektiven Haftung des Vermieters sagen will), Mackeldey47, Marezoll4%, Mühlenbruch49, Puchta50 (unter zusätzlichem Hinweis auf die selten zitierte Constitution C. 4.65.28), Sintenis51 (der allerdings die Entschuldbarkeit einer Unkenntnis im Faß-Fall praktisch für ausgeschlossen und im Weide-Fall für normal hält), Unterholzner52 (wieder mit Stoßrichtung gegen die Beschränkung der Haftung auf wissentliches Verschweigen) und v. Wening-Ingenheim53 (mit Hinweis auf eine nicht näher begründete „Singularität . . . in Ansehung der Weinfässer"). Anzumerken ist zu dieser Liste von Anhängern der Verschuldenshaftung, daß jedenfalls Sintenis und v. Wening-Ingenheim auch in der Sicht der späteren Autoren (so Heuberger, vgl. oben Fn. 6 a) die Türe offen gehalten haben für die Vorstellung, daß eine objektive Haftung dem Wesen des Mietvertrages entsprechen könne, so wie es später das B G B sehen wird. b) Demgegenüber tritt eine relativ kleine Anzahl von Autoren für eine Beschränkung der Haftung des Vermieters auf „dolus", „Arglist" oder „Kenntnis" ein. Bei einigen Autoren ist diese Ansicht verbunden mit Arndts, Pand., 10. Aufl. (1879) §311. Brinz, Pand., 2. Aufl. (1879) II, §311, Anm.20. 42 Busch, Arch. civ. Praxis, Bd. 26 (1843), Abh.9. 4J Dernburg, Pand., 5. Aufl. (1892) II, § 111, S. 305-306. 44 Göschen, Vorlesungen über das gemeine Civilrecht, 2. Aufl. (Göttingen 1843) II, §509, S. 377-378. 45 Hasse, Culpa, 2. Aufl. von A. Bethmann-Hollweg (Bonn 1838) S.329. 46 Leonhard, in Goldschmidts Zeitschr. für Handelsrecht (ZHR), Band 26, S. 289. 47 Mackeldey, Lehrbuch des heutigen römischen Rechts, 11. Aufl., von F. Roßhirt (Gießen 1838) II §377, S.245. 48 Marezoll, Lehrbuch der Institutionen, 10. Aufl. bearb. von Th. Schirmer (Leipzig 1875) S. 344. 49 Mühlenbruch, Lehrbuch des Pandecten-Rechts, 4. Aufl. bearb. von Madai, Band II (Halle 1844) §412, S.433. 50 Puchta, Pandekten, 8. Aufl. bearb. von Rudorf J (Leipzig 1856) §366, S.534. 51 Sintenis, Das practische gemeine Civilrecht, Leipzig 1841, Band II §118, S. 659-660 mit Noten 61-64. Bei Windscheid stand Sintenis aber für die objektive Haftung. 52 Unterholzner, Lehre des römischen Rechts von den Schuldverhältnissen, bearb. von Huschke, Band II (Leipzig 1840) §501, S.335. 53 Wening-Ingenheim, Lehrbuch des gemeinen Civil-Rechtes, 4. Aufl., Band II (München 1831) §262, S.200-201. 40
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einem besonders nachdrücklichen Hinweis auf die Tatsache, daß der Vermieter für seine Zusicherungen einzustehen habe, wobei es nicht immer ganz klar ist, ob zusätzlich zur Zusicherung auch noch ein Verschulden bezüglich des Fehlens der zugesagten Eigenschaft erforderlich ist. Bei alledem ist schließlich darauf zu achten, daß die Juristen des 19. Jh. dazu neigten, fast jede Beschreibung der Sache als Zusicherung (dictum) zu werten 53 '. Die Wortführer dieser Gruppe von Autoren sind Friedrich Mommsen54 und Alfred Pernice55. Mommsen bemerkt zu D. 47.2.61.5 (Vermietung des diebischen Sklaven), „daß eine bloße culpa des Vermiethers nicht genügt, wird in der Stelle so bestimmt ausgesprochen, daß darüber kein Zweifel obwalten kann". Von da aus geht er zu D. 19.2.19.1 über und muß sich da konsequenterweise dafür entscheiden, daß die „für das zweite Beispiel (Weide) ausgesprochene Beschränkung der Haftung auf den Fall des dolus als Regel anzusehen" sei. Für diese Auslegung verwendet er zusätzlich den Vergleich mit D. 19.1.6.4, der ergeben soll, daß Sabinus, Labeo und Pomponius allein für den Fall der Fässer eine „Singularität" angenommen hätten. Zur Frage der Haftung für Zusicherungen will er damit nicht Stellung nehmen. Ihm genügt die Feststellung, daß regelmäßig der Vermieter nur für dolus hafte. Pernice fragt anders als Mommsen in erster Linie, was bei Auslegung des Vertrages nach bonafides „als stillschweigend zugesichert angesehen werden" könne. Dabei gehe man am weitesten bei vermieteten Fässern, weniger weit bei der Verpachtung einer Alm. Wenn durch die Auslegung der Inhalt der Haftung des Vermieters festgestellt worden sei, gehe es nicht mehr um „Culpa und Diligenz", sondern nur noch um Wissen und Nichtwissen. Danach dürfe man also „von einer Haftung des Vermiethers für culpa nicht sprechen, sondern nur von einer für dolus". c) Damit ist dann die Brücke geschlagen von den Anhängern einer dolus-Haftung zu den Juristen, die primär auf die Zusicherung abstellen wollen. Während man zuerst typischerweise die Haftung nur für Arglist mit der Haftung für Zusicherungen kombiniert und in gewisser Weise in der Zusicherungshaftung einen Ausgleich sieht für die fehlende Haftung für Fahrlässigkeit (so Pernice und Windscheids Pandektenlehrbuch), bleibt schließlich die Zusicherungshaftung für anfängliche Mängel als das 531 So Sintenis (oben Fn. 5 1 ) Band II, § 1 1 6 („einseitige Versicherungen und bestimmte A n r ü h m u n g e n " ) , Dernburg, Pandecten, Band II, § 1 0 0 („wegen aller angegebenen Eigenschaften der Kaufsache"); ebenso Windscheid, Pandekten, § 3 9 5 , bei Fn. 1 - 3 . 54 F. Mommsen, Erörterungen aus dem Obligationenrecht, 2. H e f t (Braunschweig 1 8 7 9 ) S. 2 7 . 55 A. Pernice, Labeo II (1. A u f l . 1 8 7 8 ) S. 3 2 6 - 3 2 9 .
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entscheidende Moment zurück (so in Windscheids Antrag in der 1. Kommission). Einer der ersten Autoren im 19. Jh., die - in gewisser Weise in der Nachfolge von Donellus - primär auf die Zusicherung abstellen, ist Neustetel56, der meint: „Wer Fässer vermiethet, verspricht dadurch stillschweigend, daß sie nicht rinnen... Er muß also das volle Interesse leisten, er mag den Fehler gekannt haben oder nicht." Kombiniert damit wird die Feststellung, daß der Verpächter einer Weide nicht so „unbedingt" hafte, sondern nur bei wissentlichem Verschweigen. Daß dazwischen die Lücke des fahrlässigen Verschweigens klafft, wird nicht angesprochen. Diese Lücke wird in der Folgezeit durch die Ausdehnung der Zusicherungshaftung geschlossen. Das Rechtslexikon von Weiske57 sucht dann nach einer Formel, mit deren Hilfe man von der vermuteten Zusicherung bei Fässern auf andere Gegenstände schließen kann: „Der Vermiether haftet auch dann wegen Mangelhaftigkeit der vermietheten Sache auf das volle Interesse, wenn die mangelnde Eigenschaft dergestalt wesentlich den Begriff der Sache bedingt, daß dieselbe als stillschweigend zugesagt angesehen werden kann." Danach kommt es aber immerhin noch auf die Eigenschaften bestimmter Gegenstände an. Nicht ganz klar ist es, wie von da aus der Schritt zu der Bildung der Uberzeugung getan werden konnte, daß bei einer vermieteten Sache notwendigerweise alle vereinbarten Eigenschaften so sehr den „Begriff" der - vermieteten - Sache bedingen würden, daß man sie als stillschweigend zugesichert ansehen könnte. Weniger gut begründet ist Hermann Kellers58 These „Ueber die unbedingte Haftpflicht des venditor ignorans wegen Fehler an leblosen Sachen", der sich auch zur Vermietung äußert. Als Plädoyer für die Garantiehaftung wirkte auch Jherings59 Bemerkung zu D. 19.2.19.1: „...jeder derartige Irrtum ist ein unentschuldbarer; wer etwas verspricht, soll sich nicht irren, er irrt sich auf eigene Gefahr, nicht auf Kosten der Gegenpartei." In der Folgezeit ziehen Baronw und Holtzen-
56 Neustetel, Bemerkungen zum ädilitischen Edicte, in: Römischrechtliche Untersuchungen für Wissenschaft und Ausübung, Band 1 (Heidelberg 1821) S. 181. 57 N N in Weiske, Rechtslexicon, s.v. „Pacht- und Mietvertrag", Band VII (1847), S. 764-765. 58 Keller, Ueber die unbedingte Haftpflicht des venditor ignorans, in: Jahrbücher für historische und dogmatische Bearbeitung des römischen Rechts, hrsg. K. und W. Seil, Band III (Braunschweig 1844) S.361 f. s' Jhering, Culpa in contrahendo, in: Jher. Jahrb. 4 (1861) S. 39 Note 39; sep. Neuausg. v. Eike Schmidt (1969) S.35. Krampe, S. 29, deutet allerdings Jherings Stellungnahme als Verteidigung einer reinen Verschuldenshaftung. 60 Baron, Pand., 2. Aufl. (1876) §294, S.454.
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dorf1 bereits ohne weitere Begründung aus D. 19.2.19.1 und D. 19.1.6.4 den Schluß: „Leidet die Sache an Mängeln, so muß der Vermiether, wenn er sie wissentlich verschwiegen oder ihre Abwesenheit versprochen hat, das Interesse ersetzen." Nach Wächterführt die Beschreibung der Eigenschaften der zu vermietenden Sache zu einer H a f t u n g des Vermieters ohne Verschulden. Sonst haftet der Vermieter nur bei dolus. Von da aus ist es wohl nur noch ein kleiner Schritt zu der von Windscheid in der 1. Kommission vorgeschlagenen Zusicherungshaftung f ü r alle den vertragsmäßigen Gebrauch der Mietsache konstituierenden Eigenschaften. Entscheidend war also für das BGB sachlich die Ausdehnung der Zusicherungshaftung, die methodisch nicht etwa auf der Berücksichtigung des Einzelfalles (Kasuistik) beruhte, sondern auf der juristisch-generalisierenden Einsicht in das Wesen des Mietvertrages. VII. Schlußbemerkung Die hier vorgetragene Dogmengeschichte zeigt, daß für Windscheids im Ergebnis erfolgreichen Vorschlag der Glaube entscheidend war, eine Garantie entspreche dem Corpus iuris und dessen herrschender Auslegung und sei somit geltendes Recht, das durch das BGB nicht ohne besondere Gründe abgeändert werden solle. Die weitere Vorgeschichte ergibt, daß Windscheid so gute Gründe für diese Beurteilung der Lage hatte, daß man weder ihm noch der Kommission anlasten kann, wegen einer verfehlten Interpretation von D . 19.2.19.1 im neuen § 538 BGB das damals geltende Recht zu Unrecht so verändert zu haben, daß man heute bei einer großzügigen Behandlung von § 538 freie H a n d habe, die damals gemachten Fehler auszugleichen. Damit ist nichts darüber gesagt, ob die Lösung des BGB auch materiell richtig und sinnvoll ist. Darüber steht der Dogmengeschichte kein Urteil zu. Die Dogmengeschichte stellt nur folgendes fest: Die schon bald nach Erlaß des BGB laut gewordene 63 und bis heute nicht verstummte Kritik an der Garantiehaftung des §538 BGB, die die „Rückkehr zum Verschuldensprinzip" oder auch die „Rückkehr zur kasuistischen Methode der Römer" fordert, geht von einem falschen Befund aus, wenn sie ihre Argumentation, soweit diese sich selbst als historisch betrachtet, darauf gründet, daß der BGB-Gesetzgeber Fehler gemacht habe. Diese Feststellung erleichtert die Orientierung, ergibt aber kein positives Argument für irgendeine dogmatische Problemlösung selbst. 61
Holtzendorff, Rechtslexicon (1881) s.v. „Miethe". Wächter, Pandekten II (Leipzig 1881) §206, S.468. 63 Kohler, Bürgerliches Recht, in: Holtzendorff/Kohler, Enzyklopädie (7. Aufl. 1914) Band II, S. 110. Weitere kritische Stimmen bei Krampe, S. 11-12: v. Tuhr, Siher, Heck und Wilhurg. 62
Das Eigentumsverständnis der Gegenwart und die Rechtsgeschichte THEO
MAYER-MALY
Zu wenigen juristischen Themen wird die Rechtsgeschichte so oft angerufen wie zum Eigentumsbegriff. So meinte Hans-Jochen Vogel in seinen Ausführungen über „Bodenrecht und Stadtentwicklung" 1 , unser Bodenrecht gehe „in seinen Ursprüngen auf Grundzüge des römischen Rechts zurück, die im 19. Jahrhundert vom Liberalismus fortentwickelt und in die heute geltende Fassung gebracht wurden", ehe er dafür eintrat, daß „das bisherige Eigentum an Grund und Boden . . . in ein Nutzungs- und ein Verfügungseigentum aufgeteilt" werde2. Helmut Rittstieg3 dagegen stellte an die Spitze einer Abhandlung über die Entwicklung des Grundeigentums die Behauptung, die „Geschichte des bürgerlich-rechtlichen Grundeigentums" setze „in Deutschland zu Beginn des 19. Jahrhunderts" ein. Der Unterschied im Geschichtsbild der beiden Autoren fällt um so stärker auf, als sie beide den Akzent mehr auf die Sozialbindung des Eigentums als auf seinen Freiheitswert für das Individuum setzen. Wenn es um das Eigentum geht, öffnet sich sogar der „Palandt" der Rechtsgeschichte: „§903 enthält das Ergebnis liberalistischen Rechtsdenkens", heißt es dort4. Allerdings hat Willoweii5 schon vor zehn Jahren in einer sehr sorgfältigen Untersuchung des Gebrauchs der Worte dominium und proprietas gezeigt, daß die Art, in der §903 B G B das Eigentum voraussetzt und versteht, in wesentlichen Punkten bis auf Bartolus'1 zurückverfolgt werden kann. Eine andere Weise, das Eigentumsverständnis der Gegenwart mit Typen zu verknüpfen, die man in die Rechtsgeschichte projiziert, kulminiert in der Konfrontation eines römischrechtlichen und eines N J W 1972, 1544. N J W 1972, 1546. J J Z 1983, 161. 4 Palandt/Bassenge B G B " (1984) Rz. 1 zu §903. 5 Historisches Jahrbuch 94 (1974) 131, 144. 6 Commentaria in primam Digesti N o v i partem, n . 4 zur lex Si quis vi ( = D 4 1 , 2, 17). Willoweit (Fn. 5) 144 liest so: Q u i d ergo est dominium? Responde: est ius de re corporali perfecte disponendi, nisi lex prohibeat. Nach der Ausgabe von Lyon aus 1550 (p. 61 verso) lese ich: Respondeo . . . nisi lege prohibeatur. 1
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deutschrechtlichen Eigentumsbegriffes. Auf diese stößt man sogar in Darstellungen, die mit der Geschichte nicht leichtfertig umgehen7. Regelmäßig wird der römischrechtliche Eigentumsbegriff als ein individualistischer, der deutschrechtliche als stärker zur Sozialbindung neigend präsentiert. Kroeschell8 hat gegen diese Sichtweise gegründete Bedenken vorgetragen, aber anscheinend den Informationsstand und die Vorstellungswelt der Rechtsdogmatiker und der Rechtspolitiker bislang nicht erheblich verändern können9. Zumeist muß der Rechtshistoriker beklagen, daß Rechtsdogmatik und Rechtspolitik an seinem Metier vorbeigehen. Beim Eigentumsverständnis liegen die Dinge anders. Hier stößt man fast in jeder Stellungnahme aus Rechtsdogmatik und Rechtspolitik auf eine Mobilisierung der Geschichte. Das dabei zugrunde liegende Geschichtsbild ist jedoch oft von Simplifikationen belastet, manchmal darüber hinaus durch ideologische Verblendung entstellt. Deshalb sollen die folgenden Zeilen, die dem erfahrenen Rechtshistoriker wenig Neues bringen können und sich in erster Linie an die Teilnehmer der Diskussionen über den Eigentumsbegriff des geltenden Rechtes wenden, einen Gelehrten ehren, der sich oft und erfolgreich bemüht hat, der Jurisprudenz der Gegenwart ein richtiges Verständnis ihrer dogmengeschichtlichen Grundlagen zu erschließen. Es ist aber noch eine Bemerkung über die Anfälligkeit der Eigentumsdiskussion für Bezugnahmen auf die Geschichte angezeigt. Das Eigentum ist nicht einfach ein Recht wie viele andere Rechte. Es gehört zu jenen Institutionen, die einer Rechtsordnung ihr Gepräge geben. Diese institutionelle Bedeutung des Eigentums aber ist nur durch Einbeziehung der Geschichte zu erfassen. Institutionen gewinnen ihre Bedeutung nicht aus einem datierbaren und revozierbaren Rechtssetzungsakt, sondern aus ihrer Verwurzelung in der historischen Entwicklung einer Rechtsordnung. Um dieses und damit den Grund für die Häufigkeit einer Einbeziehung der Geschichte in die Eigentumsdiskussion einzusehen, muß man keineswegs alle Thesen des juristischen Institutionalismus10 akzeptieren. 7 Dieter Schwab, Eigentum, in: Geschichtliche Grundbegriffe (hrsg. Otto Brunner, Conze, Koselleck) II (1975) 65, 69 ff; Floßmann, Eigentumsbegriff und Bodenordnung im historischen Wandel (1976) 33 ff. 8 Festschrift Thieme („Rechtshistorische Studien", 1977) 34, 68. 9 So unterscheidet Säcker MünchKomm. BGB § 9 0 3 Rdn. 6 und 11 weiterhin zwischen einem „römischrechtlichen Eigentumsbegriff" und einer „deutsch-rechtlichen Tradition"; Floßmann, Österreichische Privatrechtsgeschichte (1983) 143 ff berücksichtigt weder Willoweit (Fn. 5) noch Kroeschell (Fn. 8), sondern geht vom älteren Meinungsstand aus. 10 Vgl. Schnur (Hrsg.), Institution und Recht, 1968. - Schnur hat 1975 unter dem Titel „Die Rechtsordnung" eine deutsche Ubersetzung von Santi Romano, L'ordinamento
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Dem geltenden deutschen Recht gehören zwei grundlegende Bestimmungen über das Eigentum an. Die eine ist §903 BGB, die andere Art. 14 G G . §903 B G B sagt über die Befugnisse eines Eigentümers, dieser könne, „soweit nicht das Gesetz oder Rechte Dritter entgegenstehen, mit der Sache nach Belieben verfahren und andere von jeder Einwirkung ausschließen". Art. 14 G G gewährleistet in seinem ersten Absatz das Eigentum und das Erbrecht; deren „Inhalt und Schranken" werden nach dem 2. Satz von Art. 14 Abs. 1 „durch die Gesetze bestimmt". Dem folgt der berühmte Abs. 2 von Art. 14: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen." Das Nebeneinander der beiden grundlegenden Bestimmungen, zwischen denen unverkennbare Unterschiede bestehen, hat zu der überaus verbreiteten Auffassung geführt, es gebe im geltenden deutschen Recht zweierlei Eigentumsbegriffe: einen zivilrechtlichen und einen verfassungsrechtlichen. Dabei sieht man den zivilrechtlichen Eigentumsbegriff als den engeren an. Die Befugnisse, die sich mit ihm verbinden (z. B. Eigentumsklage, Eigentumsfreiheitsklage, negatorischer Beseitigungsanspruch nach §1004 BGB) werden als deutlicher umrissen und als der gesetzgeberischen Modifikation stärker entzogen angesehen als beim Eigentum im verfassungsrechtlichen Sinn. Für dieses dagegen ist man zu einem erheblich weiteren Begriff gelangt, der einen größeren Bereich als das Eigentum im Sinne des B G B umspannt. An der Ausweitung des Grundrechtsschutzes des Eigentums über das B G B hinaus hat ein Zivilist maßgeblichen Anteil: Martin Wolff mit seiner so einflußreich gewordenen Abhandlung über „Reichsverfassung und Eigentum" 11 . Diese hat dazu geführt, daß man die Möglichkeit eines Grundrechtsschutzes anderer privater Berechtigungen anerkannt hat12. Heute steht sogar ein Eigentumsschutz für dem öffentlichen Recht entstammende Berechtigungen, ja sogar für bloße Anwartschaften aus diesem Bereich zur Diskussion 13 . Sobald der Grundrechtsschutz des Eigentums über den Bereich hinaus erstreckt war, der nach den Kategorien des BGB als Eigentum gelten konnte, zeichnete sich eine fatale Rückwirkung des erstreckten Rechtsschutzes auf den Inhalt der zu schützenden Rechte ab. Dem klassischen Eigentum des traditionellen Zivilrechts war eine unbestrittene Substanz von Befugnissen „eigentümlich". Schon mit der Einbeziehung anderer giuridico (1918) vorgelegt. Zur Berücksichtigung der Gedanken von Santi Romano bei Guarino, L'ordinamento giuridico romano 4 (1980) vgl. Mayer-Maly SZ 99 (1982) 300 ff. 11 Teil IV der Festschr. f. Kahl, 1923. 12 R G Z 109, 319. 13 Vgl. Krause, Eigentum an subjektiven öffentlichen Rechten, 1982.
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subjektiver Rechte des Privatrechts mußte die Möglichkeit der Gesetzgebung, diese Rechte stärker oder schwächer auszugestalten, ins Gewicht fallen. Erst recht galt und gilt dies für Berechtigungen, die dem öffentlichen Recht entstammen. Signifikant wurde ein Meinungsgegensatz zwischen B G H und BVerfG. Der B G H ging bei der Umschreibung des verfassungsrechtlichen Eigentumsinhalts - etwa bei der Frage nach dem (wegen des Grundwasserspiegels) problematischen Ausmaß zulässiger Kiesgewinnung14 grundsätzlich vom Eigentumsverständnis des B G B aus15. Dagegen hat sich das Bundesverfassungsgericht in seiner vieldiskutierten Entscheidung zum Wasserhaushaltsgesetz16 ausdrücklich gewandt. Nach seiner Auffassung muß „der Begriff des von der Verfassung gewährleisteten Eigentums aus der Verfassung selbst gewonnen werden" 17 . Aus Normen des einfachen Rechts, die im Range unter der Verfassung stehen, könne weder der Begriff des Eigentums im verfassungsrechtlichen Sinne abgeleitet noch aus der privatrechtlichen Rechtsstellung der Umfang der Gewährleistung des konkreten Eigentums bestimmt werden. Die Position des BVerfG läßt sich mit den elementaren Prinzipien der Hermeneutik nicht vereinen. Jede Verfassung gebraucht zwangsläufig viele Begriffe der Rechtssprache. Es wäre absurd, wollte man nun für alle diese Begriffe eine verfassungsrechtliche Sonderbedeutung behaupten. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die in einer Verfassung verwandten Rechtsbegriffe im Zweifel die Begriffe jenes Rechtes sind, dem die betreffende Verfassung als Grundlage dienen soll. Der Eigentumsbegriff von Art. 14 G G ist zwar gewiß nicht der des B G B von 1900; aber der aus diesem - vor allem durch Martin Wolff18 - weiterentwickelte Eigentumsbegriff bildet die wichtigste Grundlage für den verfassungsrechtlichen Eigentumsschutz. Für die Regelung von Inhalt und Schranken des Eigentums nimmt das BVerfG 19 eine Konkurrenz zwischen privatrechtlichen Eigentumsvorschriften und öffentlich-rechtlichen Gesetzen an; einen Vorrang der ersteren verneint es. Das Gemeinwohlinteresse am Grundwasserschutz führt damit zu einer Einschränkung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes. Vom Eigentumsbegriff der klassischen Privatrechtskodifikationen ist dieses Eigentumsverständnis aber gar nicht verschieden. Nach § 364 Abs. 1 des österreichischen A B G B „findet die Ausübung des B G H Z 60, 126 ff. Vgl. dazu Papier, in Maunz/Dürig GG Art. 14, Rz. 36 f. 16 BVerfGE 58, 300 ff; vgl. dazu einerseits F.Baur, N J W 1982, 1734 ff; andererseits Leisner, DVB1. 1983, 61 ff. 17 BVerfGE 58, 335. 18 A . a . O . (Fn. 11). 19 Bd. 58, 336. 14
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Eigentumsrechtes nur insofern statt, als dadurch weder in die Rechte eines Dritten ein Eingriff geschieht, noch die in den Gesetzen zur Erhaltung und Beförderung des allgemeinen Wohles vorgeschriebenen Einschränkungen übertreten werden". A m Gemeinwohl mußte sich das Eigentum schon durch viele Jahrhunderte messen lassen. N e u und zweifelhaft ist dagegen die Vorstellung, Eigentum sei, was die einfache Gesetzgebung dem Berechtigten zuweise. Die Problematik der sich in der Gegenwart vollziehenden Entwicklung ist unverkennbar: Einerseits wird der Bereich, in dem ein Grundrechtsschutz nach Art. 14 G G geltend gemacht werden kann, großzügig ausgeweitet. Andererseits aber wird der Inhalt der Berechtigungen, die geschützt werden sollen, immer stärker zur Disposition der einfachen (d. h.: unter der Verfassung stehenden) Gesetzgebung gestellt. Es zeichnet sich die Eventualität einer Dismembration des Eigentumsbegriffes ab: Verfassungsrechtler und Zivilisten würden ein grundlegendes Rechtswort in weitgehend unterschiedlichem Verständnis gebrauchen, wenn sie vom Eigentum sprechen. Schon jetzt sei gesagt, daß ich es für eine vordringliche Aufgabe heutiger Jurisprudenz halte, zivilrechtliches und verfassungsrechtliches Eigentumsverständnis einander anzunähern. Mit der Dismembration des Eigentumsbegriffes in einen zivilrechtlichen und einen verfassungsrechtlichen verbinden sich häufig rechtshistorische Annahmen, die ihrerseits der Korrektur bedürfen. Der zivilistische Eigentumsbegriff, zu dem man vor allem auf §903 B G B Bezug nimmt, wird als römischrechtliches Erbstück angesehen, der verfassungsrechtliche dagegen wird in eine deutschrechtliche Tradition gestellt 20 . Damit verbindet sich die Vorstellung, das romanistische Erbe sei extrem individualistisch und gleichsam liberal, das deutschrechtliche dagegen stehe im Zeichen starker Sozialbindung des Eigentums. Alle diese rechtshistorischen Annahmen zum Eigentumsverständnis sind zwar nicht völlig haltlos 21 , doch entspringen sie durchwegs einer Vielzahl unzulässiger Vereinfachungen, zu denen massive Ungenauigkeiten und ideologische Trugbilder treten. Der vermeintlich römischrechtliche Eigentumsbegriff des § 903 B G B ist vor allem einer der Romanisten des älteren und dann des neueren ius commune. Eine Definition des Eigentums hat uns die Antike überhaupt nicht hinterlassen. Substantive zur Bezeichnung des Eigentums sind auffällig spät in Gebrauch gekommen. Das Wort dominium meint 20 Nachweise aus dem Schrifttum ( z . B . Duhm, Deutsches Recht 2 , 1963, 453) bei Kroeschell (Fn. 8) 35. 21 Daher erscheint mir Kroeschells Kritik an der Unterscheidung zwischen einem römischen und einem germanischen Eigentumsbegriff (Fn. 8, S. 35) um eine Spur zu radikal.
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zunächst allerlei Herrschaft und findet sich erst in der frühen Prinzipatszeit - bei Labeo22 und Seneca23 - als Bezeichnung von Eigentum24. Proprietas verwendet man zunächst für Eigenart oder Eigentümlichkeit, erst seit der augustäischen Zeit präziser für Eigentum. Die Differenz zwischen den beiden Ausdrücken erhält sich bis in das mittelalterliche Juristenlatein. Mit proprietas wird die Zuordnung einer Sache zu einem Vermögensbereich, mit dominium die Dispositionsmöglichkeit eines Berechtigten betont25. Ehe sich in der Antike substantivische Bezeichnungen des Eigentums durchsetzten, wurde es durch Wendungen wie meum esse - in der Vindikationsformel (Gai inst 4,16) - angesprochen. Das römische Recht ist also nur relativ spät zu einem das Eigentum bezeichnenden Hauptwort und nie zu einer Definition desselben gekommen. Es überrascht daher nicht, wenn sich auch sein angeblich radikal individualistischer Eigentumsbegriff weder für seine Früh- noch für seine Spätzeit verifizieren läßt und in der späten Republik sowie in der Prinzipatszeit viel stärkeren Beschränkungen unterliegt, als jene wahrhaben, die in die beliebte Rede vom römischrechtlichen Eigentumsbegriff einfallen. Man muß sich nicht - obwohl gute Gründe dafür sprechen - der Lehre Käsers26 vom relativen, also nur auf einen anderen Prätendenten bezogenen Charakter des frührömischen Eigentums anschließen, um anzuerkennen, daß das Eigentum des älteren römischen Rechts nicht jenes absolute, abstrakte, dehnbare und unbeschränkte Recht war, das Anhänger und Kritiker eines vermeintlichen römischrechtlichen Eigentumsbegriffes zu meinen pflegen. Das mit dem angeblich absoluten Charakter des römischen Eigentums zusammenhängende Rechtsdurchsetzungsinstrument, die vindicatio, begegnet nicht nur zur Geltendmachung von Eigentum, sondern auch zum Schutz von familienrechtlichen Positionen und von Berechtigungen mit sehr begrenztem Inhalt. Die im Eigentumsstreit zu fällende Entscheidung, wessen sacramentum iustum war, geht vom Vergleich der Argumente zweier Prätendenten aus. Beträchtliche Anhaltspunkte bestehen für frühe Grenzen der Disposi-
D 18, 1, 80, 3. de benef. 7, 5, 1; 7, 6, 3. 24 Vgl. zur Entwicklung der Terminologie Käser, Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht 2 (1956) 310 ff; Capogrossi Colognesi, La struttura della proprietà e la formazione dei „iura praediorum" nell'età repubblicana I (1969) 407 ff. 25 Vgl. Willoweit (Fn.5) 138 f. 26 A . a . O . (Fn.24) 6ff und 277ff; RömPrivR I 2 119ff; Kritik außer bei Capogrossi Colognesi (Fn. 24) 64 ff bei Watson, The Law of Property in the Later Roman Republic I (1969) 91 ff und Diósdi, Ownership in Ancient and Preclassical Law (1970) 121 ff. 22
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tionsbefugnis von Eigentümern27. Ein erheblicher Teil des landwirtschaftlich nutzbaren Landes ist nur durch hoheitliche Zuweisung in die Hand der Besitzer und Benutzer gelangt28. Für die Verhältnisse bei städtischem Boden ist bezeichnend, daß die lex coloniae Genetivae Iuliae s. Ursonensis (44 v. Chr., F I R A 121) es in c. 75 untersagte, ein Stadthaus ohne Abbruchgenehmigung und zu anderem Zweck als seinem Wiederaufbau abzureißen. Die „Eigentumsordnung" war demnach noch in der späten Republik vom falschen Bild, das man sich vom römischen Recht macht, deutlich verschieden. In seiner gründlichen und gedankenreichen Analyse der „Sozialbindungen des römischen Privateigentums" hat Simshäuser29 gezeigt, daß es schon in der Prinzipatszeit zu einer Verstärkung der Eigentumsbeschränkungen gekommen ist. Wenn er zusammenfassend meint, es ließe sich eher sagen, „daß die Sozialbindungen des Eigentums unter dem Prinzipat insgesamt ein Ausmaß erreichten, das mit einem freiheitlichindividualistischen Privatéigentum noch vereinbar war"30, so drängen sich zwar Vorbehalte gegen den Gebrauch von Etiketten aus der Gegenwart auf, doch wird in der Sache das Richtige getroffen. Daß in der Dominatszeit die Möglichkeiten eines Eingriffs in Eigentümerpositionen noch viel weiter ausgebaut wurden, versteht sich von selbst. Enteignungen wurden häufiger, die Art der Bodennutzung konnte vorgeschrieben werden, baupolizeiliche Vorschriften ergingen in großer Zahl, Veräußerungs- und Verpfändungsverbote wurden aufgestellt31. Die antiken Quellen rechtfertigen es demnach nicht, von einem römischrechtlichen Eigentumsbegriff zu sprechen, dessen Absolutheit und Bindungsfreiheit einen deutlichen Gegensatz zu einem germanischdeutschrechtlichen Eigentumsbegriff begründet. Das römische Eigentumsverständnis unterlag nicht weniger dem Wandel als das der Quellen der heimischen Rechte in Mitteleuropa. Dem vermeintlich das römische Recht kennzeichnenden, absoluten und bindungsfreien Charakter des Eigentums näherte es sich nur auf kurze Zeit und nie zur Gänze. Dies alles betone ich weniger, um als Römischrechtler das römische Recht vom Vorwurf des extremen Individualismus und Liberalismus zu 27 Im Recht der zwölf Tafeln begegnet eine Wegeerhaltungspflicht von Anliegern (tab VII 7) und ein Bestattungsverbot innerhalb der Stadt (tab X I ) . Viele Eigentumsbeschränkungen entstammen dem regimen morum der Zensoren, vgl. Simshäuser, in: Europäisches Rechtsdenken in Geschichte und Gegenwart ( = Festschr. Coing I, 1982) 329, 334 ff. Sie betrafen vor allem Bauführungen. Das beträchtliche Ausmaß nachbarrechtlicher Beschränkungen behandelt Rodger, Owners und Neighbours in Roman Law, 1972. 21 Zum ager publicus vgl. etwa Capogrossi Colognesi, La terra in Roma Antica I, 1981. 29 A . a . O . (Fn.27) 329ff. 30 Simshäuser (Fn.27) 361. 31 Eingehende Nachweise bei Käser, Rom. Privatrecht II2 264 ff.
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befreien, sondern um das gegenwärtige Ringen um ein BGB und GG umspannendes Eigentumsverständnis vor verzerrten historischen Projektionen zu bewahren. Die dem römischen Recht verpflichteten Eigentumslehren des Mittelalters und der frühen Neuzeit32 haben das von der Antike hinterlassene Eigentumsverständnis als solches nicht entscheidend verändert. Die Definition des dominium durch Bartolus33 enthält mit nisi lege prohibeatur einen Vorbehalt der gesetzgeberischen Befugnisbeschränkung. BussiM meinte deshalb, das von Bartolus definierte dominium sei nicht mehr „la rigorosa, sovrana proprietà del diritto romano". Wir müssen dem entgegenhalten, daß Bartolus dem tatsächlichen Eigentumsverständnis der Römer viel näher kam, als Bussi, der die traditionellen Vorstellungen über dieses teilte, erfaßt hat. Was die Legisten zur Veränderung der Eigentumslehre beigetragen haben, betraf weniger das Ausmaß der Eigentumsbeschränkungen, sondern vor allem die zur privatrechtlichen Integration des Lehnswesens unerläßliche Unterscheidung zwischen dominium directum und dominium utile35. Ein guter Beleg für das Weiterwirken der Eigentumsdefinition des Bartolus ist die Eigentumslehre des DonellusZugleich zeigte sie, daß auch der humanistischen Jurisprudenz jenes Eigentumsverständnis, das angeblich das römischrechtliche war, noch durchaus fremd war. Von allen Definitionen des dominium greift Donellus37 nur die des Bartolus heraus und bezeichnet sie als richtig. Saepe haec potestas minuitur iure, sagt er. Damit meint er in erster Linie die iura in re aliena, kommt aber alsbald auf generelle Rechtsschranken des Eigentums zu sprechen. Dabei fällt der Unterschied zu dem Vorbehalt ins Blickfeld, den Florentinus D 1,5,4 pr bei der Definition der libertas anbringt. Nach Florentinus ist libertas die naturalis facultas eius, quod cuique facere libet, nisi si quid vi aut iure prohibetur. Die libertas kann sowohl durch vis wie durch ius, das dominium nur durch ius beschränkt werden. Donellus38 wirft die Frage auf, weshalb in der Definition des dominium ein Vorbehalt nur hinsichtlich des ius und nicht auch hinsichtlich der vis gemacht werde. 32 Zu ihnen vor allem Willoweit (Fn. 5) und Schwab (Fn. 7); vgl ferner Olzen JuS 1984, 328 ff; zur Entwicklung der Eigentumsdefinition bei Wesenbeck, Schneidewin, Struve und anderen Autoritäten des Usus modernus Wiegand, in: Wissenschaft und Kodifikation des Privatrechts im 19. Jahrhundert (hrsg. Coing/Wilhelm) III, 1976, 118 ff. 33 Oben Fn. 6. 34 La formazione dei dogmi di diritto privato nel diritto commune (1937) 19. 35 Dazu etwa Feenstra, in: Flores legum (Festschr. Scheltema, 1971) 49 ff; Pastori, Studi Grosso VI (1974) 305 ff. 36 Comment. de jure civili IX, 8 ff (Op. omnia ed. Rom 1828). 37 A . a . O . (Fn.36) ed. 1196f. 38 A . a . O . (Fn.36) 1198.
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Seine Antwort lautet: Weil die libertas eine naturalis facultas sei, müsse man sowohl vis als auch ius berücksichtigen. Das dominium aber sei ein ius: hoc autem ius vis aliena non adimit. Seit dem 18. Jahrhundert wurde das Eigentum oft in engere Beziehung zur Freiheit gesetzt und als Mittel zu dieser verstanden 39 . Bei Donellus kündigt sich diese Relation zwischen dem Eigentumsverständnis und dem Freiheitsbegriff bereits an. Jener liberale Eigentumsbegriff, den ein beträchtlicher Teil der Pandektisten des 19.Jhs. anerkannt hat und den man wohl deshalb zu Unrecht als römischrechtlich klassifiziert, dürfte seine Wurzeln in der rationalistischen Naturrechtslehre 40 haben. Bei Grotius", der die Eigentumslehre in die Analyse der Gründe für einen Krieg einbaut, wird aber von der proprietas die communitas nicht völlig verdrängt. Der Notstand ist ihm ein Beispiel für den Nachrang der proprietas. Christian Wolff2 definiert das dominium als ius proprium disponendi pro arbitrio suo. Auffällig ist die Differenz zu Baldus, der ja auch das dominium definiert hat. Baldus43 begriff es vor allem als potestas alienandi, Wolff dagegen stellt auf die Möglichkeit beliebiger Disposition ab. Im Naturrecht begründet ist das Eigentum aber auch für Wolff nicht, es ist nur mit diesem verträglich. Es ist erst durch die Aufhebung der Urgesellschaft (communio primaeva) mit ihrer Eigentumsgemeinschaft notwendig geworden 44 . Sobald durch Arbeitsaufwand bestimmte Güter für den Gebrauch von Einzelnen bestimmt werden, ist es erforderlich, für den Ausschluß Nichtberechtigter zu sorgen45. Parallelen zum Denkansatz der Lehre von den property rights46, die übrigens dem property-Begriff der englischen Naturrechtler nahe steht, fallen auf. Das arbitrium des Disponierens, auf das Wolff abstellt, ist die wahre Grundlage der „Formel vom Belieben des Eigentümers" in § 903 BGB, der Rittstieg" 39 Vgl. die Hinweise von Schwab (Fn. 7) 79 ff. - Hegels Lehre vom Freiheitswert des Eigentums (in: Philosophie des Rechts, ed. Iking Bd. 3, S.203, §41) wirkt bis in die Spruchpraxis des BVerfG (Bd. 24, 367, 389) und des BGH (BGHZ 6, 270, 276). In Texten des frühen Konstitutionalismus kommt sie zur Geltung (§13 der Verfassungsurkunde für Baden, § 24 der Verfassungsurkunde für Württemberg; Texte bei E. R. Huber, Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte I, 1961, 158 und 174). 40 Zu dieser Stoltenberg, Das Eigentum im Naturrecht, Kieler Diss. 1971; Brandt, Eigentumstheorien von Grotius bis Kant, 1974 (zu Grotius 31 ff; zu Locke 77 ff). 41 De iure belli ac pacis II 2,6. 42 Ius Naturae II § 118; vgl. zu Wolff Wiegand (Fn. 32) 128. 43 Praelectiones in Codicem ad C. 5,9,3 (ed. Lugdunum 1561), n. 1: dominium absolute dictum est plena proprietas cum alienandi potestate. 44 Ius Naturae II § 140. 45 Institutiones Iuris Naturae et Gentium §§191, 195. 46 Vgl. etwa Posner, Economic Analysis of Law2, 1977; Buhbe, Ökonomische Analyse von Eigentumsrechten, 1980. 47 JZ 1983, 161, 162.
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ganz zu Unrecht „in erster Linie ideologische Bedeutung" zuweist. Das Eigentum jenes Einzigen, von dem Max Stirner48 schrieb, hat aber weder Wolff noch ein anderer von den großen Naturrechtlern, auch niemand aus dem Kreis der Pandektisten49 entworfen. Nach der Naturrechtslehre von Wolff ° ist es dem Eigentümer nicht gestattet, seine Sache ohne dringende obligatio naturalis zu zerstören. Ein abusus rerum suarum ist durch die lex naturalis verboten51. Die Umformung des Eigentumsverständnisses durch die rationalistischen Naturrechtslehren ist als eine der Hauptursachen für die zunehmenden Angriffe auf die Unterscheidung zwischen dominium directum und dominium utile52 anzusehen. Auch in dieser Frage führt ein gerader Weg vom Naturrecht zur französischen Revolution. Thibaut53 war keineswegs der erste, sondern nur der erfolgreichste Kritiker der Unterscheidung. Wiegand54 hat auf mehrere Stimmen aus dem 18. Jahrhundert55 aufmerksam gemacht. Bei Christian Wolff' hat die traditionelle Eigentumsteilung insofern eine Relativierung erfahren, als sie eine pactio sowie eine den Vorgang gestaltende lex zur Voraussetzung hat, während die Anerkennung des dominium selbst nicht von einer bestimmten positiven Ordnung abhängig gemacht wird. Dieser Abstufung wird die Aussage von Wiegand57, die Unterteilung des Eigentums in Ober- und Untereigentum gehöre zum festen Bestand der naturrechtlichen Eigentumsdoktrin, nicht voll gerecht. Die Versuche, gesetzgeberisch die Unterscheidung zwischen Oberund Untereigentum zu überwinden, setzen nicht erst mit dem „Décret portant abolition du régime féodale" vom 4.8.1789 ein. Die Ausbildung eines einheitlichen, auf Mobilität angelegten Eigentumsbegriffes zählt nicht erst zu den „Fortschritten des Zivilrechts im X I X . Jahrhundert"58. Die von Maria Theresia mit der Ausarbeitung einer Kodifikation betrauten Juristen haben die Unterscheidung zwischen Ober- und UntereigenDer Einzige und sein Eigentum, 1845. Zu den Eigentumslehren des 19. Jhs. vgl. vor allem die Beiträge in Band 5 / 6 (1976/7) der Quaderni Fiorentini. 50 Jus Naturae II §§ 167, 648. 51 Jus Naturae II § 170. 52 Zu deren Anfängen vgl. die Hinweise oben Fn. 35. 55 Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts II (1817/1970) 67 ff. 54 A . a . O . (Fn.32) 131. 55 Z . B . Kahl, Dissertatio de erronea divisione dominii in directum et utile in foro recepta, 1744. 56 Institutiones § 724. 57 A . a . O . (Fn.32) 129. 58 Vgl. Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im XIX.Jahrhundert I I / l , 1930/ 1968; zur neueren Entwicklung des Eigentumsverständnisses ferner Peter, Wandlungen der Eigentumsordnung und der Eigentumslehre seit dem 19. Jh., 1949. 48 49
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tum grundsätzlich abgelehnt59. Während der Entwurf zum Sachenrecht von Thinnfeld'60 dem ius commune auch in der Distinktion zwischen dominium directum und dominium utile folgen wollte, setzten Azzoni und Holger die Aussage von Codex Theresianus II 3, 6 durch61: „Es ist demnach das Eigenthum in seiner Wesenheit ganz einfach, nämlich ein einziges, wahres, natürliches und zugleich rechtliches, volles, wirkliches und außer Uebertragung an einen Anderen unauflösliches Eigenthum."
Nur für das Erbzinsrecht und das „Recht der Oberfläche" (die gemeinrechtliche superficies) wurde ein „nutzbares Eigentum" anerkannt62. Die naturrechtliche Freiheit und Einheitlichkeit des Eigentums war damit im Grundsatz anerkannt, allerdings ebenso wenig in die Praxis umgesetzt wie der nicht in Kraft gesetzte Codex Theresianus selbst63. Die österreichischen Kompilatoren, die unter Josef II einen neuen Entwurf - den Entwurf Horten - ausarbeiteten, hielten an der Ablehnung einer Unterscheidung zwischen dominium directum und dominium utile fest64. Der nächste Kodifikationsentwurf, der unter Leopold II. entstandene „Entwurf Martini", kehrte dagegen zur gemeinrechtlichen Konstruktion des geteilten Eigentums zurück65. Es heißt bei ihm in II 3, 566: „Bleibt das Recht auf einer körperlichen und unbeweglichen Sache mit dem Rechte auf die Nutzungen derselben in Einer Person vereinigt, so ist das Eigenthumsrecht vollständig und ungetheilt; kömmt aber Einem das Recht auf den Grund, und dem Andern das Recht auf die Nutzungen vorzüglich zu, dann ist das Eigenthumsrecht getheilt, und für Beide unvollständig. Der Erste wird Grundeigenthümer und der Zweite Nutzungseigenthümer genannt."
Vgl. Kocher, Höchstgerichtsbarkeit und Privatrechtskodifikation (1979) 134 ff. Vgl. Harras v. Harrasowsky, Der Codex Theresianus und seine Umarbeitungen II (1884) 41, A . 2 . 61 Text bei Harras v. Harrasowsky (Fn. 60) 43. 62 Cod. Ther. II 25 und 26. 65 Vgl. Kocher (Fn. 59) 141. 64 Den Eigentumsbegriff dieses Entwurfs präsentiert Entw. Horten II 2, 1 (Harras v. Harrasowsky, Fn.60, IV 143); dazu Kocher (Fn.59) 142f. 65 Die Motive für diese Rückkehr sind schwer aufzuklären, zumal die Archivbestände durch den Justizpalastbrand von 1927 arg dezimiert worden sind. Die Entscheidung der preußischen Kodifikatoren für die Eigentumsteilung (ALR I 8, 20) könnte eine Rolle gespielt haben. Es ist aber auch möglich, daß die Aktualisierung der Kritik am geteilten Eigentum in der französischen Revolution abschreckend gewirkt hat. Manche Votanten wollten ja auch „alles Zeug von Menschenrechten, natürlicher, bürgerlicher Freiheit" weglassen - so Fechtig als Landesreferent für Vorderösterreich (!), vgl. Harras v. Harrasowsky (Fn. 60) V 4 (Anm.). " Text bei Harras v. Harrasowsky (Fn. 60) V 89 f. 59 60
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Diese Bestimmung ist unverändert in das Westgalizische Gesetzbuch' 7 übernommen worden. Aus ihr ist mit geringfügigen Modifikationen §357 des A B G B von 1811 hervorgegangen, der nie formell aufgehoben worden ist. Materiell wurde der Eigentumsteilung allerdings durch die bäuerliche Grundentlastung68 und durch das „Gesetz über die theilweise Aufhebung des Lehenbandes"69 die Grundlage entzogen. 1867 wurde die Abkehr vom geteilten Eigentum sogar durch ein Verfassungsgesetz, das heute noch gilt, bekräftigt. Das Staatsgrundgesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger bestimmt in Art. 7: „Jeder Untertänigkeits- und Hörigkeitsverband ist für immer aufgehoben. Jede aus dem Titel des geteilten Eigentumes auf Liegenschaften haftende Schuldigkeit oder Leistung ist ablösbar, und es darf in Zukunft keine Liegenschaft mit einer derartigen unablösbaren Leistung belastet werden."
Die Entscheidung gegen das geteilte Eigentum ist also nach heutigem österreichischen Recht eine Verfassungsentscheidung. In der Bundesrepublik Deutschland steht dagegen eine neue, freilich anders angelegte Eigentumsteilung in Diskussion. Die Aufgliederung in Substanz- und Nutzungseigentum hätte sie freilich mit der alten Unterscheidung zwischen dominium directum und dominium utile gemeinsam. Ausdrücklich sagt Hans-Jochen Vogel"3: „Folgende Grundzüge würden meines Erachtens zu einem solchen geläuterten Eigentumsbegriff führen: 1. Das bisherige Eigentum an Grund und Boden wird in ein Nutzungs- und ein Verfügungseigentum aufgeteilt. Dieses Verfügungseigentum an Grund und Boden geht auf die Gemeinschaft über. Sie begründet an den Einzelflächen kündbares oder auch befristetes Nutzungseigentum durch Verträge, in denen über die Art der Nutzung, die Höhe des Nutzungsentgeltes und die Dauer des Nutzungseigentums Bestimmung getroffen wird. Falls Gemeinschaftsinteressen dem nicht entgegenstehen, ist das Nutzungsrecht im Wege der öffentlichen Ausschreibung zu vergeben."
KroescheW1 hat über diese Vorschläge gesagt, daß sie „progressiv scheinen, aber in Wahrheit reaktionär sind". Ich will hier nicht werten, zumal ich eine positive Bewertung von „progressiv" nicht für selbstverständlich halte. Begnügt man sich aber mit schlichter Diagnose, so muß man notieren, daß die Bereitschaft zur Rückkehr zu einem geteilten Eigentum um sich greift. Schon Otto von Gierke sah in der im 20. Jh. einsetzenden Gesetzgebung über Ansiedlungs- und Rentengüter neue
67 II § 77 (Text bei Ofner, Der Ur-Entwurf und die Beratungs-Protokolle des A B G B I, 1889, X X X V I ) . " Grundentlastungspatent vom 7 . 9 . 1 8 4 8 , Justiz-Gesetz-Sammlung 1180; vgl. ferner öRGBl. 1849, Nr. 152. " öRGBl. 1862, Nr. 103. 70 N J W 1972, 1544, 1546. 71 A . a . O . (Fn.8) 68.
Das Eigentumsverständnis der Gegenwart und die Rechtsgeschichte
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Formen eines unvollständigen Eigentums72. Wer gerne eine „Wiederkehr von Rechtsfiguren" 73 konstatiert, sollte frohlocken - zumal angesichts lebhafter Opposition von Autoren74, die sich für progressiv halten. Doch bürgt Wiederkehr allein noch nicht für Qualität. Der optimalen Allokation von Ressourcen steht Eigentumsteilung fast ebenso stark im Wege wie einst die „tote Hand", der die in unseren Tagen anwachsende Eigentumsquote der öffentlichen Hand würdige Konkurrenz macht. Der Dienst, den Eigentum der Freiheit leisten kann, wird schwächlich, wenn es aufgeteilt und damit immobilisiert wird. Das Eigentumsverständnis der ersten Verfassungsgarantien des Eigentums steht jedenfalls nicht im Zeichen eines geteilten und damit gebundenen, sondern eines ungeteilten und damit freiheitsbezogenen Eigentums. Jenes „droit inviolable et sacré", von dem Art. 17 der „Déclaration des droits de l'homme et du citoyen" (28.8.1789) sprach, als er die „propriété" garantierte, war bereits das von der Eigentumsteilung emanzipierte Eigentum, das uns in art. 544 des Code civil entgegentritt. Hieraus ergibt sich ein gewichtiges Argument gegen alle derzeit wirksamen und teilweise erfolgreichen Versuche, das Eigentumsverständnis der Verfassungsgarantien des Eigentums von den Eigentumskonzepten der Zivilrechtskodifikationen zu lösen75. Das Eigentum, das die ersten europäischen Verfassungen als unverletzliches und geheiligtes Recht garantieren wollten, war das in Abkehr von den Eigentumsteilungen des Ancien Régime formulierte Eigentum der zunächst auf naturrechtlicher Grundlage entworfenen Kodifikationen des Privatrechts. Wer sich von diesem abwendet oder gar für neue Unterscheidungen zwischen Substanz- und Nutzungseigentum eintritt, gerät in Gefahr, durch Progressivität hinter die französische Revolution zurückzufallen. Wer meint, die heute geltenden Verfassungsgarantien des Eigentums könnten sich vom Eigentumsverständnis des frühen Konstitutionalismus lösen, muß einen Verfassungswandel behaupten, der zur Grundrechtseinschränkung führt. Richtig ist demgegenüber allein der volle Grundrechtsschutz für das Eigentum nach dem klassischen Eigentumsverständnis des Privatrechts, das allerdings nie von einer Berücksichtigung des Gemeinwohls und einer beträchtlichen Zahl anderer Beschränkungen frei war. Die Erweiterung dieses Grundrechtsschutzes auf andere Berechtigungen aus dem privaten wie aus dem öffentlichen Recht hat zwar viel für sich, darf aber nicht zu einer Relativierung im Kernbereich
Vgl. Janssen, Quaderni Fiorentini 5/6 (1976/7) 556 f. Mayer-Maly, J Z 1971, 1 ff. 74 Wesel, Aufklärungen über Recht (1981) 70 ff. 75 Besonders deutlich und besonders falsch unternimmt diesen Versuch BVerfGE 58, 300, 335. 72
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führen. Es handelt sich bei ihr nur um eine „entsprechende Anwendung", die stärkere Restriktionen verträgt als der Eigentumsschutz im Kernbereich. Für das Eigentumsverständnis der Gegenwart ergibt sich aus dem Blick auf die Rechtsgeschichte vor allem, daß es geboten ist, die Elemente der Kontinuität 76 und die der Konvergenz stärker zu betonen, andererseits den Tendenzen der Dismembration und Desintegration entgegenzutreten. Die geschichtliche Entwicklung steht nicht im Zeichen eines heute noch wirkungsfähigen Gegensatzes zwischen einem römischrechtlichen und einem deutschrechtlichen Eigentumsbegriff. Die Konstruktion eines derartigen Gegensatzes gehört zu jener Fehleinschätzung des gemeinen Rechtes, nach der dessen wichtigstes Element - das römische Recht - ein fremdes gewesen sein soll77. Als solches ist es aber erst einer von den Kategorien des Nationalismus geblendeten Rechtshistorie erschienen. . Die geschichtliche Entwicklung gestattet es aber auch nicht, einen verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriff unabhängig vom privatrechtlichen zu postulieren. Gewiß stimmen die Eigentumsbegriffe von §903 B G B und Art. 14 G G nicht völlig überein. Die Aufgabe der Auslegung ist es aber nicht, die beiden Konzepte möglichst drastisch voneinander abzuheben. Schon der Gedanke der Einheit der Rechtsordnung gebietet es, auf möglichst viel Konvergenz hinzuwirken. Der konstitutionelle Schutz des Eigentums hat als Ausgangspunkt und Zentrum das Eigentum der Privatrechtskodifikationen. In der Verfassungsentwicklung ist kein Ereignis auffindbar, mit dem die privatrechtliche Grundlage des konstitutionellen Eigentumsschutzes zur Seite geschoben worden wäre, um einem rein verfassungsrechtlich konzipierten Eigentumsbegriff Platz zu machen. Die Erstreckung des verfassungsrechtlichen Eigentumsschutzes auf andere Berechtigungen darf daher nicht dazu führen, daß der Schutz des „eigentlichen Eigentums" reduziert wird.
76 Den Grad der Kontinuität akzentuiert richtig Liver, Privatrechtliche Abhandlungen (1972) 149, 168. 77 Dagegen richtig Kosebaker, Europa und das römische Recht 4 (1966) 141 ff. Wie ich in einem Beitrag („Das römische Recht im Recht der Neuzeit und der Gegenwart") zu dem demnächst erscheinenden Sammelband „Antike in der Moderne" (hrsg. Schuller) etwas ausführlicher darzulegen versuche, hat man vor aller Rezeption römisches Recht in vielen Dingen als maßgeblich angesehen oder wenigstens wirkungsgeschichtlich zum Zuge kommen lassen. Besonders deutlich zeigen dies die Lex Romana Raetica Curiensis, das Edictum Pistense von Karl dem Kahlen (MG Leg Capit. II 325), die Konstitutionen von Friedrich Barbarossa und von Friedrich II sowie (wirkungsgeschichtlich) der Schwabenspiegel.
Steuerprotest in der Antike JENS PETER MEINCKE
I.
Das Jahr 1984 gibt nicht nur Anlaß, den Jubilar, dem diese Festschrift gewidmet ist, zu ehren, sondern fordert auch dazu heraus, sich einer großen Gestalt aus der weit zurückliegenden deutsch-europäischen Geschichte zu erinnern1. Denn im Jahr 1984 jährt sich vermutlich zum zweitausendsten Mal der Geburtstag des Mannes, der, wie ernstzunehmende Historiker 2 behaupten, das Vorbild für den Siegfried der Drachentöter-Sage abgegeben hat, dessen Persönlichkeit in Schauspielen von Klopstock, Kleist und Grabbe gefeiert wurde 3 , dessen Gedenken ein weit über das Land ragendes Denkmal bis heute aufrechterhält 4 und der vielen5 als erster der „Großen Deutschen" gilt: Arminius, der Heerführer der Cherusker, der Sieger der Varus-Schlacht. Über die Motive, die Arminius zum Kampf gegen die Römer bestimmten, ist nur wenig bekannt. Aber das Wenige, das die Quellen überliefern, läßt den Rechtshistoriker aufhorchen. Denn hier wird der von Arminius organisierte Aufstand mit der Einführung der römischen
1 Das Manuskript wurde im Dezember 1983 abgeschlossen. Der Verf. ist insbesondere den Arbeiten von W.John, Quinctilius Varus, Paulys Realencyclopädie der klassischen Altertumswissenschaften Bd.24 (1963) 907ff, und D. Timpe, Arminius-Studien (1970), zu Dank verpflichtet. 2 E.Bickel, Arminiusbiographie und Sagensigfrid (1949), O. Höfler, Siegfried, Arminius und die Symbolik (1961). D. Timpe (o. Fn. 1) 11 Fn. 2, konstatiert „weitgehende Zustimmung der germanistischen und mediaevistischen Forschung". Nach H. Callies, Arminius, Reallexikon der germanischen Altertumskunde, Bd. 1 (1973) 417, 420 „muß die Meinung, in der Siegfriedgestalt manifestiere sich Erinnerung an A., als sehr problematisch angesehen werden". 3 Einen Uberblick über das Nachleben der Varus-Schlacht in der Literatur gibt W.John (o. Fn. 1) 975 ff. Umfangreiche Nachweise zur Verwendung der Arminius-Gestalt in Literatur und bildender Kunst finden sich bei G. Unverfehrt, Arminius als nationale Leitfigur, in: Kunstverwaltung, Bau- und Denkmal-Politik im Kaiserreich, hrsg. von E.Mai und St. Waetzoldt, 1981, 315ff. 4 Das Hermann-Denkmal im Teutoburger Wald bei Detmold wurde nach einem Entwurf von Ernst von Bändel in der Zeit von 1837 bis 1875 errichtet. 5 Z . B . H.Auhin, Arminius, in: Die Großen Deutschen, Bd. 1 (1935) 9ff.
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Rechtsprechung und des römischen Steuerwesens im rechtsrheinischen Germanien in Verbindung gebracht. Ist Arminius also als früher Kämpfer gegen die Rezeption des römischen Rechts, als Vorläufer moderner „Steuerrebellen" einzustufen? Der Stand der Uberlieferung läßt ein abschließendes Urteil über die Gründe der Varus-Schlacht nicht zu. Doch rechtfertigt er den nachstehenden Versuch, für diese auch der Rechtsgeschichte gewidmete Festschrift kurze Nachrichten zur Person des Arminius und zu den Motiven der Erhebung zusammenzutragen6. II. Arminius wurde, wie Tacitus7 berichtet, schon in der Antike in germanischen Heldenliedern besungen, und bis heute ist seine Gestalt von sagenhaften Erzählungen so umnebelt, daß ein Kernbestand gesicherter Erkenntnisse über diesen Mann gar nicht so leicht zu ermitteln ist. 1. Die Zweifel beginnen schon beim Namen, der in den Quellen bald als Arminius, bald als Armenius erscheint8. Denn für die Namensform Arminius läßt sich weder eine lateinische noch eine germanische Wurzel deutlich genug erkennen. Der in der Neuzeit seit Luther' populäre Versuch, den Namen als latinisierte Form von Hermann zu deuten, stößt heute durchweg auf Widerspruch10. Auch die an die Schreibweise Armenius anknüpfende Wiedergabe des Namens als „der Armenier" 11 , ein Beiname, den sich Arminius im Kampf in den östlichen Reichsteilen erworben haben könnte, gilt als überholt12. So bleibt schon die Ableitung des Namens im dunkeln.
' Die antike Überlieferung zur Varus-Schlacht und ihren Nachwirkungen findet sich in den Schriften von Cassius Dio, Annius Florus, Strabon, Sueton, Tacitus und Vellerns Paterculus. Quellenzusammenstellungen geben R. Stegmann, Die Berichte der Schriftsteller des Altertums über die Varus-Schlacht und das Castell Aliso (1901), und H. Lohrisch, Germanischer Heldenkampf gegen römische Fremdherrschaft in antiken Berichten I (1936). Vgl. ferner A.Riese, Das rheinische Germanien in der antiken Literatur (1892) 68 ff. 7 Tacitus, Annalen 2, 88. 8 Die Schreibweise „Arminius" findet sich bei Vellerns Paterculus und durchweg bei Tacitus. „Armenius" schreiben Strabon und Cassius Dio (die sich beide der griechischen Schrift bedienen). Annius Florus verwendet beide Schreibweisen. 9 Nachweis bei W.John (o. Fn. 1) 976. 10 H. v. Petrikovits, Arminius, Bonner Jahrbücher 166 (1966) 175 ff, 176. 11 E. Hohl, Zur Lebensgeschichte des Siegers im Teutoburger Wald, Historische Zeitschrift 167 (1943) 457ff. 12 D. Timpe (o. Fn. 1) 19.
Steuerprotest in der Antike
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2. Nicht wirklich gesichert ist ferner das Alter des Arminius, auch wenn vieles für das im Eingang genannte Datum spricht. Tacitus13 berichtet nämlich, daß Arminius, als er durch Arglist seiner Verwandten fiel, 37 Jahre gelebt hatte. In diese 37 Jahre fallen nach Tacitus 12 Jahre der „potentia", 12 Jahre also der Macht, des maßgebenden Einflusses in seinem Volk. Rechnet man den Beginn dieser Machtstellung mit dem Erfolg in der Varus-Schlacht, die im Herbst (vermutlich Ende September) des Jahres 9 n. Chr. stattgefunden hat14, so ist Arminius im Jahre 21 n. Chr. im Alter von 37 Jahren gestorben. Aus diesen Angaben läßt sich dann der Tag der Geburt auf das Jahr 17 vor der Zeitrechnung zurückdatieren15. Bevorzugt man dagegen die Deutung16, daß Arminius die VarusSchlacht nur deswegen gewinnen konnte, weil er schon vor diesem Kampf über eine entsprechende potentia unter den Cheruskern und ihren Nachbarstämmen verfügte, und nimmt man an, daß Arminius diese Machtposition ein oder zwei Jahre vor der Varus-Schlacht aufgebaut hat - was allerdings mit der Annahme einer Mitwirkung im pannonischen Feldzug in den Jahren 6 bis 9 n. Chr. (dazu sogleich) nicht leicht vereinbar ist - , dann ist der Beginn des von Tacitus genannten 12Jahres-Zeitraums um ein oder zwei Jahre vorzuverlegen, so daß Arminius dann im Jahre 19 oder 20 n. Chr. umgekommen und - die Altersangabe bei Tacitus unterstellt - entsprechend früher geboren sein muß. Für die letztere Deutung ließe sich ins Feld führen, daß Tacitus17 den Tod des Arminius am Schluß des Kapitels seiner Annalen erwähnt, das sich mit den Ereignissen des Jahres 19 n.Chr. befaßt. Doch ist diese Zuordnung nicht zwingend. Denn Tacitus berichtet am Ende dieses Kapitels über den Brief eines Chattenfürsten, der im Senat in Rom verlesen wurde und in dem der Fürst dem Senat die Ermordung des Arminius durch Gift anbot. Tiberius habe dieses Angebot abgelehnt. Indessen sei Arminius in seinem Streben nach dem Thron auf den Widerstand seiner Landsleute gestoßen und durch Hinterlist der Verwandten gefallen. Sicher ist danach nur, daß der Brief im Jahr 19 n. Chr. verlesen wurde. Wann die weiteren Ereignisse eintraten und ob sie auch noch dem Jahre 19 n. Chr. zuzuordnen sind, ergibt die Darstellung des Tacitus nicht klar. Manches spricht vielmehr dafür, daß Tacitus hier nur das spätere Ende des Arminius vorweg geschildert hat, weil es sich 13
Tacitus, Annalen 2, 88. H. Collies (o. Fn.2) 418. Manche Autoren - z. B. H. Aubin (o. Fn. 5) 9 - gelangen bei der Rückrechnung zum Jahr 16 v.Chr., vermutlich weil sie zu Unrecht ein Jahr 0 in die Rückrechnung einbeziehen. " E. Hohl, HZ 167 (1943) 462; vgl. auch R.Syme, Tacitus, Bd. 1 (1958) 266. 17 Tacitus, Annalen 2, 88. 14
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bequem in den Zusammenhang einfügen ließ und zugleich einen geeigneten Schluß für das Kapitel bot18. Der Zeitpunkt der Varus-Schlacht läßt sich im übrigen zuverlässig datieren, weil Vellerns Paterculus und Cassius Dio" berichten, daß in Rom gerade die Feiern zur Beendigung des Feldzuges in Pannonien beschlossen waren, als dort die Nachricht über die Niederlage im Teutoburger Wald eintraf. Da der Feldzug in Pannonien im Spätsommer des Jahres 9 n. Chr. endgültig abgeschlossen wurde20, muß die VarusSchlacht zu Beginn des Herbstes dieses Jahres stattgefunden haben. Arminius war zu diesem Zeitpunkt also 25 - möglicherweise aber auch schon 26 oder 27 - Jahre alt. 3. Arminius gehörte zum Volk der Cherusker, einem westgermanischen Stamm, dessen Siedlungen damals an der Weser im Gebiet zwischen Höxter, Holzminden, Hameln und Minden lagen21. Die Cherusker hat Caesar22 „entdeckt". Sie erreichten unter Arminius den Höhepunkt ihres Ansehens, sanken aber schon wenig später, vom Nachbarvolk der Chatten unterworfen, zur Bedeutungslosigkeit herab, so daß Tacitus in seiner am Ende des 1.Jahrhunderts n.Chr. geschriebenen Germania23 von ihnen bereits als von einem zusammengebrochenen Volke spricht. Arminius stammte aus einer vornehmen Familie. Er wird als der Sohn eines princeps („Fürsten") seines Volkes geschildert24. Zeit seines Lebens stand er mit anderen „Adligen" seines Stammes im Kampf um die Vorherrschaft unter den Cheruskern. Es spricht manches dafür, daß alle Rivalen in diesem Streit einer einzigen Familie, der von Tacitus25 erwähnten „stirps regia" dieses Volkes, entstammten. Wer sich in diesem Familienverband, dem die Stammesidentität begründenden Traditionsträger dieses Volkes, durchzusetzen vermochte, dem fiel vermutlich eine dem Königtum zumindest vergleichbare Stellung zu, so daß es nicht als Hybris ausgelegt werden muß, wenn Arminius am Ende seines Lebens,
18 E.Sander, Zur Arminius-Biographie, Gymnasium 62 (1955) 82; E. Koestermann, Tacitus Annalen, Bd. 1 (1963) 415. 19 Vellerns Paterculus, Römische Geschichte 2, 117, 1; Cassius Dio, Römische Geschichte 56, 18, 1. 20 W.John (o. Fn. 1) 955. 21 Den Stamm der Cherusker schildert R. Wenskus, Cherusker, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 4 (1981) 430 ff; ferner: L. Schmidt, Die Westgermanen (1940) 91 ff. Eine umfassende Darstellung der Stammesbildung bei den Germanen gibt R. Wenskus, Stammesbildung und Verfassung (1961). 22 Caesar, Vom gallischen Krieg 6, 10. 23 Tacitus, Germania 36. 24 Vellerns Paterculus 2, 118. 25 Tacitus, Annalen 11, 16.
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nachdem er die wichtigsten Rivalen beiseitegedrängt hatte, den Thron für sich vor Augen sah26. 4. Zur Zeit der Varus-Schlacht war Arminius trotz seiner Jugend bereits in römischen Diensten erfahren27. Er hatte eine aus Angehörigen seines Stammes gebildete römische Hilfstruppe (wohl im pannonischen Feldzug in den Jahren 6—9 n. Chr.) befehligt. Er beherrschte die lateinische Sprache. Ihm war das römische Bürgerrecht verliehen worden. Als besondere Auszeichnung hatte er die Aufnahme in den römischen Ritterstand erreicht. Vellerns Paterculus, ein hoher Offizier aus der „Funktionärsschicht" des früheren Prinzipats28, nennt ihn den adsiduus militiae nostrae prioris comes, was bisweilen dahin gedeutet wird, daß Arminius mit Vellerns zusammen die wichtigsten Abschnitte der Offizierslaufbahn durchschritten habe29. Näher liegt jedoch die überwiegend akzeptierte Interpretation, nach der Velleius hier den Arminius als den ständigen Begleiter seines früheren (d. h. vor der Varus-Schlacht liegenden) Feldzuges (nach Pannonien) kennzeichnen will30. Auf jeden Fall war Arminius mit der römischen Lebensweise und mit der römischen Kriegskunst gut bekannt. 5. Weil Velleius Paterculus den Kampfgefährten aus der gemeinsamen Dienstzeit kannte, ist seine Zeichnung der Persönlichkeit des Arminius für uns von besonderer Authentizität. Er schildert Arminius als persönlich tapfer, mit schnellem Verstand und einer für einen Barbaren außergewöhnlichen geistigen Gewandtheit, das Feuer der Seele durch Blick und Mienen verratend31. Andere Eigenschaften und Fähigkeiten des Arminius lassen sich aus den Ereignissen erschließen32. Arminius muß eine in hohem Maße erregbare, zugleich aber in Gefahren kaltblütige, entscheidungsstarke, 26 R. Wenskus, Cherusker, Reallexikon der Germanischen Altertumskunde Bd. 4 (1981) 430, 433. 27 Die schmale Grundlage der (z. T. erstaunlich weitgehenden) Thesen zur Biographie des Arminius vor der Varus-Schlacht findet sich in dem Bericht des Velleius (2, 118), der schildert, daß Arminius im Besitz des römischen Bürgerrechts und des Ritterranges war ( . . . iuvenis..., nomine Arminius, . . . adsiduus militiae nostrae prioris comes, iure etiam civitatis Romanae decus equestris consecutus gradus, . . . ) , sowie in der Bemerkung des Tacitus (Annalen 2, 10, 3), Arminius habe als ductor popularium im römischen Heer Latein gelernt. 28 M. Fuhrmann, Velleius, Der kleine Pauly Bd. 5 (1975/79) 1161. 29 E.Hohl, H Z 167 (1943) 458. 30 D. Timpe (o. Fn. 1) 21 ff; H. Callies (o. Fn. 2) 418. 31 Velleius Paterculus 2, 118: . . . iuvenis . . . , manu fortis, sensu celer, ultra barbarum promptus ingenio, . . . , ardorem animi vultu oculisque praeferens... 32 Besonders lebendig tritt Arminius in den - leider erst 5 Jahre nach der Varus-Schlacht einsetzenden - Schilderungen des Tacitus hervor: Annalen 1, 55-68; 2, 9 - 2 1 ; 2, 44-^6.
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zum Äußersten entschlossene Persönlichkeit gewesen sein. Sein Drang nach Freiheit und Unabhängigkeit ist vielfach belegt. Das Außergewöhnliche war sein Feld. Hierzu paßt, daß er sich seine Frau durch Entführung gegen den Willen des Schwiegervaters gewann - sie allerdings später auch selbst wieder an den nunmehr als Räuber auftretenden Beraubten verlor. Arminius war von auffälliger Körperkraft. Er hat über bedeutende Rednergaben verfügt, die es ihm erlaubten, die eigene Begeisterung auf die immer wieder unentschlossenen Landsleute zu übertragen. Seine hohe strategische Begabung steht außer Zweifel. Er verstand es, als Diplomat aufzutreten und sich vertrauenswürdig zu geben. Die so in die Irre geführten Römer klagten denn auch nachträglich um so härter über Hinterlist und Perfidie. Der von Arminius organisierte Kampf scheint von beiden Seiten" grausam und mit dem Ziel nicht nur des Sieges, sondern auch der weitgehenden Vernichtung des Gegners geführt worden zu sein. Arminius wird auch zu dieser Art der Kriegsführung das Seine hinzugefügt haben. Menschenleben und Menschenleid bedeuteten ihm ersichtlich nicht viel. Er hatte auch keine Bedenken, römischen Überläufern „Frauen" als Prämie anzubieten34. Er glaubte an die germanischen Götter, auf die er seinen in römischen Diensten verbliebenen Bruder Flavus in einer von Tacitus geschilderten dramatischen Auseinandersetzung vergeblich hinwies35. Diese religiösen Vorstellungen schlössen auch Menschenopfer ein, wie sich nach der Varus-Schlacht zeigte36. Wenn Luther, der sich mit Arminius in der Rom-Feindlichkeit verbunden wußte, gelegentlich geäußert hat, ihm sei Arminius „von hertzen lib" 37 , so möchte man heute wohl eher betonen, daß dem vom Schreibtisch aus urteilenden Betrachter zunächst das radikal Fremde in der Persönlichkeit des Arminius augenfällig ist.
III. Arminius hat - so berichten die antiken Quellen übereinstimmend den zur Varus-Schlacht führenden Aufstand aus eigenem Antrieb angezettelt. Er hat die Pläne zum Uberfall der Römer ausgedacht38 und hat
33 Tacitus (Annalen 2, 21) läßt Germanicus ausdrücklich befehlen, mit dem Morden nicht einzuhalten und keine Gefangenen zu machen. 34 Tacitus, Annalen 2, 13. 35 Tacitus, Annalen 2, 9 f. 36 Tacitus, Annalen 2, 61 schildert, wie Germanicus das Schlachtfeld im Teutoburger Wald auffand. Dort heißt es: Lucis propinquis barbarae arae, apud quas tribunos ac primorum ordinum centuriones mactaverant. 37 Wiedergabe des Zitats bei W.John (o. Fn. 1) 977. 38 Vellerns Paterculus 2, 118.
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die Fürsten benachbarter Germanenstämme zu einer „Verschwörung" zusammengeführt 39 . Er war der Rädelsführer des Aufstandes40, der „Aufrührer Germaniens", wie Tacitus41 ihn nennt. Was hat Arminius zum Kampf gegen die Römer bestimmt? Es liegt nahe, zwischen den ausgesprochenen Gründen und den unausgesprochenen Motiven, zwischen den Umständen, die Arminius Gefolgschaft unter den Germanen finden ließen, und den Gründen, die für ihn selbst bedeutsam waren, zu unterscheiden. 1. Bei Arminius selbst wird man zunächst, auch ohne daß die Quellen dies ausdrücklich berichten, sicher ein gehöriges Maß an Ehrgeiz unterstellen dürfen. Der schon auf Grund seiner Herkunft Hervorgehobene hatte - vermutlich als Anerkennung für überragende militärische Fähigkeiten - früh die Aufnahme in den römischen Ritterstand erreicht. Es wird ihm nicht verborgen geblieben sein, wieweit er nicht nur seine Landsleute, sondern auch die gleichaltrigen römischen Offiziere an Können und Einsicht überragte. Von diesem Bewußtsein aus war es nur ein kleiner Schritt zu dem Glauben, zur Führung seines Volkes berufen zu sein. Blickte Arminius nach dem pannonischen Krieg umher, so sah er sich in seinem Volk, sein Volk unter den Stämmen der umwohnenden Germanen in Rivalitäten verwickelt. Lag es da nicht nahe, statt den mühsamen und wenig Ehre verheißenden Weg innerer Auseinandersetzungen einzuschlagen, sich einen überragenden äußeren Feind zu suchen, um durch den Sieg in diesem Kampf die eigene Position im Innern zu festigen? Arminius hatte in dem für die Römer keineswegs immer glücklich verlaufenen pannonischen Krieg, der den römischen Abwehrwall zeitweise bedenklich wanken ließ, nicht nur die Kampfkraft der eigenen Truppe, sondern auch die Grenzen der militärischen Stärke der Römer kennengelernt. Gerade dieser Feldzug hatte gezeigt: Die Römer waren verwundbar, und einem Heerführer, der auf der Seite der Römer kämpfte, konnten auch die Mittel, mit denen der römischen Truppe Niederlagen beigebracht werden konnten, nicht unbekannt geblieben sein. Zudem hatte Arminius Quinctilius Varus, den neuen, seit 7 n. Chr. am Rhein residierenden Statthalter der Römer42, kennengelernt und dessen Vertrauen gewonnen43, so daß ihm nicht nur die Stärken und 39 40 41 42
Annius Florus, Abriß der römischen Geschichte 2, 30, 33. Cassius Dio 56, 19, 2. Tacitus, Annalen 1, 55. Zur Persönlichkeit dieses häufig sehr einseitig beurteilten Römers vgl. insbesondere
W.John (o. Fn. 1). 43
Vgl. die Schilderungen bei Vellerns Paterculus 2, 118, und Cassius Dio 56, 19, 2.
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Schwächen des römischen Heeres, sondern auch die seines - damals 55jährigen - Oberbefehlshabers geläufig waren. Ein Motiv des Arminius wird man danach zunächst im Ehrgeiz des jungen Kriegshelden zu suchen haben, der seine eigene Bewährung in der Rolle des siegreichen Heerführers suchte. Außerdem wird man den hochentwickelten Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang des Arminius in Rechnung stellen müssen. Dies war allerdings ein Impuls, der sich im Kern gegen die Römer nicht mehr als gegen jeden anderen germanischen Fürsten richtete, der die Stellung des Arminius und die seines Volkes anzutasten unternahm. Der einmal eingeschlagene Weg mußte dann aber bald eine eigene Dynamik entfalten, der sich Arminius ohne triftigen Grund nicht entziehen konnte. Denn als er einmal - vor sich und vor den anderen - als der Römer-Besieger galt, wurde er durch diesen Ruf bei jedem Waffengang neu herausgefordert. Hinzu trat später noch die persönliche Schmach, daß es die Römer waren, die seine Frau und seinen Sohn gefangenhielten 44 . Arminius mag im übrigen durch seine Eltern beeinflußt worden sein, da die Quellen berichten, daß sein Vater den Aufstand gegen Varus an führender Stelle betrieb 45 und seine Mutter die spätere Konfrontationspolitik gegen die Römer unterstützte 46 . Auch mögen religiöse Vorstellungen von Gewicht gewesen sein (er beruft sich dem Bruder gegenüber auf die germanischen Götter!) 47 . Bei allem wird Arminius an sich und seine Familie, an sein Volk und an die umwohnenden Germanenstämme gedacht haben. Inwieweit sein Blick noch darüber hinausging, läßt sich schwer entscheiden. Tacitus hat den von Arminius entfesselten Aufstand später in einer großen Perspektive gesehen und als Kampf der Germanen gegen die Römer, als „vaterländischen" Krieg, eingestuft. Er hat denn auch dem Arminius mit den Worten: liberator haut dubie Germaniae (ohne Zweifel der Befreier Germaniens) ein weit bis in die Neuzeit hinein leuchtendes Denkmal gesetzt 48 . Tacitus konnte dabei von den Wirkungen ausgehen, die Arminius gewollt oder ungewollt erzielte. O b seine Deutung allerdings auch
44 Tacitus, Annalen 1, 57-59, schildert die Gefangennahme der schwangeren Frau des Arminius, die von ihrem eigenen Vater Segestes den Römern ausgeliefert wurde, und die Reaktion des Arminius auf diesen Vorgang. Später (Tacitus, Annalen 2, 46) hält der Markomannenführer M a r b o d es Arminius als Schande vor, daß seine Frau und sein Sohn noch immer in Knechtschaft gehalten werden. 45 Cassius D i o 56, 19, 2 nennt als Rädelsführer des Aufstandes neben Arminius auch Segimer, der mit dem bei Vellerns 2, 118 genannten Vater des Arminius mit N a m e n Segimer identisch sein dürfte. 46 Tacitus, Annalen 2, 10, schildert eine Auseinandersetzung zwischen den Brüdern Arminius und Flavus, in der sich Arminius auf die Unterstützung der Mutter beruft. 47 Tacitus, Annalen 2, 10. 48 Tacitus, Annalen 2, 88.
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die Motive des Arminius am Eingang der Varus-Schlacht trifft, ist nicht sicher. Denn die Angehörigen germanischer Stämme brachten, dies zeigt der Verlauf der Ereignisse deutlich, die Kämpfe eher mit lokalen Stammesfehden oder Rivalitäten innerhalb einer Familie in Verbindung, als daß sie die weltpolitische Dimension eines Kampfes der Germanen gegen die Römer ins Auge faßten48'. Die größere Perspektive dürfte denn auch wohl eher für den in der Weltpolitik erfahrenen Römer Tacitus als für den jungen Germanen Arminius charakteristisch sein. 2. Auch wenn man die Antriebe des Arminius vornehmlich auf der bisher geschilderten Ebene sucht, bleibt doch zu fragen, wie es ihm gelingen konnte, für seine Pläne eine Gefolgschaft unter den Germanen zu finden, welche äußeren Umstände sich also heranziehen ließen, um die Notwendigkeit des Aufstandes sinnfällig zu machen. Hier bieten die Quellen zwei Nachrichten an, die mit der Person des Varus, des Statthalters der Römer, zusammenhängen. a) Und zwar berichten die Historiker Vellerns Paterculus und Annius Florus übereinstimmend, daß Varus versucht habe, das römische (Straf-) Recht im rechtsrheinischen Germanien zur Geltung zu bringen. Varus wollte, so schildert es Vellerns49, die Germanen, die durch das Schwert nicht bezwungen werden konnten, durch das Recht zähmen (iure mulcari). Er habe daher ein Sommerlager im rechtsrheinischen Germanien aufgeschlagen und seine Zeit mit Rechtsprechung verbracht. Daß die Germanen diese Rechtsprechung als lästig und drückend empfunden hätten, sagt Vellerns allerdings nicht. Vielmehr scheint er nur die Sorglosigkeit des Varus schildern zu wollen, der sich „wie unter Männern, die an der Annehmlichkeit des Friedens sich erfreuen", verhielt und „als Prätor auf dem Forum (Roms) Recht zu sprechen, nicht aber mitten in Germanien ein Heer zu befehligen glaubte". Wesentlich andere Akzente setzt dagegen der im 2. Jahrhundert n. Chr. lebende Annius Florus50. Nach ihm haben die Germanen die Willkür und den Hochmut des Varus gehaßt. Durch seine Rechtsprechungstätigkeit hätten sie erfahren, daß das römische Recht noch grausamer als die römischen Waffen sei. Der Kampf gegen Varus sei anläßlich einer Gerichtsverhandlung im rechtsrheinischen Germanien ausgebrochen. In der anschließenden Schlacht habe sich die Wut der Germanen 48a Für die Germanen waren die Römer Freunde oder Gegner wie andere germanische Stämme. „Die kriegerischen Energien der Germanen waren mindestens ebenso sehr nach .innen' wie nach ,außen' gekehrt, wobei hinzuzufügen ist, daß die Innen-Außen-Unterscheidung den Germanen selbst fremd gewesen sein dürfte": H. Münkler, Das Blickfeld des Helden, Göppinger Arbeiten zur Germanistik Nr. 354 (1983) 116. 49 Vellerns Paterculus 2, 117 f. 50 Annius Florus 2, 30, 31 ff.
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vornehmlich gegen die patroni causarum, die als Beistand der Parteien herangezogenen Gerichtsredner, gerichtet. Den einen seien die Augen ausgestochen, den anderen die Hände abgeschnitten worden. Einem habe man die Zunge ausgerissen, den Mund zugenäht und der ausgerissenen Zunge zugerufen: „Höre endlich auf zu zischen, D u Natter!" Beiden Berichten werden Erfahrungen zugrunde liegen, die die Germanen in der kurzen Zeit der Tätigkeit des Varus in Germanien mit diesem Statthalter gemacht hatten. Varus hat offenbar „Dinge, die sonst durch die Waffen entschieden wurden, durch das Recht erledigt" 51 , also Fehden unter Freien, die für die Germanen eher „politischen" Charakter trugen, als Kriminaldelikte behandelt und sie aus den Germanen nicht einsichtigen Gründen („Willkür") und mit einer von ihnen nicht erwarteten Härte („Grausamkeit") beurteilt. Dabei sind den Betroffenen wohl auch die Grundlagen des römischen Strafverfahrens mit dem Einsatz der im Parteiinteresse bedenkenlos agierenden Gerichtsredner unverständlich geblieben. Für Vellerns ist das Gewicht, das Varus auf diese Rechtsprechungstätigkeit gelegt hat, nur ein Beleg für die Sorglosigkeit dieses Statthalters, der in dem noch nicht zuverlässig befriedeten Gebiet vornehmlich als Chef der Zivilverwaltung und nicht als Heerführer aufgetreten ist. Die Germanen nahmen, so suggeriert es Veilleius dem Leser, diese Gerichtsbarkeit so wenig ernst, daß sie weitläufige Streitigkeiten ersannen, um Varus in der von ihm bevorzugten Rolle des Gerichtsherrn festzuhalten und die Lösung ihrer Fälle nach römischem Recht zu testen52. Vellerns liegt mit dieser Darstellungsweise auf der Linie einer Sprachregelung, die sich schon bald nach der Schlacht im Teutoburger Wald in R o m durchgesetzt zu haben scheint. Nach ihr waren die Ereignisse des Jahres 9 n . C h r . nicht als Zeichen der Stärke des Arminius und seiner Germanen zu werten, sondern als Ausdruck einer vorübergehenden Schwäche der Römer, ausgelöst durch die verfehlte und von Sorglosigkeit bestimmte Politik eines Mannes, des Varus. Auf der Linie dieser Sprachregelung liegt das erstaunliche, bis heute nachwirkende Phänomen, daß die Schlacht im Teutoburger Wald in allen Geschichtsbüchern nicht nach dem Sieger, sondern nach dem Besiegten bezeichnet wird 53 . Velleius Paterculus 2, 118. Velleius Paterculus 2, 118: At illi, . . . , simulantes fictas litium series et nunc provocantes alter alterum iniuria, nunc agentes gratias, quod ea R o m a n a iustitia finiret feritasque sua novitate incognitae disciplinae mitesceret et solita armis discerni iure terminarentur, in s u m m u m socordiam perduxere Q u i n t i l i u m . . . 53 Im Rheinischen Landesmuseum Bonn wird ein bei Xanten aufgefundener, aus der Zeit der Varus-Schlacht stammender Grabstein aufbewahrt, der als bedeutsamste außerliterarische Q u e l l e der K ä m p f e im Teutoburger Wald gilt, und auf dem auch schon der für die R ö m e r unglückliche Feldzug als bellum Varianum bezeichnet wird. Näheres zu diesem 51
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Diese Sichtweise der Ereignisse ist schwerlich ganz verfehlt. Denn Varus hat die Probleme, die das rechtsrheinische Germanien für die Ausdehnung der römischen Oberhoheit aufwarf, sicher nicht klar genug erkannt. Er hat insbesondere die Gefährlichkeit des Arminius, wie es scheint, vollkommen unterschätzt. Der bis ins Lächerliche hineinreichende Eindruck, den seine Gerichtsbarkeit auf die kriegerischen Germanen machte, mußte das Ansehen der Römer unter diesen wilden Stämmen untergraben. Auch die sich hieraus ergebende Gefahr hat Varus offenbar nicht ausreichend gewürdigt. Mit seiner Rechtsprechungstätigkeit hat Varus jedoch noch mehr bewirkt, als nur den damals im rechtsrheinischen Germanien bedenklichen Eindruck der Friedfertigkeit und Sorglosigkeit zu schüren. In der Durchsetzung der römischen Strafgerichtsbarkeit in diesem Gebiet lag nämlich zusätzlich ein - modern gesprochen - verfassungsrechtliches Problem, dessen Sprengkraft Varus wohl unterschätzte. Dabei ging es für die germanischen Fürsten, und allein auf sie kam es bei der Vorbereitung des Aufstandes gegen Varus an54, kaum in erster Linie um den Inhalt bestimmter strafrechtlicher oder strafverfahrensrechtlicher Sätze des römischen Rechts (oder auch zivilrechtlicher Bestimmungen, soweit diese zur Anwendung kamen), obwohl auch sie sich für Arminius dazu eignen mochten, die Fremdheit des Gegners und seiner Einrichtungen zu demonstrieren. Entscheidender dürfte es gewesen sein, daß Varus mit der Inanspruchnahme der Gerichtshoheit bisher „politisch" gewertete Akte des innergermanischen Fehdewesens dem römischen Strafrecht unterstellte und damit „kriminalisierte" und zusätzlich auch noch die Entscheidungszuständigkeit hinsichtlich solcher Akte für sich in Anspruch nahm. Das war ein Vorgehen, das die germanischen Fürsten in ihrem Freiheitsgefühl und Unabhängigkeitsdrang unmittelbar treffen mußte. Auch Arminius selbst wurde durch diese neue Entwicklung unmittelbar berührt. Denn sein Schwiegervater Segestes war sogleich auf diese neue Grabstein und seiner Inschrift bei A. Oxe, Der steinerne Zeuge der Schlacht im Teutoburger Wald, Die Heimat, Mitteilungen der Vereine für Heimatkunde in Krefeld und Urdingen 7 (1928) 206; M.Sibourg, Das Denkmal der Varus-Schlacht im Bonner Provinzialmuseum, Bonner Jahrbücher 135 (1930) 84; Rheinisches Landesmuseum, Führer durch die Sammlungen (1977) 55. 54 Die Quellen berichten übereinstimmend, daß Segestes, der Schwiegervater des Arminius, die Römer vergeblich vor dem Aufstand gewarnt hatte. Nach Tacitus, Annalen 1, 55, soll Segestes geraten haben, die germanischen Fürsten vor dem geplanten Aufstand festzunehmen. Denn ohne seine Führer werde das Volk nichts wagen. Bei der Beurteilung dieser Berichte muß man berücksichtigen, daß sie vermutlich auf Erklärungen des Segestes selbst zurückgehen, der sich bei seinem Übertritt ins römische Lager als langjähriger Freund der Römer ausweisen wollte (vgl. dazu Tacitus, Annalen 1, 58). Zeugen für diese Handlungen dürfte es damals nach der Varus-Schlacht schon nicht mehr gegeben haben.
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Sichtweise der Dinge eingegangen und hatte Arminius bei Varus wegen der Entführung seiner Tochter angeklagt55. War es für einen germanischen Fürsten wie Arminius zumutbar, sich wegen der Umstände, unter denen er sich seine Frau gewonnen hatte, vor einem römischen Statthalter in einem Kriminalverfahren verantworten zu müssen, zumal noch der Gang des Verfahrens undurchsichtig blieb und man befürchten mußte, durch die Gerichtsredner lächerlich gemacht zu werden? Lag es da nicht nahe, auf diese für den Germanen unerträgliche Ausdehnung des römischen Herrschaftsanspruchs zu verweisen, um die benachbarten Fürsten gegen den Statthalter und seine Rechtsprechungspraxis aufzuwiegeln? Noch Jahre später hebt es Arminius nach der Schilderung des Tacitus als den einen der beiden Erfolge seiner Politik hervor, daß die römische Kriminalgerichtsbarkeit durch den Sieg im Teutoburger Wald von den rechtsrheinischen Gebieten abgewendet worden ist56. b) Als den anderen Erfolg nennt Arminius an dieser Stelle - es geht ihm darum, die umwohnenden Stämme zum Kampf gegen Germanicus im Jahr 15 n.Chr. anzustacheln - , daß es gelungen sei, die römischen Steuern abzuschütteln. Auch diese Nachricht stimmt mit dem Bericht einer weiteren Quelle überein. Dio Cassius, der aus Kleinasien stammende Historiker, schildert nämlich in seiner zu Beginn des dritten Jahrhunderts n.Chr. geschriebenen, durchweg gründlich recherchierten Römischen Geschichte 57 , daß Varus sich bei der Neuordnung der Verhältnisse in Germanien nach seinem Amtsantritt übereilt und versucht habe, von den Germanen alsbald wie von Untertanen Steuern einzutreiben. Das hätten sie sich nicht gefallen lassen. Mit diesem Zeugnis wird eine bemerkenswerte historische Parallelität angesprochen. Varus war nämlich - vermutlich bis zum Jahre 3 v. Chr. Statthalter in Syrien58. Sein Nachfolger wurde dort der berühmte P. Sulpicius Quirinius, der in Judäa nach der Erzählung der Weihnachtsgeschichte des Lukas um die Zeitenwende, nach der Darstellung des jüdischen Historikers Flavius Josephus59 in den Jahren 6/7 n. Chr. einen census veranstaltet hat, um für die Zwecke der Reichssteuerverwaltung die Bevölkerung in Steuerlisten zu erfassen60. In Judäa gab es aus Anlaß Tacitus, Annalen 1, 58. Tacitus, Annalen 1, 59. 57 Dio Cassius 56, 18, 3. 58 Vellerns Paterculus 2, 117. 59 Flavius Josephus, Jüdische Altertümer 18, 26. 60 Vgl. W. John (o. Fn. 1) 9 1 8 ; / . P. Meincke, Die Schätzung des Quirinius, Der Betrieb 1982, 1. 55
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der Einführung des census Aufstände, wie neben Josephus auch die Apostelgeschichte berichtet61. Folgt man der Datierung des Josephus, so hat etwa gleichzeitig mit Quirinius auch Varus im rechtsrheinischen Germanien die Provinzialisierung dieses Gebietes durch Einführung eines census voranzutreiben gesucht. Und auch er ist mit dieser Maßnahme auf den Widerstand der Bevölkerung gestoßen. Dabei braucht man nicht so weit zu gehen, die ganze Erhebung des Arminius nur als das „typische Beispiel einer Steuerrevolte in einer jungen Provinz" 62 zu deuten, um doch diesem Aspekt genügend Aufmerksamkeit zuzuwenden63. Denn über Varus kursierte das bekannte bon mot, er sei arm in die reiche Provinz Syrien gegangen und habe als Reicher die arme Provinz verlassen64. Die Germanen mußten also von der in Aussicht genommenen Besteuerung schon angesichts der bisherigen Verwaltungspraxis des Varus erhebliche Belastungen erwarten. Daß das Ausmaß der von Rom ausgehenden Besteuerung im übrigen auch unabhängig von der Person des Statthalters für die germanischen Stämme angesichts ihrer wenig ertragreichen Wirtschaft schnell unerträglich groß werden konnte, zeigen die Aufstände, mit denen noch im Todesjahr des Arminius (21 n. Chr.) die linksrheinisch siedelnden Treverer und Häduer65, wenige Jahre später (28 n. Chr.) die rechtsrheinisch lebenden Friesen66 gegen die drastische Steuerpolitik der Römer revoltierten. Noch bedeutsamer als das Ausmaß der zu erwartenden Besteuerung wird aber zur Zeit der Varus-Schlacht für die rechtsrheinischen Germanenstämme der Eingriff gewesen sein, mit dem schon die Inanspruchnahme der Steuerhoheit als solche die Stammesfürsten in ihrem Unabhängigkeits- und Freiheitsdrang treffen mußte661. So fiel es Arminius " Apostelgeschichte 5, 37. G. Walser, Rom, das Reich und die fremden Völker in der Geschichtsschreibung der frühen Kaiserzeit (1951) 106. 63 Auch D. Timpe (o. Fn. 1) 88, betont: „Der Zensus ist oft genug Anlaß zu Erhebungen und Unruhen gewesen, und so ließe sich ohne weiteres vorstellen, daß der Unmut darüber gerade bei den bisher in den einzelnen Stämmen politisch begünstigten Adelsfaktionen, die sich nicht genügend berücksichtigt finden mochten, am heftigsten war." M Vellerns Paterculus 2, 117. 65 Tacitus, Annalen 3, 40. 66 Tacitus, Annalen 4, 72. 661 Vgl. auch die Deutung bei H. Münkler (o. Fn. 48 a): Es war „vor allem das römische Bestreben, in Germanien die Prinzipien des römischen Rechts durchzusetzen und die Germanen einer Besteuerung nach römischem Vorbild zu unterwerfen..., das den germanischen Widerstand hervorgerufen hat. Beides, das Fehlen eines rational begründeten und staatlich garantierten Rechtswesens und die Erhebung regelmäßiger und festgesetzter Abgaben, markiert die Scheidelinie zwischen der politischen Welt des ,heroic age' und der 62
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vermutlich leicht, unter Hinweis auf diese Maßnahme des Varus den Aufstand gegen die Römer zu schüren. IV. Was ist von dem Aufstand des Arminius geblieben? Man hat die Taten dieses Mannes früher in eine spezifisch deutsche Tradition einzufügen versucht. Nach den bitteren Erfahrungen der letzten 50 Jahre wird man den Blick heute lieber auf die gesamteuropäische Geschichte richten. Hat Arminius also auch im gemeineuropäischen Sinne etwas Bleibendes bewirkt? Oder war er nur der „Störer", der die politische und kulturelle Entwicklung Europas eher behindert als gefördert hat? Es war Tacitus, der mit Blick auf die damalige von Rom beherrschte Welt aus der Perspektive des Europäers mit Nachdruck den hohen Rang des Arminius betonte. Wer möchte diesem scharfsinnigen und originellen Historiker widersprechen? Nachdem Arminius nach dem zweiten Weltkrieg aus dem Kreis der „Großen Deutschen" verabschiedet wurde 67 , steht allerdings seine überzeugende Integration in eine Galerie der „Großen Europäer" noch aus.
des römischen Staates. Was das 19. Jahrhundert ... die Verteidigung der Freiheit Germaniens genannt hat, ist vor allem die Verteidigung einer nicht-staatlichen, im wesentlichen auf Gentilität und Treue gestützten Organisationsstruktur der germanischen Völker gewesen". 67 Das oben Fn. 5 erwähnte Werk ist nach dem Krieg in zweiter Auflage ohne einen Beitrag über Arminius erschienen: Heimpel/Heuß/Reifenberg, Die großen Deutschen (1958).
Zur Regelung des Besitzes im französischen Code civil HANS PETER
I. Wenn ein deutscher oder schweizerischer Jurist zum erstenmal den Vorschriften des Code civil über den Besitz nachgeht1, tritt er in eine fremdartige, ihm schwer verständliche Welt ein. Diese Behauptung mag auf den ersten Blick überraschen. Denn wir sind uns gewohnt, das Gesetzbuch Napoleons als ein leicht verständliches, für den Bürger, nicht nur für Juristen bestimmtes, in klassischem Französisch geschriebenes Werk zu betrachten, als ein Zivilgesetzbuch, dem aus dem deutschen Rechtsgebiet in bezug auf Sprache und Stil eher das Werk Eugen Hubers zur Seite zu stellen ist als das im abstrakten Juristendeutsch Windscheids formulierte BGB. Diese übliche Charakterisierung des Code civil als eines leicht faßlichen, klar und präzis formulierten Gesetzbuches2 ist, wie festgehalten sei, keineswegs falsch; insbesondere bei der Regelung der einzelnen Vertragsverhältnisse des Obligationenrechts (Art. 1582-2061), aber auch in dessen allgemeinem Teil (Art. 1101-1386) und in manchen Abschnitten des Sachen- und Erbrechts hat der Gesetzgeber von 1804 ja im wesentlichen die Hauptregeln des justinianischen Rechts, wie sie die Wissenschaft seiner Zeit verstand, in möglichst einfacher Form verkündet und der Nachwelt weitergegeben. In den deutschsprachigen Nachbarländern Frankreichs besteht daher der pädagogische Wert der Lektüre und des Studiums des Code civil zu einem erheblichen Teil darin, daß der angehende Jurist im Gesetzbuch Napole-
1 Ich verdanke einen Teil des Materials des folgenden Beitrages und manche Anregung der Dissertation meines Schülers Andreas Wiget, Studien zum französischen Besitzrecht ( = Zürcher Studien zum Privatrecht, Heft 25, 1982), und dem Gespräch mit dem Verfasser dieser Schrift. Im übrigen geht meine Beschäftigung mit dem Thema auf eine „Einführung in das französische Zivilrecht" zurück, die ich seit meinen Frankfurter Jahren (1960-1967) regelmäßig lese. 2 Enneccerus/Nipperdey, Allgemeiner Teil des Bürgerlichen Rechts I (15. Aufl. 1959) § 9 III; Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit (2. Aufl. 1967) S. 342 ff; ZweigertlKötz, Einführung in die Rechtsvergleichung I (1971) §7, bes. S.99 (mit einem bemerkenswerten Vorbehalt S. 98); Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte (4. Aufl. 1982) S. 76 f.
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ons je nach der Materie, um die es sich handelt, die Regeln des römischen oder des deutschen Privatrechts wieder findet, und zwar in prägnanter, vom Stil der heutigen Lehrbücher deutlich abweichender Form 3 . Dort, wo der Code civil den Besitz regelt, trifft diese allgemeine Charakterisierung jedoch nicht zu. Das liegt wohl zur Hauptsache daran, daß eine umfassende, einigermaßen abgeschlossene Regelung des Besitzes, wie sie uns aus den §§854-872 B G B oder den Art. 919-941 Z G B vertraut ist, im französischen Gesetzbuch überhaupt nicht zu finden ist. Während das Eigentum (Art. 544 ff C. c.), der Nießbrauch (Art. 578 ff), die Grunddienstbarkeiten (Art. 637 ff), der Kauf (Art. 1582 ff), die Miete (Art. 1708 ff) und die Leihe (Art. 1874 ff) wie die meisten anderen Institutionen des Vermögensrechts in einem besonderen Titel des Gesetzbuches in allen wesentlichen Aspekten geregelt sind, erscheinen uns die wenigen Vorschriften über den Besitz als einseitig und lückenhaft4. Der 20. Titel des Code, am Ende des dritten Buches, trägt zwar seit 1975 die Überschrift „De la prescription et de la possession", aber von 1804 bis 1975 lautete die Uberschrift nur „De la prescription", und damit ist zugleich gesagt, daß der Code civil den Besitz im wesentlichen als eine der Voraussetzungen der prescription, d. h. der Verjährung und Ersitzung, behandelt. Es ist eben, romanistisch gesprochen, so, wie wenn es für den französischen Gesetzgeber nur die possessio ad usucapionem, nicht auch die possessio ad interdicta gegeben hätte. Schon dieser Ausgangspunkt der französischen Regelung bereitet dem deutschsprachigen Juristen einige Schwierigkeiten des Verständnisses. Denn wir sind uns gewohnt, die Verjährung und die Ersitzung als zwei verschiedenartige Einrichtungen zu verstehen, die nur das gemeinsam haben, daß in ihnen die heilende oder Frieden stiftende Kraft der Zeit zum Ausdruck kommt. Die Verjährung der Ansprüche, verstanden als Untergang des Klagerechts mangels Ausübung (Geltendmachung) inner-
3 Diese Überzeugung habe ich jedenfalls aus der oben Fn. 1 erwähnten Vorlesung gewonnen. - Uber die oft diskutierte Frage nach dem Anteil des römischen Rechts und des germanisch-deutschen Rechts am Gesamtbestand des Code civil vgl. die treffenden Bemerkungen von P. Liver im Berner Kommentar, Einleitungsband (1961) N. 1 ff, bes. 5 ff der Allg. Einleitung. 4 Vgl. dazu - und ein für allemal auch zu den folgenden Abschnitten - Carl Georg Bruns, Das Recht des Besitzes im Mittelalter und in der Gegenwart (1848, Neudruck Osnabrück 1965) S. 442 ff; Waltber Merk in Heinsheimer/Wolff/Kaden, Frankreich: Code civil ( = Die Zivilgesetze der Gegenwart I, 1932) Bern, zu Art. 2219 ff, 2228 ff; Arminjon/ Notde/Wolff, Traité de droit comparé I (Paris 1950) no. 250 ff, 253 ff; Murad Ferid, Das Französische Zivilrecht II (1971) § 6 5 = 3 A 86 ff.
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halb bestimmter Zeit, gehört demgemäß in den Allgemeinen Teil des Zivilrechts (§§194 ff BGB) oder in das Obligationenrecht (Art. 127 ff OR), die Ersitzung, d. h. der Erwerb des Eigentums oder eines anderen dinglichen Rechts durch lang dauernden Besitz, in das Sachenrecht (§§900, 937ff B G B ; Art. 661 ff, 728, 941 ZGB). Man muß sich zuerst wieder vergegenwärtigen, daß auch die - römische oder moderne Ersitzung (usucapio) ein Element der Verjährung enthält, indem ja, vereinfacht ausgedrückt, mit dem Ablauf der Ersitzungsfrist die Vindikation des bisherigen Eigentümers gegen den Ersitzungsbesitzer verjährt. Nur wer diesen Umstand klar vor seinen Augen hat, kann die eigenartige Figur der französischen prescription richtig verstehen, in der nach dem Vorbild des gemeinen Rechts die den Schuldner befreiende, die Obligation „auslöschende Präskription" (praescriptio extinctiva) und die „erwerbende Präskription" (praescriptio acquisitiva) zu einem einzigen, Verjährung und Ersitzung umschließenden Rechtsinstitut verbunden sind5. II. Der 20. Titel des Code, seit 1975 überschrieben „De la prescription et de la possession", ist heute in sechs Kapitel eingeteilt, nämlich: I. Dispositions générales, Art. 2219-2227; II. De la possession, Art. 2228-2235; III. Des causes qui empêchent la prescription, Art. 2236-2241 ; IV. Des causes qui interrompent ou qui suspendent le cours de la prescription, Art. 2242-2259; V. Du temps requis pour prescrire, Art. 2260-2281; VI. De la protection possessoire, Art. 2282 und 22 836. Sehr klar kommt schon in der ersten Vorschrift der allgemeinen Bestimmungen die oben erwähnte Eigenart der prescription zum Ausdruck: Art. 2219. La prescription est un moyen d'acquérir ou de se libérer par un certain laps de temps, et sous les conditions déterminées par la loi.
5 Zachariä/Crome, Handbuch des Französischen Civilrechts I (8. Aufl. Freiburg i.Br. 1894) § 137; über das, was Verjährung und Ersitzung gemeinsam haben, und das, worin sie sich unterscheiden, vgl. jetzt umfassend Karl Spiro, Die Begrenzung privater Rechte durch Verjährungs-, Verwirkungs- und Fatalfristen II (Bern 1975) §§483 ff, m. w. N. in § 4 8 6 Fn. lff, bes. F n . 6 ; klassisch noch immer F. Regelsberger, Pandekten (1893) § 1 2 6 I; H.Dernburg, Lehrbuch des Preußischen Privatrechts I (1875) §§163 ff. 6 Dieses sehr kurze sechste Kapitel, das im wesentlichen nur eine Verweisung auf den Code de procedure civile enthält (vgl. unten Fn. 24 und 50), wurde erst durch die loi no. 75-596 vom 9. Juli 1975 in den Code civil eingefügt. Dasselbe Gesetz hat, wie schon gesagt, auch die Uberschrift vor dem 20. Titel durch Einbezug des Besitzes geändert.
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„Die Verjährung ist ein Mittel, um durch den Ablauf einer gewissen Zeit, und unter den gesetzlich bestimmten Bedingungen, zu erwerben oder sich von einer Verbindlichkeit zu befreien 7 ." Im übrigen enthält dieses erste Kapitel Vorschriften über den Verzicht auf Verjährung und Ersitzung, über deren Geltendmachung, über den Ausschluß der Ersitzung bei den res extra commercium (Art. 2226) und die Unterwerfung des Staates und der Gemeinden unter die Regeln der prescription (Art. 2227). Sedes materiae des Besitzes sind im Code civil aber das zweite, zum Teil auch noch das dritte und seit 1975 das sechste Kapitel des 20. Titels. Hier finden sich verschiedene Vorschriften, denen wir uns näher zuwenden wollen. Art. 2228 am Anfang des zweiten Kapitels enthält, wie an dieser Stelle üblich, eine Legaldefinition des Besitzes: Art. 2228. La possession est la détention ou la jouissance d'une chose ou d'un droit que nous tenons ou que nous exerçons par nous-mêmes, ou par un autre qui la tient ou qui l'exerce en notre nom. Das heißt in etwas präzisierender Übersetzung: „Der Besitz ist die Innehabung oder der Genuß einer Sache oder eines Rechtes, die wir in unserer Gewalt haben oder das wir ausüben entweder in eigener Person oder durch einen anderen, der in unserem Namen die Sache in seiner Gewalt hat oder das Recht ausübt." Interessant ist diese Begriffsbestimmung in doppelter Hinsicht. Sie stellt im Unterschied zu den §§ 854 I, 856 I B G B und Art. 919 I Z G B von Anfang an den Rechtsbesitz, d. h. die tatsächliche Ausübung eines subjektiven Rechts, auf die gleiche Ebene wie den Besitz an einer Sache8 und sie bringt weiter zum Ausdruck, daß man auch durch die Handlungen eines anderen - eines Stellvertreters - Besitz haben und damit, auch wenn das im Gesetz nicht mehr gesagt ist, Besitz erwerben und verlieren kann. Ein dritter, weniger auffallender Unterschied zu den Formulierungen des B G B und des Z G B besteht darin, daß der Code civil das Element der tatsächlichen Gewalt über den Gegenstand des Besitzes, die
7 Die Ubersetzung stammt von Karl Heinsheimer und ist dem oben Fn. 4 zitierten Band der „Zivilgesetze der Gegenwart" entnommen. Auch bei den weiteren Artikeln des Code civil, die hier von einer deutschen Übersetzung begleitet sind, ist diese Quellenangabe zu beachten. 8 Dabei ist der Unterschied zu Art. 919 ZGB allerdings nur formal, da das schweizerische Gesetzbuch dem ersten Absatz von Art. 919 („Wer die tatsächliche Gewalt über eine Sache hat, ist ihr Besitzer") einen zweiten Absatz folgen läßt, der bestimmt: „Dem Sachbesitz wird bei Grunddienstbarkeiten und Grundlasten die tatsächliche Ausübung des Rechtes gleichgestellt." Eugen Huber konnte so eine umständliche Definition vermeiden und sein Ziel, den Gesetzgeber in kurzen Sätzen sprechen zu lassen, besser erreichen als die Verfasser von Art. 2228 C. c.
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berühmte und folgenreiche res facti, non iuris des Paulusmit keinem Wort erwähnt10, obwohl sie im französischen Recht ebenso zum Wesen des Besitzes gehört wie bei uns. Mit dieser weiten Fassung des Begriffs des Besitzes, die von vornherein nicht nur Sachen, sondern auch Rechte als Gegenstände des Besitzes betrachtet, steht der Code civil bekanntlich in der großen Tradition des kanonischen und gemeinen Rechts, die auch noch das preußische Allgemeine Landrecht und die §§311 ff A B G B geprägt hat11. Nicht nur Dienstbarkeiten und andere beschränkte Sachenrechte, sondern auch bestimmte Forderungen (Art. 1240 C. c.) und sogar familienrechtliche Verhältnisse, wie etwa die Tatsache, daß jemand allgemein als eheliches Kind bestimmter Eltern gilt (Art. 320 ff: possession de l'état d'enfant légitime, Statusbesitz), erscheinen daher im französischen Gesetzbuch als Rechte, die man durch regelmäßige Ausübung besitzen und, wo es anfänglich am wirklichen Bestand des Rechts fehlt, auch ersitzen kann12. Dabei ist es von besonderem Interesse festzuhalten, daß die Verfasser des Code civil diese weite Definition des Besitzes nicht etwa von dem sonst oft von ihnen benützten Werk von Robert Joseph Pothier übernommen haben. Für diesen war der Besitz „la détention d'une chose corporelle que nous tenons en notre puissance, ou par nous-mêmes, ou par quelqu'un qui la tient pour nous et en notre nom" 13 , und er betont unter Berufung auf Dig. 41, 2, 3 pr. später nochmals: „Ii n'y a que les choses corporelles qui soient susceptibles de possession14." An unkörperlichen Gegenständen, d.h. an res, quae in iure consistunt, besteht dagegen eine quasi-possession, die im Genuß (la jouissance) des Rechts zum Ausdruck kommt und der dieselben Eigenschaften und Mängel (qualités et vices) wie dem wirklichen Besitz zukommen15. Im Gegensatz zum Code civil unterscheidet Pothier also eindeutig den auf Sachen beschränkten Besitz von der quasi possessio iuris; bei der Definition des ' D. 41, 2, 1, 3; vgl. auch Papinian, D. 4, 6, 19, und G. Wesener, lus possessionis, Festschrift für Max Käser zum 70. Geburtstag (München 1976) S. 159 ff. 10 Uber weitere Mängel der Legaldefinition von Art. 2228 vgl. Ferid (zit. oben Fn. 4) Bd. II, 3 A 90 ff. 11 Wolff/Raiser, Sachenrecht (10. Aufl. 1957) § 2 4 ; umfassend jetzt namentlich Gunter Wesener, Zur Dogmengeschichte des Rechtsbesitzes, Festschrift für Walter Wilburg zum 70. Geburtstag (Graz 1975) S. 453 ff, 470 ff. 12 In den genannten Fällen aus dem Obligationen- und Familienrecht hat die possession allerdings schwächere Wirkungen, so daß auch die meisten französischen Autoren den Begriff des Rechtsbesitzes auf das Sachenrecht beschränken; vgl. Ferid (zit. oben F n . 4 ) Bd. II, 3 A 87, und die Nachweise bei Wiget (zit. oben Fn. 1) S. 16 ff, bes. 20. 13 Traité de la possession, no. 1 ( = Œuvres de Pothier, nouvelle édition, Paris 1821, t. X , S. 268). 14 Traité de la possession, no. 37 ( = Œuvres X S. 284). 15 Traité de la possession, no. 38 ( = Œuvres X S. 285).
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Besitzes ist ihm hingegen der französische Gesetzgeber darin gefolgt, daß in Art. 2228 die Möglichkeit der Stellvertretung im Besitz fast mit denselben Worten erwähnt wird.
III. Recht auffallend für deutsche Ohren tönt auch die nächste Vorschrift im Kapitel „De la possession": Art. 2229. Pour pouvoir prescrire, il faut une possession continue et non interrompue, paisible, publique, non équivoque, et à titre de propriétaire. „Um ersitzen zu können, bedarf es eines fortwährenden und ununterbrochenen, unbestrittenen, öffentlichen, unzweideutigen Besitzes auf Grund eines Eigentumstitels." Schon die ersten Wörter des Artikels bestätigen die früher gemachte Feststellung, daß es dem Gesetzgeber um die Regelung des Ersitzungsbesitzes, nicht des Besitzes schlechthin, geht. Man muß sich aber auch im klaren darüber sein, daß die meisten Vorschriften des Code civil über den Besitz trotz ihrer allgemeinen Fassung nur für Liegenschaften praktische Bedeutung haben16, hier dann aber auch für Fragen des Servituten- und Nachbarrechts; denn im Mobiliarsachenrecht fallen nach der bekannten Regel des Art. 2279 Abs. I17 Besitz und Eigentum meist zusammen, und im übrigen kennt Frankreich einen besonderen gerichtlichen Schutz des Besitzes gegen Entziehung oder Störung18 auch nur für Liegenschaften und gewisse Rechte an Liegenschaften, nicht dagegen für Fahrnis19. Um zur Ersitzung zu führen, muß der Besitz also bestimmte Eigenschaften aufweisen und frei von bestimmten Mängeln sein. Während im deutschen Rechtskreis meist nur zwei dieser Eigenschaften vom Gesetz 20 , die anderen allenfalls von Literatur und Rechtsprechung
" So schon Bruns (zit. oben Fn. 4) S. 449 ff; vgl. auch Fend. (zit. oben Fn. 4) Bd. II, 3 A 93 ff; Colin/Capitant/Julliot de la Morandière, Traité de droit civil II (1959) no. 398 ff, 470. 17 En fait de meubles, la possession vaut titre. 18 Durch die drei alten Klagen der complainte, der dénonciation de nouvel oeuvre und der réintégrande, die bis vor kurzem in den Art. 23 ff des Code de procédure civile von 1806 näher geregelt waren, seit 1982 jedoch in den Art. 1264 ff der neuen, grundsätzlich 1975 eingeführten Zivilprozeßordnung normiert sind, vgl. Ripert/Boulanger, Traité de droit civil d'après le traité de Planiol II (1957) no. 2351 ff, bes. 2356 ff\Jean Vincent/Serge Guinebard, Procédure civile (20 e éd. 1981) no. 54 ff, 69 ff. " Vgl. Alex Weill, Les biens ( = Précis Dalloz, Droit civil, t. II 1, 2= éd. 1974) no. 406 ff, und die oben Fn. 16 und 18 zitierte Literatur. 20 Von ununterbrochenem und unangefochtenem Besitz als Voraussetzung der Ersitzung sprechen die Art. 661, 662 und 728 Z G B ; ebenso im Ergebnis die §§940, 941, 900 und 927 BGB.
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genannt und die Mängel im Zusammenhang mit der verbotenen Eigenmacht erwähnt werden21, regelt der Code civil sie als positive und negative Voraussetzungen der Ersitzung in seinem Text. Es sind sechs Eigenschaften, die Art. 2229 aufzählt: Der Besitz muß nämlich 1. fortgesetzt (kontinuierlich, dauerhaft), 2. nicht unterbrochen, 3. friedlich, 4. öffentlich, 5. unzweideutig und 6. Eigenbesitz sein. Dabei könnte man meinen, bei den beiden ersten Eigenschaften („continue et non interrompue") liege in der Diktion des Gesetzes ein Pleonasmus vor, d.h. es werde mit zwei verschiedenen Wörtern ein einziger Sachverhalt bezeichnet. Nach der wohl zutreffenden Auffassung der herrschenden Lehre22 ist das aber nicht der Fall, und jedenfalls decken sich die beiden Ausdrücke nicht vollständig. Wenn z . B . eine schwere Erkrankung einen Landwirt daran hindert, in einem bestimmten Jahr den früher und später stets gut gepflegten Weinberg zu bebauen, stört dies die Kontinuität des Besitzes, ohne daß eine possessio interrupta vorliegt; die Unterbrechung des Besitzes dagegen verlangt als Interruptio naturalis den Verlust der tatsächlichen Herrschaft über die Sache für die Dauer von mindestens einem Jahr (Art. 2242 und 2243) oder als interruptio civilis ein gerichtliches Vorgehen des Eigentümers gegen den Besitzer (Art. 2244). Das anschauliche Wort von Marcadé „La discontinuité est une maladie de la possession, l'interruption en est la mort" 23 umschreibt treffend den Unterschied der Intensität der beiden vitia possessionis. Die dritte Eigenschaft, die Art. 2229 - und übrigens auch der 1975 neu in den Code civil eingefügte Art. 228324 - vom Besitz verlangen, ist die Friedlichkeit; nur ein ruhiger, ohne Anwendung von Gewalt erworbe-
21 Otto Gierke, Deutsches Privatrecht II (1905) S. 223 f; Wolff/Raiser, Sachenrecht § 71 ; Spiro, Begrenzung (zit. oben Fn. 5) II §§ 492 bei Fn. 44 ff und 495; P. Liver in Schweizerisches Privatrecht, Bd. V 1 (1977) § 64 VI; B G E 97 II 25 ff, bes. 33 ff. Vgl. auch Windscheid/ Kipp, Lehrbuch des Pandektenrechts I (9. Aufl. 1906, Neudruck 1963) §§180 und 182 Ziff. 3. 22 Nachweise bei Wiget (zit. oben Fn. 1) S.44 Fn. 10; vgl. auch Zachariä/Crome, Handbuch (zit. oben Fn. 5) Bd. I, §§ 142, bes. bei Fn. 1 und 4, und 196 Fn. 14 a. 23 Marcadé, Traité de la prescription 91, zitiert nach Zachariä/Crome I § 196 Fn. 14 a. Crome bemerkt hier zutreffend, daß, wenn ein Landwirt im Winter seinen Weinberg nie betritt, keine discontinuité des Besitzes vorliegt. 24 Art. 2283 bestimmt: „Les actions possessoires sont ouvertes dans les conditions prévues par le Code de procédure civile à ceux qui possèdent ou détiennent paisiblement."
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ner Besitz kann zur Ersitzung und zum gerichtlichen Schutz führen. Das wird in Art. 2233 noch näher präzisiert: Art. 2233. Les actes de violence ne peuvent fonder non plus une possession capable d'opérer la prescription. La possession utile ne commence que lorsque la violence a cessé. „Auch gewaltsame Handlungen können keinen zur Ersitzung tauglichen Besitz begründen. Der hierzu taugliche Besitz beginnt erst, wenn die Gewalt aufgehört hat." Dabei zeigt sich ein nicht leicht verständlicher Unterschied zum römischen und deutschen Recht: Gewalttätige Handlungen bilden nach Art. 2233 Abs. 2 einen vorübergehenden, heilbaren Mangel des Besitzes. Auch für denjenigen, der den bisherigen Besitzer mit Gewalt aus einer Liegenschaft vertrieben hat, beginnt also mit dem Tag, an dem die gewaltsamen Handlungen aufgehört haben, die Ersitzung zu laufen; es ist nun eben Sache des Vertriebenen oder des Eigentümers, mit gerichtlicher Hilfe - etwa mit dem Mittel der réintégrande - rasch dafür zu sorgen, daß der gewalttätige Gegner nicht rechtlich geschützten Besitz (Annalbesitz nach Art. 2243) erwirbt und daß die Ersitzung sich nicht vollenden kann 25 . Das römische Prinzip, daß der Mangel des gewaltsamen Erwerbs erst mit der Rückkehr der Sache in den Besitz des Berechtigten geheilt wird 26 , ist also vom Code civil nicht übernommen worden, obwohl noch Pothier die römische Auffassung vertreten hatte27. Noch in einer anderen Hinsicht zeigte sich lange Zeit eine gewisse Abweichung vom römischen Recht. Dieses nahm ein vi possidere nur an, wenn der neue Besitzer beim Erwerb des Besitzes Gewalt verübt hatte28. Demgegenüber berief sich eine in der Rechtsprechung und Doktrin des 19.Jahrhunderts verbreitete Auffassung darauf, das Wort „paisible" in Art. 2229 beschreibe einen Zustand und erfasse daher nicht nur die „violence initiale" ; auch wer während der Dauer seines Besitzes Gewalt verübt, hat demnach eine possessio vitiosa, sofern es sich nicht nur um vereinzelte, namentlich zur Abwehr von Angriffen Dritter bestimmte
25 So ausdrücklich Maurice Picard in Planiol/Ripert, Traité pratique de droit civil français III (2' éd. 1952) no. 155; Colin/Capitant/Julliot de la Morandière, Traité (zit. oben Fn. 16) II no. 397; Zachariä/Crome, Handbuch I § 196 bei Fn. 18. 26 Windscheid/Kipp, Pand. I §182 Fn. 10 (m.w.N.); vgl. auch Max Käser, Das römische Privatrecht I (2. Aufl. 1971) §§34 Fn.32 und 101 Fn. lOf. Der Satz geht auf die lex Atinia zurück, D. 41, 3, 4, 6. 27 Traité de la possession, no. 33 (= Œuvres X S. 282). 28 Labeo in D. 43, 16, 1, 28 in fine; Pothier, Traité de la possession, no. 26 (= Œuvres X S.279); Windscheid/Kipp, Pand. I §182 bei Fn.7; Käser, RPR I §96 IV.
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Akte der Gewaltanwendung handelt29. Erst in neuerer Zeit hat die Praxis diesen Standpunkt aufgegeben30, so daß nach heutigem Recht der friedliche Besitz einfach der nicht gewaltsam erworbene ist. Weiter muß der zur Ersitzung taugliche Besitz öffentlich oder offenkundig sein. Im Anschluß an das „nec vi nec clam nec precario" des interdiction uti possidetis ist damit heimlicher Besitz, wie etwa der vom Dieb erworbene, mangelhaft, ist also clandestinité ein - nach heutigem Recht allerdings heilbares - vice de la possession31. Bei Liegenschaften kommt indessen dieser Fall nicht häufig vor. Praktische Bedeutung hat das Wort „publique" in Art. 2229 etwa in dem schon von Pothier erwähnten und 1955 wieder vom Kassationsgericht entschiedenen Fall, daß A durch heimliche Grabungen den Keller seines Hauses seitwärts unter das Haus des Nachbarn B erweitert. Wenn B später von der Veränderung im Erdboden seiner Liegenschaft Kenntnis erhält, können sich weder A noch ein gutgläubiger Erwerber seines Hauses auf Ersitzung berufen, denn ihr Besitz an dem zusätzlich geschaffenen Kellerraum war nicht offenkundig 32 . Im Unterschied zu dem, was wir beim Mangel der Gewaltsamkeit festgestellt haben, kommt es im übrigen bei der Heimlichkeit nicht unbedingt auf den Zeitpunkt des Erwerbs an. Wer eine Sache öffentlich erwirbt, aber später - vielleicht um sie einem möglichen Prätendenten gegenüber zu verheimlichen - verbirgt, ist nach der heute herrschenden, von den Entscheidungen der Digesten abweichenden Auffassung jetzt eben heimlicher und damit fehlerhafter Besitzer33. Wenn schließlich Art. 2229 vom Ersitzungsbesitz verlangt, daß er nicht zweideutig („non équivoque") sei, so handelt es sich wohl auch da um ein der gemeinrechtlichen Tradition entnommenes Erfordernis 34 . Als zweideutig (ambigu oder équivoque) betrachten die französischen Juristen den Besitz namentlich dann, wenn sich die auf die Sache bezüglichen Handlungen des Besitzers auf zwei verschiedene Arten deuten
29 F. Laurent, Cours élémentaire de droit civil français IV (1878) no. 665. An der oben Fn. 25 zitierten Stelle kritisiert M. Picard diese Auffassung. 30 Vgl. Wiget S. 57, m. w. N. in Fn. 10. Was das Kassationsgericht seit 1968 für richtig hält, haben Zachariä/Crome - wie viele andere Autoren - schon im späten 19. Jahrhundert vertreten, vgl. Handbuch Bd. I, § 196 Fn. 17 und 19 (mit Hinweis auf R G Z 20, 342). 31 Wiget S. 49 ff; Picard in Planiol/Ripert, Traité pratique III no. 156. 32 Pothier, Traité de la prescription, no. 37 ( = Œuvres X S. 366 f); Wiget S. 50 ff (m.w. N.). 53 Wiget S. 52, m. w. N . in Fn. 27 ff. 34 Windscheid/Kipp, Pand. I § 152 Fn. 12; O. Gierke, Deutsches Privatrecht II S. 221 ff; für das schweizerische Recht nimmt Liver (zit. oben Fn.21) §64 Fn.21 diese Voraussetzung als noch geltend an.
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lassen35. Wenn z.B. der Miteigentümer A einer Liegenschaft das Dach des Hauses neu decken läßt, so können Dritte daraus den Schluß ziehen, A habe mit Zustimmung seiner Genossen eine für die Erhaltung der gemeinsamen Sache notwendige Maßnahme vorgenommen, also sein Miteigentum und seinen Mitbesitz ausgeübt. Vielleicht stellt sich A aber später auf den Standpunkt, gerade in dieser, von den anderen Miteigentümern (franz. communistes oder coindivisaires) nicht gebilligten Handlung liege ein Beweis dafür, daß er in der fraglichen Zeit allein Besitzer der Liegenschaft gewesen sei. Auch wenn das im Einzelfall zutreffen mag, versagt doch das Gesetz diesem zweiten Standpunkt den Schutz, indem eben ein Besitz, der sich nur in zweideutigen Besitzhandlungen manifestierte, nicht zur Ersitzung führt. Im Fahrnisrecht ist es namentlich das Zusammenleben im gemeinsamen Haushalt, das oft zweideutige Besitzverhältnisse schafft; so kann sich die Haushälterin oder die Konkubine in der Regel nicht auf den alleinigen Besitz eines Bildes, Teppichs oder Möbelstücks berufen, das dem verstorbenen Dienstherrn oder Lebenspartner gehörte und das in dessen Wohnung beiden Bewohnern diente36. IV. Der Art. 2229 C. c., dem wir bisher gefolgt sind, nennt als letzte Voraussetzung für die Ersitzung „une possession . . . à titre de propriétaire", also Besitz auf Grund eines Eigentumstitels oder kurz Eigenbesitz. Das ist indessen keine Besonderheit des französischen Rechts; auch das römische, das deutsche und das schweizerische Recht lassen ja - man möchte fast sagen nach der Natur der Dinge - nur den Eigenbesitz zur Ersitzung führen37. Auch die sich anschließende Vorschrift des Art. 2230, nach der im Streitfall der Eigenbesitz vermutet wird und der Gegner beweisen muß, „qu'on a commencé à posséder pour un autre"38, fällt deshalb in unserem Zusammenhang nicht besonders auf; sie gehört wie Art. 2231 zum weiteren Kreis der mit dem Besitz verbundenen Vermutungen, von welchen die berühmteste - die in Art. 2279 Abs. 1
35 Ripert/Boulanger, Traité de droit civil (zit. oben Fn. 18) II (1957) no.2305; Wiget S. 58 ff. 36 Wiget S. 64 ff, bes. S. 67 bei Fn. 107. 37 Wolff/Raiser, Sachenrecht § 71 I 1 ; Spiro, Begrenzung II § 496 bei Fn. 3 ff; Liver (zit. oben Fn. 21) § 6 4 VI 1. 38 Art. 2230 bestimmt: „On est toujours présumé posséder pour soi, et à titre de propriétaire, s'il n'est prouvé qu'on a commencé à posséder pour un autre." Der sogleich zu nennende Art. 2231 fügt dem bei: „Quand on a commencé à posséder pour autrui, on est toujours présumé posséder au même titre, s'il n'y a preuve du contraire."
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C . c. ausgesprochene Annahme, der Besitzer einer beweglichen Sache sei ihr Eigentümer - in bezug auf ihre Herkunft ja gründlich untersucht worden ist". Mit dem in Art. 2229 genannten Erfordernis des Eigenbesitzes steht jedoch ein besonders auffallender Zug des französischen Rechts in engem Zusammenhang: Es kennt den abgestuften Besitz, der als selbständiger und unselbständiger 40 oder mittelbarer und unmittelbarer 41 Besitz Eingang in unsere neueren Kodifikationen gefunden hat42, nicht; im Code civil gilt gleichsam noch das Wort von Paulus „Plures eandem rem in solidum possidere non possunt" 43 , so daß z. B. derjenige, der sein Haus vermietet hat, allein Besitzer, der Mieter dagegen - wie im römischen Recht - bloßer detentor ist. Weil der primäre Gesichtspunkt, unter dem das französische Gesetzbuch die Fragen des Besitzes betrachtet, eben nicht der des vorläufigen Schutzes einer tatsächlichen Sachherrschaft, sondern derjenige des Rechtserwerbs durch Zeitablauf (prescription) ist, ergibt sich die Qualifikation des Eigenbesitzes als der einzigen wirklichen possession auf ganz natürliche Weise. „Ceux qui possèdent pour autrui ne prescrivent jamais par quelque laps de temps que ce soit", bestimmt Art. 2236 Abs. 1, und der zweite Absatz desselben Artikels sagt noch deutlicher: „Ainsi, le fermier, le dépositaire, l'usufruitier, et tous autres qui détiennent précairement la chose du propriétaire, ne peuvent la prescrire 44 ." Trotz dieser eindeutigen Grundhaltung zur Frage des abgestuften Besitzes sind die einschlägigen Vorschriften des Code civil jedoch keineswegs eine bloße Kopie des justinianischen Rechts. Es handelt sich vielmehr um eine selbständige, wohl weitgehend durch PothierAS vermittelte Weiterentwicklung des römischen Besitzrechts. Zunächst fehlt im französischen Recht jede Spur jenes numerus clausus der mit Interdikten geschützten Fremdbesitzer (Faustpfandgläubiger, Prekarist, Sequester,
3' Hans Kiefner, Qui possidet dominus esse praesumitur, SavZ/Rom. 79 (1962) S. 239 ff, bes. 281 ff, 301 ff. - Der Text von Art. 2279 Abs. 1 ist oben Fn. 17 abgedruckt. 40 So die Terminologie des ZGB, vgl. Art. 920. 41 So die Terminologie des BGB, vgl. §§868 und 871. 42 Zur Vorgeschichte vgl. Wolff/Raiser, Sachenrecht § 4 , vor und in F n . 3 . 43 D. 41, 2, 3, 5; dazu noch immer lesenswert die Erklärung von Savigny, Das Recht des Besitzes (7. Aufl. Wien 1865) S. 175 ff. 44 Karl Heinsheimer (zit. oben Fn. 4) übersetzt den Art. 2236 wie folgt: „Wer für einen anderen besitzt, erwirbt niemals durch Ersitzung, wie lange er auch besitzen mag. So können der Pächter, der Verwahrer, der Nießbraucher und wer sonst eine Sache des Eigentümers auf Widerruf innehat, diese nicht durch Ersitzung erwerben." Auf die Ausnahmen von dieser Vorschrift, die sich aus Art. 2238 ergeben, kann hier nicht eingegangen werden, vgl. Ripert/Boulanger, Traité de droit civil II (1957) no. 2327 f. 45 Pothier, Traité de la possession, no. 6 ff, 15 f ( = Œuvres X S. 271 ff, 275 ff).
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Erbpächter, evtl. Erbbauberechtigter)46, der das römische Recht seit der klassischen Zeit kennzeichnet. Der französische Jurist unterscheidet die Tatbestände der détention (oder der possession précaire oder précarité, wie man im Anschluß an den Wortlaut von Art. 2236 Abs. 2 zu sagen pflegt) zur Hauptsache danach, ob der Detentor die fremde Sache vom Berechtigten zu einem beschränkten dinglichen oder zu einem persönlichen (obligatorischen) Recht erhielt47. Im ersten Fall, d. h. als Nießbraucher, Erbpächter, Pfandgläubiger usw., ist der Detentor ein echter Besitzer, da er in dem Umfang, in dem er mit der Beherrschung der Sache sein dingliches Recht ausübt, als Besitzer dieses Rechts (iuris quasi possessor) betrachtet wird und deshalb Dritten gegenüber die actions possessoires, die das Gesetz dem Liegenschaftsbesitzer zur Verfügung stellt, geltend machen kann. Nur im zweiten Fall, also bei dem auf obligatorische Ansprüche beschränkten Mieter, Pächter, Verwahrer, Entleiher usw., konnte man bis vor kurzem im traditionellen Sinne vom schutzlosen Detentor sprechen, um so mehr als dessen Rückgabepflicht sich in alle Zukunft auch auf die Universalsukzessoren vererbt48; durch die vorn erwähnte Novelle des Jahres 19754' hat sich jedoch die Rechtslage verändert, indem der neue Art. 2282 Abs. 2, Anregungen der Rechtsprechung folgend, den gerichtlichen Schutz des Besitzes auch dem nur obligatorisch berechtigten Detentor gewährt50. Bei dieser Ausdehnung des Besitzesschutzes auf den Kreis der Detentoren handelt es sich um eine Änderung des Code civil, deren Tragweite nicht überschätzt werden sollte. Gewiß, jedenfalls für das Grundstücksrecht hat der französische Gesetzgeber 1975 die Fesseln des römischen Rechts in einem zentralen Punkt gelöst und damit anscheinend der jahrhundertelangen Tradition der Minderwertigkeit der possessio naturalis, des in possessione esse oder detinere, samt all den mit dem älteren Rechtszustand verbundenen, oft schwer überblickbaren Distinktionen51, 46 Käser, Das römische Privatrecht I (2. Aufl. 1971) § 9 4 III 2\ JörsfKunkel, Römisches Privatrecht (3. Aufl. 1949, Neudruck 1978) § 6 4 Ziff.2. 47 Ripert/Boulanger, Traité II no. 2322 ff. 48 Vgl. Art. 2237 C. c. und dazu Ripert/Boulanger, Traité no. 2326; vgl. im übrigen auch den oben F n . 3 8 abgedruckten Art. 2231. 49 Vgl. oben Fn. 6. 50 Art. 2282 in der Fassung des Gesetzes no. 75-596 vom 9.Juli 1975 bestimmt: „La possession est protégée, sans avoir égard au fond du droit, contre le trouble qui l'affecte ou la menace. La protection possessoire est pareillement accordée au détenteur contre tout autre que celui de qui il tient ses droits." Nach Abs. 2 erhält der Detentor also den Besitzesschutz nur gegenüber Dritten, nicht gegenüber dem Vermieter, Verpächter oder sonstigem Oberbesitzer, von dem er seine Rechte ableitet. Vgl. für alle Einzelheiten Wiget S. 90 ff, 97 ff. 51 Pothier, Traité de la possession, no. 6 ff ( = Œuvres X S. 271 ff).
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den Rücken gekehrt. Und hinsichtlich der Spaltung oder Abstufung des Besitzes an Liegenschaften besteht in Frankreich seit 1975 fast derselbe Rechtszustand wie seit 1900 in Deutschland und seit 1912 in der Schweiz. Die Einfügung der neuen Artikel 2282 und 2283 in den Code civil war jedoch nicht von einer Änderung der übrigen Vorschriften über den>Besitz begleitet, so daß z . B . der Mieter oder der Pächter einer Liegenschaft in der Gesetzessprache nach wie vor zu denjenigen gehören, „qui détiennent précairement la chose du propriétaire" (Art. 2236 Abs. 2)52. Vor allem aber ist die Überzeugung der französischen Juristen, ihr Gesetzbuch habe mit seiner Unterscheidung zwischen possession und détention die sich stellenden Sachfragen richtig gelöst, so tief verwurzelt, daß man die Novelle von 1975 nur als einen Schritt des französischen Rechts in der vom deutschen Rechtskreis gewiesenen Richtung betrachten kann 53 . In der uns als veraltet erscheinenden Terminologie des Code civil werden daher der fermier, locataire, usufruitier usw. wohl noch sehr lange das Dienerkleid des détenteur tragen und so an ihre Herkunft aus dem Kreis von Nichtbesitzern oder Halbbesitzern erinnern. V. Betrachten wir zum Schluß noch eine der merkwürdigsten Vorschriften dieses zweiten Kapitels des 20.Titels des Code civil: Art. 2232. Les actes de pure faculté et ceux de simple tolérance ne peuvent fonder ni possession ni prescription. „Handlungen, zu denen man bloß fähig ist oder die einfach geduldet werden, können weder Besitz noch Ersitzung begründen." Was will der Gesetzgeber damit sagen? Zunächst ist festzuhalten, daß Art. 2232 im System des Code civil kaum am richtigen Ort steht. Denn das, was er bestimmt, hat weder für den Besitz beweglicher oder unbeweglicher Sachen noch für die Ersitzung des Eigentums an ihnen praktische Bedeutung; das Anwendungsgebiet der Vorschrift ist vielmehr der Rechtsbesitz, insbesondere die langjährige Ausübung 52 Die Ausdrucksweise des Gesetzes („précairement") beruht auf einem im 16. Jahrhundert entstandenen, heute längst erkannten Irrtum über die wirkliche Rechtsnatur des römischen precarium. Was Art. 2236 Abs. 2 sagt, steht übrigens in auffallendem Gegensatz zur Umschreibung desselben Personenkreises in Absatz 1 des gleichen Artikels: „Ceux qui possèdent pour a u t r u i . . . " . Eine dritte Umschreibung findet sich in Art. 2228 in der Wendung „que nous tenons . . . par nous-mêmes ou par un autre qui la tient . . . en notre nom." Vgl. dazu C. G. Bruns, Das Recht des Besitzes (zit. oben Fn. 4) S. 444 f. 53 Vgl. etwa Alex Weill, Les biens (zit. oben Fn. 19) no. 368 ff, 375 ff; Gérard Cornu, Droit civil: Introduction, les personnes, les biens (1980) no. 1189 ff. Kein französischer Autor faßt die vollständige Aufgabe des Begriffs der détention de lege ferenda ins Auge; daß das schweizerische ZGB diesen Schritt getan hatte, war selbst für den Straßburger Rechtslehrer Alex Weill eine der „solutions extrêmes", a. a. O. no. 371.
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bestimmter Servituten, die unter gewissen Voraussetzungen zur Ersitzung des bisher fehlenden Servitutenrechts führen kann54. Dabei spielt es für unseren Zusammenhang keine Rolle, daß der Code civil im Unterschied zu den Hauptströmungen des gemeinen Rechts und zu früheren Etappen der französischen Rechtsgeschichte die Ersitzung von Grunddienstbarkeiten eng begrenzt, indem die Artikel 688-691 sie nur als dreißigjährige Ersitzung und nur für ständige und offenkundige Servituten (servitudes continues et apparentes) zulassen55. Auch auf diesem begrenzten, im übrigen von der Rechtsprechung längst wesentlich erweiterten 56 Teilgebiet des Servitutenrechts hat die Ersitzung einer Grunddienstbarkeit zwei Voraussetzungen, die allgemein aus Art. 2232 abgeleitet werden: 1. Der Nachbar A - so nennen wir denjenigen, der sich in der Folge auf die Ersitzung der Servitut beruft - muß in bezug auf die Liegenschaft des B etwas gehabt, genossen oder getan haben, was sich nicht einfach aus seinen Rechten als Staatsbürger oder aus der ungestörten Ausübung des Eigentums an seiner Liegenschaft ergibt, sondern als Ausübung eines besonderen Rechts an der Liegenschaft des B, d.h. als Eingriff in das Eigentum des B (empiétement sur le droit d'autrui)", erscheint. Was bei genauer Betrachtung nur Ausübung des Gemeingebrauchs an der angeblich mit der Servitut des A belasteten - Sache des B ist oder Ausübung von Befugnissen, die sich für den Nachbarn A oder für jedermann unmittelbar aus dem Gesetz 58 ergeben, kurz gesagt also 54 A.Weill, Les biens, no. 651 und 447. Viele französische Lehr- und Handbücher besprechen denn auch den Art. 2232 nicht im Zusammenhang mit dem Besitz, sondern beim Erwerb der Grunddienstbarkeiten, so etwa Ripert/Boulanger, Traité de droit civil II (1957) no. 3144 ff, bes. 3153 ff; Picard bei Planiol/Ripert, Traité pratique . . . III no. 961 ff; anders noch die Einordnung bei Zacharia/Crome, Handbuch I §196 bei Fn. 6 f. 55 Durch dreißigjährige unangefochtene Ausübung wird also z.B. ein Trauf- oder Fensterrecht erworben oder das Recht, eine oberirdische Wasser- oder Stromleitung auf dem Nachbargrundstück zu halten, nicht aber ein Höherbauverbot, ein Weg- oder Weiderecht. Vgl. Zachariä/Crome, Handbuch I §§218 und 221; Ripert/Boulanger, Traité de droit civil II (1957) no. 3084 ff, 3144 ff; vgl. auch unten, Text nach Fn.62. 56 Die Rechtsprechung nimmt bei Wegrechten, deren Ersitzung als Servitut durch die Art. 690 und 691 ausgeschlossen ist, schon seit 1814 oft die Ersitzung des Eigentums an dem von A regelmäßig benützten, aber auf dem Grundstück von B liegenden Wegstück an; vgl. Ripert/Boulanger, Traité II no. 3149; Picard, in Planiol/Ripert, Traité pratique . . . III no. 957; G. Cornu, Droit civil (zit. oben Fn. 53) no. 1470. 57 Picard in Planiol/Ripert, Traité pratique III no. 962. 58 Namentlich aus Gesetzesvorschriften, die wie diejenigen des Nachbarrechts das Eigentum des B unmittelbar beschränken, vgl. P. Liver, Die Grunddienstbarkeiten ( = Zürcher Kommentar zum Schweizerischen ZGB, Bd. IV 2 a/1, 2. Aufl. 1980), N. 132 f zu Art. 731 ZGB, und für den weiteren Zusammenhang Livers Beitrag „Gesetzliche Eigentumsbeschränkungen und Dienstbarkeiten..." in „Ius et Lex", Festgabe zum 70. Geburtstag von Max Gutzwiller (Basel 1959) S. 749 ff.
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Handlungen oder „Zustände, in welchen eine Rechtsausübung sich nicht darstellt" 5 ', das sind des actes de pure faculté im Sinne von Art. 2232 oder nach gemeinrechtlicher Ausdrucksweise res merae facultatif. Mögen solche Zustände auch mehr als dreißig Jahre gedauert haben oder entsprechende Handlungen des A in dieser Zeit stets vorgenommen worden sein, so ändert das nichts daran, daß sie nach der ganzen Sachlage nicht als Servitutenbesitz qualifiziert werden können und daher nicht zum Erwerb der von A beanspruchten Servitut durch Ersitzung führen61. Als Beispiel eines acte de pure faculté nennen französische Autoren namentlich folgenden, übrigens beiläufig auch in § 1459 A B G B erwähnten Fall: Auf der Liegenschaft des B entspringt Wasser einer Quelle und fließt dann im natürlichen Gefälle auf das tiefer liegende Land des A, der es hier faßt und für seine Liegenschaft verwendet. Dieses Fassen und Verwenden des Wassers durch A ist ein acte de pure faculté, nicht Ausübung einer Servitut, denn A hat nur das getan, was jeder andere Besitzer seiner Liegenschaft auch hätte tun können; wenn daher B später ein Haus baut oder das Wasser sonst selber nutzt, kann A weder possessorisch noch petitorisch gegen ihn vorgehen62. Nur wenn A das Wasser auf dem Land des B mit dauernden und sichtbaren Einrichtungen gefaßt hätte und diese Einrichtungen dreißig Jahre bestanden hätten, wäre die Liegenschaft des B nach der seit 1898 geltenden Fassung von Art. 642 Abs. 2 mit einer von A durch Ersitzung erworbenen Servitut belastet. - Auch der Umstand, daß ich von meinem Haus aus lange Zeit die freie Aussicht auf das Meer oder die Berge über ein noch nicht 59 Windscheid/Kipp, Pand. I § 1 1 3 Fn. 5 (im Zusammenhang mit der unvordenklichen Verjährung). 60 Windscheid/Kipp a. a. O. (mit weiterer Literatur); F. Regelsberger, Pandekten (1893) S.467; Fr. C. von Savigny, System des heutigen Römischen Rechts IV (1841) S. 515 f, V (1841) S. 267; vgl. auch H. Dernburg, Pandekten I (7. Aufl. 1901) §252 Fn. 6 (dazu kritisch Windscheid I § 163 Fn. 6); Picard in Planiol/Ripert, Traité pratique . . . III no.25 und 962. Weitere Nachweise bei Liver (zit. oben Fn. 58), N. 133 zu Art. 731 Z G B ; Spiro, Die Begrenzung privater Rechte . . . I (1975) § 3 3 5 F n . 2 2 ; Peider Mengiardi, Der Ausschluß der Verjährung im Sachenrecht (Diss. Bern 1953) S. 81 ff (gründliche rechtsvergleichende Untersuchung). Auch das schottische Recht kennt diesen Begriff, vgl. Gloag/Henderson, Introduction to the law of Scotland (6th ed. Edinburgh 1956) S. 150. 61 Aus unserer Umschreibung ergibt sich, daß die Übersetzung der „actes de pure faculté" von Karl Heinsheimer mit „Handlungen, zu denen man bloß fähig ist" wenig glücklich ist; aber auch die Ausdrücke „rechtmäßige Handlungen" (Wiget S. 104), „echte Befugnisse" (Mengiardi S. 81 ff) oder „rein tatsächliche Benutzungsmöglichkeiten" (Ferid, Bd. II, 3 E 15, besser jedoch 3 A 106) vermögen nicht recht zu befriedigen. Am nächsten kommen dem Sinn des schwer zu übersetzenden Ausdrucks wohl Zachariä/Crome, Handbuch I § 196 bei Fn. 6: Handlungen, die einem jeden gestattet sind. 62 Colin/Capitant/Julliot de la Morandière, Traité de droit civil II (1959) no. 407 (auch für das zweite, im folgenden Text genannte Beispiel); Wiget S. 105 Fn.4.
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überbautes Nachbargrundstück genießen konnte, gehört zu den res merae facultatis; wenn der Nachbar nun auch bauen will und ich damit die freie Aussicht verliere, kann ich auch in Frankreich das Bauvorhaben nicht mit der Behauptung verhindern, ich hätte ein Bauverbot zu Lasten der Nachbarparzelle ersessen. 2. Die Zustände oder Handlungen, auf die sich A für den Besitz und damit für den Erwerb seiner Servitut beruft, führen nicht zur Ersitzung, wenn sie nur auf einer prekaristischen Erlaubnis (Gestattung) des B, d. h. des Eigentümers der angeblich mit der Servitut belasteten Liegenschaft, beruhen. Denn in einem solchen Fall würden des actes de simple tolerance vorliegen, also Zustände oder Handlungen, die B aus freundlichem Entgegenkommen oder im Interesse des nachbarlichen Friedens geduldet hat, nicht aber die Ausübung eines bestehenden, auch gegen den Willen des B durchsetzbaren Rechts des A. Die ratio legis dieses zweiten Teils von Art. 2232 besteht einmal darin, daß in der der Erlaubnis des B regelmäßig vorangehenden Bitte des A eine Anerkennung der Rechtslage - die Liegenschaft des B ist nicht mit einer entsprechenden Servitut des A belastet - durch A zu erblicken ist63. Zur Begründung der gesetzlichen Regelung berufen sich die französischen Autoren sodann insbesondere auf die alte Erfahrung, daß das friedliche Zusammenleben der Nachbarn, namentlich auf dem Lande und in bezug auf die Benützung von Wegen, Abstellplätzen usw., die Bereitschaft zu mancherlei gegenseitigen Konzessionen voraussetzt, bei denen die Beteiligten einander auch das gestatten oder gewähren, was sie von Rechts wegen verweigern könnten64; an dieser Hilfsbereitschaft und Großzügigkeit würde es aber wohl bald einmal fehlen, wenn der durch solches Entgegenkommen des Nachbarn Begünstigte sich später mit Erfolg auf die Ersitzung einer Servitut berufen könnte. Es bedarf wohl keiner langen Darlegung, um festzuhalten, daß der Art. 2232 auch mit diesem zweiten Tatbestand der nur geduldeten
63 Mit seiner Bitte an den Nachbarn B anerkennt A, der ils precario rogans oder precario accipiens zu qualifizieren ist, daß B das Recht hat, die erbetene Erlaubnis zu verweigern, oder daß mit anderen Worten A bisher kein Recht zur Vornahme der betreffenden Handlung hat. Daraus erklärt sich dann auch, daß der precario dans B die einmal erteilte Erlaubnis jederzeit widerrufen kann; eine gegenteilige Verabredung der Parteien würde A einen Rechtstitel (titre) geben und zur acquisition par titre der Servitut (vgl. Ripert/ Boulanger, Traité II no. 3138 ff) führen. 64 „Une foule d'actes qui s'accomplissent librement parce qu'ils sont utiles à tous et sans danger pour les propriétaires", Ripert/Boulanger, Traité II (1957) no. 3155. Vgl. auch Alex Weill, Les biens (zit. oben Fn. 19) no. 648; Wiget S. 105f (m. w. N.).
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Handlungen das Erbe des römischen Rechts übernommen hat65, und zwar viel deutlicher, als es bei den actes de pure faculté der Fall ist. Auch nach den Quellen des römischen Rechts erfordert nämlich die Ersitzung der Servituten66 einen Besitz, dessen Ausübung „nicht infolge bloßer Vergünstigung des Eigentümers" 67 , d.h. nicht auf Grund einer nur prekaristischen Erlaubnis, geschehen ist; das heutige schweizerische Recht kennt übrigens den gleichen Grundsatz68. Die bekannteste Aussage der Digesten zu diesem Fragenkreis, ein responsum von Julian in D. 8, 2, 32 pr.69, betrifft zwar die usucapió libertatis, also den Untergang der Servitut durch Verschweigung oder Verwirkung des verletzten Servitutenrechts, aber die gemeinrechtliche Wissenschaft hat auch in diesem Aufhebungsgrund einen Fall der Verjährung (praescriptio) gesehen, für den im Prinzip dieselben Regeln wie für die Ersitzung der Servituten zu gelten haben70. So zeigt sich auch bei diesem letzten Punkt die Bedeutung des Rechtsbesitzes und der prescription für das Verständnis der Regeln des Code civil über den Besitz. VI. Die vorstehenden Bemerkungen wollen das weitgespannte Thema nicht vollständig und lückenlos behandeln. Sie konnten dem Leser aber vielleicht zeigen, welch interessante Fragen die Regelung des Besitzes im
65 Zur Vermittlung durch Pothier, die der näheren Untersuchung bedürfte, vgl. Traité de la possession, no. 90 und 86 ( = Œuvres X S. 311 und 309); Traité de la prescription, no. 164 ( = Œuvres X S. 438). 66 Sie war im Recht des Corpus iuris, nach dem Wegfall der lex Scribonia, voll anerkannt, vgl. G. Wesener, Studi in onore di Giuseppe Grosso I (Turin 1968) S. 201 ff, bes. 220 ff; Käser, Das röm. Privatrecht II (2. Aufl. 1975) §246 bei Fn.34ff. 67 Windscheid/Kipp, Pand. I §213 Fn. 5 unter Hinweis auf D. 8, 5, 10 pr. und 39, 3, 1, 23 (nec vi nec clam nec precario); vgl. auch Dernburg, Pand. I (7. Aufl. 1901) §252 bei Fn. 9; Regelsberger, Pand. S.468 Fn. 14; Gierke, Deutsches Privatrecht II S.644 Fn.23. Das Handbuch von Max Käser erwähnt die Regel nicht. 68 Spiro, Begrenzung II (1975) § 503 bei Fn. 6 und bei Fn. 19 ff; Liver in Schweizerisches Privatrecht, Bd. V I (1977) §§24 Fn. 17 und 64 nach Fn.21; ders., Grunddienstbarkeiten (zit. oben Fn. 58) N. 131 ff zu Art. 731 ZGB. Man darf wohl auch für das deutsche Recht annehmen, daß, soweit das Landesrecht die Ersitzung landesrechtlicher Servituten zuläßt, die Regel anerkannt würde. " Iulianus libro septimo digestorum. Si aedes meae serviant aedibus Lucii Titii et aedibus Pubiii Maevii, ne altius aedificare mihi liceat, et a Titio precario petierim, ut altius tollerem, atque ita per statutum tempus aedificatum habuero, libertatem adversus Publium Maevium usucapiam... Die anschauliche Stelle zeigt eindeutig, daß für ego im Verhältnis zu Lucius Titius die usucapio libertatis nicht eintritt. Vgl. auch Papinian, D. 8, 4, 17. 70 Windscheid/Kipp, Pand. I §216, bes. Fn. 9; anders jedoch für den Fall der gewaltsamen oder heimlichen Herstellung des servitutswidrigen Zustandes Dernburg, Pand. I (7. Aufl. 1901) §254 bei Fn.25f; vgl. auch Jörs/Kunkel, Römisches Privatrecht § 87 Fn.3.
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Code civil aufwirft und wie dieses Gesetzbuch demjenigen, der seine Vorschriften näher prüft, auf Schritt und Tritt Figuren des römischen Rechts in seiner oft von den Regeln der Klassiker abweichenden gemeinrechtlichen Gestalt enthüllt. Auch wenn diese Feststellung für den Kenner des französischen Zivilrechts und seiner Geschichte nicht neu ist, mögen unsere Mitteilungen einem Kollegen und Weggenossen, den Fragen des Sachenrechts in ihrer geschichtlichen und vergleichenden Dimension schon früh gefesselt haben71, als Zeichen dankbarer Anerkennung seines Wirkens an diesem Festtag willkommen sein.
71 Heinz Hübner, Der Rechtsverlust im Mobiliarsachenrecht ( = Erlanger Forschungen, Reihe A, Bd. 4, 1955).
Gesetzesadressat und Begriffsvermögen CLAUSDIETER SCHOTT
1. Der Tyrann und das Gesetz In der „Rechtsphilosophie" kommt Hegel auf die Kenntnis und Kundmachung des Gesetzes zu sprechen. Es heißt dort: „Die Gesetze so hoch aufhängen, wie Dionysius der Tyrann tat, daß sie kein Bürger lesen konnte, - oder aber sie in den weitläufigen Apparat von gelehrten Büchern, Sammlungen von Dezisionen abweichender Urteile und Meinungen, Gewohnheiten u.s.f. und noch dazu in einer fremden Sprache zu vergraben, so daß die Kenntnis des geltenden Rechts nur denen zugänglich ist, die sich gelehrt darauf legen, - ist ein und dasselbe Unrecht 1 ." Der Satz gibt der Vorstellung Ausdruck, daß Gesetze derart beschaffen und so zugänglich sein müssen, daß sie für den Bürger jederzeit im weitesten Sinne des Wortes wahrnehmbar sein sollen. Gemeinverständlichkeit und Erkenntlichkeit als ein Ideal also, gegen das zwar gelegentlich verstoßen werden mag, dessen Gegenteil aber in das Sündenregister der Tyrannei gehört. Für das Kontrastbild bedient sich Hegel der klassischen Tyrannenfigur des Dionysius von Syrakus, dem er solche Hinterhältigkeit bereits in der rechtsphilosophischen Vorlesung zugeschrieben hatte: „Die Gesetze müssen nun ferner bekannt gemacht werden. Erzählung von Dionysius, dem Tyrannen, der nach Gesetzen strafen ließ, die auf Tafeln geschrieben waren, die so hoch hingen, daß sie niemand lesen konnte. Wenn ein Gesetzbuch in einer fremden Sprache geschrieben ist oder wenn eine Menge von Glossatoren und Rechtsgelehrten nachgeschlagen werden müssen, so ist dies derselbe Fall wie beim Dionysius2." Nun läßt sich allerdings ein Beleg für diesen Willkürakt des Dionysius nirgends namhaft machen, weshalb der Herausgeber der Vorlesungsnachschrift sich zu der Anmerkung genötigt sah: „Quelle nicht nachgewiesen3." Tatsächlich ist Hegel hier ein Mißverständnis unterlaufen, bei dem man sich nur wundert, daß er auf diesen Fehler niemals hingewiesen worden ist.
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Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, 1821, 215. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Philosophie des Rechts. Die Vorlesung von 1819/20 in einer Nachschrift, hrsg. von Dieter Henrich, 1982, S. 171. J Ebd. S.322. 2
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Besser wußte es Jeremy Bentham, als er die Forderung nach Vollständigkeit einer Gesetzgebung erhob. Jeder Mangel in dieser Hinsicht sei eine Falle für den Bürger, auf seiten des Staates aber das größte Verbrechen, mindestens aber ein Zeichen der Unfähigkeit des Gesetzgebers. Dann folgt das Beispiel: „Caligula suspendit bien haut les tables de ses lois pour en rendre la connaissance difficile; combien d'états où les choses vont plus mal encore! Les lois ne sont pas même sur des tables, elles ne sont pas même écrites. On fait par indolence ce que l'empereur romain faisait par tyrannie 4 ." Es war also nicht Dionysius, sondern Caligula, der andere TyrannisRepräsentant der Antike. Die Erzählung von den zu hoch gehängten Gesetzen gehört zum Exempla-Bestand der einschlägigen Literatur und findet sich etwa auch bei Pufendorf: „A l'égard du sens de la loi, ceux qui la publient doivent la proposer avec toute la clarté possible, et ne pas imiter cet empereur inhumain, qui après avoir fait écrire ses lois en caractères fort menus, les exposait sur quelque lieu élevé 5 ." Erklärend wird dazu vermerkt: „Caligula apud Dion. Cassium in Excerptis Peirescianis lib. LIX 6 ." Somit wäre die Quelle für die Erzählung gefunden, gleichzeitig aber auch die Quelle für Hegels Mißgriff. Dieser hatte offensichtlich den Schriftsteller Cassius Dio, auch Dion Cassius genannt, mit dem Tyrannen Dionysius verwechselt oder bereits in dieser entstellten Form übernommen. Hegels Versehen mag damit auf sich beruhen, das Anliegen selbst hat nichts von seiner Aktualität verloren. „Herunterhängen!" lautet nach wie vor, wenn nicht gar wieder vernehmlicher, die Forderung an den Gesetzgeber, wobei mit dem „zu hoch" einmal die der Gemeinverständlichkeit abholde sprachlich-spezifische Gesetzestechnik, ein andermal die für das Individuum kaum mehr verkraftbare Gesetzesflut verstanden werden 7 . Mag die Forderung selbst einleuchtend klingen, so stellen sich doch bei deren Verwirklichung eine Reihe von Fragen ein, die letztlich für eine Gesellschaft und Rechtsgemeinschaft nicht ohne Belang sind. 4 Jérémie Bentham, Traités de Législation civile et pénale, ed. Et. Dumont, III., 2. Aufl., Paris 1820, S.383. 5 Samuel Pufendorf, De Jure Naturae et Gentium libri octo, erstmals 1672,1,6,13. Zitat nach der von Jean Barbeyrac besorgten französischen Ausgabe: Le Droit de la Nature et des Gens, 6. Aufl., Basel 1750. ' Im französischen Text am Rande. Der lateinische Text lautet: „Ut autem sententia legis recte percipiatur, promulgantibus incumbit, quanta fieri potest perspicuitate uti. Secus ac Caligula minutis literis ex edito loco leges conscriptas proponebat. Dio Cassius L. LIX in excerptis Peirescianis." 7 Vgl. Arthur Meier-Hayoz, Der Kampf mit dem Recht, in: Ordo et Libertas, Festschrift für Gerhard Winterberger, 1982, S. 75 ff mit weiteren Hinweisen.
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Zunächst wäre zu fragen - um in Hegels Bild zu bleiben —, wie tief sollen die Gesetze gehängt werden? Die Sichthöhe der Gesetzesleser ist verschieden, da die Menschen von Natur aus nicht gleich groß sind. Ist es den einen zuzumuten, sich zu bücken, den anderen sich zu strecken? Das Vergleichsbild darf auch nicht vorschnell abgetan werden. Die Gesetzgebung ist keine Bildergalerie, die bei entsprechender Anordnung jedem etwas zum Schauen bietet. Gesetze sind Geschriebenes, Kleingedrucktes, Ermüdendes, in Wechselrahmen Aufgehängtes. Ihre Anbringung ist daher nicht ein Bequemlichkeitsservice, sondern ein Benutzererfordernis. Stellt man also die Frage ohne bildliche Verhüllung, so lautet sie: Müssen Gesetze tatsächlich allen Bürgern verständlich sein oder überfordert sich damit nicht etwa das System? Genügt es nicht, wenn eine Minderheit, die „herrschende Klasse", die „staatstragende Schicht" oder die jeweils Betroffenen erreicht werden? Sind die Bürger überhaupt die eigentlichen Adressaten der Gesetze, oder ist es nicht eher der Rechtsapparat? Bevor man sich zu einer Antwort anschickt, sollte man noch bedenken, daß sich die Fragen auch kombinieren lassen. Schließlich wäre zu erwägen, ob überhaupt „das Gesetz" ein taugliches Diskussionsthema ist oder ob Differenzierungen notwendig sind. 2. Gemeinverständlichkeit und Administration Das Diktum Hegels ist in seinem Aussagegehalt keineswegs originell. Der Ausspruch erinnert an Comings Mahnung an den Gesetzgeber: „Igitur primum sermone utique scribendae leges fuerint brevi, piano et patrio. Hic enim demum perspicuus est illis qui legibus vivere obstricti sunt. Si lingua utaris aliena aut solis doctis nota, injurius es in populum8." Trotz der Ähnlichkeit der beiden Formulierungen muß jedoch vor einer inhaltlichen Gleichsetzung gewarnt werden. Zwischen beiden Texten liegen nahezu zwei Jahrhunderte, und das heißt, eine Entwicklung, die erst bei Hegel unser heutiges Verständnis erreicht hat. Die Forderung nach Gemeinverständlichkeit setzt eine bereinigte Vorstellung voraus, die den Staat als Gesetzgeber einerseits, den Bürger als Adressaten andererseits begreift. Der vorkonstitutionelle Staat hatte jedoch einen langen Weg zu durchmessen, bis dieses vereinfachte Steuerungsmodell institutionell erreicht war. Die aristotelische Staatsethik des frühneuzeitlichen Staates mit ihrer unmittelbaren Gemeinwohlverwirklichung ist
8 Hermann Conring, De Origine Juris Germanici, erstmals 1643, Kap. 35. Zitat nach der 5. Aufl. Helmstedt 1720, S.238. Vgl. auch Dietmar Willoweit, Hermann Conring, in: Staatsdenker im 17. und 18.Jahrhundert, hrsg. v. Michael Stolleis, 1977, S. 129ff.
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zunächst politische Theorie oder, wenn man so will, Ideologie9. Das historisch gewachsene und vielfach korporationsmäßig eingebundene Recht ist der Disposition des Landesherrn weitgehend entzogen, nur dessen Reform und Anpassung fallen in seine Zuständigkeit, oder wie Willoweit diesen Sachverhalt beschreibt: „Der Landesherr wirft sich nicht zum Herrn des Privatrechts auf. Er trägt nur für dessen forensische Funktionstüchtigkeit Sorge 10 ." Anders steht es in jenen Bereichen, in denen der Landesherr gebotsweise für „gute Polizei" und Ordnung zu sorgen hat. Hier wird der Untertan als Individuum oder als Gruppe entsprechend dem politischen Ideal direkt angesprochen. Die Polizeiordnungen mit ihrem vereinfachten Adressatenverständnis konnten daher das Vorbild für die künftige Steuerungsmechanik abgeben, eine Entwicklung, wie sie dann mit der Aufklärung erreicht war. Conrings Formulierung liegt mitten in diesem Klärungsprozeß, bei Hegel ist dieser bereits abgeschlossen. Es ist nun festzustellen, daß sich die seit dem 16. Jahrhundert lautwerdenden Klagen über den verwirrten Zustand des Rechts stets auf das Recht selbst d. h. im engeren Sinne beziehen, während die ordnungsstiftende Gesetzgebung gar nicht erst angesprochen wird. Dies scheint damit zusammenzuhängen, daß durch die Spezialisierung und Verwissenschaftlichung traditioneller Rechtsbereiche sowie durch die Latinität des römischen Rechts die „forensische Funktionstüchtigkeit" in Frage gestellt wurde. Hinzu kommt, daß mit der einsetzenden Zusammenfassung der Landesteile die Verschiedenheit der Rechtsordnungen als störend ins Bewußtsein getreten ist. Der Ruf nach Vereinfachung ist daher weitgehend identisch mit der Forderung nach einer Entscheidung von Kontroversen, deren aufgeblähte Subtilisierung darüber hinaus als Ärgernis empfunden wird. Das Ergebnis sind dann die deutschen Stadtund Landrechte, die eine Reform im Sinne einer Klärung der Rechtsadministration zum Ziele haben. Daraus folgt aber weiter, daß die Adressaten dieser Reformgesetzgebung primär nicht die Untertanen, sondern die Rechtsanwender sind und daß auf deren keineswegs immer laienhaften Verständnishorizont abgestellt wird". Wenn in den Präambeln der Stadt- und Landrechte die Fürsorge für alle Bürger und Untertanen, etwa im Württembergischen Landrecht für den „gemeinen, unverständigen Mann", besonders her' Dazu Dietmar Willoweit, Struktur und Funktion intermediärer Régime, in: Der Staat, Beiheft 2: Gesellschaftliche Strukturen als 1978, S. 9 ff. 10 Ebd. S. 18. 11 Näher dazu Bernhard Diestelkamp, Einige Beobachtungen Gesetzes in vorkonstitutioneller Zeit, in: Zeitschrift für Historische S. 385 ff, 409.
Gewalten im Ancien Verfassungsproblem,
zur Geschichte des Forschung 10 (1983)
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vorgekehrt wird, so ist das kein Widerspruch. Es versteht sich von selbst, daß das Recht letztlich bei den Betroffenen seine Wirkung zu entfalten hat und daß auch ein gewisses Verstehen seitens der Rechtsunterworfenen wünschbar ist. Das bedeutet jedoch nicht, daß die Hebelkraft des Antriebs sich übersetzungslos auf das letzte getriebene Rad überträgt. Für den Gesetzgeber ist vielmehr entscheidend, daß der Verwaltungs- und Spruchapparat so organisiert und instruiert ist, daß er die Untertanen nach den Vorstellungen der Zentrale zu administrieren vermag. In diesem Sinne sind die Rechtsunterworfenen dann allerdings die Nutznießer dieser Gesetzgebung. Die Gegenprobe für diesen Befund ist längst durch den Nachweis erbracht, daß nur ein Teil der Gesetze dem allgemeinen Publikum bekannt gemacht wurde, während man bei einer großen Zahl eine verwaltungsinterne Information für ausreichend hielt12. In diesem Zusammenhang ist auch die sogenannte Populärliteratur zu sehen, die zwar nicht ein rechtsgelehrtes, aber auch nicht ein unkundiges Publikum im Auge hat. Allgemein gehaltene Formulierungen dürfen darüber nicht hinwegtäuschen. So heißt es in Sebastian Brants Vorrede zum Klagspiegel: „Teutsch red ich mit latinischer zungen. Darumb hat man der wort wol acht/ Die auss latin seind teutsch gemacht. Die seind (so vil möglich gewesen) Verteutscht das yeder die mag lesen13."
Ist hier zwar „jeder" angesprochen, so ist doch nur ein mit dem Recht befaßter Leserkreis gemeint. Dem unvorbereiteten Laien wären die popularisierenden Rechtshandbücher unverständlich geblieben. Das Problem ist nicht auf das Recht im profanen Sinne beschränkt. Auch dort, wo es um Religionsfragen geht, sind alle Bemühungen zuvorderst darauf gerichtet, die Theologen zu instruieren, während man sich beim Volk mit einer allgemeinen und bußfertigen Gesinnung begnügt. Ein informatives Beispiel ist der Abschnitt „Vom Gesetze" der Brandenburgisch-Nürnbergischen Kirchenordnung von 1533, wo es heißt: „Nach solichem einfeltigen und nützlichen geprauch des gesetzs, wie es die puss anzurichten dienet, wollen wir nun ein wenig weiter von des gesetzs art und natur reden, mer umb deren willen, die in der schrift müssen umbgeen, dann umb des gemainen volks willen. Dann obs wol für den gemainen man genug ist, wann er also durch das gesetz zur puss 12 Vgl. Diestelkamp (Fn. 11) S. 410 ff; Dietmar Willoweit, Gesetzespublikation und verwaltungsinterne Gesetzgebung in Preußen vor der Kodifikation, in: Beiträge zur Rechtsgeschichte, Gedächtnisschrift für Hermann Conrad, 1979, S. 603 ff. 13 Sebastian Brant, Der richterliche Clagspiegel, Straßburg 1538, Proömium.
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gelaitet wird, so müssen doch die diener des worts ein merern und höhern verstand haben, auf das sie ordenlich und verstendiglich mügen leren und den betrübten, verwirten gewissen dester statlicher raten14." 3. Gesetzgebung und Untertanenvernunft Im 18. Jahrhundert ist das Verständnis von Landesherr und Untertan weitgehend im Sinne der aristotelischen Staatstheorie bereinigt. Die intermediären Gewalten sind fast überall ausgeschaltet, und der Landesherr erreicht die Untertanen regelmäßig auf dem direkten Gesetzesweg. Wenn schließlich das Preußische Allgemeine Landrecht und das Osterreichische Allgemeine Bürgerliche Gesetzbuch in ihren ersten Bestimmungen die Rechte und Verbindlichkeiten bzw. Pflichten der „Einwohner des Staates" als Gegenstand der Kodifikation bezeichnen, so ist damit auch gemeint, daß die Einwohner unmittelbare Adressaten des Gesetzes sein sollen. Entsprechend sind hier auch die Publikationsvorschriften herausgestellt15. Ganz selbstverständlich ist dieser Grundsatz freilich auch jetzt noch nicht. So wollte der Entwurf zum französischen Code civil zunächst noch einen anderen Weg gehen, wenn dort bestimmt wurde: „Les lois sont adressées aux autorités chargées de les exécuter où de les appliquer16." Das absolutistische Lenkungsprogramm besteht also darin, die Untertanen und Einwohner unvermittelt in Pflicht zu nehmen und mit der Gesetzgebung anzusprechen. Dabei kommt ihm die naturrechtliche Erkenntnis- und Vergewisserungsdoktrin in hohem Maße zustatten. Nach Pufendorf gibt es nämlich niemanden, sei er auch noch so töricht, wenn er nur das urteilsfähige Alter erreicht und einen gesunden Menschenverstand hat, der nicht in der Lage ist, die allgemeinen Grundsätze des Naturrechts und der Sitten nach ihrem gewöhnlichen Lebenshergang zu erkennen und darüber hinaus die Beziehung wahrzunehmen, die besteht zwischen ihnen und der vernünftigen und geselligen Natur, wie sie die menschliche Natur eben ist17. Pufendorf räumt zwar ein, daß manche Leute infolge großer Beschränktheit oder unentschuldbarer Nachlässigkeit niemals über irgendeinen dieser Grundsätze nachgedacht hätten, und daß andere sich durch übereilte und leichtfertige Entscheidungen in Verirrungen stürzen würden. Auch schlechte Erziehung, lasterhafte Gewohnheiten und ungezügelte Leidenschaften würden bis-
14 Die evangelischen Kirchenordnungen, hrsg. v. Emil Sehling XI,1, 1961, S. 147; der vorangehende Abschnitt ist „Von der puss" überschrieben. 15 ALR Einleitung 1, §§ 10ff; ABGB §§2 und 3. " Projet de la Commission du Gouvernement: Tit. III, art. 1, P.A. Fenet, Recueil complet des Travaux Préparatoires II, Paris 1827, S. 5. 17 Pufendorf, De Jure Naturae (wie Fn.5) 1,3,3.
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weilen das Licht des Geistes so nieder halten, daß sogar die Notwendigkeit der offenkundigsten Pflichten in Zweifel gezogen würden und dabei Prinzipien herauskämen, die dem Naturrecht geradezu zuwider seien. Letztlich hält Pufendorf jedoch weder Ignoranz noch Irrtum für so unüberwindlich und tiefgehend, daß die richtige Erkenntnis und das zutreffende Urteil ausgeschlossen seien. „En effet, les règles du droit naturel sont si évidentes, elles sont, pour ainsi dire, si profondement gravées dans la nature même de l'homme, qu'elles sautent aux yeux des plus ignorants. Ainsi il n'y a personne qui puisse être absolument hors d'état de les comprendre et d'en reconnaître la vérité, il ne faut pour cela ni beaucoup de génie, ni beaucoup de pénétration: un peu de bon-sens naturel suffit à quiconque n'est pas entièrement abruti18." Im zusammenfassenden Handbuch „De officio" resümiert Pufendorf diese Feststellungen noch einmal: „Circa facultatem ergo comprehendendi et diiudicandi res, quae intellectus vocabulo venit, id ante omnia pro certo habendum est: cuilibet homini matura aetate et mente intégra tantum superesse naturalis velut luminis, ut adhibita cultura ac débita meditatione, possit recte comprehendere saltem generalia illa praecepta et principia, quae ad vitam hancce honeste et tranquille exigendam faciunt1'." Diese Beschreibung des Menschen als Vernunftwesen hat in der Folge schule gemacht. Sie wird wörtlich und abgewandelt immer wieder aufgenommen und wird neben den Begriffen der „socialitas" und „imbecillitas" zur Formel des vernunftrechtlichen Menschenbildes. So erklärt Martini, „daß die natürlichen Gesetze klar, einleuchtend und sattsam kundgemacht sein, daß sie folglich keinem, dessen Zustand vollkommen ist, ohne sein Verschulden unbekannt sein können"20. Freilich bezieht sich diese Einsichtsfähigkeit zunächst nur auf die Generalia Principia des Naturrechts. Jedoch ist vorläufig noch unentschieden, ob der Gemeinplatz von der Vereinfachung des Rechts nicht gerade eine Formulierung dieser Grundsätze anstrebt. Die gleichzeitig erhobene Forderung nach Kürze dürfte jedenfalls in diese Richtung weisen. Es ist die Vorstellung, die bei Friedrich dem Großen in dem Satz zum Ausdruck kommt: „Peu de lois sages rendent un peuple heureux; beaucoup de lois embarrassent
18 Lateinischer Text: „Ita enim ista sunt exposita, ita penitus naturae insita, ut n u n q u a m eousque obbrutescere possit h o m o , quin ad ista apprehendenda, ac diiudicanda sit adhuc idoneus. Q u i p p e cum ad hoc n o n requiratur eximia quaedam ingenii vis aut peculiaris rationis solertia, sed sufficiat qualecunque nativae rationis lumen; m o d o m o r b o mens non sit oppressa."
" Samuel Pufendorf, D e o f f i c i o hominis et civis, erstmals 1 6 7 3 , 1,1,4. Karl Anton Treib, v. Martini, Lehrbegriff des Naturrechtes, 2. verbesserte Ü b e r s e t zung, 1 7 8 7 , § 1 2 1 , S. 37. 20
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la jurisprudence 21 ." Bei den Generalia Principia konnte sich der Maximenstil der Moralisten mit der systematischen Vernunftrechtslehre treffen22. Auch Christian Wolff empfiehlt, dort, wo das Richterpersonal „nicht sehr fähig" ist, Gesetze so allgemein zu halten, daß die Fehlerquote bei den Entscheidungen gering bleibe: „Und bleiben deswegen die Gesetze etwas allgemein, damit nicht durch die Richter, indem sie sie anwenden sollen, mehr versehen wird, als durch ihre Allgemeinheit Schaden geschehen kann 23 ." Ungeklärt ist ferner zunächst auch noch, wie das Verhältnis zwischen dem Naturrecht und einer künftigen Kodifikation gestaltet sein soll. Die alte Frage, ob die „veritas" oder die „auctoritas" die „lex" schaffe, ist von Wolff mit nachhaltiger Wirkung im ersteren Sinne entschieden worden mit der Konsequenz für das Zivilrecht, daß dieses innerhalb des naturrechtlichen Gestaltungstabus lag und lediglich obrigkeitlicher Formulierung und Ausdeutung zugänglich war24. So konnte dann auch Schlosser erklären: „Im Grund soll der Zivilgesetzgeber nur der sein, welcher dieses Verhältnis so erklärt, daß alle Menschen dasselbe verstehen, und seine Autorität soll sich nicht anmaßen, die Dinge und deren Verhältnisse zu machen, sondern er soll nur deren Erklärung nach seiner besten Einsicht angeben, zufrieden daß diese für Wahrheit gelten müsse25!" 4. „Jedermann" und das Gesetz Das neuere, auf der aufgeklärt-vernunftrechtlichen Anthropologie aufruhende Adressatenverständnis führte mit einer gewissen Folgerichtigkeit zu dem Grundsatz, daß dem unmittelbar Betroffenen das Gesetz zur Kenntnis gebracht werden und daß dieser es auch verstehen müsse. Das allseits wieder mit Leidenschaft in die Diskussion gebrachte Einfachheitsideal stellte daher zunächst auf das Begriffsvermögen aller ab. Deutlich kommt dies bei Martini zum Ausdruck, wenn dieser von den Gesetzen verlangt: „Sie sollen deutlich und kurz, wie die 10 Gebote Gottes geschrieben sein, damit sie auch Leute von geringen Geistesgaben fassen und im Gedächtnis behalten können 26 ." Es versteht sich, daß
21 Dissertation sur les Raisons d'établir ou d'abroger les Lois, in: Œuvres de Frédéric le Grand, 9, Berlin 1848, S. 25. 22 Vgl. Clausdieter Schott, Einfachheit als Leitbild des Rechts und der Gesetzgebung, in: Zeitschrift für Neuere Rechtsgeschichte 5 (1983) S. 134ff. 25 Christian Wolff, Vernünftige Gedanken von dem gesellschaftlichen Leben der Menschen, 4. Aufl. 1736, S. 445. 24 Vgl. Marcel Thomann, Christian Wolff, in: Staatsdenker (Fn. 8) S. 248 ff. 25 Johann Georg Schlosser, Briefe über die Gesetzgebung, 1789, S. 119. 26 Karl Anton Freih. v. Martini, Allgemeines Recht der Staaten, 1799, §79, S. 35.
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Gesetze „in der Landessprache" abgefaßt und „wenige an der Zahl" sein sollen. Darüber hinaus aber müssen sie „so einfach sein, als es die Gesetze der Natur sind, um eben so dauerhaft zu sein". Auch an die ungebildeten Schichten ist gedacht. So wendet sich Leibniz gegen alle Subtilitätenkrämerei, da die Lösung doch meistens „sich selbst verstehet, und ein verständiger Bauer, wenn mans ihm auf gut teutsch vorgeleget hätte, nicht anders gesprochen haben würde"27. Im allgemeinen waren jetzt nähere Ausführungen zum Adressatenverständnis nicht mehr erforderlich. Es genügte die „Jedermanns"-Formel, wie sie sich ihrer etwa Justi bediente: „Gleich wie aber alle Gesetze, wenn sie ihren Endzweck erfüllen sollen, gewiß und jedermann verständlich sein müssen, so müssen auch die bürgerlichen Gesetze einfach, kurz, deutlich und in der Landessprache abgefasset sein, und jedermann, der einen natürlichen Verstand hat, muß wissen, was er zu tun und von der Entscheidung der Gesetze zu gewarten hat28." In Frankreich hatte schon 1728 der Procureur Général Joly de Fleury die Forderung nach einem einheitlichen und einfachen Gesetz erhoben, „qui fût a la portée de tout le monde"29. Mag diese Formulierung noch wenig sagen, so finden sich bald deutlichere Äußerungen. Beispielsweise ruft Rouillé d'Orfeuil nach Gesetzen „simples et assez claires, pour que chaque individu put les connaître, les entendre et les savoir"30, und er wiederholt später noch einmal die Notwendigkeit „pour tout le royaume une seule et même législation simple, claire, courte, connue de tout les habitants sans aucune exception"31. Mit der Revolution wird das demokratische Adressatenverständnis begreiflicherweise noch einmal zum bevorzugten Gegenstand der Erörterung. Bei dem Bemühen, der „Herrschaft der Advokaten" ebenso wie derjenigen der Despoten und Aristokraten ein Ende zu machen32, treten die extremsten Positionen zutage. Anlaß ist nicht nur die Kodifikationsarbeit, sondern auch die Auseinandersetzung um die künftigen Rechtsprechungsformen. Es geht vor allem um die Frage, ob auch in Zivilsachen die herkömmlichen Juristengerichte durch Schwurgerichte oder nach einem weiterreichenden Vorschlag gar durch Laienschiedsgerichte 27 G. W. Leibniz, Bedenken welchergestalt den Mängeln des Justiz-Wesens in Theoria abzuhelfen, in: Leibniz' Deutsche Schriften, hrsg. v. G. S. Guhrauer I, 1838, S.260. 28 Johann Heinrich Gottlob v. Justi, Die Grundfeste zu der Macht und Glückseligkeit der Staaten oder ausführliche Vorstellung der gesamten Policey-Wissenschaft, 1761, S. 565. 29 J. van Kan, Les efforts de codification en France, 1929, S. 112. 30 Auguste Rouillé d'Orfeuil, L'Ami des François, 1771, S. 347. 31 Ders., L'Alambic des Loix, 1773, S. 450. 32 Vgl. A. Esmein, L'originalité du code civil, in: Le code civil, Livre du centenaire, 1,1, 1904, S. 7.
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ersetzt werden sollen. Zur Diskussion steht also nicht nur das passive Adressatenproblem, sondern eine aktive Rechtskenntnis auf breitester Ebene. Dabei erstaunt nicht, daß die Vertreter solcher Volksgerichtsideen das Recht den allgemeinsten, aus dem Naturrecht hergeleiteten Prinzipien gleichsetzen und diese auch für genügend praktikabel erachten". Kritischen Einwendungen wird mit naiven Zukunftserwartungen begegnet. So glaubt Cambacérés, daß sich die Rechtsfragen nach der Abschaffung der Feudalinstitutionen und nach der revolutionären Testamentsgesetzgebung auf ein Minimum reduzierten34. Cambacérés ist es schließlich auch, der den ersten Entwurf für ein Zivilgesetzbuch vor dem Nationalkonvent zu referieren hat. Hier findet sich dann für das materielle Recht die gleiche politische Rhetorik: „Le législateur travaille pour le peuple; il doit surtout parier au peuple: il a rempli sa tache lorsqu' il en est entendu35." In diesem Stil wird später auch Napoleons Kodifikationswerk gefeiert, wenn an seinem Grabmal im Invalidendom eine Inschrift verkündet: „Code Napoleon-Justice égale et intelligible pour tous36." Die Jedermannsformel bleibt auch im 19. Jahrhundert, im Vormärz gar mit neuer politischer Brisanz, gegenwärtig. Sie fließt vor allem dort leichthin in die Feder, wo man mit einem breiteren Leserkreis rechnet. So schildert Bluntschli in seiner Einleitung zum Zürcher Privatgesetzbuch die zurückliegenden Jahrhunderte der Rechtsentwicklung als einen Zustand „entsetzlicher Unklarheit und Verwirrung": „Ein einfacher, schlichter Mann konnte sich nicht mehr zurechtfinden, und doch gehört das Privatrecht ihm vorzugsweise an37." Festtagsstimmung herrscht auch bei Zitelmann, als er zum 1. Januar 1900 dem Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein Gruß wort widmet: „Zwar sei das BGB gerade kein „Volkslesebuch", „doch immerhin (wird) jeder Deutsche leichter als bisher die Möglichkeit haben, sich über wichtige Rechtsfragen selbst durch Einsicht in dieses Buch Rat zu erholen"38. Diesen Optimismus vermag freilich Anton Menger nicht zu teilen, nach dessen Einschätzung das Gesetzbuch gerade nicht auf „die großen Massen" zugeschnitten sei. Aber auch Menger ist der Ansicht, daß „kein Teil der Gesetzgebung so sehr einer volkstümlichen, allgemein verständlichen Ausdrucksweise als
Réimpression de l'Ancien Moniteur 16, o.J., S. 677. Ebd. S. 672. 35 Rapport fait à la Convention Nationale, in: Fenet (Fn. 16) I, 1827, S. 3. 36 Vgl. Schott (Fn. 22) S. 144 f. 37 Johann Caspar Bluntschli, Privatrechtliches Gesetzbuch für den Kanton Zürich I, 2. Aufl. 1854, S.XIII. 3 ' Ernst Zitelmann, Zur Begrüßung des neuen Gesetzbuches, in: Deutsche JuristenZeitung v. l.Jan. 1900, S.2ff. 33
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das Bürgerliche Recht (bedarf)", da eben dieses „täglich und von allen Staatsbürgern angewendet" werde39. 5. Das „doppelte Gesetzbuch" Die praktischen Kodifikationsbestrebungen begnügten sich nirgends mit der Formulierung von Generalia Principia. Wolff selbst hatte die durch seine Vollständigkeit und Entfaltungsmöglichkeit ausgezeichnete Praktikabilität und Überlegenheit des Naturrechts demonstriert40. Dazu bedurfte es freilich der „Leute, die im Nachdenken geübet und von natürlichen Rechten rechten Verstand haben". Das Ergebnis mußten also Gesetze sein, die „die Generalia Principia, welche in der Natur gegründet sind und die nötigen Conclusiones daraus deducirt" enthielten, wie sich der preußische Entwurf Coccejis schon im Titel ausdrückte41. Das Ableiten war zwar ein „Kinderspiel", aber auch nur für „geschickte Köpfe" und für Fachleute. Das lief darauf hinaus, daß man doch wieder den Juristen als Gesetzesadressaten mit in Betracht ziehen mußte. Andererseits konnte und wollte man nicht mehr davon abgehen, sich mit dem Gesetz an den Bürger selbst zu wenden. Dabei kam es zunächst zu Diskussionen um den Stil des Gesetzes, wobei immer wieder das Seneca-Zitat: „lex iubeat, non disputet" herangezogen wurde42. Die Parömie half in diesem Zusammenhang wenig weiter. Es ging vielmehr um verschiedene Fragenkombinationen, nämlich um Stil und Kürze auf ungleicher Empfängerebene, Problemkomplexe, die nie ganz entwirrt und in ihren Bezügen ausdiskutiert wurden. Immerhin gab es Stimmen, die die Volkstümlichkeit und Uberzeugungskraft des Gesetzes gerade in einer belehrend pädagogischen Breite sahen, während es für die Juristen mit einer kurzen nüchternen Begrifflichkeit sein Bewenden haben konnte43. Die mehrheitlichen Äußerungen gingen jedoch dahin, daß die Formulierung allgemeiner Prinzipien eher dem Gemeinverstand entsprach und daß jede weitere Ausführung auch tiefere Einsichten voraussetzte. Offensichtlich stand dieser Ansatz ganz unter dem Eindruck der vernunftrechtlichen Erkenntnislehre, wie sie bei Pufendorf ihren Niederschlag
" Anton Menger, Das bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, erstmals 1890, 4. Aufl. 1908, S.17. 40 Wolff, Vernünftige Gedanken (Fn. 23) S. 458. Vgl. auch Pufendorf, De Jure Naturae (Fn. 5) VII,3,19. 41 Project des Corporis Juris Fridericiani das ist Sr. Königl. Majestät in Preußen in der Vernunft und Landes-Verfassungen gegründete Land-Recht usw., 1749. 42 Seneca, Epistulae 94. Brief, §38. 43 Einen Einblick gibt die Diskussion zwischen Hommel und Hankel in: Karl Ferdinand Hommel, Principis cura leges oder des Fürsten höchste Sorgfalt: die Gesetze, 1765, übersetzt und hrsg. v. Rainer Polley, 1975, S. 126 f.
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gefunden hatte. Um beide Verständnisebenen zu erreichen, war Wolff mit einem Vorschlag zur Hand, den er selbst als ungewöhnlich bezeichnete: Man könnte „alle Zeit die Statuten doppelt verfertigen, einmal zum täglichen Gebrauche ohne einige Erläuterung, darnach auch zu besserem Verstände derselben mit beigefügten Gründen und sonst nötiger Ausführung"44. Denn „wo die Gesetze mit Verstände gegeben werden, da ist es dem Gesetzgeber angenehm, wenn die Untertanen seine Wahrheit und Güte erkennen lernen". Wolffs Vorschlag wurde zwar gesetzgeberisch nie realisiert, blieb aber auch nicht ohne Nachhall. In seinem Vortrag „Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein?" hat Svarez diesen Gedanken erneut wieder aufgenommen und hat der Überzeugung Ausdruck gegeben, „daß wir ein doppeltes Gesetzbuch nötig haben: eines für den Richter und Rechtsgelehrten und das andere für das Volk überhaupt"45. Das erstere müsse vollständig sein und „vermöge einer nach richtigen philosophischen Regeln sich bestimmenden Schlußfolge sichere und gleichförmige Entscheidungen an die Hand geben". Der „Volkskodex" könne dagegen ein Auszug sein, bei dem es vor allem auf die Darstellung der alltäglichen Rechtsgeschäfte ankomme. Uberhaupt sollte man sich darin auf die „allgemeinsten Regeln"4* beschränken, womit wieder der Verständnishorizont der „Generalia Principia" in die Nähe rückte. Auch Katharina II. von Rußland dachte an ein „doppeltes", wenn auch nicht unbedingt äußerlich getrenntes Gesetzbuch. Nach ihrer Instruktion sollte das Gesetz jedermann verständlich und daher möglichst kurz sein47. Dies mache allerdings weitere Ausführungen und Erklärungen für die Richter erforderlich, damit diese es auf ihre Weise verstehen und den Sinn des Gesetzes erkennen können. Als Vorbild wird auf das Militärreglement hingewiesen, das in dieser Art durch eine Fülle von Beispielen und Erklärungen angereichert sei. Wollte man den Aufwand einer doppelten Gesetzgebung gar nicht erst in Betracht ziehen, so mußte man sich allerdings nach einer Kodifikation umsehen, bei welcher nach einem eingängigen Wort Jherings „der Gesetzgeber denken soll wie ein Philosoph und reden wie ein Bauer", eine Formulierung, die bei Leibniz oder bei Hegel ihren geistigen
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Wolff, Vernünftige Gedanken (Fn.23) S.423f. Carl Gottlieb Svarez, Inwiefern können und müssen Gesetze kurz sein, erstmals 1788, abgedruckt in: Vorträge über Recht und Staat von C. G. Svarez, hrsg. v. Hermann Conrad und Gerd Kleinheyer, 1960, S. 627 ff, 629. 46 Ebd. S. 631. 47 Instruction donné par Cathérine II, Lausanne 1769, S. 133, §447. 45
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Ursprung haben dürfte48. Man muß sich aber fragen: Ist diese Spannweite des Satzes, ist die Jedermannsformel in bezug auf den Gesetzesadressaten ernst gemeint und ist sie, wo immer zum Ausdruck gebracht, wörtlich zu nehmen? Es geht dabei um zwei Problemkreise: einmal um das Verhältnis Fachmann und Laie, zum anderen aber um die Frage, ob auf Seiten des Nichtjuristen überhaupt an eine homogene Adressatenebene gedacht ist. Letztlich handelt es sich bei der Frage nach dem Verständnishorizont also auch um eine Erscheinungsform der Gleichheitsdiskussion, und zwar zunehmend in dem Maße, in dem eine Kodifikation nicht nur als Steuerung von oben nach unten, sondern auch als Garantie von unten nach oben angesehen wird. 6. Die „gebildeteren
Klassen"
Bleibt man im Bereich der Allgemeinheit, d.h. des juristisch nicht geschulten Rechtsunterworfenen, so ist festzustellen, daß sich die Vorstellungen vom Gesetzesadressaten durchaus nicht in der Jedermannsformel erschöpfen. Welches konkretere Bild man sich macht, zeigt etwa die Instruktion Katharinas IIAuch darin wird zunächst verlangt, daß das Gesetz einfach und kurz und daher „intelligible pour tout le monde" sein müsse. Wenige Absätze später ist aber dann zu lesen: „Les Lois ne doivent pas être subtiles; elles sont autant faites pour les gens de médiocre entendement que pour ceux qui ont le plus de pénétration; elles ne sont point un art de logique, mais la raison simple d'un père de famille." Dieser Satz zeugt von einer sorgfältigen Lektüre Montesquieus, bei dem er wörtlich abgeschrieben ist50. Positiv wird damit gesagt, daß die Gesetzgebung auf ein mittleres Begriffsvermögen abzustellen ist, negativ heißt dies jedoch, daß an ein Erreichen von „Jedermann" gar nicht erst zu denken ist. Die Idealfigur des Gesetzesadressaten ist der Familienvater mit unverbildeter Vernunft, mit gesundem Menschenverstand. Mit dieser Reprise des „pater familias" war seit Bodin ein Typ gefunden, der für das zweidimensionale neuzeitliche Staats- und Gesetzesverständnis den Befehlsempfänger darstellte und der gleichzeitig sei48 Leibniz s. oben Fn. 27, zu Hegel vgl. die „Realphilosophie". „So läßt er (der Bauernstand) sich das Recht auch mehr wie einen Befehl auferlegen und verlangt nur, nicht daß er die Sache einsehe, sondern daß nur mit ihm gesprochen werde, daß ihm gesagt werde, was er tun solle und wozu er kommandiert sei. Er verlangt eine derbe Anregung, daß er merkt, es sei hier eine Gewalt vorhanden; in dieser Form muß es beigefügt sein. Er seinerseits bringt dann seinem Bauernverstand auch zutage, zeigt, daß er so dumm nicht sei, spricht etwas ins Gelag, so eine Maxime..." G.W. F. Hegel, Frühe politische Systeme, hrsg. v. G. Göhler, 1974, S.272. 49 Instruction (Fn.47) S. 134, §451. 50 Montesquieu, De l'Esprit des Lois, 1748, 29,16.
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nen eigenen, staatlich anerkannten „Untertanenverband" die Familie, repräsentierte. Das Familienrecht des Code civil war ein getreues Abbild dieser Vorstellungen. Wie selbstverständlich der Familienvater mit dem Jedermannsadressat der Gesetze identifiziert wird, zeigt sich auch bei Bentham5'. Nach seiner Ansicht würde ein entsprechend konzipierter Codex alle Rechtsschulen, Professoren und Kommentare überflüssig machen, würde sich also unmittelbar an das Volk wenden: „II (das Gesetz) parlera la langue familière à tout le monde. Chacun pourrait le consulter au besoin. Ce qui le distinguera des autres livres, c'est une plus grande simplicité et une plus grande clarté." Bentham tut dem Leser den Gefallen, für diese umfassend geratene Jedermannsformel eine Anschauung mitzuliefern. Der anschließende Satz führt dann lebhaft vor Augen, welches Bild man sich von der Vokabel „tout le monde" zu machen hat: „Le père de famille, le texte des lois à la main, pourra sans interprète les enseigner lui-même à ses enfants, et donner aux préceptes de la morale particulière la force et la dignité de la morale publique." Auch die andere, zwar weniger bildhafte, aber dennoch einprägsame Formulierung Montesquieus vom „mittleren Verstand" des Gesetzesadressaten wurde rasch Gemeingut. So sollte nach Schall das Gesetzbuch auf den „mittelmäßig aufgeklärten Verstand" zugeschnitten sein52, und Thibaut wünschte sich eine Kodifikation, die „den Bedürfnissen des Volkes gemäß" und die „jedem auch nur mittelmäßigen Kopf zugänglich sein" sollte". Mit dieser Festlegung auf das Mittelmaß war jedenfalls deutlich gemacht, daß das Gesetz nicht auf das Begriffsvermögen von jedermann im weitesten demokratischen Sinne abgestellt sein mußte. Obwohl Napoleon gerade dies für seinen Code als bleibende Tat in Anspruch nahm, hat doch sein Redaktor Portalis schon bei der Vorstellung des Entwurfs die Frage gestellt: „Mais le code, même le plus simple, serait-il à la portée de toutes les classes de la société?" Wie die Antwort darauf zeigt, war es eine rhetorische Frage: „Ce serait donc une erreur de penser qu'il pût exister un corps de lois qui eût d'avance pourvu à tous les cas possibles, et qui cependant fût à la portée du mondre citoyen 54 ." Die Einsicht, daß Gesetze nicht dem ganzen Volk verständlich zu machen sind, wird hier freilich nicht zum ersten Mal in aller Offenheit ausgesprochen. Svarez hat sich darüber wiederholt und eingehend geäu51 52
S. 76.
Bentham, Traités (Fn.4) S. 399 f. J. E. F. Schall, Über die Justiz auf deutsche Art und zum deutschen Gebrauch, 1780,
53 Anton Friedrich Justus Thibaut, Über die Notwendigkeit eines allgemein bürgerlichen Rechts für Deutschland, 1814, S.26. 54 Fenet I (Fn.16) S.471.
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ßert: Die Erfahrung habe gelehrt, daß man mit der Vereinfachung und Verminderung der Gesetze nicht so weit gehen könne, „daß die Kenntnis derselben, ich will nicht sagen: allen, aber doch den meisten Staatsbürgern, wenigstens den gebildeteren Klassen derselben möglich werde" 5 5 . Entsprechend erklärte dann das vorbereitete Publikationspatent von 1791, daß das Allgemeine Gesetzbuch „in der Sprache der Nation, und der Gestalt allgemein verständlich vorgetragen werde, daß ein jeder Einwohner des Staats, dessen natürliche Fähigkeiten durch Erziehung nur einigermaßen ausgebildet sind, die Gesetze, nach welchen er seine Handlungen einrichten und beurteilen lassen soll, selbst lesen, verstehen, und in vorkommenden Fällen sich nach den Vorschriften derselben gehörig achten könne" 5 6 . Svarez ließ auch keinen Zweifel daran, daß selbst sein „Unterricht für das Volk über die Gesetze" nicht etwa der „gemeinsten und beschränktesten Fassungskraft" entgegenkommen wolle. Überhaupt hat sich der Verfasser dieser Volksausgabe „unter Volk nicht den ganz gemeinen Mann gedacht", vielmehr ist das Rechtsbuch „für diejenige Klasse von Staatsbürgern bestimmt, die, ohne eigentliche gelehrte Erziehung, durch einen gewöhnlich guten Schulunterricht zum Nachdenken einigermaßen vorbereitet, deren Seelenkräfte durch ihren Gebrauch bei nicht bloß animalischen oder tierischen Funktionen des häuslichen und bürgerlichen Lebens, vielleicht auch durch einige Lektüre schon etwas mehr ausgebildet und die also fähig sind, allgemeine Wahrheiten und Grundsätze, wenn sie in der leichten Sprache des täglichen Umgangs ohne wissenschaftliche Einkleidung vorgetragen werden, zu begreifen und einzusehen" 57 . Auch bei der Auswahl des Stoffes hat das „Bedürfnis dieser Klasse von Lesern" den Maßstab abgegeben. Diese gebildete Klasse wird von Svarez als „sehr zahlreich und schätzbar" angegeben. Dies besagt indessen nichts über das Zahlenverhältnis zur ungebildeten Unterschicht, bei der eingeräumt wird, daß ihr allgemeine Begriffe von Recht und Unrecht selbst durch den „populärsten Vortrag" nicht nahegebracht werden können, sondern daß hier nur eine Belehrung „durch Exempel" möglich sei. Die Beschaffenheit des Preußischen Gesetzbuchs - nachmals des Allgemeinen Landrechts - wie auch des „Unterrichts für das Volk" und gerade dessen weiteres Schicksal 58 zeigen jedoch, daß die Anforderungen an den Bildungsstand des Lesers eher höher anzusetzen waren, als dies Svarez, Inwiefern (Fn.45) S.629. Allgemeines Gesetzbuch für die preußischen Staaten, 1. Teil 1791, Publikationspatent S. II. 57 Carl Gottlieb Svarez, Unterricht für das Volk über die Gesetze, 1793; auszugsweise abgedruckt bei Erik Wolf, Quellenbuch zur Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft, 1949, S. 183 ff, 187. 58 Vgl. Wolf (Fn. 57) S.184. 55 56
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die Formulierungen von Svarez zunächst vermuten lassen. Hier wird Zeiller deutlicher, der kein Hehl daraus macht, daß sich sein Gesetzbuch an das eigentlich gebildete Bürgertum richtet: „Leicht verständlich soll er (der Codex) nicht nur dem Rechtsgelehrten, sondern auch dem gebildeteren Bürger sein. Für den notwendigen Unterricht der unteren Volks-Klassen muß durch andere Mittel, wie durch eine zweckmäßige Anleitung in den Volksschulen, und vorzüglich durch Belehrung von redlichen Rechtsfreunden und Gerichtsvorstehern bei vorkommenden Fällen gesorgt werden59." Mit der Bildung war ein Stichwort gefallen, das sich in das Standardbewußtsein des 19. Jahrhunderts besonders gut einpaßte. Auch Mohl bedient sich dieses Begriffs, um den Adressatenhorizont des „rechtsungelehrten" Bürgers zu umschreiben: „Vor allem kann natürlich nur eine Verständlichkeit für solche verlangt werden, welche die erforderliche allgemeine Bildung besitzen, um abstrakt ausgedrückte allgemeine Rechtssätze zu begreifen60." Inzwischen war auch manifest geworden, daß die „generalia principia" mit den abstrakten allgemeinen Rechtssätzen keineswegs identisch waren. Die vielberufene Goldene Regel des „Was du nicht willst usw." etwa war doch etwas wesentlich anderes als der destillierte juristische Obersatz. Unter anderen Verhältnissen kommt es zu anderen verbalen Einkleidungen, gemeint ist aber dasselbe, nämlich daß das Gesetz an einer mittelständisch bürgerlichen Schicht sein Maß zu nehmen hat. So stellt sich Eugen Huber den Adressaten seines Zivilgesetzbuches in folgender Weise vor: „Der verständige Mann, der es (das Gesetz) liest, der über die Zeit und ihre Bedürfnisse nachgedacht hat, muß die Empfindung haben, das Gesetz sei ihm vom Herzen gesprochen61." Man glaubt geradezu, den ehemaligen Chefredakteur der Neuen Zürcher Zeitung sprechen zu hören. Der in der Schweiz wohl weniger werbekräftige, weil elitäre Bildungsbegriff, wird durch das sentimentalere „Herz" ersetzt, was freilich auch auf ein bestimmtes Publikum abzielt. Eine andere Seite des bürgerlichen Selbstverständnisses spricht Kitka an, wenn er vor einer allzu juristischen Durchformulierung in der Gesetzgebung warnt. Bei einem solchen Gesetzbuch „ergreift den praktischen Geschäftsmann ein Widerwille, wenn er solche komplizierte Bestimmungen kaum zu übersehen und selbst bei dem besten Willen seinem Gedächtnisse einzuprägen kaum im Stande ist"62. Wer „im 59
Franz v. Zeiller, Commentar über das allgemeine bürgerliche Gesetzbuch I, 1811,
S.25. 60 Robert v. Mohl, Politik, I, 1862, S.438. " Eugen Huber, Recht und Rechtsverwirklichung. Probleme der Gesetzgebung und der Rechtsphilosophie, 1921, S. 335 ff. 62 Joseph Kitka, Uber das Verfahren bei Abfassung der Gesetzbücher überhaupt und der Strafgesetzbücher insbesondere, Brünn, 1838, S.56.
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Drange seiner Geschäfte" ist, brauche ein einfaches Gesetz, das dem Geschäftsmann nicht unnütze Informationshindernisse in den Weg legt. 7. Gesetz und Gleichheit Zieht man das Fazit, so gelangt man geradewegs zu einem Adressatenkreis, der mit der etwas abgegriffenen Formel „Besitz und Bildung" zu umschreiben wäre. Es ist jenes Bürgertum, dem es als drittem Stand gelungen ist, die oberen beiden Stände zu absorbieren, das aber über die Existenz eines vierten Standes hinwegsieht. Es ist das Bürgertum, das die Gleichheit im Sinne einer Angleichung zum revolutionären Programm erhebt, das sich dann aber im ganzen 19. Jahrhundert mit diesem Begriff schwer tut und ihn schließlich als „Gleichmacherei" aus dem politischen Schlagwortkatalog streicht. Die „Herrschaft der Massen" ist nicht die erstrebte Freiheit63. Gerade Hegel hat von der „wesenlosen Abstraktion" der Gleichheit gesprochen und hat damit den Liberalen das Stichwort gegeben, so daß bei ihnen fortan die „Abstraktheit und Leere" des Gleichheitsbegriffs zur gängigen Rede wurde. Das liberale Besitz- und Bildungsbürgertum hat sich schließlich ohne eine Gleichheitsforderung auf die Revolution von 1848 eingelassen. Man wollte keine „Pöbelherrschaft". Das klassenspezifische Adressatenverständnis kommt schon im Vormärz dort deutlich zum Ausdruck, wo sich die Unterschichten oder deren Anwälte zu Wort melden. Hierzu wäre der „Hessische Landbote" zu rechnen, ein 1834 verbreitetes, von Georg Büchner und Ludwig Weidig verfaßtes, revolutionäres Flugblatt64. Die Schrift wendet sich vornehmlich an die Handwerker und Bauern, d.h. an das breite, in ärmlichen Verhältnissen lebende „Volk", von dem ein großer Teil erst kürzlich aus der Leibeigenschaft entlassen worden ist. Eine Minderheit ist unverhältnismäßig besser gestellt und hebt sich sichtlich ab, ihre Angehörigen „reden eine eigene Sprache". Wie steht es aber mit den Gesetzen, „durch welche das Wohl Aller gesichert wird und die aus dem Wohl Aller hervorgehen sollen" ? Für Büchner und Weidig ist das Gesetz mit politischem Vorbedacht nicht auf das Begriffsvermögen des Volkes abgestellt, da sich gerade die herrschende Klasse des Gesetzes als eines Instruments der Disziplinierung gegenüber den unteren Klassen bediene: „Das Gesetz ist das Eigentum einer unbedeutenden Klasse von Vornehmen und Gelehrten, die sich durch ihr eignes Machwerk die Herrschaft zuspricht. Diese Gerechtigkeit ist nur ein Mittel, euch in 63 Vgl. dazu Otto Dann, Gleichheit, in: Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland 2, 1975, S. 1018 ff. M Georg Büchner / Ludwig Weidig, Der Hessische Landbote, Texte, Briefe, Prozeßakten, kommentiert von Hans Magnus Enzensberger, 1965.
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Ordnung zu halten, damit man euch bequemer schinde; sie spricht nach Gesetzen, die ihr nicht versteht, nach Grundsätzen, von denen ihr nichts wißt, Urteile, von denen ihr nichts begreift65." Dieser Ausschließung entspricht das Abseitsstehen in der Gesetzgebung selbst66. Seit der Verfassung von 1820 besteht zwar im Großherzogtum Hessen eine Volksvertretung, jedoch werden deren Mitglieder nur indirekt berufen, und die Wählerstimmen müssen dabei ein dreifaches Sieb passieren. Die von bereits gewählten Bevollmächtigten wiederum gewählten Wahlmänner müssen dem Kreis der sechzig Höchstbesteuerten des Bezirks angehören, und die von ihnen schließlich gewählten Abgeordneten sind nur dann parlamentsfähig, wenn sie einen jährlichen Betrag von über 100 Gulden Direktsteuer bezahlen oder über 1000 Gulden Beamtengehalt beziehen. Dieser Wahlmodus führte dazu, daß die ersten hessischen Landstände zu zwei Dritteln aus hohen Regierungsbeamten bestanden. Dem Vorstellungsbild vom Gesetzesadressaten entspricht überhaupt auf weiten Strecken die Ausgestaltung des Wahl- und Stimmrechts67. Dem vormärzlichen Liberalismus sind Zensuswahl und indirektes Wahlverfahren selbstverständlich. Beides sollte den Zweck haben, „größere Besonnenheit" in die Wahl zu bringen. Während in Frankreich ein sehr hohes Einkommen die Schranke zum Wahlrecht hob, war es in Deutschland vorwiegend der Grundbesitz. Das System war von höchsten philosophischen Autoritäten abgesegnet. So hatte Kant erklärt: „Der, dessen Existenz vom Willen eines andern abhängt, folglich der keine freie Existenz hat, genießt keine Stimme68." Die Gleichheit liegt in der Möglichkeit: Jeder werde zwar „als möglicher Staatsbürger geboren; nur damit er es werde, muß er ein Vermögen haben, es sei in Verdiensten oder in Sachen". Aus der Sicht Kants eignen sich daher für das Bürgertum und als „Mitgesetzgeber" nur Gutsbesitzer, freie Bauern, Handwerker, Gewerbetreibende, Künstler, Gelehrte und unabsetzbare Beamte, alle anderen - auch Frauen - sind ausgeschlossen. „Wir wollen Familienväter . . . " , schreibt 1816 der Jenenser Philosoph Fries, „und wir fordern eine gewisse Wohlhabenheit und bürgerliche Selbständigkeit, damit wir die Stimme solcher Männer hören, die neben gehöriger Geistesbildung durch einiges Privatinteresse unserm Staate verbunden sind65."
Ebd. S. 7. Ebd. S. 36 ff. 67 Vgl. Franz Schnabel, Deutsche Geschichte im 19. Jahrhundert, II, 2. Aufl. 1949, S. 143 ff; Peter Michael Ehrle, Volksvertretung im Vormärz, S. 554 ff. 68 Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, Rechtslehre 2. Teil, § 46. " Jakob Friedrich Fries, Vom Deutschen Bund und Deutscher Staatsverfassung. Allgemeine staatsrechtliche Ansichten, 1816, S. 156. 65
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Hier wiederholt sich also das mittelständische, patriarchalische Bild des Bürgers. Um kein Mißverständnis aufkommen zu lassen, sei dazu angemerkt: Die Probleme des Gesetzesadressaten und des Wahlrechts sind nicht kongruent oder gar identisch. Sie sind aber zwei, von einander nicht unabhängige Faktoren im Bereich des Fragenkomplexes um die Gleichheit. Damit soll gesagt sein, daß die Entwicklung des Adressatenverständnisses und des Wahlrechts zwar nicht den gleichen Verlauf nahmen, daß jedoch mit der Einführung eines allgemeinen Wahlrechts in der zweiten Jahrhunderthälfte die Frage des angesprochenen Begriffsvermögens nicht unberührt blieb. Sobald im demokratischen Sinne jedermann Gesetzgeber geworden war, mußte auch das Empfängerverständnis alle Bürger umfassen. Die Jedermannsformel war jetzt nicht mehr auf sozialer Ebene bestimmbar, sondern mußte anthropologisch oder organisatorisch konkretisiert werden. Die Beschränkteren mußten sich auf die Weisheit der Klügeren verlassen, eine Lösung, der man schon im Spätmittelalter den Vorzug gegeben hatte. Somit stellten sich die alten Kompromißmuster vom durchschnittlichen Verstand, von der vernünftigen Denkweise usw. wieder ein, inhaltlich allerdings den geänderten gesellschaftlichen Verhältnissen angepaßt. In diesem Sinne erklärte dann der Freirechtler Fuchs: „Jeder Satz, der einem gescheiten, gerechtdenkenden Laien des Gebiets nicht einleuchtet, ist falsch." Als Prüfstein wollte sich Fuchs des „scholastisch unverdorbenen Sinnes gebildeter Frauen" bedienen, da sie „durch ihren Beruf in Haus und Familie dem Leben näher als unsere reinen Schriftgelehrten (stehen)"70. 8. Die „besondere Kenntnis der Gesetze" Nach dem Gesagten sieht sich die Gesetzgebung mit drei Ebenen konfrontiert: zunächst mit der einmal geistig, einmal sozial-ökonomisch definierten Unterschicht, dann mit dem gebildeteren und gebildeten Bürgertum und schließlich mit den juristisch ausgebildeten Fachleuten. Das Problem wird jedoch dadurch um eine Komponente vereinfacht, daß man den untersten Bereich aus dem Adressatenverständnis im engeren Sinn ausscheidet. Hier sollen die einfachen ethischen Grundsätze, wie sie sich auch dem beschränktesten Verstand erschließen, bzw. die anerzogenen Verhaltenserwartungen genügen. Eine allgemeine Alphabetisierung und eine elementare Belehrung werden als ausreichend 70 Ernst Fuchs, Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909, S. 167. Als Beitrag zur Gleichberechtigung der Frau ist diese Bemerkung allerdings nicht gedacht. Fuchs fährt nämlich fort: „Selbstverständlich habe ich hier die nichtgelehrte Frau im Auge, für die noch das alttoskanische Sprichwort gilt: die Frauen sind weise, wenn sie unbewußt handeln, Narren, wenn sie überlegen. Eine pandektologische Frau wäre noch widerwärtiger und wegen ihrer mehr wiedergebenden als schöpferischen Naturanlage noch schädlicher als ein pandektologischer Mann."
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erachtet, um diesen Bevölkerungsteil systemgerecht dem Lenkungsprogramm zu unterwerfen. Die Unterschichten bleiben also Gesetzesadressaten, wenn auch in einem mittelbaren, entfernteren Sinn. Im revolutionären Vokabular sind sie die „Ackergäule" der Gesellschaft71. Je nach Verantwortungs- und historischem Entwicklungsstand kann in diesem Bereich eine Kompensation durch den staatlichen Sozialdienst einsetzen. Unmittelbare Gesetzesadressaten sind dagegen der Mittelstand und die Oberschicht. Ihrem Verständnishorizont oder ihrer Informationsmöglichkeit soll die Formulierung der Gesetze angemessen sein. Diese staatstragende Schicht, die weitgehend an der Gesetzgebung partizipiert, soll sich mit dem Recht identifizieren können. Sie wird gewöhnlich als „das Volk" schlechthin genommen. Die Grenzen zur Unterschicht sind freilich nicht oder nur teilweise verrechtlicht, sie sind vielmehr fließend und nur nach sozial-ökonomischen Gesichtspunkten eruierbar und können auch landschaftlich und zeitlich verschieden verlaufen. Das Idealbild ist der wirtschaftende oder beamtete Bürger und verantwortungsbewußte Familienvater. Das Gesetzbuch sollte für dieses „Bürgerglück"72 geschaffen sein. Das politische Adressatenverständnis kommt allerdings nicht darum herum, den Richter und den juristisch geschulten Empfängerhorizont einzubeziehen. In der Richterbindung und Willkürvermeidung liegt ja sogar das frühere Motiv der Kodifikationsidee. „Ein gutes Gesetzbuch (soll) Weisung für den Richter und Belehrung für den Bürger sein", schreibt Schall73. Mit diesem Gemeinplatz ist nun der gordische Knoten wieder neu geschlungen. Die nächstliegende Lösung bietet nochmals Svarez' Vorschlag eines doppelten Gesetzbuchs. Dieser zielt noch ganz darauf ab, neben dem Volkskodex ein begrifflich geschärftes Gesetzeswerk auszuarbeiten, damit „der Willkür des Richters sowenig, als es irgend möglich ist, Raum gelassen werde"74. Dieser rechtsstaatlichen Begründung steht das Argument des spezifischen Sachverstandes gegenüber, dessen es bei einem entwickelten Recht bedarf. An dieser Stelle setzt dann auch die Kritik am lange gepflegten Einfachheitsideal ein75. Wer sich nicht in politischen Utopien verlieren oder nicht von oberflächlichen Parolen lösen will, muß wie etwa Robespierre76 zugestehen, daß der Dienst des Juristen für eine neuzeitliche
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Büchner (Fn.64) S.8. Thibaut (Fn.53) S.23. 73 Schall (Fn. 52) S. 76. 74 Svarez, Inwiefern (Fn.45) S.629. 75 Dazu Clausdieter Schott, Kritik an der „Simplifikation", in: Gedächtnisschrift Peter Noll, 1984. 76 Fn. 33, S. 677. 72
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Gesellschaft unentbehrlich geworden ist. Auch Mohl gibt sich keinen Illusionen hin, wenn er zwar vom Gesetz Gemeinverständlichkeit an die Adresse des allgemeingebildeten Bürgers verlangt, dann aber einräumt: „Sodann wäre es eine völlige Verkehrtheit zu erwarten, daß jemals der rechtsungelehrte, wenn schon im übrigen verständige und mit allgemeiner Grundbildung versehene Bürger auch das tadelloseste Gesetz in der Weise verstehen könne, wie der Rechtsgelehrte. Ihm wird die Einfügung in das ganze Rechtssystem, werden die gegenseitigen Beziehungen und Folgerungen der einschlägigen Lehren, die feineren Anwendungen und Konsequenzen der allgemeinen Sätze niemals von selbst einleuchten, und selbst vielleicht nach erhaltener Erklärung nicht vollständig begreiflich sein77." Im Zeitpunkt dieser Äußerung hat sich allerdings der juristische Berufsstand in einer Weise etabliert, daß seine Notwendigkeit und Funktion außer jeder Diskussion stand. Savigny hatte das „doppelte Dasein" des Rechts zwar nicht als erster, aber mit nachhaltiger Wirkung, kulturhistorisch begründet78. Wohlgemerkt: das doppelte Dasein im Bewußtsein des Volkes und im Bewußtsein des Juristen. Mit dem Volk ist selbstverständlich wieder das Bürgertum gemeint, das sich überhaupt jetzt mit der Volkskultur in allen ihren Ausformungen identifizierte7'. Jurisprudenz ist aus dieser Sicht kein Phänomen der Entfremdung des Rechts, sondern ein notwendiges Entwicklungsprodukt im Zusammenhang mit der Kulturentfaltung und der damit einhergehenden Arbeitsteiligkeit. Sie ist soviel und sowenig volkstümlich wie etwa die handwerklichen Berufe, deren Berechtigung niemand in Frage stellt. Somit hat die Volksgeistlehre der historischen Rechtsschule neu den Grund gelegt für die Legitimation des Juristen. Sie hat andererseits gleichzeitig, vor allem durch ihren germanistischen Zweig, das Adressatenverständnis beim bürgerlichen Volk weitergepflegt. Die doppelte Adressatenebene war weniger problembehaftet, als es zunächst scheinen mag. War das Recht auf den wachen, tätigen und geschäftenden Bürger ausgerichtet, so mußten diesem auch Wege und Mittel zur Bedienung offengehalten werden. Dem modernen kapitalistischen Betrieb stellte sich das Recht in weiten Teilen als Produktionsfaktor dar, der vom Spezialisten abgerufen werden konnte. In diese Kalkulation war auch der Verwaltungs- und Justizapparat einbezogen80. „Jus Mohl (Fn. 60) S.438. Friedrich Carl v. Savigny, Vom Beruf unserer Zeit für Gesetzgebung und Rechtswissenschaft, 1. Aufl. 1814, 2. Aufl. 1828, S. 8 ff, 12. 79 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 357. Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen Hegels zum Begriff „Volk" in der „Rechtsphilosophie" (Fn.l) §300. 80 Vgl. Max Weher, Wirtschaft und Gesellschaft, 4. Aufl. 1956, S.484, 487. 77 78
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vigilantibus" war jetzt die wieder vielzitierte, auch von den einschlägigen Prozeßhandbüchern aufgenommene Durchsetzungsformel81. Der Prozeß als „kriegerisches Verhältnis" bedurfte der Strategen, und es stand außer Zweifel, daß der Rechtsdienst nur von einer professionalisierten Zunft erbracht werden konnte. Diese versprach ihrerseits, um die „Betriebskosten" des Rechts niedrig zu halten, ein Recht mit klarer Interessenbewertung und Begrifflichkeit zu liefern. Das neue Recht, vor allem das nun zentrale Obligationenrecht, war unpolitisch oder wurde wenigstens als solches ausgegeben. Man konnte also diesen Bereich getrost den Juristen überlassen, zumal sich dieser Berufsstand nach Zusammensetzung und Mentalität geradezu als Elitegruppe des bürgerlichen Selbstverständnisses empfahl. Es war eingetreten, was sich Schlosser gewünscht hatte, nämlich daß man „den Richter aus dem Bürgerstande" und den Gesetzen die „Unverständlichkeit" nehmen solle82. Gegen diese Entwicklung der Volksgeistlehre hat Hegel Einspruch erhoben. Sein eingangs zitiertes Diktum von den zu hoch gehängten Gesetzen ist durch folgenden Zusatz ergänzt: „Der Juristenstand, der die besondere Kenntnis der Gesetze hat, hält dies für sein Monopol, und wer nicht vom Metier ist, soll nicht mitsprechen.. Aber sowenig jemand Schuhmacher zu sein braucht, um zu wissen, ob ihm die Schuhe passen, sowenig braucht er überhaupt zum Handwerk zu gehören, um über Gegenstände, die von allgemeinem Interesse sind, Kenntnis zu haben. Das Recht betrifft die Freiheit, dies Würdigste und Heiligste im Menschen, was er selbst, insofern es für ihn verbindlich sein soll, kennen muß83." Hegels Einwand mochte dort beachtlich sein, wo es um die politische Funktion des Rechts ging. Das als Dienstleistungsmaterie jetzt vielgefragte Recht wurde von dieser Kritik kaum berührt. Für den Bereich des breiten, „allgemeinen Interesses" lohnte sich der Kodifikationsaufwand eigentlich nicht, abgesehen davon, ob überhaupt ein Bedürfnis danach bestand. Die Juristen, ohnehin gesellschafts- und staatsloyal, konnten daher offen erklären, daß sie die allein richtige Adresse der Gesetzgebung seien. So schreibt Windscheid: „Gesetzbücher werden nicht für den Laien gemacht, sondern für den Richter. Der Wert eines Gesetzbuches liegt darin, daß es für den Richter verständlich ist. Der Laie braucht
81 Eindrücklich: August Wilhelm Heffter, System des römischen und deutschen CivilProcessrechts, 2. Aufl. 1843, S.4. Quelle des Sprichworts, das vollständig „ius civile scriptum est vigilantibus" lautet, ist Dig. 42,8.24 am Ende. ,2 Johann Georg Schlosser, Vorschlag und Versuch einer Verbesserung des deutschen bürgerlichen Rechts ohne Abschaffung des römischen Gesetzbuchs, 1777, S. 35. » Hegel (Fn. 1).
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es nicht zu verstehen84." Dem schließt sich noch um die Mitte des 20. Jahrhunderts Koschaker an: „Die unmittelbare Bedeutung einer Privatrechtskodifikation (ist) für diejenigen, die das Recht anwenden, d. h. für die Juristen, größer als für das Staatsvolk, für das sie gilt. Klare, präzise Fassung des Gesetzes ist unter allen Umständen erwünscht, hat aber nichts zu tun mit Gemeinverständlichkeit in dem Sinne, daß jeder Volksgenosse sich selbsttätig über sein Recht aus dem Gesetz orientieren kann. Das wäre eine sentimentale Illusion85." Für das andere „Dasein des Rechts" sah man die elementaren Rechtskenntnisse, wie sie im Bewußtsein des Volkes ohnehin vorhanden waren, als genügend an. Für die Masse der einfachen und täglichen Rechtsgeschäfte, die sich weithin problemlos abwickelten, war keine zusätzliche Belehrung erforderlich. Hegels Schuhmacherexempel ließ sich auch für eine Replik einsetzen. Dies besorgte Jhering mit dem Kommentar: „Ein Urteil darüber, ob die Schuhe passen, wird niemand dem, der sie tragen soll, absprechen; aber ein ganz anderes Ding ist es, ob der Schuster sich von ihm sagen lassen soll, wie er sie zu machen hat." Jhering hielt allen jenen, die dem „gesunden Menschenverstand" allzu großen Vertrauenswert beimaßen, entgegen, daß es schon lächerlich sei, damit dem Handwerker oder Bauern dreinzureden, wo doch die Bestellung des Feldes und die Betreibung eines Handwerks noch ein leichtes gegenüber der Lösung anspruchsvoller Rechtsfragen sei. „Für Juristen, die den Wahn von der Möglichkeit eines populären, jedem Bürger und Bauer zugänglichen, den Juristen entbehrlich machenden Rechts zu teilen oder gar zu fördern im Stande sind, wüßte ich keine bessere Kur, als sich einmal als Schuster und Schneider zu versuchen, um an Stiefeln und Kleidung innezuwerden, was sie an der Jurisprudenz nicht gelernt haben86." Mit der Krise des bürgerlichen Liberalismus trat auch ein Wandel im Rechts- und insbesondere im Gesetzesverständnis ein. Das Gesetz sollte nunmehr nicht länger allein Besitz einer herrschenden Klasse, sondern Gemeinbesitz aller sein, die mit gleicher und direkter Stimme am Staat partizipierten. Damit verlor die instrumentale Funktion des Gesetzes an Bedeutung und die politische Funktion gewann wieder an Aktualität. 84 Vgl. auch Bernhard Windscheid, Gesammelte Reden und Abhandlungen, hrsg. v. P. Oertmann, 1904, S. 77. 85 Paul Koschaker, Europa und das römische Recht, 4. Aufl. 1966, S.206f. 86 Rudolf v. Jhering, Geist des römischen Rechts 2,2, 5. Aufl. 1898 (9. unveränderte Aufl. 1968) S. 320. Zum Hegelzitat fährt Jhering fort: „Von Hegel, Stahl, Trendelenburg habe ich in einer gewissen Richtung mehr gelernt, als aus einer großen Menge rein juristischer Schriften, aber die Technik des Rechts muß der Philosoph vom Fach, wenn er nicht in wichtigen Dingen völlig danebengreifen will, von dem Juristen vom Fach lernen, oder, richtiger gesagt, sein Urteil dem des Juristen unterordnen, denn ein wirkliches Urteil ist hier nur auf dem Wege der Anwendung und Erfahrung zu gewissen."
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Das Gesetz mußte also erneut, jetzt aber im wörtlichen weitesten Sinne, an alle Bürger gerichtet sein. Das Mandat und Monopol der Juristen ließ sich nicht mehr unangefochten aufrechterhalten. Die altbekannten Formeln sollten nun zum Nennwert eingelöst werden. Das Ausgreifen des Staates in soziale und wirtschaftliche Bereiche zog aber gerade eine neue Verrechtlichung nach sich mit der nicht zu umgehenden Folge, daß die Dienstleistung des Juristen weiter, ja verstärkt, wenn auch in anderer Weise gefragt blieb. Bei dem Bemühen, zu denken wie ein Philosoph und zu reden wie ein Bauer, war jedoch auch der demokratisch-egalitäre Staat überfordert. Vordergründig wurde und wird das Problem durch die uneingestandene, dennoch werbewirksame Inkonsequenz umgangen, daß einerseits die Forderung nach Einfachheit und Volkstümlichkeit des Rechts erhoben, andererseits unbekümmert an der komplizierten Struktur weitergebaut wird. Da jedoch die egalitäre Industriegesellschaft in Wirklichkeit eine komplexe Gesellschaft war, mußte die Uberforderung des Systems zu einem großen Teil durch Segmentierung, d. h. durch die Organisation und Bedienung der Interessen abgefangen werden. Die Konsequenz war ein neues Adressatenverständnis, das mit den Begriffen Allgemeinverständlichkeit und Juristenmonopol allein nicht mehr zu erfassen war.
Geschichtliches Recht und moderne Zeiten Einige Gedanken zu Leben und Werk von Karl Gareis D I E T E R SCHWAB
Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts, als Deutschland vom Geist des ökonomisch-technischen Fortschritts erfaßt wurde und als die Früchte der industriellen Revolution das gesellschaftliche wie individuelle Leben grundlegend veränderten, schien das Recht noch tief im Überkommenen angesiedelt zu sein, beherrscht von den Fortsetzern und Erben der historische^ Rechtsschule, die - bei aller Suche nach methodischen Neuerungen - dem traditionellen Rechtsstoff römischen und deutschen Ursprungs verhaftet waren oder ihn wenigstens als Baumaterial für ihre Begriffs- und Systemkünste benutzten. Eine synchrone Betrachtung von Gesellschaft, Kultur, Wirtschaft und Recht offenbart einen verblüffenden Anachronismus großer Teile der deutschen Zivilrechtswissenschaft jener Zeit und eine fast liebenswürdige Antiquiertheit vieler ihrer Probleme. Wie die deutschen Rechtsgelehrten in den Jahrzehnten vor Inkrafttreten des BGB, aber auch noch in der Zeit danach die Diskrepanz von neuer Welt und altem Recht verarbeitet haben, gehört zu den spannenden Kapiteln der Wissenschaftsgeschichte1. Die Skala der Einstellungen reicht vom Ignorieren der neuen Wirklichkeit bis hin zum Versuch des Neubaus von Rechtsgütersystemen. Für die erstgenannte Haltung hat Ludwig Thoma2 uns die treffende literarische Karikatur in Gestalt jenes Königlichen Landgerichtsrats Alois Eschenberger hinterlassen, von dem gesagt wird: „Eine Lokomotive war ihm weiter nichts als eine bewegliche Sache, welche nach Bayrischem Landrechte auch ohne notarielle Beurkundung veräußert werden konnte, und für die Elektrizität interessierte er sich zum ersten Mal, als er dieser modernen Erfindung in den Blättern für Rechtsanwendung begegnete . . . " Auf der anderen Seite gab es Juristen, welche sich den Phänomenen der „Modernisierung" bereitwillig, geradezu mit der Begeiste1 Zum Thema „Historische Rechtsschule und moderne Gesellschaft" finden sich Erwägungen bei Franz Wieacker, Pandektenwissenschaft und industrielle Revolution, in: Industriegesellschaft und Privatrechtsordnung, 1974, S. 55 ff; Hans Schlosser, Grundzüge der Neueren Privatrechtsgeschichte, 4. Aufl. 1982, S.91 f. 2 Ludwig Thoma, Der Vertrag, entnommen dem Auswahlband: Der Postsekretär im Himmel und andere Geschichten, München 1966, S.211 f.
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rung des Fortschrittsglaubens zuwandten. Die auffälligsten Vertreter dieser Richtung sind in Deutschland Josef Kohler und Karl Gareis. Des Rechtsgelehrten Karl Gareis zu gedenken besteht dringender Anlaß. Ahnlich wie der einst berühmte Universaljurist Josef Kohler in der heute schon fast dogmatisierten Wissenschaftsgeschichte ein Fußnotendasein führt3, droht Karl Gareis - der zu Lebzeiten in die allgemeinen Enzyklopädien gelangt war4 - eine Verdrängung aus dem wissenschaftsgeschichtlichen Bewußtsein. Wieackers5 Personenverzeichnis kennt ihn nicht (auch Kohler nur in einer beiläufigen Fußnote), auch in Kleinheyers und Schröders schöner juristischer Ahnengalerie6 fehlt sein Bild. Daß Gareis durch das grobmaschige Netz einer über Jahrhunderte erstreckten Wissenschaftsgeschichte fällt, hat manche Gründe - einer davon liegt in der Anlage dieser Disziplin selbst. Um es mit einem Satz zu sagen: Solange „Privatrechtsgeschichte" hauptsächlich die Geschichte von methodischen Positionen und von Systemkonstrukten samt der ihnen zugrundeliegenden und der von ihnen ausgehenden geistigen Einflüsse ist, hat jeder einigermaßen schreibgewandte und hartnäckige Verkünder einer idée fixe, mag er auch im Rechtsleben keine bleibende Spur hinterlassen haben, größere Chancen als der fruchtbarste Arbeiter auf dem juristischen Problemfeld seiner Zeit7. Die Bedeutung von Karl Gareis, der wie Kohler*, aber nicht in dem gleichen extensiven Sinne Universaljurist war, mit Kohler - zeitlich noch vor ihm beginnend - zum führenden Theoretiker der Persönlichkeitsund Immaterialgüterrechte wurde und der auch zu den bedeutendsten Handelsrechtlern zählt, kann im folgenden kurzen Beitrag nicht umfassend gewürdigt werden. Der Anfang soll mit einer Betrachtung zu Gareis' Auffassung von der Rechtsgeschichte gemacht werden, verbunden mit einer auf dieses Thema hin geordneten biographischen Skizze.
3 Siehe nun aber Günter Spendel, Josef Kohler. Bild eines Universaljuristen, Heidelberg 1983. 4 Ich verweise auf: Pierers Konversations-Lexikon, 7. Aufl., Stuttgart 1890, Bd. 6, S.215; Salmonsens Konversations-Lexikon, Kopenhagen 1920, Bd. IX, S.433; siehe auch noch den Großen Brockhaus, 15. Aufl., Leipzig 1930, Bd. 6, S. 772. 5 Franz Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl., 1967, S.474 Fn. 15. 6 Gerd Kleinheyer/Jan Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten, 2. Aufl. 1983. 7 Es ist wohl auch so, daß die Geschichte der juristischen Problemzusammenhänge und der Rechtstechniken schwerer zu bewältigen ist als die schöne Aufgabe, geistvolle theoretische Schriften über juristische Grundverständnisse in historischen Zusammenhängen zu geistreich interpretieren. Ein Beispiel für den wissenschaftsgeschichtlichen Erfolg fixer Ideen ist für mich der Platz, welchen die sog. Freirechtsschule nach wie vor zugewiesen erhält.
» Näheres Spendel (Fn. 3), S. 2 f.
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I. Zur Biographie Über das Leben von Karl Gareis sind wir durch autobiographische Zeugnisse sehr gut unterrichtet, nämlich durch eine noch von seinem Vater begonnene, dann von ihm selbst bis in das Jahr 1919 fortgesetzte Lebensbeschreibung', ferner durch einen Beitrag zu dem Band „Geistiges und künstlerisches München in Selbstbiographien" aus dem Jahre 191310. Der Vater, Wilhelm Gareis, war ein hochangesehener11 bayerischer Richter. Seine Laufbahn begann 1838 als Assessor am Kgl. Kreis- und Stadtgericht in Bamberg. 1841 wurde er Rat daselbst, 1844 Geheimer Sekretär im Bayerischen Justizministerium, 1847 Rat am Kgl. Appellationsgericht in Passau, 1854 Rat am Oberappellationsgericht in München. Ab 1860 fungierte Wilhelm Gareis als Direktor des Appellationsgerichts in Amberg, einer Stadt, die auch im Leben des Sohnes eine herausragende Rolle spielen sollte. Karl Gareis' Geburt (24.4.1844) fällt noch in die Bamberger Zeit. Die Jugend war in der Folge von einigen durch die Karriere des Vaters bedingten Wohnsitzwechseln betroffen (München - Passau - München - Amberg). 1860 zog die Familie nach Amberg, wo schon der Vater die Schulzeit verbracht hatte12 und wo nun auch der Sohn - im Jahre 1862 - die Schule mit dem „GymnasialAbsolutorium" abschloß13. Daß der nunmehr 18jährige, den Spuren des Vaters folgend, Jurist werden sollte, erschien selbstverständlich, „ich erinnere mich nicht, daß ich jemals daran gezweifelt oder darüber nachgedacht hätte"14. Man entschloß sich allerdings, den jungen Mann die in Bayern damals für das Jura-Studium notwendigen philosophischen Kurse im Lyzeum von Amberg hören zu lassen15. Gareis blieb also noch ein Jahr im Elternhaus, ehe er - durch die Lektüre der Institutionen Mackeldeys vorbereitet16 -
9 Lebenserinnerungen meines lieben Vaters und meiner selbst. Universitätsbibliothek München 8° Cod. ms. 475. Den Hinweis auf diese sehr aufschlußreiche Quelle und die Einsicht in eine Abschrift verdanke ich Herrn Eduard Wittmann, Gut Grub/Grafenwöhr. Die Lebenserinnerungen sind auch nachgewiesen bei Jens Jessen, Die Selbstzeugnisse der deutschen Juristen. Erinnerungen, Tagebücher und Briefe. Eine Bibliographie. Frankfurt/ Bern 1983, S.48 Nr. 329. Die Lebenserinnerungen brechen 1918 ab. Bei den folgenden Zitaten habe ich die Schreibweise in geringfügigem Ausmaß modernisiert. 10 Hrsg. W. Zils, München 1913. " Wilhelm Gareis erhielt 1868 den bayerischen Kronorden, Lebenserinnerungen, S. 485. 12 Lebenserinnerungen, S. 39-102. 13 Lebenserinnerungen, S. 388. 14 Lebenserinnerungen, S. 396. 15 Lebenserinnerungen, S. 396 f. " Lebenserinnerungen, S.402.
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im WS 1863/64 das Studium der Rechte in München begann. Er bezog eine ruhige Wohnung in der Schellingstraße, von wo man aus dem Fenster „nur über Wiesen und Felder bis Feldmoching und Milbertshofen" blickte17, hörte die Pandektenvorlesung des berühmten Windscheid („äußerst lebhaft im Vortrage")18, fühlte sich aber dennoch nicht so recht wohl an der Isar1'. Im Fasching 1864 vergnügte er sich freilich so ausgiebig, daß ihm vom Tanzen nicht selten die Füße schmerzten und er auch schon einmal in Windscbeids Kolleg zu spät erschien20. Das Sommersemester 1864 sieht den Studenten noch in München, wo er u. a. das Deutsche Privatrecht bei Paul Roth20" hörte. Zum Winter 1864/65 aber wechselte Gareis nach Heidelberg, wo er ein fröhliches Studentenleben genoß21. „Aber auch an die Arbeit wollte ich ernsthaft gehen!"22 So hörte er die Pandekten bei Vangerow, wo er sie besser verstand als bei Windscheid: „Letzterer (Vangerow) ist zweifellos ein viel besserer Lehrer als der große Windscheid gewesen; aber Windscheid ging auf die Streitfragen in der Vorlesung selbst ein und erörterte darin die ausschlaggebenden Quellenstellen eingehend, dies tat Vangerow nicht, er verwies nur auf sein Buch, das alle Controversen weitläufig behandelte, und er erreichte damit, daß die Vorlesung selbst klarer und leichter faßlich wurde. Was Windscheid in seiner raschen lebhaften Redeweise unter Heranziehung vieler Quellenbelege als Irrtümer ausführlich nach- und zurückwies, das tat Vangerow kurz ab mit den Worten: , Ab weichend von meiner Ansicht ist ein ganzer cumulus von Wunderlichkeiten behauptet worden'."23 In Heidelberg hörte Gareis ferner bedeutende Rechtsgelehrte wie Bluntschli und Mittermaier, der - beinah 80jährig - noch über interessante Strafrechtsfälle („causes célébrés") las24. Das SS 1885 verbrachte Gareis wiederum in München - ohne Begeisterung, denn weder die Zivilprozeßvorlesungen bei Hieronymus von Bayer noch die auf skandinavische Rechtszustände zugerichtete „Deutsche Rechtsgeschichte" Konrad Maurers vermochte ihn zu fesseln25. Lebenserinnerungen, S. 410/411. Lebenserinnerungen, S. 411 ; Vorlesungsnachschrift U B München, 4° Cod. ms. 937, 3. " Lebenserinnerungen, S. 411, 416. 20 Lebenserinnerungen, S.422. 201 Vorlesungsnachschrift U B München, 4° Cod. ms. 937, 6. 21 Lebenserinnerungen, S. 428 ff. 22 Lebenserinnerungen, S.430. 23 Lebenserinnerungen, S.431, 432; Vorlesungsnachschrift von Vangerows Pandektenkolleg 4° Cod. ms. 937, U B München. 24 Lebenserinnerungen, S. 433. 25 Lebenserinnerungen, S. 442, 443. 17 18
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So wundert es nicht, daß der nach Nahrung dürstende Geist eine neue Fakultät suchte und fand: Zum WS 1865/66 ging es nach Würzburg, wo die Entscheidung für die wissenschaftliche Laufbahn fallen sollte. In der Stadt am Main fühlte sich Gareis stark von dem damals 30jährigen Felix Dahn angezogen26, eine Lebensfreundschaft wurde begründet. Ferner war Gareis viel mit dem als Rechtspraktikant gerade dem Studium entwachsenen Lothar Seuffert zusammen27. Das Beispiel Seufferts wurde zum Signal für eigene wissenschaftliche Arbeit: Als bekannt wurde, Seuffert habe die letztjährige von der Würzburger Fakultät gestellte Preisfrage gelöst, entschloß sich Gareis, es dem Freunde im Jahre 1866 gleichzutun28. Ausgegeben war für das genannte Jahr das Thema „Die Theorien vom juristischen Wesen des Wechsels". Der junge Wissenschaftler arbeitete intensiv. Die Beschäftigung mit der Preisfrage überschnitt sich mit der Vorbereitung auf das Examen29. Hinzu kamen diverse, vom Krieg des Jahres 1866 ausgelöste Unruhen30. All dies hinderte Gareis nicht daran, das sogenannte theoretische Examen, also die damals in Bayern noch gebräuchliche UniversitätsSchlußprüfung, mit der Note „sehr gut" abzulegen31 und zur Preisfrage eine Arbeit zu liefern, die schließlich von der Würzburger Fakultät als „glückliche Lösung" akzeptiert wurde32. Gareis kehrte als Rechtspraktikant nach Amberg zurück, blieb aber mit Würzburg in Verbindung. Dort nutzte er die mit der Preisarbeit errungene Gunst einer unentgeltlichen Promotion33. Das Promotionsverfahren erforderte damals vier Leistungen: Das schriftliche Rigorosum (Quellenauslegungen aus dem Corpus Juris Civilis und Canonici), das mündliche Rigorosum, eine gedruckte Dissertation und schließlich die feierliche Disputation über Thesen, die im Druck vorzulegen waren34. Die Dissertation schöpfte Gareis aus seiner Preisschrift („Die Creationstheorie. Eine wechselrechtliche Kritik")35. Mit der feierlichen Disputation seiner 24 Thesen am 14.3.1868 36 war der Grad eines „Dr. iuris utriusque" erworben. Die Vorbereitungen des Rechtspraktikanten auf den „Staatskonkurs" - das bayerische Assessorexamen - verband Gareis 26 27 28 29 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Lebenserinnerungen, S. 448, 449, 450. Lebenserinnerungen, S.449; Selbstbiographie (Fn. 10), S. 104. Lebenserinnerungen, S. 451. Lebenserinnerungen, S.462, 463. Beschrieben in den Lebenserinnerungen, S. 456-461. Lebenserinnerungen, S. 469. Lebenserinnerungen, S. 478. Lebenserinnerungen, S. 451. Lebenserinnerungen, S. 479. Würzburg 1868; siehe Lebenserinnerungen, S. 480. Ein Druck der Thesen findet sich in den Lebenserinnerungen, S. 480 a-g.
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mit weiteren wissenschaftlichen Arbeiten. Dabei scheinen die Preisarbeit und ihr Ergebnis das Interesse für das Handelsrecht weiter genährt zu haben37 - der Weg des „Handelsrechtlers" Gareis war vorgezeichnet. Zur Assessor-Prüfung im Jahre 1869 mußte sich Gareis nach Bayreuth begeben, wo er den „Staatskonkurs" spielend und mit glänzendem Erfolg bewältigte38. Das Selbstvertrauen des jungen Juristen, aber auch die Einstellungen und Anforderungen der Zeit werden aus folgender Schilderung der Bayreuther Tage deutlich3': „es war - trotz der Prüfung - recht angenehm und heiter zu leben in Bayreuth: da ich mit den schriftlichen Arbeiten des Vormittags bald fertig war, genoß ich stets auch einen fröhlichen Wein-Frühschoppen, und da ich beim Regierungspräsidenten Baron Lerchfeld und Familie Besuch gemacht hatte, wurde ich zu mehreren Tanzvergnügungen... eingeladen und tanzte innerhalb der Woche, während welcher das schriftliche Examen stattfand, in 3 bis 4 Nächten urfidel." Nun also winkte eine sichere Richter-Karriere nach des Vaters Vorbild, doch Gareis zog es in die Wissenschaft. „Meinem Wesen entsprach die Betrachtung und Darstellung des ,Für* und ,Wider' der Entscheidung mehr als die Entscheidung selbst."40 So kehrte der 25jährige nach Würzburg zurück, um sich zu habilitieren, ausgestattet mit 50 Gulden monatlich vom Vater und der Zusicherung, binnen 5 Jahren doch noch in die bayerische Gerichtspraxis zurückkehren zu können41. Eng gestaltete sich in Würzburg das Verhältnis zu Felix Dahn, dessen Einfluß auf seine Geistesentwicklung Gareis dankbar anerkennt42. Gareis' Spezialfach blieb bei aller Weite der geistigen Interessen zunächst das Handels- und Wechselrecht43, und so fertigte er auch die Habilitationsschrift auf diesem Gebiet, nämlich über die Problematik der kaufmännischen Rügepflicht44. Im August 1870 erfolgte seine Ernennung zum Privatdozenten45. Doch hatte sich Gareis schon zuvor, und zwar außerhalb der Universität, der Lehrtätigkeit zugewandt: Im Winter 1869 kündigte er ein privates Repetitorium im Pandektenrecht für Fortgeschrittene an, das 57 Uber die juristische Natur der Prämiengeschäfte, Sibenhaars Archiv, Bd. 18, S. 123 ff. 38 Als Erster des Staatskonkurses 1869, siehe Lebenserinnerungen, S. 492. 39 Lebenserinnerungen, S.490, 491. 40 Lebenserinnerungen, S.495. 41 Lebenserinnerungen, S.496. 42 Selbstbiographie (Fn. 10), S. 104; Lebenserinnerungen, S.498. 43 Lebenserinnerungen, S.499. 44 Das Stellen zur Disposition nach modernem deutschem Handelsrecht, Würzburg 1870. 45 Selbstbiographie (Fn. 10), S. 104 f; Lebenserinnerungen, S. 505.
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ihm 360 Gulden einbrachte46; im Sommer darauf nahm er auch noch das Handelsrecht in das Programm seines Repetitoriums auf. Davon, daß die Würzburger Fakultät über diese Konkurrenz verärgert gewesen wäre, lesen wir nichts. Die Ernennung zum Privatdozenten wurde durch den deutsch-französischen Krieg überschattet, der mit der Kriegserklärung Frankreichs am 19.7.1870 begonnen hatte. Gareis, der schon 1866 wegen Kurzsichtigkeit militärfrei geblieben war47, fand als Delegierter des Unterfränkischen Hilfsvereins vom Roten Kreuz Verwendung. Mit dem von ihm geleiteten Transport von Lazarettgegenständen geriet er auch in die Kampfgebiete - Anlaß zu „Feldzugserinnerungen", die unter dem Namen „Talemann" in der Presse erschienen48. Vom WS 1870/71 bis SS 1873 währte die Lehrtätigkeit des Privatdozenten in Würzburg 49 , die nun das Handels- und Wechselrecht, das Bank- und Börsenrecht favorisierte50, sich aber auch dem Kirchenrecht51 und dem Völkerrecht 52 zuwandte und sogar das Pandektenrepetitorium - nun als Teil des Lehrprogramms der Fakultät53 - und das Deutsche Privatrecht54 umfaßte. Den literarischen Ertrag der Würzburger Jahre bildet - außer Preisschrift, Dissertation und Habilitationsschrift - vor allem die Untersuchung über „Die Verträge zugunsten Dritter" 55 , außerdem ein Aufsatz über „Modernes Genossenschafts- und Gesellschaftsrecht" 56 . Auf Rufe brauchte Gareis nicht lange zu warten. Die ersten kamen 1873 aus Bern und Prag. Der begeisterte Bergwanderer wählte die Schweiz, wohin er zum WS 1873/74 mit seiner soeben angetrauten Lebenserinnerungen, S. 504. Selbstbiographie (Fn. 10), S. 105. 48 Dieser „nom de guerre" beruhte auf einem Satzfehler der „Neuen Würzburger Zeitung", deren Setzer bei einem mit „Jedermann" beginnenden Satz statt dessen „Talemann" gelesen hatte (Lebenserinnerungen, S. 506). Von da an blieb Gareis, da man an die Existenz eines „Talemann" glaubte, bei diesem Namen für seine Berichte. Vgl. mit diesen Begebenheiten die Humoreske von Egon Friedeil „Haresu" (Neudruck in: Wozu das Theater? München 1969, S. 147). 4 ' Selbstbiographie (Fn. 10), S. 106. 50 Lebenserinnerungen, S. 513; Selbstbiographie (Fn. 10), S. 106. Die Vorlesung Bankund Börsenrecht wurde im SS 1872 von ca. 100 Hörern (nach Gareis' Einschätzung) besucht, vgl. Lebenserinnerungen, S. 526. 51 WS 1871/72, 5 Wochenstunden, 6 Hörer! (Lebenserinnerungen, S.524). 52 SS 1872, 4 Wochenstunden, 6 Hörer (Lebenserinnerungen, S. 526). 53 SS 1872, 5 Wochenstunden, 16 Hörer; auch SS 1873, vgl. Lebenserinnerungen, S. 526, 540. 54 WS 1872/73, Lebenserinnerungen, S.536. 55 Die Verträge zugunsten Dritter. Historisch und dogmatisch dargestellt, Würzburg 1873. 56 Zeitschrift für Gesetzgebung und Rechtspflege in Preußen, 1871, S. 574-653. 46 47
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jungen Frau57 erwartungsvoll zog. Es gefiel ihm dort ganz gut, wenngleich eine gewisse Zurückhaltung von vornherein spürbar wird: „Im Stillen dachte ich mir freilich: ich werde nicht lebenslänglich in Bern, an der kleinen Universität bleiben.. ." 58 . Gareis las hauptsächlich Handels- und Wechselrecht, ferner Deutsches Privatrecht (5 Hörer im WS 1873/74) und - zum ersten Mal - die Rechtsenzyklopädie, mit der die Studienanfänger in die Rechtswissenschaft eingeführt werden sollten und in der vielfach noch naturrechtliche Gedanken weiterlebten59 (SS 1874, 17 Hörer; SS 1875, 25 Hörer). Auch ein kirchenrechtliches Kolleg60 bot Gareis an - das Fach zog durch das 1. Vaticanum die besondere Aufmerksamkeit auf sich. Die Verhältnisse in Bern befriedigten Gareis - jedenfalls aus der autobiographischen Rückschau - letztlich nicht, was an der damals geringen Größe der Universität (er schätzt 550» Studenten)61, aber auch an den politischen Stimmungen lag62; „kurz, ich sagte mir, es wäre Zeit, daß ich fortkäme. . ." 63 . Die Gelegenheit dazu ergab sich schon bald. Eine Anfrage aus Greifswald wurde abgelehnt64, hingegen der im Juli 1875 ergangene Ruf an die Großherzoglich-Hessische Landesuniversität Gießen angenommen65. In Gießen, dem - wie er es nannte - „Lahn-Athen", verbrachte Gareis 12 außerordentlich fruchtbare66, geschäftige und auch schöne Jahre, in denen sich sein wissenschaftliches Profil formte. Für die vielen interessanten Einzelheiten aus dem Leben dieser Zeit, die in den „Erinnerungen" wiedergegeben sind, ist hier nicht der Platz. Vorweg ist darauf hinzuweisen, daß Gareis auch außerhalb der Universität alsbald eine bedeutende Rolle für den oberhessischen Raum spielte. Von 1878-1881 vertrat er als Abgeordneter den Wahlkreis Alsfeld-Lauterbach-Schotten im Deutschen Reichstag67, den er im Wett57 Clementine Rothmaier, Tochter des Münchener Notars Clemens Rothmaier, siehe Lebenserinnerungen, S. 519 ff, 534 ff. 58 Lebenserinnerungen, S. 552. 59 Dazu Gerhard Köhler, Gießener juristische Vorlesungen, Gießen 1982, S. X C V f . M Literarisches Produkt dieses Interesses ist das später mit Philipp Zorn herausgegebene Werk „Staat und Kirche in der Schweiz", 2 Bde, Zürich 1877/78 (siehe Lebenserinnerungen, S. 555, 568, 569). Interessant in diesem Zusammenhang auch Gareis' in Gießen entstandene Schrift „Irrlehren über den Culturkampf", Berlin 1876. 61 Lebenserinnerungen, S. 577. 62 Es ging um die Bewertung des Krieges von 1870/71 und um kirchenpolitische Fragen, Lebenserinnerungen, S. 577. 63 Lebenserinnerungen, S. 577. 64 Lebenserinnerungen, S. 578. 65 Lebenserinnerungen, S. 583. " Auch nach eigener Einschätzung, Selbstbiographie (Fn. 10), S. 106. 67 Lebenserinnerungen, S.603; Selbstbiographie (Fn. 10), S. 107.
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bewerb mit dem „Großgrundbesitzer und Standesherrn", dem Grafen von Solms-Laubach gewonnen hatte68. In Berlin trat er der nationalliberalen Fraktion bei69, erlebte die Lesungen und Abstimmungen über das Sozialistengesetz70, über das er auch einen Kommentar schrieb71, und ergriff nicht selten im Plenum das Wort (über Sklavenhandel, Zollverein, Kolonialpolitik, Konsulargerichtsbarkeit, Gewerbefreiheit, Unfallversicherung, u. a. m.)72. Auch in Kommissionen finden wir ihn tätig73. Während der Zeit als Abgeordneter, als welcher er damals noch keine Diäten bezog74, blieb er Professor in Gießen und hielt seine Vorlesungen, blieb auch - die Bibliothek des Reichstags nutzend - schriftstellerisch aktiv. Schließlich kehrte Gareis nach der „sehr anstrengenden" Reichstagsperiode im Jahre 1881 gerne wieder (ganz) „nach dem ruhigen Gießen" zurück75. Das erwünschte Leben eines ganz seinen Verpflichtungen lebenden Professors beschreibt Gareis wie folgt76: „Das Leben eines deutschen Universitätsprofessors ist im Grunde genommen an allen Hochschulen Deutschlands ganz gleich: . . . e r hält seine Vorlesungen, das ist die Hauptsache und soll sie auch sein, dazu bereitet er sich zu Hause vor, liest also die einschlägige Literatur sorgfältig und - das ergibt [sich] eigentlich schon hieraus von selbst, schreibt auch selber in seinem Fache bald mehr bald weniger. Bei ausgedehnter Schriftstellerei, zu welcher ihn manchmal das Streben, vorwärts zu kommen, manchmal Ruhmsucht, manchmal auch Geldsucht veranlaßt, hängt der Professor freilich vielfach von Bibliotheken, der Instituts- oder Anstaltsvorsteher, manchmal noch von der Anstalt und anderen Dingen a b . . . So war auch mein Leben der Hauptsache nach ganz dasselbe an allen 4 oder 5 Hochschulen, an denen ich als Dozent wirkte. Das große, das ideale Lebensziel - die Erforschung und Festigung der Gerechtigkeit unter den Menschen - ist durch das tagtägli" Lebenserinnerungen, S. 603. " Einzelheiten in den Lebenserinnerungen, S. 604-620. 70 Lebenserinnerungen, S.612. Gareis stimmte mit „Ja", hatte auch ein Amendement zugunsten der Erwerbs- und Wirtschaftsgenossenschaften durchgesetzt. Seinen Standpunkt zum Sozialismus verdeutlich Gareis in der Schrift: Über die Bestrebungen der Socialdemokratie, Gießen 1877. 71 Das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie, Annalen des Deutschen Reichs, 1879, S. 285-357 (mit Verzeichnissen der aufgrund des Gesetzes verbotenen Vereinigungen und Schriften!). 72 Einzelheiten: Lebenserinnerungen, S. 612-614. 75 Gareis betont seine Rolle beim Entwurf der Gesetze über die Sozialversicherungen, Selbstbiographie (Fn. 10), S. 107. 74 Lebenserinnerungen, S. 620. 75 Lebenserinnerungen, S.621; vgl. Selbstbiographie (Fn. 10), S. 108. 76 Lebenserinnerungen, S. 583, 584.
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che Kleinstreben in der Erfüllung der erwähnten Berufsaufgaben dem Professor jeder Fakultät vielfach verdeckt oder beiseite geschoben, dem richtigen Rechtslehrer steht es aber doch vor Augen - immer!" Gareis genoß die Beschaulichkeit auch nach der Rückkehr aus Berlin nicht allenthalben. Schon 1883 wurde er, der soeben einen Ruf nach Marburg erhalten hatte77, zum Kanzler der Universität Gießen ausersehen, zu einer Position, die mit dem heutigen Kanzleramt kaum vergleichbar ist78. Gareis lehnte nach einigem Schwanken den Marburger Ruf ab und blieb als Kanzler in Gießen; seine Vorlesungen setzte er gleichwohl fort. Die Lehrtätigkeit in Gießen bewegt sich auf der bisherigen thematischen Linie, freilich nicht ohne bemerkenswerte Erweiterungen79. Gareis las regelmäßig die Rechtsenzyklopädie 80 , einige Male auch die Rechtsphilosophie und häufig das Völkerrecht. Auf zivilistischem Felde setzte er mit dem Versuch ein, das Deutsche Privatrecht mit dem Handels-, Wechsel- und Seerecht zu verbinden81, gab das Unterfangen jedoch zugunsten einer Trennung von Allgemeinem Privatrecht und Handelsrecht wieder auf82. Zusätzlich wurden Bank- und Börsenrecht angeboten. Häufige Praktika und Übungen im Privat- und Handelsrecht standen den Vorlesungen zur Seite. Als wesentliche Erweiterung des Programms ist die Vorlesung über Urheberrecht 83 zu nennen, die Gareis' Hinwendung zu den Problemen neuer gesellschaftlicher Entwicklungen bezeugt, ferner die Vorlesungen über Verfassungs- und Verwaltungsrecht des Großherzogtums Hessen84 und über Allgemeines Staatsrecht85. Trotz der vielfältigen Tätigkeiten außerhalb des eigentlichen Professorendaseins zeichnen sich die zwölf Gießener Jahre durch eine außergewöhnliche literarische Fruchtbarkeit aus. Was Gareis für die deutsche Rechtswissenschaft bedeutet, ist in jener Zeit entstanden oder grundgelegt. An Lehrbüchern publizierte Gareis den „Grundriß zu Vorlesungen Lebenserinnerungen, S. 623. Lebenserinnerungen, S. 623: „Nach den z. Z. bestehenden Einrichtungen ist letzterer Posten eine lebenslängliche Stellung an der Spitze der Finanzverwaltung der Universität und zwar ist der cancellarius magnificus gleichen Ranges mit dem rector magnificus, des Vertreters der Universität bei der Regierung und umgekehrt der Vorsitzende großherzoglicher Prüfungs- und anderer Kommissionen, und Mitglied der I. Kammer des Landtags des Großherzogtums." 79 Die nachfolgenden Angaben entnehme ich dem Nachdruck aus den Vorlesungsverzeichnissen bei: Gerhard Köhler, Gießener juristische Vorlesungen, Gießen 1982, S. 240 ff. 80 Im SS 1888 auch als „Rechts-Encyklopädie und Methodologie" angekündigt. 81 WS 1875/76 und WS 1876/77. 82 Ab WS 1877/78. 83 SS 1880. 84 SS 1882, 1884. 85 SS 1884, 1887. 77 78
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über das Deutsche bürgerliche Recht" 86 , das Lehrbuch „Das Deutsche Handelsrecht" 87 , die „Enzyklopädie und Methodologie der Rechtswissenschaft" 88 und die „Institutionen des Völkerrechts" 89 ; ferner bearbeitete er Teile in Marquardsen's Handbuch des Öffentlichen Rechts90. Von den wissenschaftlichen Einzeluntersuchungen sind hervorzuheben: „Das juristische Wesen der Autorrechte, sowie des Firmen- und Markenschutzes" 91 , „Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate, insbesondere im Deutschen Reiche" 92 , „Das Erfinderrecht von Beamten, Angestellten und Arbeitern" 93 , „Die Klagbarkeit der Differenzgeschäfte"' 4 , sowie einige völkerrechtliche Abhandlungen95. Auch die Rechtsgeschichte kam in Gießen nicht zu kurz, wie ein „Beitrag zum Handelsrecht des Mittelalters mit besonderer Berücksichtigung auf die Lehre von den Inhaberpapieren" 9 ' beweist. Zu all dem kommt noch vieles andere hinzu, etwa ein Kommentar zu dem soeben in Kraft getretenen deutschen Patentgesetz97. Viele Lexikonartikel, die Edition der „Deutschen Reichsgesetze in Einzelabdrucken" 98 , um nur einiges zu nennen, vervollständigen das außergewöhnliche schriftstellerische Programm. Deutlich läßt die Gießener Zeit noch eine weitere Komponente in Gareis' Geistesart hervortreten: das allgemeine historische Interesse, das in der Oberhessischen Landschaft entfacht wurde99. An der Gründung des „Oberhessischen Vereins für Lokalgeschichte" (später „Oberhessischer Geschichtsverein") finden wir ihn, der sich die historischen Denkmäler des Landes durch häufige Wanderungen erschlossen hatte,
Mit Einschluß des Handels-, Wechsel- und Seerechts, Gießen 1877. 1. Aufl. Berlin 1880, 8. Aufl. 1909. 88 1. Aufl. Gießen 1887, 5. Aufl. (bearb. Leopold Wenger), Gießen 1920 (oder 1921! Umschlag- und Innentitel stimmen nicht überein). 89 1. Aufl. Gießen 1887, 2. Aufl. 1901, dazu ein Anhang Gießen 1912. 90 „Allgemeines Staatsrecht" in Bd. 1 Hlbbd. 1, Freiburg/Tübingen 1883 und „Staatsrecht des Großherzogtums Hessen" in Bd. 3, 1884. " Archiv für Theorie und Praxis des Allgemeinen Deutschen Handels- und Wechselrechts, Bd. 35 (1877), S. 185-210. 92 Zeitschrift für Gesetzgebung und Praxis auf dem Gebiet des Deutschen öffentlichen Rechts, Bd. 3 (1877), S. 137-153. 93 Berlin 1879. 94 Berlin 1882. 95 Darunter: Das heutige Völkerrecht und der Menschenhandel (zum 50jährigen Doktorjubiläum von Bluntschli), Berlin 1879. % Zeitschrift für das gesamte Handelsrecht, Bd. 21 (1876), S. 349-383. 97 Das Deutsche Patentgesetz, erläutert von Dr. Carl Gareis, Berlin 1877. 98 Im Verlag Emil Roth, Gießen. 99 Vgl. die Schilderungen in den Lebenserinnerungen, S.589, 594-601. 86 87
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beteiligt100. Dem (historischen) genius loci huldigte Gareis mit einer Biographie über seinen Vorgänger Birnbaum101 sowie mit einer Arbeit über „Die Errungenschaftsgemeinschaft in den althessischen Gebietsteilen der Provinz Oberhessen" 102 . Gareis - der Kanzler, Professor und ehemalige Reichstagsabgeordnete - war schließlich in Gießen ein stadtbekannter Mann, der bei aller Arbeit und Geschäftigkeit auch dem geselligen Leben zuneigte103: „Ich führte . . . auch das geschilderte Professoren- und Schriftstellerleben in behaglicher Ruhe weiter, stand früh auf, arbeitete zuerst für mich literarisch, dann las ich Kolleg, dann war ich Kanzler und hielt Examina und Kommissionssitzungen. Abends saß ich harmlos heiterer Gesellschaft entweder bei Andreas Weidig in der Sonnenstraße am ,nationalliberalen Tisch' oder im ,Hessischen Hofe', Ecke der Alicenstraße, beim Abendschoppen, wie auch der am Bahnhof in Gießen stationierte Schutzmann meinen mich auf einer Geschäftsdurchreise besuchenden Freunde N . A . Glaser . . . auf dessen Frage: ,Wissen Sie, wo der Herr Kanzler Gareis wohnt?' dienstfertig antwortete: Jawohl, Alicenstr. Nr. 12, aber jetzt - es ist abends 7 Uhr - sind der Herr Kanzler im Hessischen Hofe!'." Ehe dieses beschauliche Leben zur Gewohnheit werden konnte, erreichten Gareis im Jahre 1888 ein zweiter Ruf nach Marburg und ein Ruf nach Königsberg. Daß er nach Königsberg ging - als Nachfolger seines Lehrers und Freundes Felix Dahn104 - , erregte großes „Aufsehen an der Lahn und im ganzen Hessenlande"105. Der Wechsel nach Königsberg versetzte den nunmehr Vierundvierzigjährigen in eine völlig andere Welt, an die er sich aber augenscheinlich rasch gewöhnte. Vierzehn Jahre, nämlich von 1888-1902, wirkte er an der Universität Kants, dessen Geist er sich verpflichtet fühlte106. Er begann mit neuem Schwung; „besonders heiter, frisch und mutig vor
100 Siehe Lebenserinnerungen, S. 601. Einen Beitrag lieferte er zum III.Jahresbericht des Oberhess. Vereins für Lokalgeschichte, Gießen 1883, S. 5 3 - 7 2 : „Römisches und Germanisches in Oberhessen." Der Unterschied zwischen Gareis und Kohler wird in nichts deutlicher als in der Art der allgemeinhistorischen Interessen: Während Kohler durch alle Kulturen und Zeiten schweift, läßt sich Gareis von der konkreten Anschauung der Landschaft, in der er lebt, inspirieren. 101 Joh. Michael Franz Birnbaum, Ein Cultur- und Lebensbild, Gießen 1878. 102 Gießen 1885 (Programm Sr. Königl. Hoheit dem Großherzoge von Hessen und bei Rhein Ludewig IV zum 25. August 1885 gewidmet von Rector und Senat der Landesuniversität). 103 Lebenserinnerungen, S.647f. 104 Selbstbiographie (Fn. 10), S. 108; Dahn ging nach Breslau. 105 Lebenserinnerungen, S. 654. 106 Lebenserinnerungen, S.660.
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allem ging ich in Königsberg an die meiner wartende herrliche Berufsarbeit, die Vorlesungen"106. Diese betrafen, wie gewohnt, Handels-, Wechsel- und Seerecht, Bank- und Börsenrecht, die Rechtsenzyklopädie, Deutsches Privatrecht, aber auch (nun permanent) die Deutsche Rechtsgeschichte107, ferner Völkerrecht108, Rechtsphilosophie109 und Staatsrecht110. Der Tageslauf wird uns wie folgt geschildert: Den Vormittag hielt sich der Gelehrte für literarische Arbeiten frei, der Nachmittag war dem Kolleg und seiner Vorbereitung gewidmet: „und dann kam ich müde . . . zum Abendschoppen, den ich gerne mit gemütlichen Kollegen einnahm"; gegen Viertel vor acht fand er sich dann zu Hause ein, wo nicht selten seine Frau schon zum Aufbruch zu einer Abendgesellschaft drängte111. Die Königsberger Jahre empfand Gareis als besonders fruchtbar112. Sie fallen in die Zeit des Umbruchs des deutschen Zivilrechts, nämlich der forcierten Trennung des historischen Rechtsstoffs von der „Dogmatik". Von Königsberg aus erlebte Gareis den Fortgang der Arbeiten am BGB, an denen er nicht beteiligt wurde, und dessen Inkrafttreten. Ähnlich wie bei der Umwälzung des Familienrechts durch das 1. Eherechtsreformgesetz im Jahre 1977 stellten sich auch damals Professoren dem Wunsche einer breiteren juristischen Öffentlichkeit nach Information über die Neuerungen. So sehen wir auch Gareis bei Vorträgen vor Rechtsanwälten und Regierungsbeamten113, vor der Königsberger Kaufmannschaft114, ja sogar vor der Juristischen Gesellschaft in Wien über die neuen Kodifikationen115. Natürlich mußte nun „das gesamte Privatrechtskolleg umgestaltet" werden116, das Bürgerliche Gesetzbuch wurde Gegenstand einer eigenständigen Vorlesung117, ohne die Lehrveranstaltung „Deutsches Privatrecht" zu verdrängen118 - das Nebeneinander der Vorlesun107
Lebenserinnerungen, S.661, 725, 750. Lebenserinnerungen, S. 725, 739. 109 Lebenserinnerungen, S. 739. 110 Lebenserinnerungen, S. 750. 111 Lebenserinnerungen, S. 661 f; das gesellschaftliche Leben in Königsberg muß sehr rege gewesen sein: „ . . . Kolleg reiht sich an Kolleg, aber auch Einladung an Einladung, Abendgesellschaft an Abendgesellschaft..." (Lebenserinnerungen, S.697; vgl. auch S. 725, 748, 749, 773, 789 und vor allem S. 698 - Professoren-Kegelabende, Montagskränzchen, Professorenabende mit Bier und Vortrag). 112 Lebenserinnerungen, S. 666. 113 Lebenserinnerungen, S. 666. 114 Lebenserinnerungen, S. 667, 786. 115 Lebenserinnerungen, S.667, 786. 116 Lebenserinnerungen, S. 667. 117 Im SS 1900 vor Gareis mit 5 Wochenstunden angeboten, dazu Übungen, Lebenserinnerungen, S. 793. u » Siehe WS 1901/02, Lebenserinnerungen, S.822. 108
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gen über das B G B und das institutionengeschichtlich angelegte „Deutsche Privatrecht" dauerte ja noch bis in unsere Zeit11'. Äußere Höhepunkte der Königsberger Jahre waren Gareis' Rektorat (1893/1894) und seine Festrede zum 350. Universitätsjubiläum (1894)120, in der er einen rechtsenzyklopädischen Unterricht als Einleitung für das Rechtsstudium forderte121 - als Festredner sollte Gareis auch bei anderer Gelegenheit noch gesucht sein. Die literarischen Arbeiten der Königsberger Zeit bleiben an Bedeutung hinter den in Gießen entstandenen Publikationen zurück - die Konstituanten seiner wissenschaftlichen Welt waren bereits dort herausgebildet. Außer Neuauflagen seiner früher entstandenen Bücher sind insbesondere mit Anmerkungen versehene Ausgaben des HGB 1 2 2 , ein Kommentar zum Allgemeinen Teil des BGB 123 , eine Studie über „Das Recht am menschlichen Körper" 124 , das Gutachten für den 26. Deutschen Juristentag (über das Recht am eigenen Bild, dazu später) sowie völkerrechtliche Beiträge zu erwähnen. Von besonderem Interesse erscheint die Zusammenfassung seiner Überlegungen zur Studienreform in einer kleinen Schrift „Uber die Einführung in das Studium der Rechtswissenschaft" (Berlin 1894). Hinzu kommen rechtshistorische Arbeiten zu Karl des Großen „Capitulare de villis"125. Die Zuwendung zu Zeit und Aktualität zeigt sich in einer Darstellung „Deutsches Kolonialrecht" 125 '. Die Karriere war mit alldem aber nicht an ihrem Ende. Schon zum Jahresende 1892 war ein Ruf nach Erlangen eingetroffen - der inzwischen achte - , dem Gareis allerdings nicht folgte126. Zu Beginn des neuen Jahrhunderts bahnte sich ein Wechsel nach Münster an. Das Preußische
119 Ich habe das „Deutsche Privatrecht" im SS 1966 und im WS 1967/68 in Bochum gelesen, seitdem den Stoff in die „Rechtsgeschichte" übernommen. Die Literaturgattung lebt noch fort in dem Buch von Heinrich Mitteis/Heinz Lieberich, Deutsches Privatrecht, 9. Aufl. 1981. 120 Lebenserinnerungen, S. 765, 766. 121 Selbstbiographie (Fn. 10), S. 108. 122 Für den Verlag C. H. Beck, 1. Aufl. 1897, sowie für den Verlag Emil Roth, Gießen, gleichfalls 1897. 123 Der Allgemeine Teil des BGB, erläutert von Karl Gareis, Berlin 1900, in: Biermann et al., Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch. 124 Festgabe der Juristischen Fakultät zu Königsberg für ihren Senior Johann Theodor Schirmer zum l . A u g . 1900, Königsberg 1900 (Reprint 1970), S.61-100. 125 Darunter: Bemerkungen zu Kaiser Karl's des Großen Capitulare de Villis, Germanistische Abhandlungen zum 70. Geburtstag Konrad von Maurers, Göttingen 1893, S. 2 0 6 - 2 4 7 ; weitere Arbeiten über das Kapitulare sind in den Lebenserinnerungen, S. 773 erwähnt. 1251 1. Aufl. Gießen 1889, 2. Aufl. Gießen 1902. 126 Lebenserinnerungen, S.753.
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Kultusministerium ging daran, die Akademie in Münster zu einer Universität umzugestalten; Gareis sollte dorthin wechseln und erster Dekan werden127. Doch kam der Beteiligung des Königsberger Gelehrten an der Fakultätsneubildung in Westfalen der Ruf nach München zuvor128 - mit zahlreichen Abschiedsfesten129 sagte die Familie Gareis dem geliebten Königsberg Lebewohl, um in die bayerische Heimat zurückzukehren. Als berühmter Rechtsgelehrter, dessen Werke auch im Ausland Verbreitung fanden130, kehrte der Achtundfünfzigj ährige in eine Stadt zurück, mit der ihn Jugend- und Studentenerinnerungen, aber auch unzählige Aufenthalte aus Anlaß von Reisen, familiären Ereignissen und auch Einladungen bei Hofe131 verbanden. In München sollte Gareis am 15.1.1923 fast 80jährig auch sein Leben beschließen. Bis ins hohe Alter blieb der Gelehrte wissenschaftlich tätig. Der Programmkanon der Vorlesungen weist verständlicherweise keine wesentlichen Neuerungen mehr auf. Gareis vollzog die Aufteilung des B G B in mehrere Vorlesungen mit132, auch läßt sich beobachten, daß das „Deutsche Privatrecht" zu einer „Geschichte des Deutschen Privatrechts" historisiert wurde133. In München erlebte Gareis zum ersten Mal wirklich große Auditorien mit zweihundert bis vierhundert Hörern 134 , deren Zahl mit dem Kriegsausbruch 1914 allerdings stark zusammenschrumpfte135. Der Kriegsausbruch und -ausgang sowie die anschließende Revolution in München erschütterten den betagten Mann zutiefst. Gleichwohl hielt er durch: Seine letzte akademische Vorlesung fand zum Ende des SS 1917 (also Ende Juli) statt, nachdem er im Kolleg öfters „unmerklich schwach und ohnmächtig geworden" war136. Die Münchener Jahre lassen sich - sieht man von den Kriegserschütterungen ab - als Zeit der Ernte verstehen. Wir finden Gareis als AdressaLebenserinnerungen, S. 793, 797. Lebenserinnerungen, S. 822. Ernennungsdekret vom 2 4 . 1 . 1 9 0 2 , siehe: Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München für das Jahr 1901/1902, München 1902, S.3. 125 Lebenserinnerungen, S. 824. 130 Das Handelsrecht erschien in russischer, italienischer und japanischer Übersetzung, die Enzyklopädie in einer englischen (in den USA). 131 Etwa im Jahre 1893, Lebenserinnerungen, S. 754. In der Münchener Zeit war Gareis dann häufiger zur Hoftafel geladen; Prinzregent Luitpold schätzte ihn sehr, siehe Lebenserinnerungen, S. 834, 841, 854, 917. 132 Vgl. Lebenserinnerungen, S. 831 (Bürgerliches Gesetzbuch I—III im SS 1902); S. 886 (Familien- und Erbrecht im WS 1909/10). 133 WS 1902/03, Lebenserinnerungen, S. 831, siehe auch S. 925. Gareis zog sodann die „Deutsche Rechtsgeschichte" und das „Deutsche Privatrecht" zu einer 7stündigen Vorlesung zusammen, vgl. die Münchener Vorl. Verz. SS 1913 u. 14. 134 Lebenserinnerungen, S. 831. 155 Vgl. Lebenserinnerungen, S.925, 933. 136 Lebenserinnerungen, S. 933. 127 128
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ten von Ehren (Titel und Rang eines wirklichen Geheimen Rats, Auszeichnung mit dem Bayerischen Kronorden, Eintragung in die Adelsmatrikel) und als Inhaber von ehrenvollen Ämtern (Dekan 1911/1912137, Rektor 1912/1913138, in dieser Eigenschaft Teilnahme am 25jährigen Jubiläum Kaiser Wilhelms II. in Berlin)139. Das Bild von der Erntezeit gilt auch für das wissenschaftliche Schrifttum. Gareis konnte den Erfolg insbesondere seines Handelsrechts, seiner erläuterten Ausgabe der Wechselordnung140 und seiner Enzyklopädie in weiteren Neuauflagen feiern. Nachhaltiger Einfluß war seinem noch in Königsberg entstandenem Gutachten für den Deutschen Juristentag 1904 in Innsbruck über das Recht am eigenen Bild141 beschieden, mit dem er auf das KunstUrhebergesetz vom 9.1.1907 einwirkte. Das Thema des Persönlichkeitsrechts und der Immaterialgüterrechte, deren Theorie er so entscheidend mitgeprägt hat, ließ ihn auch sonst nicht mehr los142. Von den Routinearbeiten der letzten Jahre sind ferner abzuheben: Die Arbeit „Vom Begriff Gerechtigkeit" in der Jubiläumsschrift für die Juristische Fakultät in Gießen143 sowie die Rede beim Antritt des Rektorats im Jahre 1912 über „Moderne Bewegungen in der Wissenschaft des deutschen Privatrechts"144, ferner die Arbeit über „Die Fortschritte des internationalen Rechts im letzten Menschenalter"145, wo auch der Errungenschaft der Persönlichkeitsrechte gedacht wird, auch die kritische Auseinandersetzung mit der Freirechtsschule in den „Blättern für Rechtsanwendung" 146 . Von Interesse ist auch noch der für die Münchener Hörer gedruckte „Grundriß für die Vorlesungen über Sachenrecht, Familienrecht und Erbrecht des B G B sowie über die Urheberrechte"147.
Dazu Lebenserinnerungen, S. 933, 934. Dazu Lebenserinnerungen, S. 909, 918. 139 Lebenserinnerungen, S. 922. 140 Erstmals München 1891; 1934 wurde noch die 17. Auflage, bearbeitet von Erwin Riezler aufgelegt. 141 „Wie weit ist ein Recht am eigenen Bild anzuerkennen und zu schützen?", Verhandlungen des 26. Deutschen Juristentages, 1902, Bd. 1 (Gutachten), S. 3—17. 142 Siehe die Aufsätze: Dichterische Behandlung wirklicher Begebenheiten und Personen, D J Z 1904, S. 21-27; über Rechtsverhältnisse an Begräbnisstätten, Blätter für Rechtsanwendung, 1905, S. 308-324. 143 Festschrift für die Juristische Fakultät in Gießen zum Universitäts-Jubiläum, überreicht von ihren früheren Dozenten, hrsg. Reinhard Frank, Gießen 1907, S. 275-312. 144 München 1912. 145 Neue Zeit- und Streitfragen, 2. Jahrg. Heft 1, Dresden 1904. 146 Bd. 75 (1910), S. 7-16 (Titel: Freies Recht, Gesetzeszwang und Richteramt). 147 Gießen, 1909. 137
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II. Gareis und die Rechtsgeschichte Ein Blick auf die Schriften und die Lehrtätigkeit Gareis' zeigt auf der einen Seite den im historischen Rechtsstoff verwurzelten Gelehrten, der sich auf der anderen Seite im Gegensatz zur Mehrzahl seiner Kollegen ganz den sozialen, wirtschaftlichen, technischen und rechtlichen Entwicklungen öffnet, nicht zögernd, sondern den Lebensgeist seiner Zeit geradezu suchend. Gareis, der Pandektenvorlesungen hält und bis ins hohe Alter das „Deutsche Privatrecht" pflegt, ist ein moderner Jurist, eigentlich neben Josef Kohler der modernste seiner Gelehrtengeneration, wenn man von der Wahl seiner juristischen Sujets ausgeht. Wir sehen ihn führend bei der Ausbildung der Persönlichkeits- und Immaterialgüterrechte148, also jener neuen Welt von Rechtsgütern14', die erst lange nach Inkrafttreten des BGB ihre volle Ausfaltung erfahren und nach wie vor die wichtigste Umgestaltung unseres Privatrechts gegenüber der Pandektistik gebracht haben. Wo immer die zivilisatorische und technische Entwicklung die Rechtsordnung in Bewegung bringt, ob nun auf den Feldern des Urheberrechts, des Erfinderrechts, des Namens-, Firmen- und Markenschutzes oder der wirtschaftlichen Gegebenheiten des sich ausfaltenden kapitalistischen Systems mit Börse, Börsenspekulation und Differenzgeschäft150 - überall dort sehen wir Gareis am Werke. Auch an den geistigen Auseinandersetzungen der Zeit nimmt er lebhaft Anteil, nicht als eine von der Wissenschaft abtrennbare Privatperson, sondern mit der Konsequenz einer „modernen" Theorie der Rechtswissenschaft, die den inneren Zusammenhang von Privatrecht mit Staat und Gesellschaft, von privaten und öffentlichen Interessen151 und damit von Privatrecht und Staatsrecht begreift152. Gareis, der dem Sozia-
14' Die Persönlichkeitsrechte heißen bei Gareis zunächst Individualrechte, dann Individualitätsrechte. Seine Theorie dazu findet sich insbesondere in folgenden Schriften: Rechtsenzyklopädie, 1. Aufl. (Fn. 88), S. 78 ff; Grundriß zu den Vorlesungen über das Deutsche bürgerliche Recht (Fn. 86), S. 60ff; Das juristische Wesen der Autorrechte (Fn.91); Das Recht am menschlichen Körper (Fn. 124); ferner im Juristentagsgutachten (Fn. 141). Gareis betont verschiedentlich seine zeitliche Priorität vor Kohler in der Entwicklung des Persönlichkeitsrechts, so etwa im „Recht am menschlichen Körper", S. 83.
Vgl. die Rektoratsrede von Georg Cohn, Neue Rechtsgüter, Berlin 1902. Ein Zeugnis für die Einstellung Gareis': In Würzburg wurde er 1872/73 Mitglied der Volksbank e. G., in deren Aufsichtsrat er vorrückte; er „lernte alles Bankmäßige, wie einer das Schwimmen lernt im Wasser" (Lebenserinnerungen, S. 537). 151 „Interessen" bilden einen Schlüsselbegriff in Gareis' Theorie von den Privatrechten, m. E. insoweit auf Jhering fußend. 152 Siehe: Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate (Fn. 92); Über die Einführung in das Studium der Rechtswissenschaft, Berlin 1894, S. 11, 12 f; Moderne Bewegun149
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listengesetz zugestimmt hat, negiert keineswegs die sozialen Diskrepanzen des Zweiten Kaiserreichs; er steht aber letztlich der Theorie der „Katheder-Sozialisten" von der Versöhnbarkeit des Privateigentums an den Produktionsmitteln mit dem Recht des Arbeiters an den Früchten seiner Arbeit nahe, die auch bei ihm mit Hilfe einer sozialen Einfärbung des Eigentumsbegriffs 153 unternommen wird. Entscheidend ist auch an diesem Punkte, daß sich nicht der „Politiker" Gareis vom Juristen gleichen Namens abspaltet; die Erkenntnisse über Staat und Gesellschaft werden vielmehr auch in die Zivilrechtstheorie eingebracht. Gareis bemüht sich um einen integrierenden Begriff der Rechtsordnung seiner Zeit im konkret-historischen Zustand („Kulturstaat"). Bei diesem Befund mag es scheinen, als habe Gareis, der „moderne" Jurist, die historischen Fächer, welche die Universitätslehre bis zum Inkrafttreten des B G B geprägt hatten, folgerichtig verabschieden müssen. Was sollte der Börsen- und Patentrechtler mit den juristischen Antiquitäten anfangen? Die folgenden Betrachtungen zeigen, daß Gareis mit der Rechtsgeschichte in der Tat gewisse Probleme hatte. Gleichwohl war sein Denken das Gegenteil von unhistorisch: Die Modernität erweist sich gerade als Ausdruck des geschichtlichen Bewußtseins. Probleme mit historischen Disziplinen verspürte Gareis bereits zu Beginn des Studiums, als er zunächst während seines „philosophischen" Jahres in Amberg die Institutionen nach Mackeldey studierte, dann im ersten Semester bei Windscheid die Pandekten hörte, über die er folgendes berichtet 154 : „Die Institutionen', überhaupt das römische Recht bildete damals lange noch die .Einführung' in das Rechtsstudium, - leider! Der Erfolg oder vielmehr: der Mißerfolg dieser beschränkten Art von ,Einleitung in die Jurisprudenz' blieb auch bei mir nicht a u s . . . ich hatte keine Ahnung, warum wir das römische Recht kennen sollen, keine Ahnung davon, wie dies mit unsrem Rechtsleben zusammenhänge, keine Ahnung vom Wesen des Rechts und von der deutschen Rechtsgeschichte." Vordergründig geht es in dieser Klage um den richtigen Einstieg in das Studium. Zugleich ist aber die Frage nach dem Sinn und nach der Berechtigung der Rechtshistorie gestellt. Der Text bejaht beides, wendet gen in der Wissenschaft des deutschen Privatrechts (Fn. 144), S.4, 15. Daher wird die Rechtspolitik auch als Aufgabe der Rechtswissenschaft verstanden, a. a. O., S. 4. 153 Insbesondere: Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate (Fn. 92), S. 145 ff. Siehe zu dieser Wendung des Eigentumsbegriffs: Dieter Schwab, Arbeit und Eigentum. Zur Theorie ökonomischer Grundrechte im 19. Jh., Quaderni Fiorentini per la storia del pensiero giuridico moderno, Bd. 3/4 (1974/75), S. 509-556; ferner den Art. „Eigentum" in: Geschichtliche Grundbegriffe, hrsg. von Brunner/Conze!Koselleck, Bd. 2 (1975) S. 65 ff. 154 Lebenserinnerungen, S. 402.
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sich aber letztlich gegen die „ungeschichtliche Geschichte", d.h. die unzeitgemäße, nicht von den Begriffen und Interessen der Jetzt-Zeit her verstandene und gestaltete Geschichte. Daß sich der oben wiedergegebene Text gegen das Römische Recht wendet, ist nicht von entscheidender Bedeutung; denselben Tadel findet auch Konrad von Maurers „Deutsche Rechtsgeschichte"155: „Auch der Germanist Konrad von Maurer, bei dem ich Deutsche Rechtsgeschichte hörte, war grundgelehrt und in seiner Kenntnis und Mitteilung der skandinavischen Rechtszustände einzig und imponierend, aber er kam nicht zu Ende mit seiner Rechtsgeschichte, zudem kaum bis zum Mittelalter, da war das kurze S. Semester zu Ende; mir schien dies und scheint es noch heute höchst bedauerlich: die ,Deutsche Rechtsgeschichte' muß im Vortrage bis zum heute geltenden Rechte reichen, denn dieses letztere muß sich aus dem historischen Werden ergeben und erklären..." Seinen Fakultätskollegen in München, Karl von Amira, den großen Germanisten, der 1876 die Historisierung der Rechtsgeschichte mit einem programmatischen Vortrage eingeläutet hatte156, schätzte Gareis zwar wegen seiner philologischen Kompetenz, aber nicht als Juristen157. Gareis verdeutlicht seine in den Lebenserinnerungen anklingenden Gedanken zum Thema „Recht und Geschichte" in verschiedenen Schriften und Vorträgen, ausführlich aber in der 1894 publizierten Schrift „Über die Einführung in das Studium der Rechtswissenschaft", mit der er in die auch damals gängige Studienreform-Diskussion eingriff und die auch heute noch sehr lesenswert ist158. Gareis lehnt auch in dieser Schrift den Einstieg in das Studium mit Hilfe der Institutionen des römischen Rechts oder der römischen Rechtsgeschichte ab159. Ein Grund dafür ist didaktischer Art: „Aller Lehrstoff muß an das bereits vorhandene Kennen und Wissen des Lernenden angeknüpft werden."160 So wichtig auch das historische Detailwissen für die juristische Bildung erscheint, so wenig zweckentsprechend ist die Mitteilung römischer oder germanischer Rechtsantiquitäten zur Einführung des juristischen Anfängers - so wenig zweckentsprechend „als es die Erörterung der Medizinalanschauungen der alten Griechen für die Einführung junger Mediziner wäre"161. Hinter der didaktischen steht eine methodische Position: Das römische Recht wird zwar in seinen unvergänglichen Vorzügen gepriesen, die 155 156 157 158 159 160 161
Lebenserinnerungen, S. 442, 443. Uber Zweck und Mittel der Deutschen Rechtsgeschichte, 1876. Lebenserinnerungen, S. 831, 832. Siehe Fn. 152. Im folgenden wird die Schrift „Einführung" genannt. Einführung, S.9f. Einführung, S . l l . Einführung, S. 12; vgl. schon Rechtsenzyklopädie, 1. Aufl. (Fn. 88), S. 185.
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Vorzüge seines Studiums „dürfen wir uns nicht entgehen lassen"162, es darf auch nach dem Zustandekommen des BGB nicht zur bloßen historischen Disziplin werden, sondern muß dogmatisches Fach bleiben163. Doch ist eben dieses römische Recht in seiner nach Deutschland übertragenen Gestalt164 nicht mehr in der Lage, die Gesamtheit der Rechtsordnung zu erklären, weil über den „Sonderinteressen der Individuen" die „Staats- und Gesellschaftsinteressen" vernachlässigt werden165 und mithin der konkrete politisch-historische Zusammenhang. An diesem Punkt stoßen wir auf eine im Jahr 1894 nicht mehr neue germanistische Kritik am römischen Recht, und in der Tat zeigt sich eine deutliche Zuneigung Gareis' zur Geschichte „unseres heimatlichen Rechts"166, in der er seinen Begriff von Rechtsgeschichte eher verwirklicht sieht als in der des römischen Rechts. In der Frage, welche Funktion die Geschichte in der Rechtswissenschaft denn eigentlich hat, steht Gareis noch eindeutig auf dem Boden der historischen Schule167. Drei Wege - so heißt es in der „Rechtsencyklopädie"168 - führen zur Erkenntnis einer positiven Rechtsordnung: die Dogmatik, die Rechtsgeschichte und die Interpretation (eines Normtextes). Der rechtsgeschichtliche Unterricht „zeigt dem Schüler das Objekt seines Erkennens, die Rechtsordnung, als werdendes Ganze, er zeigt das Entstehen, das Sichentwickeln, Sichab- und -umändern der einzelnen Rechtsinstitute im Flusse der Geschichte jener Gemeinwesen, unter deren Autorität die ordnenden Vorschriften zu Rechtssätzen heranwuchsen"169. Noch immer also ist die Rechtsgeschichte ein Weg zur Rechtserkenntnis, folglich Teil der Rechtswissenschaft, ergo „historische Rechtswissenschaft"170 und nicht etwa bloß thematisch eingezäunte Historie. Nur muß die historische Jurisprudenz ihre Ansprüche auch einlösen. Sie kann es nicht mit einer Selbstbeschränkung auf die Erforschung einzelner rechtshistorischer Sachverhalte, sondern nur in Verbindung mit einer umgreifenden Vorstellung vom Ganzen, mithin der Rechtsphiloso-
162 163 164
Einführung, S. 10; Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn. 88), S.176ff. Die „allerdogmatischeste" Disziplin! Einführung, S. 11 f. Kritik an der Art der Rezeption des römischen Rechts in Deutschland: Einführung,
S. 14. Einführung, S. 11, 13 f. Einführung, S. 14. 167 Zur historischen Rechtsschule bekennt sich Gareis in der Einführung, S. 9 f, allerdings mehr aus dem Grunde, daß sie die „utopistische Theorie" des - zeitgemäß mißverstandenen - Naturrechts erledigt hat. 168 l.Aufl. (Fn.88), S. 171. Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn.88), S. 171. 170 So in der Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn.88), S.9. 165 ,M
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phie, deren Bedeutung Gareis stark hervorhebt171, oder aber einer sonstigen, die Phänomene von Staat, Gesellschaft, Individuum und Recht erfassenden Anschauungsweise. In der Schrift von 1894 kommt an diesem Punkt die Soziologie ins Spiel172, die schon nach der Bedeutung, die Gareis den „Interessen" für das Recht allenthalben einräumt, zur Erkenntnisquelle avanciert. Mit den Bezugnahmen von Geschichte zur Philosophie oder Soziologie erklärt sich überhaupt erst die Modernität der Rechtsgeschichte, nämlich als Stoff und (schon auch) strukturierendes Element des jetztzeitigen Rechtsbewußtseins. Die Brücke, die den historischen Stoff in das Rechtsbewußtsein von „heute" hinüberführt, heißt „Entwicklung" oder „Fortschritt". In der Tat ist Gareis' Rechtsdenken von der Vorstellung einer sich vervollkommnenden Menschheit beherrscht. Technischer Wandel, Neuschöpfung von Rechtsgütern, Steigerung der kulturellen Befindlichkeit des Menschen im Kulturstaat, Lösung der sozialen Frage, Gleichberechtigung der Frau sind Emanationen des Fortschritts der Menschheit, an der die Rechtswissenschaft, reagierend und gestaltend, ihren Anteil hat173. Zwei Vorträge geben diesen Zusammenhang eindringlich wieder: „Die Fortschritte des internationalen Rechts im letzten Menschenalter" (1904) und „Moderne Bewegungen in der Wissenschaft des deutschen Privatrechts" (1912). Besonders die zuletzt genannte Münchener Rektoratsrede bringt den technischen Wandel und den Fortgang der Rechtsentwicklung in einen optimistischen Zusammenhang. Das Entwicklungsdenken bedingt die immanente Historizität der rechtlichen Phänomene (weshalb die Rechtsphilosophie wiederum ohne Geschichte nicht auskommt)174: Die Begriffe des Eigentums175 und der Freiheit176 sind ebenso wandelbar wie der Begriff der Gerechtigkeit177. Der Erklärungszweck der Rechtsgeschichte bedingt das Ausgreifen auch auf die außerrechtlichen Entstehungsursachen des Rechts, man muß „auch zu erklären wissen, wie es geworden, und warum und inwieweit es notwendig ist zur Aufrechterhaltung, Verbreitung und Steigerung
Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn.88), S.9. Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn.88), S. 13. 173 Siehe vor allem: Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate (Fn. 92), S 141, 144, 145. 171
172
174 175 176 177
Rechtsenzyklopädie, l.Aufl. (Fn.88), S . l l . Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate (Fn.92), S. 145 ff. Die Privatrechtssphären im modernen Kulturstaate (Fn. 92), S. 147. Vom Begriff Gerechtigkeit (Fn. 143), S. 287ff.
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unserer Kultur"178. Der gleiche gedankliche Zusammenhang erklärt den Bezug der Rechtsgeschichte zur Politik 17 '. Die so verstandene Rechtsgeschichte ist „Rückgrat oder das ganze Skelett des juristischen Bildungsganges" 180 ; ausdrücklich sind das Römische Recht und seine Rezeption mit eingeschlossen181. So wie das Recht (immer auch) historisch ist, erscheint Geschichte (immer auch) als zeitlos: „Schon in der Schilderung der karolingischen Zeit und ihrer Gesetzgebung sind die wichtigsten Fragen der Sozialpolitik, das Verhältnis zwischen Arbeit und Kapital, die Organisation der ersteren, die Verteilung der Grundrente und des Unternehmergewinns einzuflechten ,..". 182 Gareis' Anschauung darf nun nicht dahin mißverstanden werden, als habe er der geschichtswissenschaftlich betriebenen Rechtsgeschichte ihren Wert abgesprochen. Er selbst feiert die im 19. Jahrhundert geleisteten wissenschaftlichen Fortschritte in der Aufhellung historischer Befunde183 und einige seiner Arbeiten sind selbst in diesem Sinne der Erkenntnis „dessen, was war" angelegt184. Auch gehört Gareis nicht zu den Feinden des Details; sein Bedürfnis nach Theorie ist glücklich ergänzt durch einen konkret-historischen Sinn, der ihn stets auch an landesgeschichtliche Themen fesselt und ihn in historischen Vereinen tätig werden läßt. Auf der anderen Seite erweist es sich für einen den modernen Phänomenen von Gesellschaft und Technik zugewandten Gelehrten nicht als möglich, alle wissenschaftlichen Arbeiten historisch-evolutionär anzulegen - die Geschichte war für ihn ja nur eines von drei Elementen der Rechtserkenntnis; Gareis will den historischen Zusammenhang auch nicht überschätzen185. Doch hat der vielseitige Gelehrte den Anspruch einer historischen Rechtswissenschaft in wichtigen Untersuchungen erfüllt, so etwa in der Monographie „Die Verträge zugunsten Dritter"186 und in der Arbeit über „Das Recht am menschlichen Körper", wo er die
Einführung, S. 14; Gareis nennt dies „soziologische Betrachtung". Rechtsenzyklopädie, 1. Aufl. (Fn.88), S.9, 11. 180 Einführung, S. 18. 181 Einführung, S. 18. 182 Einführung, S. 19. 183 Rechtsenzyklopädie, l . A u f l . (Fn.88), S. 185 - die Fülle der Erkenntnisse bildet sogar ein Argument gegen die propädeutische Brauchbarkeit der Rechtsgeschichte! 184 Namentlich die Arbeiten über das „Capitulare de villis", siehe Fn. 125. Vgl. auch noch: Oberpfälzisches aus der Karolingerzeit, in: Forschungen zur Kultur- und Literaturgeschichte Bayerns, 1897. 185 Siehe das Juristentagsgutachten (Fn. 141), S.3. 186 Siehe Fn. 55. 171
175
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Persönlichkeitsrechte aus dem römischen und dem mittelalterlich-deutschen Recht entwickelt187. Mit Strohal188 vertritt Gareis noch 1912 die Auffassung, daß auch nach dem Inkrafttreten des BGB die Wissenschaft vom Privatrecht ihre geschichtliche Komponente nicht einbüße, da auch das BGB Produkt historischer Entwicklung sei189. Wir wissen, daß die Wissenschaftsgeschichte seit 1900 solche Hoffnungen im wesentlichen unerfüllt gelassen hat. Der von Amira gewiesene Weg der Rechtsgeschichte in die Geschichtswissenschaft führte gewiß zu einem hohen Stand der Erforschung rechtshistorischer Sachverhalte und Zusammenhänge, an dem folgerichtig keineswegs allein, vielleicht sogar nicht einmal mehr hauptsächlich die an den Juristischen Fakultäten angesiedelten Lehrstühle und Forschungseinrichtungen beteiligt sind. Andererseits droht im juristischen Studium die Rechtsgeschichte zu einem bloßen Einleitungsfach zu verkümmern, das - wenn man nach manchen didaktischen Hilfsmitteln urteilt, die auf dem Markt derzeit zu finden sind - nicht immer auf dem Niveau einer geisteswissenschaftlichen Disziplin gelehrt und aufgenommen wird. Letztendlich führt die rein historische Ausrichtung der Rechtsgeschichte konsequent zu ihrem Tod als Lehrfach in den Juristischen Fakultäten, den auch die künstliche Ernährung durch den vom rechtshistorischen Grundlagenschein ausgehenden Beschäftigungszwang nicht wird verhindern können. Kann es bei alldem überhaupt noch Rechtsgeschichte als Teil der Rechtswissenschaft geben? Die gelegentliche und häufig beliebige Argumentation aus „Gesetzesmaterialien" für die Auslegung einer Norm taugt schwerlich für eine positive Beantwortung der Frage. Von Gareis können wir lernen, daß die Rechtsgeschichte zur Rechtswissenschaft wird vermittels eines Zeitbewußtseins, d. h. eines notwendig retro- und prospektivischen Bewußtseins vom geltenden Recht. Ohne ein solches Bewußtsein, das allerdings der philosophischen oder rechtstheoretischen Grundlage und Nahrung bedarf, bleibt Geschichte tot, die Erfassung der Gegenwart allerdings auch naiv.
1.7 1.8 189
S. 12.
Siehe Fn. 124. Jherings Jahrbücher, Bd. 61, S.67. Moderne Bewegungen in der Wissenschaft des deutschen Privatrechts (Fn. 144),
Über die Vergütung von Dienstleistungen des Geschäftsführers ohne Auftrag H A N S HERMANN S E I L E R
I. 1. Daß jede Arbeit ihres Lohnes wert sei, wird schon im Neuen Testament behauptet1. Eine Reihe von alten deutschen Rechtssprichwörtern vertritt in mehreren Varianten ebenfalls diesen Standpunkt2. Dagegen ist im reichen Vorrat lateinischer Rechtsregeln und Rechtssprichwörter eine vergleichbare Maxime nicht überliefert3. Das wird kein Zufall sein. Denn die römische Rechtsordnung steht einer rechtlichen Verpflichtung zur Bezahlung durch freie Menschen geleisteter Dienste aus mehreren Gründen eher zurückhaltend gegenüber. Diese Tendenz, die sich am Beispiel mancher Rechtsinstitute belegen läßt, mußte spätere Zeiten vor Schwierigkeiten stellen, die zwar das corpus iuris civilis als maßgebende, vor allem zivilrechtliche Autorität übernahmen, die aber in der Frage der rechtlichen Beurteilung der Arbeit infolge geänderter sozialer Verhältnisse und Anschauungen - man denke allein an die Beseitigung der Sklaverei - inzwischen anders dachten und entschieden als die römische Autorität. In diesen größeren Zusammenhang mag das oft erörterte Problem gestellt werden, ob der Geschäftsführer ohne Auftrag für die von ihm geleisteten Dienste eine Vergütung beanspruchen kann. Der folgende kurze Beitrag bemüht sich um die Klärung einer kleinen historischen Teilfrage aus diesem Problembereich. 2. Die Frage, ob die Dienste des Geschäftsführers ohne Auftrag zu vergüten sind, wird bekanntlich für das moderne deutsche Recht unter bestimmten, engen Voraussetzungen allgemein bejaht4. Die bejahende Antwort setzt sich allerdings in Widerspruch zum B G B . Denn die entgegengesetzte Entscheidung des Gesetzbuches in dieser Frage ist von 1 Vgl. die Belege bei Söllner AcP 167 (1967) S. 133 Fn. 7: Lukas 10, 7; Matthäus 10, 10; Paulus ad Tim. 5, 18. 2 Vgl. Graf/Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter2 (1869) S. 265 ff. 5 Die jüngste Zusammenstellung von Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter (1982) enthält keinen Beleg. 4 Staudinger/Wittmann §683 Rdn. 3; Erman/Hauß §683 Rdn. 6; MünchKomm./Sei/er §683 Rdn. 25.
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hinreichender Deutlichkeit: Nach §683 BGB hat der Geschäftsführer Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen „wie ein Beauftragter". Damit wird auf § 670 BGB verwiesen, wonach der Beauftragte Ersatz für Aufwendungen verlangen kann, die er den Umständen nach für erforderlich halten darf. Den Begriff der „Aufwendungen", der in allgemeinem Zusammenhang vor allem in den §§256, 257 BGB vorkommt, hat das Gesetz nicht definiert. Die Gesetzgebungsgeschichte ergibt, daß es sich um eine Zusammenfassung der im Dresdener Entwurf (Art. 703) verwandten Begriffe „Auslagen" und „Verwendungen" handelt5. Die vielfach zu lesende Behauptung6, die Begriffsbestimmung sollte bewußt Rechtsprechung und Lehre überlassen bleiben, bezieht sich auf den Begriff der „Verwendungen"7. Die Einzelheiten sind noch aufzuklären. Jedenfalls: Die Wissenschaft versteht den Begriff der Aufwendungen, in der Sache völlig übereinstimmend, als freiwillige Vermögensopfer im Interesse eines anderen8 und nennt als Beispiele neben Geld- und Sachaufwendungen konsequent auch erbrachte Arbeits- und Dienstleistungen9, da diese unzweifelhaft Vermögenswert haben. Dabei wird allerdings meist übersehen, daß die Definition in der so beschriebenen Fassung keine ausschließliche Gültigkeit beanspruchen kann, sondern daß „Aufwendung . . . wohl nicht in jedem Zusammenhang dasselbe"10 bedeutet. So liegt es in der Tat beim Auftrag. Da dieser nach der gesetzlichen Begriffsbestimmung unentgeltlich erfolgt (§662 BGB), bedeutet dies zwingend, daß Arbeits- und Dienstleistungen des Beauftragten keine Aufwendungen i.S.d. §670 BGB sind und daher vom Aufwendungsersatz ausgeschlossen sind. Damit erhält auch der Geschäftsführer ohne Auftrag kein Entgelt für seine Dienste. 3. Dieses aus der Verweisung vom Geschäftsführungsrecht zum Auftragsrecht folgende Ergebnis hat Wollschläger" als eine vom Gesetzgeber letztlich nicht beabsichtigte Rechtslage dargestellt. Nach ihm hat es in der Praxis des 19. Jahrhunderts den weithin, wenn auch nicht ausschließlich anerkannten Grundsatz von der Entgeltlichkeit der negotiorum gestio gegeben, dem auch die Gesetzgebung des BGB folgen wollte. Infolge wechselnder Auffassungen über die Entgeltlichkeit des Mandats 5 Jakobs/Schubert, S. 71.
Die Beratung des BGB, R. d. Schuldverh. I (1978) S. 127; III (1983)
Vgl. nur MünchKomm./Äe//er § 256 Rdn. 2. Motive III S. 31, 411. 8 Esser/Schmidt, Schuldrecht A T § 1 3 I; MünchKomm./tfe//er §256 Rdn. 2; Staudinger/Selb § 2 5 6 Rdn. 4; Erman/Sirp §256 Rdn. 1. 9 Esser/Schmidt, MünchKomm.//ve//er J Staudinger/Selb, alle a. a. O. 10 Staudinger/Selb a. a. O. 11 Die Geschäftsführung ohne Auftrag (1976) S.314. 6 7
Die Vergütung von Dienstleistungen des Geschäftsführers ohne Auftrag
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und infolge versäumter Prüfungen der Verweisungen sei es dann zu der jetzigen Gesetzeslage gekommen, die nur als „ziemlich grobes Redaktionsversehen"12 bezeichnet werden müsse. Wollschläger rechtfertigt mit dieser Feststellung eine korrigierende Interpretation des §683 in dem Sinne, daß dem Geschäftsführer eine Vergütung zu gewähren sei, wenn die Übernahme der Geschäftsführung nach den Umständen nur gegen eine Vergütung zu erwarten war. Den Thesen Wollschlägers ist Wittmann13 entgegengetreten. Er meint, bereits im ersten Entwurf zum BGB sei dem Geschäftsführer nur ein Aufwendungsersatzanspruch eingeräumt worden. Aber der von Windscheid vertretene Geschäftsführungsbegriff habe es möglich gemacht, zu solchen Aufwendungen auch die übliche Vergütung für eine berufseinschlägige Tätigkeit zu rechnen; die Konstruktion eines „Versehens" erübrige sich daher. Mit der folgenden Studie soll versucht werden, die soeben skizzierte Kontroverse wenn nicht aufzulösen, so doch wenigstens soweit möglich in ihren gegensätzlichen Prämissen und Folgerungen aufzuhellen. Es geht also darum, die Entstehungsgeschichte des BGB in diesem Punkt zu untersuchen, eine Aufgabe, bei deren Erfüllung die inzwischen neu erschienenen, von Jakobs und Schubert herausgegebenen Materialien zum BGB 14 , die die bisher veröffentlichten Materialien wesentlich ergänzen, möglicherweise entscheidende Hilfe leisten können. Wir verdanken den beiden Herausgebern in erster Linie einen wesentlich genaueren Einblick in die frühen Phasen der Gesetzesarbeiten, in die Zeit der Vorentwürfe und der Beratungen des ersten Entwurfs. Läßt sich also die Entstehung der §§683, 670, auf die es hier ankommt, durch das solchermaßen vermehrte Quellenmaterial besser als bisher aufklären? Die Antwort ergibt sich aus einer Prüfung der wichtigsten Abschnitte des Gesetzgebungsverfahrens. Dabei muß außer der Behandlung der Geschäftsführung ohne Auftrag auch diejenige des Mandats (Auftrags) verfolgt werden, weil beide Institute im Laufe der Gesetzgebungsarbeiten durch Verweisungen miteinander verbunden worden sind.
Wollschläger a . a . O . Begriff und Funktionen der Geschäftsführung ohne Auftrag (1981) S.28 Fn. 30 a. 14 Für diesen Beitrag sind die folgenden Bände wesentlich: Schubert, Die Beratung des BGB, Materialien zur Entstehungsgeschichte des BGB (1978); im folgenden zitiert: Schubert I. - Schubert, Die Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB, Recht der Schuldverhältnisse, Teil 2 (1980); zitiert: Schubert II. - Jakobs/Schubert, Die Beratung des BGB, Recht des Schuldverhältnisse III (1983); zitiert: Jakobs/Schubert. 12 13
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II. 1. Die Vorentwürfe zum BGB]\ Eine im Auftrag des Bundesrats tätige, aus fünf Mitgliedern bestehende sog. Vorkommission, die das weitere Verfahren zur Schaffung eines Bürgerlichen Gesetzbuchs ordnen sollte, machte den später vom Bundesrat gebilligten Vorschlag, daß zunächst Vorentwürfe zu erstellen seien und daß diese Arbeit auf mehrere Redaktoren zu verteilen sei. Die daraufhin vom Bundesrat bestellte, aus elf Mitgliedern bestehende Hauptkommission, die später sog. erste Kommission, folgte der Verfahrensanweisung und beauftragte einzelne Redaktoren mit der Herstellung begründeter Teilentwürfe. Das Obligationenrecht wurde dem württembergischen Obertribunalsdirektor Franz von Kübel zugewiesen, weil dieser sich am Dresdener Entwurf (eines allgemeinen deutschen Gesetzes über Schuldverhältnisse von 1866) „in hervorragender Weise" beteiligt hatte und als ausgezeichneter Praktiker und Theoretiker galt. Einen vollständigen Entwurf für das Obligationenrecht konnte v. Kübel infolge Krankheit und Tod (1884) allerdings nicht fertigstellen. Immerhin stammen von ihm wichtige Teilabschnitte, darunter ein Abschnitt zur Geschäftsführung ohne Auftrag, an dem v. Kübel drei Monate gearbeitet hatte. - Beim Auftrag gab es keine Vorlage des Redaktors v. Kübel. Herangezogen wurden statt dessen die entsprechenden Bestimmungen des Dresdener Entwurfs (Art. 687 ff) sowie eine Materialzusammenstellung aus der Feder juristischer Hilfsarbeiter, in der vor allem die Verhandlungen der Dresdener Kommission (1863-1865) wiedergegeben wurden. - Die Vorentwürfe und ihre Begründungen sind durch die Editionen von Schubert unter dem Titel „Die Vorentwürfe der Redaktoren zum BGB" erstmalig allgemein zugänglich gemacht worden. 2. Die Geschäftsführung ohne Auftrag. §238 des Vorentwurfs16 regelt den Anspruch des Geschäftsführers auf Aufwendungsersatz. In dem hier interessierenden Teil lautet die Vorschrift: . . . , so ist der Geschäftsherr verpflichtet, den Geschäftsführer von den für ihn übernommenen Verpflichtungen zu befreien, demselben seine Verwendungen und Auslagen nebst Zinsen davon zu ersetzen und für Handlungen, wofür er sonst bezahlt zu werden pflegt, Vergütung zu leisten, auch wenn der beabsichtigte Erfolg ohne Verschulden des Geschäftsführers nicht erreicht worden ist.
In seinen, wie gewohnt, ausführlichen Erläuterungen dazu gibt v. Kübel" zunächst einen Uberblick über die unterschiedlichen Stellungnah-
15 16 17
Zum folgenden Schubert I (ob. Fn. 14) S.33, 41, 43, 45, 222. Schubert II (ob. Fn. 14) S. 930. Schubert II (ob. Fn. 14) S.978f.
Die Vergütung von Dienstleistungen des Geschäftsführers ohne Auftrag
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men der einzelnen Partikularrechte und der sonstigen Entwürfe zur Frage der Vergütung der Dienste des Geschäftsführers. Daran ist bemerkenswert, daß sich bereits zwei Gesetzgebungen (preuß. ALR I 13 §§231, 232; Bayr. Entwurf Art. 745) von dem verneinenden Standpunkt des gemeinen Rechts gelöst hatten. Der Verfasser fährt dann fort: Von demjenigen, der sich der Angelegenheiten eines anderen annimmt, ist zwar eine freundschaftliche oder doch menschenfreundliche, humane Gesinnung vorauszusetzen, welche ihn bei seiner Handlung leitet, er will aber nicht Freigebigkeit üben, sondern das Geschäft als ein fremdes, den Herrn angehendes, besorgen. Dies führt wie zu der Statuierung seiner Ersatzansprüche für gemachte Auslagen und Verwendungen, so in derselben Weise auch zu dem Anspruch auf Vergütung für Dienste der fraglichen Art, welche der Gestor zur Ausführung des Geschäfts selbst leistet, anstatt jemand sonst dazu aufzustellen; denn wenn demjenigen, welcher Dienste gegen Lohn zu leisten pflegt, der Anspruch auf Ersatz abgesprochen werden wollte, wenn er dergleichen als Gestor geleistet hat, so würde ihm damit in dem Verzicht auf den ihm sonst zukommenden Lohn eine Freigebigkeit zugemutet, welche mit seinem Willen, als Gestor zu handeln, in direktem Widerspruch stände. So z. B. wenn der Nachbar eines Weinbergbesitzers, der ohne für die Bebauung Sorge tragen zu können, für längere Zeit sich entfernt hat, in dessen Interesse die Bebauung selbst besorgt, weil er Weingärtner ist und auch sonst derartige Geschäfte um Lohn besorgt. In solchem Fall wäre es doch gewiß verkehrt, wenn dem Gestor der Anspruch auf Vergütung seiner Dienste versagt werden wollte, während, hätte er sie von einem anderen gegen Lohn ausführen lassen, sein Anspruch auf Ersatz der Auslagen für Lohn außer Zweifel gewesen wäre.
Der Befund ist eindeutig: Text und Begründung des Vorentwurfs bejahen die Vergütungspflicht. In der eigenen Stellungnahme des Verfassers wird die romanistische Tradition überhaupt nicht erwähnt. Es wird die Interessenlage und dabei besonders der Wille des Geschäftsführers gewürdigt. Das allgemeine Urteil, das v. Kübel ein „gutes Gespür für die Bedürfnisse der Praxis" zuspricht18, wird damit bestätigt. Dazu paßt auch, daß der aus Württemberg stammende Verfasser19 das zur Verdeutlichung angeführte Beispiel aus dem Bereich des Weinbaus wählt. - Das Ergebnis ist deshalb wichtig, weil hier in Entwurfstext und Begründung die Auffassung des Verf. - die Bejahung der Vergütungspflicht geschlossen und eindeutig dokumentiert wird, ungestört vor allem durch Verweisungen - wie später - , bei denen zweifelhaft bleiben kann, ob ihr Urheber die Tragweite solcher Einbeziehung im einzelnen überschaute. 3. Der Auftrag. In Ermangelung eines eigentlichen Vorentwurfs wurden in diesem Bereich die entsprechenden Vorschriften des Dresdener Entwurfs von 1866 und die dazu verfaßten Materialien zugrunde gelegt (s. oben 1.). Art. 687 des Dresdener Entwurfs20 bestimmte zunächst allgemein, daß der Beauftragte verpflichtet sei, das ihm von dem Auftragge18 Schubert I (ob. Fn. 14) S. 44. " Schubert I (ob. Fn. 14) S. 75. 20 Text auch bei Schubert II (ob. Fn. 14) S. 777.
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ber aufgetragene Geschäft für ihn zu besorgen. Im folgenden ist dann nach der Konzeption des Dresdener Entwurfs die Frage der Vergütung von der Frage des Aufwendungsersatzes zu trennen. a) Welche Haltung der Entwurf zur Frage, ob dem Beauftragten eine Vergütung zuzusprechen sei, einnahm, ergibt sich aus Art. 689 Eine Vergütung für die Besorgung des aufgetragenen Geschäftes ist von dem Auftraggeber nur dann zu leisten, wenn sie vereinbart worden ist. Als stillschweigend vereinbart ist eine Vergütung anzunehmen, wenn die Besorgung des Geschäftes nach den Umständen nur gegen eine Vergütung zu erwarten w a r . . .
In Abkehr von der romanistischen Tradition wird der Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Mandats demnach nicht aufrechterhalten. Das Mandat wird aber auch nicht zu einem ausschließlich entgeltlichen Geschäft. Es kann vielmehr sowohl entgeltlich als auch unentgeltlich vorkommen, letzteres dann, wenn eine Vergütung weder vereinbart noch üblich ist. Aus dem Bericht der Hilfsarbeiter über die Beratungen der Dresdener Kommission 21 ist zu erfahren, daß Art. 689 „von einer Seite lebhaften Widerspruch" erfuhr, die nachdrücklich, wenn auch erfolglos den romanistischen Standpunkt von der „begrifflichen" Unentgeltlichkeit des Mandats vertrat. In einem weiteren Art. 705 wurde ferner u. a. bestimmt, daß der Auftraggeber verpflichtet sei, dem Beauftragten die vereinbarte Vergütung zu bezahlen. Bei der Beratung dieser insoweit nicht umstrittenen Bestimmung wies die Dresdener Kommission noch einmal darauf hin, daß sie den Grundsatz der Unentgeltlichkeit des Mandats ablehne22. b) Gerade der Umstand, daß der Auftrag nach der Dresdener Konzeption nicht nur entgeltlich, sondern auch unentgeltlich erteilt sein konnte, macht es verständlich, daß neben dem Vergütungsproblem auch der Aufwendungsersatz geregelt sein mußte, der jedenfalls für die unentgeltliche Geschäftsbesorgung das wesentliche Gegenrecht des Beauftragten bot. Dazu bestimmt der Dresdener Entwurf in Art. 703 Hat der Beauftragte zu der Ausführung des Auftrags notwendige oder nützliche Auslagen und Verwendungen gemacht, so muß ihm der Auftraggeber solche samt Zinsen von dem Zeitpunkte des gemachten Vorschusses an ersetzen...
Der Bericht der Hilfsarbeiter enthält zu diesem Punkt keine Angaben, die für das vorliegende Thema wesentlich sein könnten23.
21 22 23
Schubert II (ob. Fn. 14) S. 801. Schubert II (ob. Fn. 14) S. 883. Schubert II (ob. Fn. 14) S. 871 ff.
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4. Ergebnis. Der Vorentwurf bejaht die Vergütungspflicht bei der Geschäftsführung ohne Auftrag mit großer Klarheit. Er faßt Vergütung und Auslagenersatz in einer Norm zusammen. - Der als Vorentwurf benutzte Dresdener Entwurf kennt sowohl das entgeltliche als auch das unentgeltliche Mandat und normiert konsequent einen Vergütungsanspruch und - getrennt davon - einen Aufwendungsersatzanspruch. Eine Verweisungsverbindung zwischen den beiden Rechtsverhältnissen besteht in diesem Vorstadium noch nicht. III. 1. Die Beratungen der ersten Kommission und der erste Entwurf zum BGB. Die Kommission beschäftigte sich zunächst (Januar 1883) mit dem Teilentwurf v. Kübels über die Geschäftsführung ohne Auftrag24 und ging erst später zur Beratung der Auftragsvorschriften des Dresdener Entwurfs über (Juni bis September 1883)25. - Über die protokollierten Beratungen der ersten Kommission unterrichten die neuen Editionen von Jakobs/Schubert unter dem Titel „Die Beratung des BGB". Dagegen enthalten die „Motive zu dem Entwürfe eines Bürgerlichen Gesetzbuches", die die bisher allgemein zugängliche Hauptquelle zur Entstehung des ersten Entwurfs darstellten, nur Auszüge aus den Begründungen zu den Teilentwürfen und aus den Protokollen der ersten Kommission sowie eigenes Gedankengut der Hilfsarbeiter26; sie treten damit in ihrem historischen Erkenntniswert hinter die umfassenderen Editionen von Jakobs und Schubert zurück, ohne deshalb völlig bedeutungslos zu werden27. 2. Die Geschäftsführung ohne Auftrag. Zu dem oben (112) erwähnten §283 des Vorentwurfs wurden mehrere Anträge gestellt, die sich aber in erster Linie auf die hier nicht interessierende Frage der Voraussetzungen des Aufwendungsersatzanspruchs bezogen. Bei der anschließenden Prüfung der Bestimmung der Rechte des Geschäftsführers gab es zwar gleichfalls einige Abänderungsanträge, aber offensichtlich keine sachlichen Differenzen28. Man entschied sich für einen Antrag des Kommissionsmitgliedes Kurlbaum, der empfohlen hatte, dem Geschäftsführer insoweit die Rechte auf Ersatz von Aufwendungen und auf Befreiung
Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 114. Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S.29. 26 Schubert I (ob. Fn. 14) S.49. 27 Das harte Urteil Schuberts (I fob. Fn. 14] S. 50) erscheint doch wohl überzeichnet: „Auf der anderen Seite sind die Motive nicht geeignet, die Entstehung des 1. Entwurfs in irgendeiner Weise zu erhellen, und insoweit als Quellenwerk unbrauchbar." 28 Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 142 ff. 24 25
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von Verpflichtungen „wie einem Beauftragten" zu gewähren. In den Protokollnotizen dazu heißt es29: Diese Normierung stimme im wesentlichen mit dem Inhalte des §238 des Entwurfs überein; sie empfehle sich aber für das Gesetz aus ähnlichen Gründen wie die in der vorigen Sitzung zum § 2 3 4 beschlossene ähnliche Vorschrift.
In der „vorigen" Sitzung war darauf hingewiesen worden, daß es sich empfehle, „zur Vermeidung von Wiederholungen" Vorschriften des Auftragsrechts auf die Geschäftsführung ohne Auftrag für anwendbar zu erklären30. Die Motive äußern sich zu dem vorliegenden Thema wie folgt 31 : Es fehle an einem Grund, die Rechtsstellungen des negotiorum gestor in dieser Richtung anders zu normieren, als diejenige des Beauftragten. Unter Ersatz der Aufwendungen sei geeignetenfalls auch Vergütung für Dienstleistungen, welche in und bei der negotiorum gestio erfolgten, zu verstehen.
Es folgt die wichtige Verweisung auf die (nach der Beratung der Geschäftsführung verfaßten) §§586, 596 des ersten Entwurfs, in dem über die Vergütung des Beauftragten Regelungen getroffen waren. Nach redaktioneller Bearbeitung wurde die Verweisung auf das Auftragsrecht dann als §753 in den ersten Entwurf aufgenommen. Die Vorschrift lautete in dem hier interessierenden Teil 32 : § 753 . . s o hat der Geschäftsführer wie ein Beauftragter des Geschäftsherrn gegen diesen einen Anspruch auf Ersatz seiner Aufwendungen und auf Befreiung von eingegangenen Verbindlichkeiten, auch wenn der durch die Geschäftsführung beabsichtigte Erfolg nicht eingetreten ist.
Bemerkenswert ist eine Protokollnotiz von unbekannter Hand anläßlich der redaktionellen Bearbeitung 33 : Wird genügend klar, daß für Handlungen, für welche der gestor bezahlt zu werden pflegt, Vergütung zu leisten ist?
Die Frage ist nur zu berechtigt. Denn die Verweisung ist, gemessen an ihrem Ziel, mißlungen. Sie gibt die Absicht der Kommission nicht korrekt wieder, weil sie sich - neben dem Recht auf Befreiung von Verbindlichkeiten - nur auf das Recht auf Aufwendungsersatz (geregelt in Art. 703 des Dresdener Entwurfs, s. oben II 3 b) bezieht, dagegen die davon zu trennende Vergütung (geregelt in Art. 705 des Dresdener Entwurfs) unerwähnt läßt, obwohl diese doch einbezogen werden sollte.
29 30 31 32 33
Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 145. Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 121. Motive II S. 863. Text bei Mugdan II S. C X X X V I . Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 146 Fn. 1 b.
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- Eine gewisse Erklärung für diesen Fehler mag die zeitliche Abfolge der Beratungen geben. Die Geschäftsführung ohne Auftrag wurde vor dem Auftrag beraten (oben 1). Vorschriften über das Auftragsrecht waren also noch nicht beraten und beschlossen; ja es gab sogar nicht einmal einen durchgearbeiteten Vorentwurf mit Begründung (oben II 1). Insofern ging die Verweisung zwar nicht gänzlich ins Ungewisse, wohl aber war sie ohne inhaltlich präzise zu bestimmendes Ziel. 3. Der Auftrag. Bei den Verhandlungen der ersten Kommission (Sitzung vom 25.Juni 1883) wurde nicht in Zweifel gezogen, vielmehr „allgemein anerkannt und von allen Seiten zugegeben" 34 , daß die Unentgeltlichkeit kein wesentliches Erfordernis des Auftragsvertrages sei. Im Verlauf einer anschließenden eingehenden Diskussion über die Abgrenzung zum Dienstvertrag entschied sich eine Mehrheit dafür, derartige Abgrenzungsversuche im Gesetz zu unterlassen und den Art. 687 inhaltlich unverändert zu übernehmen. Die Vorschrift wurde demgemäß als § 585 in den ersten Entwurf aufgenommen. Danach war klar, daß auch Art. 689 des Vorentwurfs (Dresdener Entwurfs) gebilligt werden konnte. Er erhielt als §586 im ersten Entwurf die folgende Fassung35: Der Auftraggeber kann sich verpflichten, für die Ausführungen des Auftrages dem Beauftragten eine Vergütung zu gewähren. Eine Vergütung ist als stillschweigend vereinbart anzusehen, wenn die Ausführung des Auftrages nach den Umständen nur gegen eine Vergütung zu erwarten war.
Ebenso wurde Art. 705 des Vorentwurfs (Dresdener Entwurfs) über die Pflicht des Auftraggebers, die vereinbarte Vergütung zu zahlen, zugestimmt; er wurde als § 596 Bestandteil des ersten Entwurfs 36 . Teilnehmer an dieser Sitzung war auch Windscheid, der wenig später (zum 1. Oktober 1883) aus der Kommission ausschied. Er stellte sogar einen Antrag, aus dem sich sein Einverständnis mit der Kommissionsmeinung ergab37. Es ist immerhin bemerkenswert, daß diese Autorität des Pandektenrechts 38 der Aufgabe des Dogmas von der Unentgeltlichkeit des Mandats zustimmte. Der den Aufwendungsersatz regelnde Art. 707 des Dresdener Entwurfs wurde sachlich nicht geändert. Bemerkenswert ist allenfalls, daß die bisher verwandten Begriffe der „Auslagen und Verwendungen" zum Sammelbegriff der „Aufwendungen" zusammengezogen wurden und
54
Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S.31; abgekürzte Wiedergabe in Motive II S.527. Text auch bei Mugdan II S.XCV. 56 Text auch bei Mugdan II S.XCVII. 37 Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S.30. 38 Lehrbuch des Pandektenrechts II 4 (1871) S. 530: „Der Auftrag ist seiner Natur nach unentgeltlich"; es folgen Einschränkungen. 35
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daß die Kommission den Fall, daß dem Beauftragten eine Vergütung zugesprochen war, die zugleich ihn wegen seiner Aufwendungen entschädigen sollte, nicht für regelungsbedürftig hielt, weil er sich „von selbst" regele". Die Vorschrift wurde als §595 in den ersten Entwurf übernommen40. 4. Ergebnis. Ebenso wie der Vorentwurf war die erste Kommission der Meinung, daß die Dienste des Geschäftsführers ohne Auftrag zu vergüten seien. Aber die technische Umsetzung dieser Meinung in die Entwurfsfassung ist mißlungen, weil die Verweisung auf das Auftragsrecht nur den Aufwendungsersatz, nicht dagegen die Vergütung einbezog, obwohl letzteres leicht möglich gewesen wäre. Die Protokollnotiz sowie der Hinweis in den Motiven machen deutlich, daß der Mangel später erkannt worden ist. - Die Verweisung ist andererseits als solche inhaltlich nicht etwa unklar, sondern unmißverständlich: Der Geschäftsführer erhält Aufwendungsersatz, aber keine Vergütung. IV. 1. Die Beratungen der zweiten Kommission, der zweite Entwurf und die weiteren Entwürfe zum BGB41. Trotz umfassender und zum Teil heftiger Kritik von verschiedenen Seiten am ersten Entwurf entschlossen sich die Bundesregierungen, den Entwurf als brauchbare Grundlage für ein Gesetzbuch anzuerkennen. Mit der weiteren Bearbeitung wurde eine zweite Kommission betraut, die mit ihren zunächst 22, später 24 Mitgliedern doppelt so groß war wie die erste Kommission. Die zweite Kommission beriet in den Jahren 1891 bis 1896 den ersten Entwurf und erarbeitete einen zweiten Entwurf. Die Arbeitstechnik änderte sich gegenüber dem Verfahren der ersten Kommission insofern, als die Hauptkommission sich mehr auf die Erörterung der wichtigen dogmatischen und rechtspolitischen Fragen konzentrierte, während sie Fragen des Systems und der sprachlichen Fassung einer kleineren Redaktionskommission überließ. Diese Arbeitsteilung brachte neben Vorzügen sicherlich auch die Gefahr von Fehlern mit sich. - Die Beratungen der zweiten Kommission sind in der amtlichen Ausgabe von 1897 bis 1899 sowie bei Mugdan veröffentlicht. Die neuen Editionen von Jakobs/ Schubert erweitern unseren Erkenntnisstand aber insofern, als sie die Namen der Redner, Antragsteller und Abstimmenden erstmals offenlegen42. Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 71. Text auch bei Mugdan II S.XCVI. 41 Zum folgenden Schubert I (ob. Fn. 14) S. 50 ff. 42 Schubert I (ob. Fn. 14) S. 58. 39 40
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2. Die Geschäftsführung ohne Auftrag. Für die zweite Kommission standen wie für ihre Vorgängerin allein die problematischen Voraussetzungen des Aufwendungsersatzes zur Debatte, die Frage des Ersatzumfangs stellte sich für sie nicht. In den umfangreichen Protokollen 43 wird eine inhaltliche Abweichung vom Standpunkt des Vorentwurfs und des ersten Entwurfs nicht erwogen. So ist die in § 753 des ersten Entwurfs enthaltene Verweisung auf das Auftragsrecht (Ersatz der Aufwendungen „wie ein Beauftragter") unverändert in §614 des zweiten Entwurfs aufgenommen, von dort als §670 in die sog. Bundesratsvorlage (E III) übernommen worden und schließlich in § 683 BGB Gesetz geworden 44 . 3. Der Auftrag. In diesem Bereich entschloß sich die zweite Kommission zu einer gänzlichen Meinungsänderung. Sie ließ den § 585 des ersten Entwurfs nicht gelten, sondern vertrat den Standpunkt von der Unentgeltlichkeit des Auftrags, und zwar erstaunlicherweise völlig ohne Widerspruch. Alle vier Abänderungsanträge 45 zu §585 des ersten Entwurfs gingen einheitlich von der Unentgeltlichkeit des Auftrags aus, und in den Protokollen 46 dazu ist zu lesen: Einvernehmen herrschte darüber, daß im Gegensatze zum Entwurf den Gegenstand des Auftrages die unentgeltliche Geschäftsbesorgung bilden s o l l . . .
Ebenso einhellig also wie die erste Kommission das Erfordernis der Unentgeltlichkeit des Auftrags abgelehnt hatte, vertrat nunmehr die zweite Kommission die gegenteilige Meinung. Die Meinung wurde offenbar als so selbstverständlich empfunden, daß man eine eingehende Abwägung und Begründung für entbehrlich hielt. Entsprechend abgeändert wurde die Vorschrift zu § 593 des zweiten Entwurfs, und in dieser Fassung ist sie in § 662 BGB Gesetz geworden. Nach dieser Grundentscheidung war es notwendig, die §§ 586, 596 des ersten Entwurfs über die Vergütung der Dienste des Beauftragten und die entsprechende Zahlungspflicht des Auftraggebers zu streichen47, „von der Meinung ausgehend, daß, wenn für die Ausführung des Auftrages eine Vergütung versprochen sei, ein Dienst- oder Werkvertrag vorliege"48. Man fragt nach den Gründen für diese überraschende Wendung. Zunächst wäre an eine „romanistische Restauration" zu denken: Die römisch-gemeinrechtliche Lehre von der Unentgeltlichkeit des Mandats 43 44 45 46 47 48
Mugdan II S. 1195 ff; Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 146 ff. Mugdan II S. CXXXVI; Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 148. Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S. 44. Mugdan II S. 942. Mugdan II S. 943, 953. Mugdan II S.953.
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feierte einen späten Sieg. Aber für diese Annahme spricht wenig. Denn die beiden Antragsteller v.Jacubezky und Struckmann49, auf die die Änderung zurückzuführen ist, zeigen weder in ihren Viten noch in ihren literarischen Zeugnissen eine irgendwie bemerkbare besondere Affinität zum römischen Recht. Karl August von Jacubezky50 war ein hoher, aus dem Justizdienst kommender Ministerialbeamter, der in München studiert und die meiste Zeit seiner beruflichen Tätigkeit am Bayerischen Justizministerium zugebracht hatte. Gerühmt werden seine gründlichen Kenntnisse, sein Scharfsinn und sein Streben, den Bedürfnissen des praktischen Lebens gerecht zu werden. Seine nicht zahlreichen Veröffentlichungen behandeln überwiegend aktuelle Einzelfragen aus dem gesamten Bereich des bürgerlichen Rechts. - Hermann Struckmann51 war nach dem Studium in Heidelberg, Berlin und Göttingen zunächst längere Zeit in Norddeutschland als Richter und später im Reichsjustizamt als Ministerialbeamter tätig. Seine wenigen Publikationen beschäftigen sich, wie bei Jacubezky, mit einigen aktuellen Problemen des bürgerlichen Rechts. - Auch aus der weiteren personellen Zusammensetzung der zweiten Kommission52 läßt sich nicht erkennen, daß der romanistische Einfluß eine bemerkenswerte Rolle gespielt hat. Im Gegenteil: Das allgemeine Urteil über die Arbeit der zweiten Kommission" geht dahin, daß sie die Revision des ersten Entwurfs stärker mit dem Blick auf die soziale Realität und auf die Probleme der Zeit betrieben hat, daß also der Gesichtspunkt der Verbindung mit der römisch-gemeinrechtlichen Tradition kein besonderes Gewicht gehabt hat. Die wenigen Überlegungen, die aus den Beratungen über diese Frage überliefert sind54, lassen eher vermuten, daß es das Streben nach begrifflich-systematischer Symmetrie war, das die zweite Kommission zur Unentgeltlichkeit des Mandats übergehen ließ. Man hatte Bedenken und fragte sich, wie entgeltliche Geschäftsbesorgungen vertragsrechtlich einzuordnen seien, wenn sie sowohl Gegenstand eines entgeltlichen Mandats als auch eines (gleichfalls entgeltlichen) Dienst- oder Werkvertrags sein konnten. Um hier zu einer klaren Abgrenzung zu kommen, übernahm die Kommission das Merkmal der Entgeltlichkeit als maßgebendes Kriterium. War ein Entgelt vereinbart, sollten die Vorschriften über das Dienst- oder Werkvertragsrecht anzuwenden sein, bei Unentgeltlichkeit 49 50 51 52 55 54
Jakobs/Schubert (ob. Fn. 14) S.44. Dazu Schubert I (ob. Fn. 14) S. 101 f. Dazu Schubert I (ob. Fn. 14) S. 107 f. Dazu Schubert I (ob. Fn. 14) S. 91 ff. Schubert I (ob. Fn. 14) S.57. Mugdan II S.942f.
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dagegen war das Auftragsrecht zuständig. Neben die Vertragstypen der entgeltlichen Miete und der unentgeltlichen Leihe sollten analog die Vertragstypen des entgeltlichen Dienst-, Werkvertrags und des unentgeltlichen Auftrags treten, um „auf diese Weise klar von einander abgegrenzte Rechtsinstitute zu schaffen"55. 4. Ergebnis. Die Beratungen der zweiten Kommission geben keinen Hinweis darauf, daß die bisherige Auffassung von der Entgeltlichkeit der Geschäftsführung ohne Auftrag verlassen werden sollte. Für die Kommissionsmitglieder war diese Frage kein Thema mehr. Wäre es anders, so wäre dies in den Materialien vermerkt worden, wie es dem ungemein ausführlichen und sorgfältigen Beratungsstil der Kommission entsprach. Was geändert werden sollte, wurde erwähnt; was nicht erwähnt wurde, sollte unverändert übernommen werden. Es ist schließlich in den Materialien auch nicht erkennbar, daß etwa generell das Wesen der Geschäftsführung ohne Auftrag stärker als altruistische und daher nicht zu vergütende Menschenhilfe verstanden wurde. Danach ist festzustellen, daß die Kommission die bestehende Auffassung unverändert übernahm. Gerade weil es in diesem Bereich für die Kommission nichts zu verändern gab, ist es glaubhaft, daß die fehlerhafte Verweisung auf das Auftragsrecht übersehen wurde. - Der im Auftragsrecht vollzogene Wandel von der Entgeltlichkeit zur Unentgeltlichkeit hatte zwar, rechtstechnisch betrachtet, keine unmittelbare Folge für die Geschäftsführung ohne Auftrag, weil die Verweisung von dort sich nur auf den Aufwendungsersatz, nicht auf die Vergütung bezog. Mittelbar aber führte er zum endgültigen Ausschluß der Vergütungspflicht für den Geschäftsführer ohne Auftrag. Nun war selbst im Wege extensiver Auslegung nicht mehr zu helfen. Das jetzt aus dem Auftragsrecht ausdrücklich ausgeschlossene Merkmal der Vergütung ließ sich auch mit den gewagtesten Methoden juristischer Interpretationskunst nicht mehr in die Auftragsvorschriften hineinlesen. V. Fassen wir die Ergebnisse der stufenweisen Analyse der einzelnen Gesetzgebungsphasen anhand der derzeit verfügbaren Materialien zusammen, so kann kein vernünftiger Zweifel daran bestehen, daß der Meinung Wollschlägers zuzustimmen ist. Es paßt zwar nicht in das herkömmliche Bild von der Denkweise der ersten Kommission, der römisch-rechtlicher Doktrinarismus vorgeworfen wird, ist aber nach den neu veröffentlichten Materialien nicht zu bezweifeln: Vorentwurf und erster Entwurf hatten sich in unserer Frage von der römischen 55
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II S.943.
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Tradition gelöst und die Geschäftsführung ohne Auftrag als vergütungspflichtig geregelt. Davon ist im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens inhaltlich nie abgewichen worden. Aber eine leichtsinnige Verweisung ins fast Ungewisse, die der Vereinfachung dienen sollte, war die Ursache für die spätere gewissermaßen „apokryphe Verwirrung". Das Prinzip der Unentgeltlichkeit der Geschäftsführung ohne Auftrag entstand danach ungewollt und zunächst unbemerkt als Folge eines Verweisungsfehlers. Das mag man dann ein „Redaktionsversehen" nennen. Solche Versehen können offen zutage liegen, sofort erkannt werden oder aber verdeckt sein. Letzteres trifft auf unseren Fall zu. Seine besondere Pointe liegt darin, daß die Fehlanordnung der Unentgeltlichkeit, wie gezeigt, zufällig mit der römisch-rechtlichen Tradition übereinstimmte. Wohl aus diesem Grunde wurde der Fehler nicht sachlich gerügt, sondern als gewollte gesetzliche Anordnung empfunden. Allerdings zeigte sich nach Inkrafttreten des BGB, daß die gesetzliche Anordnung der Unentgeltlichkeit für nicht (mehr) sachgerecht gehalten und daher mißachtet wurde, vielleicht sogar gelegentlich unbemerkt blieb. Der maßgebende BGB-Kommentar von Planck56 etwa meinte, ohne auf den Widerspruch zu den §§ 683, 670 auch nur hinzuweisen, daß die übliche Vergütung für die aufgewendete Arbeit geschuldet werde, und verwies dazu auf zwei OLG-Urteile, in denen dieser Standpunkt ohne weitere Erläuterung57 oder mit einer höchst fragwürdigen Begründung58 vertreten wurde. Der Macht des Gesetzgebers sind eben Grenzen gesetzt. Oder: Der Hund bellt, und die Karawane zieht weiter (arabisches Sprichwort). Freilich sollte man sich mit dieser Feststellung nicht begnügen, vielmehr sollte die Nichtbeachtung der klaren gesetzlichen Anordnung in den §§ 683, 670 offen zugegeben und mit den geschilderten Redaktionsversehen die Zulässigkeit einer Korrektur der gesetzlichen Fehlleistung begründet werden, wie dies auch sonst in vergleichbaren Fällen geschehen ist59.
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Recht der Schuldverhältnisse II3 (1907) §683 Anm.3a. OLG Rspr. 8, 343 (Colmar; 25.3.1904). 58 OLG Rspr. 12, 272 (Celle; 10.11.1905): Es bestehe „ebensowenig" eine Vorschrift, durch die ein Vergütungsanspruch ausgeschlossen werde. 59 So etwa bei §254 112; vgl. Fikentscher, Schuldrecht' (1976) §55 VII2. 57
Gedanken zur römischen „lex imperfecta" und zu modernen Normvorstellungen in der Rechtsgeschichte W A L T E R SELB
1. Die heutige allgemeine Rechtslehre meint recht einhellig, daß zu einer Rechtsnorm zwei Dinge gehören, einmal eine verbindliche Anordnung ein Gebot, Verbot oder eine Gewährung - zum anderen eine Sanktion zu deren Durchsetzung. Die Rechtshistoriker halten diese Betrachtungsweise für überaus traditionsreich; zur Demonstration greifen sie auf Beispiele aus den altorientalischen Rechten, aus der griechischen Rechtsphilosophie und nicht zuletzt aus der römischen Rechtsquellenlehre zurück. In der Tat „normieren" in diesem Sinne alle Erscheinungen, die Gaius 11-7 als Rechtsquellen aufzählt. In unseren modernen Darstellungen vom römischen Recht ist demnach ganz folgerichtig ohne weitere Erklärung von „Gesetzen", „Gesetzgebern" und „Normen" die Rede, so als handle es sich in allen Entwicklungsphasen des römischen Staates um das gleiche Modell, wie wir es im späteren Prinzipat finden, wenn nicht gar um einen Rechtsstaat moderner Prägung. Die normative Verbindlichkeit des Rechts wird in diesem Modell streng von der Effektivität dieses Rechts getrennt. Und die Sanktionen des Rechts stehen unter derselben normativen Verbindlichkeit, sind nicht etwa einer außerhalb der beschriebenen Normsetzung stehenden Macht überlassen. 2. Es gibt jedoch eine ganze Reihe von Erscheinungen aus der römischen Geschichte, die dieses klare Bild trüben. Am deutlichsten ist das beim Senatus consultum, vielleicht weil Gaius I 4 selbst bereits den Eindruck hatte, daß das Senatus consultum erst nach seiner Durchsetzung Normcharakter habe. Den Rechtshistorikern darf es aber gar nicht allein darum gehen, den römischen Juristen der Hochklassik Recht zu geben, wenn sie einem längst in die gerichtliche Praxis übersetzten Senatus consultum nachträglich Gesetzeskraft (leges vicem) zuerkennen. Sie müssen nach dem ursprünglichen Charakter eines Senatus consultum in der bei seinem Erlaß konkret gegebenen verfassungsrechtlichen Situation fragen. Es fällt uns heute schon vom Inhalt her schwer, in den Beschlüssen des Senats z. B. De Thisbensibus (,de ea re, ut Q. Maenio
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praetori e re publica fideque sua videbitur, itafieri censuerunt')' oder De philosophis et rhetoribus (,ut M. Pomponius praetor animadverteret curaretque uti Romae ne essent')2 Normen zu sehen; allenfalls finden wir noch eine Art Ermächtigung zur Normsetzung darin. Dasselbe gilt jedoch auch dann, wenn das SC Vellaeanum materiell verfügt ,ne pro ullo feminae intercederent' und erst die Gerichtsmagistrate der Folgezeit in der „Ubersetzung" dieser recht lakonischen rechtspolitischen Maxime konkrete actiones und exceptiones, denegationes und restitutiones dekretieren (D. 16,1)- Der rechtspolitischen Maxime selbst fehlt es noch an allem, was eine „Norm" ausmacht. Bei historischer Betrachtung des Jurisdiktionsedikts wird das noch deutlicher. Der klassische Jurist zweifelt zwar nicht am Normcharakter des Edikts in der Fassung des edictum perpetuum Hadrians (Gaius 16). Den Charakter des Jahresedikts eines bestimmten Prätors in einer bestimmten geschichtlichen Situation zu bestimmen, fällt uns nicht ganz so leicht. Vor allem müssen wir wohl die Einheit hinwegdenken, die uns in der Redaktion des hadrianischen Edikts begegnet, die nebeneinander Rechtsschutzverheißung und Musterformel als Basis der letztlich konkret gewährten actio zusammenfassend als Norm bietet. Das frühe Edikt ist dagegen nichts anderes als ein veröffentlichtes rechtspolitisches Programm für das eigene Verhalten des Magistrats. Einer Verheißung wie ,Quod metus causa gestum erit, ratum non habebo' (D. 4,2,1) oder ,Quod cum minore ... gestum esse dicetur, uti quaeque res erit, animadvertam' (D. 4,4,1,1) kommt kaum mehr als programmatischer Charakter zu. Auch ihr fehlt es an dem, was eine „Norm" ausmacht. 3. Spätestens hier muß uns auffallen, daß sich schon die römische Jurisprudenz auch mit leges befassen mußte, die einen ähnlich rudimentären Charakter gehabt zu haben scheinen. Nach einem späten, vielbehandelten Text aus Ulp.epit. 1,1 soll es einmal leges gegeben haben, denen die Sanktion völlig fehlte (leges imperfectae) oder deren Sanktion gemessen an späteren Sanktionen - noch recht unvollkommen war (leges minus quam perfectae). Die rechtshistorische Forschung bestätigt diesen Befund; es sieht so aus, als habe z . B . die in Ulp.ep. 1,1 genannte lex Cincia de donis et muneribus von 204 v. Chr. als lex imperfecta in der Tat nur im Sinne des kurzen Zitats bei Paulus 71. ad edictum ad Cinciam (fr. Vat. 298) auf ein lakonisches ,capere ne liceto' gelautet. Für Ulpian ist die lex imperfekt, weil sich in ihrem Wortlaut seiner modernistischen Erwartung zuwider keine Sanktion findet. Wer aber fordert von uns heute, dieselbe Erwartung an die Quellen heranzutragen; was legitimiert 1 2
FIRA I Nr. 31, 4 a. FIRA I Nr. 32.
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gar die überreiche Literatur zur lex imperfecta, den römischen Juristen Ulpian in seinem Modernismus vor dem Hintergrund unserer Quellenkenntnis zu Ende zu denken? Die Frage stellen heißt sie beantworten. Die wahre Frage, die an den Rechtshistoriker gestellt ist, lautet daher zunächst einmal, ob denn die leges, die man hier gemeinhin anführt, wirklich imperfekt waren. Und diese Frage ist genau wie bei den Senatus consulta und bei den Edikten des Gerichtsmagistrats aus dem Gesamtgefüge dessen, was wir kurz „Verfassung" nennen, zu beantworten, nicht aus der Uberlieferung des Textes einer lex oder einem späteren Erklärungsversuch dazu. Hatte die lex etwa in einer früheren Entwicklungsstufe der republikanischen Verfassung gar nicht die Funktion, Anordnungen in sich aufzunehmen, die mehr waren als politische Richtlinien? Nach unserer modernen Vorstellung des Rechtsstaates gibt jedenfalls die Norm dem Rechtsanwender das Recht vor. Nach der Idee der Gewaltenteilung soll ihm nur in beschränktem Ausmaß - gestaltend über Generalklauseln, erkennend über die Interpretation - Teil an der N o r mierung gewährt werden. Ansätze zu einer derartigen Vorstellung von „Norm" finden sich aber in Rom m. E. frühestens in der Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr., in wortreichen und ausgeklügelten gesetzlichen Anordnungen nebst Sanktionen. Schon nach dieser Erscheinung möchte man annehmen, daß von dieser Epoche an die normierenden Gewalten im Staat gegenüber einer früheren Zeit neu verteilt worden waren. 4. Es gibt einen weiteren Grund, am rechten historischen Normverständnis der modernen rechtshistorischen Darstellungen zu zweifeln. Die untersuchten leges imperfectae waren zumindest zum großen Teil Plebiszite. Nach der römischen Uberlieferung waren solche Plebiszite vor der lex Hortensia nicht für das Gesamtvolk verbindlich, sondern nur für die plebs (Gaius 13). Denkt man mit Gaius normativ, nämlich in den Alternativen ,teneri' und ,non teneri', so verlieren die meisten Plebiszite zivilrechtlichen Inhalts freilich völlig ihren Sinn. Was bezweckt denn ein plebejisches, nur die plebs bindendes Gesetz über Schenkungsverbote anbetrachts der auf solche Schenkungen im Machtmißbrauch drängenden Patrizier 3 ? Handelt es sich nicht etwa um Beschlüsse der plebs, die gerade die Patrizier zu binden versuchten? Als solche Beschlüsse wären sie dann freilich nichts anderes gewesen als rechtspolitische Forderungen an die herrschende Klasse 4 . Genau das aber würde schon erklären, 3
Casavola, Lex Cincia (1960) berichtet über die Hypothesen zum Anlaß S. 28 ff; ich folge hier Käser, Über Verbotsgesetze und verbotswidrige Geschäfte im römischen Recht (1977) 26. 4 Bleichen, Lex publica, Gesetz und Recht in der römischen Republik (1975) 85, nennt sie „Forderungen", 87: „Wünsche", in Das Volkstribunat der klassischen Republik (1968) 11, räumt er ihnen Normativität nur für das plebejische Gemeinwesen ein.
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warum man es dabei bewenden ließ, eine rechtspolitische Richtlinie zu formulieren, deren technische Durchsetzung im Falle des politischen Erfolgs notwendigerweise den Organen dieser herrschenden Klasse oblag. Und genau das würde auch erklären, warum die römischen Geschichtsschreiber immer wieder in der gleichen Weise über rogationes berichten wie über gefaßte Beschlüsse5; beide hatten eben die gleiche Funktion. Und weiter würde sich daraus erklären, warum etwa Plebiszite gleichen Inhalts (z.B. Zinsbeschränkungen) kurzfristig wiederholt werden: nicht weil ihre Normativität nicht effektiv geworden wäre, sondern weil es revolutionären Forderungen bis zum Erfolg der Revolution an Normativität überhaupt gebrach. 5. Es sieht so aus, als seien die Juristen hier mit ihrer normativen Betrachtung der älteren römischen Geschichte in eine Sackgasse geraten, treulich geführt von dem normativ denken Historiker Mommsen. Der moderne Historiker, der sich solchen Modellen weniger verpflichtet weiß, kann sich anscheinend davon mehr oder weniger frei machen. Den Anfang dazu hat trotz aller Bekenntnisse zur normativen lexk oder gar zum normativen Plebiszit der älteren Zeit7 Bleichen gemacht, nach der Meinung von Chr. Meier3 aber noch nicht energisch genug, nämlich die Funktion der lex nicht im Rahmen irgendeines vorgegebenen normativen Modells, sondern nur in der Realität gelebter Verfassung zu erfragen. Es ist etwas symptomatisch für den Stand rechtsgeschichtlicher Forschung, daß trotz der Forderung, Rechtsgeschichte als Teil der Sozialgeschichte zu sehen, eine derartige Diskussion bislang nur unter Althistorikern geführt wird. Leider sind entsprechende Ansätze in den Untersuchungen von Kunkel? nicht weit genug gediehen. Worin hätten die Juristen nun diesen Rahmen zu sehen, von dem die Funktion der lex abhängig sein soll? Sicher wiederum nicht in einem normativen Verfassungsmodell, in dem etwa der populus Romanus - später auch die plebsGesetze beschließt, die vom Senat als einer Art zweiter Kammer vorher oder nachträglich gebilligt und von den Magistraten als bloßen Exekutivorganen ausgeführt werden. Die Frage lautet, ob jener Rahmen, den Bleichen mit seiner stark politologischen Betrachtung erschlossen hat, eine Funktion der lex ergibt, die mit ihrem als imperfekt bezeichneten
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Nachweise bei Rotondi, Leges publicae populi Romani (1912, Neudr. 1962). Bleicken, Lex publica 82 ff und passim. 7 Z. B. Lex publica 86. 8 Rez. zu Bleicken, Lex publica, SZ 95 (1978), 378 ff. ' Besonders in Gesetzesrecht und Gewohnheitsrecht in der Verfassung der Römischen Republik, Romanitas 9 (1971), 357ff = Kunkel, Kleine Schriften (1974), 367ff. - Zur lex imperfecta jetzt auch Wieacker in dieser Festschrift sub V 2 c (Fn. 46 ff). 6
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Inhalt in Einklang gebracht werden kann, ohne daß man zu Verlegenheitsbegründungen seine Zuflucht nehmen muß. 6. Solche Verlegenheitsbegründungen beginnen übrigens schon mit Livius 10,9,5. Er ist verwundert darüber, daß die lex Valeria keine Sanktion, sondern nur die Bewertung,improbe factum' kennt. Er nimmt nur spätere sozialromantische Rückblenden vorweg10, wenn er meint, damals sei eben allein schon der pudor hominum eine Sanktion vinculum satis validum legis - gewesen. Bleichen scheint sich hier seiner Erklärung anzuschließen11. Doch mag freilich auch eine Theorie des älteren römischen Prozesses mitspielen, der zu folgen ich nicht geneigt bin. Ein Schuldspruch,improbe factum', wie er z. B. im Sakramentsprozeß nach der lex Calpurnia de repetundis als Abschluß der quaestio zu erwarten war, mochte in der Tat schon Sanktion genug sein, weil er eo ipso alle gesellschaftlichen Mechanismen der Repression nach sich zog, die jeweils rechtlich und tatsächlich verfügbar, durchsetzbar, opportun etc. waren. Wer keine „Verurteilung" wie im modernen Prozeß erwartet12, hat hier bereits seine Sanktion. Manche modernen Autoren meinen, imperfekt seien nur Plebiszite gewesen13. Sie aber hätten die altzivile Ordnung ohnehin nicht umstoßen können. Daher gebe es geradezu verfassungsrechtlich keine Plebiszite mit Sanktionen. Das ist schon rein tatsächlich nicht zutreffend, wie Kaseru jüngst gezeigt hat, denn es gibt Plebiszite aus der Zeit nach der lex Hortensia - wie die lex Aquilia - welche eindeutig das ius civile abändern. Und welche Funktion wollte man anderenfalls solchen normativ bedeutungslosen Plebisziten zumessen? Die gleiche Frage stellt sich bei der Erklärung, eine lex habe nicht in die magisch-sakrale Bindungswirkung des ius civile eingreifen können15. 7. Bleichen hätte sich der Erklärung, die Livius gibt, nicht anschließen müssen; denn schon seine weitgehende Abkehr von einer normativen Betrachtung der frühen Verfassung der Republik birgt die Lösung für die beiden miteinander verbundenen Probleme: das Problem der Bindungswirkung bei den leges und plebiscita der älteren Republik und das Problem fehlender Sanktionen im überlieferten Text solcher Beschlüsse.
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Costa, Storia delle fonti del diritto romano (1909) 41 Fn.3. Lex publica 217 f, 220, 222 f. 12 So aber die h. M.; dagegen jetzt Selb, Gedächtnisschrift Kunkel (1984)... 15 Vgl. zur lex sacrata der Plebejer Bleicken, Lex publica 218; aus der älteren Lit. vgl. Huvelin, Les tablettes magique, Annales int. d'hist. (Congrès Paris) 2 (1902) 31 Fn. 1. 14 Über Verbotsgesetze (o. A. 3) 14. 15 Rotondi (o. A. 5) 155 ff; ders., Scritti giuridici I 38 ff; di Paola, Contributi ad una teoria della invalidità e della inefficacia in dir. rom. (1966) 39 ff. 11
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Die Bindungswirkung ergibt sich in der Zeit bis zum beginnenden 2.Jh. v.Chr. sowohl für Beschlüsse des populus Romanus als auch für Beschlüsse der plebs - sei es vor, sei es nach der lex Hortensia - aus dem Zusammenspiel aller jener Kräfte, die im politischen Ringen um die Macht die Wirksamkeit des Beschlusses garantieren konnten. Die Effektivität macht in dieser Epoche auch die Normativität. Bleicken hat m. E. vorzüglich gezeigt, wie die Machtkonstellationen aussahen, die einem Beschluß des populus oder der plebs Wirksamkeit oder Wirkungslosigkeit zuordneten: Populus und Magistrate konnten sich gegen den Senat wenden, bis schließlich in der geschichtlichen Entwicklung die rogatio an eine vorausgehende auctoritas patrum gebunden wurde. Der Senat wieder konnte mit der plebs gegen widerspenstige Magistrate vorgehen, denen die rogatio beim populus oblegen hätte. Senat und Magistrat konnten Beschlüsse des populus oder der plebs unausgeführt lassen. Tribuni plebis konnten vom Senat gegen andere tribuni und damit gegen die plebs eingesetzt werden. Gewiß werden manche dieser faktischen Koalitionen mit der Zeit in rechtliche Formen gefaßt und damit zur „Verfassung". Gar zu früh dürfen wir diese Verrechtlichung aber nicht ansetzen, vor allem nicht aus der Lektüre der römischen Geschichtsschreiber. Die Realität zeigt z. B. gerade bei der lex Hortensia, daß die Verwirklichung der Mitsprache der plebs nicht mit dem prinzipiellen Zugeständnis durch die Patrizier Hand in Hand geht". So spricht auch manches dafür, daß die Normativität der Beschlüsse der plebs nach dem Jahre 287 v. Chr. noch immer von ihrer Verwirklichung im Dreiklang der Machtträger abhing, nun freilich schon bald mit dem Machtmittel der Beteiligung der plebs an den magistratischen Amtern. Im privatrechtlichen Bereich hebt sich ein solches Zusammenspiel von Kräften zur letztlichen Normierung besonders klar heraus. Für den normativ denkenden Juristen der Hochklassik ist der Magistrat, der um eine actio angegangen wird, an das vorgegebene ius civile, dementsprechend auch an leges gebunden. Die denegatio actionis gegen das ius civile, doch auch die Korrektur des ius civile erscheint ihm demgegenüber als Machtwillkür; eine spätere Zeit reiht sie freilich, wenn sie sich auf Dauer etablieren konnten, als Rechtsfortbildungen ein (Papinian D. 1,1,7,1). Uber die Konkretisierung oder Ausfüllung des ius civile machen wir uns deshalb kein klares Bild, weil die Vorstellung vom Zusammenspiel durch späte Berichte über das Ergebnis des Zusammenspiels als letztlichen Inhalt der vorgegebenen Norm verdeckt wird. Nehmen wir jedoch nicht von vornherein an, daß die sogenannten leges
16
Vgl. Bleicken, Das Volkstribunat (o. A . 4 ) 18 ff.
„lex imperfecta" und moderne Normvorstellungen in der Rechtsgeschichte
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imperfectae defekt, sondern normal sind, so suchen wir nach dem Organ, das die stets erforderte Sanktion mit der Verwirklichung der lex im gerichtlichen Verfahren aus seiner eigenen Autorität, aus seinem Anteil an der „Normsetzung" einführte. Bleichen" spricht hier von Rahmengesetzen, in denen auf magistratische Initiative eine privatrechtliche Legislative einsetzt, die dem Prätor die politische Deckung für seine Maßnahmen bieten, vielleicht ihm auch einmal auf senatorische Initiative Fesseln anlegen sollte. Die Grundidee Bleichens ist für den Rechtshistoriker sicher überraschend. Stoßen wir uns nicht an dem noch deutbaren „Rahmen", so ist die Idee jedoch bestechend. Es zeigt sich nämlich bei rechter Betrachtung des prätorischen Edikts sogleich eine ganz deutliche Parallele zwischen leges und edicta18: Nach meiner oben bereits geäußerten Auffassung besteht eben auch das Edikt zunächst einmal aus lauter Sätzen, die nicht über den Inhalt rechtspolitischer Programme hinausreichen und schon aus diesem Grunde keine Sanktionen enthalten. Die Sanktion ergibt sich erst aus der konkreten actio; ihre Normierung erfolgt letztlich durch das Moment immer gleicher Gewährung im Spiegel der von Jahr zu Jahr transferierten Musterformel. Nicht anders sieht die lex imperfecta aus. Geht der Satz auf den Gerichtsmagistrat zurück, so schafft der Magistrat mit ihm die Basis zur Aktionengewährung; geht sie auf andere Magistrate oder den Senat zurück, so bindet sie ihn dabei. Damit steht aber der Rechtshistoriker vor einer gewichtigen Frage. Wann konnte sich der Magistrat von der Form der lex als Deckung seiner Amtsführung abwenden und solche Richtlinien aus eigener Machtvollkommenheit formulieren? Wer den Ausgangspunkt einer Normierung im Zusammenspiel von lex und Gerichtsmagistrat oder auf anderen Gebieten von lex und Magistrat überhaupt akzeptiert, steht auch schon vor der Frage nach der Ursprungsnähe oder Verfremdung in späteren Berichten über Gesetzesinhalte. Ist etwa die lex Aquilia auch nur ein neue actiones legitimierendes Gesetz, in dem sich nicht mehr als tatbestandlich umgrenzte Verbote fanden, eventuell noch die allgemeine Anweisung, dem Eigentümer Ausgleich zu bieten? 8. Es gibt also keine imperfekten oder weniger perfekten leges. Im Zusammenwirken von Richtlinien und deren konkreter Ausführung entstehen verbindliche Anordnungen und deren Sanktion. Die Aufgabe läßt sich an zwei Beispielen dartun. a) Wo die lex Furia testamentaria rechtspolitisch die bloße Forderung erhob , . . . capere ne liceat', verfügte der sich dieser Forderung anschlie17
Bleuken, Das Volkstribunat 67. " Letztlich auch zwischen leges und Senatus consulta.
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ßende Magistrat in iure konkret entweder eine denegatio actionis, oder die Gewährung einer Bußklage. Käser19 reiht mit Ulp.ep. 1,2 die lex Furia testamentaria unter die leges minus quam perfectae ein; das sind Gesetze, die den verbotenen Rechtsakt nicht entkräften, aber mit einer Strafe (hier des quadruplum) bedrohen. Zeitlich wird die lex Furia zwischen 204 und 169 v.Chr. eingeordnet. Bei Gaius II225 wird ihr Inhalt als Verbot legatarum nomine mortis causa capere, was über 1000 As hinausging, sofern es keine persönlichen Ausnahmen gab, bezeichnet. Bei Gaius IV 23 wird darüber hinaus berichtet, daß die lex eine legis actio per manus iniectionem gegen den, der (ohne ausgenommen zu sein) mehr als 1000 As genommen hatte (cepisset), einführte. Die materielle poena quadrupli gegen den, qui ceperit, wird von Ulp.ep. 1,2 auf dieselbe lex zurückgeführt (constituit). Die h. M. in der Literatur schließt sich dem an20. Doch stellt sich ihr sofort das Problem, daß damit noch nicht die Frage gelöst war, was zu geschehen hatte, wenn der im Testament Bedachte erst gegen den Belasteten klagte, um etwas zu erhalten. Erkannte man schon für die legis actio ein Recht des Gerichtsmagistrats an, die Klage zu denegieren21, so leuchtet es nicht ein, daß der Gerichtsmagistrat das Verbot in diesem Verfahren nicht habe berücksichtigen dürfen. Zwei Fragen schließen sich hier jedoch sofort an. Wie konnte der Prätor das Verbot in iure berücksichtigen, ohne möglicherweise umfangreiche Untersuchungen zum Wert des Legats und zum Zutreffen der persönlichen Ausnahmen anzustellen? Es gab doch noch gar nicht die - auf die lex gestützteexceptio, die es erlaubte, dem iudex die Untersuchung zuzuschieben! Und was rechtfertigte es dann, in der Tradition zu sagen, die lex habe das verbotene Geschäft unberührt gelassen (Ulp.ep. 1,2: non rescindit)? Die lex enthielt nur im Text keine moderne Sanktion. Es war eben die Aufgabe des Gerichtsmagistrats, den Willen der lex im Einzelfall durch geeignete Maßnahmen durchzusetzen. Im Prozeß der legis actio aber ist jedenfalls noch kein Raum für eine exceptio. So bleibt eigentlich nur die selbstverständliche denegatio bei klarer Sachlage - oder die nachfolgende Strafklage. Von der ersten zu berichten, hat die Tradition und damit Ulp.ep. 1,2, keinen Anlaß. Allein sie oder die spätere exceptio des Formularverfahrens liefen auf eine rescissio hinaus. Hätte die lex übrigens modern die „Nichtigkeit" des Legats verfügt, so hätte man das im " Über Verbotsgesetze (o. A. 3) 33 ff. Vgl. Käser a. a. O . 34 und Fn. 5. 21 So richtig Käser a . a . O . 27 für die lex Cincia und 34 F n . 6 für die lex Furia testamentaria; für die lex Furia testamentaria freilich meint er nunmehr in „Vollstreckbarkeit und Bürgenregreß", SZ 100 (1983) 80 ff, 122 und Fn. 154, der Prätor habe der Klage stattgeben müssen. 20
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Prozeß über das Legat nur über die Verneinung des oportere aus dem Testament verwirklichen können. Demgegenüber wäre dann die entwicklungsgeschichtlich spätere exceptio, die das oportere (wieder?) unangetastet ließ, ein Rückschritt gewesen. Das ist nicht anzunehmen. b) Zu den leges imperfectae rechnet man mit Ulp. ep. 1,2 gemeinhin die lex Cincia22, von deren Inhalt bei Ulpian nur ein ,prohibet, ... et siplus donatum sit, non rescindit' überliefert ist. Das ,non rescindit' hat hier aber eine völlig andere Bedeutung als bei der lex Furia: Die Schenkung wird, wenn ihr Vollzug einmal stattgefunden hat, auch im Ubermaß nicht mehr beanstandet. N u r das Schenkungsversprechen ist vom ,prohibet' erfaßt. Wie kann das aber technisch geschehen? Gewiß nicht wie bei der lex Furia testamentaria über eine Buße, da das reale capere der Ubermaßschenkung eben nicht beanstandet wird. Es bleibt nur die denegatio actionis oder die exceptio einer weit späteren Entwicklungsstufe (Ulp.fr. vat. 310). Die erstgenannte Folge aber als Inhalt einer lex zu erwarten, widerspricht dem vorausgesetzten Zusammenspiel der Kräfte. Die lex wegen des Mangels imperfekt zu nennen, wäre der perfekte Anachronismus. 9. Die lex verbietet also ein bestimmtes Verhalten; allenfalls ordnet sie noch eine bestimmte Art des Verfahrens an, wenn ein Verstoß stattgefunden hat. Die materielle Sanktion des Verstoßes aber bestimmt der Gerichtsmagistrat. Es wird sich m. E., nachdem Bleicken und Chr. Meier einen neuen Weg gewiesen haben, nicht umgehen lassen, die Frage der leges imperfectae noch einmal aufzugreifen. Nicht weniger notwendig erweist sich dann freilich, die traditionelle Idee der Trennung des sogenannten (imperfekten?) „Normenteils" vom „Formelteil" im Edikt des Prätors zu überprüfen und der Ubersetzung ebenso imperfekter Senatus consulta in konkrete Rechtsbehelfe nachzugehen.
22
Dazu Käser a. a. O. 20 ff.
Gewissensbisse eines Kaisers* D I E T E R SIMON
Demetrios Chomatianos, Erzbischof des Bistums Bulgarien mit Amtssitz in Ochrid, erhielt während seiner Amtszeit (ca. 1216-1236) einen persönlichen Brief seines Herrschers Theodoros Dukas. Wir erfahren dies aus dem Antwortschreiben des Erzbischofs, welches in seinem Aktencorpus erhalten blieb1. Wann der verlorene Regentenbrief geschrieben wurde, wissen wir leider nicht. In der undatierten Antwort wird der Herrscher nicht als Kaiser tituliert. Da die Krönung 1227 stattfand, muß der Brief des Erzbischofs also jedenfalls vor diesem Datum verfaßt worden sein. Allerdings hat man beobachtet, daß Theodoros Dukas bereits, nachdem er Thessaloniki 1224 erobert hatte, als Kaiser tituliert wurde2, weshalb der Briefwechsel wahrscheinlich in die Jahre 1216-1224 zu datieren ist. Abgesehen von der Datierungsfrage kommt dem Umstand, daß Theodoros Dukas formell nicht Kaiser war, aber keine Bedeutung zu. Denn materiell behandelt der Erzbischof den Herrscher als Kaiser, und sein Schreiben, welches Grundsatzfragen byzantinischer Staatsverfassung und Kaiserethik berührt, ist nur unter der Voraussetzung voll verständlich, daß Chomatian sich als Dialogpartner eines Kaisers versteht. Was der Kaiser im einzelnen geschrieben hatte, läßt sich aus der Erwiderung des Chomatian natürlich nur sehr unvollkommen rekonstruieren. Es scheint si&h aber im wesentlichen nur um zwei Gesichtspunkte gehandelt zu haben. Einmal hat der Herrscher offenbar über die Last der Regentschaft im allgemeinen geklagt und seine vielfältigen Anstrengungen zur Ordnung des jungen Staatswesens von Epiros geschildert. Zum anderen bat er um Chomatians Beurteilung der Liqui* Geschrieben für Heinz Hübner, dem es stets gelungen ist, Begrenzungen nicht als Grenzen zu interpretieren. 1 Ediert von Kardinal J. B. Pitra, Analecta sacra et classica spicilegio Solesmensi parata, Rom 1891, Ndr. Farnborough 1967. Es handelt sich um Text Nr. 110 (Spalte 473-478) dieser Ausgabe, nach der im folgenden zitiert wird. Zur Überlieferungslage vgl. die Angaben bei Simon, Gedächtnisschrift Wolfgang Kunkel (Frankfurt 1984) und ders., Fontes Minores VI (Frankfurt 1984). 2 Zu diesen Fragen vgl. G. Prinzing, Die jtovf|naTa öiätpoga des Demetrios Chomatenos (Chartophylax und Erzbischof von Ohrid 1215-1236), Münster 1980, S. 14, 57/58, 151 des Manuskripts.
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dierung eines Räubers namens Petrilos, den er zusammen mit dessen Familie hatte exekutieren lassen. Da zum ersten Punkt keine konkreten Angaben gemacht werden, muß offenbleiben, auf welche historische Situation sich die angedeuteten Beschwernisse beziehen5. Chomatian bemerkt jedenfalls, daß er sich schon vor Empfang des herrscherlichen Briefes Gedanken über die Belastungen gemacht habe, die der Kaiser für die Behütung der ihm von Gott anvertrauten Ländereien auf sich nehmen müsse. Der Gedanke, daß der Kaiser rastlos tätig und geradezu allgegenwärtig zu sein habe, um den Seinen Schutz und Abwehr zu gewähren, habe ihn bekümmert (Sp. 473.9-21). Nun aber, da er genauer informiert sei, sei sein Kummer noch größer geworden. Allerdings stimme ihn eine Prüfung der Handlungsmotive des Kaisers auch wieder fröhlich, denn dieser unterziehe sich den grenzenlosen Mühen offensichtlich nicht deshalb, um Ansehen, Geld, Besitz, Genuß oder Luxus zu erwerben, sondern „Dein gotterfülltes Streben dient Deinem Vaterland und Deinen Volksgenossen" (474.11). Eine solche Haltung aber sei göttlicher Belohnung sicher. Deshalb solle er Mut fassen, seinen Sorgen und seiner Schwermütigkeit entsagen und im Vertrauen auf das göttliche Entgelt seinen Weg fortsetzen (473.22-475.3). Aus diesen Zeilen können wir immerhin entnehmen, daß zwischen dem Herrscher und dem Erzbischof ein enges Vertrauensverhältnis bestanden haben muß. Jenseits aller rhetorischen Kulissen hat hier offenbar ein seine Aufgaben ernstnehmender und auf Zuspruch hoffender Christ Tröstung und Ermutigung gesucht, welche ihm von Chomatian bereitwillig und sichtlich in der Rolle des geistlichen Vaters gespendet werden. Dieser Sachverhalt und das schon angeklungene Motiv des Handelns zum gemeinen Besten bestimmen jedenfalls vordergründig auch den umfangreicheren zweiten Teil von Chomatians Schreiben (475.4-478.39). Hier geht es um die Bewertung eines Vorfalls, der allem Anschein nach in der umstands- und formlosen Massakrierung des berüchtigten Petrilos und seiner Söhne bestand. In der historischen Sekundärliteratur neigt man dazu, die in Chomatians Text angedeutete Sündenfurcht des Kaisers (475.6 ff) als Skrupel vor oder nach der Vollstreckung eines Todesurteils zu deuten4. Diese Interpretation paßt aber nicht nur in keiner Weise zu den von Chomatian ausgearbeiteten Argumenten, sondern macht auch aus Theodoros Dukas einen historisch doch wohl allzu frühen prinzipiellen Todesstrafenskeptiker. Wesentlich einleuchtender und für das Mittelalter noch modern genug ist der Sachverhalt, wenn 3 4
Zu Theodor im allgemeinen siehe Nicol, The despotate of Epiros (1957) 47ff. Vgl. Prinzing a. a. O. 31 f und 151 mit Nachweisen.
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man annimmt, daß der Kaiser und seine Umgebung eine nicht im Kampfe erfolgte Tötung eines Verbrechers dann als Mord ansahen, wenn der Hinrichtung kein Gerichtsverfahren vorausgegangen war. Chomatian stellt denn auch lapidar fest: „Das, was dem berüchtigten Räuber Petrilos zugestoßen ist, wird, wie unsere Lebensordnung deutlich sagt, als Mord angesehen5." Der auffallende und schöne, hier mit dem Anachronismus „Lebensordnung" wiedergegebene Hinweis auf das sittliche Prinzip (Xoyog), welches das Gemeinwesen leitet, hat seinen Grund wohl nicht nur in dem Umstand, daß ein explizites, auf den vorliegenden Sachverhalt unmittelbar anwendbares Gesetz (vöfiog) tatsächlich nicht vorlag, oder in der Absicht, den Kaiser mit dem Vorwurf der Gesetzesverletzung zu verschonen. Vermutlich war Chomatian auch davon überzeugt, daß der Mordtatbestand nur außerhalb der reinen Gesetzlichkeit, auf der Ebene der Gesamtordnung der Gesellschaft angemessen erörtert werden könne. Denn die Tat war, wie der Erzbischof ausführt, zwar Mord, aber auch Vergeltung (exxioig) der Untaten des Verbrechers und zugleich Vorbeugung (x(d>0)[it]) gegen weitere, zweifellos zu erwartende Verbrechen des Petrilos. Deshalb möge der Kaiser seine Gewissensbisse (ftÖQußog Trjg ijruxfjc;) aufgeben, „denn die Vernichtung jenes wird Dir nicht als Sünde angerechnet werden, da sie für das Gemeinwohl geschah"6. Damit hat Chomatian eigentlich schon alles gesagt, was ihm zu dieser Sache eingefallen ist: Es handelt sich um eine im Hinblick auf das gemeine Beste gerechtfertigte Tötung. Aber es ist klar, daß er mit dieser knappen Bemerkung das Gewissen des Herrschers noch nicht beruhigt haben kann. Deshalb schließt er zur genaueren Klärung seiner Argumentation eine, wie er sagt, „kurze philosophische Betrachtung" an, damit dem Kaiser sein Gedankengang akzeptabel werde7. Die „Philosophie" besteht in der knappen Skizze eines Gesellschaftsmodells (475.38-477.24). Den Menschen werden von Gott verschiedene Lebensformen (ßioi) zugewiesen. Die einen befassen sich mit den Dingen außerhalb dieser Welt (xr)v e^co xoo|iou cpdooocpiav aoxoüai). Ihr Stand (jtoXixeia) ist der des Asketen, welcher auf die Teilhabe am Irdischen verzichtet. Die anderen widmen sich dem bürgerlichen Leben (jtoXitT]v äQ£Tr]v laetaöiüjxouaiv), sie sind Privatleute (töiCüTETJOVTeg), im Sinne von Menschen, welche sich um ihre eigenen weltlichen Angeles 475.17ff: Tö [ievxoi yeyovö? E15 xöv jtEgißörixov Xr)oxr|v xov ÜEXQiXov, xai öfl-EÖc;xoXä^oiv xoivaxpeXüg xoXd^Ei xai oiw i6La>jta&ü>c; xai oiiörjjto-u jtagaßaivei toi); im' aiitoü xedevtag vo^ioiic; xofi rf|c; eigir|vr|5 emYyeXiou, oütco xai ö ßaoiXetig, eijteo xoXä^ei, xaftö ßaaiXeiig ¿an, xoiviDcpeXüg xoXd'^ei xai (05 etneiv Ö£0(xi.|j,r|tcj5 xai 011 itagaßaivei xö EiiayveXiov. 10 478.25 ff: Eloäijig öe eoti/v EIJX07Ö5 te xai Ewofiog, 65 {oteq toü xoi/voü YEyovma atificpEQOvxog. 9
&OXEQ
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rung des Vorgangs, etwa unter dem Gesichtspunkt quod principi placuit, legis habet vigorem o. ä. erwartet. Es scheint freilich, als sei der Erzbischof einer derartigen Diskussion absichtlich aus dem Wege gegangen. Denn wie auch immer er sie geführt hätte, im günstigsten Falle hätte dabei herauskommen können, daß das kaiserliche Handeln legal gewesen sei, d. h. vor den Gesetzen des Staates wäre jener Mord kein Mord gewesen. Die prinzipielle Ableitung einer solchen Ansicht, welche nach Chomatians Theorie der Herrschaftsnormen11 ohne weiteres möglich gewesen wäre, hätte allerdings kaiserlicher Willkür einen höchst problematischen und gefährlichen Freibrief ausgestellt. Da war es schon geschickter, den Fall von vornherein unter dem Gesichtspunkt zu traktieren, daß nach dem sittlichen Prinzip des Staates (Xöyog) jedenfalls ein Mord vorlag, und die verbleibende Legalitätslücke für diesen Einzelfall mit der listigen Anführung eines scheinbar legalisierenden Rechtssatzes zu schließen. Damit konnte einerseits das Prädikat „gesetzmäßig" (ewo^iog - vgl. oben Anm. 10) gerettet und andererseits das Problem des Kaisers angemessen behandelt werden. Denn dieses lag offensichtlich nicht in der Frage nach der Legalität, sondern in der davon gänzlich unabhängigen nach der Sündhaftigkeit seines Handelns. Deshalb kehrt Chomatian nach seinem kurzen Ausflug ins positive Recht (477.33-38) auch schleunigst wieder ins geistliche Fahrwasser zurück. Es mag zwar sein, so fährt er fort, daß der Kaiser zunächst durchaus von persönlichem Haß getrieben wurde und daß er sich dies nicht ganz unberechtigt als Sünde anrechnete. Aber diese Sünde hat Gott auf Grund der Beichte verziehen. Es besteht kein Anlaß, „aus einem Splitter einen Balken zu machen" (avxi öoxoü xö xägcpoq vo|xi^eig), wurde doch David selbst der Mord an Urias vergeben, obwohl es sich dabei sogar um einen Mord, der aus Fleischeslust inszeniert wurde, handelt. Wie sollte der Herr also nicht in der Beichte eine Sünde vergeben, die nicht einmal eine richtige ist (477.38-478.25). Nach diesem fulminanten Erst-recht-Schluß endet Chomatian mit der verräterischen Bemerkung: „Wenn es auch einige, die etwa der Askese huldigen, geben mag, welche die Handlung unter die Mordvergehen einreihen, so streichen Wir sie dort heraus und sagen in Übereinstimmung mit den göttlichen Vorschriften: Gott hat Dir jetzt und in Ewigkeit verziehen11." Verräterisch ist diese Passage deshalb, weil sie zeigt, daß die Gewissensbisse des Kaisers doch nicht so ganz aus dem tiefsten Inneren eines im Umgang mit der Macht zaghaften Gemütes 11 478.27ff: Eineo xoivuv eiai tive? iaio? tf]v i|co neuövtes ÖLaycoyriv, ot qxmxoig anagrrinaai toüto eYYQoupouaiv, &KX& ye fmeig exetftev aiitö öiayöäqpovTeg dxoXoijdooc;
toi? deioig vo|ii|xoi,5 Keyop.ev' 6 fleog a\jyxojQf|aai 001 xai ev tö> vüv aiaivi xai ev tü
HeXXovu.
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kommen. Sie sind vielmehr ein Reflex auf Vorhaltungen, die dem Herrscher - anscheinend aus Mönchskreisen - gemacht wurden. Welche Absichten auch immer hinter derartigen Vorwürfen gesteckt haben mögen - es zeigt sich, daß schon ihre Existenz genügte, um den Regenten in nachhaltig empfundene Schwierigkeiten zu bringen. Die religiöse Interdependenz des Herrschenden mit seiner Umgebung beschränkt seine juristisch vielleicht unbegrenzte Autonomie 12 . Damit enthüllt sich die Instrumentalistik hinter der juristisch-dogmatischen Zurückhaltung Chomatians, hinter seinem auffallenden Gesellschaftsentwurf und hinter seiner philosophischen Erkenntnis, von einem Kaiser werde sinnvollerweise nicht eine apostolisch-asketische Perfektion, sondern eine dem kaiserlichen Status angemessene erwartet13. Zugleich ergibt sich, daß Chomatians Brief nicht lediglich und nicht in erster Linie ein Dialog zwischen einem skrupulösen Herrscher und seinem geistlichen Berater, sondern eine politische Aktion ist, mit welcher dem Fürsten politische Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt werden sollen. Vor diesem Hintergrund ist es denn auch lohnend, der von Chomatian entwickelten Kaiservorstellung noch ein wenig Aufmerksamkeit zu schenken. Vergleicht man sie mit den bekannten Anschauungen der Byzantiner, so ergibt sich zunächst wenig Neues. Daß das Kaisertum eine von Gott zum Nutzen der Menschen geschaffene Einrichtung sei, ist eine schon kaum mehr erwähnenswerte Allgemeinvorstellung, fester Bestandteil der - wie man heute gern sagt - „Kaiserideologie"14. Auch der Gedanke, daß der Kaiser ein Nachahmer Gottes sei und im ihm anvertrauten irdischen Regiment so verfahren solle wie Gott bei der himmlischen Herrschaft, ist ein alter „Topos innerhalb der byzantinischen Rhetorik am Kaiserhof" 15 . Eine gewisse Abweichung von den Standardfloskeln ist hier lediglich in der breiten Ausarbeitung des Gemeinplatzes in Hinblick auf den Vergleich der strafenden Hand Gottes mit dem strafenden Kaiser zu sehen und in der Umsetzung der
Z u diesem Gedankengang vgl. N. Elias, Die höfische Gesellschaft 2 (1975) 178 ff. 4 7 6 . 9 ff: T ö v ßaaLXea xoivuv ö Xöyoc, oiw a n a i x e i OUTE ajioatoXixr|v, OÜXE (piXöaocpov eitouv daxTixixT|v XE^Eioxrixa, aXXä xr)v ßaaiXsüaiv ä g ( i 6 £ o u a a v . 12 13
14 D e r wenig glückliche Begriff wurde vermutlich ohne ernsthafte Rezeptionsabsichten „nebenbei" aufgegriffen. Jedenfalls deckt er sich weder mit dem Marx/Engel'schen intentionalen oder essentiellen falschen Bewußtsein noch mit der Mannheim'schen Standortgebundenheit allen Wissens. A m ehesten scheint er für eine Mischung aus „Legitimationsmärchen" und „Propaganda" zu stehen. Das wäre hochnäsig und ginge an den historischen Befunden vorbei. Zur Orientierung über die einschlägige Literatur eignet sich sehr gut O. Kresten, R o m . Hist. Mitteilungen 21 ( 1 9 7 9 ) 83 A n m . 1. 15
H.Hunger,
Prooimion (Wien 1964) 61 und passim mit zahlreichen Belegen.
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überwiegend normativ verwendeten Gottesnachahmung in einen subsumtionsfähigen Beobachtungssatz. Noch älter, nämlich bis in die Frühzeit des Prinzipats hinabreichend, ist die Doppelung der Figur des Regenten in Kaiser einerseits, Privatmann andererseits. Während es dabei aber regelmäßig um ökonomische Sachverhalte geht16, wird hier die Dichotomie zur Zuweisung zweier verschiedener Ethiken genutzt. Einer meritorisch konzipierten Herrschaftsmoral für den Kaiser, welche auf Lob, Anerkennung und Belohnung im Jenseits ausgerichtet ist, steht eine normative Individualethik für den Privatmann gegenüber, welche sich am Dekalog und den übrigen christlichen Geboten zu orientieren hat17. Vollends originell und ungewöhnlich ist die folgende Zentrierung der Herrschaftsmoral auf die Gemeinwohlidee. Wie der Kaiser selbst zum entindividualisierten Gemeinschaftswert (xoivöv dyadov) erhoben wird, so werden auch alle Regententugenden auf das Prinzip der Gemeinnützigkeit reduziert. Die xoivtocpE^ia ist der ausschließliche Maßstab, an dem alle Handlungen des Kaisers zu messen sind; hinter ihr verschwinden sämtliche individualisierenden Ethikmaximen wie Philanthropie, Wohltätigkeit, Gerechtigkeit und Oikonomia. Natürlich ist die utilitas/ ttKjpeXeia der Untertanen keine Neuentdeckung Chomatians, sondern findet sich seit der Spätantike regelmäßig in den Katalogen der Herrschertugenden18. Neu ist lediglich das Monopol, welches diesem Gesichtspunkt für die Beurteilung der Moralität herrscherlicher Maßnahmen zugebilligt wird. Fände man Geschmack daran, diesen Befund nationalsozialistisch zu lesen, dann könnte man mit Bromme feststellen: „Der Gemeinnutz stellt das typische Kennzeichen der hochwertigen Rasse dar" 1 ', woraus nicht nur auf Chomatian als Hoch-Arier, sondern auch auf die Vorzüglichkeit seiner Rechtsidee zu schließen wäre. Zeitgemäßer, aber gleichzeitig älteren Klischees konformer, ließe sich hinter dieser Fassung der Herrscherethik die Verklärung des individualrechtsverachtenden Despotismus entdecken, ein Bekenntnis zum nackten Staatsinteresse als dem eigentlichen Bewegenden20. Adäquater wird man
" Generell zur Frage H. G. Beck, Res publica Romana, in: H.Hunger (Hrsg.), Das byzantinische Herrscherbild (Darmstadt 1975) 383 ff. 17 Zur Unterscheidung siehe Luhmann, Soziologische Aufklärung 2, 1975, 185. 18 Vgl. dazu Hunger a. a. O., Register s.w. utilitas, (bqpeXeia. " Zitiert nach Stolleis, aus der für die Gemeinwohlidee auch vornationalsozialistischer Zeiten wertvollen Monographie, Gemeinwohlformeln im nationalsozialistischen Recht, München 1974, 21. 20 Formuliert im Anschluß an die Staatsraison-Deutung von H. G. Beck, Nomos, Kanon und Staatsraison in Byzanz (Wien 1981) 5. Beck spricht damit allerdings nicht eine empirische Generalhaltung, sondern die Motivlage „in vielen Fällen" an.
Gewissensbisse eines Kaisers
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die Thesen Chomatians vermutlich werten, wenn man sie zunächst jenseits von Volksgemeinschaft oder Polizeistaat - in den oben skizzierten strategischen Kontext des Einzelfalls zurückversetzt und der Versuchung nach Universalisierung widersteht. Die für neuzeitliches Rechtsverständnis immer, wieder einmal anstößige Beobachtung, daß in der Gegenwart selbst Verfassungs- und Staatsauffassung gleichzeitig je nach Interessenbündelung divergieren können, muß für die rhetorikgeübten und rhetorikdeterminierten Byzantiner bis hin zur situativen Variation verlängert werden. Noch zwei weitere Reduktionen bieten sich an. Obwohl Chomatian mit dem Konditional: wenn der Kaiser für das Gemeinwohl handelt, verstößt er nicht gegen das Evangelium (476.41; 477.13), den Weg für rechtswidrige Rechtgläubigkeit bzw. rechtgläubige Rechtswidrigkeit freizugeben scheint, glaubt er doch, wie wir sahen, sich eine völlige Außerachtlassung der Legalitätsfrage nicht leisten zu können. Hier lag also offenbar ein Hemmschuh für einen hemmungslosen Totalitarismus aus gutem Gewissen. Und noch weniger denkt der Erzbischof daran, die Beantwortung der entscheidenden Frage des Implikans, ob der Kaiser gemeinnützig gehandelt habe, diesem selbst zu überlassen. Er überantwortet sie der Allgemeinheit (477.30), von wo sie als Gutachtenbitte wunderbarerweise wieder zu ihm, dem berufenen Interpreten der Ordnungen, zurückläuft.
Das geteilte Eigentum in Geschichte und Gegenwart D I E T E R STRAUCH
I. Geteiltes Eigentum in der Rechtsgeschichte 1. Im römischen Recht Den Gedanken, daß eine Sache zwei oder mehreren Personen so zugeordnet werden kann, daß gleichwertige Eigentumsteilrechte mit verschiedenen Befugnissen entstehen, kann man in der Rechtsgeschichte weit zurückverfolgen. Ihm liegt die Anschauung zugrunde, daß das Eigentum ein Recht ist, das aus einer begrenzten Zahl von Befugnissen besteht, die sich auf die Teileigentümer verteilen, und zwar so, daß dem einen die tatsächliche Nutzung, dem anderen die Sachsubstanz mit dem Verfügungsrecht über das Gut zusteht. Die beiden Teileigentümer sind dabei gleichgeordnet, sie bilden eine - allerdings lose - Rechtsgemeinschaft hinsichtlich der von ihnen beherrschten Sache. So wurden die italischen Felddienstbarkeiten, von denen via, iter, actus und aquaeductus1 die ältesten sind, nicht als Rechte an fremder Sache begriffen, sondern sie sind res mancipi2, werden durch mancipatio3 bzw. durch in iure cessio, also in den Formen der Eigentumsübertragung bestellt und durch vindicatio gegen Eingriffe geschützt. Die zwanglose Erklärung lautet: „Der Acker gehört dir, aber der Weg gehört (auch) mir." Wir finden hier eine Teilung des Eigentums nach dem Gebrauch, also ein funktionell beschränktes Eigentum4. Ähnlich liegen die Verhältnisse beim Nießbrauch, für den Käser eine Verbindung zwischen dem Fruchteigentum und einem Recht an der fruchttragenden Sache annimmt, die zu einem funktionell beschränkten „Nutzeigentum" verschmolzen sein dürften5. Gleichzeitig ist hier eine besondere Art der
1 Vgl. M. Käser, Römisches Privatrecht, Bd.I, 2. Aufl. (1971), §38, II, S. 143 ff (via: Fahrweg, iter: Fuß- und Reitweg, actus: Viehtrift, aquaeductus: Wasserleitungsrecht). 2 Vgl. Gai. 2,17; Ulp. 19,1. 3 Vgl. Gai. 2,29: „mancipium" bedeutet ursprünglich Eigentum. 4 So: P.Koschaker, in: ZRG (RA) 58 (1938), S.258f, ihm folgt M. Käser, Geteiltes Eigentum, in: FS P.Koschaker, I (1939), S.446ff und ders. zuletzt in: Römisches Privatrecht (s.o. Fn. 1) §38, II. 5 Vgl. M. Käser (s.o. Fn.4) S.462, 476.
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Mitberechtigung entstanden, die sich vom späteren Miteigentum deutlich abhebt. Diese Denkform des „teilbaren" Eigentums wandelte sich mit der fortschreitenden Herausarbeitung der Rechtsbegriffe in der jüngeren Republik und den gleichzeitigen Wandlungen des Zivilprozesses langsam um. Seit der späteren Republik gebraucht man die (gleichbedeutenden) Worte „dominium" und „proprietas" für das Eigentum. Dabei können wir für unsere Zwecke von der weiteren Unterscheidung in quiritisches und bonitarisches Eigentum absehen6. Will man das „klassische Eigentum" des römischen Rechts beschreiben, so handelt es sich um „das umfassendste private Recht, das jemand an einer Sache haben kann" 7 . Davon zu unterscheiden ist der Besitz als nur tatsächliche Gewalt und die beschränkten Sachenrechte (iura in re aliena), wie Dienstbarkeiten, Nießbrauch, Pfandrecht. Derart beschränkte Sachenrechte kann der Eigentümer anderen einräumen, aber nur er bleibt Eigentümer. Und wenn diese Rechte erlöschen, dehnt sich das Eigentum wieder zur vollen Sachherrschaft aus8, man sagt, das Eigentum sei „elastisch". Es ist das der Eigentumsbegriff, der auch unserem B G B zugrundeliegt. Das geteilte Eigentum war damit aus dem römischen Recht verschwunden. Allerdings nur vorübergehend, denn im spätrömischen Recht weicht vor allem das weströmische Vulgarrecht9 wieder vom klassischen Eigentumsbegriff ab, indem z. B. Erbpacht und Nießbrauch wieder als Eigentumsteilrechte angesehen werden, gleichsam ein „Eigentum auf Zeit" bilden. Erstaunlicherweise konvergieren also Früh- und Spätformen des römischen Rechtes insofern, als ihnen die Denkform des geteilten Eigentums gemeinsam ist. 2. Im mittelalterlichen
Recht
a) Im deutschen Recht Für das mittelalterliche deutsche Recht können wir mit der Mehrheit der Schriftsteller10 annehmen, daß dem deutschen Rechtsdenken 6 Vgl. dazu M.Kaser, Eigentum und Besitz im älteren römischen Recht (1943), S. 182; ders. Kurzlehrbuch Römisches Privatrecht, 13. Aufl. 1983, §22, II, 2; P. Koschaker (s.o. Fn.4) S . 2 6 0 f . 7 Vgl. M.Kaser, Kurzlehrbuch (s.o. Fn.6) § 2 2 , 1 . ! Vgl. Inst. 2,4,4. ' Vgl. M.Kaser, in: J U S 1967, S.341, und Kurzlehrbuch (s.o. Fn.6) §22, II, 3. 10 Vgl. H. Brunner, Forschungen z. Geschichte d. deutschen und französischen Rechts (1894), S . 3 2 ; A.Heusler, Institutionen des deutschen Privatrechts, II (1886) S. 15ff; O.v.Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, II (1873), S. 130; ders. Deutsches Privatrecht II (Sachenrecht) (1905), S. 351 ff, 355; R. Hübner, Grundzüge des deutschen Privatrechts, 5. Aufl. 1930, S. 222 ff; wohl auch Mitteis/Lieberich, Kurzlehrbuch Deut-
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ursprünglich der Begriff des ius in re aliena, des beschränkten dinglichen Rechtes, fremd war. Ein begrifflicher Gegensatz zwischen Eigentum und beschränktem Herrschaftsrecht wurde zunächst deswegen nicht sichtbar, weil sie nur als stärkerer oder schwächerer Ausdruck desselben Herrschaftsrechtes angesehen wurden. Der Grund für die fehlende begriffliche Sonderung der verschiedenen Herrschaftsrechte liegt einmal in der starken Gruppenbindung des germanischen Rechts, dem das freie, auf sich selbst gestellte Individuum unbekannt war, zum anderen in den verschiedenen Rechtskreisen, die nebeneinander standen oder sich überlagerten. Die Landwirtschaft war das Rückgrat der mittelalterlichen Wirtschaft. Der Boden war teilweise in der Hand großer Herren, die ihn aber nicht selbst bewirtschafteten, sondern in verschiedener Rechtsform zur Nutzung ausgaben. Vor allem bei den freien Grundleihen verteilten sich die Erträge von Grund und Boden auf mehrere Berechtigte: Während der Leihemann den Boden in Besitz hatte, ihn bebaute und nutzte, war der Leiheherr auf das bloße Eigen und eine Zinsforderung beschränkt. Da das Nutzungsrecht und das Zueigenhaben als gleichartige Rechte an dem Landgut angesehen wurden, konnte sowohl das eine wie das andere als „Eigentum" bezeichnet werden. Aber nicht nur bei den Teilrechten nach Landrecht (z. B. den Prekarien) sprach man von einer Teilung des Eigentums in gleichartige Teilrechte, sondern vor allem bei der Unterscheidung verschiedener Rechtskreise. Es sind dies vor allem das Lehn-, Dienst- und Hofrecht. In der Entwicklung des Lehnrechtes verstärkte sich die Stellung des Lehnsmannes, insbesondere wurde das ihm ursprünglich auf Lebenszeit verliehene und dann wieder heimfallende beneficium erblich. Das landrechtliche Eigen des Herren stand so dem Lehnrechte des Mannes gegenüber11. Diese doppelte Zuordnung der Sache führte jedoch zunächst noch zu keiner Spaltung des Eigentumsrechtes, weil die Rechtskreise eigenständig und unverbunden nebeneinander standen. Ahnlich war es beim Dienstrecht, wo dem landrechtlichen Eigen des Dienstherren das sog. „Inwärtseigen"12 des Ministerialen gegenübertrat. Die Erblichkeit der Dienstpflicht machte auch das Gut erblich, das der Ministeriale bewirtschaftete. Damit gehörte es ihm zu eigen wie ein sonstiges Gut, allerdings nur nach Dienstrecht, während es nach Landrecht Eigentum des Dienstherren blieb. sches Privatrecht, 9. Aufl. 1981, Kap. 25, II; R. Hagemann, Art. „Eigentum", in: HRG Bd. I (1967), Sp. 891 ff; anderer Meinung ist F. Beyerle, Die Treuhand im Grundriß des Deutschen Privatrechts (1932), S. 13 Fn.2, jedoch ohne Belege. 11 Vgl. O. v. Gierke, DPrR, II (s. o. Fn. 10) S. 198, H. Wagner, Das geteilte Eigentum in Naturrecht und Positivismus (1938), S.22. 12 Vgl. dazu ausführlich Puntschart, in: ZRG (GA) 43 (1922), S. 66 ff.
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Dieselbe Erscheinung finden wir im Hofrecht, wo das landrechtliche Eigentum des Grundherren dem Eigentum des Hintersassen gegenübertrat, das „Erbe" hieß13. In der weiteren Entwicklung verwischten sich die Unterschiede zwischen dem Landrecht und den besonderen Rechtskreisen des Lehn-, Dienst- und Hofrechtes 14 . Diese Sonderrechte galten bald auch vor dem Landgericht als Recht15, so daß die verschiedenen Berechtigungen am Gut einander gegenübertraten. Der Ausgleich fand sich darin, daß man das landrechtliche Eigentum des Herren aufspaltete, und ihm nur die hoheitliche Seite, das Herrschaftsrecht, zuwies, während z . B . der Lehnsmann das Gut „zu Nutz und Gelde" innehatte16. Die Entwicklung ging dahin, dem Lehnsmann Eigentum, belastet mit persönlichen Dienstpflichten, zuzusprechen17. In den Städten, in denen es nur einen Rechtskreis gab, entwickelte sich die Hausleihe von der Mitte des 13.Jahrhunderts ab zu einem erblichen Recht, dem sog. „Erbe". Anders als in den landrechtlichen Verhältnissen, entstand hier unmittelbar ein geteiltes Eigentum, indem man sich die gesamte Herrschaft über das Grundstück geteilt dachte in ein Obereigentum einerseits und ein nutzbares Eigentum18 andererseits, das allerdings den Drang hatte, sich immer mehr in volles Eigentum umzuwandeln. b) Bei den Glossatoren und Kommentatoren Wie Lautz19 überzeugend nachgewiesen hat, tritt das dominium utile (das Nutzeigentum) im römischen Recht zuerst bei den Glossatoren wieder auf. Sie führen es aber nicht deshalb erneut in die Rechtswissenschaft ein, weil sie dazu von germanischen Rechtsideen, etwa des gleichzeitigen langobardischen Rechts, gedrängt worden wären, sondern weil sie nur so die Widersprüche der justinianischen Kompilation überbrücken zu können glaubten.
Vgl. A.Heusler (s.o. Fn. 10) Bd.I (1885) S.32f. Etwa von der Wende des 12. zum 13.Jh. ab: im Landrecht des Sachsenspiegels ist schon Lehnrecht behandelt, vgl. O.v. Gierke, DPrR, II (s.o. Fn. 10), S.355, n.25. 15 Im Dienstrecht soll es nicht zum geteilten Eigentum gekommen sein, so: H. Wagner (s.o. Fn. 11) S. 23, anders aber: O.v. Gierke, DPrR, II (s.o. Fn.10) S. 198 f. " Vgl. Sachsenspiegel, Lehnrecht 14, § 1; Sachsenspiegel, Landrecht II, 57; vgl. H. Mitteis, Lehnrecht und Staatsgewalt, 2. Aufl. 1974, S. 625 f (geteiltes Eigentum in Frankreich). 17 Vgl. A.Heusler (s. o. Fn. 10) S. 165. 18 Vgl. Amold, Zur Geschichte d. Eigentums i. d. deutschen Städten (1861) S. 59, 149 f; Schröder/v. Künaberg, Lehrbuch der deutschen Rechtsgeschichte, 7. Aufl. 1932, S. 690 f, 796; einschränkend: H. Hallermann, Erbleihe an Grundstücken in westfälischen Städten bis 1500 (1925), S.40. " K. Lautz, Entwicklungsgeschichte des dominium utile (1916), S. 15-47. 13
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Bei Johannes Bassianus (Anfang des 13. Jhs.), dem Schüler des Glossators Bulgarus20, taucht erstmals der Begriff des dominium utile auf bei der Ersitzung von Immobilien 21 , beim Erbschaftsbesitz22 und in einigen anderen Fällen23. Dabei stoßen jeweils zwei Rechtskreise aufeinander, nämlich das zivile und das prätorische Recht. Den Gegensatz hatte Justinian - trotz seiner darauf gerichteten Absicht - nicht zu überwinden vermocht. Dem früheren „in bonis esse" entsprach die utilis rei vindicatio, dem zivilen Eigentum die actio directa, also die rei vindicatio. Diese Verschiedenheit der Klagen hatte für den Eigentumsbegriff im klassischen römischen Recht keine Rolle gespielt (deswegen konnten wir ihn dort vernachlässigen). Die Glossatoren aber machten daraus zunächst das „directe" bzw. „utiliter dominus esse", indem sie von der Klagemöglichkeit auf ein zugrundeliegendes Recht schlössen, und schließlich kurzweg den „dominus directus" und den „dominus utilis"24. Ein geteiltes Eigentum lag dem aber eigentlich nicht zugrunde, weil die beiden Arten des dominiums sich gegenseitig ausschlössen25. Da auch im römischen Recht zwei Rechtskreise zusammentrafen, lag es nahe, die gleiche Erscheinung im germanischen Recht mit demselben Namen zu benennen. Azo (gest. 1220), der Schüler des Johannes Bassianus, hat dann als erster auch das Lehen, die Emphyteuse (Erbpacht) und die Superficies (Erbbaurecht) unter den Begriff des dominium utile gefaßt. In dem Bestreben, das Statutarrecht der lombardischen Städte mit dem kanonischen Recht zu verbinden und durch weitere Harmonisierung ein für sie brauchbares römisches Recht zu schaffen26, griffen die Kommentatoren Azos Anregung auf, ja gingen noch darüber hinaus. Sie versuchten nämlich, das beneficium des Vasallen und die precaria, die im kanonischen Recht weit verbreitet war27, mit den Begriffen des justinianischen Rechtes zu erfassen. Anknüpfungspunkte waren die Emphyteuse und die Superficies: Beide Rechte waren vererblich, bis zu einem gewissen
20 Vgl. K. Lautz (s.o. Fn. 19) S.33; E. Landsberg, Die Glosse des Accursius und ihre Lehre vom Eigenthum (1883), S.99; Wagner (s.o. Fn. 11) S. 13. 21 Belege bei Lautz (s.o. Fn. 19) S.30ff. 22 Glosse zu D. 37.1.1 f, Ausgabe Lugdunum 1579. 23 Glosse zu dominium in D. 39.2.15 f und Glosse zu D. 36.1.63. 24 Vgl. Lautz (s.o. Fn. 19) S.36f. 25 Vgl. Wagner (s. o. Fn. 11) S. 13. 26 Vgl. Landsberg (s.o. F n . 2 0 ) S.65ff; R.Sohm, Institutionen, Geschichte und System des römischen Privatrechts, 17. Aufl. v. L. Mitteis, 1924, §27, S. 144 f; ders. Fränkisches und römisches Recht, in: ZRG (GA) 1 (1880) S.74; Schröder/v. Künßberg (s.o. Fn. 18) S.868; Wagner (s.o. Fn. 11) S.15. 27 Vgl. H. Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte, Bd.I, 2. Aufl. 1906, S . 2 8 8 f ; Schröder/ v. Künßberg (s. o. Fn. 18) S. 313 f.
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Grade veräußerlich, und dem Rechtsinhaber wurde die actio in rem utilis zugebilligt. Außerdem hatte er possessio am Grundstück und war durch Interdikte geschützt28. Da die Emphyteuse in den Pandekten gelegentlich als „dominium" bezeichnet wird29, lag es nahe, auch den Emphyteuta30 und weiter auch den Superficiar, den Vasallen31 und den Prekaristen32 als dominus utilis zu bezeichnen. Der Kommentator Bartolus (1314—1357) unterscheidet zwei Arten des dominium utile, nämlich a) das dominium utile „quod opponitur et contradicit vero dominio - illud utile quod quaeritur ex praescriptione - und b) das dominium utile, quod verum directum dominium recognoscit - illud quod competit emphyteutae, superficiario et similibus."
Während im ersten Falle der dominus directus dem dominus utilis weichen mußte, sobald dieser die actio utilis gewonnen hatte, gehörte die Sache im zweiten Falle beiden domini zu: Das Herrschaftsrecht war funktionell geteilt in Zu-Eigen-Haben und Nutzung, also in inhaltlich verschiedene, aber gleichartige Teilrechte. Baldus34 geht noch weiter, indem er das dominium directum ein „dominium superius" (Obereigentum) nennt, weil es alle Völker kennen, während das dominium utile ein „dominium inferius" (Untereigentum) ist, das auf der Satzung des Prätors beruht. Auch hier werden wieder zwei Rechtsordnungen einander gegenübergestellt: Das Naturrecht und das positive Recht. 3. Im neuzeitlichen Recht a) In der Rezeption und im usus modernus Als im 15. und 16. Jahrhundert die gelehrten Juristen das römische Recht mehr und mehr in Deutschland anwendeten, geschah dies nicht in Bausch und Bogen35; sie mußten vielmehr auf die deutschen Verhältnisse Rücksicht nehmen. Vor allem im Sachenrecht konnte das römische Recht nicht unverändert angewendet werden, denn die auf Grund und 28
Vgl. Sohm (s.o. Fn.26) S.340 und 377; Wagner (s.o. F n . l l ) S.16f. ' Vgl. Cod.XI.61.12 und Cod.XI.69.4; vgl. weiter Lautz (s.o. Fn. 19) S.50, n.4. 30 So schon Accursius' Glosse zu „in rem actionem" lex 1 D. 6.3, vgl. Wagner (s. o. F n . l l ) S. 17, n. 14. 51 Nachweise bei Wagner (s.o. Fn. 11) S. 17. 32 Nachweise bei Wagner (s. o. Fn. 11) S. 18. 33 Vgl. Bartolus, Comm. zu Differentia n.5ff in 1.17, D. de acquirenda vel amittenda possessione, 41,2; vgl. Wagner (s.o. Fn. 11) S. 18, n. 18. 34 Vgl. die Nachweise bei Wagner (s. o. Fn. 11) S. 18, n. 19. 35 Vgl. Wesenberg/Wesener, Neuere Deutsche Privatrechtsgeschichte, 3. Aufl. 1976, §12, S.78f; vgl. Wagner (s.o. F n . l l ) S.28. 2
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Boden aufgebaute soziale Ordnung des Mittelalters wollte berücksichtigt sein. Eine Brücke fand sich in der von den Glossatoren geschaffenen und von den Kommentatoren weitergebildeten Lehre vom dominium utile. Man verstand jetzt „utile" in der Bedeutung von „Nutz und Gewer" und meinte, daß dominium utile und dominium directum nur zusammen volles Eigentum bildeten, allein aber Eigentumsteilrechte seien. Die fremden Begriffe wurden ins Deutsche übertragen und so entstanden die Bezeichnungen Obereigentum und Minder- oder Nutzeigentum. Zugleich wandelte sich die Lehre der Kommentatoren: Das dominium utile des Präscribenten verschwand, und es blieb allein dasjenige in Geltung, was die italienischen Juristen dem Emphyteuta und dem Feudatarius zugeschrieben hatten36. Auch die Reichs-37 und Landesgesetzgebung38 des 16.Jahrhunderts nahm den Begriff des dominium utile auf, beschränkte ihn aber auf die Erbpacht und das Lehen und ordnete alle übrigen Rechtsverhältnisse, die nicht dazugehörten, den Bestimmungen über die Zeitpacht ein39. Im 17. und 18.Jahrhundert schuf der usus modernus eine neue Theorie des geteilten Eigentums. Vor allem Struves Lehre40 setzte sich in der Folgezeit durch. Er gliedert das dominium in die Proprietät im Sinne freier Verfügungsbefugnis über die Sache und in die Nutzung. Das dominium teilt er in dominium plenum und dominium minus plenum. Plenum ist es, wenn der dominus in seiner Verfügungs- und Nutzungsmöglichkeit unbeschränkt ist, minus plenum dagegen, wenn die Sachherrschaft funktionell gespalten ist: Dominus directus ist dann „qui retinet proprietatem ita restrictam et superiorem in re potestatem", dominus utilis dagegen, „qui cum iure utendi fruendi concesso participat de proprietate". Er nimmt also eine besondere Form des gemeinschaftlichen Eigentums mit qualitativ gleichen, aber inhaltlich verschiedenen Anteilsrechten an.
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Vgl. Wagner (s.o. Fn. 11) S.29 m. w. Verweisungen. Vgl. die Kammergerichtsordnung von 1521, cap. 32, §2, in: Ausgabe der Reichsabschiede von 1747, Neudruck 1967, Bd. I, S. 191. 38 Vgl. die Solmser Gerichts- und Landesordnung von 1575, Teil 2, Tit. 5, §3 und Tit.6, §5 und: der Statt Frankfurt am Mayn erneuwerte Reformation, 1578, §§2, 3, in: Quellen zur Neueren Privatrechtsgeschichte Deutschlands, hrsg. von W.Kunkel / H. Thieme / F. Beyerle, Bd. I, 2, 1938, S. 184 u. 187; weitere Nachweise bei Wagner (s. o. Fn. 11) S. 33, n. 20. 39 Vgl. Wagner (s.o. F n . l l ) S.33. 40 G. A. Struve, Syntagma iuris civilis, Jenae u. Francof. 1693, Exerc. XI ad lib. 6, tit. 3, §55 und ders., Jurisprudentia Romano-Germanica forensis, Ed. 9, Jenae 1704, lib. 2, tit. 12. 37
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b) Die Zeit des Naturrechts Die naturrechtlichen Schriftsteller41 rechneten die Regeln über das dominium directum und utile zum Naturrecht. Pufendorf unterscheidet zwischen dem dominium plenum et minus plenum, bei dem „de ipsa proprietate aliquid decedit". Das dominium minus plenum gliedert sich ihm in dominium directum und utile. Hierin schließt er sich eng an das an, was wir im usus modernus bei Struve gefunden hatten. Ein Gegner der naturrechtlichen Doktrin war Budäus42, der sich jedoch zu seiner Zeit nicht durchsetzen konnte. Er leitete den Widerstand gegen das Institut ein, der später zur völligen Ablehnung des geteilten Eigentums führte. Von den naturrechtlichen Kodifikationen kennt der Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 das dominium utile nur bei Grundstücken und folgt in der Kennzeichnung43 dem Vorbild Struves, wie sich vor allem aus den Anmerkungen Kreittmayrs'14 ergibt, indem ihm nämlich die Erblichkeit und der „Anteil an der Proprietät" als Unterscheidungsmerkmale zum Nießbrauch45 dienen. Ebenso deutlich und noch weitergehend tritt die Abhängigkeit von Struve im preußischen Allgemeinen Landrecht zutage. Es bestimmt in §§9-12, I, 8, daß das volle Eigentum aus drei Rechten bestehe: dem Recht zum Besitz, dem Recht, über die Substanz zu verfügen (Proprietät) und dem Recht, die Sache zu gebrauchen (Nutzungsrecht). Verteilen sich diese Befugnisse auf mehrere Personen, so ist das Eigentum geteilt46. „Getheiltes Eigentum" im Sinne von ALR § 16,1,18 liegt vor, wenn der eine Eigentümer einen Anteil an der Proprietät und das gesamte Nutzungsrecht, der andere ein „Miteigentum an der Proprietät" hat. Das ALR kennt drei Arten des geteilten Eigentums: Lehen (ALR §§13 ff, I, 18), Erbzinsgut (ALR §§680 ff, I, 18) und Familienfideikommiß (ALR §§ 72 ff, II, 4). Dagegen behandelt es die Erbpacht als dingliches Recht an fremder Sache (vgl. ALR §§ 187 ff, I, 21).
41 Vgl. vor allem S. Pufendorf, De iura naturae et gentium, libri octo, Ed. nova, Francofurti 1716, üb. 4, cap. 3, in Anlehnung an H. Grotius, De iure belli ac pacis libri tres, Ausgabe 1680 üb. 2, cap. 2, §IV. Ihm folgt Chr. Thomasius, De dominio et eius natura in genere intuitu iuris Germanici privati, Halae 1721, §34. 42 J. Chr. G. Budäus, Gedanken von dem gemachten Unterscheid unter den obern und nutzbaren Eigenthum, in: Zepernicks Sammlung auserlesener Abhandlungen aus dem Lehnrecht, 4.Theil, Halle 1783, S. 61-68. 43 Vgl. Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis, 2.Theil, 1756, cap. 2, § 2 . 44 Vgl. W. X. A. Kreittmayr, Anmerkungen über den Codicem Maximilianeum Bavaricum Civilem, 2.Theil, 1761, cap. 2, S.407f. 45 Cod. Max. Bav. Civ. (s.o. Fn.43) cap.9, § 1 . « Vgl. A L R §§ 16-22 I, 8.
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4. Die Auflösung des geteilten Eigentums Von zwei Seiten wurde die Stellung des geteilten Eigentums angefochten: Einmal durch die Freiheitsidee, wie sie die französische Revolution hervorgebracht hatte, zum anderen durch die jetzt erwachende historische Betrachtung des Rechts. Der allgemeinen Freiheitsidee zufolge sollten alle Menschen frei werden und ebenso der Grund und Boden, auf dem sie lebten. Das erste Gesetz, das diesen Gedanken verwirklichte, war der Code Rural von 1791, der den neuen Geist in die ländlichen Verhältnisse hineintrug47. Demgemäß faßte der Code Civil (A. 544) das Eigentum als umfassendes, individuelles Herrschaftsrecht auf und kannte das geteilte Eigentum nicht mehr48. Der gleiche Geist sprach aber auch aus der Geschäftsinstruktion des Freiherrn vom Stein vom 26. Dez. 180848, §34. Es verdient, angemerkt zu werden, daß - im Gegensatz zum Code Civil - der Grundgedanke des geteilten Eigentums im österreichischen ABGB von 1811 in den §§357-359 und im Badischen Landrecht von 1809 weiterverwendet wurde. Das Badische Landrecht ist zwar im wesentlichen nur eine überarbeitete Neufassung des Code Civil in deutscher Sprache, hält aber am geteilten Eigentum fest50. Allerdings braucht man die Aufnahme des Rechtsinstituts in die Kodifikationen Österreichs und Badens nicht seiner Lebenskraft zuzuschreiben, wie Wagner will51. Vielmehr setzten sich die Gedanken der französischen Revolution nur langsam in Deutschland und Osterreich durch, so daß man das geteilte Eigentum beibehalten mußte, um den Verhältnissen der Landverteilung und Bodenbewirtschaftung gerecht zu werden. Gleichwohl waren die Tage des geteilten Eigentums gezählt, denn auch die Pandektistik - dem klassischen römischen Recht verschworen - wandte sich dagegen.
47 V g l . W . Hedemann, Die Fortschritte des Zivilrechts im 20. Jahrhundert, Bd. II, 1 (1930), S. 11 : „Le territoire de France, dans tout son étendu, est libre comme les personnes, qui l'habitent" vgl. auch Hedemann, a . a . O . S. 120ff. 48 A . 544 Code Civil sagt: „La propriété est le droit des jouir et disposer des choses de la manière la plus absolue, pourvu q'on n'en fasse pas un usage prohibé par les lois ou par les règlements". 49 S. GS 1 8 0 6 - 1 8 1 0 S . 4 9 0 ; der Kernsatz daraus auch bei Hedemann (s.o. F n . 4 7 ) S.12. 50 Vgl. Das Badische Landrecht. Nach dem Stand v. l . J a n . 1891, 2. Aufl. 1891, § § 5 4 4 a - c ; § § 5 7 7 a a - a r ; § § 1 8 3 1 ba-bl und vorher das 5. Constitutionsedikt über die Lehnsverfassung von 1807. 51 Vgl. Wagner (s. o. Fn. 11) S. 51 n. 12, der sich wohl auf Hedemann (s. o. Fn. 47) S . 4 stützt.
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Grundlegend wurde eine Abhandlung Thibauts51, in der er nachwies, daß die ganze Einteilung eine Erfindung der Glossatoren sei53. In Wirklichkeit habe der Vasall, der Emphyteuta und der Superficiar nur ein beschränktes Recht an einer fremden Sache, das aus Nutzungs- und Proprietätsrechten bestehe, aber kein Eigentum sei. Thibauts Beweisführung ist quellenmäßig unanfechtbar, sie hat deshalb das dominium utile vernichtend getroffen. Fortan war es in der Pandektenwissenschaft tot, sie hielt es - weil dem klassischen römischen Eigentumsbegriff widersprechend - zugleich für logisch unmöglich54, für einen wissenschaftlichen Holzweg. Auch eine Reihe von Germanisten55, die sich zum römischen Eigentumsbegriff bekannten, versagten jetzt dem geteilten Eigentum im deutschen Recht ihre Anerkennung. Viele Forscher56 allerdings hielten es für gewohnheitlich entstandenes gemeines deutsches Recht, das weitergalt, weil es unentbehrlich schien. Aber gerade die Verhältnisse, die es zu fordern schienen, waren weitgehend überlebt. Der freiheitliche Anstoß, den die französische Revolution gegeben hatte, ließ sich auch durch politische Restauration nicht aufheben. Was mit der Bodenreform des Freiherrn vom Stein 1807 begonnen hatte57, wurde in der Folge fortgeführt und erweitert: Preußen hob durch §2 des Ablösungsgesetzes vom 2. März 185058 das Obereigentum des Lehnsherrn, des Guts- und Grundherrn, des Erbzinsherrn und des Erbverpächters ohne jede Entschädigung auf. Zugleich ordnete §91 des Gesetzes in Übereinstimmung mit A. 42, Absatz V der revidierten Verfassung vom 31. Januar 185059 an, daß bei erblicher Überlassung eines Grundstücks hinfort nur die Übertragung zu vollem Eigentum zulässig sei. Damit konnte in Preußen seitdem kein geteiltes Eigentum mehr entstehen. Nachdem das Sächsische BGB von 186360 in §226 52 Vgl. A. F.J. Thibaut, Uber dominium directum und utile, in: Versuche über einzelne Theile der Theorie des Rechts, Bd. 2, 3.Abh„ 2. Aufl. 1817, S. 67-99. 55 Vgl. Thibaut (s.o. Fn.52) § 7 7 ; Wagner (s.o. Fn. 11) S.59f. 54 Vgl. Gierke (s.o. Fn. 10) DPrR, II S.372. 55 Z . B . L. Duncker, Uber dominium directum und utile, in: Zeitschrift f. Deutsches Recht u. deutsche Rechtswissenschaft Bd. 2 (1839) S. 177 ff; C. Fr. v. Gerber, System des deutschen Privatrechts, 15. Aufl. 1886, § 7 7 ; O.Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts, Bd. II, 3. Aufl. 1893, bearb. v. H. O. Lehmann, §80, S.293f. 56 Hierher zählt nicht nur Gierke (s. o. Fn. 10) DPrR, II, S. 372, sondern auch die dort Zitierten: Mittermaier, Bluntschli, Beseler, Falck, F.J. Stahl und Lassalle. 57 Vgl. die Geschäftsinstruktion des Freiherrn v. Stein, vom 26.Dez. 1808 (s.o. Fn.49) §34. 51 Gesetz, betr. die Ablösung der Reallasten und der Regulierung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse vom 2. März 1850, GS S. 77. 5 ' GS S. 17. 60 Sächsisches BGB vom 2.Jan. 1863, in Kraft seit dem l . M ä r z 1865, GVB1. f. d. Königreich Sachsen 1863, S. 1.
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entsprechend der herrschenden romanistischen Doktrin - das geteilte Eigentum verboten hatte, äußerte sich die vom Bundesrat zur Ausarbeitung des BGB eingesetzte Vorkommission ebenfalls ablehnend". Deshalb hat der Gesetzgeber es nicht ins BGB aufgenommen, lediglich in den A. 59, 63, 181 EGBGB noch bestehendes geteiltes Eigentum unberührt gelassen. Nachdem das Kontrollratsgesetz Nr. 4562 die A. 59, 63 EGBGB aufgehoben hat, ist das geteilte Eigentum in seiner geschichtlichen Form ganz aus dem deutschen Recht verschwunden. 5. Zwischenergebnis Es will uns jedoch scheinen, als ob das nicht das letzte Wort in dieser Sache sei. Es könnte sich erweisen, daß das Urteil der Vorkommission, die hinsichtlich des geteilten Eigentums von „trümmerhaften Resten mittelalterlichen Wirtschafts- und Verwaltungssystems" spricht63, einseitig und voreilig war. Denn der abstrakte römischeEigentumsbegriff ist nicht der einzig mögliche, und wir sind weit davon entfernt, das römische Recht insofern als ratio scripta anzusehen. Das Eigentum ist ein historischer, aber kein logischer Grundbegriff 64 . Logisch ebenso möglich und sachlich genauer ist der deutschrechtliche Eigentumsbegriff, der statt iura in re aliena anzunehmen, das Eigentum in Teilrechte aufgliedert65, die unter anderem als Nutzeigentum und Substanzeigentum aufgefaßt werden können. In diese Richtung deutet die neuere Rechtsentwicklung, die sich an Sondergesetzen, Urteilen und der Literatur ablesen läßt. II. Geteiltes Eigentum heute 1. Eigentumsbegriff
und
Teilungsgedanke
a) Eigentumsteilrechte im Grundstücksrecht Im klassischen römischen Recht galt der Satz: „nemini res sua servit". Auch die Verfasser des BGB hielten die Eigentümergrunddienstbarkeit für unzulässig. Das Reichsgericht folgte zunächst dieser Ansicht, gab sie aber später auf. In den §§889, 1009, 1196, 1199 BGB erkannte es den deutschrechtlichen Grundsatz der Teilbarkeit des Eigentums, verallgemeinerte ihn und folgerte daraus, daß auch eine Eigentümergrunddienst61
Die Ausarbeitung des Entwurfs eines bürgerlichen Gesetzbuchs, Sonderabdruck aus dem Deutschen Reichsanzeiger, 1877, S.5; vgl. auch Wagner (s.o. Fn. 11) S. 123f. 62 Vom 20. Febr. 1947 (KRAB1. S.256) in A r t . X , Abs. 2. 63 S. Fn. 61. 64 Vgl. Gierke (s.o. Fn. 10) DPrR II, S.348, n.2, vgl. auch G.Dulckeit, Philosophie der Rechtsgeschichte, 1950, S.67ff, Ph. Heck, Grundriß des Sachenrechts, 1929, S. 74. 65 Vgl. F. Vinding Kruse, Das Eigentumsrecht, I, 1931, S. 158 ff.
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barkeit möglich sei, weil §1018 eine Personenverschiedenheit nicht voraussetze66. Wenn nämlich der Eigentümer sich an seinem Grundstück selbst ein Recht bestellen oder ein Recht daran (ohne Konfusion) erwerben kann, das er früher einem anderen bestellt hatte, dann ist das Eigentum die Summe einzelner Befugnisse, die insgesamt das Eigentum ausmachen, aber auch als Eigentumsteilrechte bestehen können. b) Der Teilungsgedanke im Schadensersatzrecht Der Teilungsgedanke tritt verdeckt auch im Schadensersatzrecht auf. Das läßt sich an den Urteilen zeigen, die zum Ersatz des Nutzungsausfalls bei privaten Kraftfahrzeugen ergangen sind. Hier nimmt der B G H in mittlerweile gefestigter Rechtsprechung an, daß neben dem Sachschaden am Fahrzeug auch die Nutzung zu vergüten sei, die der private Eigentümer hätte ziehen können, aber infolge des Unfalls nicht gezogen hat67. Der B G H faßt diesen Schaden unter den allgemeinen Begriff des Vermögensschadens, ohne das verletzte Rechtsgut, die „Benutzungsmöglichkeit" 68 , näher zu bestimmen. Man könnte versucht sein, in der Verletzung des Nutzungsrechtes den Eingriff in ein selbständiges, neben dem Eigentum stehendes Recht zu sehen69, oder, noch besser, das Nutzungsrecht als Eigentumsteilrecht anzusehen. Das führt aber nur weiter, wenn man sich zugleich über die Gestalt des Eigentumsbegriffs klar wird. Hält man an dem von den Verfassern des B G B vorausgesetzten abstrakten Eigentumsbegriff fest70, dann verbietet es sich von selbst, neben dem Recht an der Sachsubstanz noch ein besonderes Nutzungsrecht anzunehmen, weil das dem abstrakten Eigentumsbegriff widerspräche. Die Nutzungsbefugnis ist dann nur eine der im Eigentum enthaltenen Befugnisse, die bei Beschädigung einer eigengenützten Sache nicht gesondert hervortritt und deren Verletzung deshalb im Schadensersatz für die Sachbeschädigung mitabgegolten ist71. Wie die Entscheidungen des B G H zeigen, tritt der Teilungsgedanke, den die Pandektisten des 19. Jahrhunderts verdrängt hatten, jetzt im Schadensersatzrecht wieder auf, denn nach der Rechtsprechung des " Vgl. R G J W 1934/282 = R G Z 142/234. 67 Vgl. B G H Z 40/345-355; 45/212-221; 55/147; 56/214; 66/278; 86/132. '» Vgl. B G H Z 40/349 f, 45/217; ebenda S.216 spricht er von „Gebrauchsrecht". 69 Vgl. E. Klingmüller, in: Karlsruher Forum, 1964, S.26, der diese Möglichkeit andeutet, ihr aber nicht folgt. 70 Vgl. Windscheid/Kipp, Pandekten, 9. Aufl. 1906, Bd.I, §167, weitere Fundstellen bei Gierke (s.o. Fn. 10) DPrR, II, S.348, n.2. 71 So die Kritiker des B G H , vgl. H. W. Schmidt, in: N J W 62/2205; W.Löwe, VersR 1963/307; K.Larenz, in: FS H . C . Nipperdey, Bd.I, 1965, S.498, ders., Lb. des Schuldrechts, Bd.I, 13. Aufl. 1982, §29, c; H. Lange, Schadensersatzrecht, 1979 § 6 , VII, 4; Knobbe-Keuk, VersR 1976/401; Schacht, N J W 1981/1350.
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BGH ist sowohl die Eigentumsverletzung wie auch die Verletzung der Nutzungsmöglichkeit zu ersetzen72. Damit ist aber der abstrakte Eigentumsbegriff auch hier verlassen. 2. Geteiltes Eigentum im
Liegenschaftsrecht
a) Im Erbbaurecht Gleichzeitig mit der Weimarer Reichsverfassung erging am 11. Aug. 1919 das Reichssiedlungsgesetz73, ein Rahmengesetz zur Förderung des Siedlungswesens. Sachlich damit verbunden sind zwei Sondergesetze: die Erbbaurechtsverordnung vom 15. Jan. 191974 und das Reichsheimstättengesetz vom 10. Mai 192075. Sie wurden erlassen, weil man damit den Bodenreformgedanken fördern und fortführen wollte. Das Erbbaurecht galt damals im großstädtischen Bauwesen als zweckdienliche Rechtsform7'. Es ist das Recht, auf dem Grundstück eines anderen ein Bauwerk zu haben. Das Recht ist veräußerlich und vererblich und unterscheidet sich damit von der Grunddienstbarkeit. Es kann nur zur ersten Rangstelle bestellt werden (§10 ErbbauVO) und belastet das Grundstück. Andererseits wird das Recht wie ein Grundstück behandelt (mit eigenem Blatt im Erbbaugrundbuch, § 14 ErbbauVO). Deshalb gelten die Vorschriften über Grundstücke und über Ansprüche aus dem Eigentum entsprechend (§11 ErbbauVO), also die §§985 ff, 1004,1006, 1011 BGB. Dem Eigentümer des Grundstücks stehen gewisse Rechte bei der Zwangsvollstreckung (§§8, 24 ErbbauVO), bei der Veräußerung (§5 ErbbauVO) und beim Heimfall zu (§32 ErbbauVO). b) Im Heimstättenrecht Das Reichsheimstättengesetz77 kennt zwei Formen der Heimstätte: die Wohn- und die Wirtschaftsheimstätte. Eine unter öffentlich-rechtlicher Gewähr stehende Stelle gibt das zu diesem Zweck beschaffte Land an den Heimstätter aus. Er erwirbt nach § 1 des Gesetzes volles Eigentum. Die Heimstätte ist als geschlossenes Gut gedacht; sie darf ohne Genehmigung des Ausgebers nicht aufgeteilt werden (§ 9), und zwar auch nicht
Vgl. oben Fn. 67. Reichssiedlungsgesetz i . d . F . v. 2 8 . 7 . 1 9 6 1 , BGB1.I, S. 1091, vgl. W. Ehrenforth, Kommentar z. Reichssiedlungsgesetz, 1965. 74 R G B l . I, 72, 122. 75 R G B l . I, 962. 74 Vgl. Hedemann (s.o. F n . 4 7 ) , S.382, zur Dogmatik des Erbbaurechts vgl. Wolff/ Raiser, Sachenrecht, 10. Bearb. 1957, § 104; F. Baur, Lehrbuch des Sachenrechts, 12. Aufl. 1983, § 2 9 , c. 77 Vgl. Wormit/Ehrenfort, Heimstättenrecht, 3. Aufl. 1960. 72
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beim Erbgang (§19, vgl. §24 78 ), und sie ist der Zwangsvollstreckung wegen persönlicher Forderungen und praktisch auch dem Konkurs entzogen (§20 RHeimstG, §24 AVO). Dem Eigentum des Heimstätters steht eine Reihe von Rechten des Ausgebers gegenüber. Er hat Kontrollmöglichkeiten (§§9, 17, 19), muß einschneidende Rechtsgestaltungen genehmigen (§ 17), hat ein Vorkaufsrecht bei Weiterveräußerung der Heimstätte (§11), und vor allem ein Heimfallrecht, wenn der Heimstätter nicht selbst wirtschaftet oder Mißwirtschaft einreißt (§12). c) Beim Dauerwohnrecht nach Wohnungseigentumsgesetz In die Reihe unserer Beispiele gehört auch das Dauerwohnrecht nach den §§31-42 Wohnungseigentumsgesetz (WEG). Es berechtigt seinen Inhaber - unter Ausschluß des Eigentümers - eine bestimmte Wohnung oder bestimmte Räume in einem Gebäude zu bewohnen oder zu nutzen (§31 WEG). Es ist veräußerlich und vererblich (§33 WEG). Der Berechtigte ist zur Instandhaltung der Räume verpflichtet (§§ 33, II, 14 W E G ) und kann zur Lastentragung und zur Versicherung des Gebäudes herangezogen werden (§33, IV WEG). Nach §34, II W E G genießt er Rechtsschutz gegen den Eigentümer und gegen Dritte. Der Grundstückseigentümer hat - wie beim Erbbaurecht und bei der Heimstätte ein Heimfallsrecht, §36 W E G , auch kann er der Veräußerung des Dauerwohnrechts widersprechen, § 35 W E G . Getreu der Dogmatik des B G B ist in allen drei Gesetzen nur jeweils ein Eigentümer vorhanden, während das Recht des anderen Beteiligten als beschränktes Recht an fremder Sache verstanden wird. Dem Lebenswert und der Vermögenszurechnung nach ist das Eigentum aber in allen drei Fällen funktionell geteilt: Erbbauberechtigter und Dauerwohnberechtigter haben ein umfassendes, vererbliches Nutzungsrecht und genießen Rechtsschutz wie Eigentümer. Beim Heimstätter wird diese Rechtsstellung sogar Eigentum genannt, obwohl er andererseits in der Verfügung und durch ein Mitwirkungs- und Heimfallrecht in seiner Rechtsstellung beschränkt ist. Die Eigentümerstellung beim Erbbaurecht und Dauerwohnrecht beschränkt sich ebenfalls auf das Verfügungs- und Heimfallsrecht. Deshalb hat weder er noch der Erbbauberechtigte oder Dauerwohnberechtigte Eigentum im Sinne von § 903. Das Eigentum ist vielmehr aufgeteilt79 in die Zuordnung der Sachsubstanz
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Vgl. dazu Westphal, RPfl. 1981/129 (Heimstättenerbrecht). So für das Erbbaurecht: H.Krause, JUS 1970/320.
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und ein umfassendes Nutzungsrecht, das mit dem Besitz verbunden ist. Wir können deshalb von geteiltem Eigentum sprechen80. d) Reform des Bodenrechts Zur Behebung der wachsenden Schwierigkeiten einer gerechten Verteilung des Grund und Bodens in Ballungsräumen sind nicht nur planungsrechtliche 81 und steuerrechtliche82 Überlegungen angestellt worden, sondern man hat auch eine Reform des Bodenrechts ins Auge gefaßt. Aus der Sozialbindung des Eigentums leitet H.J. Vogel" einen „geläuterten" Eigentumsbegriff ab, wonach sich das Grundeigentum „unterhalb der Grenze der Sozialwidrigkeit" bewegen soll. Das will er durch eine Aufspaltung des Eigentums in Verfügungs- und Nutzungseigentum erreichen. Dabei soll das Verfügungseigentum auf die Gemeinschaft übergehen, dem einzelnen dagegen soll ein kündbares (!) oder auch befristetes Nutzungseigentum am Grundstück gegen Entgelt überlassen werden84. Dagegen sollen die Gebäude im Volleigentum des Nutzungseigentümers stehen und veräußerbar, verpfändbar und vererblich sein. Der Vorschlag mutet an wie eine Neuauflage des mittelalterlichen Leiherechts, nur daß der Leihegedanke hier durch die Sozialbindung bzw. die Sozialisierung des Grundeigentums (vgl. A. 15 GG) für den gesamten Grundbesitz zum alleinherrschenden wird. Ob das Bodenrecht sich allgemein dahin entwickeln wird, bleibt abzuwarten. 3. Geteiltes Eigentum im Fahrnisrecht a) Bei der Sicherungsübereignung Bei der an §930 BGB angeknüpften Sicherungsübereignung wird der Kreditgeber nach außen Eigentümer der ihm zur Sicherheit übereigneten Sache. Der Sicherungsgeber ist nur schuldrechtlich berechtigt, die Sache zu nutzen, falls nicht gerade ein Nießbrauch vereinbart ist. Tatsächlich spricht aber die Literatur dem Sicherungsgeber an der Sache „wirtschaftliches Eigentum" zu85. Die Folgen zeigen sich bei der Zwangsvollstrekkung: Ebenso: Hedemann (s.o. Fn.47) S.388; H. Westermann, Lehrbuch des Sachenrechts, 5. Aufl. 1966, §68, 1 bleibt zwar auf dem Boden der herkömmlichen Dogmatik, meint aber, daß „wirtschaftlich" geteiltes Eigentum vorliege. 81 Vgl. Bielenberg, Gutachten f. d. 49. Deutschen Juristentag, 1972, Bd. II, B. 82 Vgl. v. Trotha, D Ö V 1973/253 (Grundzüge einer Neuordnung des Bodenrechts). 85 H.J. Vogel, Bodenrecht und Stadtentwicklung in: NJW 1972/1544 ff (1546f). 84 Vogel (s. o. Fn. 83) S. 1546. 85 Vgl. G.Stier, Das sog. wirtschaftliche und formaljuristische Eigentum, 1933, S.3ff; E. v. Caemmerer, Kapitalanlage- und Investmentgesellschaften, in: Ges. Schriften II, 1968, S.26f.
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(1) Im Konkurs des Sicherungsnehmers billigt man allgemein dem Sicherungsgeber ein Aussonderungsrecht nach § 43 KO, bei der Einzelzwangsvollstreckung die Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO zu86, wenn er seine Schuld beglichen hat. (2) Im Konkurs des Sicherungsgebers soll der Sicherungsnehmer nur das Recht auf abgesonderte Befriedigung (analog § 48 KO)'7 und bei der Einzelzwangsvollstrekkung nach h. M. die Drittwiderspruchsklage nach § 771 ZPO88 haben. Eine Minderheit gewährt den Rechtsbehelf nach § 805 ZPO"'.
In den sehr häufigen Fällen, wo man den Sicherungsvertrag selbst als konkretes Besitzmittlungsverhältnis ansieht90, stellt sich die Frage nach der Rechtsverteilung also erneut. Der Reichsfinanzhof hat die Sicherungsübereignung als verschleierte Pfandbestellung behandelt", also ein beschränktes dingliches Recht des Sicherungsnehmers angenommen und den Sicherungsgeber wie einen Eigentümer behandelt. Tatsächlich scheint mir aber der Gedanke des geteilten Eigentums auch hier zuzutreffen: Die Partner bilden eine Rechtsgemeinschaft eigener Art nach Teilrechten, wobei dem Sicherungsgeber das wirtschaftliche oder Nutzeigentum, dem Sicherungsnehmer das Substanzeigentum zusteht, das ihm erlaubt, sich aus den übereigneten Sachen zu befriedigen. b) Beim Anwartschaftsrecht des Vorbehaltskäufers In der Auseinandersetzung um das Anwartschaftsrechts des Vorbehaltskäufers hat Raiser92 in Anknüpfung an Heck93, von Tuhf4 und Schnorr v. Carolsfeld95 von einer Teilung des Eigentums an der verkauften Sache zwischen Verkäufer und Vorbehaltskäufer gesprochen. Dinglich gesehen würden die Herrschaftsrechte, die im Begriff des Anwartschaftsrechtes zusammengefaßt sind, aus dem Eigentum ausgegliedert und samt dem Besitz auf den Vorbehaltskäufer übertragen. Dabei betont er vor allem die zeitliche Beschränkung dieser Teilung und spricht von
Vgl. RGZ 91/12 (14); 94/305 (307); BGHZ 72/141 (144). Vgl. RGZ 124/75; Palandt/Bassenge, Kommentar z. BGB, 43. Aufl. 1984, vor §929, n. 7B, c, bb. 88 RGZ 124/73; BGHZ 12/232 (234); Palandt/Bassenge (s.o. Fn.87). 89 Baumbach/Hartmann, Kommentar z. Zivilprozeßordnung, 41. Aufl. 1983, §771, n.6; Westermann (s.o. Fn.80) §43, IV, 1. 90 Vgl. BGH NJW 1961/777 (778); OLG Düsseldorf NJW 1967/730 m. w.N.; BGH NJW 1979/2308; Baur (s.o. Fn.76), §51, V, 2. 91 Vgl. RFH 19/126 (132). 92 Vgl. L. Raiser, Dingliche Anwartschaften, 1961, S. 63 ff. 93 Vgl. Ph.Heck (s.o. Fn.64), §21. 94 Vgl. A. v. Tuhr, Allgemeiner Teil des BGB, II, 1, 1914, S. 62 ff. 95 Vgl. Schnorr v. Carolsfeld, in: Kritische Vierteljahresschrift Bd. 66 (1939), S. 174 ff (179). 84
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einer Teilung des Eigentums „in der Zeit"", obwohl die Bildung von Eigentumsteilrechten die Grundlage der Rechtsfigur bildet. Es ist allerdings zuzugeben, daß die Dauer der Eigentumsspaltung hier besonders kurz ist. c) Bei
Leasingverträgen
Die Aufteilung des Eigentums in Zuordnung der Sachsubstanz einerseits und Zuordnung der Nutzung andererseits ist auch bei den Leasingverträgen, und zwar beim Finanzierungsleasing'7, zu erkennen. Darunter versteht man die entgeltliche Überlassung von Investitionsgütern zur Nutzung für deren betriebsübliche Nutzungszeit ohne Ubereignung. Dem Leasingnehmer bieten solche Verträge zwei Vorteile, nämlich (1) daß er für diese Investitionsgüter statt des zur Anschaffung erforderlichen Kapitals nur die Leasingkosten aufzubringen hat und (2) daß er diese Leasingkosten als Betriebsausgaben von der Steuer absetzen kann.
Die rechtliche Einordnung des Finanzierungsleasing ist in der Lehre noch immer sehr umstritten98. Wir brauchen dieses Problem jedoch nicht weiter zu verfolgen, da uns hier nur die sachenrechtliche Lage angeht. Sie ist mit steuerrechtlichen Fragen eng verknüpft: Der vom Leasingnehmer erstrebte Steuervorteil wird nur gewährt, wenn der geleaste Gegenstand - bei wirtschaftlicher Betrachtungsweise - (vgl. §39 A O ) nicht zum Vermögen des Leasingnehmers zu rechnen ist. Hierzu hat der B F H in einer Entscheidung aus dem Jahre 1970 die Grundsätze festgelegt": Er wendet die wirtschaftliche Betrachtungsweise an und rechnet die Leasinggegenstände steuerrechtlich dem Leasingnehmer zu, (1) wenn die Grundmietzeit und die Nutzungsdauer sich etwa decken, (2) wenn die Nutzungsdauer zwar erheblich länger sei als die Grundmietzeit, dem Leasingnehmer aber ein Verlängerungsrecht oder eine Kaufoption zustehe oder (3) wenn die Leasinggegenstände (unabhängig von Grundmietzeit und Nutzungsdauer) speziell auf die Verhältnisse des Leasingnehmers zugeschnitten und nach Ablauf der Grundmietzeit nur noch bei diesem wirtschaftlich sinnvoll zu brauchen sind.
Die Finanzverwaltung hat diesem Urteil dadurch Rechnung getragen, daß sie in mehreren Erlassen Grundsätze dafür aufgestellt hat, wann das % Vgl. Raiser (s.o. Fn.92), S . 6 6 f ; vgl. schon früher: A.Brecht, Bedingung und Anwartschaft, in: Jherings Jahrb. 61 (1912), S. 263 ff (265,278 ff); E. Letzgus, Die Anwartschaft des Käufers unter Eigentumsvorbehalt, 1938, S. 14. 97 Nicht dagegen beim operating leasing (Konsumgüterleasing) auch nicht beim Immobilienleasing, vgl. Wollny, Anm. zu B F H N J W 1970/1148. 98 Vgl. dazu die Nachweise bei MünchKomm./Voe/jfcow, vor §535, R z . 4 5 f f ; Palandt/ Heinrichs (s.o. Fn.87) vor §535, n . 4 b ; Ebenroth, JUS 1978/588ff; ders., D B 1978/ 2109 ff; Flume, DB 1972/1 ff; Hiddemann, WM 1978/834 (dort die Rspr. des BGH). 99 Vgl. B F H N J W 1970/1148.
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Leasinggut dem Leasinggeber steuerrechtlich zuzurechnen sei100. Unter anderem darf die unkündbare Grundmietzeit nicht mehr als 90 % der betriebsgewöhnlichen Nutzungsdauer betragen, weil sonst ein wirtschaftliches Eigentum des Leasingnehmers vorläge. Das erwähnte „wirtschaftliche Eigentum" ist ein Hilfsbegriff des Steuerrechts, das nach § 39 II A O ein Wirtschaftsgut dem zurechnet, der die tatsächliche Herrschaft darüber ausübt und den nach bürgerlichem Recht Berechtigten von der Einwirkung darauf dauernd ausschließt101. Der B F H betont102, daß die wahre wirtschaftliche Vermögenslage verfälscht würde, wollte man in derartigen Fällen auf das bürgerlichrechtliche Eigentum abstellen. Da das Steuerrecht keinen anderen Eigentumsbegriff als das B G B kennt103, sagt der B F H damit nichts anderes, als daß der bürgerliche Eigentumsbegriff die wahre wirtschaftliche Vermögenslage nicht erfaßt, weil er zu abstrakt ist. Die wirtschaftliche Vermögenslage der Vertragsparteien würde dagegen durch das geteilte Eigentum zutreffend beschrieben: Der Leasingnehmer ist in den Fällen, in denen das Steuerrecht ihm wirtschaftliches Eigentum zuspricht, Inhaber des Besitzes und eines Nutzungsrechtes, das ihm „Nutzungseigentum" verleiht. Demgegenüber ist der Leasinggeber Inhaber der Sachsubstanz und des Verfügungsrechts, man könnte ihn Substanzeigentümer nennen. Beide stehen also hinsichtlich des Leasinggutes in einer Rechtsgemeinschaft, die sich nach Eigentumsteilrechten bestimmt. Das wird durch die Rechtsprechung des B G H insofern bestätigt, als er den Leasingvertrag zwar allgemein als Mietvertrag einordnet104, ihn aber nach § 6 AbzG als verdeckten Abzahlungskauf behandelt, wenn der Vertrag - wirtschaftlich gesehen - darauf abzielt, die Sachsubstanz letztlich dem Leasingnehmer zu übertragen. O b der Vertrag dieses Endziel anstrebt, entnimmt der B G H daraus, ob dem Leasingnehmer am Ende der Grundmietzeit eine Kaufoption eingeräumt ist105. Fehlt dagegen ein solches Erwerbsrecht oder besteht (beim sog. „nonfull - p a y
100 Vgl. Erlaß des BFM v. 19.4.1971, BStBl. 1971, I 264 und vom 22. Dez. 1975, BB 1976/72. 101 Vgl. G. Seeliger, Der Begriff des wirtschaftlichen Eigentums im Steuerrecht, 1962, S. 46 ff, 87 ff; B F H N J W 1970/1149. 102 Vgl. B F H a. a. O. 103 Vgl. statt aller: Tipke/Kruse, Kommentar zur Abgabenordnung und zur F G O , 11. Aufl. 1983, § 3 9 A O , R z . 2 5 und Hübschmann/Hepp/Spitaler, Kommentar zur Abgabenordnung und zur F G O , 8. Aufl. 1982, § 3 9 AO, Rz.42. 104 Vgl. B G H Z 68/118; B G H W M 1975/1203; Hiddemann, WM 1978/836. 105 Vgl. B G H Z 62/42; 68/118; B G H W M 1977/473 und WM 1978/570; B G H N J W 1982/2249.
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- out - Leasing") lediglich eine Erwerbspflicht des Leasingnehmers106, so liegt nach der Rechtsprechung des B G H kein verdecktes Abzahlungsgeschäft vor, weil dem Leasingnehmer kein Erwerbs recht und damit keine eigentümerähnliche Stellung eingeräumt sei. Bei den Leasingverträgen mit Kaufoption haben wir damit praktisch die gleiche Rechtslage wie sie oben (2 b) beim Kauf unter Eigentumsvorbehalt beschrieben ist. Gleichzustellen wären die Verträge, wo Grundmietzeit und Nutzungsdauer sich decken, wo also nach dem Ende der Grundmietzeit nur noch eine „Scheinmiete" zu zahlen ist107 und wenn die Leasinggegenstände so auf die Verhältnisse des Leasingnehmers zugeschnitten sind, daß sie nach Ablauf der Grundmietzeit nur bei ihm wirtschaftlich sinnvoll verwendet werden können108. Dagegen geht die Kritik Flumes109 gegen das Urteil des BFH und dem dort angenommenen wirtschaftlichen Eigentum des Leasingnehmers fehl, weil er die diesem dauernd zugeordnete Nutzung nur vom abstrakten Eigentumsbegriff her wertet. Sieht man also in den genannten Fällen den Leasingnehmer als Nutzeigentümer an, so wären ihm - wie beim Nutzeigentum an Grundstükken - gegen Dritte die Ansprüche aus dem Eigentum zu gewähren. Fällt der Leasingnehmer in Konkurs, so kommt die Rechtsgemeinschaft mit dem Leasinggeber zum Tragen: Das Leasinggut fällt nicht in die Konkursmasse, § 16 KO. Der Konkursverwalter kann die Aufhebung der Gemeinschaft verlangen (§§ 749, 752 ff B G B analog) und der Leasinggeber eventuell nach § 51 K O vorgehen, um sich für seine Forderungen zu befriedigen. Gleiches gilt für den Konkurs des Leasinggebers. Bei der Zwangsvollstreckung gegen den Leasingnehmer kann der Leasinggeber wegen der bestehenden Rechtsgemeinschaft Klage nach § 771 ZPO erheben. Eine Zwangsvollstreckung gegen den Leasinggeber dürfte wegen § 808 ZPO kaum vorkommen, weil die Sachen gewöhnlich unmittelbar vom Hersteller an den Leasingnehmer geliefert werden. Auch der Gedanke des mehrheitlichen Rechtsersatzes greift auf Grund der bestehenden Rechtsgemeinschaft ein110. III. Ergebnis Wesentlich am historischen Begriff des geteilten Eigentums ist nicht die Vorstellung von Ober- und Untereigentum, wie sie sich vor allem in 106 Vgl. B G H WM 1975/1203; B G H Z 68/118; B G H WM 1978/510; B G H Z 71/196; B G H N J W 1979/758 (759); O L G Hamm BB 1980/1719. 107 Vgl. B F H N J W 1970/1148; Flume, D B 1972/108. 108 Vgl. B F H N J W 1970/1148. 109 Vgl. B F H N J W 1970/1149 und Flume, BB 1972/108 f; 152 f. 110 Vgl. D.Strauch, Mehrheitlicher Rechtsersatz, 1972, §§72, 85.
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den lehn- und dienstrechtlichen Verhältnissen des Mittelalters ausgebildet hat, kennzeichnend ist vielmehr die Art, in der der Eigentumsbegriff aufgefaßt wird. Nach der Anschauung des altrömischen Rechts sind alle Arten des Zueigenhabens gleichwertig, sie unterscheiden sich nur durch ihren verschiedenen Inhalt, so daß dem einen beispielsweise die N u t zung, dem anderen die Sache ihrer Substanz nach mit dem Verfügungsrecht zusteht. Die an der Sache Berechtigten bilden eine Rechtsgemeinschaft nach Teilrechten. Die weitere Entwicklung im klassischen römischen Recht, zu dem wir im 19. Jahrhundert zurückgekehrt sind, hat dagegen zu einem selbständigen und abstrakten Vollrecht an der Sache geführt, das neben sich gleichartige Rechte nicht duldet. Es macht vielmehr verselbständigte Befugnisse (Nießbrauch, Pfandrecht etc.) zu abhängigen und qualitativ verschiedenen iura in re aliena, Rechten an fremder Sache. Eine an und für sich berechtigte Unterscheidung ist damit verabsolutiert, denn es gibt jetzt nur noch Rechte an fremder Sache neben dem Eigentum. Dieser abstrakte Eigentumsbegriff hat aber zwei Gesichter: Das eine zeigt die scharfe begriffliche Erfassung abhängiger Rechte, die das Recht der Frühzeit und des Mittelalters nicht leisten konnte. Das andere aber verrät die Unfähigkeit, die Einheit verschiedener Berechtigungen an einer Sache und damit die bestehende Rechtsgemeinschaft zu begreifen111. Die dargestellten Beispiele zeigen, daß die Dogmatik des Bürgerlichen Rechts und die Rechtsprechung sich seit dem Ende des ersten Weltkrieges von dem abstrakten römischen Eigentumsbegriff entfernen und sich - zunächst noch unbewußt - einem neuen Eigentumsbegriff nähern. Dessen Eigenart besteht darin, daß die im Eigentum enthaltenen Befugnisse - sobald sie sich aus dem Eigentum absondern - als selbständige Teilrechte auftreten. Darunter fallen auch die beschränkten dinglichen Rechte, wie sie sich im dritten Buch des BGB finden. Der konkrete Eigentumsbegriff trägt aber auch der Tatsache Rechnung, daß sich Besitz und Nutzung von der Sachzuordnung und dem Verfügungsrecht so sondern können, daß beide auf Dauer voneinander getrennt sind (wie beim Erbbaurecht, Heimstätten- und Dauerwohnrecht, im Fahrnisrecht bei gewissen Typen des Finanzierungsleasing) oder gesondert werden, um den Eigentumserwerb eines Beteiligten vorzubereiten (so beim Vorbehaltskäufer und Leasingnehmer mit Kaufoption) oder die Darlehnsrückzahlung zu sichern (so bei der Sicherungsübereignung). Von Nutzeigentum und Substanzeigentum sprechen wir in diesen Fällen, weil das Eigentum an einer Sache nicht abstrakt, sondern konkret aufzufassen ist. Das heißt aber, der Tatsache Rechnung tragen, daß das 111
Vgl. Dulckeit (s. o. Fn. 64) S. 68 f.
Das geteilte Eigentum in Geschichte und Gegenwart
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Eigentum auch nach verschiedenen Befugnissen aufgeteilt sein kann, und daß derjenige, dem die Nutzung einer Sache dinglich zugeordnet ist, so viel von der „Eigentum" genannten Sachzuordnung hat, daß die Sache auch ihm gehört. Der Unterschied zwischen beschränkten dinglichen Rechten und dem Nutz- bzw. Substanzeigentum ist danach nur ein quantitativer, kein qualitativer: Beschränkte dingliche Rechte enthalten weniger Befugnisse als das Nutzeigentum. Für die Abgrenzung zwischen beiden sind zwei Merkmale entscheidend: der Umfang der abgesonderten Befugnisse und die Dauer der Zuordnung. Um sie Eigentum nennen zu können, wird man für den Umfang der abgesonderten Befugnisse fordern müssen, daß unmittelbarer Besitz und die ausschließliche Nutzung der Sache auf den Nutzungseigentümer übergehen, so daß dem bisherigen Eigentümer nur das bloße Zu-Eigen-Haben und die Verfügungsbefugnis verbleiben. Hinsichtlich der Dauer des geteilten Eigentums zeigen sich dagegen verschiedene Gestaltungen: Bei Grundstücken ist das Nutzeigentum typischerweise vererblich, bei Fahrnis erstreckt es sich auf die Nutzungsdauer der Sache, auf die Laufzeit des Darlehns oder auf die Dauer der Ratenzahlungen. Danach steht der Nießbrauch auf der Grenze: Vom Nutzungsumfang her wäre er als Nutzeigentum anzusehen, von der Dauer her dagegen bei Grundstücken nicht, weil er nicht vererblich ist. Bei Fahrnis dagegen ist er als Nutzeigentum aufzufassen.
Friedrich Pilgers „Wezlarische Annalen" (1791) Ein Zeugnis deutscher Aufklärung aus juristischer Sicht HANS T H I E M E
Eine rasche Mitteilung war jedoch unter den Literaturfreunden schon eingeleitet: die Musenalmanache verbanden alle jungen Dichter, die Journale den Dichter mit den übrigen Schriftstellern. Aus diesem Nehmen und Geben entsprang jene berühmte, berufene und verrufene Literaturepoche, in welcher eine Masse junger genialer Männer mit aller Mutigkeit und aller Anmaßung durch Anwendung ihrer Kräfte manche Freude, manches Gute, durch den Mißbrauch derselben manchen Verdruß und manches Übel stifteten.
Auf solche Weise schildert Goethe in „Dichtung und Wahrheit" jene Literaturgattung, an welcher er sich als Mitarbeiter der Frankfurter Gelehrten Anzeigen und durch allerlei Dichtungen mit „grenzenloser Lust am Hervorbringen" schon vor der Ubersiedlung nach Wetzlar (1772) zu beteiligen begann. Ebendahin führt uns nun auch diese Vorstellung einer jenem von Goethe beschriebenen „Quirlen und Schaffen" zugehörigen - wenn auch fast zwanzig Jahre jüngeren - Wochenschrift „zur Unterhaltung für alle Volksklassen", deren Seltenheitswert - wir kennen nur das im Historischen Archiv der Stadt Wetzlar befindliche Exemplar1 - ihr hoher inhaltlicher Rang entspricht, die aber ebenso vergessen ist, wie das Bändchen desselben Verfassers „Ideen über die Behandlung der Juden in Deutschland", Wetzlar 1791, welches wir voriges Jahr in einem anderen Festschriftbeitrag beschrieben haben2. Heinz Hübner hat während seines langen Wirkens als Gelehrter und als akademischer Lehrer Ideengeschichte und Rechtsgeschichte stets zu
1 52 Stück, 834 S. 8°; vgl. unseren Hinweis in Anm. 19 der nachfolgend genannten Abhandlung. Trotz des Versprechens am Schluß, „im nächsten Jahre mit meinem Fleise nicht den Krebsgang zu gehn", hat Pilger die W. A. 1792 nicht fortgesetzt. - Für die Überlassung des Wetzlarer Exemplars habe ich Herrn Archivleiter Flender besonders zu danken. 2 Friedrich Pilger, Ein vergessener Vorkämpfer der Juden-Emanzipation, in: Recht und Staat im sozialen Wandel. Festschrift für Hans Ulrich Scupin zum 80. Geburtstag. Berlin 1983. S.183-194.
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verbinden gewußt. Dankbar erinnert sich mancher von uns zum Beispiel an seine beiden Vorträge vom Erlangen-Nürnberger und vom Berliner Deutschen Rechtshistorikertag (1972 bzw. 1978) über „Donellus und die Jurisprudenz des Humanismus" und über „Kodifikation und Entscheidungsfreiheit des Richters". Daher ist ihm dieser kleine Beitrag zu seiner Festschrift mit gutem Grund gewidmet worden. I. Friedrich Pilger und die deutsche Aufklärung Der 1761 in Wetzlar geborene Sohn eines evangelischen Pfarrers und ältere Bruder eines nachmaligen Advokaten am Reichskammergericht widmete sich nach dem offenbar breit gefächerten, vornehmlich aber der Jurisprudenz gewidmeten Studium - zumeist wohl in Gießen, möglicherweise aber auch in Berlin - dem Militärdienst in Hessen-Darmstadt, zeitweilig auch in Frankreich als Trainoffizier, zuletzt Hauptmann, wobei er mehr und mehr zur Tierarznei hinüber wechselte, der er in der Folge eine Reihe von Publikationen widmete. Durch den Landgrafen von Hessen, den späteren Großherzog Ludwig I. 1802 mit dem Professortitel ausgezeichnet, machte er sich unter anderem um die Einführung der Kuhpockenimpfung verdient, geriet aber schon damals in Konflikte mit Kollegen und erlangte keine Anstellung an der Universität Gießen, weil - wie es in einem Kammerbericht von 1804 heißt - „bey dem allgemein bekannt gewordenen unmoralischen Charakter des Mannes diese bey den Gliedern derselben eine unangenehme Sensation veranlassen dürfte". Anstelle der Vergütung für einige untergeordnete Funktionen, die er seiner tierärztlichen Praxis wegen offenbar unvollkommen ausübte, ward ihm 1804 eine jährliche Pension von 250 Gulden bewilligt, allein vom 20. Oktober 1806 ab wieder gestrichen, weil er „ohne vorher die mindeste Anzeige davon zu thun" zu diesem Zeitpunkt Gießen verlassen und die Reise nach Charkow angetreten hatte, um eine Professur der Tierarzneikunde an der neu gegründeten kaiserlich-russischen dortigen Universität anzutreten3. Von seinem weiteren, durchaus erfolgreichen Leben, das ihm den Hofratstitel und den Adel eintrug, aber auch nicht frei von Streit und Mißgunst war, wurde an der oben genannten Stelle berichtet. Die „Wezlarischen Annalen", mit denen wir uns nun im folgenden ausschließlich beschäftigen werden, schließen mit dem Wort: „Es lebe
3 Außer auf die in der Festschrift Scupin zitierten Stellen stützen wir uns hier auch noch auf die im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt liegende Akte E 6 B Nr. 28/25 sowie auf das „Biographisch-literarische Lexikon der Schriftsteller des Großherzogthums Hessen" von Scriba (1843), worin auch die übrigen Veröffentlichungen Friedrich Pilgers aufgeführt sind, freilich nicht mehr diejenigen seiner russischen Jahre.
Friedrich Pilgers „Wezlarische Annalen" (1791)
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Aufklärung und Wahrheit4!" Und in der Tat sind sie ein typisches Erzeugnis der deutschen, der europäischen Aufklärung. Gerhard Kaiser schreibt in seinem Buch „Aufklärung, Empfindsamkeit, Sturm und Drang"5: „Im gesamten deutschen Sprachgebiet erscheint bis zum Ende des 18. Jahrhunderts eine große Zahl solcher meist kurzlebiger Moralischer Wochenschriften... Das Vertrauen in die Anlage und unbegrenzte Bildsamkeit der menschlichen Seele zur Vernunft findet hier Ausdruck. In diesem Glauben ist die Aufklärung nichts anderes als eine einzige große Erziehungsbewegung, die, wie Kant gesagt hat, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit heraus zur Selbstbestimmung führen will." Friedrich Pilger kennt eine Menge Schriftsteller, die mit ihm gleichen Sinnes sind. Er zitiert Deutsche, Engländer und Franzosen, er nennt Friedrich Nicolai, Gottlieb Wilhelm Rabener und Wilhelm Friedrich Hezel, er weiß von dem Streit zwischen Lessing und Goeze, er nennt Wieland „einen unsrer grösten Lieblings-Schriftsteller"6. Aber er ist auch nicht frei von Kritik, spricht von „theosophischem Unsinn in Jakob Böhmens Manier"7 oder meint, daß Johann Wilhelm v. Archenholz „etwas zu sehr von der Engeischen Nation eingenommen" sei, „um dem, was er von ihr sagt, unbedingten Glauben beimessen zu können"8. Pilgers Bildungshorizont ist weit; er reicht von der Antike (Ovid, Horaz, Vergil, Martial) über das Mittelalter und die Reformationszeit bis in die Gegenwart (Rousseau, Voltaire, Lavater, Basedow); er umfaßt Boileau, Swift, Juvenal „und wie die Herren alle heisen"9 - nur die deutschen Klassiker, denen er altersmäßig doch recht nahe stand, existieren für ihn noch nicht. Besonders eng ist offenbar Pilgers Beziehung zum französischen Sprachraum, wie auch die häufige Verwendung 4 S.833. Es sei erlaubt, um die noch heute wie damals umstrittene Bewertung der Aufklärung zu kennzeichnen, hier noch die Kritik anzuführen, die derselben kürzlich durch den Generalsekretär des Ökumenischen Rates der Kirchen, Philip Potter zuteil wurde. Diese Epoche habe vier Dinge hervorgebracht: die industrielle Revolution, die den Menschen der Maschine Untertan gemacht habe; die Vereinigten Staaten mit Freiheit und Gleichheit für alle Menschen - außer für Schwarze und Indianer; die französische Revolution, deren Wahlspruch „Liberté, Egalité, Fraternité" im Grunde vom Bürgertum allein beansprucht werde und schließlich den rassistisch geprägten Imperialismus. Soweit Potter im Februar 1983 in Lyon. 5 Geschichte der deutschen Literatur, Band 3, 2. Aufl., München 1976 (UTB 484) S.25. Vgl. dazu auch Bodo Rolika, Tageslektüre in Berlin (1740-1780), in: MendelssohnStudien, Beiträge zur neueren deutschen Kultur- und Wirtschaftsgeschichte, Band 4, Berlin 1979, S. 47 ff und weitere dort angegebene Lit. 6 S. 116. 7 S. 180. 8 S. 130. 9 S. 257.
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eingedeutschter Worte - Quadrille, Marodeur, Entrevue, Musié, Pot Chambre usw. - erweist. Daß Pilger zeitweilig „Lieutenant français" war, wie es 1792 im Wetzlarer Kirchenbuch heißt10, läßt sich zwar nicht erweisen, könnte aber seine Erklärung finden durch die aktenmäßig belegten Dienste seiner Brigade bei der österreichischen Armee und die hierbei erworbenen Sprachkenntnisse. Jedenfalls hat er sich - wie noch darzulegen sein wird - mit der politischen und ideologischen Entwicklung Frankreichs intensiv beschäftigt. Schwerpunkt seiner schriftstellerischen Begabung ist zweifellos die Satire - eine damals, wie gerade auch Gerhard Kaiser gezeigt hat", besonders in Schwung gekommene Gattung der Literatur. Sie führte zu einer soziologischen, meist kritischen Betrachtung gesellschaftlicher Institutionen und Vorgänge, seien es solche der Kirche, des Staates, des Adels, des Bürgertums oder der Landbevölkerung - gerade dies macht den Wert von Pilgers „Wezlarischen Annalen" aus. Gewiß sind „Scherz, Ironie, Satire" bei ihm nicht ohne „tiefere Bedeutung" - sie sollen eine „gesellschaftsbildende Funktion" der Literatur erfüllen12, und wenn auch manches allzu sehr karikiert, überzogen und damit unsympathisch erscheint, so wird man doch Pilger neben der „Lust am Trug" auch den „Drang nach Wahrheit" (Goethe) nicht absprechen dürfen und ihn in die große Tradition der deutschen Aufklärung einzureihen haben. II. Anlage und Inhalt der Annalen Friedrich Pilger hat die „Wezlarischen Annalen" nicht nur allein redigiert, sondern auch - von geringen Ausnahmen abgesehn - selber verfaßt, eine beachtliche Leistung des Dreißigjährigen, der daneben für seine - offenbar durch „widriges Geschik" 13 betroffene - Familie und für Vgl. Festschrift Scupin S.185. A. a. O. (Fn. 5) S. 75 ff; hierzu die Literaturangaben S. 318. 12 Zur juristischen Beurteilung vgl. jetzt auch die beiden Aufsätze von Thomas Wiirtenberger „Karikatur und Satire aus strafrechtlicher Sicht" und „Satire und Karikatur in der Rechtsprechung" in der Neuen Juristischen Wochenschrift 1982 S.610 u. 1983 S. 1144. Pilger selbst beruft sich in den W. A. S. 145 auf das Wort von Boileau: „La Satire va venger la raison des attentats d'un sot." - Zuletzt sei an dieser Stelle noch auf den von HansJoachim Schoeps herausgegebenen Sammelband „Zeitgeist der Aufklärung" (Paderborn 1972) mit seinen wertvollen Beiträgen hingewiesen - darunter einem solchen des Herausgebers selbst über „Philosophie und Religion der Aufklärung" - sowie auf die unter dem Titel „Was ist Aufklärung?" wieder erschienenen „Beiträge aus der Berlinischen Monatsschrift" von 1783-1786 mit einer Einleitung und Anmerkungen von Norbert Hinske (Darmstadt 1973), die Berliner Mittwochsgesellschaft betreffend, die freilich bei Pilger nicht erwähnt wird. 13 Vgl. den Epilog zum Abschluß des ersten Vierteljahrs der W. A. S. 208, in dem es heißt: „Weniger würd' ich Zensur scheun, sie weniger zu scheun Ursache haben, wenn nicht häusliche Schiksale, die nur dem engen Zirkel meiner Freunde bekannt sind, meine 10
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sein berufliches Fortkommen zu sorgen hatte. Daß die Annalen mit derselben Jahreszahl 1791 versehen sind, wie Pilgers „Bändgen" über die Juden-Emanzipation, bedeutet wohl keine wirkliche Gleichzeitigkeit, vielmehr muß letzteres bereits abgeschlossen gewesen sein, als er die Wochenschrift abfaßte. Das Thema „Judenfrage" ist in derselben nicht behandelt, wenn auch ab und zu Stellen über die jüdischen Mitbürger darin vorkommen, die nach Inhalt und Haltung mit jener Schrift übereinstimmen. Wir lernen Friedrich Pilger in den „Annalen" noch besser kennen, als in dem „Bändgen", weil uns seine Haltung zu Fragen der deutschen und europäischen Geschichte, damaliger Zeitgeschichte und Politik darin entgegentritt, seine Einstellung in Glaubensfragen, sein Verhältnis zu Recht und Gesetz. Er muß sich der „Läster-Kritik" 14 erwehren, erhält anonyme, beleidigende Zuschriften15 und hat wohl auch selber - ohne Namensnennung - manchen „auf die Schippe genommen", der ihm das nie vergessen konnte. So mögen es nicht nur berufliche und wirtschaftliche Gründe gewesen sein, die Friedrich Pilger schließlich veranlaßten, seine Annalen nach einem Jahre dann doch zu beendigen16. Charakteristisch sind für dieselben zunächst einmal längere Beiträge, die sich in Fortsetzungen durch mehrere Folgen der Zeitschrift hinziehen. Als solche seien genannt: 1. „Tilo Kolup oder der falsche Kaiser. Eine deutsche Volksgeschichte." Dies ist die Geschichte jenes „falschen Friedrich", der sich zur Zeit Rudolf v. Habsburgs als der wahre Friedrich II. von Hohenstaufen ausgegeben und einige Zeit angeblich auch in Wetzlar regiert hatte, bis ihm vom König und dessen Anhängern der Garaus gemacht wurde. 2. Ein Artikel „Freiheit!" in fünf Abschnitten, der die politischen Ansichten Pilgers über Demokratie, Revolution, Republiken usw. enthält. 3. Eine Satire „Die Laterne des Diogenes" mit witzigen Schilderungen all dessen, was der aus seiner Tonne gekrochene Philosoph erlebt und beobachtet hat. 4. Ein Aufsatz „Ideen über das Verbrechen des Kindermords, und dessen Strafe", worin der studierte Jurist Pilger in sechs Fortsetzungen eine rechtsgeschichtlich bemerkenswerte Darstellung dieses zu jener Zeit ja literarisch besonders viel und eindringlich behandelten Themas bietet.
An zweiter Stelle sind die zahlreichen satirischen Beiträge zu erwähnen, in welchen sich Pilgers Denken offenbart, mit denen er sich aber, wie gesagt, viel Feindschaft eingehandelt hat. Da gibt er WorterklärunLaune verstimmt, und mich auf einen Grad der Unthätigkeit herabgesezt hätten, die mich alles in Rüksicht der Kritik fürchten lies." Vgl. dazu ebenfalls Festschrift Scupin S. 185. 14 S. 139; vgl. auch S. 87 „Ueber Satyre, Kritik und Antikritik". 15 S.575 („skandalöse Kronik, Schurkenstreich", 5.8.1791). " Ob und wo die bei Scriba (Fn.3) erwähnte, gleichfalls 1791 „in ein Paar Stücke" erschienene Wochenschrift Pilgers „Komus und Momus" erhalten ist, war nicht festzustellen.
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gen, analysiert Sprichwörter, schildert die verschiedenen Arten menschlicher Eitelkeit, Nutzen und Schaden des Luxus, aber auch Herkunft, Kleidung, Umgangsformen und Physiognomie des Menschen bis hin zu seinen Perücken und Nasen: „Herr Ritter Linné würde ein gutes Werk gestiftet haben, wenn er sie in ein ordentliches Sistem gebracht, in Genera und Species abgeteilt hätte17." Besonders nimmt Pilger die alten Jungfern, aber auch die bösen Ehefrauen aufs Korn, und offensichtlich kämpft er gegen die Pfaffen und den Mißbrauch, den sie mit der kirchlichen Herrschaft treiben. Ebenso spottet er öfter über den Adel, über die Juristen, über schwindelhafte Ärzte, über die Magnetisierer, die „den Hang zur Wollust" befördern, wobei Lavater, „der es anpreist", als „bekannter Schwärmer", Cagliostro als Betrüger bezeichnet wird, der es versteht, „durch seine Kunst den Leuten vortrefflich das Geld aus der Tasche zu magnetisiren"18. Manche dieser scherzhaft gemeinten, bisweilen aber auch recht bösen Beiträge Pilgers sind in Versen gefaßt; offenbar eignen ihm dichterische Fähigkeiten und ein bemerkenswertes sprachliches Talent. Phantasie spielt dabei keine geringe Rolle, wobei er sich mitunter an bekannte Dichtungen, zum Beispiel an den Don Quijote anlehnt19. Beachtlich ist auch Pilgers „Nachricht für Liebhaber der aufgeklärten Religion" 20 , worin er seine Leser auf den Gießener Professor der morgenländischen und biblischen Literatur Wilhelm Friedrich Hezel (1754—1824) und das von ihm geplante „Sonntagsblatt zur Ehre der Offenbahrung" aufmerksam macht21, den er hoch verehrt. Hezel hat in den Jahren 1780-1791 eine Ausgabe des Alten und des Neuen Testaments „mit vollständigen erklärenden Anmerkungen" veröffentlicht, die offenbar „für das Verständnis des großen Publikums und der Anfänger" sehr erfolgreich war. Zwischen Hezel und dem Theologensohn Pilger welcher einmal feststellt, „daß die Bibel in ihren Gesezen und ihrer Moral immer den ebnen Pfad der Vernunft wandelt, daß ihre Geseze das reinste Naturrecht sind, und ihre Moral ein reines ungekünsteltes Sistem unverbesserlicher Lebensregeln" 22 - bestand anscheinend eine enge Beziehung, und die spätere Lehrtätigkeit Hezels (von 1801-1820) in Dorpat könnte auch für diejenige Pilgers in Charkow - neben der
S. 157. S. 288. " S. 431, 442, 457, 473, 488, 505. 20 S. 253. 21 Uber Hezel vgl. Redslob in der Allg. Deutschen Biographie Bd. XII sowie Strieders Hessische Gelehrtengeschichte Bd. XVIII. 22 S. 520. 17 18
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Fürsprache von Hofrat Meiners in Göttingen 23 - ursächlich gewesen sein. III. Antike und Mittelalter Was dem Leser der „Pilgrimme" - so nennt der Autor selber seine Blätter in einer „Elegie nach Ovid" 24 - alsbald auffällt, ist ihre enge Beziehung zum Altertum. Nicht nur bringt Pilger häufig Zitate aus lateinischen Schriftstellern, sondern in seinen literarhistorischen und politischen Ausführungen ist ihm die griechische und römische Vergangenheit präsent, und er setzt ihre Kenntnis auch bei seinen Lesern voraus. Da heißt es etwa in dem Artikel über die Freiheit: „Die alte Geschichte Griechenlands verliert sich in der Mytologie, und ist zu viel mit Fabeln verwebt, als daß man mit vollkommner Gewisheit die Entstehung der griechischen Freistaaten veststellen könnte; daß strenge Beherrscher daran Ursache waren, ist auser Zweifel. Wie sie aber frei wurden, und wie sie sich in so verschiedne Staaten trennen konnten, darüber sind die alten Geschichtschreiber selbst nicht einig." „Nachher erhob sich das stolze Rom, und die Welt beugte sich unter seinen Zepter. Der einzige Freistaat, von dem man sagen konnte, daß er als Freistaat solche Gröse erlangt habe 25 ."
In seiner „Fortsezung über Freiheit" schreibt Pilger dann freilich: „Die alten Freistaaten verschwanden nun almälig, Griechenland wurde bald von Tirannen unteriocht, bald von seinen Nachbarn in die Ketten der Knechtschaft geschmiedet; Karthagos Herrlichkeit wurde vom herrschsüchtigen Rom verschlungen, und Roms Sonnenschimmer selbst wurde durch seinen eignen Schutt verdunkelt; - es stürzte unter dem Ubergewicht seiner Gröse, und lies auch nicht einen Gedanken von dem übrig, was es sonsten war, ob es gleich nachmals den meisten kleinen Staaten, wiewol sehr unglücklich und unpassend zum Modell diente 2 '."
Eine Fülle teils sarkastischer, teils boshafter Bemerkungen enthält der Diogenes-Aufsatz 27 . Kaum hat der Philosoph die Tonne verlassen und das Licht seiner Laterne angezündet, da begegnet er einem Archonten in einem von vier stolzen Rappen gezogenen Wagen, der aber Diogenes keines Blickes würdigt. „In Behaglichkeit eines großen Ehrenamts, und fetter Einkünfte eingewiegt, sah Trasimen, so hies der Archonte, die Höflichkeitsbezeugungen des Pöbels als einen schuldigen Zoll an, den man seinen Verdiensten entrichtete, ohnerachtet er sich weiter ums Vaterland durch nichts verdient gemacht hatte, als daß er auf den Kredit seiner Mitbürger grose Summen erborgte, neue Auflagen erfand, königlichen Aufwand auf Kosten des Staats machte, und zehn Mätressen fürstlich unterhielt. - Ich kannte dich,
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Vgl. Festschrift Scupin S. 186. S.3. S. 71, S. 70. S. 81. S. 145, 161, 177, 193.
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sagte Diogenes bei sich, als du dem Perikles den Steigbügel hieltest, - und an den Tafeln der Reichen, die deinen Hunger stilten, den Geken machtest. - W e r so bald sich selbst vergessen kann, verdient nicht Mensch zu heisen 2 8 ."
Und so geht es bei der Wanderung des Diogenes weiter und weiter; er trifft Theophoron, einen reichen Athener, dessen Kinder aber nichts von ihm wissen wollen; „Weh dem Staate", sagt Diogenes, „den ein Mann beherrscht, der seine eignen Kinder zu erziehen nicht im Stande ist 29 ." Er trifft den Areopagiten Theokies, den Oberrichter, der aber die Rechtsuchenden im Stich läßt. „O! daß Menschlichkeit die Gefärtin der Gerechtigkeit wäre", - sagt der Philosoph mit der Laterne - „und daß man das grade durch Bitten erhalten mus, welches zu verleihen die Götter gebieten 30 ." Er trifft den berühmten Hippokrates, „der iedem Armen ohnentgeltlich dient, und mit wahrem Eifer die Hütten leidender Elenden besucht" und er wird endlich Zeuge einer guten Tat, als ein armer Taglöhner einer hungernden Mutter und deren Kindern den ganzen Erwerb einer sauern blutigen Woche hinreichte. „Nun fülte Diogenes", schreibt Pilger, „die ganze Würde der Menschheit, stürzte nieder zur Erde, und dankte den Göttern, welche das Herz eines Verachteten so gros schufen; löschte sein Licht aus, und rief mit Enzüken: Ich habe unter Tausenden einen Menschen gefunden31!" Hier wie überall ist die Zielsetzung zu spüren, die Pilger verfolgt: er will seine Leser nicht nur amüsieren sondern vor allem belehren: ein guter Zweck! Nicht anders schaut es aus, wo sich unser Annalist mit dem Mittelalter befaßt, wie in seinem Aufsatz über den „falschen Friedrich". Hören wir zum Beispiel, wie Pilger den Hohenstaufenkaiser würdigt, Friedrich den Zweiten, welcher „der Schiksale manche erduldet, mit zahllosen Leiden gekämpft, im Drange des Verhängnisses alles ausgehalten, allem eine eherne Stirne geboten, und das ausgeführt hatte, was ein Mann von seltnem Geist, und Kopf, den die N a t u r mit der herrlichsten Gaben vorzüglichsten beschenkt hatte, immer zu thun vermögt 3 2 ."
Aber nach seinem Tode wurde, so stellt Pilger fest, der Kaiser nicht durch „ienes hinreisende Gefül des allgemeinen Bedauerns", nicht durch „Thränen, nicht nach iammernde Liebe eines mit Güte beherrschten Volks" 33 geehrt, vielmehr waren „allgemeiner Haß, von Aberglauben erzeugt; von Priestern genärt; - Fluch und Bann über ihm von der Bischöffe Obersten" die Denkmäler, die auf Friedrichs Grab „ihre 28 25 30 31 32 53
S. 149. S. 152. S. 178. S. 199. S.7. S. 8.
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mismutigen Schatten warfen". Es folgt eine eindrucksvolle Schilderung des Kaisers durch Pilger, der ihn „einen Grosgeist"34 nennt, „den Unerschrokenheit, unerschütterlicher Muth, eiserne Tapferkeit, über alle Menschen neben ihm emporheben." „Sein groser allumfassender Geist verlies ihn nie; noch da alles Unglük in namenloser Menge gleich Wettersturm auf ihn hereinbrach', wankt' er nicht, stand als Held und Mann, blieb sich immer gleich . . . bis er endlich in der Blüte seines Lebens vom Tode weggeraft wurde 35 ."
IV. Ideengeschichte und Rechtsgeschichte Zu Fragen der Politik und der Geschichte seiner Zeit äußert sich Friedrich Pilger am deutlichsten in seinem Aufsatz „Freiheit"36. Hier finden sich seine Gedanken zu Volksrevolutionen und Volksherrschaft von der alten Geschichte bis zur Gegenwart. Es heißt: „Der Begrif von Freiheit sezt Handlungen voraus, die von allem Zwang entfernt; und demohngeachtet der Vernunft und Sittlichkeit angemessen sind. Dis ist der wahre Gesichtspunkt, aus welchem wir eine Sache betrachten müssen, die ihren wolthätigen Einflus allenthalben äusert; wo sie als Schuzengel der Nationen auftrit. Durch sie schwingt sich Aufklärung im Lichtstral empor, Wissenschaften und Künste gedeihen unter ihrer Pflege; Staaten blühen, und mit Dankgefül wird ihr von Völkerschaften gehuldigt. - Im Gegenteil, wenn Vernunft und Sittlichkeit nicht ihre Fürer sind, artet sie in Gesez- und Zügellosigkeit aus, zerreist die Dämme bürgerlicher Tugenden, wandelt sich in ein Ungeheuer, das sein eigen Blut aussaugt; seine Kinder mordet, und mit seinem Höllengefolge, Aufruhr und Mordsucht gegen sich selbst wütet 37 ."
Kein Zweifel, daß es die mit der französischen Revolution seit 1789 gemachten Erfahrungen sind, welche Pilger hier zum Ausdruck bringt. „Die neusten Beispiele bestätigen es hinlänglich" - so schreibt er38 - „wie gefärlich es ist, ienes Gut, das iezt so sehr gesucht wird, nicht zu kennen, und statt der Blume die Schlange zu ergreifen, die sich unter ihr verbirgt." Und er wendet sich gegen jenen „ausgearteten Freiheitsgeist, der mit Mord und Brand dis Kleinod zu erringen strebt, und bei seiner eingebildeten Freiheit keinen Augenblik seines eignen Lebens sicher ist"39. Selbst ein Tyrann erscheint Pilger noch als „ein guter Engel" gegenüber jener „misverstandenen Freiheit", und es heißt somit weiter bei ihm:
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S.9. S. 16. 36 S. 65, 81, 97, 113, 129. Vgl. auch die Anmerkung S. 102 und die Korrektur („Anachronistische Gedächtnissünde") S. 118. 37 S. 67. 38 S. 68. 39 S.68. 35
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„Wer ist gegenwärtig in Frankreichs weitläufigen Staaten seines Lebens, seines Vermögens sicher? Wer kann behaupten, sich Abends so niederlegen (zu können), wie er Morgens aufstand? - Dampfen nicht aller Orten die zerstörten Städte? Ist nicht mitten unter dem Mordgeschrei von Freiheit der Geist der Zwitracht, der unaufhaltsam wütet? Konnte eine Bastille, die vielleicht nur hundert Leidende in ihre Kerker begrub, das tausendste Theil Elend in einem Jahrhundert anrichten, was der Schwindelgeist der Freiheit in wenig Monaten hervorbrachte40?" G e r a d e aus d e m M u n d e eines M a n n e s , dessen E n g a g e m e n t für die A u f k l ä r u n g a u ß e r allem Z w e i f e l steht u n d der F r a n k r e i c h b e s o n d e r s gut k e n n t , sind s o l c h e Ä u ß e r u n g e n b e m e r k e n s w e r t . E r w e n d e t sich a u c h w e i t e r h i n gegen „das f r a n z ö s i s c h e Gift, dessen Stärke u n d G e f ä r l i c h k e i t w i r seit einigen J a h r e n s o auffallend b e m e r k e n " 4 1 u n d m e i n t d a m i t a u c h s p r a c h l i c h e u n d kulturelle A n p a s s u n g «
„Alles m u ß f r a n z ö s i s c h
sein.
U n d w a s k o m m t a m E n d e dabei h e r a u s ? N i c h t s 4 2 ! " E r f a h r u n g e n m i t e i n e m falschen V e r s t ä n d n i s d e r F r e i h e i t einerseits, m i t u n w ü r d i g e r u n d w e r t l o s e r A n p a s s u n g anderseits m a c h t e Pilger. E r w a n d e r t w e i t e r d u r c h die e u r o p ä i s c h e G e s c h i c h t e ; n a c h F r a n k r e i c h finden n o c h a n d e r e „ F r e i s t a a t e n " E r w ä h n u n g : E n g l a n d , H o l l a n d , B r a b a n t - die „ ö s t e r r e i c h i s c h e n N i e d e r l a n d e " , die P i l g e r m ö g l i c h e r w e i s e aus seiner Militärzeit k a n n t e u n d die ja 1 7 8 9 a u c h eine R e v o l u t i o n erlebten 4 3 . N i c h t zufällig d ü r f t e a u c h die E r w ä h n u n g v o n L ü t t i c h sein, „dessen Freiheitsgeist aber bereits d e n lezten H e r z s t o s e m p f i n g " 4 4 , z u m a l der W e t z l a r e r F r i e d r i c h Pilger in diesem
Zusammenhang
Reichstribunals"
die
erwähnt:
„weisen
Anordnungen"
des
„obersten
„ U n d bald w i r d der e r h a b e n e Z w e k
der
e r l e u c h t e t e n R i c h t e r D e u t s c h l a n d s erfült sein, u n d ihre N a m e n w e r d e n
40 S.69; vgl. auch die in der Festschrift Scupin S. 194 wiedergegebene Stelle aus den W.A. S. 133-135. 41 S.528; vgl. auch die Stellen über Paris S.284, S.286 („Sammelplaz Europäischer Thorheiten", aber zugleich „Capitale du monde", in der „eine Ordnung herrscht, die man leicht in kleinen Orten einführen könnte"; „man last dem Ausländer Gerechtigkeit wiederfahren, ohne den Einheimischen zurükzusezen"). 42 S. 526, 528. - Es sei bemerkt, daß - wie eine Umfrage des Gallup-Instituts im August 1983 ergab - der heutige Franzose zwischen der großen Revolution von 1789 und dem Terror des Jahres 1793 auch unterscheidet: man liebt die Revolutionäre, aber nicht mehr die Jakobiner. 45 S. 85 nennt Pilger die „Brabänder" eine „starköpfige, beharrliche Nation", welche „schlaftrunken vom Gifte ihrer geistlichen Hirten die edle, väterliche Meinung des verewigten Joseph II. verkannten" und „ihr Schwerd gegen den zärtlichen Vater" schwangen, „und die Undankbaren gaben ihm den Tod". 44 Es liegt nahe, immerhin hier eine Beziehung herzustellen zwischen Friedrich Pilger und Christian Wilhelm von Dohm, die in bezug auf das „Juden-Bändgen" nicht zu bestehen schien - vgl. Festschrift Scupin S. 190 Anm. 16 - , denn v.Dohm verfaßte im Frühjahr 1790 seine Schrift über „Die Lütticher Revolution im Jahre 1789 und das Benehmen Sr. Kgl. Majestät v. Preußen". Vgl. dazu auch I. Dambacher in ihrem a.a.O. S. 183 Anm. 2 genannten Buch, S. 270-329 über „Die Revolution in Lüttich 1789".
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m i t F l a m m e n s c h r i f t in den J a h r b ü c h e r n des deutschen Reiches g l ä n z e n " - eine E r w a r t u n g , die sich freilich nicht erfüllte. A m E n d e seiner „Ideen über Freiheit, Volksrevolutionen u n d V o l k s herrschaft" 4 5 , die auch Venedig, die Schweiz 4 6 und die deutschen R e i c h s städte 4 7 n o c h einbeziehen, bekennt sich unser A u t o r dann zu den beiden M o n a r c h e n F r i e d r i c h v o n P r e u ß e n u n d Kaiser J o s e p h II. sowie n o c h einmal z u r A u f k l ä r u n g . W i r zitieren dazu folgendes: „Lange schon unter des unsterblichen grosen Friedrichs Regierung waren die Preusischen Staaten der Aufklärung Tempel, Freiheit im eigentlichen Verstände war hier zu Hause, hier durfte keiner zittern, wenn er Warheit gesagt hatte, keiner brauchte Anstand zu nehmen sie bekannt zu machen, und wenn es auch bitter geschah, so lies man dennoch dem Wiz Gerechtigkeit widerfahren. In Oestreichs Staaten rief Joseph es werde Licht! und es bedurfte nur dieses Rufs, so loderten schon allenthalben grose Geister im Lichtstral auf, die vorher im Verborgnen geklimmt hatten. Aufklärung ist in den Ländern, wo sie herrscht, nicht ein Werk des Zufals und des Himmelsstrichs Nein! - sie ist das Werk weiser Regenten, und flieht deshalben demokratische Staaten, weil die Köpfe des brausenden Volks, durch alte Vorurteile angestekt, nicht heller sehn wollen, als ihre Väter sahn, und den, der gesündere Augen haben will als sie, nicht unter sich aufkommen lassen48." E i n besonders enges Verhältnis des H e s s e n Friedrich Pilger z u m preußischen Staat k o m m t auch z u m A u s d r u c k in dem, was er über seine W i r t s c h a f t b e m e r k t , die i h m bekannt gewesen sein m u ß : „Gewis sind die Preusischen Staaten in Paralele neben andre gesezt, die glüklichsten; in einem Lande, dem die Natur ihre ganze Kargheit zeigte, heben sich blühende Dörfer aus einem Sandmeere, italiänische Produkte sind durch die Industrie der Bewoner einheimisch, hier sieht man die Paläste des alten Latiums in verjüngter Pracht, hier öfnet sich die Vaterhand des Königs, wenn Miswachs, oder Unglüksfälle den Unterthanen zurüksezen, hier ist für ieden gesorgt; der Fleis wird belohnt, und Gerechtigkeit ist das Palladium der Armen4'." U n d schließlich n o c h ein letztes W o r t Pilgers z u r A u f k l ä r u n g : „Man legt der Aufklärung, allein auch ohne den mindesten Grund, die Schuld iener Revolutionen, ienes allegemeinen Freiheitssinnes und all des Übels bei welches iezt S. 66. S. 98, wo die letzte Hexenverbrennung (1782 in Glarus) und ein noch späterer Prozeß gegen zwei „Erzzauberer" in Solothurn angeprangert werden; S. 132, wo es heißt, die Schweiz habe „trotz ihrer Freiheit Leibeigne in ihren Gebürgen". Vgl. auch S. 82. 47 Uber diese äußert sich Pilger S. 136/137 sehr ironisch; er spricht von „verwarloster Justiz", von „schändlichem Ämterverkauf", der „das Talent im einsamen Winkel nach Brod seufzen läst", von „traurigsten Polizei- und Kameral-Anstalten", „Verfal der Gewerbe" und „drükender Armut". 48 S. 99. Vgl. dazu die Kritik an Ludwig XIV. u. XV. S. 83. 49 S. 138. - Offenbar wurde vermutet, der Aufsatz über Freiheit stamme „von einer fremden Feder" (S. 102), weil er von dem satirischen Stil der übrigen Beiträge in den W. A. abweiche. Dagegen rechtfertigt Pilger „das gezwungne Steife einer drokenen Abhandlung" a. a. O., das er habe beibehalten müssen. 45
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Europa überströmt. Wahre Aufklärung kann nie ein Übel zur Folge haben, denn sie selbst ist gut; Vernunft und Einsicht sind ihre Bestandteile 50 ." V . J u r i s t i s c h e s Allerlei W i e w e i t F r i e d r i c h Pilger - der i m W e t z l a r e r K i r c h e n b u c h 1 7 8 4 - 8 8 als A d v o k a t , 1 7 8 9 d a g e g e n als c a n d . iur. b e z e i c h n e t w i r d - w i r k l i c h sein r e c h t s w i s s e n s c h a f t l i c h e s S t u d i u m b e t r i e b e n , o b er es a b g e s c h l o s s e n o d e r o b er sich seinen vielfältigen a n d e r e n Interessen s c h o n damals z u g e w a n d t h a t , ist n i c h t b e k a n n t . Vielleicht w a r es -
u n s e r J u b i l a r m ö g e dies
v e r z e i h e n ! - das r ö m i s c h e R e c h t , das ihn a b g e s c h r e c k t hat, d e n n es heißt d a r ü b e r e i n m a l bei i h m : „Justinian und alle die Väter welche seit Justinians Zeit den Römischen Sauerteig der Geseze kauten, wieder kauten, mit Frikkasen, Sausen, bald zum Ragout, bald zum Kompot, bald als Pastete anrichteten, immer dasselbe sagten, und die liebe Justiz weit teurer machten, als das erbauliche Gotteswort, hatten wenigstens keine Empfindung fürs Wol der Menschheit51." I m m e r h i n zitiert er gelegentlich L a u t e r b a c h s C o m p e n d i u m J u r i s
-
damals ein b e r ü h m t e s L e h r b u c h , u n d s c h o n in n e u n A u f l a g e n e r s c h i e nen 5 2 - , k e n n t R e c h t s b e g r i f f e w i e den Panisbrief 5 3 u n d w e i ß o f f e n b a r i m soziologischen
Umfeld
des
Reichskammergerichts,
aber
auch
über
E x a m i n a u n d P r o m o t i o n , A d v o k a t e n u n d R i c h t e r gut B e s c h e i d . E i n i g e Stellen aus Pilgers W o c h e n s c h r i f t m ö g e n dies belegen 5 4 : (Uber das Examen eines von der Mätresse des Vorsitzenden begünstigten Kandidaten) „Der älteste Regierungsrath fragte ihn: Was ist ein Kontrakt? Kand. Wenn man nicht vom Sessel aufstehn kann, wie meine Großmutter. Reg.Rath: Wie vielerlei Arten der Testamente giebt es? Kand. Zwei, das Alte und Neue. Reg.Rath: Was ist im deutschen Rechte ein Schwerdmagen? Kand. Ein sehr gutes Essen, von gehaktem Schweinefleisch gemacht. - Der zweite Regierungsrath nahm nun die Fragen auf, und fragte aus dem Kirchenrechte: Was ist ein Bischof? Kand. Ein sehr gutes Getränke von Pomeranzen und rotem Weine. Und so gings mit den Fragen, und abendteuerlichen Antworten fort; Und nun sage mir einer ob es keine gute Sache war daß man ihm durch die Finger sah, und ihm dies einträgliche Amt gab." „Herr Doktor Vierling zum Beispiel, ist seiner Würde in utroque iure wegen auserordentlich angesehn, er verdients auch wirklich, denn sie kostet ihn den herrlichen Doktor Schmaus mit gerechnet, 500 Rthlr.; die Fragen zum Examen wurden ihm vier Wochen vorher gütigst mitgeteilt, damit er, weil er im Antworten zu hizig war, und leicht im Flus der Rede eine ganze Abhandlung über die vorgelegte Frage hergesagt S. 97; vgl. zur Aufklärung auch noch S. 67 und 515. S. 524. 52 S. 301. " S.426, 470; vgl. HRG (Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte), III. Band, Spalte 1431. 54 S. 399, S. 267, S. 504, S. 220. - Es sei hier auch auf die zahlreichen witzigen WortErklärungen Pilgers S. 57 ff verwiesen, unter denen zwei (Gerechtigkeit, Advokaten) in der Festschrift Scupin S. 194 Anm. 19 wiedergegeben sind. 50 51
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hätte, seine Antworten kürzer fassen konnte. - Auch lies er sich die Dissertation, weil solche eine Kleinigkeit war, die er auszuarbeiten nicht der Mühe wert hielt, von einem Professor verfertigen, und verteidigte seine Säze auf dem Katheder mit auserordentlichem Mut; - Freilich stand ein Mann hinter ihm der seine Partei stark hielt, und ihm vieles einblies, das er denn wie ein Schulknabe nachlallte. - Doch er ist Doktor, ist's, und bleibts, seine Würde hat ihn Geld gekostet; und dank's dem Herodes, der für Geld und Titeln nicht einen Bükling macht. Es ist ja ohnedies der Brauch für dem Reichen feine Komplimente zu machen: die mir aber oft so vorkommen, als wenn man für einem mit Geldsäken beladenen Esel sich beuge." (Uber einen Hofgerichtsanwalt, dessen) „liebes Weibgen unten auf der Hausthüre die Herrn Liebhaber unterhielt, wenn er oben am Fenster Deduktionen brütete, und alle Epitomes, Observationes, Dezisiones, Konsultationes, Kommentaria, Selekta Juris, Sintagmata, Sisteme, Inaugural-Programmen, Dissertationen, Archive, Enziklopädien, Répertoria, Promtuaria nachschlug, exzerpirte, plünderte, und hie und da durch Flikwörter das gestolne zusammenreihete, und in Gedanken die Bogenzal und den prächtigen Verdienst berechnete, und das Deservitum schon zu heilsamem Gebrauch anwendete." (Ein Traum aus der alten Welt, nämlich aus Vergils Aeneis) „Der erste, der von Alekto vorgeführet wurde, war ein Justitiar. Er hatte bei seinem Leben die Gunst seines Fürsten genossen, Faro, Lomber und Tarok gespielt, und sich um weiter nichts bekümmert; alle Prozesse lies er unentschieden, lies die Parteien Jahre lang laufen, und alle Promotorialgesuche halfen nichts, weil er den Fürsten auf seiner Seite hatte. Seine Studien hatten ihm sein Lebtage auch keine nachdenkliche Stunde verursacht, ohngeachtet sein Kopf sehr dik war; mit den Bauern verstand er zu sprechen, wie keiner vor ihm, und das in der ächten Gerichtssprache; und die Litanei von Flegel, Lümmel, Rekel flos ihm wie Wasser von den Lippen, der Sporteinkasse stand er wie ein wahrer Vater für, der Tag seines Todes war ein Tag des Jubels bei allen Bauern."
Dieses letzte Zitat erweist zugleich auch eine bemerkenswerte Sympathie Friedrich Pilgers für die Landbevölkerung, wie sie noch in einem anderen Beitrag mit dem Titel „Der Bauer" zum Ausdruck kommt: „Möchten es doch die Grosen der Erde beherzigen, daß der Unterthan nicht für sie, sondern sie dem Unterthan wegen sind, und daß die Dienste des Geringsten den grösten Einflus aufs Wohl des Staats haben; glüklich ist der Fürst, der seinen Ruhm nicht der Posaune windiger Novellenschreiber, sondern dem Herzen seiner Unterthanen verdankt. Ihm grünen Lorbeern im Heiligthum der Menschheit, nicht aufgeblüht im Schwerdergeklire des Schlachtfelds, sondern gepflanzt von seinen Kindern werden sie ihm zur unverwelklichen Krone 5 5 ."
Wir können leider hier nur einen Teil der „amoenitates juris" bieten, die Pilger seinen Lesern vorsetzt 56 und beendigen diesen Abschnitt mit einem letzten Zitat aus dem Epilog zum 1. Vierteljahr: S. 333, 341, 345. Andere behandeln - nach Jonathan Swift - „Risibilitäten" (S. 199ff), z . B . die Narrheiten der Gelehrten, die Titelsucht, „Phantasien" (S. 257 ff), „Exküsen" (S. 180 ff) u. dergl., wobei auch große Männer nicht verschont werden: „Peter der Grose zog gerne Zähne aus, Friedrich der Einzige hielt seinen Windspielen Leichenbegängnisse; und blieben bei alledem Muster ihrer Zeit. Ein offenes Zeugnis für menschliche Schwäche, dessen Vernunft nie vom Anhängsel der Narrheit befreit ist", S. 207. 55
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„Wenn ich denn nur einem Biedermanne auf einige Minuten die Runzeln von der Stirne vertreiben kann, denn glaub ich so viel gethan zu haben, als man von einem Schriftsteller fordert 57 ."
Unter den juristischen Beiträgen in Friedrich Pilgers Wetzlarischen Annalen ist wohl der herausragendste derjenige über den Kindermord, „interessant für den Moralisten, wichtig für den Rechtslehrer, merkwürdig für den Arzt, nachdenklich für den Philosophen, und betrachtungswert für ieden Weltbürger" 58 . Es ist bekannt, daß darüber unter dem Einfluß der Aufklärung sehr viel nachgedacht worden ist; man hat die Kindestötung geradezu als das „Schlüsseldelikt aller strafrechtsreformerischen Bestrebungen des 18.Jahrhunderts" bezeichnet 5 '. Pilgers Aufsatz ist 35 Seiten lang; zu der geplanten Fortsetzung über „Die Mittel den Kindermord zu verhüten" ist es nicht mehr gekommen. In diesem Aufsatz offenbart sich mehr als in jedem anderen die wertvolle Persönlichkeit des Verfassers; da er selber 1789 Vater eines unehelichen Sohnes geworden war60, so mögen eigene Erlebnisse und Empfindungen in diesen Seiten Eingang gefunden haben. Die erschütternde Schilderung der Lage des „armen Mädgens" als außereheliche Mutter, die Strenge unvernünftiger Eltern, die Rolle des „gewissenlosen" Richters, bei dem „das innere Bewustsein, das Gefül der Schande und unmenschlicher Handlungen" reden muß - „denn immer ist doch ein Richter weiter nichts als Diener des Gesezes, und mus dessen Vorschriften noch eher befolgen wie ein andrer, wenn er nicht sein Amt verächtlich, und sich zum Abscheu machen will"61 - all dies findet sich hier ausgesprochen auf eine auch heutigen kriminologischen Erkenntnissen entsprechende Weise. Hierfür ein Beispiel: „Liegt der Keim zu unmoralischen Handlungen in dem Menschen, oder ist er auser ihm? Sind phisische Ursachen da, die den Menschen zu Verbrechen prädestiniren, oder nicht? - Legte der weise Schöpfer diese Triebe in die Natur des Menschen, oder sind es Modifikationen der Erziehung, des Umgangs, der verschiednen Situationen, in welchen er sich unter Schiksalen, Leiden, und im Verhältnisse gegen andern Menschen befand,
S.208. » S. 211, 241, 353, 369, 385, 401, 406. - Vgl. hierüber Wilhelm Wächtershäuser, Das Verbrechen des Kindesmordes im Zeitalter der Aufklärung. Eine rechtsgeschichtliche Untersuchung der dogmatischen, prozessualen und rechtssoziologischen Aspekte. Berlin 1973 und dazu den Artikel desselben Verf. im H R G Bd. II, Spalte 736 ff. 59 So Gustav Radbruch und Heinrich Gwinner, Geschichte des Verbrechens, 1951. Vgl. dazu jetzt auch noch Helen Bosshard, Pestalozzis Staats- und Rechtsverständnis und seine Stellung in der Aufklärung, Berner jur. Diss. 1983, erschienen in der Rechtshistorischen Reihe des Verlags Peter Lang, Frankfurt. 60 Vgl. Festschrift Scupin S. 185. 61 S. 389. 57 5
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die ihn nötigen, zur Rettung seiner selbst, oder seiner Ehre den Weg der Verzweiflung zu wälen62?"
Pilger warnt davor, daß der Richter „ein privilegirter Mörder" 6 3 wird; die Todesstrafe für ein solches „armes, getäuschtes Mädgen" erscheint ihm „zu hart, und dem wahrscheinlichen Schaden nicht angemessen" 64 , denn Strafe soll „Besrung der Missethäterin zum Grunde haben". Sie bringt öfters „Abscheu gegen den Richter, und Mitleid für die Verurtheilte hervor, als daß sie zum Beispiele dient". Auch die medizinische Seite, die Feststellung einer möglichen Totgeburt, wird von dem zukünftigen Veterinärmediziner eingehend erörtert. E r schließt seine Betrachtung mit folgenden Sätzen ab65: „Wenn aber die Todesstrafe das Alles nicht wirkt, was man von ihr erwartet, was wird denn wol eine fünf- oder sechsiährige Inhaftirung bei Wasser und Brod, ohne weitern Prozeß fruchten? - Gewis weder Besrung, noch Beispiel; - Aber wol so viel, daß man dem Staate Kosten aufhalst, und daß sich der Richter den Vorwurf muß gefallen lassen; - daß man ihn entweder für unwissend, ohnmächtig, oder trag hält, und ihm unter die Augen sagt - du verdienst nicht Richter zu sein; - denn du verkennst deine Würde, schändest das Richteramt, und spielst mit der Justitz, wie das Kind mit der Puppe; Geh in dein Kämmerlein armes Weib, die du dich Justiz nennst, und bete, wenn du glaubst vielbedeutend zu sein, zum lieben Gott im Verborgenen, daß er dir Vernunft verleihe öffentlich."
Der letzte von uns zu betrachtende Gegenstand juristischen Charakters in den Wetzlarischen Annalen, dem Pilger breiten Raum gewährt, zeigt wiederum das enge Verhältnis auf, das ihn offenbar mit Berlin, mit Preußen, aber auch mit der Toleranzgesetzgebung Kaiser Joseph II. verbindet 66 . Und zwar handelt es sich dabei um die bekannten Vorgänge im Anschluß an das Wöllner'sche Religionsedikt vom 9. Juli 1788, um das ihm folgende Zensuredikt vom 19. Dezember desselben Jahres, um die „Merkwürdige Erklärung des Königlichen Preusischen Departements der auswärtigen Affären" vom 18. Februar 1791 über die Wahrung der Glaubensfreiheit, die Pilger in vollem Wortlaut wiedergibt 67 , S.214. S.217. 64 S. 402, 403, 404. 65 S. 405. 66 Vgl. hierzu den Vortrag von Werner Ogris, „Joseph II.: Staats- und Rechtsreformen" anläßlich des 1980 im Stifte Melk veranstalteten Symposions „Was blieb von Joseph II.?", enthalten in dem von Peter F. Barton herausgegebenen Sammelband „Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen", Wien 1981. Ferner ist hinzuweisen auf das anläßlich der 200. Wiederkehr des Toleranzedikts Joseph II. in Möns 1981 veranstaltete internationale Kolloquium, dessen Vorträge in dem Band „La tolerance civile", herausgegeben von Roland Crahay, 1982 in Brüssel erschienen sind. 67 S. 561. 62
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um das Buch von Hofrat Professor Rönnberg in Rostock „Über Symbolische Bücher in Bezug auf's Staatsrecht" und um die geplante Widerlegung desselben durch den am Joachimstaler Gymnasium angestellten Professor Villaume, die von Wöllner hintertrieben wurde68. Alle diese Vorgänge sind bekannt, zumal die Schwierigkeiten, in welche die noch aus der Ära der friderizianischen Justizreform stammenden Beamten, vor allem Carmer und Svarez durch die unter Friedrich Wilhelm II. von Wöllner herbeigeführte „Wende" geraten sind und wie sie mit denselben wenigstens teilweise fertig zu werden wußten69. Pilger scheint die Berliner Szene genau zu kennen, die „berlinische Freiheit", die Lessing einmal in einem Brief an seinen Freund Nicolai als „die Freiheit, gegen die Religion soviel Sottisen zu Markte zu bringen, als man will" bezeichnet hat70; er bekennt sich aber auch hier wieder als Protestant, der den Aberglauben verwirft71, zur Religionsfreiheit mit einem Zitat von Gottfried August Bürger (1747-1794): „Der Geist muß denken; ohne Denken gleicht der Mensch dem Ochs und Eselein im Stalle72." In diesem Zusammenhang zollt Friedrich Pilger dann auch wiederum der Aufklärung und einem Monarchen wie Joseph II. großes Lob, wenn er schreibt 73 : „Wahre Aufklärung kann nie Gährungen im Staate hervorbringen; und die aufgeklärten Staaten sind grade in der iezigen Krisis der Empörungen die ruhigsten, und wo Rebellionen ausbrachen geschah es nur in solchen Ländern die wenig Aufklärung hatten. - Die Niederlande haben ihre ganze Gährung, ihr Unglük, den Bürgerkrieg, den Mönchen zu verdanken, - nur der Bigotterie; Kaiser Joseph, gepriesen sei die Asche dieses grosen aufgeklärten Mannes! rottete die Mönche aus."
Offenbar hatte er selber es auch mit der Zensur zu tun bekommen, zumindest scharfe Kritik erfahren, weil er sich gegen den Aberglauben gewendet und die Existenz des Teufels bestritten hatte. Daher sein natürlich ironisch gemeinter - „Feierlicher Widerruf" der mit dem Horaz-Zitat beginnt: Aequam memento rebus in arduis servare men68 Vgl. dazu außer der genannten Erklärung den Beitrag „Uber Protestantismus" S. 702-713, der von D. Joh. Georg Rosenmüller stammt. " Näheres hierzu findet sich vor allem in Adolf Stölzels Werk über Carl Gottlieb Svarez, Berlin 1885 S. 253 ff, 263, 267. 70 Stölzel S. 255. - Daß „die Grenzen des Wolstandes" in den „freien Satiren" von einigen weit überschritten worden seien, räumt auch Pilger ein und nennt dazu Nicolai, Cranz (vgl. über dessen „Charlataneries autrichiennes" Stölzel a . a . O . S.265), Wezel, Müller (S. 187), bekennt sich aber doch immer wieder zur Religionsfreiheit: „Lessings Fragmente eines Ungenannten über die Auferstehung wurden nicht unterdrükt, ohngeachtet der selige Göz sich Mühe gab, sie zu vernichten (S. 552). Über Friedrich Nicolai vgl. auch Horst Möller, Aufklärung in Preußen, Berlin 1974. 71 S. 513, 529. 72 S. 513. 73 S. 551; vgl. auch den „Nachtrag" über Joseph II. S. 555.
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tem74. Unter den „verbotenen Büchern" zählt Pilger dann „Voltärs sämtliche Werke in Franzband, ein Lutherisches Gesangbuch, Thomasius von der Zauberei, Puffendorf de officio hominis et civis, Arnds wahres Christentum" und sonstige Werke auf, „die mit ihrem Gifte der Kezerei den lekern Gaumen der Herrn Patres nicht verderben solten" 75 . Es ist deutlich, wogegen er hier zielt, und kommt ganz zuletzt noch einmal zum Ausdruck in dem Schlußwort: Es lebe Aufklärung und Warheit!
Die Urteile, welche von der Nachwelt über Pilger gefällt wurden, sind großenteils ebenso kritisch wie diejenigen, die er bei seinen Lebzeiten von manchen Kollegen erfuhr; als Aventurier, als Charlatan wurde er bezeichnet, wie wir dies im Beitrag über das „Juden-Bändgen" beschrieben haben. Auch zufolge dieses Aufsatzes fand Friedrich Pilger noch immer eine recht unterschiedliche Würdigung; Leserstimmen bezeichneten ihn als „vollkommen verluderten Charakter", während andere ihn eine „wundervolle Gestalt" genannt haben. Vielleicht wird sich dasselbe nach dieser zweiten „Pilgerfahrt" wiederholen; vielleicht wird aber doch auch der Eindruck geweckt werden, daß es sich hier um einen jungen Deutschen aus einer Zeit, dem „siècle des lumières", und aus einer Stadt, die gerade dem Rechtshistoriker viel bedeuten, handle, dem Gerechtigkeit und Anerkennung widerfahren zu lassen, sich lohnte, ja eine Pflicht war.
" S. 545. S. 573. - Ein Aufsatz über die „Wezlarischen Annalen" von Dr. Kurt Hinze mit dem Titel „Ein Streiter für Aufklärung und Wahrheit" findet sich in der Sondernummer „200 Jahre Zeitung in Wetzlar", die im Juli 1967 von der Wetzlarer Neuen Zeitung veröffentlicht wurde. Doch war es dem Verfasser, dessen Urteil in allen Punkten dem unseren entspricht, damals nicht gelungen, den Autor Friedrich Pilger zu ermitteln. 7
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Theorie und Praxis der „Menschenrechte" an der Rechtsfakultät Straßburg im 18. Jahrhundert M A R C E L THOMANN
Im 18. Jahrhundert verteilt sich das juristische Leben des Elsaß auf zwei Städte. Der oberste Gerichtshof, der Conseil Souverain d'Alsace, hat aus Colmar (Oberelsaß) die Hauptstadt des judiziären Betriebs gemacht. In Straßburg residiert zwar ein „Intendant" als höchste administrative Behörde, aber es ist die berühmte Rechtsfakultät, welche der Stadt das eigentümliche juristische Gepräge verleiht1. Kann der Colmarer Gerichtshof eventuell mit anderen Gerichten oder „Parlements" Frankreichs verglichen werden, so ist die Rechtsfakultät der Universität völlig verschieden von französischen Institutionen ihrer Art und dies wohl dank der „unglaublichen natürlichen Vorteile", so der Historiker A. L. Schlözer, „welche diese Universität vor Göttingen und vielleicht allen deutschen Universitäten hat 2 ". Hier werden jene Spezialisten des Internationalen Rechts ausgebildet, die der französische König in seinem diplomatischen Dienst einsetzen wird. „Diese Universität ist eine Schule für alle Franzosen, die sich den politischen Geschäften und dem Studium des Völkerrechts widmen", meldet um 1778 der königliche Prätor in Straßburg3. Die Rechtsfakultät am Kreuzungspunkt der großen Völkerstraßen ist aber auch eine internationale Schule4. Die Professoren stammen zwar ohne Ausnahme aus dem Elsaß - die königliche Politik hat daraus eine Auflage gemacht - , aber nur ein Drittel der Studenten ist regionaler und französischer Herkunft; ein zweites Drittel kommt aus deutschen Ländern, und das restliche Drittel ist im sonstigen Europa beheimatet: 1 Eine französische und deutsche Bibliographie über die Universität und die Rechtsfakultät Straßburg sowie über die damit zusammenhängenden kulturellen und sozialpolitischen Fragen habe ich am Schluß meines Kapitels „Lumières et Aufklärung à Strasbourg" zusammengestellt in: G. Livet/F. Rapp, Histoire de Strasbourg, tome III, Strasbourg, Istra, 1981, S. 426-447 (Bibliographie S. 4 5 1 ^ 5 4 ) . 2 Ferdinand Frensdorf, Von und über Schlözer, 1909, S. 46 (Brief an Michaelis aus dem Jahre 1773). 3 Straßburger Stadtarchiv, AA 2355. 4 Siehe die sorgfältig dokumentierte Arbeit von Jürgen Voss, Universität Geschichtswissenschaft und Diplomatie im Zeitalter der Aufklärung: J . D . Schöpflin, München, 1979, besonders S. 31-50.
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Marcel Thomann
Schweiz, Dänemark, Schweden, Länder des Baltikums, Russen, Engländer und Holländer 5 . Zudem besteht ein Viertel der Studentenschaft aus Adeligen, die der Fakultät den Stempel der aristokratischsten Europas aufdrücken6. Erstaunlich hoch in dieser allgemein deutschsprechenden Region ist der Prozentsatz der Studierenden mit französischer Muttersprache, der zwischen 1756 und 1790 durchschnittlich 5 0 % beträgt. Wieso man sich im 18. Jahrhundert aus ganz Europa in Straßburg einfindet, um Jura zu studieren, ist deshalb eine berechtigte Frage. Unter den zahlreichen Ursachen seien nur die vornehmlichsten angeführt. Zuerst, daß um 1750 Straßburg eine „große Stadt" ist; die bedeutendste jedenfalls zwischen Paris und Wien. Um 1780 zählt man 50000 zivile Einwohner, zu denen die militärische Garnison hinzuzurechnen ist. Damit übersteigt die Bevölkerungszahl diejenige der süddeutschen und schweizerischen Städte: Basel (15000), Stuttgart (13 000), Mannheim (24 000), Frankfurt (34000), Nürnberg (40000), Augsburg (36 000) oder München (25 000). Daß hier religiöse Toleranz effektiv in Übung ist und daß die protestantische Mehrheit in Frieden mit zahlreichen zugewanderten und vom französischen König geförderten Katholiken lebt, ist eine weitere Tatsache, die damals nicht überall selbstverständlich war. In dieser noch zum deutschen Kulturkreis gerechneten Stadt wird die deutsche Sprache zwar in Wort und Schrift durchaus gängig praktiziert. Daß aber auch die französische Sprache gepflegt wird, ist ein Pluspunkt. Aus Paris eilt man herbei, um Deutsch zu lernen, und aus deutschen Landen kommt man in der Absicht, sich im Französischen zu vervollkommnen. Endlich hat sich herumgesprochen, daß der französische König der Stadt Straßburg auf vielen Gebieten eine intellektuelle Freiheit zugesteht, die sonst weder in Frankreich und meist auch nicht in den deutschen Territorialstaaten anzutreffen ist. Sie drückt sich in der für die königliche Verwaltung im Elsaß geltenden Maxime aus „...ne pas toucher aux choses d'Alsace". Daraus ergibt sich, daß aus zwei vorrangigen Gründen Straßburg im 18. Jahrhundert eine europäische Hauptstadt aufgeklärten Denkens wurde, und dies im weitesten Sinne des Wortes, der sowohl der „Sturm und Drang" Bewegung, als auch dem politischen Aufstand von 1789 gerecht werden sollte.
5 Daniel Schneider, L'Université de Strasbourg au XVIII* siècle. Les Facultés de Droit et de Médecine, Mémoire D E S d'Histoire, 1965, Dact. (Straßburger Stadtarchiv) S. 100, 117; siehe auch Paul Wentzcke, Die alte Universität Straßburg, in: Elsaß-Lothringisches Jahrbuch, 17, 1938, S. 108. 6 Schneider, o.e., S.71.
Theorie und Praxis der „Menschenrechte" an der Rechtsfakultät Straßburg
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1. Durch den Inhalt der Lehre seiner Hochschulen, die in den „Menschenrechten" gipfelt. 2. Durch konkrete Verwirklichungen von „aufgeklärten" Doktrinen, die dem Ideal der Menschenrechte entsprechen, und dies lange vor der französischen Revolution.
Diese zwei Aspekte wären kurz zu würdigen. I. „Aufgeklärte" Lehrinhalte Daß die traditionell an Rechtsfakultäten offerierten Vorlesungen die Bedürfnisse der „modernen" Schichten kaum befriedigten, war auch in Straßburg spürbar. Hatten mancherorts „Akademien" die Lücke geschlossen, so waren hier Vorschläge und Ansätze dieser Art stets durch einflußreiche Universitätskreise vereitelt worden. Ein in enger personeller Verbindung mit der Universität stehendes „Historisch-Politisches Institut", auch „Diplomatenschule" oder „Europäische Staatsschule" genannt, wurde dann zwischen 1750 und 1789 einem Bestreben gerecht, das sowohl von einflußreichen französischen als auch allgemein europäischen Kreisen ausging7. Unter Leitung des Historikers Johann Daniel Schöpflin (1694—1771) und seines Schülers Christoph Wilhelm Koch (1737-1813) wird in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts an dieser Privatschule alles angeboten, was der zukünftige Staatsmann braucht, u. a. Öffentliches Recht der Staaten und Völkerrecht, Geschichte der internationalen Verträge, Statistik, Mathematik oder Festungsbaukunst. Und ganz selbstverständlich fügte sich diesen Spezialitäten Naturrecht und Lehnrecht usw. als konventionelles Angebot der Rechtsfakultät an. Speziell für die Schule ausgearbeitete Lehrbücher wie auch wissenschaftliche Dissertationen legen Zeugnis von den Leistungen des Instituts ab. Noch überzeugender aber ist die eindrucksvolle Liste der z . T . hier ausgebildeten Staatsmänner, unter denen die beiden Grafen Cobenzl, Metternich oder Montgelas für das deutschsprachige Europa zu nennen wären, aber auch bedeutende französische Diplomaten und Minister wie Bourgoing, Narbonne, Segur, Grouchy, d'Argenson, Custine und vielleicht auch Napoléon Bonaparte. Daß diese Männer auf eine ganz gewisse Art Geschichte gemacht haben, möge hier besonders hervorgehoben werden. Es ist nämlich bemerkenswert, daß die meisten dieser Persönlichkeiten berühmt oder bekannt wurden, weil sie „aufklärerisches" Gedankengut in der politischen Wirklichkeit auf- und weiterleben ließen. Schon als um 1780 die Affäre der „Illuminaten" einsetzte, war aus diesem Grunde die „Europäische Staatsschule" an gewissen Höfen Europas verdächtig8. Die beginnende französische Revolution Erschöpfend über diese Frage: J. Voss (s. Fn.4). Andeutungen in Briefen an Koch. Auch sonstige, leider meist sehr vorsichtige oder unvollständige Bemerkungen in Dokumenten und Memoiren der Zeit lassen erkennen, daß 7 8
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konnte nur bestätigen, daß die in Straßburg angebotene Lehre ganz der naturrechtlich-rationalen Ideologie der politischen Aufklärung entsprach9. Den geradezu klassischen rational-aufgeklärten Doktrinen begegnet man auch in den Programmen und den Lehrbüchern der Universität, sowohl an der philosophischen Fakutät, die als zweijähriges Propädeutikum für die Studenten aller Fachrichtungen fungierte, als auch an der eigentlichen juristischen Fakultät. Denn welche Autoren werden hier vorgetragen? Grotius, Pufendorf, Leibniz, Locke, Malebranche oder Heineccius, alles Namen die sonst an keiner französischen Lehranstalt auftauchen. Zwar stehen diese Autoren auch anderswo - zum Teil - auf dem Lehrplan der evangelischen Universitäten Europas, aber in Straßburg ist das Zusammenspiel der Kräfte und Strömungen so, daß die naturrechtlich-rationalen Doktrinen meist unter einem eigentümlich originellen Vorzeichen präsentiert werden. Die Lehren der Naturrechtler und des Kritizismus bestimmen jedenfalls ein juristisch-politisches Klima, das für die zwei Jahrhunderte vor dem Zusammenbruch des Ancien Régime bezeichnend ist. Es kann im Rahmen dieses kurzen Uberblicks nicht auf Details des höchst interessanten Problems eingegangen werden. Unter den Tatsachen, auf die wir uns beschränken, sei nur auf zwei für Straßburg besonders kennzeichnende Autoren hingewiesen: Grotius (1583-1645) und J. C. Heineccius (1681-1741). Grotius fand in Straßburg schon sehr früh begeisterten Anklang10. Daß der als „geistiger Vater der Aufklärung" gepriesene elsässische Theologe Philipp Jakob Spener sich auf Grotius berief, interessiert hier weniger als der außerordentliche Einfluß, den der holländische Naturrechtslehrer auf die elsässischen Juristen ausübte. Die Rechtsfakultät war 1660 schon in zwei feindliche Strömungen aufgespalten, deren Händel in Europa widerhallten. Ein Teil der Professoren mit Johann Heinrich
Straßburg die Verbindung der „Illuminaten" zu Frankreich wahrnehmen sollte. Es ist dies ein noch offenes, eventuell aufschlußreiches Forschungsproblem, in dem der Persönlichkeit von Frédéric de Dietrich eine Hauptrolle zukommt. ' Zur Geschichte des juristischen Rationalismus am Ende des 18. Jh. (in deutscher Sprache) Marcel Thomann, Die Bedeutung der Rechtsphilosophie Christian Wollfs in der juristischen und politischen Praxis des 18. Jahrhunderts, in: Humanismus und Naturrecht in Berlin-Brandenburg-Preußen, Berlin, 1979, S. 121-133 - sowie Marcel Thomann, Ideologische Aspekte der praktischen Philosophie Wolfis, in: W. Schneiders (Herausgeber), Christian Wolff - Interpretation zu seiner Philosophie und deren Wirkung, Hamburg, 1983, S. 193-202 (mit weiteren Literaturangaben). 10 Uber den Einfluß von Hugo Grotius auf das rationalistische Rechtsdenken im 18. Jh. s. Marcel Thomann, Les traductions françaises de Grotius, in: Actualité de Grotius, Sondernummer der Zeitschrift XVII* SIECLE, N * 141, 1983, p. 4 7 1 ^ 8 5 .
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Boeder (1611-1692), der sich dem höchst modernen Naturrecht angeschlossen hatte, wurde von den um Johann Rebhan (1604-1689) gruppierten Verteidigern des römischen Rechts als „Grotianer" verschrien". Mehrere Grotius-Kommentare (Boeder 1663 und zwei andere von dem berühmten Johann Schilter) zeugen von dem Einbruch „modernen" Rechtsdenkens, eine Entwicklung, die vor der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht abreißt. Der hohe Stellenwert der Lehrbücher des J. G. Heineccius an der Straßburger Fakultät ist ein weiteres Kuriosum der juristischen Ideengeschichte. Die Rolle, die Heineccius in der Rechtsgeschichte und der Rechtsdogmatik auf europäischer Ebene zukommt, ist eine bislang offenstehende bibliographische Lücke12. Zu untersuchen wäre jedenfalls, inwieweit sein „axiomatisches" Naturrechtsdenken - mit demjenigen seines Haller Kollegen Christian Wolff eng verwandt - ihren Niederschlag in positivrechtliche Pandektenlehrbücher gefunden hat. Daß er die Synsthese versucht hat, lassen jedenfalls schon kurze Stichproben erkennen. Es sei hier festgestellt, daß Straßburg eine Hochburg seiner Verbreitung gewesen ist. Zwischen 1724 und 1788 sind seine Werke in mindestens 8 Straßburger Auflagen vertreten, und die gedruckten Vorlesungsverzeichnisse der zwanzig letzten Jahre des Ancien Régime beweisen, daß er die Vorlage für das Studium der Pandekten und der römischen Rechtsgeschichte ist. Die hiesigen Herausgeber kommentieren ihn, und 1751 fügt Johann Martin Silberrad sogar die erste in der europäischen Literatur bekannte Geschichte des französischen Privatrechts bei. Nach 1789 und bis um 1840 ist Heineccius immer noch der Autor, auf den man sich auch in gedruckten Lehrbüchern schon im Titel „in primis" beruft, selbst wenn es darum geht, den „Code Civil" zu erläutern. Rund fünftausend gedruckte Dissertationen sind ein weiterer Beleg für die Entwicklung des Rechtsdenkens in Straßburg. Um so mehr als man weiß, daß in der Praxis eher die Professoren als die Doktoranden für den wissenschaftlichen Inhalt der Arbeiten verantwortlich waren. Aus der Fülle der praxisbetonten Themen sind jene rechtstheoretischen Beiträge hervorzuheben, welche von der „Notio Juris", dem „Begriff des Gewohnheitsrechts" oder dem „Prinzip der angeborenen Rechte" handeln. Auffallend viele Schriften, besonders diejenigen der späteren Revolutionsführer interessieren sich für das „Recht des Besitzes", die „Begründung des Eigentums" oder „Die Grenzen der Macht eines 11 Für J . H . Böcler s. Marcel Thomann, „Böcler" in: Nouveau Dictionnaire De Biographie Alsacienne, 3. Lieferung, Strasbourg, 1983. 12 In Christian Wolff et son temps, Thèse d'Etat Droit, 2 vol., dact., Strasbourg, 1963, t. II, p. 370-371 habe ich die Frage angeschnitten.
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Fürsten". Positivrechtliche wie rechtsphilosophische Dissertationen berufen sich selbstverständlich in erster Linie auf die römisch-rechtlichen Autoren, aber je näher man der Jahrhundertwende kommt, häufen sich neben Hobbes, Grotius, Pufendorf und Heineccius die Zitate aus Locke, Leibniz (sehr oft), Vattel oder Montesquieu". Das Schulbeispiel - im strengen Sinne des Wortes - für die rechtsphilosophische Ausrichtung der Fakultät in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Lizenziaten-Dissertation des jungen Wolfgang Goethe aus dem Jahr 1771. Eine Doktordissertation, welche er vorgelegt hatte, hatte das Recht des politischen Oberherrn behandelt, die religiöse Konfession der Untertanen zu bestimmen. Aus erklärt politischen Gründen mußte der Dekan der Straßburger Fakultät das zu brisante Werk ablehnen, und aus Trotz begnügte sich der junge Frankfurter mit sogenannten „Positiones Juris", die nur zur Führung des Lizenziatentitels berechtigten. Doch selbst diese zur mündlichen Diskussion gestellten 56 „Thesen" enthalten genügend Sprengstoff. Zum Beispiel: „Uber die Begründung des Naturrechts" (1.). „Die des Lesens oder des Rechtes Unkundigen können nicht Richter sein" (2.) oder auch: „Soll die ,Kindesmörderin' mit dem Tode bestraft werden?" (55.) - „Das Gemeinwohl ist das oberste Gesetz" (46.) - „Die Gesetze müssen kodifiziert werden" (49.) - „Die Gesetzesauslegung des Oberen darf nicht mit den Gesetzestexten vermischt werden" (57.) - „Sklaverei ist Naturrecht" (56.)14. Daß die damit provozierten Gedankengänge freiheitlichen Prinzipien und Forderungen entsprangen, erhellt sich auch aus den erhaltenen Vorlesungsverzeichnissen. Grotius, Pufendorf und Heineccius stehen bis zur Auflösung der Fakultät des Ancien Régime auf dem Programm, und es bedurfte jedenfalls kaum einer Umstellung, um 1792 die klassische Naturrechtsvorlesung unter dem neuen Titel „Jura et Officia hominis et civis" anzubieten. Leider hat kein Straßburger das gedruckte Werk hinterlassen, welches die Wissenschaftler erwarteten und das die Entwicklung der Theorien in aller Breite wiedergäbe. Die Häupter der deutschen Aufklärung haben ihnen die merkwürdige „Agraphie" - so nannten sie es - vorgeworfen, und J.L.Blessig (1747-1816) rechtfertigt sich eines Tages gegenüber Moses Mendelssohn: Wir begnügen uns nach vorsichtiger Auswahl, den Transitverkehr der Ideen zu fördern. Zuviel haben auf dem weiten Meer der Spekulation Schiffbruch erlitten, und uns geht es vorrangig darum, Den Katalog des umfangreichen Bestandes hoffe ich demnächst vorlegen zu können. Eine eingehende Studie über das Rechtsdenken des jungen Goethe und über seine „Thesen" steht leider noch aus. Siehe Gertrud Schubart-Fikentscher, Goethes Straßburger Thesen, 1949. - Das Problem der Kindesmörderin, das der „Sturm und Drang" literarisch verwertete und das Goethe im „Faust" wiederaufnimmt, ist auch ausdrücklich in der Satzung der „Philantropen" von 1776 erwähnt - siehe weiter unten, Fn. 25. 13
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das Einschleusen verdächtiger Schmuggelware zu verhindern. Was der spätere Verantwortliche der Evangelischen im Elsaß damit meinte, sollte die Zukunft bald erweisen15. Die Vorlesungen über Leibniz, Locke oder Malebranche, die ab 1782 derselbe Johann Lorenz Blessig abhält, sind jedenfalls für die geistige Haltung der Universität äußerst bezeichnend. Blessig „liest" nicht, sondern referiert frei über Fragen der Wahrheitsfindung, welche in den gedruckt vorliegenden Werken nicht oder kaum erörtert waren. Untersucht man seine Überlegungen näher, wird deutlich, daß er gerade das Problem behandelt, an dem sich die revolutionären Geister scheiden. Daß „Wahrheit" (d. h. rational-logische Erkenntnisse) und unveräußerliche Menschenrechte das individuelle und soziale Leben zu bestimmen haben, darüber ist man sich längst einig. Ob aber daraus ein Rechtsgefüge abgeleitet werden könne, welches Anspruch auf Göttliche, aus der Natur geschöpfte Wahrheit habe: dies war heftig umstritten. Die „liberalen", materialistischen oder auch nur „skeptischen" Anhänger von Locke, und unter ihnen stehen Voltaire, Helvetius und d'Holbach an vorderster Stelle, prallen in dieser Frage auf die spiritualistischen Leibnizianer, deren Rationalismus die Synthese mit dem Christentum vollzogen hatte. Zwar war man bereit, die doktrinalen Gegensätze vorläufig zu Gunsten jener gemeinsamen politischen Stellungnahme zurückzustellen, die sich in der „Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen" von 1789 konkretisiert - und es wäre hier auszuführen, daß die berühmte Erklärung gerade deswegen zu einem Monument nominalistischer Ambiguität wurde16. Die grundsätzlichen und abgrundtiefen Unterschiede zwischen den zwei rationalistischen Strömungen aber werden der breiten Öffentlichkeit erst um 1792 enthüllt, als sozusagen alle „aufgeklärten" Universitätslehrer, und Blessig unter ihnen, eher den Tod, das Exil oder das Gefängnis hinnahmen, statt sich zu Lehren zu bekennen, die sie für unvereinbar mit dem christlichen Glauben hielten. Die rationalistische Lehre von den Menschenrechten wurzelte an der Universität Straßburg ausschließlich in einem aufgeklärten Christentum. Im Gefolge von Leibniz wurde demonstriert wie die Vernunft das Recht der Menschen in den ewigen und göttlichen Gesetzen der Natur zu erkennen vermag, und daß damit zugleich auch die ewige Wahrheit der christlichen Offenbarung rational erwiesen sei17. War schon für Chri15 Näheres in: Marcel Thomann, „Blessig" in: Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne, 4. Lieferung, Strasbourg, 1984. 16 Näheres in „Ideologische A s p e k t e . . . " o. c. und in Marcel Thomann, Voltaire et Christian Wolff, in: Voltaire und Deutschland, Stuttgart, 1979, S. 123-126. 17 „Die Moral des Christentums ist nur eine leuchtende und vollkommenere Weiterführung des Gesetzes der Natur", Statuts de la Société des Philantropes, Strasbourg, 1777, S.41.
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stian Wolff (1679-1754) Christus der „beste Naturrechtslehrer", so ist für die Straßburger Juristen am Ende des 18. Jahrhunderts Christus „le Grand Patriote". Unter ihnen ist jedenfalls kein einziger Anhänger Voltaires auszumachen. Im Gegenteil: in der zweiten Hälfte des 18.Jahrhunderts agieren die bekanntesten dieser Persönlichkeiten im Schöße der Freimaurerei gegen die „frivolen" materialistischen Strömungen und provozieren absichtlich die Abspaltung ihrer Logen von der Pariser Zentrale. „Au XVIIIe siècle l'Alsace fait un gigantesque pied de nez à Voltaire", verkündete kürzlich der Historiker Pierre Chaunu. Die elsässischen Juristen, welche eine christlich-rationale Ausarbeitung der Lehre von den Rechten des Menschen intellektuell vollzogen und praktisch verwirklichten, bestätigen dieses Urteil. II. Die Praxis Denn auch für die praktischen Verwirklichungen im Umfeld der Menschenrechtsdoktrin eröffnet die politisch-soziale Struktur der Straßburger Juristenfakultät Einsichten. Bei der Studentenschaft ist die protestantische Konfession nicht so ausgeprägt, wie man es vermuten könnte. Sind auch viele Immatrikulierte evangelisch, so sind doch die meisten der französischsprechenden etwa die Hälfte der Jurastudenten - katholisch. Zudem muß berücksichtigt werden, daß die katholischen Theologiestudenten und die Schüler des bischöflichen Seminars bis 1776 Kirchenrecht bei den evangelischen Professoren der Rechtsfakultät hören. Was schließlich nur eines von vielen Straßburger Paradoxen wäre: ein anderes - ebenso erwähnenswert - ist dasjenige, daß etwa dreißig Mitglieder des hochadeligen katholischen Münsterkapitels bei der streng lutherischen städtischen Universität eingetragen sind. Die Lage bei den Führungskräften ist völlig verschieden. Die Lutheraner sind in überwältigender Mehrheit vertreten. Die Professoren sind alle protestantisch, schon wegen der institutionellen Bindungen mit dem Magistrat, und die Animatoren der intellektuellen Zirkel gehören meist ebenfalls dieser Konfession an. Entweder verbinden sie das Amt des Hochschullehrers mit dem des Pfarreipredigers, wie etwa J . L. Blessig, oder sie leiten evangelische Freimaurerlogen, oder sie vertreten protestantische Bank- und Handelsinteressen. Als Beispiel sei nur die kleine Gruppe gleichaltriger aufgeklärter Juristen zitiert, die zwischen 1770 und 1789 das intellektuelle Leben größtenteils bestimmten, und bei denen auch der junge Goethe verkehrte: Franck, die beiden Brüder Bernhard und Johann de Türckheim, Frédéric de Dietrich, Peter Ochs, Johann Georg Schlosser. Alle sind ausgebildete Juristen; alle sind entweder selbst Inhaber der bekanntesten
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Bankhäuser in Straßburg, Basel, Frankfurt, Nürnberg, Lyon und Marseille - oder sie sind mit deren Besitzer im ersten Grad verwandt oder verschwägert; alle bekleiden hohe Chargen der Freimaurerei. Diesen für die wirtschaftliche Entwicklung des Elsaß repräsentativen Namen muß derjenige des Verlegers und Druckers Friedrich Rudolf Saltzmann beigefügt werden. Denn die Karriere Saltzmanns ist exemplarisch: Doktor der Rechte im Jahre 1773 und Studienfreund von Goethe - wie auch de Türckheim und Franck - wurde ihm sogleich ein Lehrauftrag an der Universität zuteil. Da der Magistrat ihm allzu „moderne" Thesen vorwarf, mußte er einer Universitätslaufbahn entsagen und eröffnet eine „Akademische Buchhandlung". In Wirklichkeit beschäftigen ihn in der Hauptsache Journalismus und Buchhandel en gros. Mit zahlreichen Berühmtheiten Europas pflegt er einen regen Briefwechsel, und seine Titel („Kanzler der V.Provinz" und „Großprior Austrasiens") lassen erkennen, daß er hohe Grade in den Freimaurerorden bekleidet - in Straßburg ist er in mindestens sechs Logen eingetragen. An der Seite der Gebrüder de Türckheim war seine Rolle in der Affäre, die zum Bruch mit der Großloge von Paris führte, entscheidend18. Diese soziologisch einheitliche Elite - auch J . L. Blessig gehört dazu sowie die Lehrer und Schüler des Schöpflinschen Instituts sind maßgeblich an der praktischen Realisierung der Menschenrechtsidee interessiert - hic et nunc. Aber auch im Ausland. Zum Beispiel sei Johann Christoph Bartenstein (1690-1767) erwähnt, lupenreines Produkt der Straßburger Professorenfamilien: sein Stammbaum weist in der nächsten Verwandtschaft mindestens ein Dutzend Hochschullehrer aus. Das militante Eintreten seines Onkels J . H. Boeder für Grotius wurde oben erwähnt. Bartenstein selbst hatte bereits 1709 in Straßburg eine Schrift über die Dekadenz des Rechts veröffentlicht und hat mit Leibniz bis zu dessen Tode korrespondiert. Man kennt im übrigen seine brillante Laufbahn am Wiener Hof: Leiter der Außenpolitik Maria Theresias und zuständig für die - höchst aufgeklärte - Erziehung Joseph II. Der „Straßburger" Beitrag in dem philosophischen, juristischen und politischen Gedankengut Josephs II. ist schwerlich zu übersehen1'. Daß der Wille zur Konkretisierung der Doktrin eine weitgespannte europäische Ausstrahlungskraft haben konnte, geht aus den beruflichen Interessen der Protagonisten sowie aus den Zielen ihrer „idealen" Vereinigungen hervor. Die offiziellen Strukturen waren jedenfalls für die Verwirklichung solcher Ideale noch nicht reif. Jedoch konnten Mikrokosmen, die mittels priva-
Siehe „Lumières et Aufklärung à Strasbourg" (Fn. 1). " Näheres: Marcel Thomann, „Bartenstein", in: Nouveau Dictionnaire de Biographie Alsacienne, 2. Lieferung, Strasbourg, 1983. 18
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ter Vereine verwaltet wurden, das Reformbedürfnis wenigstens teilweise befriedigen. Im engen Rahmen die staatliche Gesellschaft der Zukunft zu präfigurieren, ist sowohl Zweck als auch Gegenstand einer „Société des Philantropes", die in Straßburg um 1770 errichtet wird: zu der Zeit also, da Goethe sich hier für neue Ideale begeistert. Es nimmt kaum Wunder, daß einige uns bekannte Personen den Kern der Gründungsmitglieder bilden: die beiden Türckheim, Fr. de Dietrich, J.L. Blessig, Fr.R. Saltzmann. Noch muß man sich reserviert geben, ja nur im geheimen wirken. Aber schon verkündet die Satzung von 1776, daß die Gesellschaft dazu . . . „bestimmt sei sich in allen ,polizierten' Ländern zu verbreiten, wo die Saat des Gemeinwohls aufgehen wird"20 und in demselben Dokument wird Straßburg zur „Metropole und Zentrum der Philantropie"21 erklärt, also zur Hauptstadt all derer, die um Studium und Anwendung der Menschenrechte bemüht sind. Der Anspruch wird auf zweierlei Art begründet: 1. wurde von hier aus die philantropische Idee verbreitet, denn alle anderen philantropischen Vereine Europas sind aus der Straßburger Keimzelle hervorgegangen; 2. liegt die Stadt im Kommunikation Herzen Europas und diese Lage ist „vorteilhaft für die zwischen den Vereinen in Frankreich, in der Schweiz, in Deutschland, in den nordischen Ländern"21. Die aufgezählten und zu verwirklichenden Projekte betreffen Gebiete der Erziehung, der Landwirtschaft und der Industrie. Auf andere, eindeutigere politische Ziele geht die Satzung mit weniger Präzision ein. Zum Beispiel das Vorhaben der Judenemanzipierung. Einer der 53 Mitglieder, deren Namen auf einer Liste des Jahres 1776 verzeichnet sind, ist Wilhelm von Dohm (1751-1820), Professor in Halle, mit welchem J . L. Blessig (Direktor und Almosenier des Vereins) in Verbindung steht - genauso wie er auch Korrespondent von Moses Mendelssohn ist23. Kurz darauf schreibt die Gesellschaft auf internationaler Ebene einen Wettbewerb aus, den sie mit einem Preis von 300 Pfund dotiert, welcher 1779 dem später berühmten Abbé Gregoire zugesprochen wird. Titel der eingereichten Arbeit „Mémoire sur les moyens de
20 Statuts Généraux de la Société des Philantropes rédigés dans les Comices de 1776, Seite 7 - J. L. Blessig war vermutlich der Redaktor der Satzung. 21 Ibid. 22 Ibid. - Zur Geschichte der Straßburger Philantropen siehe Jürgen Voss, Die Straßburger Société des Philantropes und ihre Mitglieder im Jahre 1777, in: Revue d'Alsace, N * 108, Strasbourg, 1983, p. 65-80. 25 Von Dohm veröffentlicht 1781 eine Schrift „Über die bürgerliche Verbesserung der Juden" (2. Auflage 1783).
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recréer le peuple juif"1*. In den folgenden Jahren kann dann verfolgt werden, wie es den überall gut eingeführten Intellektuellen gelingt, ihren Plan durch Politiker vertreten zu lassen: 1787 verlangt der Vorsitzende der elsässischen Provinzialversammlung, daß „ . . . den Juden mehr zivile Rechte zugestanden werden..." Und wenn in dem Beschwerdeheft („Cahier de Doléances"), das die Juden des Elsaß am 25. Mai 1789 unterbreiten, folgendes zu lesen ist: „.. .wir bitten den König, diejenigen der jüdischen Nation in den Genuß der Menschenrechte zu bringen"25, so kann dies wohl als Referenz auf die in Straßburg gängige Doktrin verstanden werden. Die vierzigjährige Korrespondenz, die Blessig mit von Dohm und Grégoire geführt hat, die Publikationen von Dohm, Grégoire oder Mirabeau über das Thema, aber auch Interventionen der Straßburger Delegierten in den Pariser gesetzgebenden Versammlungen, belegen die Fortschritte des Projekts der elsässischen Menschenrechtler bis zu seinem Abschluß: eine Gesetzgebung, welche die Diskriminierung der Juden sowohl in Frankreich als auch in Deutschland aufhebt. Die in den Statuten der Straßburger Philantropen festgelegte Aufgabe war „das Studium des Menschen, seiner Bedürfnisse, seiner Rechte, seiner Pflichten; seine moralische, politische und physische Vollkommenheit"26. Es gibt m. E. kaum eine prägnantere Formel, um die Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zu erläutern: - Die universelle menschliche Natur wird untersucht; - daraus werden ihre Bedürfnisse wissenschaftlich festgestellt; - woraus dann zuerst die Grundrechte abgeleitet werden, jenes juristische unverzichtbare Minimum, dem aber auch Pflichten entsprechen. In einer weiteren Deduktion werden dann alle Rechte abgeleitet, die dem Menschen im Hinblick auf seine Vollkommenheit zustehen. - Denn: so wichtig die Rechte des Menschen auch sein mögen, sie sind immer nur das Mittel zum eigentlichen Zweck: Ziel ist „die moralische, politische und physische Vollkommenheit des Men-
24 Der Titel an sich ist die wörtliche Übersetzung des Titels der Dohmschen Schrift, die zwei Jahre später erscheinen wird. Uber Grégoire und seine erstaunliche religiöse und politische Karriere siehe Jean Tild, L'Abbé Grégoire, Paris, 1946. 25 Robert Weyl/Jean Daltroff, Le Cahier de Doléances des Juifs d'Alsace, in: Revue d'Alsace, 109, 1983, p. 6 5 - 8 0 - Die Judenemanzipation ist nur ein Aspekt der philantropischen Bestrebungen. S. 58 der Satzung wird auf das Problem des Unterhaltes und der Erziehung der unehelichen Kinder eingegangen, denn . . . "allzu oft werden unglückliche Mütter zur Verzweiflung und zum Mord getrieben". S. Fn. 14. 26 Statuts... 1776, art. VI, p. 13.
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sehen, . . . denn nur darin besteht das größte Glück, das er im Zivilstand genießen kann"27. Liest man die Präambel der „Déclaration des Droits de l'Homme et du Citoyen" von 1789 nach, so kann festgestellt werden, daß die Straßburger Satzung von 1776 schon dasselbe aussagte. Vielleicht nur präziser und schlüssiger.
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Statuts...
1776, p. 4.
Zum Reskript Hadrians über Operae bei fideikommissarischer Freilassung1 WOLFGANG WALDSTEIN
Es wurde offenbar sehr früh üblich, daß sich in Rom der Eigentümer eines Sklaven als Gegenleistung für die Freilassung eine bestimmte Anzahl von Tagewerken (operae) versprechen ließ. Sowohl die Anzahl dieser Tagewerke als auch die Art der Dienste konnten sehr verschieden sein. Ulpian D.38, 2, 1 pr. berichtet unter Bezugnahme auf Servius (Konsul 51 v. Chr.), daß die Patrone von den Freigelassenen früher härteste Dinge zu fordern pflegten, freilich als Gegengabe für die so große Wohltat, die den Freigelassenen zugewendet wird, wenn sie aus der Sklaverei zum römischen Bürgerrecht geführt werden2. Der Prätor Rutilius hat nach dem Zeugnis Ulpians als erster (um 118 v.Chr.) ein Edikt erlassen, wonach er dem Patron nur mehr eine actio operarum geben werde; dazu noch eine umstrittene societatis actio, die aber später weggefallen ist3. Operae bleiben sodann während der ganzen weiteren Entwicklung des römischen Rechts zulässig und werden von den klassischen Juristen eingehend behandelt. Der Digestentitel 38,1 enthält immerhin 51 zum Teil umfangreiche Fragmente von fast allen führenden Juristen der klassischen Zeit, die sich teilweise sehr eingehend mit den Fragen der operae befaßt haben. Operae wurden in der Regel aus Anlaß der Freilassung dem Patron eidlich oder durch Stipulation versprochen. Wenn jemand seinen Sklaven testamentarisch in der Weise freiließ, daß er seinem Erben (oder 1 Im folgenden ist der nur geringfügig überarbeitete Text eines Vortrages wiedergegeben, den ich im Februar 1983 im Rahmen des von den Herren Hans Hattenhauer und Werner Schubert an der Universität Kiel veranstalteten „Rechtshistorischen Wochenendes" halten durfte. 2 Der Text lautet: namque ut Servius scribit, antea soliti fuerunt (patroni) a libertis durissimas res exigere, scilicet ad remunerandum tarn grande beneficium, quod in libertos confertur, cum ex Servitute ad civitatem Romanam perducuntur. 3 Labeo bei Ulp. D.38, 1, 36 (11. ad leg. Iul. et Pap.): Labeo ait libertatis causa societatem inter libertum et patronum factam ipso iure nihil valere palam esse. Dazu auch Ulp. D.44, 5, 1, 7. Auf die umstrittenen Fragen kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Das wird in einer in Vorbereitung befindlichen größeren Untersuchung zu den operae libertorum geschehen, auf die bei und in der nächsten Anm. hingewiesen ist.
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Vermächtnisnehmer) die Freilassung des Sklaven auftrug (dies ist die fideikommissarische Freilassung im Gegensatz zur direkten, bei welcher der Erblasser die Freilassung unmittelbar im Testament verfügte), so wurde der Erbe, der den Sklaven auf Bitten des Erblassers freiließ, dadurch auch Patron des Freigelassenen wie jeder andere Freilasser. Daher wäre es an sich denkbar, daß sich auch dieser Freilasser aus Anlaß der Freilassung operas versprechen lassen konnte. Hier greift jedoch jenes Reskript Hadrians ein, das den Gegenstand der folgenden Überlegungen bildet. Auf die mit dem Reskript Hadrians über operae bei fideikommissarischer Freilassung zusammenhängenden Fragen bin ich im Rahmen einer größeren Untersuchung zu den operae libertorum gestoßen, die voraussichtlich 1985 in den Forschungen zur antiken Sklaverei4 erscheinen wird. Ich widme diese Überlegungen als Zwischenergebnis jener größeren Arbeit mit besonderer Freude dem verehrten Jubilar, der selbst einen wichtigen und weiterführenden Beitrag „Zur Rechtspolitik Kaiser Hadrians" geleistet hat5. Er bestätigt in einem entscheidenden Punkt auch das Ergebnis, zu dem ich selbst gelangt bin. I. Der Inhalt des Reskripts Wie Ulpian berichtet, hat zuerst Hadrian ein Reskript erlassen, das die Durchsetzbarkeit von operae gegen denjenigen aufhob, der auf Grund eines Fideikommisses freigelassen worden war. Aus der Fassung des Textes geht weiter hervor, daß auch spätere Kaiser diese Regel eingeschärft haben. Der Text lautet: Ulp. D . 3 8 , 1, 7, 4 (28. ad Sab.): Rescriptum est a divo Hadriano et deinceps cessare operarum persecutionem adversus eum, qui ex causa fideicommissi ad libertatem perductus est'.
Es hat mich überrascht, daß bisher, soweit ich sehe, weder dieser Text noch die weiteren, die sich mit den operae bei fideikommissarischen Freilassungen befassen7, im Schrifttum über die operae libertorum
4 Im Auftrag der Kommission für Geschichte des Altertums der Akad. d. Wiss. und Lit. Mainz, hrsg. von Joseph Vogt und Heinz Bellen. 5 In: FS f ü r Erwin Seidl zum 70. Geburtstag, hrsg. von H. Hübner, E. Klingmüller, A. Wacke (1975) 61 ff. 6 Im vorausgehenden Text D.38, 1, 7, 3 ist davon die Rede, daß solche operae zu leisten sind, quae modo probe iure licito imponuntur, im nachfolgenden § 5 wird gesagt, daß die operarum actio et in impuberem, cum adoleverit, gegeben wird, manchmal sogar et quamdiu impubes est. 7 So Ulp. D. 30, 95; Pap. D. 38, 1, 42; Valens D. 38, 1, 47 und andere, auf die teilweise unten noch einzugehen sein wird.
Reskript Hadrians über Operae bei fideikommissarischer Freilassung
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beachtet wurden. Weder Lambert8 noch Pescanf erwähnen ihn. Aber auch bei Fahre kam dieser Text wie die gesamte Frage in seinem so gründlichen und umfangreichen Werk über den libertus10 schon wegen der zeitlichen Begrenzung „bis zum Ende der Republik" nicht in den Blick. Käser geht in einem speziellen Zusammenhang auf einen der bemerkenswerten Texte zu diesem Problem ein, nämlich bei der Untersuchung des Verhältnisses des ius publicum zum ius privatum11. Dieser Text stammt von Papinian und ist in D.38, 1, 42 überliefert. Es geht dort darum, daß jemand seinem Erben aufgetragen hatte, einen Sklaven Cerdo so freizulassen, daß er dem Erben opéras zu leisten verspricht. Papinian sagt nun, daß der Freigelassene in einem solchen Falle nicht gezwungen wird, das Versprechen (in Stipulationsform) abzugeben. Und selbst, wenn er es bereits abgegeben haben sollte, wird gegen ihn die Klage nicht gegeben, denn - und jetzt kommt die bemerkenswerte Begründung, durch die Käser in seinem Zusammenhang auf den Text gestoßen ist - : derjenige konnte das ius publicum nicht aufheben, der eine fideikommissarische Freilassung verfügt hat. Papinian zitiert zunächst den Text der Verfügung, der lautet: Pap. D. 38, 1, 42 (9. resp.): 'Cerdonem servum meum manumitti volo ita, ut opéras heredi promittat'.
Die aus seinen libri responsorum überlieferte Rechtsmeinung dazu lautet: non cogitur manumissus promittere : sed etsi promiserit, in eum actio non dabitur : nam iuri publico derogare non potuit, qui fideicommissariam libertatem dedit12.
Käser meint nun in einer Anmerkung zu dieser Stelle: „Das Verbot, den fideikommissarisch Freigelassenen mit Diensten zu belegen, ist wohl kaiserrechtliche Erweiterung des Edikts nach Ulp. D.44, 5, 1, 4 ff13." Bei dem dort behandelten Edikt geht es darum, daß diejenigen Leistungen, die onerandae libertatis causa auferlegt wurden, nicht durchgesetzt werden können. Was onerandae libertatis causa bedeutet, wird, wie Ulpian sagt, sehr treffend (bellissime) als das definiert, was so auferlegt wird, daß es eingeklagt werden soll, wenn der Freigelassene sich irgendeiner Verfehlung gegen den Patron schuldig macht. Dadurch bleibt der Freigelassene immer der Furcht vor einer Klage ausgesetzt und wird so 8 J. Lambert, Les operae liberti, 1934. ' P. Pescani, Le „operae libertorum", 1967. 10 G. Fahre, Libertus: Recherches sur les rapports patron - affranchi à la fin de la République Romaine, 1981. 11 FS Franz Wieacker zum 70. Geburtstag (1978) 110. 12 Vgl. auch Marcian. D. 38, 2, 29 pr. " FS Wieacker 110 Anm. 121.
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veranlaßt, alles zu erdulden, was ihm der Patron aufträgt. Es handelt sich also um eine Art unechter Konventionalstrafe, die den Freigelassenen dem Patron gegenüber gefügig machen soll. Ulpian spricht davon, daß sich der Freigelassene dadurch poenali quadam stipulatione unterwirft. Das alles hat mit operae nichts zu tun. Sie waren ja an sich zulässig und ein von vorneherein fixiertes Maß an Leistungen. Das eingangs zitierte Reskript Hadrians bietet keinen Anhaltspunkt dafür, daß es an dieses Edikt anknüpft. Auf das Reskript selbst geht Käser auch gar nicht ein. Während das Edikt operas nicht betrifft, sondern eine an sich unzulässige Belastung der Freiheit, erklärt Hadrians Reskript die an sich zulässigen operae bei fideikommissarischer Freilassung für nicht wirksam. Hinter dieser Regelung muß daher wohl eine andere ratio legis stehen als hinter dem von Käser angeführten Edikt gegen die Auflagen onerandae libertatis causa. Dazu kommt, daß der Text, in dem das Reskript zitiert wird, nicht aus dem Ediktskommentar Ulpians stammt, sondern aus seinen libri ad Sabinum. Dieser Umstand spricht ebenfalls dafür, daß es sich nicht um eine Erweiterung des Edikts, sondern um eine von vorneherein dem ins civile zuzuordnende Einrichtung handelt. II. Hinweise auf ein früheres Bestehen der Rechtslage Bevor ich der ratio legis für das Reskript Hadrians nachzugehen versuche, ist noch zu bemerken, daß bereits Aburnius Valens in seinen libri fideicommissorum, die zur Zeit Hadrians entstanden sind, auf jene Rechtslage hinweist, die nach Ulpians Zeugnis durch das Reskript Hadrians geschaffen wurde. Valens war Schulhaupt der Sabinianer zwischen Iavolenus und Julian14. Valens zitiert aber auffallenderweise nicht das Reskript, welches Ulpian anführt, sondern einen anderen Juristen derselben Zeit, nämlich Campanus15. Dieser Campanus hat nach dem Zeugnis des Valens geschrieben, daß der Prätor die Auferlegung von operae bei dem nicht dulden dürfe, der aufgrund eines Fideikommisses freigelassen wurde. Dann folgt aber ein Zusatz, der bei späteren Texten fehlt: Wenn aber der Freigelassene, obwohl er weiß, daß er es ablehnen kann, dennoch die Verpflichtung zur Leistung von operae auf sich genommen hat, dann steht der Klage nichts im Wege, denn dann wird angenommen, daß der Freigelassene die Verbindlichkeit schenkungshalber auf sich genommen habe. Aus einem in Stipulationsform abgegebenen Schenkungsversprechen - und operae wurden entweder eidlich oder 14 Pompon. D. 1, 2, 2, 53 sagt betreffend die Reihenfolge der Schulhäupter, es folgten Iavoleno Prisco Aburnius Valens et Tuscianus, item Salvius Iulianus. Zu Aburnius Valens Kunkel, Herkunft und soziale Stellung der römischen Juristen ( 2 1967) 151 f. 15 Kunkel, Herkunft (Fn. 14) 147, sagt, er „gehört . . . spätestens der trajanischhadrianischen Epoche an".
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in Stipulationsform versprochen - kann ohne Einschränkung geklagt werden16. Der Text selbst lautet: Valens D . 38, 1, 47 (6. fideic.): Campanus scribit non debere praetorem pati d o n u m munus operas imponi ei, qui ex fideicommissi causa manumittatur. sed si, cum sciret posse se id recusare, obligari se passus sit, non inhibendam operarum petitionem, quia donasse videtur.
Aus der vorliegenden Fassung des Textes läßt sich nicht entnehmen, ob sich Campanus bei dem non debere praetorem pati bereits auf das Reskript Hadrians bezieht. Auszuschließen ist es nicht. Freilich wäre dann das Fehlen eines Hinweises wie idque imperator noster Hadrianus rescripsit oder ähnlich eher auffallend. Noch auffallender wäre es dann aber, daß sich ein Jurist vom Range des Valens auf ein 'Campanus scribit' stützt, statt, wie dies üblich war und wie etwa Ulpian es auch in der bereits zitierten Stelle tut, gleich das Reskript zu zitieren. Daß gleich zwei zeitgenössische Juristen den Hinweis auf ein vom regierenden Kaiser erlassenes Reskript unterlassen hätten, das für die von ihnen behandelte Rechtsfrage entscheidend war, wäre für den Fall, daß es bereits vorlag, kaum denkbar. Aber wir wissen nicht, ob ein entsprechender Hinweis im Zuge der Textüberlieferung vielleicht weggefallen ist17. Jedenfalls läßt die überlieferte Fassung des Textes die Möglichkeit offen, daß die Rechtslage, die Hadrian in seinem Reskript möglicherweise erstmals fixierte, bereits vorher bestand. Dafür würde das allgemeine non debere praetorem pati des Campanus sprechen, vielleicht aber auch die Zulassung des schenkungsweisen Versprechens. Aber wie dem auch sei, so ist die Unwirksamkeit der Auferlegung von operae bei fideikommissarischer Freilassung jedenfalls seit hadrianischer Zeit klar bezeugt. Dabei spricht das non debere praetorem pati bei Campanus/ Valens, noch ganz abgesehen von der Frage nach der ratio legis, ebenfalls nicht dafür, daß es sich hier um eine Erweiterung des Edikts handelt. Die Formulierung läßt eher darauf schließen, daß hier dem Prätor sozusagen von außen eine Richtlinie für seine Jurisdiktion gegeben wurde, die im Edikt noch nicht vorgesehen war. Andernfalls wäre es kaum verständlich, daß Campanus nicht auf das Edikt Bezug nimmt und etwa sagt: als Belastung der Freiheit im Sinne des Edikts ist es auch anzusehen, wenn bei einer fideikommissarischen Freilassung operae
16 Pringsheim, S Z 42 (1921) 322 mit Anm. 3, hat den Text gänzlich mißverstanden, wenn er meint, das quia donasse videtur „wird . . . später angefügt sein" und dazu als Begründung anführt: „Unentgeltliche Übernahme der Verpflichtung zu Diensten ist nicht Schenkung, sondern Mandat" (!). 17 A u c h wenn die Interpolationsannahme Pringsheims (Fn. 16) abwegig ist, kann eine K ü r z u n g des Textes natürlich leicht möglich sein.
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auferlegt werden. Alles andere ergäbe sich dann von selbst. Statt dessen kommt ein non debere praetorem pati. Zu erwähnen ist noch, daß Ulpians Aussage über weitere Reskripte zu dieser Frage immerhin durch noch zwei überlieferte Reskripte bestätigt wird. Eines stammt von Caracalla und das andere von Alexander Severus18. Diese Reskripte sind bisher ebenfalls unbeachtet geblieben. Auf das von Caracalla werde ich noch kurz zurückkommen müssen. III. Zur ratio des Reskripts Hadrians Ulpian berichtet völlig unvermittelt und ohne verbindenden Zusammenhang mit dem vorausgehenden und nachfolgenden Text von der Tatsache des Reskripts und seines Inhalts, gibt aber keinerlei Hinweise auf die Beweggründe, die zur Erlassung des Edikts geführt haben. Gleichwohl stellt sich die Frage, was die ratio der Bestimmung gewesen sein mag, daß bei fideikommissarischen Freilassungen operae nicht auferlegt werden konnten, während sie bei anderen Freilassungen auferlegt werden durften. Zum Glück ist ein anderer Text von Ulpian erhalten, der wenigstens einen Aspekt dieser ratio legis ziemlich deutlich erkennen läßt (D. 38, 1, 13, 1). Er betrifft eine Konstitution Mark Aurels. Mit dieser Konstitution führte Mark Aurel eine Abhilfe für den Fall ein, daß letztwillige Freilassungen unwirksam würden, weil der Nachlaß keinen Rechtsnachfolger fand. Die Abhilfe ist eine addictio des Nachlasses libertatium conservandarum causa. Bemerkenswert ist, daß Mark Aurel in dieser Konstitution nach dem in Inst. Iust. 3, 11, 1 überlieferten Wortlaut auch für den Fall, daß der fiscus den Nachlaß einziehen möchte, einschärft, daß dadurch die Wohltat seines Reskripts nicht unwirksam gemacht werden darf. Seine Beamten sollen wissen, daß die libertatis causa den Vorrang hat vor dem commodum pecuniarium. Es sollen daher alle die Freiheit erlangen, die sie erlangt hätten, wenn der Nachlaß durch den testamentarischen Erben erworben worden wäre. Bei der Erläuterung des Hauptinhaltes der Konstitution sagt nun Ulpian zunächst, daß derjenige, dem der Nachlaß gemäß dieser Konstitution addiziert wurde, ganz allgemein operas nicht einklagen kann, und zwar weder von denen, die direkt vom Erblasser freigelassen wurden, noch von denen, welche die Freiheit auf Grund eines Fideikommisses erhalten haben. Zum letzteren Fall fügt Ulpian die für unsere Frage entscheidende Begründung hinzu, indem er sagt, daß dies so ist, obwohl diejenigen, welche die Freiheit auf Grund eines Fideikommisses erhalten haben, Freigelassene des Rechtsnachfolgers werden. Denn sie werden " C . 6, 3, 5 (a. 212) und 6, 3, 10 (a.225).
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nicht ebenso seine Freigelassenen, wie es die eigenen sind, die wir ohne den Zwang irgendeiner Notwendigkeit freigelassen haben. Der Text selbst lautet: Ulp. D . 38, 1, 13, 1 (38. ed.): Sed nec cui bona addicta sunt ex constitutione divi Marci libertatium conservandarum causa, poterit operas petere neque ab his, qui directas, ñeque ab his, qui fideicommissarias acceperunt, quamvis fideicommissarias libertates qui acceperunt, ipsius liberti efficiantur: non enim sie fiunt liberti, ut sunt proprii, quos nulla necessitate cogente manumisimus".
Der Gedanke ist ganz klar: fideikommissarisch Freigelassene werden auf Grund der Treuepflicht, somit auf Grund einer rechtlichen und sittlichen Notwendigkeit freigelassen. Hier hat der Freilasser kein Recht, aus dieser Treuepflicht für sich selbst einen Vorteil abzuzweigen. Dort, wo er nulla necessitate cogente seinen eigenen Sklaven freiläßt, darf er sich als Gegenleistung operas versprechen lassen. Hier jedoch nicht. Und wenn er es dennoch tut, wird ihm die Durchsetzung seiner Forderung auf dem Prozeßwege verweigert. Solche operas kann er nicht einklagen. Nun ist es freilich auffallend, daß es der Freilasser auch dann nicht tun darf, wenn ihm der Eigentümer des Sklaven und Erblasser selbst das Recht einräumt, es zu tun. Man sollte doch meinen, daß hier der Wille des Erblassers durchgreifen würde. Aber in D. 38, 1, 42 betont Papinian mit überraschender Emphase, daß der Erblasser, der eine fideikommissarische Freilassung gewährt, iuri publico derogare non potuit, indem er dann trotzdem operas aufzuerlegen gestattet. Papinian ist es ja auch, von dem die allgemeine Regel überliefert ist: Ius publicum privatorum pactis mutari non potest20. Es wird also der Regel, daß bei fideikommissarischer Freilassung operae nicht wirksam auferlegt werden können, solche Bedeutung beigemessen, daß Papinian hier einen der seltenen Hinweise auf das ius publicum für angebracht hält, dem durch private Verfügungen nicht derogiert werden kann. Käser hat mit Recht festgestellt, daß ius publicum hier als ius cogens, als zwingendes Recht zu verstehen ist21, das unabdingbar gilt. Dieses ius publicum schließt es alsp auch für den Erblasser aus, dem fideikommissarischen Freilasser das Recht einzuräumen, sich vom Freigelassenen wirksam operas versprechen zu lassen. " Der Text stammt aus Ulpians Kommentar zum Edikt De operis libertorum, vgl. O. Lenel, Palingenesia iuris civilis (1889, Neudr. 1960) II 684 f D . 38, 1, 13 pr. handelt von der Bestimmung der constitutio divi Marci, wonach operae demjenigen nicht wirksam auferlegt werden können, der hac lege emptus sit, ut manumittatur und dann auf Grund der Konstitution zur Freiheit gelangt ist, weil der Käufer seiner Verpflichtung zur Freilassung nicht nachkam. Auch dadurch wird unterstrichen, daß es die Verpflichtung zur Freilassung sein dürfte, welche das Recht nimmt, operas aufzuerlegen. 20 D . 2 , 14, 38, dazu Käser, FS Wieacker 110. 21 FS Wieacker 108 ff.
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Das ist ein bemerkenswerter Eingriff in den sonst so sehr begünstigten Erblasserwillen. Die bereits früher erwähnte Konstitution Caracallas C.6, 3, 5 bestätigt diesen Befund. Nachdem zunächst der Grundsatz bekräftigt wird, daß bei fideikommissarischer Freilassung auferlegte operae nicht eingeklagt werden können, fügt Caracalla hinzu, es sei denn für jene Zeit, die der Sklave vor dem durch Fideikommiß festgesetzten Zeitpunkt freigelassen wurde. Wenn also früher freigelassen wird, als durch das fideicommissum aufgetragen wurde, können für die Zeit vor dem Eintritt der Verpflichtung zur Freilassung operae gefordert werden. Damit wird auch von dieser Seite, ähnlich wie durch die Konstitution von Alexander Severus C. 6, 3, 10, unterstrichen, daß die Freiwilligkeit oder Unfreiwilligkeit der Freilassung das Kriterium für die Zulässigkeit oder Unzulässigkeit des Ausbedingens von operae ist. Das ist aber ein völlig anderer Gesichtspunkt als der des Edikts onerandae libertatis causa impositorum. Operae dürfen dann ausbedungen werden, wenn jemand freiwillig, nulla necessitate cogente freiläßt, nicht jedoch, wenn eine rechtliche und sittliche Verpflichtung zur Freilassung besteht22. Aus der Tatsache, daß daran auch derjenige nichts ändern kann, der selbst die Verpflichtung zur Freilassung begründet hat, wird jedoch deutlich, daß hier noch ein übergreifender Gedanke mitgespielt haben muß. Zunächst kann aus Texten, die andere Probleme der erbrechtlichen Behandlung von operae betreffen, vermutet werden, daß bei der Verpflichtung zu operae auch das persönliche Naheverhältnis des Freigelassenen zu seinem Patron und dessen Erben maßgeblich war. Der Erblasser sollte durch diese Bestimmung vielleicht auch daran gehindert werden, seinen Sklaven dazu zu zwingen, bei dessen Freilassung durch einen Erben eben irgendeinem Erben gegenüber die Leistung von operae versprechen zu müssen, zu dem keine persönliche Beziehung bestand. Für diese Annahme spricht ein Text von Marcianus, der zunächst den Grundsatz bekräftigt, daß bei fideikommissarischer Freilassung operae nicht auferlegt werden können. Marcian macht aber dann eine bemerkenswerte Ausnahme für den Fall, daß der fideikommissarische Freilasser der Sohn des Erblassers ist. Für diesen Fall sagt er defendendum est posse eum operas iure imponere23. Das verwandtschaftliche Naheverhältnis spielt demnach sicher eine Rolle, es erklärt jedoch nicht alles. Eine andere, allgemeinere Überlegung wird, wie ich meine, durch das MateVgl. auch zu D. 28, 5, 85 pr. unten bei und in Anm. 32. Marcian D. 38, 2, 29 p r . - l . Im § 1 sagt er im Zusammenhang: Sed si defunctus filio suo legavit servum et rogavit, ut eum manumittat, ea mente, ut plenum ius patroni habeat, defendendum est posse eum operas iure imponere. Vgl. dazu auch Paul. D. 40, 5, 33 pr., wo dem filius ohne weiteres das operas imponere zuerkannt wird. 22 23
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rial nahegelegt, das Antonio Mantello in einer eingehenden Untersuchung vorgelegt hat24. Mantello hat mit eindrucksvollen Belegen gezeigt, daß seit Seneca einerseits und Iavolenus andererseits ein grundlegender Wandel in der Haltung gegenüber den menschlichen Qualitäten des Sklaven vor sich gegangen ist. Einen augenfälligen Ausdruck für diesen Wandel sieht Mantello sicher mit Recht in der Tatsache, daß Seneca dem Sklaven die Fähigkeit zuspricht, seinem Eigentümer ein beneficium, eine Wohltat zu gewähren25. Er sieht den Grund dafür in einem neuen humanen Ethos, das er durch zahlreiche Texte belegen kann. Einer der deutlichsten ist wohl Seneca De beneficiis 3, 18, 2. Seneca sagt dort, daß derjenige, der dem Sklaven die Fähigkeit abspricht, seinem Eigentümer ein beneficium zu gewähren, ignarus est iuris humani, das heißt, er ist in Unkenntnis des menschlichen Rechtes. Und er fügt hinzu: refert enim, cuius animi sit, qui praestat, non cuius status. In diesem Zusammenhang trifft er sodann folgende bemerkenswerte Feststellung über die Tugend allgemein : Nulli praeclusa virtus est ; omnibus patet, omnes admittit, omnes invitat, et ingenuos et libertinos et servos et reges et exules; non eligit domum nec censum, nudo homine contenta est26.
Mantello hat nun diese Entwicklung sicher mit Recht in Parallele gestellt mit jener der Anerkennung der bis dahin undenkbaren Möglichkeit, daß der Eigentümer seinem Sklaven etwas wenigstens als debitum naturale schulden kann. Dies wird durch Iavolenus in D. 35, 1, 40, 3 mit einem ego puto ... naturale magis quam civile debitum spectandum esse offenbar erstmals anerkannt27. Hier können natürlich die von Mantello 24 'Beneficium' servile - 'debitum' naturale I, 1979. Dazu Waldstein, SZ 98 (1981) 479 ff. Zu Antipater von Tarsos seither differenzierter O. Behrends, Tiberius Gracchus und die Juristen seiner Zeit, in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, Symposion aus Anlaß des 70. Geburtstages von Franz Wieacker, hrsg. von K. Luig und D. Liebs (1980) 52 ff. 25 Mantello (Fn.24) 34 ff. 26 Sen. benef. 3, 18, 2; dazu Mantello 89. In benef. 3, 20, 1 f sagt Seneca dann weiter: Errat, si quis existimat servitutem in totum hominem descendere. Pars melior eius excepta est. Corpora obnoxia sunt et adscripta dominis; mens quidem sui iuris, quae adeo libera et vaga est, ut ne ab hoc quidem carcere, cui inclusa est, teneri queat, quominus impetu suo utatur et ingentia agat et in infinitum comes caelestibus exeat. (2) Corpus itaque est, quod domino fortuna tradidit; hoc emit, hoc vendit; interior illa pars mancipio dari non potest. Ab hac quidquid venit, liberum est; nec enim aut nos omnia iubere possumus aut in omnia servi parere coguntur; contra rem publicam imperata non facient, nulli sceleri manus commodabunt. 27 Dazu eingehend Mantello 183 ff. Auch wenn in dieser Hinsicht zwischen Seneca und Iavolenus Parallelen bestehen, nimmt Mantello 437 wohl mit Recht an, daß es nicht möglich ist, an eine unmittelbare Ableitung der Auffassung Javolens aus jener des Philosophen Seneca zu denken; dazu Waldstein, SZ 98, 488.
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ausführlich erörterten Einzelheiten dieser komplexen Entwicklung nicht nachgezeichnet werden. Für unsere Frage ist es aber von Bedeutung, daß der früheste Text, der von der Unwirksamkeit der operae bei fideikommissarischer Freilassung handelt, von einem Nachfolger des Iavolenus als Schulhaupt der Sabinianer, nämlich dem bereits erwähnten Aburnius Valens stammt. Auch wenn sich Valens dabei auf einen anderen Juristen, nämlich auf Campanus, bezieht, so war doch auch Campanus ein Zeitgenosse des Valens, der wohl auch Iavolenus und den Sabinianern nahestand28. Es ist nun durchaus möglich, daß gerade die fideikommissarische Freilassung eine weitere günstige Gelegenheit für den Einsatz des sich entwickelnden humanen Ethos bot. Dieter Nörr hat auf mehrere Texte hingewiesen, die in anderen Zusammenhängen gerade für Hadrian dieses humane Ethos bezeugen29. Auch Heinz Hübner unterstreicht nochmals allgemein die „aus humanitären Ideen begründeten Maßnahmen" Hadrians30. Für diese Entwicklung gibt es auch sonst in den erhaltenen Juristenfragmenten nicht wenige Hinweise. Zu diesen Hinweisen sind besonders auch die Belege für humane, humanitas und humanus oder für inhumanus zu zählen31. Von diesen Texten hat einer für unsere Frage sogar unmittelbare Bedeutung. Es geht dort um die Frage, ob ein fideikommissarisch Freigelassener, den der zur Freilassung verpflichtete Erbe sodann seinerseits testamentarisch freiläßt und zum Erben einsetzt, dadurch heres necessarius wird, was für den Freigelassenen unter Umständen verhängnisvoll sein kann. Paulus sagt nun in D . 2 8 , 5, 85 (84) pr., daß es
humanius est et magis aequitatis ratione subnixum nonfieri necessarium, denn der Sklave hätte ja schon unabhängig von der testamentarischen Freilassung Anspruch auf die Freilassung durch den inzwischen verstorbenen Erben gehabt32. Das humanius est knüpft an die Verpflichtung des Erben zur Freilassung an. Die Verpflichtung zur Freilassung ist aber 28 Zu Campanus Kunkel, Herkunft (Fn. 14) 147 ff, der dort 150 bemerkt, daß „alles, was über die Person des Campanus gesagt werden kann, über den Bereich bloßer Vermutungen nicht hinausführt". 29 BIDR 15 (1972) 15 f, mit Anm.22. 30 FS Seidl (ob. Fn. 5) 71; vgl. auch dort 73 zu dem „Bild, das die neuere Forschung vom Kaiser entwirft: ein aufgeschlossener, humanistisch orientierter Geist, der freilich bei allen Maßnahmen seinen politisch konzipierten Reformwillen im Auge behält und ihn ungehemmt von Tradition und Rücksichtnahme verfolgt". 31 Vgl. die Belege im VIR. Auf die Interpolationsannahmen, mit denen die meisten dieser Texte versehen wurden, braucht hier nicht eingegangen zu werden. Vgl. zur Rolle der humanitas allgemein auch H. Hausmaninger, „Benevolent" und „Humane" Opinions of Classical Roman Jurists, Boston University Law Review 61 (1981) 1147 ff. 32 Im weiteren Text sagt Paulus: qui enim etiam invito defuncto poterat libertatem extorquere, is Uber esse iussus non magnum videtur beneficium a defuncto consequi, immo nihil commodi sensisse, sed magis debitam sibi accepisse libertatem.
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auch gerade nach dem Zeugnis der bereits behandelten Texte 33 der Grund dafür, daß operae nicht wirksam ausbedungen werden konnten. Es dürfte daher nicht ganz abwegig sein, das hier ausdrücklich hervorgehobene humanius est auch auf den Fall der operae zu beziehen. Dafür spricht auch ein Reskript Mark Aurels. Es geht dort um eine fideikommissarische Freilassung, die ohne die Bedingung verfügt worden war, daß der Freizulassende vorher die Abrechnung über seine Verwaltung vorlegt. Der Erbe wollte aber offensichtlich die Freilassung erst nach der Rechnungslegung vornehmen. Mark Aurel erklärt nun, es sei gerechter (aequius videbatur), die Freiheit unverzüglich zu gewähren, und er fügt
hinzu: neque humanuni fuerit ob rei pecuniariae questionem libertati moram fieriu. Das alles spricht in der Tat dafür, daß dieses humane Ethos auch hinter der Unwirksamkeit der operae bei der fideikommissarischen Freilassung steht. Darin könnte auch der Grund für die Tatsache liegen, daß man es sogar dem Erblasserwillen verwehrte, den aus humanen Rücksichten entwickelten Grundsatz zu durchbrechen. So wäre es auch zu verstehen, daß Papinian diesen Grundsatz so emphatisch dem unabdingbaren ius publicum zurechnet 35 . Zu bemerken ist noch, daß die fideikommissarisch Freigelassenen, soweit wir es den Quellen entnehmen können, einen nicht unbedeutenden Teil der Gesamtzahl der Freigelassenen ausgemacht haben dürften. Der Digesten-Titel De fideicommissariis libertatibus (40,5) umfaßt immerhin 56 teilweise sehr umfangreiche Fragmente mit sehr zahlrei33 34
Ulp. D. 38, 1, 13, 1 sowie C . 6 , 3, 5 und 10. Ulp. D . 4 0 , 5, 37. Vgl. auch Mark Aurel Inst. Iust. 3, 11, 1. Zu Marcell. D . 2 8 , 4, 3
pr.: Causa praesens admitiere
videtur humaniorem
interpretationem,
...,
Hausmaninger
(ob. Fn. 31), 1147f. Vgl. auch Hadrian bei Call. D. 49, 14, 3, 6: Valde inhumanas
iste, quo retinentur
conductores
vectigalium
publicorum
mos
est
et agrorum, si tantidem locari non
possint; dazu V. Scarano Ussani, Valori e storia nella cultura giuridica fra Nerva e Adriano (1979) 216. 35 D. 38, 1, 42. In der Diskussion nach meinem Vortrag hat Okko Behrends eingewandt, der Hinweis auf das ius publicum bei Papinian zeige gerade, daß man sich hier nicht auf humanitas berufen habe. Dagegen hat Theo Mayer-Maly bei einer anderen Gelegenheit vermutet, daß die Qualifikation als ius publicum mit der Verankerung im Reskript Hadrians zusammenhängen könnte. Daß ius publicum und humanitas sich nicht ausschließen, geht auch aus Cic. rep. 2, 26 f hervor, wo von den Reformen des Königs Numa
Pompilius, die zweifellos ius publicum
begründeten, gesagt wird: quibus
humanitatem
revocavit
atque
mansuetudinem
ánimos
hominum
rebus institutis
studiis bellandi
ad
iam
immanis ac feros. Auch wenn humanitas hier in einem anderen Sinn gebraucht wird, so zeigt der Text doch, daß Maßnahmen des ius publicum der Förderung der humanitas dienen können und wohl auch sollen, daher ist es auch nicht auszuschließen, daß sie von der humanitas motiviert sein können, und noch mehr, daß sie gerade deshalb der Abänderung durch den Parteiwillen entzogen sind, weil sonst ihre humane Zielsetzung vereitelt werden könnte.
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chen und ins einzelne gehenden Falldiskussionen. Dieser Umstand erlaubt eine vorsichtige Extrapolation auf die Häufigkeit der Fälle. Der entsprechende Codex-Titel (7, 4) enthält immerhin 17 Konstitutionen, davon 13 aus der Zeit von Septimius Severus (193-211) bis zu Diokletian (284-305). Die restlichen 4 stammen aus der Regierungszeit Justinians36. IV. Zusammenfassend läßt sich sagen: Das Reskript Hadrians, mit dem die Durchsetzbarkeit von operae bei fideikommissarischen Freilassungen aufgehoben wurde, fixiert wohl erstmals eine Rechtslage, die möglicherweise oder wahrscheinlich schon vorher bestand. Diese Rechtslage brachte eine bedeutende Einschränkung des Rechts zur wirksamen Auferlegung von operae mit sich. Das Reskript bedeutet eine wesentliche Entlastung der fideikommissarisch Freigelassenen. Der Grund dafür, daß derjenige, der wegen eines Fideikommisses freiläßt, sich nicht wirksam opéras versprechen lassen kann, wird zunächst in seiner Verpflichtung zur Freilassung gesehen. Diese necessitas cogens zur Freilassung nimmt ihm das Recht, für sich selbst einen Vorteil vorzubehalten, wie ihn die operae darstellen. Diese Verpflichtung erklärt aber noch nicht die Tatsache, daß auch der Erblasser selbst, der ja diese Verpflichtung begründet, bei der Begründung dieser Verpflichtung nicht das Recht einräumen konnte, opéras auszubedingen. Nach dem Eindruck der Quellen dürfte dafür das sich besonders seit Seneca und Iavolenus im Hinblick auf die Sklaven entwickelnde humane Ethos maßgeblich gewesen sein. Gerade für Hadrian sind, wie schon bemerkt, mehrfach Entscheidungen überliefert, die auf ein solches humanes Ethos hinweisen. Nörr etwa stellt zu der Begründung der Neuregelung des Schatzfundes in Inst. Iust. 2, 1, 39 mit divus Hadrianus naturalem aequitatem secutus in Parallele ein Reskript Hadrians, in dem eine bestimmte Praxis gegenüber Landpächtern als Valde inhumanus mos bezeichnet wird37. Bei dem Reskript betreffend opéras bei fideikommissarischer Freilassung fehlen leider ausdrückliche Hinweise. Angesichts dieser Tatsache kann man nur Vermutungen anstellen. Gleichwohl sprechen nicht wenige Gründe dafür, daß Hadrian auch bei diesem Reskript von dem humanen Ethos bestimmt war, das sich auch bei anderen Entscheidungen ausdrücklich bezeugt findet. Dann dürfte man dieses Reskript als einen der humanen Lichtblicke im Zusammenhang mit der an sich inhumanen Einrichtung der Sklaverei ansehen. 36 Nach der Datierung stammen sie alle aus der Amtszeit des Quästors Tribonian (alle aus dem Jahre 530), und sind daher nach der zutreffenden Meinung von T. Honoré, Tribonian (1978) VIII, X V und 47 f, von Tribonian verfaßt. 37 D . 4 9 , 14, 3, 6 (ob. Fn.34).
Das Scheingeschäft in der spätmittelalterlichen Jurisprudenz, im Usus modernus und im Naturrecht GUNTER WESENER
Der verehrte Jubilar hat in seinem Beitrag in der Festschrift für Max Käser1 die Frage des Subjektivismus in der Entwicklung des Privatrechts einer Untersuchung unterzogen. In das Spannungsfeld von Willenstheorie, Erklärungstheorie und Vertrauensprinzip fällt auch die Lehre vom Scheingeschäft, der Simulation2, deren Entwicklung durch die mittelalterliche Jurisprudenz, den Usus modernus pandectarum und die Naturrechtslehre im folgenden aufgezeigt werden soll3. I.
Eine Theorie des Scheingeschäfts gab es im klassischen römischen Recht noch nicht4. Die römischen Juristen der klassischen Zeit haben keinen allgemeinen Grundsatz der Nichtigkeit eines Scheingeschäfts aufgestellt, sondern auch in diesem Bereich kasuistisch entschieden5. Unter Diokletian6 setzte sich die Maxime durch: plus valere quod agitur, quam quod simulate concipitur (Cod. Iust. 4, 22 Titel). In zahlreichen
1976, S. 715 ff. Vgl. etwa G.D. Kallimopoulos, Die Simulation im bürgerlichen Recht (1966) 7 ff; H. Fickel, Scheingeschäft und verdecktes Geschäft im deutschen, französischen und italienischen Recht (Jur. Diss. Freiburg i. Br. 1966); rechtshistorisch-rechtsvergleichend J.Partsch, Die Lehre vom Scheingeschäfte im röm. Rechte, SZ 42 (1921) 227 ff. 3 Auf das Erfordernis einer solchen Untersuchung hat A. Wacke, SZ 92 (1975) 327 (A. 18) hingewiesen. 4 Vgl J.Partsch, SZ 42 (1921) 227 ff, bes. 256 ff; N. Dumont-Kisliakoff, La Simulation en droit romain (Paris 1970) 11, 126; dazu Rez. Wacke, a . a . O . , 327. E. Weiß, Institutionen des röm. Privatrechts2 (1949) 36 ff (§10). 5 So G. Pugliese, La simulazione nei negozi giuridici. Studio di diritto romano (1938) 209; vgl. E.-H. Kaden, SZ 58 (1938) 314; M. Käser, Das röm. Privatrecht 2 1 (1971) 242 f. Verallgemeinernd bereits Modest. (5. reg.) D. 44, 7, 54; vgl. Käser, a . a . O . , II (1975) 89 A. 40. Vgl. Paul. D. 18, 1, 55; Ulp. D. 50, 17, 16 u. D. 18, 1, 36. - Zu Scheingeschäft und fraus legis zuletzt O. Behrends, Die fraus legis: Zum Gegensatz von Wortlaut- und Sinngeltung in der röm. Gesetzesinterpretation (Göttingen 1982) 9 ff. ' Zu Diokletian vgl. Käser, a . a . O . , II 18f; M.Amelotti, Per l'interpretazione della legislazione privatistica di Diocleziano (1960); dazu Th. Mayer-Maly, SZ 79 (1962) 475 ff. 1
2
338
Gunter Wesener
Reskripten Diokletians werden Käufe und sonstige Verträge wegen Simulation für nichtig erklärt, so etwa Cod. Iust. 4, 38, 3 (Diocl.) Si donationis causa venditionis simulatus contractus est, emptio sui deficit substantia.. 7 Cod. Iust. 2, 4, 21 (Diocl. a. 293) . . . his quae simulate geruntur pro infectis habitis.. .* Cod. Iust. 4, 22, 2 (Diocl. a. 294) Acta simulata, velut non ipse, sed eius uxor comparaverit, veritatis substantiam mutare non possunt...'
Justinian scheint die Diokletianische Tendenz fortgesetzt zu haben, Scheingeschäfte als nichtig zu behandeln (Uberschrift von Cod. Iust. 4, 22; Cod. Iust. 5, 12, 30, 2 [a. 529]; 4, 35, 23 [a. 531-532]) 10 ; dies entspricht der östlichen Willenstheorie. II. Die dogmatischen Grundlagen der Lehre vom Scheingeschäft sind wohl von der Glosse und den Kommentatoren gelegt worden". Helmut Going hat in seinem Beitrag zur Festschrift Paul Koschaker12 die Lehre vom Scheingeschäft sowie vom agere in fraudem13 bei Glossatoren und Kommentatoren, insbesondere bei Bartolus und BaldusH, untersucht. Hinsichtlich der Erscheinungsform der Simulation unterscheiden Barto7 Giann. Longo, Sulla simulazione dei negozi giuridici, Studi Riccobono III (1936) 146 f (= Longo, Ricerche romanistiche, 1966, 34 f); Pugliese, a. a. O., 133 ff; Dumont-Kisliakoff, a. a. O., 203 A. 2. ' Longo, Studi Riccobono III 148ff (= Ricerche romanist. 37f); Pugliese, a.a.O., 184f; E.Betti, Bewußte Abweichung der Parteiabsicht von der typischen Zweckbestimmung (causa) des Rechtsgeschäfts, FS Koschaker I (1939) 310 f; Dumont-Kisliakoff, a. a. O., 202 A. 4. - Zu „pro infetto" S. Di Paola, Contributi ad una teoria della invalidità e della inefficacia in diritto romano (1966) 94 f. ' Longo, Studi Riccobono III 156f (= Ricerche romanist. 44ff); Pugliese, a.a.O., 171 ff; Dumont-Kisliakoff, a. a. O., 201. - Vgl. ferner: Cod. Iust. 8, 27 (28), 10, 2 (a. 290); 5, 6, 15 (a.291) Si non verum contractum pater vester gessit, . . . ; 4, 2, 6, 1 (a.293) . . . simulatis pro infectis habitis...-, 4, 49, 8 (a.293); 5, 16, 20 (a.294) . . . pro infectis habeantur; 4, 22, 3. 4 u. 5 (a. 294); 4, 38, 7 u. 10 (a. 294). Dazu Longo, Studi Riccobono III 146ff (= Ricerche romanist. 34ff); Pugliese, a.a.O., 181 ff, 195ff, 205ff; ders., Art. Simulazione, in: Noviss. Digesto Ital. 17 (1970) 357ff, 359 A. 1; Dumont-Kisliakoff, a.a.O., 199 ff. 10 Vgl. Käser, a.a.O., II 89; Pansch, SZ 42, 240f; Dumont-Kisliakoff, a.a.O., 204f; Pugliese, Art. Simulazione, Noviss. Digesto Ital. 17, 359, vertritt allerdings den Standpunkt, daß das justinianische Recht abgeneigt war, die Nichtigkeit von Scheingeschäften in genereller Weise zu formulieren; vgl. dens., La simulazione (o. Fn.5) 219 ff. " / . Partsch, SZ 42 (1921) 227, 229, 240; vgl. aber H. Coing, FS Koschaker III (1939) 418. 12 III (1939) 402 ff. 13 Vgl. dazu I.Pf ä f f , Zur Lehre vom sog. in fraudem legis agere (Wien 1892) 20 ff. 14 Vgl. H. Lange, Die Consilien des Baldus de Ubaldis (fl400), Mainz 1974.
Das Scheingeschäft
339
lus und Baldus15 zwischen dem Fall des verdeckten Geschäfts und dem Fall, daß hinter dem Scheingeschäft nichts steht. Ferner unterscheiden sie danach, was verdeckt ist: eine bestimmte Person oder eine besondere Gestaltung des Geschäftes. Hierbei findet sich die Einteilung der Glosse in Simulation de persona in personam und a causa in causamDas simulierte Geschäft hat keine rechtliche Wirkung; es ist so zu beurteilen als wäre es nicht da, ac si facta non esset venditio (Bartolus zu D. 39, 3, 12); simulata venditio non est venditio (Baldus zu D. 18, 1, 55)17. Die exceptio simulationis kann auch gegen eine notarielle Urkunde eingewendet werden, selbst wenn diese vollstreckbar ist18. Aus dem simulierten Vertrag entsteht keine Vertragsklage: ex simulato actu non oritur actio (Baldus zu Cod. 4, 36, 1 und zu Cod. 2, 4, 21). Eine venditio simulata kann nicht Grundlage für einen Eigentumsübergang sein (Bartolus zu D. 39, 3, 12 und D. 18, 1, 55)19. Falls das simulierte Geschäft ein anderes verdeckt, so ist nach Cod. 4, 22 das verdeckte Geschäft gültig, wenn kein sonstiger Grund entgegensteht20. -Baldus formuliert diesen Grundsatz in seiner Erörterung von Cod. 2, 4, 21, wo er den Tatbestand eines Vergleiches (transactio) in Form eines simulierten Kaufes für gegeben hält: ubi est vera transactio et simulata emptio, Statur transactioni et contractus simulatus nihil operatur. Das Vorliegen eines Scheingeschäfts kann von den Parteien im Wege einer Klage oder einer Einrede geltend gemacht werden. Die Klage ist eine actio de nullitate und kann innerhalb von 30 Jahren erhoben werden (Baldus, Cons. 5, 189; 1, 322 Nu. 3)21. Bartolus und Baldus unterscheiden das Scheingeschäft deutlich vom agere in fraudem12. Beim Scheingeschäft liegt kein verus actus vor, daher ist es absolut nichtig. Beim agere in fraudem liegt hingegen zunächst ein actus verus vor; dieser ist aber iniustus. Wenn das agere in fraudem gegen ein Gesetz gerichtet ist, so ist das Geschäft nichtig; handelt es sich um die fraudulose Verletzung fremder Interessen, so kann das Geschäft vom Geschädigten rückgängig gemacht werden23.
15
Zum folgenden Coing, FS Koschaker III 405 ff. " Coing, a.a.O., 405f. 17 Vgl. Bartolus ad Cod. 7, 75, 4. Vgl. J.A. Ankum, De geschiedenis der „actio Pauliana" (1962) 163 (A.3). '» Coing, a. a. O., 406. 19 Vgl. Coing, a. a. O., 407. 20 Vgl. Coing, a. a. O., 407. 21 Vgl. Coing, a. a. O., 408. 22 Dazu Coing, a.a.O., 409 ff, 412. Vgl. I. Pfaff (Fn. 13) 22 ff. 23 So Coing, a. a. O., 412; vgl. Ankum (Fn. 17) 163 ff.
Gunter Wesener
340
D i e beiden g r o ß e n K o m m e n t a t o r e n h a b e n die t y p i s c h e n Fälle v o n simulatio
u n d fraus
z u s a m m e n g e s t e l l t u n d eine T h e o r i e d e r P r ä s u m t i o -
n e n f ü r beide E r s c h e i n u n g e n entwickelt 2 4 . D i e P r ä s u m t i o n e n gestatten, w i e Going25
h e r v o r h e b t , w e i t g e h e n d einen indirekten B e w e i s u n d w a r e n
geeignet, die fehlende freie B e w e i s w ü r d i g u n g bis z u e i n e m
gewissen
G r a d z u e r s e t z e n . D i e P r ä s u m t i o n e n k a m e n aber n u r D r i t t e n , i n s b e s o n d e r e d e m G e s c h ä d i g t e n , z u g u t e . D i e P a r t e i e n , w e l c h e an d e m G e s c h ä f t beteiligt w a r e n , k o n n t e n sich n i c h t d a r a u f berufen ( B a l d u s z u C o d . 4 , 2 2 , 3) 2 6 . D i e spätmittelalterliche u n d f r ü h n e u z e i t l i c h e L e h r e d e r K o m m e n t a t o r e n v o m Scheingeschäft fand ihren N i e d e r s c h l a g v o r allem in Schriften des Bartholomaeus
Caepolla
(Cepolla,
Cipolla,
Bartholomaeus
Veronen-
sis, geb. V e r o n a u m 1 4 2 0 , gest. P a d u a 1477) 2 7 , i m D i c t i o n a r i u m J u r i s ( e n t s t a n d e n n a c h 1 3 3 5 o d e r 1338) 2 8 des Albericus
de Rosciate
( e t w a 1 2 9 0 - 1 3 6 0 ) , im R e p e r t o r i u m Juris 3 0 des Johannes
(Rosate
Bertachinus
aus
Coing, a. a. O., 415. A . a . O . , 416. 26 Coing, a.a.O., 417 (A.77). 27 Zu Caepolla vgl. Th. Diplovatatius, Liber de claris iuris consultis II ( = Studia Gratiana X, 1968) p. 397 [N. 266]; Savigny, Geschichte des röm. Rechts im Mittelalter2 VI, 320ff; F. Calasso, Medio evo del diritto I (1954) 584; N.Horn, in: Handbuch der Quellen u. Literatur der neueren europ. Privatrechtsgeschichte I (1973) 271; A. Wolf, ebd., 575; V.Piano Mortavi, Dogmatica e interpretazione. I giuristi medievali (1976) 62, 178, 258; O. Ruffino, in: Dizion. Biogr. degli Italiani 25 (1981) 709 ff, bes. 711; P. Liver, Caepolla de servitutibus, SZ 99 (1982) 326 ff; vgl. auch Noviss. Digesto Ital. III 116. - Schriften Caepollas: Libellus de contractibus emptionum et locationum cum pacto de retrovendendo simulatis, entstanden um 1460 (Roma 1473, Albi 1480, Madij 1493), zu weiteren Editionen vgl. E.Besta, Fonti II ( = P. Del Giudice, Storia del diritto italiano 1/2, 1925) 861 A. 6. Tractatus cautelarum, tam in schola quam in foro apprime utilis (1470 sine loco; Lugduni 1474, 1475, 1481 u. öfter; Lausannae et Genevae 1742); dieser Traktat hat sehr starke Verbreitung gefunden; vgl. Liver, a.a.O., 328; Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft I 534ff; Besta, Fonti II, 862 A. 1; Calasso, a.a.O., 584; Ruffino, a.a.O., 711. - Sammelwerke: Varii tractatus D. Bartholomaei Caepollae, Lugduni 1552 (darin: De simulatione contractum); vgl. Savigny, a.a.O., VI, 321 f; Opera, Lugduni 1578. -J.Partsch, SZ 42 (1921) 227 A. 1, bezeichnet für das 15. Jh. Caepollas Traktat de simulationibus als „die maßgebliche Darstellung, welche die gesamte Rechtslehre des Mittelalters zusammenfaßt". 28 Lugduni 1539; Venetiis 1573. 29 Dazu Savigny, a. a. O., VI, 126 ff, 132; /. F. v. Schulte, Die Geschichte der Quellen u. Literatur des canonischen Rechts von Gratian bis auf die Gegenwart II (1877) 245 f, 349 n. 7; G.Kisch, Juridical Lexicography and the Reception of Roman Law, in: Seminar 2 (1944) 51 ff, 64 A. 40; L. Prosdocimi, Alberico da Rosciate e la giurisprudenza italiana nel sec. XIV, RSDI 29 (1956) 67ff; ders., in: Dizion. Biogr. degli Italiani 1 (1960) 656 f; R. C. Van Caenegem, T R G 28 (1960) 317 A.75; N.Horn (Fn.27) I 270, 272, 350, 353. 30 Entstanden nach 1471 (zwischen 1471 und 1481); ed. 1481; Venetiis 1488, 1494, 1570; Basileae 1573. 24 25
Das Scheingeschäft
341
F e r m o ( 1 4 4 8 - e t w a 1500) 3 1 u n d in den K o m m e n t a r e n u n d Konsilien des Jason
de Mayno
Petrus
Nicolaus
( 1 4 3 5 - 1 5 1 9 ) 3 2 , R e c h t s l e h r e r s z u Pavia, P a d u a u n d Pisa. Mozzius
(Maceratensis),
ein italienischer J u r i s t
des
16. Jh. 3 3 , b e h a n d e l t in s e i n e m T r a c t a t u s de c o n t r a c t i b u s 3 4 die L e h r e v o n d e r S i m u l a t i o n (art. 4 de divisionibus
contractuum,
E i n e D e f i n i t i o n der Simulation gibt Jason
n. 4 2 - 6 5 ) .
de Mayno
in seinen C o n s i -
lia 35 I I 1 7 0 n. 3 : Simulatio e n i m dicitur q u a n d o u n u m tacite agi t u r , et aliud e x p r i m i t u r : t o t o titu. C . plus vai. q u o d agi. ( C o d . 4 , 2 2 ) . h i n c dixit B a l d u s in 1 . 1 . in d. titu.
C.
plus vai.
quod
agitur ( C o d .
4,22).
quod
instrumentum
s i m u l a t u m est t a n q u a m c o r p u s sine spiritu, quia c o n s e n s u s est r e m o t u s ab actu. Alibi dicit i d e m B a l d u s in 1. ei qui C . de distrac, p i g n o . ( C o d . 8 , 2 7 , 1 0 ) . q u o d s i m u l a t i o appellatur i m a g o q u a e h a b e t superficiem veri, sed n o n m e d u l l a m : et i d e o s e c u n d u m e u m simulatio collusio appellatur. Alibi dicit B a l d u s in 1. ab A n a s t a s i o , p e r ilium t e x . C . m a n d .
(Cod.
4 , 3 5 , 2 3 ) q u o d simulatus c o n t r a c t u s dicitur c o l o r a t u s seu depictus, qui e x t r i n s e c u s a p p a r e t aliquid, sed intrinsecus n o n h a b e t m e d u l l a m . Bertachinusu
b e z e i c h n e t die Simulation u n t e r V e r w e i s u n g auf
Baldus
31 Die ältere Literatur gibt 1497 als Todesjahr an, Van Caenegem, a.a.O., 405, 410, 432 das Jahr 1506. Vgl. Diplovatatius (Fn.27) II p.403f [N.277]; Savigny, a.a.O., VI, 482; Schulte, a.a.O., II 349f; Besta, Fonti II, 900; N.Horn (Fn.27) I 351, 353; M. Caravaie, in: Dizion. Biogr. degli Italiani 9 (1967) 441 f. 32 Dazu Diplovatatius (Fn.27) II p.411f [N.288]; Savigny, a.a.O., VI, 397ff, 408; Besta, Fonti II, 872 f; W. Engelmann, Die Wiedergeburt der Rechtskultur in Italien (1938) 239 f: „Das zusammenfassende Lehrwerk dieser Zeit ist das fleißige zum Druck ausgearbeitete Vorlesungswerk von Jason (f 1519), das die beste Ubersicht über die Lehren der großen Rechtslehrer gibt und die communis opinio hervorhebt ohne etwa Neues zu bieten." Vgl. ferner H, Kreller, Rom. Recht II (1950) 19; Calasso, a. a. O., I (1954) 583; H. Lange, SZ 73 (1956) 284; R.Feenstra, T R G 28 (1960) 470; F. Piano Mortari, Art. Commentatori, in: Enciclop. del dir. 7 (1960) 799; ders., Dogmatica e interpretazione (1976) 63; M. A. Benedetto, in: Noviss. Digesto Ital. 5 (1960) 417; Ankum (Fn. 17) 165 (bezeichnet Jason als Accursius dieser Periode); H.Dilcher, in: Jur. Schulung 6 (1966) 390; G.Kisch, Gestalten und Probleme aus Humanismus u. Jurisprudenz (1969) 53; ders., Studien zur humanistischen Jurisprudenz (1972) 79; N.Horn (Fn.27) 275; W. Wiegand, Studien zur Rechtsanwendungslehre der Rezeptionszeit (1977) 113; G. Di Renzo Villata, in: Diritto comune e diritti locali nella storia dell'Europa (Milano 1980) 332 ff; vgl. A.Plachy, SDHI 47 (1981) 372 f; B. Paradisi, in: Il diritto comune e la tradizione giuridica Europea. Atti del convegno di studi in onore di G. Ermini (Perugia 1980) 227 ff. - Letzte Auflage der Kommentare des Jason 1622 (vgl. E.Holthöfer, in: Coings Handbuch der Quellen I I / l , 1977, 113). 33 Vgl. E. Holthöfer, in: Coings Handbuch der Quellen II/l, 368, 453; vgl. Tb. MayerMaly, in: Rechtsgeltung u. Konsens, hrsg. von G.Jakobs (1976) 94 f. 34 Venetiis 1584, 1585; Colon. Agripp. 1585, 1597, 1614 u. öfter. 35 Ed. Lugduni 1556. 36 Repertorium juris (Fn.30), Venetiis 1570, s.v. Simulatio.
342
Gunter Wesener
als falsitas largo modo37 bzw. als collusio,s. Simulata donatio dicitur figurata, et depicta39. Eine kurze Zusammenfassung seiner Lehre von der Simulation gibt Bartholomaeus Caepolla in seinem Tractatus cautelarum40, Cautela 308 [243]: De simulatis contractibus. Caepolla unterscheidet drei Arten der Simulation; erstens den Fall des verdeckten Geschäfts (n. 1: Una, quando unum agitur tacite inter contrahentes, et aliud exprimitur.); zweitens den Fall, daß hinter dem simulierten Geschäft nichts steht (n. 2: Secunda species est, quando aliquid simulate exprimitur, et nil in effectu agitur inter partes.)-, drittens den Fall, daß die Parteien ein Geschäft wirklich abschließen wollen, daß der Vertrag aber nur kurze Zeit gelten solle (n. 3: Tertia species est, quando partes intendunt vere aliquid agere, sed contractus modico tempore est duraturus; et propterea praesumitur simulatus.). Caepolla bringt (n. 3) folgendes Beispiel hierfür: In Kriegszeiten schenke ich jemandem, der für seine Person und seine Sachen sicheres Geleit hat, meine Bücher, damit er beim Transport von Bologna nach Ferrara beschwören könne, daß die Bücher ihm gehören. In Ferrara soll er mir dann die Bücher rückübereignen. Ein solcher Vertrag wäre ein Scheingeschäft. Als weiteres Beispiel für diese dritte Art der Simulation bringt er folgenden Fall (n. 4): In Verona galt ein Statut, daß niemand in das Doktorenkollegium eintreten könne, der nicht u. a. die Summa Azonis41 und alle Schriften (omnes lecturas) des Bartolus besitze. Jemand, der diese vorgeschriebenen Werke nicht besitzt, läßt sie sich von einem Freund für den Tag des Eintrittes in das Kollegium schenken, damit er zu Recht schwören könne, daß er sie zu Eigentum habe; danach werde er sie dem Freund restituieren. Caepolla verweist zu dieser Art von Simulation auf D. 40, 1, 4, 2. Diese drei Arten der Simulation fiunt de actu prohibito ad permissum, et sunt de jure prohibitae, ut patet ex praedictis (n. 5). Als vierte Art der Simulation führt Caepolla jene an, quae fit de contractu permisso ad contractum permissum (n. 6). Eine solche Simulation ist erlaubt: Certa talis simulatio est licita, ex quo fit de permisso ad permissum (n. 6). Jemand gewährt ein Darlehen, läßt sich aber eine Urkunde über ein Depositum ausstellen, um den Rückgabeanspruch leichter durchsetzen zu können (n. 6). Dieser Sachverhalt wäre aber 57
Baldus zu Cod. 5, 16, 15. Baldus zu Cod. 8, 27, 10; vgl .Jason (oben im Text). Vgl. Th. Mayer-Maly, im Zivilprozeß, SZ 71 (1954) 242 ff. 39 Cod. 4, 35, 23 et ibi Baldus in ver. nota; vgl. Jason (oben im Text). 40 Entstanden vor 1470; Ed. Lausannae et Genevae 1742 (s. oben Fn.27). 41 Vgl. Savigny, a.a.O., V, 11. 38
Collusio
Das Scheingeschäft
343
wohl unter den ersten Fall des verdeckten Geschäfts (n. 1) zu subsumieren, wobei das verdeckte Geschäft (Darlehen) erlaubt und somit auch wirksam ist. Eine sehr eingehende Darstellung fand die Simulation im stark verbreiteten Repertorium Juris (entstanden nach 1471)42 des Johannes Bertachinus43 sub verbo Contractus simulatus (Pars I, p. 487 ss.) und sub verbo Simulatio (Pars V, p. 71 ss.)44. Bertachinus beruft sich vor allem auf Bartolus, Baldus und Bartholomaeus Caepolla (Veronensis). Ein simulierter Vertrag ist ipso iure ungültig: Contractus simulatus habetur pro non facto. Contractus fictus non dicitur contractus. Simulatione factum pro infecto debet haberi. Wichtig ist die Abgrenzung zum fraudulosen Vertrag45: Contractus simulatus est ipso iure nullus, sicut dolosus. Sed Contractus fraudulentus valet, sed rumpitur ope exceptionis, et firmatur iuramento. Sed Contractus simulatus non firmatur iuramento. Im Gegensatz zu einem simulierten Vertrag ist ein frauduloser Vertrag gültig, kann aber durch Einrede entkräftet werden. Dieselbe Lehre findet sich bei Jason de May no46: alienatio simulata et imaginaria est ipso iure nulla ... sed (alienatio) facta in fraudem bene valet et tenet: et ideo requiruntur actiones revocatoriae47. Ein teilweise simulierter Vertrag ist entsprechend teilweise unwirksam. Bertachinus, Repertorium Juris s.v.: Contractus simulatus pro parte tantum, et pro parte verus, valet pro parte, qua est verus, non pro alia. Baldus post Bartolum in l. ab Anastasio infine. C. mandati (Cod. 4, 35, 23). Simulatio vitiat sententiam, iuramentum, et transactionem ac laudum. Baldus zu Cod. 4, 22. Da die Beweislage bei simulierten Rechtsgeschäften schwierig ist, spielen Präsumtionen eine wichtige Rolle48. Allgemein gilt der Satz: Contractus in dubio praesumitur verus et non simulatus49. Simulatum praesumitur id, quod expressim factum reperitur, contra id, quod factum est occulte (Cod. 4, 35, 23)50.
Ed. Venetiis 1570; vgl. oben Fn.30. Dazu oben Fn. 31. 44 Vgl. auch s. v. Frans. - Auf Bertachinus beruft sich Mozzius in seinem Tractatus de contractibus (Venetiis 1585) art. 4 n.64 (s. oben Fn. 34). 45 Vgl. oben bei Fn.22. 46 Ad Inst. 4, 6, 6 n. 6 und n. 42; vgl. Ankum (o. Fn. 17) 163 u. 165. 47 Vgl. Mozzius, Tractatus de contractibus, art. 4 n. 65: . . . sed contractus simulatus est, quando fingitur, ... 41 Vgl. oben bei Fn. 24-26. 49 Bertachinus, Repertorium juris, s.v. Contractus. 50 Bertachinus, a. a. O., s. v. Simulatio. 42
43
344
Gunter Wesener
Die Rechtsvermutung der Simulation gilt51 für die Forderungsabtretung (cessio actionis), quando pro parte fuit vendita et pro parte donata (ut in LUD. 4, 7). Der Zessionar hat ein Klagerecht in der Höhe seiner Zahlung ( . . . usque ad quantitatem, quam exbursavit, et in reliqua parte perditur actio: ut in l. 23 Cod. 4, 35 et Abbas [Siculus] in c. 2 X. 1, 42)52. Eine Präsumtion der Simulation besteht ferner, wenn eine Forderung unbedingt verkauft wird und der Kaufpreis nicht feststeht (Glosse zu D. 4, 7, 11 und Cod. 4, 35, 23). Abgesehen von Präsumtionen erfolgt der Beweis einer Simulation vielfach mit Indizien und Coniecturae53: Simulatio probatur coniecturis. Simulatio contractus probatur per indicia, et per coniecturas". Eine Präsumtion der Simulation ergibt sich mitunter aus mehreren coniecturae; so Mozzius55:... ei (contractus) praesumitur simulatuspluribus coniecturis, et maxime si sine iuramento, quia non iuratus praesumitur simulatus. Mozzius führt in seinem Tractatus de contractibus (art. 4, n. 53-63) eine Reihe von Präsumtionen an, verweist dann (n. 64) für weitere auf Bartholomaeus Caepolla (Veronensis)56 und auf Bertachinus57, ferner auf Josephus Ludovicus (16. Jh.) 58 , Lucas de Penna (1343-1382) 5 ' und Joannes Baptista Lupus (16. Jh.) 60 .
Bertachinus, a. a. O. Vgl. Going, FS Koschaker III (1939) 417. 53 Zu coniectura vgl. Bertachinus, a. a. O., s. v. Coniectura: Coniectura dicitur semiplena prohatio et sufficit ad iuramentum in supplementum probationis. ... Coniecturae sufficiunt in his, quae communiter in secreto fiunt. - Donellus, Comment, ad Tit. Dig. de verbor. obligatione (D. 45, 1, 137, 2) [Opera omnia XI, 1642 N. 9]: Tunc enim res dubia coniecturis, et definitione atque auctoritate prudentium indiget, ut explicetur. Vgl. G. W. Wetzeil, System des ordentlichen Civilprocesses3 (1878) 2 7 8 ; / . Partsch, SZ 42 (1921) 229 A.2. 54 Bertachinus, a. a. O., s. v. Simulatio. 55 Tractatus de contractibus, art. 4, n. 51 u. 52. 56 Tractatus de simulatione contractum (vgl. oben Fn. 27). 57 Repertorium juris, s. v. Contractus simulatus und Fraus. 58 E.Holthöfer, in: Coings Handbuch der Quellen II/l (1977) 450. 59 Savigny, a . a . O . , VI, 199ff; Besta, Fonti II, 857; Galasso (Fn.27) I 369, 581; N.Horn, in: Coings Handbuch der Quellen I 270, 275, 327, 363. 60 Tractatus de usuris (Venetiis 1571), in 2. par. § .1. Vgl. Holthöfer, a. a. O., II/l, 360, 450. 51
52
345
Das Scheingeschäft
III. D i e h u m a n i s t i s c h e J u r i s p r u d e n z 6 1 h a t keine w e s e n t l i c h e n F o r t s c h r i t t e in der L e h r e v o m Scheingeschäft g e b r a c h t " . Duarenus „Plus valere
( 1 5 0 9 - 1 5 5 9 ) 6 3 u n t e r s c h e i d e t in seinen C o m m e n t a r i i in T i t . quod
agitar,
quam
quod
simulate
concipitur"
( C o d . 4, 22)64
z w i s c h e n einer S i m u l a t i o n , die sich auf den K o n t r a k t u n d einer Simulat i o n , die sich auf die P e r s o n b e z i e h t " : . . . Saepe accidit, ut simulatio respiciat contractum, ut pro uno contractu alius contractus exprimatur. Unum exemplum est in 1. 3 (Cod. 4,22). Emptio fit aliquando pignoris causa vel mutui causa: et hoc frequentissimum est apud nos. . . . . . . Quod autem diximus id valere quod agitur, ita est intelligendum (ut admonuimus) si appareat quid actum sit. Aliquando nihil omnino agitur, sicut in exemplo 1. ultimae (Cod. 4,22,5). . . . . . . Deinde dicendum est, si voluerint contrahentes alium contractum in alium transferre, et modus sit idoneus ad transferendum unum contractum in alium; non proprie simulationem esse, nec locum habere, quae hic dicimus de simulatione. Cujacius
( 1 5 2 2 - 1 5 9 0 ) 6 6 stellt stark auf die voluntas
D e r g r o ß e S y s t e m a t i k e r Hugo Duarenbehandelt
Donellus
(1527-1591)
contrahentium 68
ab 6 7 .
, ein Schüler v o n
in seinen C o m m e n t a r i i in C o d i c e m in klarer W e i s e
ebenfalls d e n T i t e l 2 2 , C o d . L i b . 4 7 0 : (p. 1366) Item, ut titulus inscriptus est: plus valere, quod agitur, quam quod simulate concipitur. Quod agitur, id est, quod fit et geritur revera, non quod simulate concipi-
" Literatur dazu bei Ankum (Fn. 17) 187 A. 2; Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte3 (1976) 68; H.E. Troje, in: Coings Handbuch der Quellen I I / l , 615 ff, bes. 622 ff, 627 ff; A. Cavatina, Storia del diritto moderno in Europa I (1979) 640 ff; vgl. H. Hühner, Jurisprudenz als Wissenschaft im Zeitalter des Humanismus, FS Larenz z. 70. Geb. (1973) 41 ff. 62 Vgl. Ankum (Fn.l7)215. 63 Vgl. Stintzing, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft I 368ff; W.Vogt, Franciscus Duarenus. 1509-1559 (1971); V.Piano Mortavi, Razionalismo e filologia nella metodologia giuridica di Baron e di Duareno, in: Labeo 15 (1969) 7ff (nun in: Piano Mortari, Diritto, logica, metodo nel secolo XVI, 1978, 365 ff. - Zur dolus-Lehre M. Brutti, La problematica del dolo processuale nell'esperienza romana I (1973) 60 ff. 64 Opera omnia (Francofurti 1607) p.945. 65 Zur Unterscheidung der Glosse zwischen Simulation de persona in personam und a causa in causam s. oben bei Fn. 16; vgl. Brunnemann unten bei Fn. 77. 66 Comm. in 1. 219 De verb. significai. (D. 50, 16) [Opera omnia VIII (Neapel 1758) col. 637 s.]: In hac lege proponitur primum, in contractibus spectandam esse potius contrahentium voluntatem, quam verha: . . . ex quo intellegimus fieri nonnumquam ex mente contrahentium, ut contra consuetudinem sermonis significatio perducatur... 67 Vgl. H. Hübner, FS Käser (1976) 720. 69 Vgl. A.P. Th. Eyssell, Doneau, sa vie et ses ouvrages (Dijon 1860); zur dolus-Lehie Brutti (o. Fn. 63) I 67 ff. " Stintzig, a. a. O., I 377. 70 Opera omnia VII (Lucae 1765) 1365 ss.
346
Gunter Wesener
tur, id est, non quod concipitur verbis in instrumento, dum contrahentes dissimulare volunt et tegere, quod actum est, et verbis aliud simulare. Haec sententia duas partes continet, seu duas sententias particulares. Prior haec est: cum quid simulatum est in instrumento, scriptum non valere. Hoc merito constituitur, quia scriptum falsum est. (p. 1367) ...Altera sententia est: tametsi in proposito scriptum non valeat: tamen nihilominus id quod actum et gestum est, potius valere. Ut fundus emptus est. Placuit in instrumento scribi, fundum donatum esse. Donatio non erit, quia scriptum falsum non valet: sed erit et valebit emptio, quae revera gestum est. . . . E s t igitur certissima haec sententia: cum aliud actum est, et aliud (p. 1368) scriptum, semper plus valere, quod actum est, quam quod scriptum est.
Hugo Grotius (1583-1645) 7 1 behandelt in seiner „Inieidinge tot de Hollandsche Rechts-Geleerdheit" (entstanden um 1620)72, III 48, 7, die restitutio aufgrund von metus, dolus und Minderjährigkeit. Der Rechtsbehelf der Restitution wegen Arglist wird nicht gegeben, wenn der Vertrag bei Vorliegen von Arglist auf beiden Seiten geschlossen wurde; in diesem Falle ist der Vertrag von Anfang an völlig ungültig („nietig") 73 . Es ist damit aber nicht ein Scheingeschäft gemeint, da es sich um keinen gemeinsamen, einverständlichen dolus handelt, sondern jeder Vertragspartner agiert unabhängig vom anderen dolos74. Die Vertreter des deutschen Usus modernus pandectarum übernahmen im wesentlichen die Lehre der italienischen Kommentatoren vom Scheingeschäft, ohne neue Akzente zu setzen. Bei Johannes Brunnemann (1608-1672), Professor in Frankfurt an der Oder 75 , findet sich in seinen Commentarii in X I I Libros Codicis Justinianei76 (Lib. IV tit. 22) die alte Unterscheidung zwischen einer Simulation a persona ad personam und einer Simulation a contractu ad contractum77. Als Beispiel für eine fraus führt er den Fall an, daß ein Tutor durch eine andere Person, etwa die Ehefrau, die er dazu veranlaßt, Sachen des Pupillus kauft, entgegen der Bestimmung von D. 26, 8, 5, 3, und damit eine fraus legis begeht78. 71 Vgl. H.Hofmann, in: Staatsdenker im 17. u. 18. Jh., hrsg. von M. Stolleis (1977) 51 ff; zur dolus-Lehre Brutti (o. Fn.63) I 75 ff; vgl. A. Wacke, SZ 94 (1977) 236 ff. 72 Erstdruck 1631. - Verwendet wird die Ausgabe von H. F. W. D. Fischer, Leiden 1965. Englische Ubersetzung und Kommentar von R. W. Lee: The Jurisprudence of Holland by Hugo Grotius, I (1926, Nachdruck 1953), II (1936). 73 Vgl. Grotius, Inieidinge III 17.3; III 1.19. 74 Zur Regel: dolus cum dolo compensatur vgl. Lee (Fn. 72) II 359; Brutti (Fn. 63) 197f (Fn. 3). - Vgl. Leyser unten bei Fn. 89. 75 Stintzing, a.a.O., II 101 ff. 76 Lipsiae 1672. 77 Vgl. oben bei Fn. 16 u. Fn.65. 78 Verweisung auf Baldus, Cons. 249 num. 2, lib. 1 und Card. Tuschus, conci. 257 n. 38. Zu Dominicus Tuscus (1534-1620) vgl. E.Holthöfer, in: Coings Handbuch der Quellen II/l, 411, 462.
Das Scheingeschäft
347
E r f o r d e r l i c h ist d e r B e w e i s d e r S i m u l a t i o n 7 9 , sive per sive
per
testes,
sive
per
conjecturas,
confessionem,
ac praesumptiones'0.
Brunnemann
v e r w e i s t a u f i t a l i e n i s c h e J u r i s t e n d e s 1 6 . J h . w i e Alderano
Mascardus
( g e s t . 1 6 0 6 ) 8 1 , Jacobus
Farinacius
Menochius
( 1 5 3 2 - 1 6 0 7 ) 8 2 u n d Prosper
(1544-1618)83. E i n g e h e n d b e f a ß t s i c h m i t d e r S i m u l a t i o n Wolfgang
Adam
Lauterbach
( 1 6 1 8 - 1 6 7 8 ) , P r o f e s s o r in T ü b i n g e n 8 4 , in s e i n e m C o l l e g i u m t h e o r e t i c o p r a c t i c u m ad L P a n d e c t a r u m libros, Pars I ( 1 7 2 6 ) : Lib. 18, tit. 1, n. 115 . . . Simulare vero dicitur, quasi aliquid rei simile permutare, qui enim simulat, objicit oculis aut menti ejus, quem, quid agatur, latere vult, simile ejus, quod tacite repudiat. . . . n. 116 . . . Simulate enim gesta, cum sola contractuum verba habeant, nihil autem ex contrahentium mente et consensu, qui tarnen omnium conventionum mater est, nisi in hoc, ut nihil vel aliud agatur, proinde in genere pro infectis habentur,... Lauterbach
( a . a . O . , n. 1 1 6 ) e r w ä h n t die z w e i A r t e n d e r S i m u l a t i o n
(ut nihil vel aliud
agatur),
die s i c h s c h o n bei Bartolus
u n d f ü h r t a n , d a ß die s i m u l i e r t e n corpora
sine spiritu,
D i e exceptio conceptum
esse,
et cadavera
simulationis,
qua
finden 8 5
Geschäfte v o n den D o k t o r e n
sine anima Reus
u n d Baldus
dicit,
als
bezeichnet werden. aliud
actum,
aliud
simulate
kann v o n einem Partner des simulierten Geschäfts o d e r
v o n einem geschädigten D r i t t e n geltend gemacht werden86. I n s e i n e m C o m p e n d i u m juris 8 7 v e r w e i s t W.A. zius,
Lauterbach
auf
Moz-
T r a c t a t u s d e c o n t r a c t i b u s , a r t . 4 (siehe o b e n bei A n m . 3 3 ) .
Augustin
von
Simulation
ein
Leyser
( 1 6 8 3 - 1 7 5 2 ) 8 8 w e i s t d e u t l i c h d a r a u f h i n , d a ß eine
Zusammenwirken
beider
Vertragspartner
erfordert:
Zur Beweisfrage oben bei Fn. 24 u. 48 ff. Brunnemann (Fn.76) Lib. IV tit. 22, n.2. 81 Communes conclusiones (Ferrara 1608), conci. 438 ss.; dazu St. Kuttner, in: Noviss. Digesto Ital. 10, 291. 82 De praesumptionibus, conjecturis, signis et indiciis (Venetiis 1590, Colon. Agripp. 1595, Genf 1676); vgl. Holthöfer, a . a . O . , I I / l , 326, 452. 83 Vgl. P. Del Giudice, Storia del diritto italiano II. Fonti (1923) 115f; F. L. Berra, in: Noviss. Digesto Ital. 7, 87; E. Holthöfer, a . a . O . , I I / l , 446. 84 Dazu Stintzing, a . a . O . , II 139ff; Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen aus fünf Jahrhunderten 2 (1983) 337; K. Luig, in: N D B 13 (1982) 736ff. 85 Siehe oben bei Fn. 15. 86 Lauterbach, Collegium theoretico-practicum ad L Pandectarum libros, Pars III (1725), Lib. 44, tit. 4, n.17. 87 Tübingen 1679; zitiert nach Ausgabe Tübingen 1697: Pag. 314 s., n.429. 88 Zu Leyser und seiner Methode von K. Luig, Richterkönigtum und Kadijurisprudenz im Zeitalter von Naturrecht und Usus modernus: Augustin Leyser (1683-1752), in: Das Profil des Juristen in der europäischen Tradition, hrsg. von K. LuigiD. Liebs (1980) 295 ff; weitgehend zustimmend G.-K. Schmelzeisen, ZRG Germ. 99 (1982) 428 ff; vgl. Luig, Universales Recht und partikulares Recht in den „Meditationes ad Pandectas" von 75
80
348
Gunter Wesener
simulatio est actus, qui non potest proficisci ab uno solo, sed requirit consensum utriusque partis, siquidem ea non pendet a voluntate sola unius, sed perficitur ex consensu et voluntate duorum contrahentium, sicut nex confessio unius quid facit, nisi et alter consentiat. Simulatio ex una parte verus dolus est, quia ad alterum decipiendum tendif. Verträge, durch welche der gesetzliche Höchstsatz für Zinsen umgangen werden sollte, wie Schenkung, Wiederkauf, Vergleich und Vertragsstrafe, sind unwirksam90. Das von Leysern angeführte Urteil stützt sich auf die Lex Anastasiana (Cod. 4, 35, 23, 1) und die Bestimmungen der Reichspolizeiordnung von 1577 (Tit. 17, §§8 u. 9)92. Wie K. Luig» feststellt, fühlt sich Leyser an das geltende Recht gebunden und bleibt den Entscheidungen des römisch-gemeinen Rechts in der Mehrzahl der Fälle treu. Eine starke Originalität und Persönlichkeit wird man Leyser aber nicht absprechen können94. IV. Während die gemeinrechtliche Lehre bei Willensmängeln, insbesondere bei Irrtum, eine ausgeprägte Willenstheorie vertreten hat, ist die naturrechtliche Doktrin zu keiner einhelligen Lösung gekommen95. Für Grotius und Christian Wolff sind die individuellen Vorstellungen des Irrenden maßgeblich; sie vertreten somit eine Willenstheorie, die der gemeinrechtlichen Lehre in den Wirkungen sehr nahe kommt96. Auch Pufendorf gehört im wesentlichen dieser Richtung an, doch zeigen sich bei ihm schon gewisse Tendenzen in Richtung Vertrauensprinzip97.
Augustin Leyser, in: Diritto comune e diritti locali nella storia dell'Europa (Milano 1980) 25 ff, bes. 41 ff. Vgl. Kleinhey er/Schröder, Deutsche Juristen 2 339. 89 Meditationes ad Pandectas, Vol. V (Halae 1772) Spec. 290 med. V. 90 Leyser, Meditationes, Vol. IV (1772) Spec. 247, med. 2 - 8 ; dazu eingehend Luig, Richterkönigtum (Fn. 88) 312 ff. " Oben Fn. 90. 92 Luig, Richterkönigtum, 312. 93 Richterkönigtum, 304, 319, 332 f. 94 Vgl. F. Wieacker, Privatrechtsgechichte der Neuzeit 2 (1967) 221 f. 95 Vgl. dazu P. Haupt, Die Entwicklung der Lehre vom Irrtum beim Rechtsgeschäft seit der Rezeption (1941) 25 ff; H. Hübner, Subjektivismus in der Entwicklung des Privatrechts, FS Käser (1976) 715 ff; M. Dießelhorst, Zum Vermögensrechtssystem Samuel Pufendorfs (1976) 73 ff; Wesenberg/Wesener, Neuere deutsche Privatrechtsgeschichte3 (1976) 134; K. Luig, Franz v. Zeiller und die Irrtumsregelung des ABGB, in: Forschungsband Franz von Zeiller (1751-1828), hrsg. von W. Selb /H. Hofmeister (1980) 153 ff; vgl. G. Wesener, Zeillers Lehre „von Verträgen überhaupt", ebd. 257ff. " Vgl. Luig (Fn. 95) 157 f. 97 Dazu Luig, a . a . O . , 158f; vgl. Dießelhorst, a . a . O . , 73ff, bes. 100ff.
Das Scheingeschäft
349
Aus den „officio, circa sermonemaus den „Pflichten bei Äußerung unserer Gesinnungen"" hat eine Richtung der Naturrechtslehre seit Christian Thomasius den Schluß gezogen, daß sich der „Anerklärte" auf das Wort des Erklärenden verlassen dürfe, und daß daher der Irrtum grundsätzlich dem Irrenden schade. Der Erklärende ist verpflichtet, seinen Willen durch die im Verkehr üblichen Zeichen zu offenbaren und die Worte im gewöhnlichen Sinne zu gebrauchen100. Die Vertrauenstheorie, eine modifizierte Erklärungstheorie, wurde besonders deutlich von Kreittmayr und Martini vertreten und hat ihren Niederschlag im Codex Maximilianeus Bavaricus civilis (IV 1 §25), im Westgalizischen Gesetzbuch (WGGB) und, etwas abgeschwächt, im ABGB gefunden101. Die Simulation, das „mit wechselseitigem Einverständnis errichtete Scheingeschäft"102, wird von der Naturrechtslehre nur am Rande erörtert. Samuel Pufendorf, De jure naturae et gentium103, kennt noch nicht den Begriff der Willenserklärung, der declaratio voluntatis, sondern behandelt den sermo im Sinne von „Verständigung"104. § 12 De jure naturae et gentium IV c. 1 trägt die Uberschrift: „Simulatio in rebus quatenus licita?" Dieser Paragraph handelt aber nicht von der Simulation im Sinne von Scheingeschäft, sondern allgemein von der Vorspiegelung falscher Tatsachen105. Auch Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae, Lib. II cap. 8 („De officio hominis circa sermonem") §§68-71, behandelt simulatio und dissimulatio im allgemeinen Sinn, nicht im technischen Sinn von Scheingeschäft. § 69. In eo vero utraque convenit cum falsiloquio, quod in simulatione et dissimulatione intendam alterum fallere et decipere.
Thomasius, Institutiones Jurisprudentiae Divinae (1730, Nachdruck Aalen 1963) II 8. " K.A. v. Martini, Lehrbegriff des Naturrechts (Wien 1799, Nachdruck Aalen 1970) 12. Hptst. 100 Martini, Lehrbegriff, §§395 ff. Vgl. E.A. Kramer, Der Pflichtgedanke bei der Vertragschließung: Zur vernunftrechtlichen Grundlage der Vertrauensdoktrin, Ö J Z 1971, 119ff, bes. 121; Wesener, Zeillers Lehre (Fn.95) 258. 101 Dazu Wesener, a . a . O . , 258ff (mit weiterer Lit.); Luig, a . a . O . , 159ff. 102 So F. v. Zeiller, Commentar über das allg. bürgerl. Gesetzbuch III/l (Wien u. Triest 1812) S. 111 zu 916 ABGB. 103 Ed. 1759,1 c. 4 De volúntate hominis; IV c. 1 De sermone, et quae eundem comitatur obligatione. 98
104 Vgl. J. Binder, Wille und Willenserklärung im Tatbestand des Rechtsgeschäftes, A R W P 6 (1912/1913) 103 f; zum Konsensbegriff bei Pufendorf Th. Mayer-Maly, in: Rechtsgeltung und Konsens (1976) 95 f. - Zur Irrtumslehre Pufendorfs M. Dießelhorst (Fn. 95) 73 ff. - Zu Wille und Willenserklärung vgl. H. Hattenhauer, Grundbegriffe des Bürgerlichen Rechts (1982) 62 ff. 105
Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, III 1, 7 u. III 1, 8, 1.
350
Gunter Wesener
§70. Differunt autem simulatio et dissimulatio inter se, quod haec constat in facto omissionis, quale etiam est taciturnitas, haec in facto positivo, adhibendo nempe signa reliqua praeter sermonem, ita, ut non conveniant cum animo utentis.
Die simulatio entspricht mehr einem falsiloquium (vgl. §§58, 60), die dissimulatio einer reticentia veri, einer Verschweigung der Wahrheit (§7ir. Christian Wolffs Konsensbegriff wurzelt in seiner Handlungslehre. Er zählt den consensus zu den actiones internae und definiert ihn als „volitio, utfiat, vel non fiat, quod alter fieri vel non fieri vult" (Institutiones juris naturae et gentium §27). Wolffs Konsensbegriff liegt die Lehre von der imputatio moralis zugrunde107. Im Anschluß an das Kapitel „De obligatione circa sermonem" (Jus Naturae III c. 2) handelt Wolff „De sinceritate, simulatione et dissimulatione" (III c. 3). Auch Wolff versteht den Ausdruck simulatio nicht im technischen Sinne von Scheingeschäft, wie ihn das Gemeine Recht verstanden hat108. Jus Naturae III c. 3, §314 10 '. Sincerus dicitur, cujus actiones externae cum internis consentiunt. Unde sinceritas animi est habitus actiones externas cum internis conformandi.
Die sinceritas schließt jede simulatio und dissimulatio aus ( W o l f f Jus Naturae, a . a . O . , §316). Sowohl actiones positiv ae, wodurch jemand zu einem Tun verpflichtet wird, wie actiones negativae seu privativae, wodurch man zu einem Unterlassen verpflichtet wird, müssen sincerae, ohne Falsch, sein (§317). Jus Naturae III c. 3, § 326. Nec actio positiva, ad quam committendum obligamur, nec negativa seu privativa, ad quam omittendam obligamur, simulationem admittit. §327. In simulatione actio externa prae se fert animum ab eo, quem agens habet, prorsus diversum...
Zur Unterscheidung von simulatio und falsiloquium führt Wolff ( a . a . O . , § 3 3 2 ) aus: Hinc simulatio definiri poterat per factum, quo alium fallere intendimus, et vicissim Falsiloquium per sermonem quo alterum fallere intendimus. § 333: Falsiloquium est sermo simulatus (vgl. Wolff Institutiones §§ 350 u. 356).
Vgl. §§74 u. 75. Vgl. Grotius, De iure belli ac pacis, III 1, 7. Dazu Th. Mayer-Maly, Der Konsens als Grundlage des Vertrages, FS Seidl (1975) 125f; ders., in: Rechtsgeltung und Konsens (1976) 96 f; zu Wolffs Ethik B.Huwiler, Der Begriff der Zession in der Gesetzgebung seit dem Vernunftrecht (1975) 50 ff. Vgl. zu Wolffs Lehre von der Willenserklärung ]. Binder (wie oben Fn. 104) 104 ff; H.Dilcher, Ged.schr. H. Conrad (1979) 88 f. - Wolff, Jus Naturae III 4 §361; Institutiones §379. 101 Z. B. Lauterbach (s. oben im Text nach Fn. 84). m Vgl. Wolff Institutiones §349. 106
107
Das Scheingeschäft
351
Wolff (Jus Naturae, a. a. O., §§338 ff) unterscheidet zwischen erlaubter und unerlaubter Simulation: §338. Si simulatio pugnat cum officio quodam erga te ipsum, vel erga alios, aut obligatione quadam contracta, qua alteri in singulari teneris, seu si fuerit contra jus perfectum aut imperfectum alterius; illicita est. § 345. Quando alteri ad animi nostri sensa indicanda obligamur, simulatio illicita est.
Beim Wolff-Schüler J. G. Darjes (1714-1791) 110 findet sich in seinen Institutiones Jurisprudentiae Universalis111 folgende Definition der simulatio: § 199. Actus externus internis contradicens vocatur simulatio, simulatio finis cuiusdam non illiciti gratia facta dicitur dolus bonus. Wenn auch die ältere Naturrechtslehre das Scheingeschäft im eigentlichen Sinne nicht ausdrücklich behandelt, so läßt sich doch erschließen, daß ein Scheingeschäft jedenfalls zwischen den Partnern als unwirksam angesehen wurde, da es nicht ernstlich gewollt war. Ludwig J. Fr. Höpfner (1743-1797) 112 , den Zeiller113 noch zu den älteren Naturrechtslehrern zählt, führt unter den Erfordernissen eines gültigen Vertrages114 an, daß er ein „wahrer Vertrag" sein müsse; die Einwilligung muß wirklich vorhanden sein115. Auch Franz von Zeillerm führt als wesentliches Stück eines Vertrages „die einstimmige Erklärung oder Einwilligung der vertragmachenden Theile" an. Bei Fehlen dieses Erfordernisses ist der Vertrag „ungültig oder vielmehr nur ein Scheinvertrag". Zeiller (Natürl. Privatrecht § 9 5 ) fährt dann allerdings fort: „Für die Einwilligung aber gilt die Äußerung, und es kann dem Vorwande, anders geredet, und anders (innerlich) gewollt zu haben, nicht Raum gegeben werden." Diese Regel ist wohl
Dazu Kleinheyer/Schröder, Deutsche Juristen2, 326. 7. Ed., Jena 1776. 112 Zu Höpfner Stintzing/Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III/ 1, Text 442ff, Noten 284f; vgl. Wesener, Zeillers Lehre (Fn.95) 251 A.33. Nach Landsberg, a.a.O., Text 442, galt Höpfner unbestritten „als der bedeutendste Civilist seiner Zeit". 113 Das Natürliche Privatrecht2 (Wien 1808) §36; vgl. Wesener, Zeillers Lehre (Fn.95) 251 (A.33). 114 Naturrecht des einzelnen Menschen, der Gesellschaften und der Völker2 (Gießen 1783) §65. 115 Naturrecht 2 §67: „Sie (die Einwilligung) muß auch wirklich vorhanden seyn. Will man behaupten, daß jemand wirklich eingewilliget habe: so muß er (a) den ernstlichen Willen gehabt haben, sich verbindlich zu machen. Unterhandlungen oder Tractaten, Negotiationen machen also so wenig einen Vertrag aus, als scherzhafte Aeusserungen, Complimente und andere Erklärungen, bey denen man die Absicht nicht hat, sich vollkommen zu verpflichten." Vgl. Höpfner, Theoretisch-practischer Commentar über die Heineccischen Institutionen8 (Frankfurt a.M. 1804) §735 (S. 795). Vgl. G. Hufeland, Lehrsätze des Naturrechts2 (Frankfurt u. Leipzig 1795) §297. 116 Natürl. Privatrecht §95. 110 111
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auf die Mentalreservation bezogen und auch für die Irrtumslehre von Bedeutung; es kommt hier das Erklärungsprinzip (Vertrauensprinzip) zum Ausdruck. Für das Scheingeschäft ist Zeiller, a.a.O., §96 zu beachten: „Die Erklärung muß aber, um dem Willen gleich gehalten zu werden, den ernstlichen Willen deutlich ausdrücken. . . . oder offenbar nur scherzhafte Äußerungen und bloße Scheinhandlungen, oder ganz unverständliche Erklärungen sind ohne rechtliche Folgen." Mit „Scheinhandlungen" ist die sogenannte Bühnenerklärung, aber wohl auch das Scheingeschäft im eigentlichen Sinne gemeint117. Besonders stark und nachdrücklich wird das Vertrauensprinzip118 von Karl Anton Freiherrn von Martini vertreten119: Lehrbegriff des Naturrechts (1799) §451: „ . . . U n d weil eine hinlängliche Erklärung dem Willen selbst gleichgehalten wird; so wäre ein Vertrag auch dann noch giltig, wenn die vertragenden Theile anders dächten und anders sprächen." Doch ist auch aus dieser Formulierung nicht etwa die Gültigkeit eines Scheingeschäfts abzuleiten120. Nur einem gutgläubigen Dritten wird nach dem Vertrauensprinzip nicht die Einrede des Scheingeschäfts entgegengesetzt werden können121. Die Naturrechtskodifikationen befassen sich relativ eingehend mit der Simulation. Das Scheingeschäft ist grundsätzlich unwirksam; die Behandlung des verdeckten Geschäfts ist verschieden. Nach dem Codex Maximilianeus Bavaricus Civilis von 1756 (IV 1 § 5) wird für einen Vertrag „ein wahrer vollkommener ernstlicher und freyer Wille oder Consens" gefordert; das, was man „nur im Scherze, auf den bloßen Schein" zugesagt hat, ist nicht verbindlich122. „Der consensus muß obligatorius, mutuus, verus etperfectus und declaratus und zwar expresse
117 Vgl. Höpfner, Naturrecht2 §67 (Fn. 115); Franz Egger, Das natürliche Privatrecht nach dem Lehrbuche des k. k. Hofrathes F. Edlen von Zeiller (Wien u. Triest 1818) S. 142 f zu §95; S. 144; S. 147f zu §96 („Scheinhandlungen, wie z. B. auf dem Theater"); Zeiller, Commentar über das allg. bürgerl. Gesetzbuch III/l (1812) S. 110ff zu §916 ABGB. Vgl. Codex Theresianus III cap. II, 2. Art. § XI, n. 120 (dazu unten bei Fn. 126). Vgl. dazu M.Wellspacher, Das Vertrauen auf äußere Tatbestände (1906) 269 ff; H. Eichler, Die Rechtslehre vom Vertrauen (1950); dazu G.-K. Schmelzeisen, AcP 31 (1950/51) 461 ff; Kramer (Fn. 100) 119 ff; F. Bydlinski, Privatautonomie und objektive Grundlagen des verpflichtenden Rechtsgeschäftes (1967) 137 ff. 119 Dazu Wesener, Zeillers Lehre (Fn.95) 258 f. 120 Vgl. Entwurf Martini (unten bei Fn. 127). 121 Vgl. ABGB §916 Abs. 2 (i. d. F. d. III. Teilnovelle), dazu unten bei Fn. 114. - Nach Gemeinem Recht war die Frage umstritten; vgl. H. Eickel, Scheingeschäft u. verdecktes Geschäft (Fn.2); für Schutz des gutgläubigen Dritten H.Dernhurg, Pandekten7 1 (1902) §100. 1 (A.6); ders., Lehrbuch des Preußischen Privatrechts4 I (1884) §104 (A.9); vgl. H. Kreller, Rom. Recht II (1950) 276 A. 1. 122 Zum Scheinkauf Codex Max. Bav. Civ. IV 3, 6.
Das Scheingeschäft
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oder tacite sein123." Kreittmayr verlangt einen consensus verus. Diesem Erfordernis entspricht im preußischen A L R und im österreichischen A B G B die Ernstlichkeit der Willenserklärung. Nach A L R I 4 § 4 muß die Willenserklärung „frey, ernstlich, und gewiß, oder zuverläßig" sein124. Die §§ 70-74 A L R I I I handeln von simulierten Käufen. Während nach dem A L R (§ 71) die Frage der Gültigkeit des verdeckten Geschäfts „nach den eigentümlichen Regeln dieses Geschäfts zu beurtheilen" ist, nimmt der österreichische Codex Theresianus, der erste Entwurf einer gesamtösterreichischen Zivilrechtskodifikation125, gegenüber „Scheinhandlungen" einen sehr strengen Standpunkt ein; er erklärt alle Scheinhandlungen, sowohl die simulierten wie die verdeckten Geschäfte, für gänzlich „kraftlos, unbündig, und null und nichtig" (III cap. I, 2. Art., § X I , n. 124) und bedroht die Scheinhandlungen mit Verfall und Strafe. Im Codex Theresianus findet sich, wohl erstmals in einem Gesetzeswerk, eine Definition des Scheingeschäfts126: III cap. II, 2. Art. § X I , n. 120. Eine Verstellung oder Scheinhandlung ist, wann auf den Schein durch äußerliche Zeichen von beiden Contrahenten ein anderes Geschäft vorgespieglet wird, als sie nicht zu schließen gemeinet sind. Diese geschiehet entweder in der Gesinnung gar nichts zu schließen, noch weniger sich gegeneinander zu etwas verbinden zu wollen, oder in der Absicht unter Vorspieglung einer vorgeblichen Handlung in der Wahrheit eine davon ganz unterschiedene Verbindung einzugehen.
Das Scheingeschäft ist auch Dritten gegenüber unwirksam; ein geschädigter Dritter kann Schadenersatz verlangen (n. 121 u. 122). Im Gegensatz zum Codex Theresianus, wo sich allgemeine Bestimmungen über Scheingeschäfte finden, behandelt der Entwurf Martini127 und diesem folgend das Westgalizische Gesetzbuch die Simulation nur bei einzelnen Verträgen128, beim Kauf (Entwurf Martini III 6 § 8 ; 123 Kreittmayr, Anmerkungen zum Codex Max. Bav. Civ. IV 1, 5. Vgl. Wesenberg/ Wesener, Privatrechtsgeschichte3 118; Th. Mayer-Maly, FS Seidl (1975) 128; ders., in: Rechtsgeltung u. Konsens (1976) 98; Wesener, Zeillers Lehre (Fn.95) 257 A.75. 124 Vgl. A L R I 4 §§52-56 („Ernster Wille"); § 5 7 („Gewisser Wille"); vgl. A B G B §869 (Randschrift: „Wahre Einwilligung"); dazu eingehend H.Dilcher, Die Willenserklärung nach dem preußischen A L R „frei, ernstlich und zuverlässig", Gedächtnisschrift H. Conrad (1979) 85 ff, bes. 94 f; zum A B G B 97ff; vgl. Mayer-Maly, FS Seidl (1975) 126; H.Dernburg, Lehrbuch des Preuß. Privatrechts4 I (1884) §104 (vgl. o. Fn. 121); vgl. H. Kreller, Rom. Recht II (1950) 275 f. 125 Ausgabe von Ph. Harras Ritter von Harrasowsky, Der Codex Theresianus u. seine Umarbeitungen I—III (Wien 1883-1884); Literatur zur Kodifikationsgeschichte bei Wesenberg/Wesener, Privatrechtsgeschichte 3 153; vgl. ferner G. Kocher, Höchstgerichtsbarkeit u. Privatrechtskodifikation. Die Oberste Justizstelle u. das allg. Privatrecht in Österreich von 1749-1811 (Wien-Köln-Graz 1979). 126 Vgl. Entwurf Horten (hrsg. von Harrasowsky, Fn. 125, IV, 1886) III 1, §§31 u. 32. 127 Hrsg. von Harrasowsky (Fn. 125, V, 1886). 121 Generell nur Entwurf Martini III 1 § 8 ; Westgaliz. Gesetzbuch III § 8 .
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W G G B III §181), bei zinslosen Anleihen (Entwurf Martini III 8 § 6 ; W G G B III § 2 5 9 ) und bei der Bürgschaft (Entwurf Martini III 15, 11 u. 12; W G G B III §§500 u. 501). Die Gültigkeit oder Ungültigkeit einer verdeckten Schenkung wird nach den für Schenkungen festgesetzten Regeln beurteilt (Entwurf Martini III 6 § 8; W G G B III § 181). Erst bei den Redaktionsarbeiten zum A B G B unter dem Referenten Franz von Zeiller, wobei das Westgalizische Gesetzbuch als Urentwurf zur Grundlage genommen wurde, kam es wieder zu einer allgemeinen Fassung der Bestimmungen über Scheingeschäfte. In der Sitzung der Hofkommission in Gesetzessachen vom 13. Mai 1805 wurde der §181 Urentwurf (III. 6) zunächst auf Antrag Zeillers in folgender Fassung eingeschaltet129: Wird bei einer unentgeltlichen Ueberlassung nur auf den Schein eine entgeltliche verabredet, so gehört das Geschäft zu den unentgeltlichen Verträgen, und dessen Giltigkeit oder Ungiltigkeit, nebst den übrigen Folgen, wird nach den für die unentgeltlichen Verträge festgesetzten Regeln beurtheilet.
In der Sitzung vom 27. Mai 1805130 kam es dann zur endgültigen Textierung (I.Entwurf III § 4 4 ; Rev. Entwurf § 9 1 1 ; Superrev. Entwurf §917)131. ABGB § 916 (alte F.) Wird ein Geschäft von gewisser Art nur zum Schein verabredet, so ist es nach denjenigen gesetzlichen Vorschriften zu beurtheilen, nach denen es vermöge seiner wahren Beschaffenheit beurtheilet werden muß.
Wurden durch ein Scheingeschäft die Rechte eines schuldlosen Dritten verletzt, so hatte dieser Anspruch auf Schadenersatz132. Die österreichische Judikatur vertrat den Standpunkt, daß die exceptio simulationis nur inter partes zulässig sei; dritte Personen könnten sich nicht auf Simulation berufen133. Die überwiegende Lehre134 hingegen trat für absolute Nichtigkeit des Scheingeschäfts ein.
129 J. Ofner, Der Ur-Entwurf u. d. Berathungs-Protokolle des Oesterr. Allg. bürgerl. Gesetzbuches II (Wien 1889) S. 72 (zu § 147). 130 Ofner, a.a.O., II S.87 (zu §181). 131 Ofner, a. a. O., II S. 760. 132 Vgl. Zeiller, Commentar III/l, S. 110 (zu ABGB §916). 133 Entscheidungen des O G H : Glaser/Unger 232; 1416; 1507; 7956; vgl. M. Stubenrauch, Commentar zum österr. ABGB 8 II (1903) zu §916; Kritik bei J.Kohn, Treu und Glauben. Ein Beitrag zur Auslegung des §916 ABGB, in: Grünhuts Zs. f. d. Privat- u. öffentl. Recht der Gegenwart 36 (1909) 153 ff, bes. 157. 134 Etwa Krainz/Ehrenzweig, System der österr. allg. Privatrechts5 I (1913) 279; H. Klang, Die Einwendung der Simulation im Exszindierungsprozeß, JB1. 38 (1909) 217 ff; ders., in: FS z. Hundertjahrfeier des österr. O G H (1950) 150 f; J. Kohn, a. a. O. (Fn. 133).
Das Scheingeschäft
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Im deutschen BGB §117 wurde die Nichtigkeit des Scheingeschäfts ausdrücklich festgelegt135. Diese kann von den Parteien sowohl untereinander als auch gegenüber Dritten und von Dritten geltend gemacht werden 13 '. Eine generelle Vorschrift, wonach einem gutgläubigen Dritten die Nichtigkeit des Scheingeschäfts nicht entgegengesetzt werden könne, wurde in das BGB nicht aufgenommen 137 . Durch die III. Teilnovelle (§ 103) zum ABGB vom Jahre 1916 wurde auch der §916 neu gefaßt138. Im Sinne der herrschenden Lehre139 wurde nun ausdrücklich die Nichtigkeit von Scheingeschäften festgelegt (§916 Abs. 1). Auch ein Dritter kann sich auf die Ungültigkeit des simulierten Geschäfts berufen. Im Abs. 2 des §916 wurde der Vertrauensschutz dritter Personen ausgesprochen 140 : „Einem Dritten, der im Vertrauen auf die Erklärung Rechte erworben hat, kann die Einrede des Scheingeschäftes nicht entgegengesetzt werden." Damit wurden Willenstheorie und Vertrauensprinzip, ähnlich wie in der Irrtumslehre 141 , vom ABGB in einer sehr gelungenen Weise miteinander kombiniert. Festgehalten kann werden, daß die Grundlagen der Lehre vom Scheingeschäft im wesentlichen bereits von der mittelalterlichen Rechtswissenschaft, insbesondere von den italienischen Kommentatoren, entwickelt worden sind142; die Naturrechtslehre des 17. und 18. Jahrhunderts hat den Gedanken des Vertrauensschutzes beigesteuert, der vor allem im österreichischen ABGB deutlich zum Ausdruck kommt. 135 Vgl. ALR I 4 §§52ff; sächs. BGB §828; Dresdener Entwurf (von 1866) §57; zur Regelung des BGB vgl. H. Lange/H. Köhler, BGB. Allg. Teil18 (1983) §54. III; W.Flume, Allg. Teil d. Bürgerl. Rechts II2 (1975) §20 Z.2 (S. 404 ff); Kallimopoulos, Simulation (Fn. 2); Fickel, Scheingeschäft (Fn. 2). - Zum Schweizer. OR Art. 18 vgl. A.v.Tuhr/ H.Peter, Allg. Teil des Schweizer. Obligationenrechts I3 (1979) §35. III. 136 Motive zum BGB I S. 193; B.Mugdan, Die gesamten Materialien zum Bürgerl. Gesetzbuch f. d. Deutsche Reich I (1899) 458 f; vgl. Kallimopoulos, Simulation (Fn. 2) 117 ff; Fickel, Scheingeschäft (Fn.2) 10 ff, 18 ff. 157 Vgl. Protokolle, bei Mugdan, a.a.O., I 710ff; Kallimopoulos, a.a.O., 122ff. 138 Weder die Regierungsvorlage einer Novelle zum ABGB von 1907 (bzw. von 1909 u. 1911) noch der Herrenhausbericht von 1912 (= Nr. 78 d. Beilagen z. d. sten. Protokollen des Herrenhauses. - XXI. Session 1912) sah eine Abänderung des §916 ABGB vor. Vgl. B. Dölemeyer, Die Revision des ABGB durch die drei Teilnovellen von 1914, 1915 u. 1916, in: Ius Commune 6 (1977) 274ff; dies., in: Coings Handbuch der Quellen III/2 (1982) 1782 ff. 139 Oben Fn. 134. 140 Vgl. die Erläuterungen zur III. Teilnovelle, § 103 (bei R. Elmer, Die Novellen zum Allg. Bürgerl. Gesetzbuch, Graz 1916, S. 102 f); vgl. F. Gschnitzer, im Klang-Kommentar zum ABGB' II/l (1934) 431 ff; 2.Aufl. IV/1 (1968) 419ff; P.Rummel, im Kommentar zum ABGB, hrsg. von P.Rummel, I (1983) zu §916. 1.1 Vgl. K.Luig (Fn. 95) 153 f. 1.2 S. oben F n . l l .
Ius civile und lex publica in der römischen Frühzeit FRANZ W I E A C K E R
I. Einer erneuten Uberprüfung des oft erörterten Themas können wir eine anspruchslose Disposition zugrundelegen: 1. was meinte ius im archaischen Rom? 2. was bedeutete in dieser Zeit lex publica? und endlich: 3. welches ursprüngliche Verhältnis von ius und lex ergibt sich aus diesen alten Gleichungen? Es erleichtert das Verständnis, wenn wir das Kontrastbild der heutigen Rechtsvorstellung vorausschicken, dem in der Hauptsache bereits das Verständnis der klassischen Zeit und des römischen Dominats entsprach. Denn schon damals war das Verhältnis von Recht und Gesetz im Sinn der modernen Rechtsquellenlehre bereits trivial; d. h. das von uns erwartete. 1. Im modernen Gesetzesstaat bezeichnen „Gesetz" und „Recht" Normen der gleichen Geltungsstruktur und des gleichen Geltungsranges. Die etwas pedantische Feststellung des Art. 2 EGBGB „Gesetz im Sinne des Bürgerlichen Gesetzbuches und dieses Gesetzes (!) ist jede Rechtsnorm" würde jeder kontinentaleuropäische Jurist bis an die Schwelle der Gegenwart unterschrieben haben. Beide Normenkreise sind ihrem Aggregatzustand nach homogen; ihre temporären Kollisionen können daher durch die lex posterior-Regel, ihre inhaltlichen Konkurrenzen meist durch die Maxime der lex specialis behoben werden. Dieses Grundverhältnis wird auch dadurch nicht berührt, daß der Begriff „Gesetz" meist der Einzelnorm vorbehalten bleibt, während „das (objektive) Recht" auch gern für eine nationale Gesamtrechtsordnung oder doch für ein ganzes Rechtsgebiet gebraucht wird. In einer engeren, gleichsam emphatischen Bedeutung unterscheidet sich solches Recht, das nicht in Gesetzesgestalt, also sprachlich artikuliert ist, nach seinem Entstehungsgrund: diese Normen erfließen nicht aus der Willensäußerung staatlicher Organe, sondern aus Übung und Überzeugung („Gewohnheitsrecht"), aus Gerichtsgebrauch oder Rechtswissenschaft (communis opinio doctorum). Seit dem Auftreten von Unrecht in Gesetzesgestalt gewinnt auch die Frage nach übergesetzlichen nichtartikulierten Normen höheren Ranges, besonders in Gestalt der unsterblichen Frage nach einem Naturrecht, wieder gesteigerte Bedeutung; damit
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verbindet sich notwendig die Anerkennung eines höheren Geltungsranges dieses ungeschriebenen Rechts. Allein, dieser höhere Rang kommt auch gesetzlich artikulierten Rechtsnormen zu, vor allem dem Verfassungsrecht und meist der allgemeineren Rechtssetzung (Reichsrecht, Bundesrecht) gegenüber den regionalen Rechtskreisen (Landesrecht, lokale Rechte); er ist somit keine spezifische Differenz zwischen ungeschriebenem und geschriebenem Recht. Nur darin bewahrt der kontinentale Rechtsbegriff noch ein - allerdings vielsagendes - Vermächtnis aus ältesten Schichten des römischen Rechts, daß sich „Recht", „droit", „diritto" usf. nicht nur (wie „Gesetz", „loi", „legge" usf.) das „objektive Recht" bezeichnen (sowohl als Einzelnorm wie besonders auch als Inbegriff aller Normen die „Rechtsordnung"), sondern auch - überraschend genug - zugleich das „subjektive Recht": Sachenrecht, Forderungsrecht, Grundrecht(e). 2. Im wesentlichen ist all dies auch schon das Bild des justinianischen und des klassischen römischen Rechts - wenigstens solange wir uns der expliciten Rechtsquellenlehre der römischen Antike anvertrauen, wie wir sie zuerst in den Lehrbüchern der forensischen Rhetorik und spätestens seit der hochklassischen Zeit auch in den Proömien der juristischen Institutionenwerke (statt aller Gaius 1 1 - 9 ) finden. Das kann nicht überraschen: der Ius-Begriff des europäischen Festlandes ist ja gerade aus dem Rechtsbegriff dieser römischen Quellen hervorgegangen. Kennzeichnenderweise ist die Gleichung ius = lex, Recht = Gesetz den älteren deutschen und nordischen Rechten und noch heute dem angelsächsischen Rechtskreis fremd: hier unterscheidet man bekanntlich als law (an. log, dän. lov) das objektive und als right (rebt, rett usf.) die privaten und öffentlichen subjektiven Rechte.
In Rom dagegen ist seit der späten Republik der zweigliedrige Ausdruck ius lexque (wie unser „Gesetz und Recht") beinahe ein Hendiadyoin1, und die Frage nach dem Verhältnis des ungeschriebenen Gewohnheits- (und Juristen)rechts zum gesetzlichen Recht bildete schon wie heute ein Kapitel der temporären und inhaltlichen Kollision zweier Normenkreise gleicher Struktur. Daran änderte sich auch nichts, als im späteren Dominât, nach der Kanonisierung der klassischen Juristenschriften, ius und leges wieder auseinandertraten2. Auch jetzt unterschieden sich beide Normenkreise nur nach ihrem Entstehungsgrund: dort das ius vetus der Juristen quibus permissum erat iura condere (Gai. I 7); hier das Kaiserrecht, vornehmlich das „neue" Kaiserrecht des Dominats. 1 Seit Plaut. Ep. 392; Most. 136; Rud. 648 u . ö . ; weit. Belege bei Broggini, Fs. Gutzwiller (1959) 23 ff; Bleicken, Lex publica (Berlin - New York 1975) 349 3 9 ; 394' 47 (zu dreigliedrigen Formeln mit mos); s. a. Magdelain, La loi à Rome (Paris 1978) 25 u. n. 10. 2 Grundlegend Gaudemet, IVRA 1 (1950) 223 ff ( = Études d. dr. rom., Naples [1979] 439ff); s.a. Wieacker, IRMAE I 2 a (Mediol. 1963) 16f u. A . 3 1 .
Ius civile und lex publica in der römischen Friihzeit
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3. Das klassische Verständnis von ius unterschied sich auch darin nicht von dem modernen, daß es sich etwa des geistigen und intellektuellen Vorrangs eines „Juristenrechts" bewußt gewesen wäre. Dem Rechtshistoriker im modernen Gesetzesstaat können die Entscheidungen der großen Juristen fast als ein Case Law erscheinen, und zwar - anders als im Common Law — nicht als ein solches der Gerichte (denn diese sind in Rom Laiengerichte), sondern der Juristen, der professionellen Rechtsexperten oder iurisconsulti: all dies in entschiedenem Gegensatz zur Herrschaft der Gewaltenteilung und der Kodifikationen im kontinentalen Verfassungsstaat, in dem Gewohnheitsrecht und Juristenrecht nur geduldete Reservate sind. Und gewiß beschreibt dieser Eindruck die römische Wirklichkeit, wie wir sie sehen müssen, ganz zutreffend: das entwickelte Privatrecht ist in der Sache fast ganz die Schöpfung der Juristen. Aber der allgemeinen Ideologie der Republik und noch des frühen Prinzipats wird diese Interpretation offenbar nicht gerecht. Wo sich das öffentliche Bewußtsein überhaupt über die Theorie der Rechtsquellen Gedanken macht, wie in den rhetorischen Lehrschriften, in Ciceros Reden und philosophischen Schriften und bei den Annalisten und den Historikern der frühen Kaiserzeit: dort ist kein Zweifel, daß die nationale römische Rechtsordnung, das ius proprium Romanorum, auf den Gesetzen gründet (in legibus consistit/: nämlich das ius civile vornehmlich auf den X I I Tafeln und den (wenigen) privatrechtlichen Volksgesetzen; das ius publicum wesentlich auf den sonstigen Volksgesetzen. Die ganze Fülle des ius civile der veter es und der frühklassischen Juristen erscheint folgerecht noch bei Pomponius (der sich doch ganz der Bedeutung der successio prudentium für den processus iuris bewußt ist) in diesem Punkt nicht als freie Schöpfung des ius, sondern als Produkt seiner sola interpretatio (D. 1, 2, 2 §12; doch s. VI a. E.). An diesem prinzipiellen Verständnis der eigenrömischen Rechtsordnung änderte es nichts, wenn die Rhetorik und die Gerichtsrede, wie von jeher natürlich und unvermeidlich, gegen rigides, nämlich ihr unbequemes ius scriptum des populus Romanus das hellenistische ius naturae non scriptum, ius gentium quod apud omnes peraeque custoditur (vgl. Gai. I 4) ausspielte und als für den römischen Iudex verbindliche Norm hinstellte.
Einen wirklichen Einbruch in diese Gesetzesideologie bedeutete es erst, wenn in den Rechtsquellenkatalogen der juristischen Elementar-
3 Zum Vorrang der lex im öffentlichen Bewußtsein der späteren Republik statt aller: Watson, Law Making (1974) 61; Käser, St. Donatuti 2 (1973) 523; Fs. Flume 1 (1975) 105, s. a. Käser, Verbotsgesetze (Ak. Wien 1977) 16 f. Anders noch Schuh, Prinzipien d. röm. R (1934) 5 und jetzt wieder H. Honsell in N. Horn (Hrsg.) Europ. Rechtsdenken etc., Fs. Coing (München 1982) 145 ff. Zu möglichen Einflüssen des hellenistischen Gesetzesdenkens bereits Frezza, ArchGiur. 61 (1950) 1 ff.
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werke seit der Mitte des 2.Jhs. nun wirklich das unstrittige Juristenrecht, die auctoritas iurisprudentium wie die (etwas obskuren) opiniones und sententiae der autorisierten Juristen in Gai. I 7, als selbständige Quelle des römischen ius (civile) zu figurieren begann. Wir vermuten, daß an diesem Wandel das steigende Ansehen der nun im kaiserlichen Konsil und in der Kanzlei a libellis tätigen Juristen größeren Anteil hatte als das vielberufene (von Gai. 1. c. wirklich suggerierte) ius respondendi, welches unseren Händen immer entschlüpft, sobald wir es zu fassen glaubten 4 . II. 1. Bei alledem zeigt nun schon das klassische lus bei näherem Zusehen auffallende Divergenzen zum heutigen Verständnis von lus, Recht usf. : die ersten Spuren einer weit zurückreichenden und ganz anderen Konzeption, auf der noch das klassische lus aufruht. Zunächst ist auch in den klassischen Texten ein sehr altes Bedeutungsfeld „Ort und Zeit der Jurisdiktion" sowie die figura etymologica ius iurare noch vollkommen lebendig. Ferner aber: ius als subjektives Recht ist nicht einfach identisch mit dem heutigen „subjektiven Recht" schlechthin; es wird ganz überwiegend nur für absolute personen- und sachenrechtliche Herrschaftsrechte gebraucht, wie für die patria potestas, die manus, die hereditas, das dominium, die possessio am fundus provincialis und die iura praediorum5. Dieser Sprachgebrauch weist offenbar zurück auf die Rechtsprätention der Vindikationen im Spruchformelprozeß, deren „meum esse ex iure Quiritium", „ius (non) esse in..." insofern in die späteren Schriftformeln überging. Dagegen heißt die obligatio in der Regel nicht ius - mag auch Celsus, Liebhaber des pointierten Aperçus, das debitum ein ius nennen, quod sibi debeatur, iudicio persequendi (D. 44, 7, 51) und Gaius (cf. Inst. Iust. 4, 6 pr) ihm hierin folgen. Daß die obligatio in der Regel nicht (mehr) als subjektives ius erscheint, deutet darauf, daß ihre alte Beziehung auf Haftungsherrschaft über die Person des Schuldners (wie sie die Metaphern obligare, solvere, liberare, vinculum iuris noch bewahren) schon in der späten Republik verblaßt war. Als Grund dafür vermuten wir - neben dem odium nexi - die Ablösbarkeit dieser Herrschaft durch Geldzahlung oder Geldkondemnation6.
4 Zu meinen Vorbehalten gegen ein seit dem frühen Prinzipat institutionalisiertes ius respondendi oder gar gegen einen kaiserlichen Erlaubnisvorbehalt für öffentliches Respondieren einstweilen nur T R 37 (1969) 336 f (mit früherer Lit.). 5 Statt aller Käser, RPR I2 374 u. A . 2 (Lit.; auch zur Echtheitsfrage). ' Käser I 37; 146 f; zum fortschreitenden Abbau der Haftungsherrschaft des Gläubigers 150; s.a. O. Behrends, Zwölftafelprozeß (1973) 114ff. Zur Genesis der obligatio vgl. hier nur Macqueron, L'histoire des obligations2 (Aix-en-Prov. 1975) 1 ff; Käser, SZ 90 (1973) 184ff; O. Behrends, 135ff; Talamanca, EncDir. 29 (1979) 1-12 (reiche Bibl.: 71 ff).
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2. Die ersten Überlegungen zum archaischen Ius knüpfen gerade an diesen Befund an. Wir finden im klassischen Recht zwei verschiedene Bedeutungskerne: ius als „Rechtsordnung" und ius als Rechtsherrschaft eines paterfamilias (oder civis sui iuris), mit besonderem Bezug auf die ausschließliche Herrschaft über Sachen, Vermögen (hereditas) und personae alieni iuris. Alles kommt nun darauf an, welche Bedeutung die ursprüngliche war. War diese nämlich „Rechtsordnung" und ius als „Rechtsherrschaft" eines paterfamilias nur deren Reflex: dann bleibt das Problem der Beziehung von ius und lex auch für die Frühzeit trivial, nämlich das Verhältnis eines Normenkomplexes zu einem anderen, über das nach allgemeinen Grundsätzen der Normenkollision zu entscheiden war. War dagegen „Rechtsherrschaft" die ursprünglichere Bedeutung und dafür spricht prima fade jene alte Beschränkung von ius auf absolute Herrschaftsrechte - dann bräche die strukturelle Identität von ius und lex auseinander: nicht ein Normen kreis hätte ursprünglich mit dem anderen kollidiert, sondern ein individueller Befund mit einem generellen (gesetzlichen) Gebot. Und hiermit würde die anfängliche strukturelle Verschiedenheit von ius und lex und die Geschichte ihrer allmählichen Annäherung bis an die Grenze der völligen Verschmelzung zu einem der wichtigsten Kapitel der römischen Rechtsquellenlehre, wo nicht der inneren Geschichte des frührömischen Rechts überhaupt. III. 1. Wir wenden uns also den so umstrittenen Ursprüngen des Ius zu 7 . Es ist hier nicht der Ort und auch nicht die Absicht, eine eigene neue Theorie vorzulegen. Wenn wir unter diesem Vorbehalt als erste, äußerste Rahmenformel vorschlagen, ius sei „richtiges Geschehen und Zustand in einer Rechtsgemeinschaft" und iustum die Eigenschaft, in diesem Sinne „richtig" zu sein8, so ist dies keine bloße Leerformel. Vielmehr wird damit bereits die für unsere weiteren Einsichten gefährliche Suggestion abgewehrt, Ius sei immer schon Ubereinstimmung eines 7 Aus der überreichen Lit. hier nur: Gioffredi, StudDoc. 13/14 (1947/48), 31 ff; 51 ff; 1 3 2 f f ; Diritto e processo etc. (Roma 1955) [künftig: DP] 3 2 f f u. ö.; Käser, Altröm. Ius [i. folg. A J ] 22 ff; 154 ff u. ö. Atti Verona 2 (1953) 17 ff; R P R I 24 ff; Betü, St. Arangio-Ruiz 4 (1953) 112 ff; Luzzatto, StudDoc 15 (1949) 287 ff; de Francisci, Primordia civitatis (Rom 1959) 378 f f ; de Visscher, Mel. Levy-Bruhl (1959) 46 ff; Orestano, BIDR 46 (1950) 194 ff u. ö.; ders., I fatti di normazione nelle esperienza romana arcaica (Torino 1967) passim; Stein, Regulae iuris (1966) 4 ff. 8 Damit, mit Bezug auf Handlungen, verträglich die Bedeutungen „Erlaubtheit", „Befugnis": Käser, Labeo 1 (1954) 135; 302; RPR I 24f u. A . 4 a.E.; doch s.u. Fn.9; Vorbehalte auch bei D. V. Simon, SZ 82 (1965) 168, der dies erst seit der Ermächtigung der XII Tafeln (5,1; 6,1) gelten läßt. Dagegen impliziert//./. Wolffs „Ermächtigung" (Seminar 7 [1949] 92) bereits eine ermächtigende menschliche Instanz über den Parteien.
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Franz Wieacker
Zustandes (Geschehens) mit einer als allgemein gedachten Normenordnung gewesen. Eine weitere Bestimmung in diesem Rahmen kann nur der Eigenart derjenigen Zustände oder Handlungen entnommen werden, denen vor allem die Eigenschaft beigelegt wird, ius oder iustum zu sein. Das waren - immer im Bereich des ius civile, das uns hier allein angeht - nicht beliebige, etwa alle nicht mißbilligten (und also erlaubten) Zustände und Handlungen, sondern vorzugsweise solche, durch die jemand in überlieferten Ritualen eine Rechtsherrschaft über Menschen oder Dinge betätigte, welche sich ohne jene Formen als vis dargestellt hätte. In den Klagbehauptungen mihi ius esse, tibi ius (non) esse kommt dies ebenso
zum Ausdruck wie im ius feci sicut vindictam imposui bei Gai. IV12
oder im iure caesus der X I I Tafeln (VIII12), wenn ein für manifestus in Waffen oder zur Nachtzeit unter rituellem Gerüft (endoplorare) erschlagen war. Nur hieraus erklärt sich auch, daß die Formeln ex iure Quiritium und ius (non) esse grundsätzlich den Vindikationen, d. h. den absoluten, gegen Dritte wirkenden Herrschaftsrechten vorbehalten waren. 2. Fragt man nach dem Kriterium, das solche Zugriffsakte zu ius machte, so ist jedenfalls mit Sicherheit auszuschließen, daß es ursprünglich die Übereinstimmung mit einer artikulierten allgemeinen Norm war. Da solche Normen erst seit dem Beginn einer gesamtrömischen Gesetzgebung vorstellbar sind und im ius civile erst seit den X I I Tafeln existierten, müßte man folgerecht sagen, ante urbem conditam habe es ius nicht gegeben, - was absurd wäre. (Ob und in welchem Sinn in dieser Frühzeit von der impliziten Normenordnung eines „Gewohnheitsrechts" die Rede sein kann, wird noch zu prüfen sein.) Daher stimmt man heute meist darin überein, daß ius ursprünglich nicht eine allgemeine Regel meinte, sondern die Rechtmäßigkeit eines individuellen Zustandes oder Handelns. Dies gilt insbesondere für die drei in der Hauptsache vertretenen Theorien: sowohl für diejenige, welche diese Rechtmäßigkeit auf Akte des Jurisdiktionsmagistrats oder Urteile gründet (wie bes. Pugliese, H.J. Wolff und ursprünglich auch Käser), wie für die, welche sie in einer magischen Bindekraft alter Rituale oder in einem Gottesurteil suchen (Hägerström, Levy-Bruhl, Noailles, Santoro, Tondo, van den Brink u. a.), sowie endlich auch für die neueren Selbsthilfetheo-
rien (Juncker, Betti, Wenger, Egon Weiss, Luzzatto, Gioffredi, D. V. Simon und heute wohl auch Käser).
Eine apodiktische Entscheidung zwischen diesen Hypothesen ist hier nicht erforderlich und wohl auch nicht möglich, insofern jede von ihnen zutreffende Aspekte des ältesten ius hervorhebt. Die These von seiner Entstehung aus Jurisdiktionsakten' kann sich auf eine alte Terminologie berufen (wie ius dicere, iudicare, iudex, iudicium); sie stößt sich aber daran, daß Ius-Qualität auch außergerichtlichen Handlungen zukommt
lus civile und lex publica in der römischen Frühzeit
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(iusfeci, iure caesus est) und also älter sein muß als die früheste (urbane) Jurisdiktion10. So liegt es näher, daß umgekehrt die jurisdiktionellen Ausdrücke sich erst deshalb bildeten, weil über den effektiven sozialen Konflikt, nämlich über bestrittenes lus seit sehr früher Zeit Magistrate oder Urteilsgerichte entschieden. Die Theorie der magischen Bindung" kann sich auf ein breites anthropologisches, ethnologisches und rechtsvergleichendes Material stützen, ist aber ihrer Natur nach schwer beweisbar. Zwar scheint besonders der Herkunft des lus aus Gottesurteilen12 auf den ersten Blick das sacramentum rechtzugeben, das wohl ursprünglich wirklich antizipierte Entsühnung der Sazertät war, welche die unterlegene Partei durch den (unvermeidlichen) Falscheid verwirkt hatte. Doch ist eine (pontifikale) Erkundung des göttlichen Willens gerade zu Zwecken profaner Rechtsfindung ebensowenig belegt wie römische Rechtsordalien überhaupt. Zudem mußte auch dem zuversichtlichsten Glauben deutlich sein, daß „Gottes Mühlen langsam mahlen" und der Eid als Gottesurteil also für eine rasche Streitlosstellung wenig tauglich ist13.
3. Der Verfasser neigt daher mehr einer gemäßigten Selbsthilfetheorie zu14. Von Selbsthilfe soll die Rede sein, weil wir das Entscheidungsverfahren und die Vollstreckung des ältesten Legisaktionenverfahrens wesentlich auf rituelle Zugriffsakte des Berechtigten zurückzuführen, deren Rechtmäßigkeit auch nach der Ausbildung einer Urbanen Jurisdiktion von Magistrat oder Urteilsgericht nur dann festgestellt werden mußte, ' H.J. Wolff, a. a. O.; Käser, AJ 22 ff (doch s. A. 8); Gioffredi, DP 49 ff; Vorbehalte bei Wieacker, SZ 67 (1950) 539f; Stein (o. Fn. 7); D. V. Simon 143. 10 Dem läßt sich auch nicht begegnen durch die Annahme einer (doch offenbar rein fiktiven) Verweisung auf Urteils gleiche Wirkung {„wie durch Urteil": so Käser AJ 31, s. noch I 31): außergerichtliche Handlungen können das (ursprüngliche) Attribut der Rechtmäßigkeit nicht ex post dadurch erhalten haben, daß sie später im Streitfall gerichtlich festgestellt wurden. 11 Allgemein u. a.: Hägerström, Das magistratische ius in seinem Zusammenhange mit dem Sakralrechte 1 (1929); Der röm. Obligationsbegriff I/II (Uppsala/Leipzig 1927/41); SZ 63 (1943) 286 ff; Noailles, Fas (Paris 1940) 163 ff; Droit sacré 80 f; Käser, SZ 59 (1939) 68; AJ 40; Lévy-Bruhl, Nouv. Et. sur le très ancien dr. rom. (Paris 1934) passim; Santoro, Ann. Palermo 30 (1967) 158 ff; Tondo, Aspetti simbolici e magici nella struttura giuridica etc. (Milano 1967) 101 ff; Waagenvoort, ANRW I 2 (1972) 348 ff; Robinson IrJur. 8 (1973) 336 ff; weit, bei Käser I 25 u. A. 7, 8, 11 ; 28". Zu alldem skeptisch bereits L. Mitteis, RPR I (1908) 26ff; Kunkel, SZ 49 (1929) 179; Wieacker, SZ 67 (1950), 540ff; ebd. 84, 435 f.; lus. Die Entstehung etc. in Rechtswiss. u. Rechtsentwickl. (Göttingen 1980, Gott. Rechtswiss. Stud. 111, 49ff (:ähnlich wie im f.); abwägend Käser, ZP 201»; RPR I 27f; kategorisch ablehnend MacCormack, TR 37 (1967) 439 ff. 12 Lévy-Bruhl, a.a.O. 54ff; ders., Ét. Petot (1959) 355f; Les actions de la loi (1960) 40ff; Käser, AJ 13 ff (zögernder: ZP 21 f; RPR I 281»); Gioffredi, DP 110; Luzzatto, SZ 73 (1956) 55 ff;/. Ph. Lévy, St. de Francisci 2 (1955) 407ff; Gagé, RH 42 (1964) 541 ff; Tondo, a. a. O. 101 ff; van den Brink, lus fasque 111,118. Ablehnend u. a. Pugliese, Proc. I (Roma 1961/62) 53; Wieacker (o. Fn. 11); de Martino, Storia di Cost. II 2 , 176 ff; van den Bergh, Enkele vragen betr. d. legis actio sacramento (Utrecht 1965) 4f, 10. 13 S. jedoch Gaudemet, StudDoc. 22 (1956) 385. 14 Wie im folgenden bereits lus (o. Fn. I I a . E.) 32 ff; 42 ff. In ähnlichem Sinn schon Wenger, Inst. d. röm. ZP (1925) 6 ff; Juncker, Gedächtnisschr. E.Seckel (Berlin 1927) 199 ff; Luzzatto, Proc. civ. rom. I (Bologna 1945) 6,107 ff u. bes. SZ 73 (1956) 29 ff; D, V. Simon (o. Fn. 8); weit, bei Käser, ZP 20 1 '.
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wenn
Franz Wieacker
der B e t r o f f e n e ihnen w i d e r s p r a c h . E i n e „ g e m ä ß i g t e " T h e o r i e der
Selbsthilfe n e n n e n w i r sie, weil w i r den massiven Selbsthilfemodellen Jherings
u n d seiner ersten N a c h f o l g e r nicht folgen k ö n n e n 1 5 , w e n n sie -
w o h l i m G e i s t des S o z i a l d a r w i n i s m u s 1 6 - die E n t s t e h u n g des R e c h t s aus d e m e r f o l g r e i c h e n F a u s t r e c h t des S t ä r k e r e n herleiteten. Dieses homo homini /«/>«i-Modell wird nicht einmal den Erkenntnissen der neueren Verhaltensforschung gerecht. Vielmehr scheint diese zu lehren, daß die Anerkennung eines Zugriffsaktes in überlieferten und hingenommenen Ritualen begründet ist in der unvordenklichen Bewährung traditioneller Verhaltensmuster für die gewaltfreie Vermeidung oder Regelung sozialer Konflikte, wie sie schon im Bereich der sozialisationsfähigen Tierarten vorgebildet zu sein scheint. Wer in diesen öffentlichen und jedermann bewußten Formen auf eine Person oder Sache Zugriff, bekundete schon hierdurch, daß er nicht rechtlose Gewalt übte, sondern gegebenenfalls bereit war, sich auf die förmliche Gegenbehauptung des Betroffenen (oder eines vindex) einzulassen und einem Urteilsverfahren zu unterwerfen. Wer mit aufgebotenen Begleitern vor dem Hause des vermeintlichen Diebs lance et licio Einlaß begehrte, zeigte schon dadurch, daß er nicht zu Mord und Brand einzudringen gedachte, sondern von Rechts wegen Haussuchung halten wolle. Wer bei oder nach der Tötung des für nocturnas das endoplorare erhob, bekundete eben dadurch, daß er nicht gemordet, sondern gerichtet habe. Und ebenso zeigte, wer vor den Manzipationszeugen eine Sache ergriff und dazu sein meum esse aio sprach, daß er nicht fremdes Gut an sich bringen wolle, sondern die Sache mangels Widerspruchs des Gegners als die seinige an sich nahm: auch dies war itts, solange der Betroffene nicht ein Urteilsgericht anrief, welches über das bestrittene ius zu entscheiden hatte. Da diese Anrufung - wie übrigens noch heute bei Rechnung und Zahlungsbefehl - die Ausnahme war, so lag schon hierin eine große Entlastung der frühen Rechtsgemeinschaft von der Notwendigkeit einer Intervention. 4. N a t ü r l i c h k a n n a u c h eine T h e o r i e der ( g e m ä ß i g t e n ) Selbsthilfe auf die D a u e r d e r F r a g e n i c h t a u s w e i c h e n , n a c h w e l c h e n inhaltlichen d a n n U r t e i l s g e r i c h t e ü b e r strittiges Tafeln
eine g e s c h r i e b e n e
Kriterien
Ius entschieden. D a es v o r den X I I
Normenordnung
des ius
civile
nicht
gab,
n i m m t m a n m e i s t ein U r t e i l e n „ n a c h H e r k o m m e n " an 1 7 . D i e s l e u c h t e t an u n d f ü r sich ein; n u r sollte m a n darin n o c h n i c h t
Gewohnheitsrecht
sehen, d. h. eine (implizierte, n u r n i c h t i m G e s e t z e s w o r t fixierte) N o r m e n o r d n u n g n a c h d e m Bilde d e r späteren gesetzlichen. U m z u v e r s t e h e n , w i e m a n o h n e eine s o l c h e z u s a m m e n h ä n g e n d e
Normenordnung
a u s k o m m e n k o n n t e , halte m a n sich v o r A u g e n , daß die K o n f l i k t e einer F r ü h z e i t so beschaffen sind, d a ß die Rechtsfragen,
die sich hier stellen,
elementar und dem Urteil der Allgemeinheit (oder zumindest
einer
15 Jhering, Geist d. röm. R, I '(1891) 118 ff; über ähnliche Ausgangspunkte der Wlassakschen Prozeßtheorie Käser, ZP 20". Dagegen vor allem Broggini, SZ 76 (1959) 113ff u. A. 10, 14 (Lit.); Pugliese a.a.O. 28f; Käser, ZP 19f; Wieacker, Ius 42f. " Wieacker, SZ 86 (1969) 25 ff; Festschr. K.Larenz (Berlin 1972) 63 ff. 17 Arangio-Ruiz, Rariora 2(1956) 252 ff (aus 1938); Käser, R P R 1 2 9 f; 35; vom „carattere fattuale" der frühesten Rechtsordnung spricht daher zuspitzend Orestano, Fatti (o. Fn. 7) 69; dagegen D. V. Simon, (o. Fn. 8) 145 f.
Ius civile und lex publica in der römischen Frühzeit
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präurbanen oder stadtrömischen Schiedsinstanz) ohne weiteres zugänglich waren. Die Bestreitung oder Ungewißheit bezog sich also in der Regel auf das, was die Späteren quaestio facti nennen würden, wie die tatsächliche Gewährung eines Naturaldarlehns oder die Täterschaft und der Schadensumfang bei einem Privatdelikt. Dies ergab sich sowohl aus der Uberschaubarkeit der frühen Zustände wie aus der Sinnfälligkeit der älteren Geschäftsrituale, deren inhaltliche Gerechtigkeit zunächst nicht in Frage gestellt wurde. 5. Wir fassen als Zwischenergebnis zusammen: präurbanes und selbst prädezemvirales ius civile war nicht Normenordnung, sondern Aussage über die Rechtmäßigkeit (d.h. vornehmlich über die soziale Anerkennung) individueller Zugriffsakte. Diese Rechtmäßigkeit ergab sich bei hingenommenem Zugriff aus der Beachtung des überlieferten und meist zeugenkundigen oder sonst öffentlichen Rituals; im Bestreitungsfall aber aus der Feststellung eines Urteilsgerichts und also gegebenenfalls aus dessen auf Herkommen beruhenden rechtlichen Vorstellungen. Bevor wir untersuchen, wie sich aus diesem archaischen Ius die Vorstellung einer allgemeinen, alle cives bindenden Normenordnung entwickeln konnten, fragen wir zuerst nach der ursprünglichen Bedeutung von lex und ihren frühesten Entwicklungen. Denn wir vermuteten bereits, daß derjenige Faktor, der Ius zur allgemeinen Rechtsordnung machte, kein anderer war als die Vorstellung, Ius sei Inhalt und Ergebnis der gesetzlichen Normenordnung der XII Tafeln und weiterer Volksgesetze, und diese Gesetze somit fons omnis iuris. IV. 1. Auch lex" war von Haus aus nicht allgemeine Norm. Um zu erkennen, was das Wort ursprünglich bedeutete, vertrauen wir uns lieber der Sprache der Sachen, den Realien, an als einer sehr umstrittenen Etymologie. Eine verbreitete Zuordnung zu Xeysiv („Spruch") begegnet, wie zuletzt wieder Magdelain" gezeigt hat, morphologischen wie semantischen Schwierigkeiten. D o c h stößt sich an ersteren auch seine eigene scharfsinnige Herleitung aus legere, der öffentlichen Verlesung der rogatio durch den Magistrat: beiden Erklärungen steht der Kurzvokal e bei Vokallänge in lex entgegen. A m einleuchtendsten scheint noch die Erklärung aus
18 Spezifisch z u m folgenden aus der großen Literatur zur frühzeitlichen lex (Käser RPR I 30 4 , mit Nachtrag II 5 7 0 ) hier nur: Tibiletti, St. de Francisci 4 (1956) 595 ff; N N D I 9 (1963) 705 ff; G. Longo ebd. 786 f; Frezza, B I D R 5 9 / 6 0 (1965) 55 ff; ebd. 71 ( 1 9 6 8 ) 1 ff; Orestano, Fatti 81 ff; Serrao, E n c D i r . 23 (1978) 794ff, „legge"; Käser, Gedächtnisschrift Dietz (1973, = Ges. Sehr. Napoli 1976) I 1 2 0 f f ; Bleicken, L e x publica 1 5 8 f f u . ö . ; Magdelain, Loi (o. Fn. 1) 9 ff u. n. 1 (Lit.). 19
A . a . O . (o. Fn. 1) 1 2 f f (13).
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einer indogermanischen Wurzel* legh (ponere, iacere), die nicht nur keltisch (air. laigid) und germ. (got. ligan, dtsch. liegen), sondern auch latinisch (fal. lecet, „iacet") belegt ist. Semantisch verwandt ist statuere, volsk. statom „Satzung"20. Danach wäre lex „Festlegung", „Festliegendes".
In der Sache ist lex in den ältesten Anwendungen einseitiges und imperatives Gebot, gleich ob es als lex dicta in mancipio von einem paterfamilias ausgeht, als lex regia, nemorensis usf. von einem Kultfunktionär oder als (nachmalige) lex publica von einem Magistrat. (Im folgenden soll nurmehr von jener lex der römischen Obermagistrate die Rede sein.) Diese lex ist Festsetzung eines Imperiumsträgers, und zwar vor den Volksversammlungen öffentlich ausgesprochenes Gebot: die lex curiata de imperio vor den versammelten Kurien, die spätere lex publica vor den Zenturien oder den Tribus. Solche leges sind nicht notwendig und wohl auch nicht ursprünglich allgemeines Gebot - wenn man nicht, wie von einem hölzernen Eisen, von „Individualnormen" sprechen will. Individuelle Gebote sind - wie übrigens immer die lex privata — die leges datae der Magistrate, aber auch die - an Zahl überwiegenden - Maßnahme* und Organisationsgesetze, die von den Komitien gutgeheißen worden sind21. 2. Gleichwohl ist der Weg zur generellen Rechtsnorm hier kürzer und durchsichtiger als beim Ius. So sind ja bereits konkrete Gebote für die Zukunft insofern „generelle", als sie sich ihrer Natur nach an einen unbestimmten Adressatenkreis richten: so schon im quoi des Lapis niger22 oder im quis der alten Hainstatute von Luceria und Spoletium23. Mächtigere Impulse für einen allgemeinen Geltungsanspruch der lex gingen indes von den altgriechischen Konzepten der Isonomie und der Nomothesie aus; wohl unter ihrem Einfluß erscheint in den X I I Tafeln zum erstenmal das allgemeine Gesetz als Entwurf einer gerechten Ordnung der cives, die unter Ausschluß negativer und positiver privilegia alle Bürger gleichmäßig berechtigt und verpflichtet. Diese Allgemeinheit des X I I Tafelgesetzes ist - wenn wir der Annalistik hierin vertrauen wollen - bewußter Ausdruck jener Isonomie, die zugleich Gerechtigkeit und Sicherheit des ausgezeichneten Rechts verbürgen soll. 20 Velletri: Vetter, Handb. d. ital. Dialekte 2 (Heidelberg 1953) Nr. 222; dazu und zu den anderen Belegen Magdelain 13 f u. n. 16. 21 Zu diesen „situationsbezogenen Gesetzen" eingehend Bleicken 105-136. 22 C I L I 2 1 lin. 1. sq. Q U O I H O ( N C E ) L O C O M VIOLASED SACROS ESED (nach Stroux, Philologus 84 (1931) 460 ff; ähnlich lin. 7. 23 Spoletium (CIL X I 4766; I2 366 = FIRA III nr. 71 a, 3. Jh.) honce loucom ne qu(i)s violatod ... sei quis violasit; von Luceria (CIL X I 782; 1 401; FIRA III nr. 71 b, gleichfalls 3. Jh.) stercus ne (qu)is fundatid neve cadaverproiecitad neve parentatid. sei quis arorsu hac faxit, s. F. Schulz, Gesch. d. röm. Rechtswiss. 41'. In den XII Tafeln sind dann bereits auch die Tatbestände generalisiert.
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3 . D i e s e m I d e e n g e h a l t e n t s p r a c h die f o r t s c h r e i t e n d e T e n d e n z z u r M i t s p r a c h e der V o l k s g e m e i n d e b e i m Z u s t a n d e k o m m e n des G e s e t z e s . F o r mell d r ü c k t sie sich aus in der F i g u r der lex rogata,
in d e r die F e s t s e t z u n g
des M a g i s t r a t s sich, o h n e P r e i s g a b e ihrer einseitigen F o r m der m a g i s t r a t i s c h e n Initiative 2 4 , in einen V o r s c h l a g z u r G u t h e i ß u n g d u r c h die K o m i tien kleidet. D i e s e F o r m als solche ist sehr alt: sie erscheint s c h o n in d e r alten lex adrogatio2i.
curiata
de
imperio,
s o w i e i m velitis
iubeatis,
Quirites,
der
A b e r erst in d e r G e s e t z g e b u n g d e r Z e n t u r i e n des B ü r g e r h e e -
res w u r d e sie a u c h inhaltlich z u einer K o m p r o m i ß f o r m e l
zwischen
m a g i s t r a t i s c h e r F e s t s e t z u n g u n d materialer B e s t i m m u n g d u r c h d e n in den Komitien gegenwärtigen Populus2'. Wann
sich die alte F o r m des einseitigen G e b o t s m i t diesem n e u e n
G e h a l t auflud, m i t d e r V o r s t e l l u n g also, eine die cives b i n d e n d e N o r m m ü s s e a u c h v o n ihnen g u t g e h e i ß e n sein, wissen w i r n i c h t m i t S i c h e r heit 2 7 . D i e Schlüsselstellung k o m m t hier d e r K r i t i k d e r U b e r l i e f e r u n g ü b e r die ( z w e i t e ) lex
Horatia
Valeria
v o n 4 4 9 z u , w e l c h e die k r a f t
a u ß e r o r d e n t l i c h e n I m p e r i u m s einseitig erlassene lex dicta d e r D e z e m v i r n d u r c h K o m i t a l b e s c h l u ß legitimiert h ä t t e : daraus s p r i c h t jedenfalls die U b e r z e u g u n g d e r U r h e b e r dieser ( s p ä t e r e n ) T r a d i t i o n , es h ä t t e einer
24 Das römische Gesetz als Akt des Magistrats: de Martino, Dir. cost. II 2 278 ff; d'Ors, cf. IVRA 20 (1969) 855 f; zum inneren Widerspruch zwischen einseitiger rogatio und materialer Gutheißung der Komitien Magdelain 74ff; s.a. Walde-Hofmann s.v. rogare II 445. Durchaus abweichend sieht Serrao, Partiti e classi etc. (1971) 112 im Komitialgesetz gerade ein „unilaterale potere esclussivo del popolo" (mit Beschwichtigung des Gegenarguments aus der formalen Einseitigkeit der magistratischen rogatio durch den Hinweis auf die Volkswahl der Magistrate). 25 Gell. 5.19,9: Velitis, iubeatis, uti L. Valerius... Haec ita uti dixi, vos Quirites rogo. Für späte künstliche Nachbildung einer rogatio hält dies freilich Magdelain a. a. O. 26 Zu dieser Vertragsfigur bereits Rubino, Unters, über röm. Verfassung u. Geschichte (1939) 253 ff; Uommsen, Staatsr, III 301 ff; s. jetzt Frezza (o. Fn.3 a.E.); A.Heuß, NachrGöttAk. 1975 Nr. 8, 198 ff; bleichen 64, 245 f; Magdelain 74 ff; anders zuletzt H. Honseil (o. Fn. 3) 130 u. A. 1. 27 Die meisten sehen in ihr erst das Ergebnis einer seit der Gracchenzeit auftretenden demokratischen Ideologie der Volkssouveränität, deren Vertragstheorie hellenistische Ideologie sei (struttura pattizia des vö|xog als noXewg xoivf) ouv9f|xr|: Frezza, IVRA 27 (1976) 120f: so Siber RE 21 (1951) 178 u.ö.; Heuß a.a.O. („gezielte Verfremdung"); Bleicken a.a.O.; Magdelain 71, 76f („confusion"); zweifelnd Coli, Regnum (1951) 1137'; Gaudemet, Inst1 (1967) 278. Dagegen postulieren de Martino II 2 228 ff u. bes. Serrao, Partiti e classi 108 ff bereits für das 5. Jh. das volle Bewußtsein der Souveränität des exercitus centuriatus. Entsprechendes gilt für die (erst seit der späten Republik belegte) weitergehende Konstruktion, die Verbindlichkeit der lex beruhe auf dem (imperativ verstandenen) iussum populi: Cic. leg. 1, 5, 17 u. 3, 5, 9 sq; Phil. 1, 7, 16; Vatin. 3, 8; Pro. Pis. 21, 48; Balb. 17, 39; auct. ad Herenn. 2.13, 9; Liv. 7, 7, 12; Capito bei Gell. 20, 20, 8 sine rogatione nullum plebis aut populi iussum fieri potest, also kennzeichnenderweise zunächst für das Plebiszit und mit Hervorhebung der Unerläßlichkeit der (einseitigen) rogatio, cf. § 7: sed totius huius rei iurisque... caput ipsum et origo et quasi fons rogatio est.
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solchen Gutheißung bedurft. Die nächste und gewissere Landmarke ist die Usurpation und schließlich die Anerkennung der allgemeinen Normsetzungskompetenz der concilia plebis, die sich zwischen der lex Publilia Philonis (338) und der lex Hortensia von 286 vollzog. Denn das Plebiszit ist, im emphatischen Sinn, nicht mehr Gutheißung, sondern scitum, eigener Willensakt der Plebs - und diese Auffassung ist für unsere Frage um so bedeutsamer, als gerade die privatrechtliche Gesetzgebung sich in Zukunft meist durch solche Plebiszite vollzog. Dagegen blieben administrative Maßnahmen, wie die Gründung von coloniae und der Verkehr mit Ausländern, offenbar gewöhnlich der magistratischen lex data, schwerwiegende oder neuartige Materien dem Komitialgesetz vorbehalten. Schlußstein dieser Interpretation wäre der Nachweis, daß es immer und nur dann der lex rogata (oder eines Plebiszits) bedurft hätte, wenn ein Gesetz über eine zivilrechtliche Position des civis oder über seine „Grundrechte", d. h. über Befugnisse des Magistrats gegenüber dem Bürger, verfügt hätte28. Für das ius civile läßt sich indessen der Natur der Sache nach ein solcher Nachweis in Strenge nicht führen. Während nämlich ein solcher Gesetzesvorbehalt für die Strafgewalt der Magistrate (Multgrenzen, Provokation), für gewisse Grenzen der Koerzition (Fesselung und Geißelung) und auch für den Gerichtsschutz (legis actiones) wahrscheinlich gemacht werden kann, regeln Komitalgesetze und Plebiszite Materien des ius civile promiscue, ohne erkennbare Rücksicht darauf, ob damit in erworbene Rechtsstellungen des civis eingegriffen wurde oder nicht. Und umgekehrt wird sich zeigen, daß auch die lex rogata zu solchen Eingriffen nicht unbeschränkt befugt war (V2).
V. 1. Das bisherige Ergebnis ist dieses: Die Eigenschaft, ius oder iusturn zu sein, kam im ius civile ursprünglich nur individuellen Akten der Betätigung von Rechtsmacht zu, und diese Qualifikation bedeutete nicht Ubereinstimmung dieser Akte mit einer schon vorgegebenen allgemeinen Norm. Andererseits war die lex publica zwar zunächst „individuelle", dann aber bald auch generelle „Festsetzung" und in diesem letzten Fall dann allerdings eine allgemeine Norm. Dies bedeutet, daß ius und lex zunächst disparate Erscheinungen waren, die - außer dem Bezug auf rechtliches Zusammenleben schlechthin - kein einziges Merkmal gemein hatten und also nicht in ein eindeutig zu bestimmendes Verhältnis zu
28 Die Frage wird meistens im Zusammenhang mit dem (negativen) Privilegienverbot oder der volksgesetzlichen Verbürgung der Freiheit von magistratischer Gewalt abgehandelt; s. nur Mommsen, Staatsr, III 10ff; A.Heuß (o. Fn. 26); im Hinblick auf den Gesetzesadressaten auch Bleicken 182. Denn in den Quellen stellt sie sich vor allem für die gesetzlichen Grundlagen der Koenzition, der Multen und des Kapitalverfahrens der Magistrate, während sie für Freiheit, Bürgerrecht, Eigentum, Erbrecht und andere Grundstellungen des ius civile eher als Frage nach den volksgesetzlichen Grundlagen der Urteilsgerichte oder nach der Resistenz des lus gegen abändernde Gesetze (u. V 2 GaE) erscheint.
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setzen waren. Insbesondere bestimmte sich ursprünglich die Rechtmäßigkeit einer Herrschaftsposition oder Machtbetätigung des ius civile nicht nach dem Inhalt einer lex publica. Daraus folgt denn auch, daß „Widersprüche" von ius und lex ursprünglich nicht als iVorwewkonflikt aufzufassen waren, die als zeitlicher Konflikt durch die Derogationsmaxime29 und als inhaltliche Kollision durch Auslegung oder durch die Maxime der lex specialis zu entscheiden gewesen wären. Ius und lex verhielten sich zueinander auch nicht einmal wie die nachmaligen „Rechtsschichten" (ius civile, honorarium, gentium): denn diese unterschieden sich zwar durch ihren Bestimmungsgrund (z. B. das ius honorarium als Reflex der prätorischen Jurisdiktion) und/oder durch verschiedene Geltungskraft (wie etwa den Vorrang des ius proprium Romanorum vor dem ius gentium quod inter omnes gentes peraeque custoditur: Gai I I ) , waren aber doch koexistierende Normenordnungen. 2. Dieses Bild aus der Frühzeit widerspricht so sehr der bereits in der späten Republik feststehenden Auffassung von Ius und Lex als Bestandteilen ein und derselben römischen Rechtsordnung, daß wir es noch weiter glaubhaft machen müssen. Wir fahnden im entwickelten Recht nach Rückständen eines älteren Zustandes, in dem ius und lex noch nicht unter der Derogationsmaxime standen. Als Relikt dieses Zustandes erscheinen vor allem die Symptome einer ursprünglichen Resistenz des Ius gegen abänderndes Gesetzesrecht30. Offenbar derogierte eine lex posterior nicht unter allen Umständen bestehendem Ius. Vielmehr stellt sich zuweilen die Frage, ob und in welchem Umfang die neue lex entweder bestehende individuelle Rechtspositionen (a) oder auch Regeln des älteren Ius als solche verändern oder aufheben könne (b, c). a) Das schwächste dieser Symptome ist dieses: Den Einfluß einer neu erlassenen lex auf bereits begründete individuelle Rechtsstellungen betrifft eine bekannte Kontroverse über die Rückwirkung der lex Atinia, die mit den Worten quod subreptum erit, eius rei aeterna auctoritas esto31 25 So explicit Liv. 9, 34, 6 sq. scriptae antiquae (sc. legi X I I tab.) derogat nova: ubi duae contrariae leges sunt, Semper antiquae obrogat nova; sc. Liv. 7, 12, 12 quod postremo populus iussisset etc.; gegen die Ursprünglichkeit des Prinzips Biscardi, R I D A 3 Bd. 11 (1964) 70; Stein, Reg. 1 9 f ; Bleicken 243. 30 Hierzu Jhering, Geist III 3 236 ff; Rotondi, Scr. I (Milano 1922) 1 ff; 373 ff; ArangioRuiz (o. Fn. 17) Nocera, II potere dei comizi e i suoi limiti (1940) 93 ff; Käser, AJ 32; R P R I 31.61 (vgl. 249 u. A. 39) u. jetzt: Verbotsgesetze 13 ff; Pugliese, Atti Verona (1953) 63 ff; Biscardi (o. F n . 2 9 ) ; Stein 14ff; de Martina, Cost. I 2 465 u. n . 3 4 (Lit.); Serrao, Partiti e classi 32 ff; 81 ff, 90 1 2 2 ; Bleicken 229 ff; Chorus, Handelen in strijd med de wet (1976) passim (s. Wieacker, T R 47, 277 ff). 31 Gell. 17, 7, 1 sqq; cf. Cic. Verr. II 1, 42, 109; Iul. D. 41, 3, 33 pr.; Inst. 2, 6, 2; Theoph. a. hl. Aus der weiter anschwellenden Lit. hier nur (neben den A. 30 Genannten):
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die Ersitzung von res furtivae auch durch Dritte12 ausschloß. Danach zweifelten die drei fundatores iuris M. Manilius, Brutus und P. Mucius, ob sie nur auf furta post facta oder auch antea facta anzuwenden sei". Auf den ersten Blick scheinen auch die fundatores (wie das klassische und das heutige Recht) in der Frage ein Problem der temporären Normenkollision zu sehen: von welchem Augenblick an treten die (noch andauernden) Voraussetzungen eines (noch nicht abgeschlossenen) Rechtserwerbs unter die Herrschaft eines inzwischen erlassenen neuen Gesetzes? Für die Entscheidung dieses Problems war die von den fundatores herangezogene grammatische Auslegung aus der präsentischen Bedeutung des Futurs „erit"14 genau am Platz. Indessen weist P. Stein zutreffend darauf hin, daß eine solche Interpretation das Zögern der älteren veteres nicht vollständig erklärt; dieses scheine vielmehr Symptom einer älteren Auffassung, wonach eine lex den Inhalt von ius nur authentisch deklarieren, nicht aber begründen oder abändern könne35 - oder, wie wir lieber sagen würden: wonach der Bestand einer dem bisherigen Ius entsprechenden Rechtsposition (hier der Anwartschaft auf Ersitzung einer resfurtiva) gegen eine abändernde Lex resistent blieb. b) Auch auf künftig begründete Ius-Positionen bezieht sich (und also größeres Gewicht hat) offenbar die vielerörterte Schlußklausel si quid ius
Käser, BIDR 65 (1962) 89ff; RPR I 127 u. A. 29-32; Mayer-Maly, SZ 79 (1962) 210 f (auch zu der hier wichtigen [A. 33] Datierung); Chorus, TR 35 (1967) 220 ff; Pritchard, L Q R 90 (1974) 387 ff. Auf die Unterbrechung der Ersitzung von res furtivae beschränkt das Gesetz Pugsley, RIDA 3 17 (1970), 259ff; s.a. Pugsley, The Roman Law of Property etc. (1972) 45 f; auf die Wegnahme von Grundstücken (und also agrarpolitische Motive) bezieht es Guarino, La coerenza di Mucio (Napoli 1981) 92 ff. 32 Zur Frage, ob wirklich schon die XII Tafeln (8, 17) die Ersitzung durch den Dieb ausdrücklich ausgeschlossen hatten, v. Lübtow Fs. Schulz 1 (1951) 263 ff u. ö.; de Visscher, RIDA '5 (1959) 460ff; Mayer-Maly, St. Betti 2 (Milano 1962) 487ff; Käser I 137 12 '. 53 Also auf die wenigen Fälle, in denen bei Erlaß des Gesetzes die Ersitzung schon begonnen, aber noch nicht vollendet war: so Stein 14. Wenn die lex Atinia schon vor Jahrzehnten ergangen war (so Daube, Forms of Legislation 22 1 ), war also die Diskussion rein akademisch; daher sehen Rotondi, Leges publicae 291 und Stein 23 den aktuellen Anlaß der Kontroverse vielmehr gerade im Erlaß der Atinia. 34 Gell. 17, 7, 3: sed. Q. Scaevola patrem suum et Brutum et Manilium viros adprime doctos quaesisse ait duhitasseque, utrumne in post facta modo furta lex valeret an etiam in ante facta: quoniam „subreptum erit" utrumque tempus videretur ostendere, tarn praeteritum quam futurum. Daran knüpft dann die subtile Klarstellung des Grammatikers P. Nigidius an, § § 4 sqq. 35 A . a . O . 17; s.a. SZ 84, 435. Zutreffend bleibt jedenfalls Biscardis Hinweis (o. Fn. 29), daß mit der zunehmenden Demokratisierung der Volksgesetzgebung diese Resistenz dahinschwand.
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non esset rogarier, eins ea lege nihil rogatur36. Nach unserer Hauptquelle Cic. Caec. 33, 95 fand sie sich in omnibus legibus; jedenfalls war sie so stehend, daß sie in einer Sigle des Valerius Probus erscheint37. Schon G. Rotondi hat die Klausel mit einer ursprünglichen impermeabilità des Ius in Verbindung gebracht38; und in einer einflußreichen Abhandlung von 1938 hat Arangio-Ruiz, gefolgt von Frezza und zunächst auch von Käser, aus ihr auf die Unabänderlichkeit des Ius durch Volksgesetz gefolgert39. Ahnlich sieht Stein in ihr ein weiteres Argument für die Annahme, daß die lex das Ius ursprünglich nur deklarieren, aber nicht begründen oder aufheben konnte. Diesen Folgerungen hat G. Pugliese in einer geistvollen Abhandlung früh widersprochen40. Seinem nächstliegenden Argument, der nicht zu leugnenden Beobachtung, daß ja immer wieder Komitialgesetze und Plebiszite zivilrechtliche Materien neu geregelt haben, ließe sich entgegenhalten, daß diese Gesetze nicht durchweg bestehende und in Zukunft neu entstehende Ius-Stellungen betrafen, und daß sie, wo dies geschah, auch für die Zukunft altüberlieferte Rechtsverhältnisse (wie libertas, civitas, dominium, hereditas, usucapio) jedenfalls nicht institutionell beseitigten, sondern nur modifizierten - wie so viele Zwölftafelsätze und noch die lex Atinia taten. Auch ob die Klausel wirklich erst zu einer Zeit üblich wurde, die ius und lex schon als konkurrierende Normen begriff wie Pugliese denkt - , läßt sich schwer entscheiden. Endlich läßt seine elegante Erklärung, die Aufrechterhaltung des älteren Ius beruhe eben gerade auf der Anordnung des Gesetzes selbst41, unerklärt, warum eine so auffallende Selbstbeschränkung des Gesetzgebers dann in omnibus legibus auftrat42. Am stärksten beeindruckt das Argument, die Klausel erhalte ja schon ihrem Wortlaut nach nicht etwa älteres Ius aufrecht, sondern erkläre nur die rogatio als solche für unwirksam (nihil rogatur); sie habe also vor allem Sanktionen gegen den Rogator im Auge, betreffe also gar nicht die
36 Cic. Caec. 33, 95; de dorn. 40, 106; dazu hier nur Mommsen III 355; Cosentini, ArchGiur 131 (1944) 133 ff; Luzzatto, StudDoc 15 Suppl. (1951) 105 ff; de Martino P 394ff; Käser, R P R I 31 10 (Lit.); Verbotsgesetze 17"; Bleicken 339ff. 37 3, 13; cf. 3, 2 eius hac lege nihil rogatur. 38 Scr. I 1 ff. w Arangio-Ruiz, Rariora 2 262, Käser AJ 239 f denken an den Bestandsschutz jeder fixierten Rechtsordnung (dagegen Bleicken 218 ff); O.Behrends, Sympotika Wieacker (1970) 22 an verfassungsrechtliche und sakrale Schranken; Chorus, Handelen passim an zwingendes Recht, insbes. an die Grundstellungen des ius sucessionis und proprietatis; zustimmend jetzt Käser, Verbotsgesetze 17 u. A. 17-19. 40 Atti Congr. intern. Verona II (Milano 1951) 61 ff. 41 A . a . O . 6 7 f ; doch s. Wieacker, SZ 84, 435. 42 Cic. Caec. 33, 94; durch die inschriftliche Überlieferung unterstützt; s. a. bei A . 3 7 .
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Wirkung des Gesetzes auf das ius. Offenbar spricht dabei das - zuletzt in Vespasians lex de imperio bezeugte - caput tralaticium de impunitate mit43, das nun wirklich den rogator von Sanktionen, etwa in der Art der griechischen ypacpfi Jtagavoixfjg44 freistellt. Allein dieses caput bezieht sich gerade nicht auf einen Verstoß gegen älteres Ius, sondern gegen frühere Gesetze. Die allgemeine Annahme, jenes ius non esse rogarier habe an der vollen Aufhebung des älteren Ius durch neue Gesetze nichts geändert, stößt sich offenbar auch an dem unbestrittenen Befund, daß alle älteren Gesetze, die Rechtsverhältnisse und Erwerbsvoraussetzungen des ius civile betrafen, leges imperfectae waren: sie griffen ins ius civile nicht unmittelbar ein, sondern durch mittelbare Sanktionen und/oder „flankierende" prätorische Remedien (exceptio, restitutio, rescissio, denegatio). Das ist schwer vereinbar mit der Vorstellung, ein Gesetz habe von jeher bestehendes Ius ändern dürfen. A fortiori folgt daraus, daß eine lex einmal erworbene Ius-Positionen nicht rückwirkend einschränken oder beseitigen konnte. Genau dies ist es, was Cicero Caec. 30, 78 gegen die sullanische lex Cornelia vorbringt, die den Einwohnern von Volaterrae strafweise das Bürgerrecht entzogen hatte. Dagegen konnte allerdings ein Gesetz künftig begründete Rechtsverhältnisse für die Zukunft modifizieren, einschränken oder an neue tatsächliche Voraussetzungen knüpfen45, etwa gegen den künftigen Erwerber einer res furtiva aeterna auctoritas anordnen (wie es die Atinia tat), oder die Verwirkung des Bürgerrechts an vorsätzliche Handlungen des Betroffenen knüpfen, wie es auch Ciceros Caecinarede für zulässig hält. c) Das stärkste Symptom einer ursprünglichen Selbstherrlichkeit des ius gegen die lex ist indessen das auffallende Phänomen der lex imperfecta selbst46. Vom hochklassischen Recht aus, dem wir die (kennzeichnend schulmäßige) Trichotomie verdanken47, erscheint sie als Anachronismus, insofern ihr als perfecta, als „regelrecht, komplett" nur jene lex gelten 43 Cic. ad Att. 3, 12, 3; fr. Tudertanum lin. 7; lex de imperio lin. 34 sqq; dazu Mommsen III 362 ff; Casavola, Lex Cincia (1960) 168 f; Biscardi (o. Fn. 29 a. E.) 70; Stein 20; Bleicken 231 ff; Magdelain 22. 44 Zu ihr H.J. Wolff, Normenkontrolle u. Gesetzesbegriff in d. att. Demokratie (1970). 45 So zutreffend Pugliese 72 f. 46 Ulp. Ep. 1, 1 sq; Macr. in somn. Scip. 2, 17, 13; CI 1, 4, 4. Dazu, in unserem Zusammenhang, Senn, Leges imperfectae, minus quam etc. (Paris 1902); Pugliese 77 ff; Frezza, Ius 11 (1961) 477ff; Casavola a . a . O . 168ff; Stein 14f; Bleicken 217ff; Chorus passim und jetzt eingehend Käser, Verbotsgesetze O f f , 62ff; sowie Selb in dieser Festschrift. 47 Sie ist ersichtlich der Klassifikation der grammatischen Tempora nachgebildet und (dementsprechend) nur durch (Pseudo-)Ulpians Elementarwerk überliefert. - In der Sache vermutete sakralen Ursprung Huvelin, Les tablettes magiques etc. (1902) 31 2 .
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konnte, die entgegenstehendes Ius durch Derogation unmittelbar beseitigt. Dagegen mußte die - historisch nicht wegzuleugnende - Tatsache, daß die älteren Gesetze, bis in die Mitte des 2. Jhs.48 hinein, entgegenstehendem Ius (d.h. der Wirksamkeit Ius-schaffender Parteiakte) nicht derogierten, den Späteren als Anomalie erscheinen. Für unseren Zusammenhang ist nun besonders aufschlußreich, daß die leges imperfectae spezifisch betreffen „transactions from which vested rights could have been acquired" 49 , daß sie also gerade den Erwerb absoluter Herrschaftsrechte durch Schenkung, Erbfolge, Legat oder Ersitzung verboten oder beschränkten. Hier wird besonders deutlich, daß sich die Resistenz oder „Impermeabilität" des Ius gegen neue leges nicht etwa aus dem Vorrang einer älteren Rechts Ordnung (etwa eines Gewohnheitsrechts) herleitet, welcher das Gesetzesrecht nicht derogieren könnte, sondern aus einer ursprünglicheren Beziehungslosigkeit der beiden Vorstellungssphären ius und lex. Von hier aus konnten die älteren Gesetze jene unmittelbare Ingerenz auf den Bestand einer durch Ius verbürgten Rechtsstellung oder Erwerbsanwartschaft gar nicht ins Auge fassen, die später als das Selbstverständliche („perfekte") erschien. Im Licht der gesetzesstaatlichen Ideologie der späten Republik wäre diese Schwäche der Gesetzgebung so erstaunlich, daß sie durch den Hinweis auf die unvollkommene Gesetzestechnik der Älteren50 allein nicht ausreichend erklärt wird. VI. Zur Abrundung fordert unsere Betrachtung noch eine kurze Darlegung der Wege, auf denen ius, vormals Qualifikation ziviler Rechtsherrschaft, die klassische Bedeutung einer allgemeinen Rechtsordnung annahm und damit der gesetzlichen Normenordnung der leges publicae strukturgleich wurde. Skizzieren wir die einzelnen Phasen dieses Prozesses. 1. Am leichtesten einsichtig ist der gedankliche Weg, der von der „Rechtmäßigkeit einer Herrschaftsposition" des ius civile zu der Bedeutung „gerichtlich festgestelltes ius" führte und damit zu jener Beziehung auf Akte des Jurisdiktionsmagistrats oder der Urteilsgerichte, die sich in den Komposita iudex, iudicium und im Denominativ iudicare ausspricht. Vermutlich war dies auch der erste Schritt zu ius als allgemeiner Regel: je mehr Urteile von „irrationalen" oder rein arbiträren Formen 48 Lex perfecta ist (teilweise) die lex Voconia (169 v. Chr.); zur lex Claudia de sociis (Liv. 41, 9, 9; 177 v. Chr.) Rotondi, Leges 200; volle zivilrechtliche Unwirksamkeit wohl erst in der lex Minicia (Gai. I 78 sqq): Käser, Verbotsges. 42. 49 Stein, Reg. 17. 50 So Pugliese, (o. Fn.40) 79 f.
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der Tatsachen- und Rechtsfeststellung zurückkamen, desto mehr konnten sie Präzedenzwirkung für rechtsähnliche neue Streitfälle entfalten, die sich allmählich zu dauernd beachteten Entscheidungsregeln verdichteten. Ius wurde jetzt wirklich zum ungeschriebenen Herkommen der Jurisdiktion und der Urteilsgerichte. Von hier aus konnten dann auch ohne Zwang Nebenbedeutungen abzweigen wie „Ort und Zeit der Jurisdiktion" und „gerichtlicher Eid".
2. Ein solches an Herkommen gebundenes Urteilen blieb freilich bei der fortschreitenden Differenzierung und Mobilisierung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zustände in der späten Königszeit und der frühen Republik auf die Dauer die Antwort schuldig, warum die (bisher hingenommene und nur im Streitfall durch Urteil autorisierte) Ausübung von Rechtsmacht auch einer Ordnung entspreche, die als inhaltlich gerecht, nämlich als gleichmäßig angewendet und sozial verträglich vorgestellt werden könne51. Auf diese Frage hat zuerst explicit die allgemeine gesetzliche Gebotsordnung geantwortet, die aus dem Ständekampf des 5.Jhs. hervorging: die X I I Tafeln. In ihnen sehen wir den entscheidenden Schritt zu der Vorstellung, daß die Rechtmäßigkeit konkreter Machtpositionen des Rechts auf ihrer Ubereinstimmung mit der allgemeinen Ordnung der Dezemvirn beruhe, welche der zur Mitsprache aufgestiegene exercitus centuriatus (in seiner Funktion als
comitiatus maximus) als lex publica, als Grundordnung des populus,
gutgeheißen und sich zu eigen gemacht habe. Wie schon zuvor angedeutet (IV 2), muß dahinstehen, ob diesem Gedanken bereits reale Vorgänge des 5.Jhs. zugrundeliegen, oder ob er einer Ideologie entstammt, die sich mit zunehmender Demokratisierung der Gesetzgebung ausbildete. Mit Sicherheit war dieses Verständnis der X I I Tafeln am Ende des 3. Jhs. voll ausgebildet, wie Aelius' Tripertita und die Anfänge der Annalistik bezeugen, welche die Tradition von der zweiten lex Valeria schuf (oder denn uns erhielt). Hält man dagegen daran fest, daß die X I I Tafeln selbst von großgriechischer Isonomie inspiriert sind, und daß dieses Ideal nach Ausweis des (freilich nach Sinn und Herkunft ziemlich dunklen) Privilegienverbots der letzten Tafel im Gesetz selbst zum Ausdruck kam: dann wird man die Anfänge dieses neuen Ius-Denkens noch früher ansetzen.
51 Zu den gedanklichen Schwierigkeiten, die sich aus dieser Erwartung ergeben mußten, vgl. hier nur Mitteis, RPR I (1908) 30 ff; Westrup, Introduction to Early Roman Law III 1 (Kopenhagen/Oxford 1939) 110 ff; de Franósa Ser. Ferrini 1 (Milano 1947) 311 ff; Broggini (o. Fn. 2) 37; Käser, Ius und lex, in Dtsch. Landesreferate z. VIII. Int. Kongr. f. Rechtsvergl. (Uppsala 1967) 3 ff, 13 ff (cf. IVRA 19, 322); St. Donatuti 2 (1973) 523 ff ( = Ges. Sehr. [1976] 153 ff; s. a. Ged. Schrift Dietz (o. Fn. 18); de los Mozos, La formación del concepto ius civile, in Rev. general de legislación 18/19 (1969) 529 ff; Tomulescu, IVRA 23 (1972) 128 (lex Quelle, ius Ergebnis); Bleicken 67ff (lex Instrument, ius sein Inhalt).
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Der dauernde Übergang zur plebiszitären Privatrechtsgesetzgebung der Tribüne bekundet jedenfalls seinen endgültigen Sieg gegen die Wende zum 3.Jh. v.Chr. 3. Mit Notwendigkeit zog dieses neue Verständnis auch ein neues Verhältnis von ius und lex nach sich. Die leges XII tabularum und ihre volksgesetzlichen Ergänzungen wurden nun fons omnis iuris52: die ausschließliche Quelle der iura wie der legis actionesDamit lernte man nunmehr auch Ius selbst als allgemeine Normenordnung verstehen eine Rechtsordnung, die nun als Resultat der Gesetzgebungsakte der Komitien und bald auch der concilia plebis erschien. Dies bedeutet zugleich eine ideologische Abwertung aller außergesetzlichen Ius-Bildung. Damals müssen sich die Anfänge einer Betrachtung gebildet haben, welche die Rechtsschöpfung der postdezemviralen pontifices und der iurisconsulti nur mehr als sola interpretatio legum gelten läßt, und die jedenfalls schon den Tripertita des Sex. Aelius ('interpretatto') und den ihm folgenden Zwölftafelkommentaren zugrundeliegt. 4. Am Ende stand die volle Assimilation, genauer: Homogenisierung des Ius mit der gesetzlichen Gebotsordnung. Ius, nun ganz verstanden als Inbegriff der gesetzlich legitimierten Rechtsregeln, näherte sich dem Geltungsmodus der lex publica soweit an, daß beide im öffentlichen Bewußtsein zu einer Rechtsordnung zusammenwuchsen: den iura oder leges populi Romani, wie es das Hendiadyoin ius lex(que) nun auch semantisch ausdrückte. 5. Erst im hohen Prinzipat machten sich neue Tendenzen geltend, die unbedingte Herrschaft der alten lex publica über das außergesetzliche Ius wieder einzuschränken. Dazu trug vor allem bei die wachsende Autorität der Juristen im Kaiserdienst; ferner die zunehmende philosophische Reflexion auf ius gentium und ius naturale, die der neue Hellenismus des 2.Jhs. förderte und vielleicht auch schon die Konfrontation mit den regionalen Rechtsordnungen und Gewohnheiten der Provinzen. Es ist doch wohl schon Julian, der in D. 1, 3, 32, 1 i. f. die Derogation der leges durch den vielumstrittenen tacitus consensus omnium erwägt, und 52 Liv. 3, 34, 6 sq Cic. de orat. 1, 44, 195; 143; Pomp. D. 1, 2, 2, § 6 ex hisfluere coepit ius civile; die gleiche Einschätzung bei Dion. Hai. 10, 3, 4; Diod. 2, 26, 1; Afrikan bei Gell. 20, 1, 4 sqq; in abweichender Beleuchtung Tac. ann. 3, 27 (finis aequi iuris). 53 Kennzeichnend der ausdrückliche Bezug der Formulare der emptio familiae (Gai. 2, 104) und der solutio per aes et libram (Gai. 3, 174) auf die lex publica (sc. X I I tab. 6, 3; 5.1); dazu, mit teils abweichender Deutung, Rotondi, Leges 9; Stein, Reg. 13 f; St. Volterra 2 (1971) 314 (lex die zeugenkundige mancipatio usw. selbst); Magdelain, Loi 69 ff (junge Formulare, bereits unter dem Einfluß des späteren Gesetzesbegriffs); vgl. ferner Liebs, Sympotika Wieacker (1970) 128 f; Kunkel, SZ 88 (1971) 93 ff; O. Behrends, Zwölftafelprozeß 131 f; 174"; 203 A . 4 7 i.f.
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es ist Pomponius, der D. 1, 2, 2 § 12 mit der Formel vom ius sine scripto quod in sola prudentium interpretatione consistit der alten Beschränkung der Jurisprudenz auf die sola legum interpretatio eine überraschende positive Wendung gibt in einen Auftrag der Jurisprudenz zur Neuschöpfung von außergesetzlichem Ius. Doch dies ist eine neue lange Geschichte, die hier nicht mehr erzählt werden kann.
Zivilrecht
Auseinandersetzung, Rückabwicklung, Entgelt Leistungen an den Partner während der Ehe oder des nichtehelichen Zusammenlebens und ihre Auswirkungen im Fall der Scheidung oder Trennung R O B E R T BATTES
Der Jubilar hat sich mehrfach eingehend zu Grundfragen des Eherechts geäußert'. So mag es gestattet sein, ihm einige Überlegungen zu den Prinzipien des Vermögensausgleichs unter Ehegatten und beim nichtehelichen Zusammenleben zu widmen. I. Das Problem Eheleute stehen sich nach unserer Rechtsordnung auch im Hinblick auf das Vermögensrecht der Ehe als unabhängige Rechtssubjekte gegenüber2 und verwalten ihr Vermögen selbständig5, wenn man von dem heute seltenen Fall der Gütergemeinschaft einmal absieht. Leistungen, die ein Ehepartner an den anderen erbringt, können gleichwohl im Hinblick auf das bestehende Eheband besonderen Regeln unterliegen, die vor allem im Scheidungsfall Bedeutung erlangen. Dies hat sich insbesondere an der Behandlung der Hausbaufälle4 und der Ehegattenmitarbeit5 gezeigt. Haben Mann und Frau ohne Ehe zusammengelebt, so werden nach der Trennung ebenfalls häufig Ansprüche erhoben, die auf Rückgewähr erbrachter Leistungen oder Auseinandersetzung angesammelter Vermö-
1 Hübner, Eheschließung und allgemeine Wirkungen der Ehe als dogmatisches Problem, FamRZ 1962, 1 - 8 ; Kommentierung der §§1353-1362 BGB und § § 2 5 - 2 7 EheG in der lO./ll.Aufl. des Staudinger. 2 Anders etwa im alten Common Law, das Mann und Frau als „one person in law" betrachtete, siehe dazu Bromley, Family Law, 6th edition 1981, S. 108. 3 Vgl. §§1363 Abs. 2, 1364, 1414 BGB; Staudingerl Hübner Rdz.24ff vor § 1353. 4 B G H Z 65, 320; B G H N J W 1982, 1093 (1094); zu dieser Rechtsprechung neuestens Kühne, J R 1982, 237 (238). Reinicke/Tiedtke, WM 1983, 946 ff; Holzhauer, JuS 1983, 830 ff. 5 S. statt aller B G H Z 4 7 , 1 5 7 (162); 84, 361 (367f); Fenn, Die Mitarbeit in den Diensten Familienangehöriger, 1970; Lieb, Die Ehegattenmitarbeit im Spannungsfeld zwischen Rechtsgeschäft, Bereicherungsausgleich und gesetzlichem Güterstand, 1970; Burckhardt, Der Ausgleich für Mitarbeit eines Ehegatten im Beruf oder Geschäft des anderen, 1971.
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Robert Battes
genswerte gerichtet sind6. Gesetzliche Regeln wie für die Ehe gibt es hier nicht, doch hat sich auch in diesen Fällen erwiesen, daß der besondere Charakter der Beziehung sich auf Entstehung, Inhalt und Umfang etwaiger Ausgleichsansprüche auswirken kann (dazu unten II c). Die folgenden Zeilen sind dem Versuch gewidmet, die Wertungen des Eherechts in diesem Bereich zu verdeutlichen und sodann zu prüfen, ob und gegebenenfalls mit welchen Modifikationen sie auf das nichteheliche Zusammenleben übertragen werden können. II. Die zwei Lösungswege Die Konflikte, um die es hier geht, treten immer dann auf, wenn die Ehe geschieden wird oder das Zusammenleben endet. Sie haben ihre Ursache darin, daß die engen persönlichen Beziehungen einen Partner veranlaßt haben, an den anderen Leistungen zu erbringen; für diese Leistungen hat er einerseits kein Entgelt erhalten, solange die persönliche Beziehung intakt war, andererseits ist aber auch eine ausdrückliche Vereinbarung über den späteren Ausgleich nicht getroffen worden. Schließlich sei vorläufig unterstellt, daß auch die Merkmale der Schenkung nicht erfüllt sind7. a) Die
„Auseinandersetzungslösung"
Zur Lösung dieser Konflikte kommen grundsätzlich zwei Wege in Betracht: Den einen Weg kann man schlagwortartig als „Auseinandersetzungslösung" bezeichnen; konkret ist hier entweder der Zugewinnausgleich oder die Auseinandersetzung nach den Regeln über die BGBGesellschaft gemeint. Auch wenn Leistungen und Vermögensverschiebungen nicht zur Bildung eines gemeinsamen Vermögens im Sinne der „dinglichen" Vermögensordnung geführt haben, wird hierbei ein bestimmter Teil des auf beiden Seiten vorhandenen Vermögens wirtschaftlich so behandelt, als sei es gemeinschaftlich. Die Auseinandersetzung mündet dabei in einen Ausgleichsanspruch des einen Partners gegen den anderen8. Ein solcher Anspruch entsteht jedoch nur dann, wenn Vermögenswerte vorhanden sind, auf die sich die Auseinandersetzung beziehen kann. Ausgangspunkt für die Berechnung des Anspruchs sind die in die Auseinandersetzung einzubeziehenden Vermögensgegenstände mit ihrem Wert zur Zeit der Auseinandersetzung, nicht aber die
6 S. dazu Buttes, Nichteheliches Zusammenleben im Zivilrecht, 1983, Rdn. 33 ff und 58 ff. 7 Näheres zum Rechtsgrund unten IV b) 1. 8 RGZ 166, 160 (164 f); BGH WM 1973, 296; 1974, 1162 (1164); näher dazu MünchKomm./Ulmer Rdn. 10 ff zu § 730.
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Leistungen, die möglicherweise zur Ansammlung dieser Werte geführt haben. Dies bedeutet einerseits, daß Leistungen unter den Partnern ohne jeden Ausgleich bleiben, wenn und soweit ein zur Auseinandersetzung geeignetes Vermögen nicht vorhanden ist. Man denke an den Fall, daß zwar ein Ehepartner den anderen unterhalten hat, das zur Verfügung stehende Einkommen jedoch in vollem Umfang für den laufenden Konsum verwendet worden ist. Andererseits führt die Auseinandersetzungslösung häufig auch zu einer Beteiligung an Wertsteigerungen, so daß der Ausgleichsanspruch einen größeren Umfang haben kann als die Leistungen, um deren Ausgleich es geht. b) „Rückabwicklungslösung" und Arbeitsentgelt Der Auseinandersetzungslösung steht ein Modell gegenüber, das man als „Rückabwicklungslösung" bezeichnen könnte: Aufgrund der Regeln über die ungerechtfertigte Bereicherung 9 , eventuell auf dem U m w e g über den Schenkungswiderruf 10 , oder unter dem Gesichtspunkt des „Wegfalls der Geschäftsgrundlage" kommt es zu einer Rückgewähr der erbrachten Leistung selbst; ob sich diese im Falle des Bereicherungsanspruchs nach §818 III BGB auf den noch vorhandenen Vermögenszuwachs beschränkt, richtet sich danach, ob die Voraussetzungen der §§ 818 IV - 820 BGB erfüllt sind und ist daher nicht selbstverständlich. Ausgangspunkt der Berechnung ist und bleibt die Leistung und ihr Wert. Im Rahmen dieser Überlegungen ist nun von entscheidender Wichtigkeit, daß Auseinandersetzung und Rückabwicklung als Rechtsfolgen von verschiedenen Zielen bestimmt sind: Die Rückabwicklung soll eine Vermögensverschiebung ungeschehen machen, einen früheren Zustand soweit wie möglich wiederherstellen, während die Auseinandersetzung die einmal entstandene Gemeinsamkeit der Beteiligten für den Zeitraum bestehen läßt, der zwischen der Leistung und dem Ende der persönlichen Beziehungen vergangen ist. Die Auseinandersetzung hebt die Gemeinsamkeit zwar für die Zukunft auf, verwirklicht aber zugleich den Gemeinschaftswillen für die vergangene Zeit, weil der Ausgleichsanspruch grundsätzlich jeden Partner an dem Ergebnis der Gemeinsamkeit beteiligt, insbesondere Gewinne und Verluste gleichmäßig verteilt. Die Lehre von der fehlerhaften Gesellschaft verdankt bekanntlich ihre Entstehung nicht zuletzt dem Umstand, daß Rechtsprechung und Literatur
' §§812 ff BGB. 10 §§530 ff BGB.
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die Rückabwicklung eines vollzogenen Gesellschaftsverhältnisses nicht für praktikabel halten11. Soweit im Fall der Ehegattenmitarbeit ein schlüssig vereinbartes Arbeitsverhältnis für möglich gehalten wird12, kommt das Ergebnis wirtschaftlich einer Rückabwicklung sehr nahe, weil auch hier das Risiko für den Erfolg der Leistung nicht gemeinsam getragen, sondern bei dem Ehepartner belassen wird, dem die Dienste geleistet worden sind. Schon aufgrund des Vertragsinhalts gilt das gleiche, wenn man die Vereinbarung eines Darlehens annimmt.
III. Auseinandersetzung und Rückabwicklung im Eherecht Die im Gesetz niedergelegte Vermögensordnung der Ehe ist nach wohl überwiegender Ansicht darauf zugeschnitten, Leistungen eines Ehepartners an den anderen grundsätzlich nur im Rahmen einer Auseinandersetzung zu berücksichtigen und die Rückgewähr solcher Leistungen für den Regelfall auszuschließen13. So enthalten die Vorschriften über den Zugewinnausgleich auch besondere Regelungen über die Anrechnung von Zuwendungen unter Ehepartnern14, wenn diese Regeln auch möglicherweise unnötig kompliziert ausgefallen sind. Bemerkenswert ist ferner, daß ein Zugewinnausgleich nicht nur dann stattzufinden hat, wenn die Ehe durch den Tod eines Ehepartners aufgelöst wird15, sondern vor allem für den Fall der vorzeitigen Beendigung der Ehe durch Scheidung bestimmt ist16. Sogar dann, wenn die Ehe von Anfang an durch das Vorliegen von Aufhebungs- oder Nichtigkeitsgründen in Frage gestellt war, hat nach ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung17 im Regelfall ein Zugewinnausgleich stattzufinden. Gerade in der Diskussion um die Ehegattenmitarbeit ist betont worden, daß der mitarbeitende Ehepartner in erster Linie durch den Zugewinnausgleich an den Früchten der gemeinsamen Bemühungen beider Eheleute zu beteiligen sei18. Diese, auch Wertsteigerungen einschlie11 S. statt aller B G H Z 55, (8); 62, 20 (26 f); Westermann, Personengesellschaftsrecht Rdn. 763 f. 12 B A G FamRZ 1974, 89. 13 B G H Z 65, 320 (323 ff); B G H N J W 1982, 1093 (1094). 14 § 1380 B G B ; streitig ist, ob auch § 1374 II BGB für Zuwendungen unter Ehegatten gilt, s. dazu B G H N J W 1982, 1093 (1094); kritisch dazu Kühne, J R 1982, 237; Reinicke/ Tiedtke, W M 1982, 946 ff; Holzhauer, JuS 1983, 830 ff. 15 §1371 BGB. 16 § 1372 BGB. 17 § 2 6 EheG. 18 Müller-Freienfels, Eranion für Maridakis 1963, Bd. II S. 389ff (395); ders., Festschrift für Nipperdey 1965 I, S. 651 ff; daß die Regeln über den Zugewinnausgleich nicht immer zu einem gerechten Ergebnis führen, steht auf einem anderen Blatt, s. dazu statt aller Gernhuber, Familienrecht, 3. Aufl. 1980, S.221f.
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ßende" Beteiligung entspreche dem „Wesen der Ehe" wie die daraus notwendigerweise folgende Risikoverteilung auf beide Ehepartner20; man will also den mitarbeitenden Ehepartner nicht durch einen Lohnoder Bereicherungsanspruch von dem Risiko entlasten, daß sich die Mitarbeit bei dem anderen Partner nicht in dauerhafter Vermögensvermehrung niedergeschlagen hat. Daraus folgt andererseits, daß die aufgrund der Mitarbeit angesammelten und am Ende der Ehe noch vorhandenen Vermögenswerte auch dann in den Ausgleich einzubeziehen sind, wenn durch die Mitarbeit zugleich Unterhaltspflichten erfüllt worden sein sollten oder die Mitarbeit den üblichen Rahmen nicht überschritt20'. Gleichwohl haben Literatur und Rechtsprechung auf Ehegattenmitarbeit und Beiträge zum Hausbau nicht selten Rückabwicklungsregeln angewendet21. Gerade die eingehende Diskussion über diese Fallgruppen hat aber eine zunehmende Tendenz zur Auseinandersetzungslösung auch in diesen Bereichen hervorgebracht: Durch die in der Begründung sicher anfechtbare22 Konstruktion einer stillschweigend vereinbarten Ehegatteninnengesellschaft hat die Rechtsprechung erreicht, daß die unter Mitarbeit eines Ehepartners angesammelten Vermögenswerte (schuldrechtlich) auch in den Fällen wie gemeinschaftliches Vermögen behandelt werden konnten, in denen der Zugewinnausgleich nicht zum Ziel führt23. Dies bedeutet im Ergebnis, daß dem mitarbeitenden Ehepartner gegen den anderen ein Geldanspruch gewährt wurde, dessen Höhe sich aus der fiktiven Auseinandersetzung ergab24. Eine Tendenz zur Auseinandersetzungslösung zeigt sich auch darin, daß der B G H bereits seit einigen Jahren gegen heftigen Widerspruch25 die Beiträge zum Hausbau in der Weise nach den Regeln über den Zugewinnausgleich behandelt, daß er sie als eine Art Vorschuß auf den
" BGHZ 61, 385 (388); Soergel/Lange Rdn. 8 zu § 1376. In diesem Sinne etwa BGHZ 8, 249 (253); 65, 322; Beitzke, Familienrecht, 23. Aufl. 1983, S. 67; Gernhuber, (o. Fn.18) S.222. 20' So zutreffend Lieb, a.a.O. (Fn.5) S. 149ff; anders anscheinend noch immer die überwiegende Meinung, vgl. MünchKomm/Wac^e Rdn. 24 zu §1356; Beitzke, Familienrecht, 23. Aufl. 1983, S.67f. 21 RGZ 163, 249 (251) unter Wiedergabe einer unveröffentlichten Entscheidung vom 15.12.1939; BGH FamRZ 1968, 23 (24); NJW 1974, 2045 (2046); OLG Düsseldorf FamRZ 1976, 344 (345f); Fenn, a.a.O. (Fn.5) S.227ff; FamRZ 1968, 291 ff. 22 Vgl. zur Kritik etwa Lieb, a. a. O. (Fn. 5) S. 5 ff; Fenn, a. a. O. (Fn. 5) S. 212 ff; ders., FamRZ 1968, 291 ff (294 f). 23 Zuerst BGHZ 8, 249 (256). 24 S. oben Fn.8. 25 Kühne, JZ 1976, 487 (488); ders., JR 1982, 237 (238); MünchKomm/Gera/wier, vor §1363, Rdn. 20 ff. 20
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zu leistenden Zugewinnausgleich ansieht und den Wert der Zuwendung auf den Ausgleichsanspruch anrechnet26. Bis vor kurzem war allerdings offengeblieben, ob nicht eine Rückgewähr solcher Beiträge unter dem Gesichtspunkt des Wegfalls der Geschäftsgrundlage wenigstens insoweit anzuordnen sei, als der Wert der Zuwendung den Umfang des ohne Zuwendung zu leistenden Ausgleichs überstieg27. Inzwischen hat nun der IX. Senat ausgesprochen, auch diese Fälle seien nach den Prinzipien über den Zugewinnausgleich zu lösen: Der Ehepartner, der von dem anderen „zuviel" erhalten habe, solle seinerseits zum Zugewinnausgleich verpflichtet sein28. Unabhängig davon, ob die Begründung dieser Entscheidung in allen Punkten haltbar ist29, zeigt sich auch darin jedenfalls eine deutliche Tendenz, Vermögensverschiebungen während der Ehe möglichst vollständig den Regeln des gesetzlichen Güterstandes zu unterwerfen und damit im Sinne der Auseinandersetzungslösung zu behandeln. Soweit Rechtsprechung oder Literatur die Anwendung des Gesellschaftsrechts ablehnen oder gar nicht in Betracht ziehen, wird auf andere Weise nach Wegen für einen Ausgleich gesucht; etwa über das schlüssig vereinbarte Arbeitsverhältnis30, einen besonderen familienrechtlichen Ausgleichsanspruch31, den Wegfall der Geschäftsgrundlage32 oder die condictio ob rem33. IV. Auseinandersetzung und Rückabwicklung bei Beendigung des nichtehelichen Zusammenlebens a) Der Stand der Judikatur Daß die Situation beim nichtehelichen Zusammenleben weniger eindeutig ist als bei der Ehe, kann schon deshalb nicht überraschen, weil es für eine derartige Beziehung im Gegensatz zur Ehe an einer unmittelbar anwendbaren gesetzlichen Ausgleichsregelung fehlt. Bisher hat auch niemand die Forderung erhoben, das nichteheliche Zusammenleben nach den Regeln über das gesetzliche Güterrecht der Ehe zu behandeln34. 2'
BGHZ 65, 320 (322 ff); 68, 299 (302 f). BGHZ 65, 320 (324). 28 BGH NJW 1982, 1093 (1094). 29 Kritisch Kühne, JR 1982, 237; im wesentlichen zustimmend Reinicke/Tiedtke, WM 1982, 946 ff; Holzbauer, JuS 1983, 830 ff. 30 Jedenfalls grundsätzlich bejahend, wenn auch in casu ablehnend BAG FamRZ 1974, 89. 31 Gemhuber, Familienrecht, 3. Aufl. 1980, S. 220 ff. 52 Erwogen in BGHZ 65, 320 (325). 33 Fenn, a.a.O. (Fn.5) S.227ff. 34 Dagegen ausdrücklich OLG Saarbrücken NJW 1979, 2050; Derleder, NJW 1980, 547; Evans/v. Krbek, JR 1976, S.241; Lipp, AcP 180, 561 m. w. N.; Meier-Scherling, 27
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Gesellschaftsrechtliche Auseinandersetzungsregeln will der B G H auf das nichteheliche Zusammenleben nur unter der Voraussetzung anwenden, daß die Beteiligten durch gemeinsame Anstrengungen einen konkret faßbaren35 Vermögenswert geschaffen haben, der ihnen „nach ihrer Vorstellung auch gemeinsam gehören sollte"36. Andererseits finden sich aber auch nur wenige Entscheidungen, in denen ein Anspruch auf Rückgewähr von Leistungen eines Partners an den anderen gewährt wird37. Viele Erkenntnisse lehnen mit den unterschiedlichsten Begründungen jeden Ausgleich ab: In einem Teil dieser Fälle ging es um wiederkehrende Leistungen während des Zusammenlebens wie Haushaltsführung38, Pflege39, Beköstigung40 oder Zahlung der Miete für die gemeinsame Wohnung41. Hatte ein Partner im Interesse des anderen einen Kredit aufgenommen, so wurden auch die Tilgungsraten in dieser Weise behandelt, soweit sie vor der Trennung geleistet worden waren42. Die Rückgewähr wird hier ebenso wie jeder Lohnanspruch mit der Begründung abgelehnt, beim nichtehelichen Zusammenleben stünden die persönlichen Beziehungen derart im Vordergrund, daß die Partner nicht miteinander abrechneten, sondern ihre gegenseitigen laufenden Leistungen als gleichwertig behandelten; diese hielten sich nach der Vorstellung der Partner „die Waage"43. Der II. Senat, der nunmehr für Fragen der Auseinandersetzung nach dem Ende des nichtehelichen Zusammenlebens allein zuständig ist44, verneint neuerdings sogar jeden Ausgleichsanspruch in Fällen, in denen ein Partner kurz vor der Trennung erhebliche Aufwendungen gemacht hatte, die auf der Seite des anderen zu einer meßbaren und teilweise auch länger fortdauernden Vermögensvermehrung führten45. DRiZ 1979, 296; Schlüter, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1981, S. 17; Simon, JuS 1980, S.253; AK BGB/Münder, Anh. §1302, Rdn.15; dafür aber de lege ferenda AK BGB /Fieseier, Rdn. 12 vor § 1363. 35 BGH FamRZ 1983, 791. * BGHZ 77, 55 (56 f); BGH NJW 1981, 1502 (1503); NJW 1982, 2863 (2864). 37 Soweit ersichtlich nur OLG Hamm NJW 1978, 224 zu einem Fall zweifelsfreien „groben Undanks". 3g BGH FamRZ 1960, 129; OLG München FamRZ 1980, 239; LG Wiesbaden FamRZ 1960, 152. 3 ' LG Berlin FamRZ 1979, 503. 40 OLG Celle, OLGZ 1970, 326; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1971, 646; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1981, 253. 41 BGH FamRZ 1960, 129; OLG Frankfurt/M. FamRZ 1971, 646. 42 BGH NJW 1981, 1502 (1503). 43 BGH NJW 1980, 1520 (1521); NJW 1981, 1502 (1503); OLG München FamRZ. 1980, 239 (240); OLG Frankfurt/M. FamRZ 1981, 253; FamRZ 1982, 265 (266). 44 Vgl. Geschäftsverteilungsplan 1982, abgedruckt in BAnZ 1982, Beilage 5, S. 4 ff. 45 BGH NJW 1982, 1055; FamRZ 1983, 1213 (in beiden Fällen handelte es sich um Investitionen auf dem Grundstück des anderen Partners).
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b) Kritik Die folgenden Überlegungen gehen von der - heute nicht mehr unbestrittenen 46 - Hypothese aus, daß die Institution Ehe und damit auch die Unterscheidung zwischen Ehe und nichtehelichem Zusammenleben notwendig und sinnvoll sind. Aus dieser Hypothese folgt zunächst, daß Ehe und nichteheliches Zusammenleben unterschiedliche Rechtsfolgen nach sich ziehen können, und daß die Anwendung eherechtlicher Normen auf einzelne Konflikte im Zusammenhang mit dem nichtehelichen Zusammenleben zwar nicht von vornherein ausgeschlossen ist, wohl aber jeweils besonderer Begründung bedarf, die eine Analogie zu rechtfertigen vermag47. Demgemäß wird zunächst zu prüfen sein, ob die nach dem Ende des nichtehelichen Zusammenlebens auftretenden Konflikte mit den Instrumenten des allgemeinen Zivilrechts, insbesondere des Schuldrechts, zu lösen sind; soweit dies nicht der Fall sein sollte, muß überlegt werden, ob einzelne Regeln des Eherechts analog herangezogen werden können oder besondere Regeln für das nichteheliche Zusammenleben erforderlich werden. Ausgangspunkt ist die Frage nach dem Rechtsgrund von Leistungen eines Partners an den anderen. Bereits an anderer Stelle ist der Vorschlag begründet worden, diese nicht nur in den vom BGH gezogenen engen Grenzen als Beiträge zum Gesellschaftszweck „gemeinsames Wirtschaften" zu behandeln48. Das führt dann zur Auseinandersetzungslösung. Für die Fälle, in denen die Leistung in den Zusammenhang eines gemeinsamen Wirtschaftens nicht eingeordnet werden kann, und mit Rücksicht auf die einschränkende Auffassung des BGH soll vor allem der Nachweis versucht werden, daß notwendigerweise eine Rückabwicklung in Betracht gezogen werden muß, wenn man eine Auseinandersetzung nicht für möglich hält, die Versagung jedes Ausgleichsanspruchs dagegen im Regelfall nicht gerechtfertigt werden kann. 1. Zum Rechtsgrund der Leistungen Die Rechtsprechung hat, wie schon erwähnt, in zahlreichen Fällen die Rückabwicklung von Leistungen eines Partners an den anderen mit der Begründung abgelehnt, die persönlichen Beziehungen ständen im Vordergrund und die Leistungen hielten sich nach der Vorstellung der
44 Kritik daran erhebt sich anscheinend vor allem in England, s. dazu Clive, Marriage: An unnecessary legal concept, in Eekelaar/Katz (Hrsg.), Marriage and Cohabitation in contemporary Societies, Toronto 1980, S. 71 ff. 47 S. dazu Battes, (Fn.6) Rdn.6ff, sowie D.Schwab, Familienrecht, Rdn.29.
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" Battes, (Fn. 6) Rdn. 71 f und 73 ff.
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Beteiligten die Waage49. Daß sich aus der Tatsache des nichtehelichen Zusammenlebens ein Rechtsgrund für solche Leistungen ergibt, scheinen die Gerichte somit anzuerkennen; soweit dies nicht ausdrücklich geschieht, läßt sich die Anerkennung jedenfalls aus dem Hinweis auf die persönlichen Beziehungen, die Gegenseitigkeit der Leistungen und die Vorstellungen herleiten, die die Partner nach Ansicht der Gerichte zu diesen Leistungen bestimmt haben. In den Begründungen wird jedoch bei der Ablehnung von Ausgleichsansprüchen der Rechtsgrund der Leistungen nie genauer bezeichnet. Will man jedoch feststellen, ob dieser Rechtsgrund mit der Trennung entfallen ist oder ob eine Auseinandersetzung in Betracht kommt, so kann die Frage nach dem Rechtsgrund nicht ungeprüft vernachlässigt werden. Der Hinweis auf die Gegenseitigkeit der Leistungen und die vorherrschende Rolle der persönlichen Beziehungen könnte es nahelegen, Leistungen eines Partners an den anderen in weitem Maße als Beiträge zur Erreichung eines Gesellschaftszwecks anzusehen, den man als „gemeinsames Wirtschaften" 50 oder „Wirtschaften aus einem Topf" 51 oder „gemeinsame Erfüllung materieller Lebensbedürfnisse" 52 bezeichnen könnte. Daß das Recht der BGB-Gesellschaft hier zu praktikablen Lösungen führen kann, wurde bereits an anderer Stelle dargelegt53. Indessen bejaht die Rechtsprechung bisher eine Innengesellschaft unter den nichtehelich zusammenlebenden Partnern nur dann, wenn Leistungen des einen an den anderen dazu bestimmt waren, einen „gemeinsamen Wert zu schaffen", „der ihnen nach ihrer Vorstellung auch gemeinsam gehören sollte" 54 . Dies schließt eine Auseinandersetzung nach Gesellschaftsrecht insbesondere für die Fälle aus, in denen sich aufgrund der Leistungen des einen zwar in der Hand des anderen Partners Vermögen angesammelt hat, dies aber nicht von vornherein so geplant war, sondern sich als Folge gemeinsamen Wirtschaftens nach und nach ergeben hat. Deutlich wurde dies zum Beispiel an einem Fall55, in dem der Mann seine sämtlichen Einkünfte über ein Konto der Frau geleitet hatte. Als bei ihrem Tod das Konto einen erheblichen Aktivsaldo aufwies, versagte das O L G Frankfurt dem Mann jeden Ausgleichsanspruch und prüfte nicht näher, ob der angesammelte Kontenbestand aus gemeinsamen
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50 51
52 53 54 55
Vgl. die Nachweise in Fn. 43. Battes, (Fn. 6) Rdn. 9, 12 und passim. So das Bundesverwaltungsgericht zu § 122 BSHG in BVerwGE 15, 306 (312 f). Battes, Z H R 143 (1979), S.394. S. o. Fn. 48. S. o. Fn. 43. O L G Frankfurt/M. FamRZ 1982, 265.
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Anstrengungen erwachsen und daher nach Gesellschaftsrecht auseinanderzusetzen sein könnte. Die Gründe ergeben allerdings nicht eindeutig, ob sich für den Mann bei einer Auseinandersetzung nach Gesellschaftsrecht ein Ausgleichsanspruch gegen die Erben der Frau ergeben hätte56. Der B G H " versagte jeden Ausgleich in einem Fall, in dem die Frau Eigentümerin eines Hauses war und der Mann sowohl eine Ölrechnung allein bezahlt als auch Handwerksarbeiten am Haus hatte ausführen lassen. Da das Zusammenleben kurz danach zu Ende gegangen war, hätte es wohl nahe gelegen, für das noch vorhandene Heizöl eine Auseinandersetzung in Betracht zu ziehen, während für die Handwerkerrechnungen ein Rückabwicklungsanspruch des Mannes nicht ganz fern gelegen hätte, da durch die Reparaturen der Wert des Hauses vermutlich erhöht worden war. Erst recht gilt dies für den vor kurzem entschiedenen „Diskotheken-Fall" 58 : Nach der Feststellung des O L G hatte hier der Mann etwa zwei Jahre vor der Trennung fast 74 000,- D M in das Haus der Frau gesteckt. Auch hier lehnte der B G H jeden Ausgleich ab. Die Gerichte scheinen also einerseits anzunehmen, die Leistungen hätten einen Rechtsgrund gehabt, andererseits aber wollen sie anscheinend einer Auseinandersetzung selbst dann nicht nähertreten, wenn sich aufgrund des gemeinsamen Wirtschaftens in der Hand eines Partners Vermögen angesammelt hat. Wäre dies richtig, so müßte der angenommene Rechtsgrund so beschaffen sein, daß er auch dann jedem Ausgleichsanspruch entgegenstünde, wenn sich die Partner zu Lebzeiten beider und vielleicht auch früher als erwartet getrennt haben. Unterhaltsansprüche kommen als Rechtsgrund schon deshalb nicht in Betracht, weil sie nur durch die Ehe oder Verwandtschaft begründet werden können 5 '. Leistungen, die der Erfüllung laufender Lebensbedürfnisse gedient haben, lassen sich allerdings nach meiner Ansicht dem Gesellschaftszweck „gemeinsames Wirtschaften" zwanglos zuordnen60. Auf diese Weise ist eine Rückabwicklung ausgeschlossen; ein Ausgleich findet nur dann statt, wenn sich aufgrund der Leistungen Vermögen angesammelt hat. 56 Näher zu dieser Entscheidung, insbesondere zu den möglichen Konstellationen bei einer Auseinandersetzung, Battes, (Fn. 6) Rdn. 122. 57 N J W 1983, 1055. 58 FamRZ 1983, 1213. 59 Gegen Unterhaltsansprüche eines Partners gegen den anderen beim nichtehelichen Zusammenleben ausdrücklich de Witt / Huffmann, Nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1983, Rdn. 155; Kunigk, Die Lebensgemeinschaft, 1978, S. 100; Eva-Marie von Münch, Zusammenleben ohne Trauschein, 2. Aufl., 1983, S. 71 ff; Schlüter, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft, 1981, S.20; Scholz, Die nichteheliche Lebensgemeinschaft in der Rechtspraxis, 1982, S.46; B G H FamRZ 1980, 40 (41). 60 S.o. Fn.48.
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Der B G H sieht sich genötigt, hier eine Art Rechtsgrund „sui generis" anzunehmen, ohne dies allerdings ausdrücklich zu sagen. Dies ist noch hinzunehmen, solange es sich um Leistungen handelt, die „hier und jetzt" 61 der gemeinsamen Lebensgestaltung dienen und sich nicht in dauernden Vermögenswerten niederschlagen. Daß jedoch wertsteigende Investitionen im Umfang von 74 000,- DM 62 weder in einen Ausgleich einbezogen noch rückabgewickelt werden sollen, läßt sich kaum mit den gleichen Erwägungen begründen, die bei laufenden Leistungen regelmäßig noch zu tragbaren Ergebnissen führen. Eher scheint hier schon die causa donandi in Betracht zu kommen. Schon nach dem Gesetzeswortlaut ergibt sich daraus allerdings nur dann ein Grund, die Zuwendung endgültig zu behalten, wenn nicht wegen groben Undanks die Rückabwicklung verlangt werden kann63. Die wohl überwiegende Ansicht läßt aber die Rückforderung eines Geschenks auch wegen Wegfalls der Geschäftsgrundlage zu64. Folgt man dieser Auffassung, so ist der Rückabwicklung ein weites Feld eröffnet: Als Geschäftsgrundlage der Leistung wird sich dann nicht selten die beiderseitige Erwartung erweisen, daß das Zusammenleben bis zum Tode eines Partners oder jedenfalls länger als bis zu dem Zeitpunkt dauern werde, zu dem die Trennung wirklich eingetreten ist. Abgesehen davon steht schon die Argumentation der Gerichte der Annahme einer Schenkung entgegen, wenn betont wird, die gegenseitigen Leistungen hielten sich nach der Vorstellung der Beteiligten die Waage65; denn dann erbringt jeder seine Leistung mit Rücksicht auf die des anderen, also gerade nicht unentgeltlich, auch wenn der Wert der Leistungen unterschiedlich sein mag. Damit soll nicht gesagt sein, daß Leistungen eines Partners nie Schenkungen sein können: Eine Schenkung wird beispielsweise vorliegen, wenn ein Partner den anderen für den Fall seines Todes sicherstellen will, doch liegt gerade in einem solchen Fall die Rückabwicklung nahe,
" Ausdruck von Lipp, AcP 180 (1980), 537 ff (598 ff). So in dem Fall B G H FamRZ 1983, 1213. " §§530 I, 531 II BGB. H Es muß sich allerdings um Sachverhalte handeln, die außerhalb des Anwendungsbereichs der §§527, 528 und 530 BGB liegen, so B G H N J W 1953, 1585; FamRZ 1968, 247; 1969, 28 (29f); ebenso Erman/Seiler, Rdn.6; BGB/RGRK/A/ezger, R d n . l ; Palandt/ Putzo, Anm. 1; Staudinger/Reuss Rdn. 8, jeweils zu § 5 2 7 BGB; für einen gegenüber der Ansicht des B G H erweiterten Anwendungsbereich des Wegfalls der Geschäftsgrundlage Kühne, FamRZ 1968, 356 ff (360) und FamRZ 1969, 371 (373 ff). - Das O L G Düsseldorf N J W 1966, 550 sieht die §§527, 528 und 530 BGB als abschließende Sonderregelung an und lehnt es daher ab, die Grundsätze über den Wegfall der Geschäftsgrundlage zu berücksichtigen. ö
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S. o. Fn. 43.
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wenn das Zusammenleben zu Lebzeiten beider Partner endet oder der Beschenkte vor dem Schenker stirbt". Wenn man also mit dem B G H die Auseinandersetzungslösung auf Fälle beschränkt, in denen die Beteiligten einen „gemeinsamen Wert schaffen wollten", so ist nicht ersichtlich, welcher Behaltensgrund einem Partner zur Seite stehen soll, in dessen Hand sich aufgrund gemeinsamen Wirtschaftens Vermögenswerte angesammelt haben, ohne daß die vom B G H aufgestellte Voraussetzung erfüllt ist. Konsequenterweise müßten hier vielmehr häufig Bereicherungsansprüche gewährt werden. 2. Möglichkeiten und Grenzen der
Rückabwicklung
Soweit die Auseinandersetzungslösung nicht in Betracht kommt, könnte man (auch) gegen Rückabwicklungansprüche einwenden, es sei beiden Beteiligten bewußt gewesen, daß eine Rechtsbindung nicht bestehe und demgemäß jede Rückabwicklung ausgeschlossen sei. Geht man jedoch an dieses Argument mit Hilfe der differenzierten Regeln des Bereicherungsrechts heran, so dürfte es sich als nicht stichhaltig erweisen: Leistung in Kenntnis der Nichtschuld schließt nach § 814 B G B nur die condictio sine causa aus, nicht aber die condictio ob rem67. Konkreter gesagt: Wenn den Beteiligten zwar das Fehlen einer Verpflichtung bewußt war, mit der Leistung aber ein Zweck im Sinne des § 812 I 2, 2. Var. verfolgt wurde, ist die Rückforderung durch §814, nicht ausgeschlossen. Die erforderliche Zweckvereinbarung hat der BGH 6 8 in anderen Fällen schon darin gesehen, daß eine Leistung in der vom Empfänger erkannten und stillschweigend hingenommenen Erwartung erbracht wird, der Empfänger werde sich in bestimmter Weise verhalten, ohne dazu verpflichtet zu sein. Es ist also durchaus erwägenswert, als Zweck im Sinne des §812 I 2, 2. Var. die Erwartung anzusehen, daß das Zusammenleben erst nach Ablauf eines Zeitraums enden werde, der die Leistung wirtschaftlich sinnvoll erscheinen läßt, oder durch den Tod des Leistenden. Will man das gemeinsame Wirtschaften nicht als Gesellschaftszweck im Sinne des § 705 B G B behandeln, so ließe es sich immer noch unter den Zweckbegriff des §812 I 2, 2. Var. subsumieren: Investitionen auf dem gewerblich genutzten Grundstück des anderen Partners hätten dann den Zweck, diesem größere Einnahmen zu ermöglichen, die wieder dem
Näher dazu Battes, (Fn. 6) Rdn. 56. " S. statt aller MünchKomm/Liei, §814, Rdn. 4; Rdn. 1 zu §814. " B G H Z 44, 321. 66
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gemeinsamen Leben zugute kommen können. Der Zweck wird verfehlt, wenn die Partner sich bereits nach kurzer Zeit trennen. Schwierigkeiten ergeben sich allerdings hier spätestens bei der Frage, ob und zu welchem Zeitpunkt der Zweck einer Leistung erreicht ist, wenn das Zusammenleben nach dem Zeitpunkt der Leistung noch längere Zeit gedauert hat. Diese Schwierigkeiten wären für viele Fälle zu vermeiden, wenn die Rechtsprechung die Auseinandersetzungslösung auf alle Fälle ausdehnen würde, in denen sich aufgrund gemeinsamen Wirtschaftens in der Hand (mindestens) eines Partners Vermögen angesammelt hat. Ganz vermeidbar sind sie freilich auch dann nicht, weil es Leistungen gibt, die sich in den Zweck des gemeinsamen Wirtschaftens nicht ohne weiteres einordnen lassen, so z . B . die Tilgung von Altschulden des anderen Partners oder die Investition auf dessen Grundstück". Auch in diesen Fällen jedoch dürften die Probleme lösbar sein: So wird man die Schuldtilgung nicht selten als Vereinbarungsdarlehen an den Schuldner ansehen können. Im übrigen dürfte der Zuwendungszweck regelmäßig erreicht sein, wenn das Zusammenleben durch den Tod des Zuwendenden beendet worden ist. Trennen sich die Partner zu Lebzeiten oder stirbt der Empfänger der Zuwendung vor dem Zuwendenden, so wird nach längerer Zeit eine Werterhöhung im Vermögen des Empfängers häufig nicht mehr festzustellen sein, z. B. weil sich Investitionen auf dessen Grundstück „amortisiert" haben. Kann die Tilgung von Schulden nicht als Vereinbarungsdarlehen an den Schuldner qualifiziert werden, so wird der Zweck der Schuldtilgung in dem Zeitpunkt erreicht sein, da die Schuld bei Tilgung in Raten entsprechend den Einkommensverhältnissen der Beteiligten abgetragen sein würde; es ist nämlich zu berücksichtigen, daß eine sofortige Tilgung der Verbindlichkeit das verfügbare Einkommen des Schuldners eben um die Zinsen und Tilgungsraten während der Zeit erhöht, in der sonst Raten hätten gezahlt werden müssen. Das kommt beim gemeinsamen Wirtschaften beiden Partnern ebenso zugute wie ein laufender Beitrag zum Aufwand des gemeinsamen Lebens. Ein etwaiger Bereicherungsanspruch erstreckt sich also nur auf den Teil der Schuld, der bei einer Abtragung in Raten nach der Trennung noch hätte bezahlt werden müssen70. Im übrigen fördert die Schuldtilgung in solchen Fällen den Zweck des gemeinsamen Wirtschaftens und wäre daher jedenfalls nach der von mir vertretenen Auffassung nur im Rahmen der Auseinandersetzung zu berücksichtigen71. " Näher dazu Battes, (Fn.6) Rdn.lOOff. 70 S. auch dazu Battes, a. a. O. (Fn. 69). 71 Auch dazu näher Battes, (Fn. 6) Rdn. 94.
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Der condictio ob rem könnten allerdings noch weitere Bedenken entgegenstehen: So kommt hier ein Ausschluß nach §815 in Betracht, wenn der Leistende die Unerreichbarkeit des Zwecks kannte oder dessen Eintritt wider Treu und Glauben verhindert hat. Die zuerst genannte Voraussetzung dürfte selten erfüllt sein, weil das nichteheliche Zusammenleben zwar jederzeit enden kann, andererseits derartige Beziehungen manchmal auch über Jahrzehnte dauern. Wer 74 000,- D M in das Haus seiner Freundin steckt und mit ihr zwei Kinder hat72, wird mit einem baldigen Auseinandergehen wohl kaum rechnen. Allenfalls wäre es zu erwägen, die zweite Variante heranzuziehen, daß nämlich der Leistende den Eintritt des Erfolges wider Treu und Glauben verhindert hat: Dieses Merkmal könnte erfüllt sein, wenn sich der Partner, der die Leistung erbracht hat und nun zurückfordert, grundlos und kurz nach der Leistung von dem anderen trennt. Aber gerade hier sträubt sich das Rechtsgefühl: Die Verweigerung jedes Ausgleichs kann sich für den Leistenden als ökonomischer Zwang auswirken, das Zusammenleben weiterzuführen. Dies aber ist weder im Sinne der Beteiligten noch rechtspolitisch erwünscht. An dieser Stelle scheint man also den Bereich zu betreten, in dem die Regeln des Schuldrechts nicht mehr zu angemessenen Lösungen für das nichteheliche Zusammenleben führen. Genau besehen können jedoch Gewährung und Versagung des Ausgleichsanspruchs gleichermaßen einen Zwang zum Zusammenleben ausüben: Auch wer fürchten muß, im Fall der Trennung die dem Partner erbrachten Leistungen verlorengeben zu müssen, kann sich zur Fortsetzung des Zusammenlebens wider seinen Willen gezwungen sehen. Ein durchschlagender Grund gegen jeden Ausgleichsanspruch läßt sich aus dieser Überlegung also nicht herleiten. Aus der Möglichkeit allerdings, daß das Zusammenleben wegen rein persönlicher Gründe plötzlich enden kann, dürften sich (ähnlich wie bei der Ehe) spezifische Gefahren für den Empfänger einer Leistung ergeben, die bei der Ausgestaltung etwaiger Ansprüche berücksichtigt werden sollten: Der Empfänger muß von heute auf morgen einen größeren Betrag aufbringen und sieht sich möglicherweise gezwungen, zu diesem Zweck einen wertvollen Gegenstand (z.B. ein Grundstück) ungünstig zu veräußern. Diese Situation berücksichtigt das Eherecht in § 1382 B G B , der eine Stundung der Zugewinnausgleichsforderung ermöglicht. Zu erwägen ist, diesen Grundgedanken mit Hilfe des §242 B G B auch auf Ansprüche zu übertragen, die eine Rückabwicklung von Leistungen nach dem Ende des nichtehelichen Zusammenlebens zum Inhalt haben. Dies gilt übrigens nicht nur für Bereicherungsansprüche, sondern auch 72
So in dem Fall B G H FamRZ 1983, 1213.
Auseinandersetzung, Rückabwicklung, Entgelt
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dann, wenn die Ausgleichsforderung auf den Wegfall der Geschäftsgrundlage gestützt wird oder der Auseinandersetzung eines Gesellschaftsverhältnisses dient. Auf diese Weise könnte dem Schuldner z.B. eine Tilgung seiner Verbindlichkeit in Raten ermöglicht werden. Damit würde dem Umstand Rechnung getragen, daß auch der Empfänger regelmäßig mit einem längerem Zusammenleben rechnen wird. Dagegen erscheint es bedenklich, daß Unbilligkeiten im Einzelfall den II. Senat des B G H zu allgemeinen Formulierungen veranlassen, denen zufolge ein Ausgleichsanspruch nach dem Ende des nichtehelichen Zusammenlebens für einen großen Teil der Fälle gänzlich ausscheiden müßte. Damit verbaut er sich eine angemessene Lösung für solche künftigen Fälle, in denen gerade die Versagung jeden Ausgleichs unbillig erscheinen kann. N u r am Rande sei erwähnt, daß nach der gegenwärtigen Einstellung des B G H auch der § 817 Satz 2 BGB als Grund für die Ablehnung von Rückgewähransprüchen ausscheidet, soweit es um Rückgewähr noch vorhandener Vermögenswerte geht73. Ergebnis Auseinandersetzung noch vorhandenen Vermögens einerseits, Rückgewähr des Geleisteten sowie Entgelt für Dienste andererseits erwiesen sich als Grundmuster für die Behandlung von Zuwendungen unter Ehegatten oder Partnern eines nichtehelichen Zusammenlebens. Dabei hat sich gezeigt, daß das Nein zur Auseinandersetzungslösung, sei es allgemein oder für den einzelnen Fall, in aller Regel die Prüfung und Gewährung eines Anspruchs auf Rückgewähr des Geleisteten nach sich ziehen muß. Allenfalls kann die besondere, durch ein plötzliches Ende des nichtehelichen Zusammenlebens herbeigeführte Situation des Ausgleichsschuldners zu Korrekturen im Sinne einer Stundung oder Ratenzahlung Anlaß geben, die auf §242 BGB zu gründen wäre. Der sich neuerdings verstärkenden Tendenz des II. Senats, mit allgemeinen Formulierungen zum nichtehelichen Zusammenleben jeden Ausgleichsanspruch für eine große Gruppe von Fällen auszuschließen, stehen erhebliche Bedenken entgegen.
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Ablehnend schon BGHZ 35, 103 ff.
Das Verhältnis der Beweislastverteilung im Pflichtteilsrecht zu den Auskunfts- und Wertermittlungsansprüchen in diesem Rechtsgebiet GOTTFRIED BAUMGÄRTEL
Der folgende Beitrag, der zu einem Grenzbereich von Zivil- und Zivilprozeßrecht gehört, ist einem Gelehrten gewidmet, der in seinen Arbeiten dem Zusammenhang dieser beiden Rechtsgebiete immer große Beachtung geschenkt und damit sowohl die Theorie als auch die Praxis in hohem Maße bereichert hat. I. Die Problematik Die Beweislastverteilung im Pflichtteilsrecht bringt den Beweisbelasteten, sei es den Anspruchsteller oder den Gegner für seine Einwendungen, häufig in Beweisnot. Der Gesetzgeber wollte dem mit §2314 für den pflichtteilsberechtigten Nichterben durch einen Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch abhelfen. Beide Ansprüche sind voneinander zu trennen1. Während sich der Auskunftsanspruch auf den der Feststellung des Pflichtteilsanspruchs zugrundezulegenden Nachlaß bzw. fiktiven Nachlaß bezieht, soll der Wertermittlungsanspruch die Berechnung des Pflichtteilsanspruchs ermöglichen. Es zeigte sich bald, daß §2314 wörtlich genommen - zu einer ungerechtfertigten Benachteiligung der beweisbelasteten Partei führen muß, da eine ähnliche Beweisnot häufig auch bei der Geltendmachung des Ausgleichsanspruchs (§ 2316) 2 und des Pflichtteilsergänzungsanspruchs (§§2325, 2329) 3 entsteht. Die Rechtsprechung hat daher die Anwendung des §2314 auch auf diese Ansprüche ausgedehnt4. Im Schrifttum5 zeigt sich darüber hinaus die Tendenz, B G H N J W 1984, 487, 488; Coing, N J W 1983, 1298f. RGZ 73, 372, 374 (entspr. Anwendung des §2057). 3 RGZ 73, 269, 272. 4 Vgl. u.a. B G H N J W 1962, 245 (§2316); BGHZ 33, 373, 374 (§2325); B G H Z 55, 378, 380 (§2329); zust. die überwiegende Lehre, vgl. u.a. Coing, N J W 1970, 729, 731; Lange/Kuchinke, Erbrecht, 2.Aufl., § 3 9 Fn.345 (§2316); KGKK/Johannsen, 12.Aufl., Rdn.3; Kipp/Coing, Erbrecht, 13. Aufl., §13 XI (§2325); Staudinger/Ferid/Cieslar, 12. Aufl., Rdn. 40 (§2329). 5 Gudian, J Z 1967, 591, 593; Bartholomeyczik/Schlüter, Erbrecht, 11.Aufl., § 4 8 IV; Coing, N J W 1970, 729, 734; v. Liibtow, Erbrecht, I, S.584f.; Speckmann, N J W 1973, 1869, 1870; kritisch auch MünchKomm/Frank, §2329 Rdn.7. 1
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§2314 auch auf die Ansprüche des pflichtteilsberechtigten Erben anzuwenden, während die überwiegende Rechtsprechung6 nur den allgemeinen, aus § 242 abgeleiteten Auskunftsanspruch zugestehen will. Die große Zahl der Entscheidungen des B G H zu den Fragen der Beweislastverteilung im Pflichtteilsrecht sowie zum Auskunfts- und Wertermittlungsanspruch zeigt einerseits, daß die Streitigkeiten um den Pflichtteilsanspruch nach dem 2. Weltkrieg zugenommen haben7. Das mag auch mit dem Generationenproblem und der zunehmenden Entfremdung innerhalb der Familien zusammenhängen, die gerade nach dem Tod eines Elternteils besonders zum Ausdruck kommt. Andererseits wird an der wachsenden Tendenz, die Vorschrift des §2314 immer weiter auszudehnen, deutlich, daß die Beweisschwierigkeiten für die beweisbelastete Partei zunehmen. Dies deutet auch darauf hin, daß Erblasser in steigendem Maße versuchen, die Pflichtteilsansprüche insbesondere durch verschleierte Schenkungen - zu schmälern. Die Rechtsprechung, die unter dem Eindruck dieser Entwicklung und unter Beachtung der im Pflichtteilsrecht geltenden Beweislastverteilung über die Gewährung von Auskunfts- oder Wertermittlungsansprüchen analog §2314 zu befinden hat, steht oft vor einer schweren Entscheidung. Gewährt sie den Anspruch, so fördert sie - mittelbar - die erwähnte Verhärtung zwischen den Generationen, versagt sie ihn, so wird dies häufig zu einem non liquet und damit zu einer Verhinderung des Pflichtteilsanspruchs führen. Für den Auskunftsanspruch sieht die Rechtsprechung unter wachsender Kritik des Schrifttums8 die Grenze für eine analoge Anwendung des §2314 darin, daß diese Norm nur auf den pflichtteilsberechtigten Nichterben, nicht aber auf den Erben anzuwenden ist'. Den Wertermittlungsanspruch will der B G H in einer unlängst erlassenen Entscheidung10 - für den Fall einer gemischten Schenkung - dahin begrenzen, daß dieser Anspruch nur zu gewähren ist, wenn vorher der Beweis für das Vorliegen einer Schenkung erbracht ist. Es soll im folgenden versucht werden, Klarheit in dieses Zusammenspiel von Beweislastverteilung und Auskunfts- sowie Wertermittlungsanspruch zu bringen. Dabei ist auf die materiellrechtlichen Voraussetzungen sowie den Inhalt dieser Ansprüche nur insoweit einzugehen, als dies zur Klärung der Probleme erforderlich ist.
' RGZ 158, 377, 379; BGHZ 61, 180, 185; zust. Brox, Erbrecht, 8. Aufl., Rdn.540; Kempfler, NJW 1970, 1533; Lange/Kuchtnke, a.a.O. (Fn.4) §39 XI 5. 7 Vgl. Dieckmann, Festschrift für Beitzke, S. 399, 400. 8 S. die Nachweise Fn. 5. ' S. die Nachweise Fn. 6. 10 NJW 1984, 487, 488.
Beweislastverteilung im Pflichtteilsrecht
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II. Die Beweislastverteilung für die Pflichtteilsansprüche Zum Verständnis des Zusammenspiels von Beweislastverteilung und Auskunfts- sowie Wertermittlungsanspruch soll zunächst die Beweislastverteilung für die Pflichtteilsansprüche sowie die Einwendungen des Gegners skizziert werden. 1. a) Der Pflichtteilsberechtigte (§2303) trägt die Beweislast für alle Tatsachen, von denen Grund und Höhe seines Anspruchs abhängen11. Ist streitig, ob ein bestimmter Gegenstand zum tatsächlichen Nachlaß gehört, so muß der Pflichtteilsberechtigte, der diesen Gegenstand bei der Berechnung seines Pflichtteils dem Nachlaß hinzurechnet, die Umstände darlegen und beweisen, aus denen sich die Zugehörigkeit zum Nachlaß ergibt12. Derjenige, der einen Pflichtteilsrestanspruch (§2305) geltend macht, hat darüber hinaus die besonderen Voraussetzungen zu beweisen, aus denen sich ergibt, daß ihm ein von Beschränkungen und Beschwerungen i.S.d. §2306 freier Erbteil zugewandt worden ist, der weniger als die Hälfte des gesetzlichen Erbteils ausmacht13. b) Ebenso hat derjenige, der einen Ausgleichsanspruch gemäß §2316 geltend macht, die ausgleichungspflichtige Zuwendung zu beweisen14. Beruft der pflichtteilsberechtigte Abkömmling sich für seinen Ausgleichsanspruch auf § 2057 a, so hat er die Umstände darzulegen und gegebenenfalls zu beweisen, aus denen sich ergibt, daß seine Mitarbeit in besonderem Maße dazu beigetragen hat, das Vermögen des Erblassers zu erhalten oder zu vermehren15. c) Für den Pflichtteilsergänzungsanspruch hat der Anspruchsteller gem. § 2325 I außerdem die Schenkung sowie deren Wert in dem gem. § 2325 II 1, 2 HS 1 maßgebenden Zeitpunkt zu beweisen". Macht er den Pflichtteilsergänzungsanspruch gem. §2329 gegen den Beschenkten geltend, so muß er außerdem Umstände dartun und beweisen, aus denen sich ergibt, daß der Erbe zur Ergänzung des Pflichtteilsanspruchs nicht verpflichtet ist17. 2. a) Demgegenüber trägt der Beklagte die Beweislast für den Verlust des Pflichtteils- oder Pflichtteilsrestanspruchs. Das gilt für die strafweise B G H Z 7, 134. B G H N J W 1984, 487. 13 Staudinger/Ferid/Cieslar, §2305 Rdn.6. 14 Leonhard, Die Beweislast, 2. Aufl., S. 419. 15 Staudinger/Werner, 12. Aufl., § 2057 a Rdn. 14; a. A. Odersky, Nichtehelichengesetz. 4. Aufl., § 2057a Anm. II. " R G Recht 1919 Nr. 777; Haß, SchlHA 1977, 58, 59; Rosenberg, Beweislast, 5. Aufl., S. 156. 17 RGZ 80, 135, 136; B G H FamRZ 1961, 272, 273; Rosenberg, a . a . O . , S. 156, 177. 11
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Entziehung des Pflichtteils nach §§2333-2337, den Pflichtteilsverzicht gem. §2346 II, die Erstreckung des Verzichts auf Abkömmlinge gem. § 2349 und die Ausschlagung18. b) Beruft sich der Erbe gem. §2325 II 2 HS 2 auf einen geringeren Wert des verschenkten Gegenstandes im Zeitpunkt der Schenkung, so trägt er dafür die Beweislast. Dazu muß er sowohl den Zeitpunkt der Schenkung als auch den Wert in diesem Zeitpunkt beweisen19. c) Beruft er sich darauf, daß es sich um eine remuneratorische Schenkung gehandelt habe, die gemäß § 2330 von dem Pflichtteilsergänzungsanspruch ausgenommen ist, so trägt er auch hierfür die Beweislast20. d) Macht der Beschenkte gegenüber dem Anspruch aus §2329 geltend, daß er durch die Schenkung nicht bereichert oder daß die Bereicherung weggefallen ist, so hat er dies zu beweisen21. Solange er diesen Beweis nicht erbracht hat, haftet er gemäß § 818 II im Falle der Unmöglichkeit der Herausgabe auf Wertersatz22. Der zu ersetzende Wert ist vom Anspruchsteller zu beweisen23. Beruft sich dieser gegenüber der Einwendung des Wegfalls der Bereicherung auf eine verschärfte Haftung des Beschenkten gemäß §819 I, so hat er, soweit die Anwendung dieser Norm überhaupt in Betracht kommt 24 , die dafür erforderlichen Voraussetzungen zu beweisen25. e) Besteht Streit zwischen den Parteien darüber, wer von mehreren Beschenkten dem Anspruchsteller gegenüber verpflichtet ist (§ 2329 III), so trägt der Beklagte, der sich darauf beruft, daß ein später beschenkter, vorrangig Haftender26 vorhanden ist, dafür die Beweislast27. f) Beruft sich der in Anspruch genommene Erbe (§2325) oder Beschenkte (§2329) darauf, daß der Pflichtteilsberechtigte selbst vom Erblasser eine Schenkung (sog. Eigenschenkung) erhalten habe, so trägt
Vgl. KGKK/Johannsen, Rdn. 10. " B G H L M Nr. 5 zu § 2 3 1 1 ; RGRK/Johannsen, §2325 Rdn. 23; Staudinger/Ferid/ Cieslar, §2325 Rdn. 48. 20 Vgl. Staudinger/Ferid/Cieslar, §2325 Rdn. 6, die freilich ungenau von „Gegenbeweis" sprechen. 21 KGKK/Johannsen, § 2 3 2 9 Rdn. 24; Staudinger/Ferid/Cieslar, § 2 3 2 9 Rdn. 17, 23; vgl. auch Baumgärtel/Strieder, Handbuch der Beweislast im Privatrecht, Bd. 1, §818 Rdn. 8. 22 Staudinger/Ferid/Cieslar, §2329 Rdn. 23. 23 Vgl. Baumgärtel/Strieder, a . a . O . , §818 Rdn. 7 m . w . N . 24 Vgl. dazu MünchKomm/Fra«£, §2329 Rdn. 11. 25 Staudinger/Ferid/Cieslar, §2329 Rdn. 25. 26 Vgl. B G H N J W 1983, 1485, 1486 m . w . N . 27 Rosenberg, a . a . O . (Fn. 16), S.373. 18
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er hierfür sowie für den Wert der Schenkung - entsprechend der Regelung des § 2325 II - die Beweislast28. g) Und schließlich hat derjenige, der gegenüber dem Ergänzungsanspruch gemäß §§ 2325, 2329 die Ausschlußfrist des § 2325 III für sich in Anspruch nimmt, die Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Norm zu beweisen. Dies ist freilich umstritten. Im Schrifttum29 wird die Auffassung vertreten, aus der Fassung der Norm folge, der Anspruchsteller müsse beweisen, daß die „Leistung des verschenkten Gegenstandes" vor Ablauf der Zehnjahresfrist erbracht ist. Der Wortlaut der Norm spricht aber eher für das Gegenteil. Es handelt sich bei der Bestimmung des § 2325 III um eine Ausnahme von der Regel des § 2325 I. Der Erbe, der sich darauf beruft, daß die betr. Schenkung nicht berücksichtigt werden darf, hat den zu seinen Gunsten sprechenden Ablauf der Ausschlußfrist zu beweisen30. Die gegenteilige Auffassung ließe sich auch nicht damit begründen, daß die Leistungserbringung innerhalb der Zehnjahresfrist Voraussetzung für den Pflichtteilsergänzungsanspruch ist. Das folgt sowohl aus dem Wortlaut der Norm als auch aus dem Sinn und Zweck der Ausschlußfrist, mit der für weiter zurückliegende Schenkungen auf den Beschenkten Rücksicht genommen werden soll, dessen Rechte nicht zu lange Zeit in einem Schwebezustand gelassen werden dürfen31. Dieser Normzweck greift erst dann ein, wenn die Ausschlußfrist abgelaufen ist. Dies hat der Erbe zu beweisen. Die Beweislast für das Eingreifen der Ausschlußfrist bedeutet, daß der Erbe den Fristbeginn, der mit der „Leistung des verschenkten Gegenstandes" eingreift, zu beweisen hat. Dies entspricht der Beweislastverteilung bei Ausschlußfristen, bei denen derjenige, der sich auf sie beruft, Beginn und Ende des Fristenlaufs zu beweisen hat32. Auch im Falle des § 2325 III HS 2 trägt der Erbe die Beweislast für die Umstände, aus denen sich die Nichtberücksichtigung der Schenkung des Erblassers an seinen Ehegatten ergeben soll. Dieser Norm liegt der Gedanke zugrunde, den Erben verschärft haften zu lassen, weil bei derartigen Schenkungen der Verdacht der Verkürzungsabsicht naheliegt33. Der Erbe hat daher als Beginn der Ausschlußfrist den Zeitpunkt der Eheauflösung zu beweisen34. B G H N J W 1964, 1414, 1415; StaudingerIFeridICieslar, §2327 Rdn.7. Planck/Greiff, 4. Aufl., §2325 A n m . 6 a (entgegen der Vorauflage); Ferid/Cieslar, §2325 Rdn.48. 28 29
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