Familienleben transnational: Eine biographieanalytische Untersuchung einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien 9783839446072

The biographical-analytical study examines narratives of a multi-generational family and family negotiations in the cont

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German Pages 408 Year 2019

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Inhalt
Vorwort
1 Einleitung
2 Annäherungen und Forschungsstand: Intergenerationale Transmission im transnationalen Migrationskontext
2.1 Blick auf die Konzeption von Familien im Migrationskontext
2.2 Blick auf die Konzeption von Generationen
3 Theoretische Zugänge: Biographieforschung und soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext
3.1 Biographieforschung im transnationalen Migrationskontext
3.2 Multiple soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext
4 Transnationale Perspektive als methodischer und methodologischer Zugang
4.1 Rekonstruktive Biographieforschung als methodologisches Rahmenkonzept
4.2 Prinzip der Offenheit bei der Datenerhebung
4.3 Biographische Reflexivität: Hinweise auf soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz
4.4 Prinzip der Kommunikation bei der Datenerhebung: Biographisch-narrative Interviews
4.5 Analysemethode: Biographische Fallrekonstruktionen
5 Verflechtungsgeschichte: Der gesellschaftliche Kontext
5.1 Migrationsgeschichte im gesellschaftlichen Kontext von Jugoslawien
5.2 Migrationsprozesse zwischen der Schweiz und Jugoslawien aus der Perspektive der schweizerischen Migrationspolitik
6 Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen der Mitglieder einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien
6.1 Bedeutung von familialen und geschlechtsspezifischen Erwartungen: Die Fallrekonstruktionen der Eltern
6.2 Die Nachkommen: Fünf Geschwister zwischen Südserbien, der Schweiz und dem Kosovo
7 Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit
7.1 Transmission familialer Geschlechternormen: Dialektik der Familienorientierung
7.2 Ethnizität in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Hierarchisierungen
7.3 Soziale Mobilität als transnationale Positionierungen
8 Fazit: Bedeutung soziokultureller Grenzziehungsprozesse für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen
8.1 Intergenerationale Transmission der Strategie, durch Migration soziokulturelle Grenzziehungen zu überwinden
8.2 Einschränkung von familialen Aushandlungsprozessen durch soziokulturelle Grenzziehungen
8.3 Lokale Positionierung als biographische Ressource für familiale Aushandlungsprozesse
8.4 Ausblick: Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für familiale Aushandlungsprozesse im transnationalen Migrationskontext
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
Transkriptionszeichen
Zeichenerläuterung Genogramme
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Familienleben transnational: Eine biographieanalytische Untersuchung einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien
 9783839446072

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Eveline Ammann Dula Familienleben transnational

Kultur und soziale Praxis

Eveline Ammann Dula (Dr. phil.) ist Dozentin im Departement Soziale Arbeit an der Berner Fachhochschule. Ihre Schwerpunkte liegen im Bereich Migrations- und Biographieforschung, Intersektionalität und Soziale Ungleichheiten.

Eveline Ammann Dula

Familienleben transnational Eine biographieanalytische Untersuchung einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien

D.30 Titel der Dissertation: »Familiale Aushandlungsprozesse im transnationalen Migrationskontext. Eine biographieanalytische Untersuchung intergenerationaler Transmissionsprozesse einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien« Inauguraldissertation zur Erlangung des Grades eines Doktors der Philosophie im Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität zu Frankfurt am Main Vorgelegt von Eveline Ammann Dula aus Langenthal BE, Schweiz, Einreichungsjahr 2017, Erscheinungsjahr 2019 Gutachterinnen: Prof. Dr. Anna Amelina (1. Gutachterin), Prof. Dr. Helma Lutz (2. Gutachterin), Prof. Dr. Elisabeth Tuider (3. Gutachterin) Tag der mündlichen Prüfung: 18.01.2019

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2019 transcript Verlag, Bielefeld Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4607-8 PDF-ISBN 978-3-8394-4607-2 https://doi.org/10.14361/9783839446072 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Vorwort | 9 1

Einleitung | 11

2

Annäherungen und Forschungsstand: Intergenerationale Transmission im transnationalen Migrationskontext | 19

2.1 Blick auf die Konzeption von Familien im Migrationskontext | 20 2.2 Blick auf die Konzeption von Generationen | 30 3

Theoretische Zugänge: Biographieforschung und soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext | 45

3.1 Biographieforschung im transnationalen Migrationskontext | 45 3.2 Multiple soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext | 51 4

Transnationale Perspektive als methodischer und methodologischer Zugang | 65

4.1 Rekonstruktive Biographieforschung als methodologisches Rahmenkonzept | 68 4.2 Prinzip der Offenheit bei der Datenerhebung | 69 4.3 Biographische Reflexivität: Hinweise auf soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz | 72 4.4 Prinzip der Kommunikation bei der Datenerhebung: Biographisch-narrative Interviews | 75 4.5 Analysemethode: Biographische Fallrekonstruktionen | 78

5

Verflechtungsgeschichte: Der gesellschaftliche Kontext | 89

5.1 Migrationsgeschichte im gesellschaftlichen Kontext von Jugoslawien | 90 5.2 Migrationsprozesse zwischen der Schweiz und Jugoslawien aus der Perspektive der schweizerischen Migrationspolitik | 119 6

Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen der Mitglieder einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien | 131

6.1 Bedeutung von familialen und geschlechtsspezifischen Erwartungen: Die Fallrekonstruktionen der Eltern | 132 6.2 Die Nachkommen: Fünf Geschwister zwischen Südserbien, der Schweiz und dem Kosovo | 189 7

Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit | 331

7.1 Transmission familialer Geschlechternormen: Dialektik der Familienorientierung | 332 7.2 Ethnizität in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Hierarchisierungen | 346 7.3 Soziale Mobilität als transnationale Positionierungen | 356 8

Fazit: Bedeutung soziokultureller Grenzziehungsprozesse für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen | 369

8.1 Intergenerationale Transmission der Strategie, durch Migration soziokulturelle Grenzziehungen zu überwinden | 369 8.2 Einschränkung von familialen Aushandlungsprozessen durch soziokulturelle Grenzziehungen | 372 8.3 Lokale Positionierung als biographische Ressource für familiale Aushandlungsprozesse | 375 8.4 Ausblick: Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für familiale Aushandlungsprozesse im transnationalen Migrationskontext | 376

Literaturverzeichnis | 383 Abbildungsverzeichnis | 401 Transkriptionszeichen | 403 Zeichenerläuterung Genogramme | 405

 

 

Vorwort

Das Feld der internationalen Migrationsforschung hat in den letzten zwanzig Jahren einen Wechselrausch diverser paradigmatischer Entwicklungen erfahren, darunter die Wende von der Integrations- zur reflexiven Migrationsforschung oder von Diversitätsansätzen hin zur kritischen Migrations- und sogar Postmigrationsforschung. Einer dieser paradigmatischen Wendepunkte hat jedoch eine längerfristige Konjunktur: die Entwicklung hin zur Theorieperspektive der Transnationalisierungsforschung. Während transnationale Ansätze zur Analyse grenzüberschreitender migrantischer Praxen zu Beginn der 90er-Jahre noch skeptisch erprobt wurden, sind sie mittlerweile aus dem Lehr- und Forschungskanon der Migrationsstudien nicht mehr wegzudenken. Dabei besteht ihr wichtigster Vorteil in der Offenlegung eines genuin grenzüberschreitenden Charakters von Wanderungsbewegungen und der Denaturalisierung von Vorstellungen von geschlossenen, kohärenten Immigrationsgesellschaften. Eine offene und reflexive Perspektive ermöglicht es, Wanderungsbewegungen als multidirektional und (potentiell) nicht abschließbar zu denken. Genau dieser Stoßrichtung folgt Eveline Ammann Dula mit der vorliegenden Monografie, indem sie die transnational orientierte Migrationsforschung innovativ mit der soziologischen Biografieforschung zusammenführt. Die Autorin analysiert die biografischen Narrative einer Familie aus dem Kosovo, die sie als Medium transnationaler Verflechtungen zwischen den Kontexten der Aus-, Einwanderung und Rückkehr konzeptualisiert. Diese analytische Vorgehensweise zeichnet sich durch zwei besondere Stärken aus. Zum einen verbindet die Autorin biografie- und familiensoziologische Ansätze. Sie zeigt nicht nur, wie die einzelnen Akteur_innen ihre Migrationsgeschichte und ihre transnationalen Verbindungen verhandeln, sondern widmet auch der Analyse sozialer Routinen transnationalen Familienlebens im Sinne eines „Doing Family“ besondere Aufmerksamkeit. Die zweite Besonderheit dieser Studie besteht in einer sehr differenzierten Darstellung der biografischen Verarbeitung und Wahrnehmung mul-

 

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tipler Ungleichheiten, mit denen sich die Interviewpartner_innen konfrontiert sehen. Aufbauend auf einer konstruktivistisch orientierten Perspektive auf die Intersektionalitätsforschung zeigt die Verfasserin, wie „Klasse“, „Geschlecht“ und „Ethnizität“ als „Achsen der Ungleichheit“ von den interviewten Familienmitgliedern generationenübergreifend verhandelt werden. Besonders aufschlussreich sind dabei die Darstellungen multilokal orientierter Verhandlungen, etwa in Situationen, in denen Akteur_innen (je nachdem, ob im Kontext des Aus- oder Einwanderungslands) mit divergierenden sozialen Deutungen „identischer“ sozialer Kategorien (z. B. „Ethnizität“) konfrontiert werden. Somit zeigt diese hervorragende Studie, dass Fragen nach biografischen Verhandlungen von Wanderung, Inklusion und Exklusion selbst im Zeitalter wechselnder Paradigmen und Moden weiterhin ein zentraler Topos der Migrationsforschung bleiben. Zugleich macht sie aber auch deutlich, dass dieser Topos einen innovativen und kritisch-reflexiven Blick erfordert und nicht ohne sorgfältige empirische Analyse auskommt. Anna Amelina Cottbus, im März 2019

 

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Einleitung

Die vorliegende Forschungsarbeit befasst sich mit der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen im transnationalen Migrationskontext. Im Zentrum stehen dabei die familialen Generationenbeziehungen und die mit dem transnationalen Migrationsprozess verbundene Weitergabe, Veränderung und Invention von familialen Werten und Normen und deren Einfluss auf individuelle Handlungsmuster. Die familialen Generationenbeziehungen werden dabei als wechselseitige Beeinflussung im Sinne eines interaktiven Prozesses zwischen den Generationen verstanden, durch den von den verschiedenen Familienmitgliedern die Tradierung, Veränderung und Neugenerierung von Erfahrungswissen, Werten und Normen ausgehandelt werden. Als Untersuchungsgegenstand wurden Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien gewählt, da das ehemalige Jugoslawien durch einen langjährigen Migrationsprozess seit den 1960er Jahren mit der Schweiz verbunden ist, der als Verflechtungsgeschichte (vgl. Randeria/Römhild 2013) bezeichnet werden kann. Personen aus Kosovo bilden nach Deutschland in der Schweiz die grösste Diaspora (Kosovo Agency of Statistics 2014: 30). Die kosovarische Bevölkerung in der Schweiz wird im Jahr 2010 auf 170 000 Personen geschätzt1 (Burri Sharani et al. 2010: 34), andere Autoren gehen von 200 000 bis 250 000 Personen aus (Kramer/Džihić 2005: 14). Die Analyse der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen von Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien ist

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Die genaue Zahl von Personen aus Kosovo in der Schweiz ist statistisch schwierig zu erfassen, da bis zum Jahr der Anerkennung der Unabhängigkeit durch die Schweiz im Jahr 2008 Personen aus Kosovo in den amtlichen schweizerischen Statistiken nicht erfasst wurden. Diese wurden bis 1998 als Jugoslawische Staatsangehörige gezählt, anschließend bis 2005 als Staatsangehörige aus „Serbien und Montenegro“. Auch die Anzahl der eingebürgerten kosovarischen Personen wird statistisch nicht ausgewiesen (vgl. Burri Sharani et al. 2010: 26).

 

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auch deshalb interessant, weil sich die Migrationspolitik zwischen der Schweiz und den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens im Verlaufe der Zeit erheblich verändert hat. Waren in den 1960er Jahren bis Ende der 1980er Jahre Personen aus dem damaligen Jugoslawien beliebte „Gastarbeiter_innen“ in der Schweiz, ist die Arbeitsmigration zwischen Kosovo und der Schweiz seit der Einführung des Drei-Kreise-Modells in den 1990er Jahren stark eingeschränkt (vgl. Piguet 2006). Auch die Asylmigration ist seit dem Ende des Kosovokrieges im Jahr 1999/2000 nicht mehr möglich. Dies bedeutet, dass im Gegensatz zu bereits untersuchten Transmigrationsprozessen der Nachfolgegeneration von Arbeitsmigrant_innen wie bspw. griechischer Arbeitsmigrant_innen in Deutschland (vgl. Siouti 2013) transnationale Migrationsprozesse zwischen Kosovo und der Schweiz nicht durch die Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union erleichtert werden. Die Frage nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen erscheint im Kontext von veränderten Grenzregimen besonders relevant, um die individuellen Lebensverläufe im Kontext von gesellschaftlichen und familialen Normen und Werten zu analysieren. Die Fokussierung auf die kosovo-albanische Bevölkerung wird mit den Hinweisen auf negative Vorurteile und Diskriminierungsprozesse gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe in der Schweiz begründet, worauf Schlagzeilen über Delikte und Gewalt von „Kosovo-Albanern“ in schweizerischen Medien hinweisen (vgl. Burri Sharani et al. 2010: 41, Duemmler 2015: 142, Maillard/Shabani 2016). Aus diesen Gründen erscheint die Frage nach der Bedeutung von sozialen Ungleichheiten für intergenerationale Transmissionsprozesse gerade für diese Bevölkerungsgruppe besonders bedeutsam. Multiple soziale Ungleichheiten im Sinne der intersektionalen Verwobenheit verschiedener Kategorien wie Ethnizität, Klasse und Geschlecht, werden mit dem Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen (vgl. Amelina 2012, Amelina 2017) erforscht, weil dieses Konzept es ermöglicht, die Intersektion verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten als verflochtene Prozesse zu analysieren. Dabei interessiert die Verwobenheit von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Lebensverläufen, die in der vorliegenden Forschungsarbeit durch einen rekonstruktiven Forschungszugang der Biographieanalyse einer Familie geleistet wird. Die Biographieforschung ermöglicht die Rekonstruktion individueller Lebensverläufe im familialen und gesellschaftlichen Kontext und damit die Analyse individueller Strategien der Auseinandersetzung mit strukturellen Rahmenbedingungen. In dieser Arbeit wird aufgezeigt, wie sich die Biographieforschung mit dem Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen verbinden lässt, um die Bedeutung multipler sozialer Ungleichheiten für intergenerationale Transmissionsprozesse zu untersuchen.

Einleitung | 13

In der vorliegenden Arbeit wird Transnationalität sowohl als theoretischer als auch methodischer Zugang gewählt, um die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen über mehrere Generationen zu untersuchen. Damit verortet sich die vorliegende Studie im wissenschaftlichen Diskurs des Transnationalisierungsansatzes, der in den 1990er Jahren in die Migrationsforschung eingeführt wurde und einen Perspektivenwechsel in der Migrationsforschung bewirkt hat (vgl. Amelina/Faist 2012: 2, Siouti 2013: 12, Pries 2010: 9). Durch die Überwindung des methodologischen Nationalismus (vgl. Wimmer/Glick Schiller 2002, Pries 2010: 10) erweitert die transnationale Forschungsperspektive die klassischen Ansätze der Migrationsforschung, bei denen die Analyse von Bedingungen und Verlauf erfolgreicher Integration und Assimilation von Arbeitsmigrant_innen und deren Nachkommen im Fokus stand (vgl. Pries 2010: 35, Siouti 2013: 11). Dadurch wird die Erforschung intergenerationaler Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext möglich. Die transnationale Forschungsperspektive erfordert zudem die Entwicklung von neuen theoretischen, an sog. transnationalen Strukturentwicklungen ausgerichteten, Konzepten und Bezugsrahmen (vgl. Bommes 2003, Amelina/Faist 2012). Dies geschieht in der vorliegenden Arbeit durch die Anwendung einer transnationalen Methodologie in der Datenerhebung und der Analyse (vgl. Amelina/Faist 2012). Die Anwendung der rekonstruktiven Biographieforschung trägt dabei mit dem Prozesscharakter des biographischen Handelns der Transformation und Relativität grenzüberschreitender Migrationsprozesse Rechnung (vgl. Lutz 2004: 212). Der Einbezug des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse (vgl. Amelina 2012, Amelina 2017) erlaubt es, den Einfluss von Prozessen sozialer Ungleichheiten im transnationalen Raum zu erfassen und damit Auswirkungen auf intergenerationale Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext aufzuzeigen. Bisherige Forschungen zu intergenerationalen Veränderungen von Transnationalisierungsprozessen über verschiedene Generationen haben auf soziale Praktiken, Netzwerke oder Zugehörigkeiten fokussiert (vgl. Vertovec 2009, Dahinden 2011, Pries 2010). Die Definitionen von Transnationalisierung in den bisherigen Forschungen beeinflussen die Frage, wer transnationale Praktiken oder Zugehörigkeiten ausbildet und wie diese über die verschiedenen Generationen hinweg aufrechterhalten werden (vgl. Levitt/Waters 2002, Gowricharn 2009). Das vorliegende Forschungsprojekt knüpft an diesen Forschungen zur Veränderung von transnationalen Verbindungen über zwei Generationen an. Jedoch wird dabei nicht eine spezifische Form von Transnationalität in den Vordergrund gestellt, sondern der Fokus auf die intergenerationalen Prozesse gelegt. Transnationalität stellt dabei den theoretischen wie methodischen Zugang dar, um die in-

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tergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen zu erforschen. Die rekonstruktive Vorgehensweise der Biographieforschung ermöglicht, die Frage nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen explizit offen zu halten und nicht bereits im Voraus auf bestimmte Formen von Transnationalität wie soziale Praktiken oder Zugehörigkeiten oder spezifische Themen wie die Transmission von Werten, Einstellungen, Sprache oder sozialem Status zu fokussieren. So kann das komplexe Zusammenspiel von Kontinuität und Wandel in intergenerationalen Transmissionsprozessen analysiert werden (vgl. Weiss/Schnell/Ates 2014: 18). Schliesslich kann die Arbeit einen Beitrag zum Zusammenspiel von Wandel und Stabilität im Generationenverlauf und den damit verbundenen familialen Aushandlungsprozessen im transnationalen Migrationskontext leisten. Um das komplexe Zusammenspiel der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen mit Prozessen sozialer Ungleichheiten im transnationalen Kontext zu erforschen, wurden folgende forschungsleitende Fragen formuliert: • Inwiefern werden Differenzerfahrungen in einer Familie im transnationalen

Migrationsprozess intergenerational weitergegeben? • Wie gestaltet sich die Transmission transnationaler Migrationserfahrungen

über verschiedene Generationen hinweg? • Welche Bedeutung haben dabei multiple soziale Ungleichheiten im Sinne von

soziokulturellen Grenzziehungsprozessen? Um diese Fragen zu beantworten wird ein rekonstruktiver Zugang gewählt. Dies bedeutet, dass im Unterschied zu einem deduktiven Verfahren im Vorfeld keine Hypothesen gebildet werden. Die rekonstruktive Herangehensweise verfolgt das Ziel, aufgrund der empirischen Beobachtungen und Fallrekonstruktionen Hypothesen zu generieren, zu überprüfen, zu verwerfen und weiterzuentwickeln (vgl. Rosenthal 2011: 47). Konkret basiert die vorliegende Forschung auf den biographisch-narrativen Interviews mit den Eltern und deren fünf Kindern. Diese Familie wurde ausgewählt, da sie über mehrere Generationen einen transnationalen Migrationsprozess aufweist, der mit der Arbeitsmigration der Großväter nach Deutschland begann und in der folgenden Generation in die Schweiz führt. Heute lebt ein Teil der Familie im Kosovo und der andere Teil in der Schweiz. Durch den methodischen Ansatz der Biographieforschung (vgl. Rosenthal 2011) werden die individuellen Lebensverläufe der Mitglieder der zwei Generationen dieser Familie mit gesellschaftlichen Veränderungsprozessen der jeweiligen länderspezifischen und regionalen Entwicklungen verknüpft. Die rekonstruktive Herangehensweise der Biographieforschung und der Einbezug der

Einleitung | 15

transnationalen Perspektive ermöglichen intergenerationale Transmissionsprozesse nicht im Sinne des klassischen Assimilationsverständnisses im Vornherein zu problematisieren oder zu kulturalisieren, sondern im Zusammenhang mit strukturellen Rahmenbedingungen zu rekonstruieren. Diese werden unter Einbezug des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen als Dynamiken und Verwobenheit von unterschiedlichen Aspekten sozialer Ungleichheiten im Sinne des Intersektionalitätsansatzes (vgl. Amelina 2012, Lutz et al. 2013) untersucht. Im ersten Teil dieser Arbeit wird der aktuelle Forschungsstand zur intergenerationalen Transmission im transnationalen Migrationskontext dargestellt. Das zweite Kapitel widmet sich der Konzeption von Familien und Generationen im transnationalen Kontext. Es wird aufgezeigt, dass sich die aktuellen Forschungsdiskurse der Familiensoziologie und der Migrationssoziologie durch die Konzeption transnationaler Familien verknüpfen lassen. Dieser Begriff betont die Familie als Herstellungsleistung (doing family) im transnationalen Kontext und grenzt sich somit sowohl von biologischen Definitionen von Familie wie auch einer Definition über einen gemeinsamen Familienhaushalt ab (vgl. Morgan 2011, Bryceson/Vuorela 2002, Baldassar/Merla 2014). Zudem wird aufgezeigt, wie durch die rekonstruktive Biographieforschung die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen anhand einer Familie in Bezug gesetzt werden kann zu der gesellschaftlichen Dimension von Familien (vgl. Rosenthal 2009). Die Anwendung der transnationalen Perspektive ermöglicht eine Distanzierung von der lange Zeit vorherrschenden defizitorientierten Analyse der „zweiten Generation“ (vgl. Juhasz/Mey 2003, Klein-Zimmer 2016) und damit eine Überwindung des methodologischen Nationalismus, der bei der Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen lange Zeit im Vordergrund stand. Im dritten Kapitel werden die theoretischen Zugänge erläutert, die die Erforschung von intergenerationalen Transmissionsprozessen und der Bedeutung sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext ermöglichen. Dazu gehört die Biographieforschung, die in diesem Bereich bereits insbesondere in Bezug auf die Bedeutung von Geschlecht wichtige Erkenntnisse ermöglicht hat (vgl. Siouti 2013, Lutz 2004, Ruokonen-Engler 2012) und deswegen als eine Möglichkeit betrachtet wird, wie die Frage der intergenerationalen Transmission analysiert werden kann. Für die Erforschung der Bedeutung multipler sozialer Ungleichheiten wird zuerst die Intersektionalitätsdebatte aufgegriffen, um die Herausforderungen der Analyse des Zusammenspiels verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten aufzuzeigen. Es wird anschließend aufgezeigt, wie die Intersektionalität in der Biographieforschung durch die Anwendung des analytischen Konzepts der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse (Amelina 2017) operationalisiert werden kann.

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Das vierte Kapitel erläutert die methodische Vorgehensweise. Der Einbezug einer transnationalen Forschungsperspektive ist auch hier bedeutend. Durch die Biographieforschung, in Verbindung mit der multisited ethnography (Marcus 1995), wird angestrebt, in der Datenerhebung und -auswertung einen methodologischen Transnationalismus (vgl. Amelina 2012) anzuwenden. Zudem wird im Sinne der biographischen Reflexivität (vgl. Ruokonen-Engler/Siouti 2013) resp. der differences in situatedness von Intersektionalität (Lutz 2014: 11) der transnationale Forschungsprozess sowie der eigene Bezug zum Thema reflektiert. Im fünften Kapitel wird der historische und geographische Kontext als Verflechtungsgeschichte (Randeria/Römhild 2013) erläutert, da der gesellschaftliche Kontext nationalstaatliche Grenzen überspannt. Die Migrationsgeschichte zwischen dem ehemaligen Jugoslawien und der Schweiz wird im Zusammenhang der jeweiligen migrationspolitischen Interessen dargestellt, als Grundlage für die Analyse der Verknüpfung von gesellschaftlichen Strukturen und individuellen Handlungen der ausgewählten Familienmitglieder, die durch die Biographieanalysen im folgenden Kapitel rekonstruiert wird. Im sechsten Kapitel werden die Ergebnisse der sieben Fallrekonstruktionen der beiden Eltern sowie von deren fünf Kindern basierend auf der rekonstruktiven Vorgehensweise nach Rosenthal (2011) dargestellt. Diese Fallrekonstruktionen zeigen die Differenzerfahrungen in dieser Familie auf und bilden die Grundlage für die Beantwortung der Fragestellungen der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen und der Bedeutung multipler sozialer Ungleichheiten. In Kapitel sieben folgt anstelle einer Typenbildung nach Rosenthal (2011) die komparative Analyse der Fallrekonstruktionen gemäß der theorieorientierten Fallrekonstruktion von Miethe (2014), da diese die fallübergreifende Verwobenheit mehr gewichtet als die Einzelfälle und den Theoriebezug stärker in den Vordergrund stellt (Miethe 2014: 174). Dies ermöglicht die sieben Fallrekonstruktionen in Bezug auf das analytische Konzept soziokultureller Grenzziehungsprozesse von Amelina (2017) als Erzählungen über Zugehörigkeit (Anthias 2003: 26) vergleichend zu analysieren. Dabei wird die Bedeutung von familialen Geschlechternormen, Ethnizität und sozialer Mobilität für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen aufgezeigt. Darauf aufbauend wird die Bedeutung von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen entlang drei zentraler Thesen herausgearbeitet: der Weitergabe der Strategie, durch Migration soziokulturelle Grenzziehungen zu überwinden, den Einschränkungen von familialen Aushandlungsprozessen durch soziokulturelle Grenzziehungen und der lokalen Positionierung als biographische Ressource für familiale

Einleitung | 17

Aushandlungsprozesse. Dabei zeigt sich eine intergenerationale Transmission der transnationalen Positionierung, die der Überwindung kontextspezifischer soziokultureller Grenzziehungsprozesse dient. Zugleich schränken soziokulturelle Grenzziehungsprozesse jedoch auch die Möglichkeiten ein, transnationale Migrationserfahrungen als biographisches Potential zu nutzen und familiale Geschlechternormen auszuhandeln. Zudem wird als Ausblick in diesem letzten Kapitel erläutert, wie das analytische Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen erkenntnisbringend in der Biographieforschung, der transnationalen Migrationsforschung und der Erforschung intergenerationaler Transmissionsprozesse für künftige Forschungen eingesetzt werden kann.

 

 

2

Annäherungen und Forschungsstand: Intergenerationale Transmission im transnationalen Migrationskontext

Das vorgelegte Projekt nimmt Bezug auf aktuelle Forschungsansätze zur transnationalen Migration (vgl. Amelina 2017, Amelina/Faist 2012, Pries 2008, Vertovec 2009, Wimmer/Glick Schiller 2002). Dabei steht die Genese neuer Wirklichkeiten, die nationalstaatliche Grenzen überschreiten und grenzüberschreitende Verflechtungszusammenhänge bilden, die bspw. Beziehungen von sozialen Praktiken, Symbolsystemen und Artefakten beinhalten, im Zentrum (Pries 2008: 44). Migration wird in transnationalen Studien nicht mehr als ein- oder zweimaliger Wanderungsprozess zwischen zwei Orten betrachtet, sondern als komplexe Bewegungen und Verwobenheit zwischen verschiedenen Lebensräumen. Obwohl in der Migrationssoziologie schon lange feststeht, dass Migrant_innen zu ihrer Herkunftsfamilie und anderen Personen in ihrem Heimatland Beziehungen aufrechterhalten, ist Transmigration vor allem seit den 1990er Jahren in der Migrationsforschung zum zentralen Thema in Migrationsstudien geworden (Vertovec 2009: 13, Pries 2010: 11). Die transnationale Perspektive in der Migrationsforschung hat zudem auch methodologische Implikationen, da durch den Einbezug grenzüberschreitender Lebensräume der Nationalstaat als Untersuchungseinheit hinterfragt werden muss. Die transnationale Migrationsforschung erfordert deshalb, den räumlichen Kontext zu präzisieren, um so den methodologischen Nationalismus zu überwinden (Wimmer/Glick Schiller 2002). Dies ermöglicht, die in der klassischen Migrationsforschung dominierende Fokussierung auf Integrations- und Assimilationsprozesse innerhalb der Aufnahmeländer kritisch zu beleuchten und die Frage von sozialen Ungleichheiten und die Definition und Konzeption von Familie und Generationen weiterzuentwickeln. Die konsequente Umsetzung einer transnationalen Forschungsperspektive hat schliesslich auch Konsequenzen für die Metho-

 

20 | Familienleben transnational

denwahl, die Datenerhebung und den Forschungsprozess, wie unter dem Stichwort des methodologischen Transnationalismus bereits von verschiedenen Autor_innen diskutiert wurde (vgl. Amelina 2012, Amelina/Faist 2012). Im vorliegenden Forschungsprojekt wird deshalb angestrebt, die transnationale Forschungsperspektive konsequent in jeden Forschungsschritt einzubeziehen. Aus diesem Grund wird auch in der thematischen Verortung der Forschungsfrage sowie den theoretischen und methodischen Zugängen die transnationale Forschungsperspektive immer wieder eingeflochten, um damit sowohl den aktuellen Forschungsstand einzubeziehen als auch zugleich den Mehrwert dieser Perspektive auf den Forschungsgegenstand aufzuzeigen. Im folgenden Kapitel wird das zentrale Thema des vorliegenden Forschungsprojektes und den damit verbundenen Begrifflichkeiten erläutert. Dabei wird die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen mit den Konzeptionen von Familie und Generation in Zusammenhang gebracht. Es wird aufgezeigt, wie aktuelle Erkenntnisse aus der Migrations- und Familiensoziologie miteinander verbunden werden können, um essentialistische und normativ geprägte Kategorisierungen zu überwinden. Damit wird die Basis gelegt für die dieser Forschung zugrunde liegende Fokussierung auf intergenerationale Prozesse im transnationalen Migrationskontext.

2.1 BLICK AUF DIE KONZEPTION VON FAMILIEN IM MIGRATIONSKONTEXT Um die Frage der intergenerationellen Transmission von Migrationserfahrungen innerhalb einer Familie zu analysieren, wird hier als erstes die Konzeption von Familie im transnationalen Migrationskontext dargestellt. Dabei wird der aktuelle Forschungsstand der Migrations- und der Familienforschung aufgegriffen und miteinander verknüpft. Dies ermöglicht eine normative Konzeption von Familie zu überwinden, um die Vielfalt von grenzüberschreitenden Gestaltungsmöglichkeiten von Familien und intergenerationalen Transmissionsprozessen konzeptuell zu erfassen. Da sich die Migrationsforschung und die Familienforschung über lange Zeit weitgehend getrennt voneinander entwickelt haben und die theoretischen Erkenntnisse der transnationalen Migrationsforschung und der Familienforschung wenig miteinander verbunden wurden (vgl. Kofman 2004: 244, Kraler 2011: 9, Geisen: 2014: 49), wird in diesem Kapitel zuerst die Entwicklung der Bedeutung der Familie in der Migrationsforschung dargestellt. Anschließend wird die Konzeption der Familie in der Familienforschung thematisiert und aufgezeigt, wie

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diese beiden Forschungsstränge in der Konzeption von Familie als soziale Praktiken im transnationalen Kontext vereint werden können. 2.1.1 Die Entdeckung der Familie in der klassischen Migrationsforschung Die Bedeutung der Familie wurde lange Zeit insbesondere in europäischen Migrationsstudien vernachlässigt und ist erst seit den 1990er Jahren ein zentrales Thema (vgl. Kofman 2004: 244, Kofman/Kraler/Schmoll: 2011: 15, Apitzsch 2014a: 13, Geisen 2014: 44). Im Folgenden wird deshalb ein kurzer Abriss über die geschichtliche Entwicklung der Rolle der Familie in der Migrationsforschung gegeben. Die Fokussierung auf die Arbeitsmigration ist gemäß Kofman der Hauptgrund dafür, weshalb der Familie in der europäischen Migrationsforschung lange Zeit keine Bedeutung beigemessen wurde (Kofman 2004: 245). Erst nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Familien im Migrationskontext im Zusammenhang mit der Möglichkeit des Familiennachzuges in der Folge der Arbeitsmigration der Männer thematisiert. Die einseitige Wahrnehmung der „Gastarbeitermigration“ steht im Gegensatz zu der tatsächlichen Arbeitsmigration auch von Frauen, deren Anteil beispielsweise in Deutschland 1973 rund 30 % betrug (Kofman et al. 2011: 14). Nur wenige Studien interessierten sich bis in die 1980er Jahre für die Beziehungen zwischen Arbeitsmigration, Familienstrukturen und Geschlechterbeziehungen (Kofman et al. 2011: 14). Eine weitere Erklärung dafür, weshalb die Familie lange Zeit in der Migrationsforschung nicht thematisiert wurde, liegt in der Fokussierung auf die wirtschaftliche Dimension der Migration von Individuen (Männer) (Kofman et al. 2011: 17, vgl. auch Pries 2010: 39, Kofman 2004: 247). Da die Familie als Kollektiv der reproduktiven Sphäre zugeordnet wurde, galt diese als unbedeutend für die Erforschung von Migrationsprozessen. Auch Frauen fanden dabei wenig Beachtung, da deren Teilnahme am Arbeitsmarkt im Gegensatz zum Mann als Familienernährer als sekundär betrachtet wurde (Kofman et al. 2011: 17, Kofman 2004: 248). Hier wird ersichtlich, dass in der Migrationsforschung eine weitgehend unreflektierte normative Perspektive auf die Familie zur Anwendung kam, welche auf der Konzeption des „bürgerlichen Familienideals“ 1 beruhte.

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Das bürgerliche Ehe- und Familienideal beruht gemäß Nave-Herz (2013: 26) auf einer polaren Zuordnung der Fähigkeiten und Eigenschaften zwischen den Geschlechtern, indem der Ehemann für die ökonomische Sicherstellung der Familie zu sorgen hat, während die Ehefrau ihre Arbeitskraft für den Haushalt und die Versorgung ihrer gemeinsamen Kinder

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In den späten 1980er Jahren rückte die Familie zunehmend ins Interesse der Migrationsforschung (Kofman 2004: 248). Einerseits wurde dieses steigende Interesse angeregt durch Feministinnen, welche dazu beitrugen, dass die Rolle von Frauen in der Migration und Geschlechterbeziehungen zunehmend thematisiert wurden (Kofman et al. 2011: 17). Dabei wurde die Bedeutung von Frauen als unabhängige wirtschaftliche Migrantinnen betont und die Geschlechterungleichheiten von Migrationspolitiken kritisiert, wie bspw. in Bezug auf das Recht der Weitergabe der Staatsbürgerschaft, das in einigen Ländern Männern vorbehalten war (Kofman et al. 2011: 17). Andererseits stieg das Interesse an der Familie auch in Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung von familialer Migration in Nordamerika und Europa nach dem Ende der großen Einwanderungswelle von 1970 (Kofman et al. 2011: 17). Neben diesen feministischen Studien fokussierten dominante Migrationstheorien und -modelle dieser Zeit stark auf die Familie als Einheit in den Einwanderungsländern und stellten dabei die Integrationsprobleme von Familien dar (Kofman 2004: 249). In den öffentlichen Debatten in nordeuropäischen Staaten dominierte die Problematisierung der „traditionellen“ Migrantenfamilie, in der die untergeordnete Ehefrau nicht am Arbeitsmarkt teilnahm und die Kinder gezwungen wurden, traditionelle Praktiken zu übernehmen. Dies wurde bspw. anhand von Themen wie „Zwangsehe“ oder „arrangierte Ehen“ diskutiert (Kofman et al. 2011: 13). Die Abstammung aus einer Migrantenfamilie wurde in den öffentlichen Diskussionen automatisch als Belastung angesehen und das Aufwachsen in einer Migrantenfamilie galt bereits in früher Kindheit als Risikofaktor (Hamburger/Hummrich 2007: 113). Andere Diskurse bezeichneten Migrantinnen als Gruppe, die sich leichter anpasste, im Gegensatz zu der Gruppe von Migranten, insbesondere der zweiten Generation, welche mit deviantem Verhalten in Verbindung gebracht wurde (Kofman et al. 2011: 13). Die Probleme von Migrantenfamilien wurden anhand der Thematisierung von (kulturellen) Konflikten zwischen Ehemann und Ehefrau, zwischen den Generationen, sowie Polygamie oder Zwangsheirat aufgezeigt (Kofman 2004: 245). Erst spätere Studien kritisierten das Bild insbesondere der weiblichen Familienmitglieder, welche als Opfer von Familienzusammenführungen dargestellt wurden und zeigten auf, dass

                                                                                                                                einzusetzen hat. Damit wurden die Ehefrauen auf den familialen Innenbereich verwiesen und von jeglicher Erwerbsarbeit ausgeschlossen (Nave-Herz 2013: 26). Dazu gehört eine Aufteilung des Arbeits- und Familienbereiches, was zu einer Trennung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit führte (Nave-Herz 2013: 24). Die Familie, insbesondere auch die Frauen und Kinder, wurde der privaten Sphäre zugeordnet.

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die Abwesenheit der erweiterten Verwandtschaft sowohl zur Isolierung wie auch zur Emanzipation beitragen kann (Kofman et al. 2011: 16). Wie bereits erwähnt, ist seit den 1990er Jahren ein gestiegenes Interesse für familiale Migrationsprozesse ersichtlich. Dieses geht einher mit der Diversifizierung von Migrationsfamilien im Zusammenhang mit veränderten nationalen und europäischen Migrationspolitiken und der Ablösung des Typus der Familienzusammenführung durch Familiengründungen in Einwanderungsländern (Kofman et al. 2011: 29). Zudem veränderte sich auch die theoretische Konzeption von Migration. Verbindungen zwischen Entsende- und Ankunftsgesellschaften durch personale und familiale Netzwerke rückten in den Vordergrund (Kofman 2004: 248). Dieser Gedanke wurde später in der transnationalen Forschungsperspektive weiter vertieft und familiale Mobilität als Verbindung zwischen individueller und sozialer Welt, zwischen dem privaten und öffentlichen Bereich konzipiert (Kofman et al. 2011: 17). Studien begannen, verschiedene Typen familialer Migration zu unterscheiden und trugen damit zu der differenzierten Konzeption von Familien in Migrationsprozessen bei. Die neueren Forschungen analysieren zudem den Einfluss der Migrationspolitik auf familiale Migrationsprozesse und stellen fest, dass Migrationsregime und staatliche Regulierungen, die auf einer normativen Definition der Kernfamilie beruhen, dazu beitragen, die Komposition der Familie zu beeinflussen, Geschlechterungleichheiten zu verstärken und das Zusammenleben von mehreren Generationen einzuschränken (Kofman et al. 2011: 13, vgl. Drotbohm 2014 ). So zeigen bspw. Kofman et al. (2011: 18) auf, dass die Zunahme von binationalen und transnationalen Heiraten in Zusammenhang steht mit der Restriktion der Arbeitsmigration, da Heiratsmigration für viele Bürger_innen aus nicht EU-Staaten quasi die einzige Möglichkeit für eine legale Einreise darstellt. Der Einbezug von gesellschaftlichen Machthierarchien und die Analyse der Migrationspolitik ermöglicht auch eine Erweiterung der Perspektive auf transnationales Heiraten im Sinne von Eheschliessungen zwischen Partnern der gleichen ethnischen Zugehörigkeit über eine weite Distanz (vgl. Leutloff-Grandits 2015). Insgesamt zeigen diese Studien die Relevanz auf, dass gesellschaftliche Machthierarchien in die Analyse familialer Migrationsprozesse einzubeziehen sind, da die Möglichkeiten, familiale Beziehungen über nationale Grenzen hinweg zu gestalten, stark von der jeweiligen gesellschaftlichen Position wie Nationalität, Klasse, Bildungsniveau, Alter, aber auch dem sozialen Kapital und den zu Verfügung stehenden Ressourcen abhängt (Kofman et al. 2011: 14). Zudem ist festzuhalten, dass die familienbezogene Migration eine weite Spannbreite an verschiedenen Migrationsformen, Familienformen und Strategien umfasst, welche trotz steigendem Interesse an der Erforschung von

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Familie- und Migrationsprozessen nach wie vor weiterer Untersuchungen bedarf (Kofman 2004: 256). Während Familien lange Zeit in der Migrationsforschung vernachlässigt wurden oder sich auf die Integrationsprobleme fokussierten, wurde der Wandel von Familien in der Familiensoziologie bereits seit den 1960er Jahren thematisiert und die Konzeption von Familien weiter differenziert. Jedoch flossen diese Erkenntnisse erst in der letzten Zeit in die Migrationsforschung ein (vgl. Geisen 2014: 51). Hier wird nun zuerst die Entwicklung der Konzeptionen von Familie in der Familiensoziologie aufgezeigt, bevor in einem nächsten Schritt anhand des Konzeptes der transnationalen Familien Gemeinsamkeiten der beiden Theorieentwicklungen behandelt werden. 2.1.2 Familien in der Familiensoziologie Gemäß Burkart (2010: 124) wurde in der Familiensoziologie in den späten 1960er und den 1970er Jahren ein grundlegender Wandel im Verhältnis von Familie und Gesellschaft beobachtet. Diese Veränderungen äusserten sich zwischen 1965 und 1975 im Rückgang von Eheschliessungen und Familiengründungen, einem Geburtenrückgang, einem Anstieg der Scheidungsrate und dem Bedeutungszuwachs nichtfamilialer Lebensformen und kleinerer Haushalte, welche durch die Bildungsexpansion, die Emanzipation und „Kulturrevolution“ (Studenten- Frauenbewegungen, radikaler Wandel in der Einstellung zu Sexualität und Erziehung) begründet wurden. Die Individualisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen, die bspw. Ulrich Beck (1986) mit der Individualisierungsthese vertrat, wurde kontrovers diskutiert (vgl. Schmidt/Moritz 2009: 42, Burkart 2008: 14). Einerseits war die Rede von der Krise und dem Untergang der Familie, andererseits wiesen Forscher darauf hin, dass die Familie nach wie vor die vom Menschen weithin bevorzugte Lebensform darstellt (Burkart 2010: 124). Im Gegensatz dazu zeigen familienhistorische Studien auf, dass bereits in der Vormoderne eine große Vielfalt familialer Lebensformen existierte und deshalb anzunehmen ist, dass die Mehrzahl der heute bekannten Lebensformen bereits existierte, wobei deutliche schichtspezifische und regionale Variationen zu finden sind (Schmidt/Moritz 2009: 43-44). Der Blick in die Geschichte zeigt auf, dass „die Familie“ ein zeitliches Konstrukt ist, welches sich gesellschaftlichen Wandlungsprozessen unterzieht und sowohl mit beobachtbaren Veränderungen der Familie wie auch mit dem Wandel von Familienbildern in engen Zusammenhang steht (Fuhs 2007: 20). Fuhs weist zudem darauf hin, dass Familienrealitäten und Familienbilder auseinander fallen können und verdeutlicht dies am Beispiel der bürgerlichen Kleinfamilie, die sich im 19. Jahrhundert als Idealbild

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der Familie entwickelte, jedoch in dieser Zeit nicht dem Normalfall der existierenden Familien entsprach (Fuhs 2007: 20, vgl. auch Nave-Herz 2013). Die Erforschung der Geschichte „der Familie“ führt zu der Erkenntnis, dass Familie nicht als homogene Institution verstanden werden kann und die lange Zeit vorherrschende Definition der Familie als Kernfamilie aus Vater, Mutter und Kind(ern) zu hinterfragen ist (Fuhs 2007: 24). Trotzdem blieb die Bindung an einen gemeinsamen Ort lange Zeit ein entscheidendes Merkmal bspw. in der Familienforschung in der amtlichen Statistik, die sich weitgehend auf Haushaltsstatistik stützt (Lenz 2013: 113). Bertram wies im Jahr 2000 darauf hin, dass das Kriterium des Zusammenwohnens in einem Haushalt nach wie vor in der Familienforschung, der Familienpolitik und der Öffentlichkeit dominiert, jedoch nicht mehr den tatsächlich gelebten Beziehungen entspricht (Bertram 2000: 99). Die Kritik am zentralen Merkmal des Zusammenwohnens nimmt er zum Ausganspunkt für die Neudefinition von Familie als „multilokale Mehrgenerationsfamilie“. Er zeigt auf, dass die räumliche Distanz nicht zu einer Abnahme der Beziehungsqualität führt und daraus auch nicht geschlossen werden kann, dass die Fürsorge und Solidarität innerhalb der Familie nachlassen (Bertram 2000: 103). Damit weist er darauf hin, dass Studien, welche das Zusammenwohnen in einem Haushalt als wesentliches Definitionsmerkmal für Familien verwenden, andere Formen der Familienbeziehungen nicht erfassen können und deshalb fälschlicherweise zum Schluss des Zerfalls der Kleinfamilie als Lebensform und der zunehmenden Individualisierung kommen (Bertram 2000: 117). Bertram führt weiter aus, dass die Intimität auf Distanz eine zunehmende Bedeutung für die Generationenbeziehungen zwischen erwachsenen Kindern und Eltern erhält. Dies führt dazu, dass Familienbeziehungen multilokal werden, jedoch nicht verschwinden (ibid.: 117). Die multilokale Mehrgenerationenfamilie bezeichnet er damit als einen Familientypus, der in der Bundesrepublik Deutschland wie auch in den USA für die generationsbezogene familiale Solidarität eine erhebliche Bedeutung hat (ibid.: 118). Dieser Familientypus ist durch die Multilokalität anschlussfähig an die Konzeption von Familien im transnationalen Kontext, was im folgenden Unterkapitel vertiefend entfaltet wird. Um der Vielfalt und der Veränderung von Familienformen gerecht zu werden, schlägt Fuhs (2007: 25) die Verwendung des Familienbegriffes im Plural vor. Auch Nave-Herz (2013: 19) weist darauf hin, eine möglichst abstrakte Definition von Familie zu wählen, um nicht durch eine zu enge Begriffsdefinition Veränderungen der Familie von vornherein auszuklammern. Fuhs spricht in diesem Zusammenhang von einer doppelten Pluralität von Familie, um damit sowohl die Vielzahl empirischer Familienformen wie auch Konzepte von Familie zu erfassen (Fuhs 2007: 27).

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Eine weitere Möglichkeit, die heteronormative Vorstellung von Familie als heterosexuelle, lokale Kernfamilie von Eltern mit ihren Kindern zu überwinden, stellt die Konzeption von Familie als soziale Praktiken dar und wird als doing family bezeichnet (vgl. Jurzyk/Lange/Thiessen : 2014, Geisen 2014: 28). Bei dieser Konzeption der Familie stehen die Herstellungsleistungen der Familienmitglieder im Vordergrund, die durch eine mehr oder weniger aktive und bewusste Auseinandersetzung mit vorherrschenden gesellschaftlichen Wertvorstellungen im Kontext ökonomischer, kultureller und sozialer Rahmenbedingungen und Ressourcen stattfindet (Jurzyk et al.: 2014: 8). Der Fokus liegt dabei auf den Praktiken der Herstellung und Gestaltung persönlicher Beziehungen zwischen Generationen und gegebenenfalls auch unterschiedlichen Geschlechtern (ibid. 2014: 9). Das Konzept von Familie als soziale Praktiken geht auf Morgan (2011) zurück, der in diesem Zusammenhang von doing spricht, um damit die Unterscheidung zu einer statischen oder biologischen Konzeption von Familie zu betonen, wie folgendes Zitat zeigt. „The focus on doing, in activities, moves us away from ideas of the family as relatively static structures or sets of positions or statuses. Family actors are not simply persons defined as mothers, fathers and so on but they can also be seen as ,doing‘ mothering or fathering.“ (Morgan 2011: 6)

Zugleich rückt Morgan mit der Konzeption von Familie als family practices das Alltagshandeln der Familie in den Vordergrund und schlägt damit eine Alternative zu der einseitigen Fokussierung auf soziale Probleme oder Disfunktionalitäten in Familien vor (Morgan 2011: 6), wie sie insbesondere in der Migrationsforschung lange vorherrschend war (vgl. Geisen 2014: 46). Zu den family practices gehören alltägliche wie auch regelmässige Aktivitäten, welche von einzelnen Familienmitgliedern oder von mehreren Personen geteilt werden wie bspw. Schwimmunterricht oder Familienrituale (Morgan 2011: 7). Das Konzept der family practices umfasst zugleich auch die Frage nach den Grenzen von Familien. Morgan weist darauf hin, dass diese Grenzen je nach familialer Praktik vom Standpunkt des Beobachters oder Fragenden abhängig sind. Er zeigt auf, dass deshalb auch der Übergang von familialen Praktiken zu gendered practices oder generational practices fliessend ist (Morgan 2011: 7). Des Weiteren erwähnt Morgan (2011) die Bedeutung der Reflexivität von familialen Praktiken. Da alle Personen Erfahrungen mit „Familie“ haben und diese Erfahrungen die Beobachtung von anderen familialen Praktiken beeinflusst, ist es gemäß Morgan besonders wichtig, diese eigenen Erfahrungen und das eigene normative Referenzsystem zu hinterfragen (ibid.: 8-9).

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Indem soziale Praktiken die eigentliche Definition von Familie ausmachen, ermöglicht diese Konzeption von Familie auch die Analyse von multilokalen Familien, welche nicht in einem lokalen Haushalt zusammenwohnen und deren familiale Netzwerke nationale Grenzen überschreiten (vgl. Jurzyk et al.: 2014: 10). Obwohl die Konzeption der Familie als soziale Praktiken nicht explizit im Migrationskontext diskutiert wird und bisher in der Migrationsforschung kaum Anwendung findet, ist sie anschlussfähig an die Definition transnationaler Familien (vgl. Geisen 2014: 51), welche im folgenden Unterkapitel näher beleuchtet wird. 2.1.3 Transnationale Familien Die Kritik am gemeinsamen lokalen Haushalt als Kernmerkmal von Familien, die wie bereits beschrieben in der Familienforschung von Bertram (2000) zum Anlass genommen wurde, das Konzept von Familie als „multilokale Mehrgenerationenfamilie“ zu entwickeln, findet sich auch in der Migrationsforschung wieder unter dem Begriff der transnationalen Familie. Baldassar/Merla (2014: 38) halten fest, dass in westlichen Gesellschaften die Definition der Familie nach wie vor stark verbunden ist mit der Vorstellung eines nuklearen lokalen Haushaltes und der damit verbundenen normativen Verbindung von Lokalität und Intimität von Eltern-Kind-Beziehungen, wobei Distanz per se als negativ diskutiert wird. Im Gegensatz zeigen Studien zu transnationalen Familien auf, dass die Erfahrung der Abwesenheit von geliebten Menschen viel mehr von der Beziehungsqualität und der sozial konstruierten Bedeutung von Mobilität abhängt als von der geographischen Distanz zwischen den Personen (ibid.: 39). Im Kontext der transnationalen Migrationsforschung wird Mobilität zu einem integralen Bestandteil des Familienlebens und damit der Umgang mit Abwesenheit und Distanz zu zentralen Charakteristiken transnationaler Familien (ibid.: 26). Diese transnationale Perspektive erlaubt die Vielfalt von Familien zu erforschen wie bspw. transnationale Elternschaft und beinhaltet verschiedene Bedeutungen in Bezug auf Verwandtschaft und Beziehungen. Die transnationale Perspektive ermöglicht deshalb, die normative Konzeption von (lokalen) Familien innerhalb eines Nationalstaates zu hinterfragen und stattdessen soziale Praktiken von Familien und deren Umgang mit Herausforderungen in Bezug auf Distanz und Trennungen zu erforschen (ibid.: 40). Eine Möglichkeit, transnationale Familien zu definieren, nehmen Bryceson und Vuorela (2002) vor. Ihre Definition umfasst viele verschiedene Formen von Familien, welche nicht biologisch definiert sind, sondern durch das Gefühl bestimmt werden, trotz Distanz zusammenzugehören.

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„,Transnational families‘ are defined here as families that live some or most of the time separated from each other, yet hold together and create something that can be seen as a feeling of collective welfare and unity, namely ,familyhood‘, even across national borders.“ (Bryceson/Vuorela 2002: 3)

Trotz der Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten transnationaler Familien betonen sie den Beziehungscharakter als zentrale Eigenschaft, die für die aktive oder passive Aufrechterhaltung von Familien über lange Distanzen zentral ist und sowohl Verwandte wie auch nicht blutsverwandte Personen umfassen kann (ibid.: 14). Auch das von Baldassar/Merla (2014: 33) verwendete Konzept der care circulation2 umfasst Personen, welche nicht durch verwandtschaftliche Beziehungen zu der Familie gehören, sondern durch Unterstützungsleistungen miteinander verbunden sind. Damit kann der Diversität von Familienformen Rechnung getragen und die heteronormative, statische Definition von Familie überwunden werden (ibid.: 48). Zudem steht wie in der Definition von Bryceson/Vuorela auch beim Konzept der care circulation nicht die Mobilität der Personen, sondern die Beziehungsebene, hier im Sinne der transnationalen familialen Unterstützungsleistungen, im Zentrum (Baldassar/Merla 2014: 46). „We define care circulation as the reciprocal, multidirectional and asymmetrical exchange of care that fluctuates over the life course within transnational family networks subject to the political, economic, cultural and social contexts of both sending and receiving societies. The framework of care circulation we are advancing draws on broad definitions of both family and care, including beliefs and practices about caring embedded in relationships wider than the nuclear family, which in turn are shaped by the broader sociostructural contexts in which families operate transnationally.“ (Baldassar/Merla 2014: 25).

Die care circulation wird gemäß Baldassar/Merla durch kulturelle Auffassungen von Verpflichtungen und asymmetrischer Reziprozität bestimmt und kann in Familien unabhängig vom Wohnort und der Distanz zwischen den Familienmitgliedern stattfinden (Baldassar/Merla 2014: 46) und damit zu der Aufrechterhaltung von verwandtschaftlichen Beziehungen über Generationen hinweg beitragen (ibid.: 47). Im Zentrum der Analyse von Baldassar/Merla (2014) stehen Aushandlungsprozesse transnationaler Familien, um Zusammengehörigkeit im Alltag herzustellen und Distanzen zu überwinden. Dies erfordert gemäß den Au-

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Care beinhaltet gemäß Baldassar/Merla (2014: 48) folgende Dimensionen: „care as economic, accommodation, personal, practical, emotional and moral“ und umfasst damit sowohl Sorgearbeit wie auch verschiedene Formen familialer Unterstützung.

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torinnen spezifische Ressourcen und Fähigkeiten, um die physische Absenz durch virtuelle Kommunikation in Nähe zu verwandeln (ibid.: 54). Sie weisen darauf hin, dass diese Ressourcen und Fähigkeiten nicht nur von transnationalen Familien, sondern auch von multilokalen Familien entwickelt werden, welche die Grenzen von Nationalstaaten nicht überschreiten. Die Besonderheit von transnationalen Familien besteht gemäß Baldassar/Merla (2014: 54) darin, dass deren Mitglieder mit Chancen und Herausforderungen durch die institutionellen Bedingungen mindestens zweier Nationalstaaten sowie dem transnationalen und internationalen Kontext konfrontiert sind. 2.1.4 Familie als soziale Praktiken: Konzeption von Familie im vorliegenden Forschungsprojekt Die kurze Übersicht über die Konzeption von Familien in der Migrations- und Familienforschung zeigt auf, dass eine Definition von Familie die Komplexität und Dynamiken von vielfältigen Familienformen zu berücksichtigen hat. Weder der gemeinsame Haushalt noch die rein biologische Verwandtschaft können als konstituierend für Familien vorausgesetzt werden. Zu der Familie gehören gemäß der Definition von Baldassar/Merla (2014) alle Personen, welche durch Unterstützungsleistungen zusammen eine Familie bilden. Dieses Konzept der transnationalen Familien ist dabei anschlussfähig an die Konzeption von Familie als familiy practices, durch die Familie hergestellt wird. Im vorliegenden Forschungsprojekt werden alle drei Perspektiven miteinander in Verbindung gesetzt. Familie wird als soziale Praxen konzipiert, die durch die Akteure hergestellt wird. Dazu können sowohl verwandte und nicht verwandte Personen gehören, wie auch Personen, welche nicht im selben Haushalt wohnen und schließt damit auch multilokale Mehrgenerationenfamilien ein. Sie umfasst neben Unterstützungsleistungen auch die Dimensionen von Identität / Zugehörigkeit sowie wirtschaftliche und politische Aspekte im Zusammenspiel mit Grenzüberschreitungen. Die Konzeption von Familie als soziale Praxis ist für die Analyse intergenerationaler Transmissionsprozesse relevant, da damit die vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten und Herausforderungen im Zusammenhang mit Grenzüberschreitungen im transnationalen Migrationskontext analysiert werden können. Für eine weitere theoretische Annäherung an die Frage der intergenerationalen Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext wird im folgenden Kapitel zuerst der Begriff der Generation ausführlicher beleuchtet und anschließend die Entwicklung der Konzeption von Generation in der Migrationsforschung aufgezeigt. Die transnationale Perspektive erlaubt auch hier, die Konzeption von intergenerationalen Transmissionsprozessen und insbesondere auch

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der „zweiten Generation“ in der klassischen Migrationsforschung kritisch zu hinterfragen und weiterzuentwickeln. Abschliessend wird die Konzeption von Generation erläutert, welche im vorliegenden Forschungsprojekt angewendet wird, um der Frage der intergenerationalen Transmission im Migrationskontext nachzugehen.

2.2 BLICK AUF DIE KONZEPTION VON GENERATIONEN Das Ziel dieses Kapitels ist es, die Relevanz der Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen im Migrationskontext aufzuzeigen und in der intergenerationalen Forschung zu verorten. Dazu wird in einem ersten Teil erläutert, wie durch die rekonstruktive Biographieforschung familiale und gesellschaftliche Konzeptionen von Generationen miteinander verbunden werden und damit intergenerationale Transmissionsprozesse an der Schnittstelle von Mikro- und Makroebene analysiert werden können. Anschließend wird aufgezeigt, wie die Frage von intergenerationalen Transmissionsprozessen in der klassischen Migrationsforschung konzipiert wurde und durch eine transnationale Forschungsperspektive kritisch reflektiert werden kann. Daraus folgend wird die zugrunde liegende Konzeption von intergenerationalen Transmissionsprozessen hergeleitet und in der aktuellen transnationalen Migrationsforschung verortet. 2.2.1 Der Generationenbegriff in der intergenerationalen Forschung In Deutschland zeigt sich seit den 1990er Jahren ein wachsendes Interesse an intergenerationaler Forschung, vor allem in den Disziplinen der Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie und Demographie (Böker/Zölch 2017:1). Die daraus entstandenen Arbeiten unterscheiden sich gemäß Böker/Zölch (2017:1) insbesondere in Bezug auf die theoretischen Ansätze des Generationenbegriffes. Dabei lässt sich grundsätzlich zwischen der Verwendung des Begriffes der Generation im Feld der Familie und der Gesellschaft differenzieren (Kohli/Szydlik 2000: 7, Oevermann 2001: 78). Das Konzept der gesellschaftlichen Generation, das auf der Makroebene angesiedelt ist, beruht auf dem von Mannheim (1928) geprägten Begriff der Generation (Kohli/Szydlik 2000: 7). Dabei werden Generationen durch das Aufwachsen in spezifischen historischen Kontexten durch Alter und Zugehörigkeit zu bestimmten Geburtsjahrgängen definiert (Böker/Zölch 2017: 2). Studien, basierend auf diesem Verständnis, untersuchen Generationen unabhängig von familialen

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Zusammenhängen in Bezug auf spezifische Aspekte wie bspw. Medienpraxiskulturen (ibid.: 2). Familiale Generationen werden von Kohli/Szydlik (2000: 7) auf der Mikroebene verortet. Sie werden durch die Abstammungslinie bestimmt und deshalb auch als genealogische Generationen bezeichnet (Böker/Zölch 2017: 2). Dabei stehen die sozialen Beziehungen im Vordergrund, welche durch Elternschaft3 begründet werden (Oevermann 2001: 79). Es interessieren gemäß Oevermann die Beziehungen einzelner Personen, die durch die Tatsache der Nachkommenschaft miteinander verbunden sind ohne Bezug auf Generationen als Bezugsgruppe (ibid.: 79). Bei beiden Ebenen des Generationenkonzeptes steht gemäß Kohli (2009: 230) die Analyse zeitlicher Veränderungen der Gesellschaft im Vordergrund, da durch die Generationenfolge in Familie und Gesellschaften Veränderungen und Kontinuität zwischen Eltern und Kindern geschaffen werden, in denen ökonomische Ressourcen, politische Macht und kulturelle Hegemonie eine Rolle spielen. Die Untersuchung von Generationen ermöglicht deshalb die Analyse von sozialer Reproduktion und sozialem Wandel, Stabilität und Erneuerung (Kohli 2009: 230). So zeigen bspw. intergenerationale Forschungen, basierend auf der familialen Konzeption von intergenerationalen Transmissionsprozessen zu Themen wie Lernhabitusmuster, Generationensorge, Familienbeziehungen oder politischer Sozialisation, auf, dass die Familie sowohl Raum für Entwicklung und die Entstehung von Neuem bietet, zugleich aber auch zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten beitragen kann (Böker/Zölch 2017: 4). Im vorliegenden Forschungsprojekt stehen intergenerationale Transmissionsprozesse in Bezug auf familiale Generationenverhältnisse im Vordergrund. Während sich bei der gesellschaftlichen oder historischen Konzeption von Generation die Frage nach der Abgrenzung der Generationen stellt (vgl. Kohli 2009: 230), erübrigt sich diese Herausforderung der Bestimmung und Abgrenzung von Generationen durch die quasi natürliche Abfolge von Eltern-Kind-Strukturen. Jedoch besteht hier gemäß Kohli (2009: 233) die Schwierigkeit, diese kontinuierliche Generationsabfolge der Mikroebene in Bezug zu setzen mit der historischen und gesellschaftlichen Ebene auf der Makroebene. Die rekonstruktive Biographieforschung stellt gemäß Rosenthal (2010) eine Möglichkeit dar, diese Verbindung von historischen und familialen Generationen herzustellen. Da für die Bestimmung von historischen Generationenzusammenhängen die Lebensphase und das „Wie des Erlebens“ entscheidend ist für die

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Dazu gehören gemäß Oevermann (2001: 79) auch Elternschaften, die nicht biologisch sind, sich jedoch am biologisch bedingten Modell von Elternschaft orientieren.

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Bildung eines Generationenzusammenhangs (Rosenthal 2010: 165), folgert sie daraus, dass die Dynamik zwischen dem Erleben und der Reinterpretation des Erlebten in unterschiedlichen Lebensphasen in Zusammenhang steht mit der Abfolge historischer Generationen in der Familie und dem familialen Dialog über die Vergangenheit. Sie begründet darin die Verbindung der historischen und familialen Generation, welche durch die Biographieforschung rekonstruierbar ist (Rosenthal 2010: 177). Auch Oevermann (2001:103) zeigt die Verbindung von familialen und historischen Generationen mittels Fallrekonstruktionen auf. Oevermann stellt dar, dass die soziokulturelle Lebenswelt, wie sie durch nichtstandardisierte Interviews erhoben werden kann, sowohl sozial-räumlich wie auch sozial-zeitlich eingebettet ist durch das Geburtsjahr. Dieses ist nicht nur ein Hinweis auf das Lebensalter des Falles und die Stellung im Lebenszyklus, sondern weist auf die Zugehörigkeit zu einer Generation hin. Dies ermöglicht den individuellen Fall in Bezug zu setzen zum Mannheimschen Konzept von Kohorten und darin zu interpretieren (Oevermann 2001:104). In diesem Sinne stehen auch familiale Generationen durch die sozialräumliche und historische Verortung in Zusammenhang mit der gesellschaftlichen resp. historischen Konzeption von Generationen. Im vorliegenden Forschungsprojekt wird durch das methodische Vorgehen der rekonstruktiven Biographieforschung methodisch der Bezug zwischen familialer und historischer Konzeption von Generationen hergestellt, indem die untersuchten Fälle im historisch-gesellschaftlichen Kontext analysiert werden. Zudem weisen Böker/Zölch (2017) darauf hin, dass empirische Untersuchungen zu intergenerationalen Themen insgesamt in Bereichen bedeutsam sind, die ein hohes Transformationspotential und Erkenntnischancen aufweisen und in Zusammenhang stehen mit Kategorien sozialer Ungleichheit (Böker/Zölch 2017: 5). Sie argumentieren, dass der Betrachtung von mehreren Generationen im Kontext von Migration eine besondere Relevanz beizumessen ist, da Migrationsprozesse mehrere Generationen überdauern können und ein breites Spektrum an Entwicklungsrichtungen beinhaltet, die lange Zeit verkannt wurden (Böker/Zölch 2017: 5). Diesen Erkenntnissen wird in der vorliegenden Forschungsarbeit Rechnung getragen, in dem die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen im Zusammenhang mit multiplen sozialen Ungleichheiten untersucht wird. Im folgenden Kapitel wird die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen in Bezug auf bisherige Forschungen verortet. Zuerst wird dargelegt, dass intergenerationale Transmissionsprozesse in der klassischen Migrationsforschung stark verknüpft waren mit Assimilationsmodellen, die auch heute noch mit dem Begriff der „zweiten Generation“ verknüpft sind. Es wird aufge-

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zeigt, dass eine transnationale Forschungsperspektive ermöglicht, die damit verbundenen essentialistischen Konzeptionen zu überwinden, um intergenerationalen Wandel und Kontinuität im transnationalen Migrationskontext zu analysieren. 2.2.2 Intergenerationale Transmissionsprozesse als Assimilation oder kulturelle Differenz In diesem Kapitel wird die Analyse intergenerationaler Transmissionsprozesse in der klassischen Migrationsforschung thematisiert und aufgezeigt, dass diese oft im Zusammenhang mit Assimilationsprozessen und der Betonung kultureller Differenz erforscht wurden. Diese Konzipierung intergenerationaler Transmissionsprozesse und der damit verbundene methodologische Nationalismus wird hier kritisch beleuchtet, um im folgenden Kapitel aufzuzeigen, wie durch eine transnationale Perspektive intergenerationale Transmissionsprozesse im transnationalen Kontext jenseits von Assimilation und Kulturalisierung konzipiert und analysiert werden können. Gemäß Klein-Zimmer (2016: 30) wurde das Zusammenspiel von Migration und intergenerationaler Transmission erstmals zu Beginn des 20. Jahrhunderts in der Chicago School of Sociology thematisiert. Der Prozess der Eingliederung von Migrant_innen in die Mehrheitsgesellschaft wurde mit Zyklen- und Generationenmodellen erläutert und entwickelte sich zur Grundlage der klassischen Assimilationstheorien (vgl. Aumüller 2009: 70 ff für eine ausführlichere Diskussion), die bis in die 1950er Jahre die Einwanderungs- und Eingliederungspolitik der USA, Kanadas und Australiens prägte (Han 2010: 95). Die Eingliederung verläuft demnach über zeitlich aufeinanderfolgende Stufen oder Phasen der Anpassung über die Abfolge von Generationen (Klein-Zimmer 2016: 30). Damit gewinnt die Generationensequenz in der Migrationssoziologie an Bedeutung, da der Assimilationsprozess nicht innerhalb eines Menschenlebens geleistet werden kann, sondern sich über mehrere Generationen hinweg vollzieht (Aumüller 2009: 75). Schematisch kann dieser Prozess gemäß Aumüller (2009: 75) als Drei-Generationen-Modell dargestellt werden: Die erste Generation bildet dabei eine intern homogene und kohäsive ethnische Gruppierung, die nur die Handlungsweisen der Einheimischen übernimmt, die für die Befriedigung der Grundbedürfnisse notwendig sind. Dies führt dann bei der zweiten Generation, welche in den ethnisch geschlossenen Gruppierungen der Einwanderungsgeneration sozialisiert wird und zugleich Aspirationen und Fertigkeiten der Aufnahmegesellschaft übernimmt, zu einem „Kulturkonflikt“ und einer dualen kulturellen und normativen kognitiven Orientierung. Darauf folgt dann eine Marginalisierung,

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welche sowohl zu einer Mobilisierung oder Desorientierung führen kann. In der dritten Generation entsteht gemäß diesem Modell die völlige Aufgabe der Herkunftskultur und führt zu einer vollständigen Assimilation im Aufnahmekontext (ibid.: 76). In diesem Zusammenhang steht auch das von Park 1928 entwickelte theoretische Modell des „marginal man“. Dieser Persönlichkeitstyp, der in der zweiten Generation verortet ist, befindet sich in einer dauerhaften Krise zwischen zwei Gesellschaften, in denen er mehr oder weniger ein Fremder ist (Park 1928: 893). „One of the consequences of migration is to create a situation in which the same individual – who may or may not be a mixed blood – finds himself striving to live in two diverse cultural groups. The effect is to procure an unstable character – a personality type with characteristic forms of behavior. This is the ,marginal man‘. It is in the mind of the marginal man that the conflicting cultures meet and fuse.“ (Park 1928: 881)

Gemäß Klein-Zimmer (2016: 38) liefert dieses Modell von Park die Grundlage für die Problematisierung der zweiten Generation, welche sich in einem ständigen Kulturkonflikt befindet. Mit dieser problemzentrierten Perspektive wurden Sozialisations- und Akkulturationsprobleme in den Mittelpunkt der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion gerückt (ibid.: 38). Nach Juhasz/Mey (2003: 32) führte diese Forschungsperspektive in der Mitte der 1970er und anfangs der 1980er in Deutschland und in der Schweiz zu der Fokussierung auf die Integration und Assimilation von Jugendlichen ausländischer Herkunft. Anpassungsschwierigkeiten wurden vielfach mit der Differenz zwischen der Herkunfts- und Aufnahmekultur erklärt und führten zu einer Identifizierung verschiedenster Probleme wie Identitätskonflikte, Loyalitätskonflikte oder Orientierungsschwierigkeiten (ibid.:32). Dabei wurde ein essentialistischer Kulturbegriff verwendet, welcher eine fragwürdige Homogenität und Stabilität von Herkunftsund Aufnahmekultur suggerierte (ibid.: 32). Zudem wurden die Phänomene der Zuschreibung und Mobilisierbarkeit von Gruppenmerkmalen und der historischen Erfahrung der Einwanderungsbewegungen nicht berücksichtigt (Aumüller 2009: 86). Die ausländische Familie galt dabei pauschal als Hemmung der Modernisierung der zweiten und dritten Generation (Badawia/Hamburger/Hum– mrich 2003: 11). Dieses Bild des zerrissenen Menschen, der zwischen zwei Kulturen aufwächst, fand insbesondere auch im Zusammenhang mit den Kindern der „Gastarbeiter_innen“ Verwendung (ibid.: 10). Die Konzeption von intergenerationaler Transmission im Zusammenhang mit Assimilationsprozessen führte zu einer Betrachtung der Transmission von Werten, Einstellungen und ethnischen Zugehörigkeiten als Spannungsfeld und Kulturkonflikt zwischen den Generatio-

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nen (vgl. Weiss et al. 2014: 17). Diese Problematisierung der „zweiten Generation“, welche „zwischen zwei Kulturen“ steht, prägt teilweise auch heute noch den öffentlichen Diskurs (Bader/Fibbi 2012: 5). Einflussfaktoren, die zu einer Herausbildung einer Vielfalt von Identitäten der „zweiten Generationen“ führen wie Klasse, Wohnort, Ethnizität und Geschlecht wurden dabei übersehen (vgl. Fouron/Glick-Schiller 2002: 175, Aumüller 2009: 86.). Generell wurden mit der Fokussierung auf individuelle Prozesse strukturelle Benachteiligungen oder Diskriminierung vernachlässigt und soziale Ungleichheiten nicht in Frage gestellt (Juhasz/Mey 2003: 22, Klein-Zimmer 2016: 40). Aufgrund der Kritik an der problemzentrierten Fokussierung der Assimilationstheorien entwickelte sich in den 1980er Jahre eine neue Perspektive, in der Differenz, beruhend auf Migrationserfahrungen, nicht mehr ausschliesslich als Defizit, sondern als Option und Erweiterung des Möglichkeitsraumes und Chance betrachtet wurde (Klein-Zimmer 2016: 40). Dieser Paradigmenwechsel steht gemäß Aumüller (2009: 78) in Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel, der in den 50er Jahren in Amerika durch die afroamerikanische Bürgerrechtsbewegung ausgelöst wurde und zu einem ethnic revival von Zuwandererminderheiten führte. Dabei wird Kritik an der bisherigen Vorstellung der Gesellschaft als melting pot geäussert, bei der davon ausgegangen wurde, dass sich die ethnischen Unterschiede in einer liberalen und sozial durchlässigen Gesellschaft schrittweise auflösen würden (Aumüller 2009: 78). Dies führte seit den 1970er Jahren auch in Europa dazu, dass vermehrt die Anerkennung der kulturellen Vielfalt der Gesellschaft, die Achtung verschiedener kultureller Identitäten und der Erhalt der kulturellen Differenz gefordert wurde (ibid.: 78). Kulturelle Vielfalt wird nun nicht mehr als Problem, sondern als Bereicherung betrachtet (Klein-Zimmer 2016: 40-41). Dies führt zu einer neuen Perspektive auf Familien und die folgenden Generationen. Untersuchungen fokussieren nun vermehrt auf Ressourcen, Bewältigungsstrategien und Identitätsprozesse von Jugendlichen ausländischer Herkunft und stützen sich dabei auf sozialisationstheoretische und psychoanalytische Theorien (Klein-Zimmer 2016: 41, Juhasz/Mey 2003: 33-34). Jedoch werden in dieser Perspektive durch die Betonung der Differenz Jugendliche „mit Migrationsgeschichte“ als „kulturell Andere“ wahrgenommen und die kulturellen Differenzen als alleinige Begründung der beobachteten Unterschiede herangezogen (Klein-Zimmer 2016: 42). Unterschiede zwischen den Jugendlichen werden mit einem essentialistischen Kulturverständnis begründet und die Menschen in Bezug auf ihre Zugehörigkeit zu einer „Nationalkultur“ betrachtet (ibid.: 42). Dabei bleiben andere Differenzmerkmale wie Geschlecht, Bildung oder Klassenzugehörigkeit nicht berücksichtigt (ibid.: 42) und auch politische und strukturelle Probleme werden nicht thematisiert (Juhasz/Mey 2003: 34-35).

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Gemäß dieser Forschungsperspektive steht bei der Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen die Weitergabe der „Kultur“ im Vordergrund. Trotz der Anerkennung und Wertschätzung kultureller Vielfalt wird dabei ein essentialistisches Verständnis von Kultur verwendet, bei dem der Dynamik von Transmissionsprozessen ebenso wenig Beachtung geschenkt wurde wie der Einbeziehung struktureller Rahmenbedingungen. Auch die Konsequenzen einer Betonung der kulturellen Differenz auf die Herausbildung sozialer Identitäten, wie sie in Konzepten des Othering diskutiert wurde (vgl. Klein-Zimmer 2016: 42, Geisen 2014: 33) findet in dieser Forschungsperspektive keine Beachtung. Bei der Aufarbeitung bisheriger Forschungen und Konzeptionen von intergenerationalen Transmissionsprozessen im Migrationskontext fällt auf, dass der Begriff der „zweiten Generation“ bis heute insbesondere in der quantitativen Forschung verwendet wird, obwohl dieser Begriff im Zusammenhang der Zyklen-Modelle im Rahmen der amerikanischen Assimilationstheorien entstanden ist. In Form eines Exkurses wird in folgendem Kapitel der Begriff der „zweiten Generation“ in der Migrationsforschung verortet um aufzuzeigen, dass dieser mit einem methodologischen Nationalismus verknüpft ist und deshalb dessen Verwendung im transnationalen Migrationskontext einer kritischen Reflexion bedarf. Aus diesem Grund wird in dieser Arbeit dieser Begriff mit Anführungsund Schlusszeichen markiert. 2.2.3

Exkurs: Der Begriff der „zweiten Generation“

Der Begriff der „zweiten Generation“ wurde gemäß Bolzman/Fibbi/Vial (2003: 20) erstmals 1940 in der amerikanischen soziologischen Literatur erwähnt und bezeichnete die Kinder von eingewanderten, ausländischen Eltern, die in den USA geboren wurden. Diese Kinder erhielten aufgrund der Migrationspolitik gemäß dem Prinzip jus solis die amerikanische Staatsbürgerschaft bei der Geburt. Die „zweite Generation“ umfasste somit eine spezifische Untergruppe von Amerikaner_innen, die sich definitiv auf dem neuen Kontinent niederlassen konnten (Bolzman et al. 2003: 20). Dreissig Jahre später fand der Begriff der „zweiten Generation“ auch in Europa Verwendung. Die Situation der „zweiten Generation“ und ihrer Eltern in Europa stand jedoch nicht unter denselben Voraussetzungen wie in Amerika, da die Eltern der „zweiten Generation“ der damaligen „Gastarbeiter_innen“ in der Regel nicht über eine dauerhafte Niederlassung verfügten und deshalb nicht davon ausgegangen werden konnte, dass die „zweite Generation“ definitiv im Aufenthaltsland der Eltern aufwachsen würde (ibid.: 20). Grund für diesen Unterschied ist unter anderem die in Deutschland und der Schweiz vorherrschende Migrationspolitik und Einbürgerungspolitik, welche im

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Gegensatz zu den USA auf dem Prinzip von jus sanguinis basiert und damit Kinder nur dann die Staatsbürgerschaft erhalten, wenn ein Elternteil bereits die Staatsbürgerschaft besitzt, unabhängig vom Geburtsort. Der skizzierte Vergleich der Verwendung des Begriffes der „zweiten Generation“ in den USA und Europa zeigt auf, dass der Begriff der „zweiten Generation“ eine Vielzahl von unterschiedlichen Realitäten umfasst. Zudem sind auch die Grenzen dieser Definition unklar. So werfen Bolzman et al. (2003: 20) die Fragen auf, ob zu der „zweiten Generation“ auch Kinder von binationalen Paaren gezählt werden oder wie Kinder bezeichnet werden, welche erst im Jugendalter durch Familiennachzug migrieren. Auch Faist/Fauser/Reisenauer (2014: 107) weisen darauf hin, dass die Definition der „zweiten Generation“ unklar ist und der Pluralität von Migrationsprozessen und transnationalen Familienformen kaum gerecht wird. Wie werden bspw. Kinder von Eltern mit unterschiedlichen Migrationsgeschichten und unterschiedlichen Staatsangehörigkeiten bezeichnet? Oder wie können Kinder erfasst werden, welche zwischen verschiedenen Ländern hin- und herpendeln? (vgl. Faist et al. 2014: 107) Bolzman et al. (2003: 21) konstatieren, dass der Begriff der „zweiten Generation“ trotz dieser Unklarheiten in der (schweizerischen) Migrationspolitik insbesondere für Kinder von Arbeitsmigrant_innen verwendet wird, welche in der Schweiz aufgewachsen sind. Damit wird die Bezeichnung der „zweiten Generation“ zugleich zu einer sozialen und ethnischen Markierung. Ausländische Kinder werden in Verbindung gebracht mit Eltern, die als Arbeiter_innen niedrige soziale Positionen in den Aufenthaltsländern innehatten. So weisen Bolzman et al. (2003: 21) darauf hin, dass diese Kinder, welche in der Regel selbst nicht migriert sind, sowohl von der inländischen Bevölkerung als auch höher privilegierten ausländischen Migrant_innen abgegrenzt werden, da man davon ausgeht, dass diese Kinder die tiefen sozialen Positionen ihrer Eltern reproduzieren würden. Obwohl der Begriff der „zweiten Generation“ der Komplexität und Pluralität von Familienformen in transnationalen Kontexten kaum gerecht wird, findet er gemäß Faist et al. (2014: 107) auch heute noch Verwendung als Bezeichnung von Kindern von Immigrant_innen, welche im Einwanderungsland geboren wurden oder sehr jung, in der Regel vor dem Eintritt ins Schulalter, einwanderten. In manchen Studien werden Kinder, die migrieren, auch als 1.5 Generation bezeichnet (ibid.: 107). Die grösstenteils nicht hinterfragte Verwendung des Begriffes der „zweiten Generation“ weist gemäß Fouron/Glick Schiller (2002: 175) darauf hin, dass Generationenbeziehungen nach wie vor mit Prämissen der klassischen Migrationsforschung verbunden werden, die davon ausgingen, dass über

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die Generationen die Integration/Assimilation an die „nationale Kultur“ in einem Staat zunimmt und die Verbindungen zum Herkunftsland schwächer werden. „Even the naming of immigrants’ children as a ,second generation‘ reflected and contributed to the notion of the incorporation of immigrants as a step like irreversible process and one in which immigrants’ children were socialized solely by forces within the land of their birth.“ (Fouron/Glick Schiller 2002: 175)

Im Gegensatz zu der klassischen Migrationsforschung nimmt die transnationale Migrationsforschung die Etablierung von grenzüberschreitenden Netzwerken und Beziehungen von Immigrant_innen in den Blick und die damit verbundene Möglichkeit, sowohl zu nationalen Kontexten wie zum Herkunftsland transnationale Beziehungen aufrechtzuerhalten oder neue transnationale Praxen zu entwickeln. „We have defined transnationalism as the processes by which immigrants build social fields that link together their country of origin and their country of settlement. Immigrants who build such social fields are designated ,transmigrants’.“ (Glick-Schiller/Basch/ Szanton-Blanc 1992:1)

Dies ermöglicht die Kritik an den Assimilationsmodellen gemäß denen die Immigrant_innen als entwurzelt gelten und die Aufrechterhaltung von Beziehungen zu deren Herkunftsland nicht berücksichtigt werden (Fouron/Glick Schiller 2002: 174). Der mit diesen Theorien verbundene methodologische Nationalismus und die Fokussierung auf nationale Kontexte verhindert die Konzipierung der Anpassung von Migrant_innen an strukturelle Kontexte in den entsprechenden transnationalen Räumen (Aumüller 2009: 124). Die transnationale Forschungsperspektive erfordert deshalb eine Differenzierung resp. Erweiterung des Begriffes der „zweiten Generation“. So schlagen bspw. Fouron/Glick Schiller (2002) ein Konzept der transnational second generation vor. Diese erfasst alle Personen, die in transnationalen Felder sozialisiert worden sind. „born into the generation after emigrants have established transnational social fields who live within or are socialized by these fields, regardless of whether they were born or currently living in the country of emigration or abroad“ (Fouron/Glick Schiller 2002: 195)

Mit dieser erweiterten Definition nehmen Fouron/Glick Schiller die Kritik am Begriff der „zweiten Generation“ auf, indem sie zu der transnationalen zweiten Generation sowohl Personen im Immigrationsland wie auch Herkunftsland zäh-

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len, da sie von transnationalen Feldern betroffen sind, indem sie beispielsweise in transnationalen Haushalten leben (ibid.: 194). Der transnationale Aspekt wird damit nicht ausschliesslich mit physischer Mobilität verknüpft, sondern mit transnationalen Feldern begründet, welche potenziell alle Menschen betreffen und eine Vielfalt von Formen transnationaler Praktiken, Orientierungen und Zugehörigkeiten umfassen können (vgl. Klein-Zimmer 2016: 88). Die Bedeutung und Knüpfung von grenzüberschreitenden Beziehungen ist deshalb abhängig von der Art und Weise, wie Individuen in transnationalen Feldern aufwachsen und kann sich nicht nur über die Generationen, sondern auch in Bezug zu den individuellen Bedürfnissen und Wünschen verschiedener Lebensphasen verändern (Levitt 2009: 1228). So kann beispielsweise die Relevanz von transnationalen Feldern zum Zeitpunkt von Heirat und Familiengründung auch von Personen aktiviert werden, welche zuvor kaum Interesses für die elterlichen Herkunftsländer zeigten (ibid.: 1228). Diese Erkenntnisse zeigen die Relevanz auf, sowohl Veränderungen zwischen den Generationen als auch während des Lebensverlaufes zu analysieren. Die rekonstruktive Biographieforschung erscheint deshalb besonders geeignet, die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen im transnationalen Migrationskontext zu analysieren und damit die essentialistischen Konzeptionen von Familien und Generationen zu überwinden. Im folgenden Kapitel wird zuerst eine Übersicht über bisherige Forschungen von intergenerationalen Transmissionsprozessen im transnationalen Kontext gegeben, um darauf aufbauend die Forschungslücke aufzuzeigen, zu dem die vorliegende Arbeit einen Beitrag leisten will. Dabei werden die Erkenntnisse der transnationalen Migrationsforschung sowie auch die Kritik an Assimilationsmodellen und dem Begriff der „zweiten Generation“ angewendet, um die Frage nach intergenerationaler Transmission im transnationalen Migrationskontext zu konzipieren. 2.2.4 Intergenerationale Transmissionsprozesse aus transnationaler Forschungsperspektive Studien zu intergenerationalen Transmissionsprozessen sind in der transnationalen Migrationsforschung gemäß Somerville (2008: 24) noch in den Anfängen, da es viele Themen und Aspekte gibt, die nach wie vor nicht untersucht sind. In empirischen Forschungen wurde vor allem die Frage thematisiert, ob sich Transnationalisierungsprozesse über die verschiedenen Generationen hinweg aufrechterhalten. Die verschiedenen Arbeiten kamen je nach Untersuchungseinheit und Definition von transnationalen Praktiken, Beziehungen oder Zugehörigkeiten zu anderen Ergebnissen (Dahinden 2011: 97). Einige Autor_innen kommen

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zum Schluss, dass nur eine Minderheit der „zweiten Generation“ in transnationale Praktiken involviert ist (vgl. Somerville 2008: 24, Levitt/Waters 2002: 19). Andere Autor_innen hingegen stellen fest, dass Transnationalität auch für die „zweite Generation“ eine zentrale Bedeutung hat, da diese in transnationalen sozialen Feldern aufwächst (Somerville 2008: 30). Die Formen von transnationalen Beziehungen können sich jedoch über die Generationen hinweg verändern, wie Gowricharn (2009) in seiner Untersuchung von Hindus in den Niederlanden feststellt. Er zeigt dabei auf, dass transnationale Praktiken und Zugehörigkeiten der „zweiten Generation“ komplex sind und in Studien, welche nur die Beziehungen zwischen Entsende- und Ankunftsland untersuchen, nicht aufgezeigt werden können und deshalb fälschlicherweise von einem Rückgang von Transnationalität der zweiten Generation ausgehen (Gowricharn 2009: 1634). Auf die Komplexität von Transnationalisierungsprozessen der „zweiten Generation“ weist auch die Studie von Louie (2006) hin. Sie zeigt in ihrer Untersuchung von Identitätsprozessen der „zweiten Generation“ von Chines_innen und Dominikaner_innen in den USA den Einfluss der Familie sowie Klasse und Gender auf intergenerationale Transmissionsprozesse auf (Louie 2006: 387388). Auch Fouron/Glick Schiller (2002) zeigen in ihrer Analyse die Komplexität der Identitätsbildung der „zweiten Generation“ aus einer transnationalen Perspektive auf. Sie stellen dar, dass die „zweite Generation“ in widersprüchliche Prozesse der Identitätsbildung verstrickt sein kann, die überlappend sein können und aufgrund verschiedener Erfahrungen und Kontexte zu der Herausbildung simultaner Identitäten führen, die sich zudem über die Zeit hinweg verändern (Fouron/Glick Schiller 2002: 176). Im Gegensatz zu den anderen Studien transnationaler Migration und intergenerationaler Transmission weisen Fouron/Glick Schiller (2002: 193) jedoch auch auf die Notwendigkeit hin, den Begriff der „zweiten Generation“ im transnationalen Migrationskontext neu zu definieren. „We suggest that it is time to redefine the second generation to include the entire generation in both homeland and new land who grow up within transnational social fields linked by familial, economic, religious, social and political fields.“ (Fouron/Glick Schiller 2002: 193)

Aufgrund der Kritik an der Konzeption der „zweiten Generation“ und um eine zu enge Definition von Transnationalisierung zu vermeiden, wird hier im Unterschied zu bisherigen empirischen Untersuchungen Transnationalisierung nicht als zentraler Forschungsgegenstand konzipiert. Stattdessen wird eine transnationale Forschungsperspektive eingenommen, die als theoretischer und methodischer Zugang dient, um der Komplexität von intergenerationalen Transmissions-

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prozessen gerecht zu werden. Die Frage lautet deshalb nicht, wie und ob verschiedene Generationen einer Familie in transnationale Felder involviert sind oder wie sich transnationale Praktiken oder Zugehörigkeiten über die Generationen verändern, sondern wie intergenerationale Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext mit einer transnationalen Forschungsperspektive analysiert werden können, um sowohl essentialistische Konzeptionen von Ethnizität, Kultur sowie einen methodologischen Nationalismus zu überwinden. Gemäß Klein-Zimmer (2016: 56) ermöglicht die transnationale Perspektive eine Analyse der Dynamik und Vielschichtigkeit transnationaler Praktiken und Zugehörigkeiten über die verschiedenen Generationen sowie auch innerhalb eines Lebenslaufes und öffnet deshalb den Blick auf intergenerationale Transmissionsprozesse. So zeigt bspw. Apitzsch (2014a: 17) auf, dass die transnationale Perspektive ermöglicht, die Pendelphänomene der „zweiten Generation“ nicht als Auslöser von gescheiterten Bildungskarrieren, sondern als Ressource zu betrachten. Dies steht im Gegensatz zu Untersuchungen von Bildungsprozessen in der Migration, welche ausschliesslich auf das klassische nationalstaatliche Integrationsmodell gerichtet sind. Die Perspektive der transnationalen Migrationsforschung auf intergenerationale Transmissionsprozesse erfordert nicht nur eine Auseinandersetzung mit normativen Konzeptionen von Begriffen wie der „zweiten Generation“ oder der „Familie“, sondern auch eine Erweiterung der verwendeten Forschungsmethoden, da sich Generationenzugehörigkeit nicht einfach empirisch erschliessen lässt (Böker/Zölch 2017:2). Die Biographieforschung stellt dabei nicht nur eine Möglichkeit dar, neue Themenfelder wie bspw. intergenerative Transmission von Ressourcen, Rückkehrorientierung, Geschlechterrollen oder Bildungserfolge zu untersuchen (Juhasz/Mey 2003: 34-35), sondern durch den rekonstruktiven Zugang das Verhältnis von Menschen und Umwelt empirisch zu erschliessen (Rosenthal 2011). Biographische Zugänge erlauben es, die Vielfältigkeit und Komplexität der „zweiten Generation“ darzustellen und die subjektiven Handlungs- und Deutungsmuster mit sozialstrukturellen Bedingungen zu verknüpfen und auch weitere Kategorien sozialer Ungleichheiten wie Geschlecht miteinzubeziehen (Juhasz/Mey 2003: 36). Durch die Verknüpfung der transnationalen Perspektive mit der Analyse von biographischen Verläufen kann das defizitorientierte Bild des Kindes von „Gastarbeiter_innen“ überwunden werden, da durch eine akteurszentrierte Analyse auch „erfolgreiche“ Lebensverläufe von transnationalen Migrant_innen sichtbar werden (Klein-Zimmer 2016: 58, vgl. Apitzsch/Siouti 2008). Die Biographieforschung wurde insbesondere im deutschsprachigen Kontext von verschiedenen Autor_innen bereits angewendet, um transnationale Migrati-

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onsprozesse zu untersuchen. Diese haben auf die Bedeutung von Bildung, sozialer Mobilität, Familie und Geschlecht für intergenerationale Prozesse hingewiesen. Siouti (2013: 211) zeigt beispielsweise auf, dass die geographische Mobilität der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigrant_innen einhergeht mit einer sozialen Aufstiegsmobilität durch Bildung. Ihre Ergebnisse verdeutlichen, dass Trennungserfahrungen in der Kindheit und Pendelmigration bei der Nachfolgegeneration nicht zu gescheiterten Bildungskarrieren führen müssen, sondern eine zentrale Ressource für den Bildungsaufstieg darstellen können, um die Selektionsmechanismen des deutschen Bildungssystems zu umgehen. Zudem weist sie auf die Bedeutung innerfamilialer Ressourcen hin, da griechische Eltern ihre Bildungsaspiration an die Nachfolgegeneration vermitteln. Nebst der Familie stellt auch die Mehrsprachigkeit eine zentrale Ressource für den erfolgreichen Bildungs- und Lebensweg dar (Siouti 2013: 213). Auf die Bedeutung von Geschlecht und Familie für intergenerationale Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext weisen bspw. Apitzsch (2014b) und Siouti (2013) hin. Apitzsch geht der Frage nach, wie die Migrationsfamilie sich im Verlaufe des Migrationsprozesses selbst verändert und welche Auswirkungen dies auf die Geschlechterverhältnisse hat (Apitzsch 2014b: 197). Untersucht wurde dabei das Phänomen, dass viele gut ausgebildete Frauen der zweiten oder dritten Generation aus muslimischen Migrantenfamilien sich selbst einen Ehepartner aus dem Herkunftsland der Familie suchen (Türkei oder Marokko), und ihre künftigen Ehemänner nach Deutschland einreisen um mit ihnen eine Familie zu gründen (ibid.: 206). Sie stellt dabei fest, dass diese Migrationsform durchaus eine Modernisierungsform darstellen kann (ibid.: 2014). „Bei der Heiratsmigration muslimischer Männer nach Deutschland vollzieht sich in vielen Fällen eine geradezu revolutionäre Umkehrung der traditionellen Geschlechterordnung, aber sie bedient sich in ihren biographischen Gestalten traditionaler Elemente, die in ihrer Transformation solche radikalen Veränderungen überhaupt erst möglich und lebbar machen.“ (Apitzsch 2014b: 214)

Auf die Bedeutung von geschlechtsspezifischen Transmissions- und Wandlungsprozessen weist sie auch in ihrem Artikel über transnationale Familienkooperation hin (Apitzsch 2014a: 22). Siouti (2013) stellt in ihrer biographieanalytischen Studie über Transmigrationsprozesse bei der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigranten fest, dass sich ein neues transnational ausgerichtetes Betreuungsmuster etabliert, das sie als „geographische mobile Mutterschaft“ bezeichnet. Junge gut ausgebildete Töchter ehemaliger griechischer Arbeitsmigrant_innen pendeln als Mütter mit ihren Kindern zwischen Griechenland und

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Deutschland und mobilisieren dabei familiale Beziehungen für die Unterstützung bei der Kinderbetreuung. Bei dieser Art Mutterschaft spielt sowohl die physische Nähe zu den Kindern sowie die geographische Mobilität eine bedeutende Rolle, um ihre Kinder in transnationalen sozialen Räumen zu sozialisieren und ihnen dadurch die Lebensmöglichkeiten in beiden Ländern weiterhin aufrecht zu erhalten (Siouti 2013: 115). Die erwähnten Studien zeigen exemplarisch auf, dass eine transnationale Forschungsperspektive es ermöglicht, soziale Mobilität grenzüberschreitend zu analysieren und damit Migration nicht nur als Problem, sondern auch als Ressource zu thematisieren. Der transnationale Orientierungsrahmen kann damit einen erweiterten Möglichkeitsraum nicht nur für Migrant_innen (vgl. Fürstenau 2004: 40, Klein-Zimmer 2016: 59), sondern auch für junge Erwachsene ohne Migrationshintergrund darstellen, worauf die Vielzahl von Angeboten internationaler Austauschprogramme, Freiwilligendienste, Studierendenmobilität hindeuten (vgl. Mau 2007, Mangold 2013, Klein-Zimmer 2016: 65). Zugleich zeigt sich in diesen Studien zu intergenerationalen Transmissionsprozessen in transnationalen Migrationskontexten auch, dass die transnationale Forschungsperspektive in Verbindung mit der Biographieforschung es ermöglicht, der Dynamik von Identitäts- und Zugehörigkeitsprozessen ebenso Rechnung zu tragen wie Prozessen sozialer Ungleichheiten, welche bspw. aufgrund von Geschlecht, Ethnizität oder Klassenzugehörigkeit erfahren werden und so der Komplexität von intergenerationalen Transmissionsprozessen Rechnung zu tragen. Bisher existieren jedoch nach wie vor kaum Studien, welche den intersektionalen Zusammenhang von Prozessen sozialer Ungleichheiten auf intergenerationale Transmissionsprozesse rekonstruieren. Die vorliegende Arbeit hat das Ziel, dazu einen Beitrag zu leisten. Im folgenden Kapitel werden die theoretischen Zugänge erläutert, welche für die Erforschung der intergenerationalen Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext herangezogen werden. Im ersten Teil wird aufgezeigt, dass die Biographieforschung als theoretischer wie auch methodischer Zugang geeignet ist, um intergenerationale Transmissionsprozesse im Zusammenhang von individuellen Lebensverläufen im gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Im zweiten Teil wird erläutert, wie dabei intersektionale Prozesse von sozialen Ungleichheiten im transnationalen Kontext als soziokulturelle Grenzziehungen (Amelina 2017) konzipiert werden können. Es wird begründet, dass diese beiden theoretischen Zugänge sich durch die sozialkonstruktivistische Ausrichtung an Prozessstrukturen sehr gut miteinander verbinden lassen, um intergenerationale Transmissionsprozesse und die Bedeutung sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext zu untersuchen.

 

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Theoretische Zugänge: Biographieforschung und soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext

Um die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen im transnationalen Migrationskontext zu beantworten, werden theoretische Zugänge über die Biographieforschung sowie soziale Ungleichheiten erschlossen. Die Biographieforschung wird zuerst als Zugang zu der Analyse der Verknüpfung von individuellen Handlungsweisen und gesellschaftlichen Strukturen, sowie als methodischer Zugang zur Analyse transnationaler Migrationsprozesse erläutert. Anschließend wird Intersektionalität als eine Möglichkeit dargestellt, um multiple soziale Ungleichheiten zu analysieren. Das Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen von Amelina (2017) wird eingeführt als eine Möglichkeit, um die intersektionale Interdependenz verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext zu erforschen.

3.1 BIOGRAPHIEFORSCHUNG IM TRANSNATIONALEN MIGRATIONSKONTEXT In diesem Kapitel wird zuerst die Biographieforschung vorgestellt und anschließend deren Anwendungsmöglichkeiten in der Migrationsforschung aufgezeigt. Die Biographieforschung hat sich seit einigen Jahren als Möglichkeit etabliert, transnationale Migrationsprozesse aus einer akteursorientierten Perspektive zu erforschen. Dabei geht es darum, individuelle Handlungsstrukturen und Zugehörigkeiten zu rekonstruieren und im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext zu verorten. Es wird aufgezeigt, welchen Beitrag die Biographieforschung als For-

 

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schungsperspektive wie auch als methodisches Vorgehen leisten kann, um intergenerationale Transmission im transnationalen Migrationskontext zu erforschen. 3.1.1 Biographieforschung Die Biographieforschung hat in den letzten Jahren einen großen Aufschwung erlebt. Die zunehmende Verbreitung der biographischen Methoden in den Sozialwissenschaften steht gemäß Bukow/Spindler (2006) im Zusammenhang mit einer veränderten gesellschaftlichen Situation, in der Individualisierung und Prekarisierung von Lebenslagen als neue Ordnungsprozesse in den Mittelpunkt gestellt werden. Die Biographieforschung scheint angemessen auf diese gesellschaftlichen Veränderungsprozesse zu reagieren, weil dabei das Individuum ins Zentrum gestellt wird (Bukow/Spindler 2006: 19). Die Anfänge der Biographieforschung werden in den 1920er Jahre situiert. Dabei gelten Bezugstheoretiker wie William Isaac Thomas, Florian Znaniecki und Alfred Schütz als Begründer, da sie wesentlich zu der wissenschaftlichen Etablierung der Biographieforschung beigetragen haben (Völter/Dausien/Lutz/ Rosenthal 2009: 8). Die Studie von Thomas/Znaniecki von 1918 über die polnischen Bauern in Europa und Amerika wird als erste Studie der Biographieforschung genannt, da dabei zum ersten Mal biographisches Material als Datenform genutzt wird (Fuchs-Heinritz 2010: 86). Thomas/Znaniecki begründeten damit methodologisch die Analyse persönlicher Lebensberichte als „perfekten Typ“ soziologischen Materials (ibid.: 86). Diese Studie hat gemäß Fuchs-Heinritz zahlreiche Forschungen der Soziologen der Chicago-Schule angeregt, Autobiographien und biographische Interviews als Illustration oder für die Methodisierung zu nutzen (ibid.: 86). In den 1930er Jahren verliert die biographische Methode in den USA im Streit zwischen der soziologischen Systemtheorie nach Parsons und der quantitativen Sozialforschung an Bedeutung (ibid.: 86). In Polen hingegen wurde die biographische Methode weiterentwickelt. Jedoch ergaben sich daraus kaum Anregungen für die Soziologie anderswo, was mit der polnischen Sprache, welche international wenig bekannt ist, und der Fokussierung der Forschung auf den nationalen Rahmen erklärt wird (Fuchs-Heinritz 2010: 86). Auch in der Soziologie im deutschsprachigen Raum der 1920er Jahre wurden die amerikanischen Anregungen der biographischen Methode nicht aufgenommen. Jedoch verankerte sich die biographische Methode in Psychologie und Pädagogik, angeregt durch die Wiener Psychologin Charlotte Bühler (Fuchs-Heinritz 2010: 86). Erst Ende der 1970er Jahre kommt es im Kontext eines weitreichenden Individualisierungsschubes in den modernen Gesellschaften zeitgleich in Frankreich,

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Kanada, und Italien zu einer Renaissance der biographischen Methode und führte zu der Entstehung eines international verknüpften Arbeitsbereichs der Biographieforschung (Fuchs-Heinritz 2010: 87). Daraus hat sich die interpretative Biographieforschung entwickelt, die mit niedergeschriebenen oder in Interviews erzählten Lebensgeschichten arbeitet (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 135). Gemäß Fuchs-Heinritz (2010: 87) wird die biographische Methode der 1920er Jahre wieder aufgenommen und in Zusammenhang gestellt mit theoretischen Bemühungen der Soziologie des Lebenslaufes (Martin Kohli 1978), bei der die Beschränkung auf einzelne Altersphasen überwunden wird. Anregend wirken auch die Studien von Ulrich Beck (1986) über Individualisierungsprozesse sowie Pierre Bourdieus über Lebensstile (ibid.: 88). Ferner werden auch in den Geschichtswissenschaften im Bereich der Oral History biographische Interviews von Historiker_innen als weitere Quellen für die Analyse historischer Phasen genutzt (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 135). Auch in der Psychologie gewinnt das Biographiekonzept in den 1990er Jahren an Bedeutung, allerdings ohne Anknüpfung an die soziologische Biographieforschung (ibid.: 135). So hat sich in der soziologischen Biographieforschung das von Fritz Schütz entwickelte „narrative Interview“ als Methode der Erfassung von Lebensgeschichten etabliert (ibid. 136). In der Folge wurden Methodologien und Methoden zur Rekonstruktion von Lebensgeschichten kontinuierlich weiterentwickelt (ibid.: 136). Die Bezeichnung „Biographieforschung“ zeigt auf, dass es nun nicht mehr um eine methodische Spezialisierung der Datenerhebung und Datenanalyse geht, sondern eine Überwindung der Trennung in makro- und mikrosoziale Perspektive angestrebt wird (Fuchs-Heinritz 2010: 88). Biographie wird dabei „als soziales Konstrukt verstanden, das Muster der individuellen Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen in sozialen Kontexten hervorbringt, aber dabei immer auf gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen verweist, die ihrerseits u.a. mit Hilfe biographischer Einzelfallanalysen strukturell beschrieben und re-konstruiert werden können. Individuelles und Gesellschaftliches wird in der Biographieforschung gleichermassen in den Blick genommen.“ (Völter/Dausien/Lutz/Rosenthal, 2009: 7-8)

Biographieforschung hat das Ziel, soziale Phänomene, die sich auf Erfahrungen von Menschen beziehen, im Gesamtzusammenhang der erlebten Lebensgeschichte zu rekonstruieren (Rosenthal 2009: 49). Der soziale Kontext wird dabei in die Rekonstruktion des Einzelfalls einbezogen, um so die Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft analysieren zu können (Rosenthal 2009: 50). Die Methode ermöglicht zudem, den subjektiv gemeinten Sinn der unter-

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suchten Personen ins Zentrum der Forschung zu rücken und nachzuvollziehen (Rosenthal 2011: 26). Dausien (2008: 357) weist darauf hin, dass die Arbeit mit Biographien, biographischen Materialien, Methoden und Perspektiven auch in der Frauen- und Geschlechterforschung lange Tradition hat und heute auch in diesem Bereich einen wichtigen Ansatz darstellt. Die rekonstruktive Biographieforschung eignet sich gemäß Dausien (2008: 359) durch die abduktive Auseinandersetzung mit dem empirischen Material dafür, bei der Rekonstruktion einer geschlechtsbezogenen Typik eine binäre Zuordnung nach dem Muster „männlich-weiblich“ zu überwinden und dabei stattdessen aus einer konstruktivistischen Perspektive die Prozesse der Konstruktion von Geschlecht oder anderen Zugehörigkeiten in den Biographien zu rekonstruieren. „Biographieforschung liefert also ein methodisches Instrument, um geschlechterbezogene oder anders definierte Dualismen und Identitätskonstruktionen zu irritieren und kritisch in Frage zu stellen.“ (Dausien 2008: 359)

Dabei steht die Frage im Zentrum, wie Geschlecht biographisch konstruiert wird resp. wie Geschlecht aus den Narrationen heraus rekonstruiert werden kann (Lutz/Davis 2009: 232). Dies ermöglicht eine methodisch differenzierte Perspektive der Analyse von Geschlechterkonstruktionen im konkreten Zusammenspiel mit anderen Kategorien wie Klasse oder Ethnizität und die Verortung in den unterschiedlichen sozialen Ordnungen und konkreten historisch-sozialen Welten (Dausien 2008: 359). Ruokonen-Engler (2012: 104) knüpft an Dausiens Überlegungen an und zeigt auf, dass die Biographieforschung ermöglicht, die biographische Relevanz von Differenzkonstruktionen zu untersuchen und dabei die Beteiligung von Subjekten an der Reproduktion und Transformation von Differenzen einzubeziehen. Damit kann dem konstruktivistischen Charakter der Differenzen Rechnung getragen werden und zugleich der strukturbildende Aspekt sozialer Konstruktionsprozesse berücksichtigt werden (ibid.: 104). Das folgende Kapitel zeigt die Relevanz der Biographieforschung in der Migrationsforschung auf. Es wird argumentiert, dass sich die Biographieforschung im Kontext von Migration, in der Lebensverläufe durch eine hohe Mobilität gekennzeichnet sind und zu komplexen und individualisierten Lebenslagen führen, eignet, um diese Prozesse zu rekonstruieren (Bukow/Spindler 2006: 20).

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3.1.2 Biographie als Artikulation transnationaler sozialer Räume Seit den 1980er Jahren hat sich die biographische Migrationsforschung als vielfältiger Bereich etabliert (Ruokonen-Engler 2012: 106, Bukow/Spindler 2006: 20). Allerdings wurde dabei zu Beginn in der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Migrationsdebatte empirisches Material eingesetzt, ohne Bezug zu biographieanalytischen Methoden und entsprechenden theoretischen Konzepten (Siouti 2013: 39). Indem in der biographischen Migrationsforschung subjektive Deutungen und Bewältigungsstrategien der Migrationsprozesse im Zentrum stehen, ist eine Erweiterung der Untersuchung von Migrationsprozessen und eine Überwindung der problemzentrierten Perspektive auf Migration möglich (Ruokonen-Engler 2012: 107). Gemäß Siouti (2013: 40) widerlegte Ursula Apitzsch (1990) in ihrer empirischen Analyse biographisch-narrativer Interviews mit italienischen Migrantenjugendlichen die damals häufig vertretene Annahme der Zerrissenheit der zweiten Generation zwischen mehreren Kulturen und zeigte auf, dass diese Jugendlichen stattdessen eine „interkulturelle Disposition“ entwickeln. Die biographische Perspektive ermöglicht damit, Transformationsprozesse in den Mittelpunkt zu stellen und Migrationsbiographien als „Modell der gesellschaftlichen Transformation“ zu betrachten (Ruokonen-Engler 2012: 109). Dies erlaubt insbesondere im Zusammenhang mit der Erforschung von Migrantinnen, die Annahme einer Modernitätsdifferenz zwischen Herkunfts- und Immigrationsländern kritisch zu hinterfragen und damit dem defizitorientierten Diskurs über Migrantinnen entgegenzuwirken (Ruokonen-Engler 2012: 109). Zugleich gestattet die Biographieforschung auch einen Perspektivenwechsel von der Außenperspektive der klassischen Migrationsforschung, in der Migrationsfragen aus der Sicht des Aufnahmelandes analysiert wurden, hin zu einer Innenperspektive, indem die Biographieforschung die soziale Welt und Erfahrungen der Migrant_innen in den Mittelpunkt stellt (ibid.: 111). Die biographische Perspektive ermöglicht den Zusammenhang zwischen der Gestaltung von Migrationsprozessen mit anderen lebensgeschichtlichen Phasen und Ereignissen herzustellen und Veränderungsprozesse, die teilweise bereits vor der Migration begonnen haben, einzubeziehen (Ruokonen-Engler 2012: 107). Deshalb eignet sich die Biographieforschung besonders auch um transnationale Migrationsprozesse zu erforschen. Aktuelle Studien verbinden die biographieanalytische Forschungsperspektive mit einem transnationalen Migrationsansatz (Siouti 2013: 41, vgl. auch Anthias 2003, Apitzsch 2003, Apitzsch/Siouti 2008, Lutz 2004, Ruokonen-Engler 2012). Dabei geht es um die Thematisierung von transnationalen Lebenswelten, die sich durch nationalstaatliche Grenzen überschreitende

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Mobilität auszeichnen und so gemäß Ruokonen-Engler (2012) eine Verknüpfung der Innen- und Außenperspektive im Sinne von transnationalen Handlungsräumen und Zugehörigkeiten ermöglichen (Ruokonen-Engler 2012: 114). Dabei beinhalten transnationale Lebensweisen nicht ausschliesslich die physische Grenzüberschreitung, sondern können auch durch transnationale Beziehungen und Zugehörigkeiten entstehen (vgl. Fouron/Glick Schiller 2001). Die transnationale Perspektive ermöglicht so eine neue Sicht auf die Konstitution und Konstruktion von Biographien, indem die Überwindung von geographischer und mentaler Distanz durch neuartige Raum- und Zeitkonzeptionen einbezogen wird (RuokonenEngler 2012: 115). „Gerade weil der Begriff ,transnationaler Raum‘ den Hinweis auf die nationalstaatlichen geopolitischen Grenzen beinhaltet, so meine ich, ermöglicht er sowohl den Blick auf die durch den Nationalstaat verursachten heteronormen Bedingungen, die Wandernden Leidensprozesse aufzwingt, als auch den Blick auf die neuen Möglichkeiten, die mit transnationalen Lebensweisen verbunden sind. Er richtet sich auf die fliessenden Grenzen, die historische Kontextualität und die Möglichkeit der faktischen und mentalen Transzendenz dieses Gebildes Nationalstaat.“ (Lutz 2004: 210)

Auf die Verknüpfung von Transnationalität und Biographie gehen Apitzsch (2003, 2006), Lutz (2004) und Ruokonen-Engler (2012) vertiefter ein. Apitzsch (2003: 69) stellt dar, dass die Überlagerung sozialer Räume im Lebenslauf biographisch aufgeschichtet und symbolisiert wird. Durch vergangene, fortwirkende oder künftige Trennungen und Grenzüberschreitungen entwickeln sich gemäß Apitzsch (ibid.: 69) überlappende soziale Räume im Sinne von Orientierungskoordinaten des individuellen und Gruppenhandelns. In den Biographien werden die Strukturen und Auswirkungen von Grenzüberschreitungen und deren psychosoziale Bewältigung miteinander vernetzt und der transnationale Raum in der Struktur der Migrationsbiographie konkretisiert. Damit wird der transnationale Raum durch biographische Arbeit von Migrant_innen hergestellt und immer wieder neu konstruiert (Apitzsch 2003: 65). Die Biographie ist ein Schnittpunkt kollektiver Konstitution und individueller Konstruktion und wird deshalb von Apitzsch auch als Ort transnationaler Räume bezeichnet (Apitzsch 2003: 65). Diese Bezeichnung wurde von Lutz (2004: 212) kritisiert, da damit dem Prozesscharakter des biographischen Handelns nicht Rechnung getragen wird und Entwicklungsprozesse nicht abgebildet werden. Sie schlägt stattdessen die Bezeichnung der Artikulation vor (Lutz 2004: 212). Dabei nimmt sie die Überlegungen von Stuart Hall auf und verknüpft diese mit den machttheoretischen Überlegungen von Ernesto Laclau und Chantal Mouffe, indem Artikulation die Trennung

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und Neu-Verbindung von Elementen beinhaltet und damit zum Abbild wie auch zum Generator von Trennungen und Neu-Verbindungen wird (Lutz 2004: 212). Biographie als Artikulation weist auf deren Ausdruck von Fremd- und Selbstpositionierungen hin und deren Einbettung in gesellschaftliche Machtgefüge, in dessen Rahmen die Biographien nicht frei wählbar sind, sondern einer bestimmten Logik folgen, die von der Biographieforschung zu erfassen ist (Lutz 2004: 213). Diese verschiedenen Bezeichnungen weisen insgesamt auf die Relevanz der Biographieforschung für die Analyse von Migrationsprozessen in transnationalen Kontexten hin. Die Biographieforschung kann durch die Rekonstruktion von Entwicklungsprozessen und Lebensverläufen die unterschiedliche Relevanz von Transnationalität in Bezug auf bestimmte Lebensereignisse im Lebensverlauf berücksichtigen. Zudem ermöglicht sie die Analyse der Verwobenheit resp. Artikulation individueller Handlungsmöglichkeiten innerhalb familialer und gesellschaftlicher Rahmenbedingungen, welche nicht deckungsgleich mit nationalstaatlichen Grenzen sind. Die bisherigen Studien, welche die Biographieforschung im transnationalen Migrationskontext angewendet haben, weisen zudem auch auf die Bedeutung von verschiedenen Kategorien sozialer Ungleichheiten wie Klasse und Geschlecht hin. Im folgenden Kapitel werden nun die theoretischen Grundlagen erläutert, um der Frage nach der Bedeutung multipler sozialer Ungleichheiten auf die intergenerationelle Transmission von Migrationserfahrungen nachzugehen, um damit die individuellen Fallrekonstruktionen im Kontext gesellschaftlicher Rahmenbedingungen und Machthierarchien analysieren zu können.

3.2 MULTIPLE SOZIALE UNGLEICHHEITEN IM TRANSNATIONALEN MIGRATIONSKONTEXT Für die Analyse multipler sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext können verschiedene zentrale Herausforderungen identifiziert werden. Erstens hat sich gezeigt, dass der nationalstaatliche Untersuchungsrahmen, der in der klassischen Migrationsforschung für die Analyse sozialer Ungleichheiten als selbstverständlich galt, nicht geeignet ist für die Analyse sozialer Ungleichheiten von Migrant_innen, welche in transnationalen Feldern agieren. Eine Überwindung des methodologischen Nationalismus erfordert deshalb eine Neudefinition des Analyseraumes für die Erforschung sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext (Amelina 2012: 274). Auch Pries weist auf die Herausforderung hin, für die Erforschung von sozialen Ungleichheiten in

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transnationalen Kontexten einen geeigneten Referenzrahmen zu definieren, da Soziallagen und Lebenspraxen verstärkt durch grenzüberschreitende Wirkungskräfte beeinflusst werden (Pries 2010: 133). Pries plädiert dabei für die Überwindung eines essentialistischen Raumkonzeptes, da Sozial- und Flächenräume in transnationalen Kontexten nicht deckungsgleich sind (Pries 2010: 133). Die Frage stellt sich hier, wie ein „pluri-lokaler und über unterschiedliche Nationalgesellschaften verteilter Sozialraum als Bezugseinheit“ (Pries 2010: 145) methodologisch erfasst werden kann. Zweitens weisen verschiedene Forschungen im Bereich der Migrationsforschungen auf die Bedeutung von sozialen Ungleichheiten in Transnationalisierungsprozessen hin. So stellten bspw. Fouron/Glick Schiller (2001: 544) fest, dass nicht alle Migrant_innen Transmigrant_innen sind und auch nicht alle transnationalen Prozesse zu der Herausbildung transnationaler Felder führen. Vertovec (2009: 18) zeigt eine Zusammenstellung unterschiedliche Typologien von transnationaler Migration, welche selektiv sind und von einer Reihe von Bedingungen abhängen und sich zudem auch während dem Lebensverlauf und/oder dem Ansiedlungsprozess verändern. Auch Dahinden (2011: 86) formuliert die Hypothese, dass die lokalen Gegebenheiten im Sinne von politischen und sozioökonomischem Zugang zu Ressourcen für die Initiierung und Aufrechterhaltung transnationaler Praktiken und Orientierungen bedeutend sind und damit eng mit dem ungleichen Zugang zu Ressourcen und Ungleichheitsstrukturen gekoppelt sind. Die Bedeutung von sozialstrukturellen Faktoren für die Herausbildung unterschiedlicher Grade der Transnationalisierung zeigt auch Mau (2007: 236ff) auf. Er stellt in seiner Untersuchung einen Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Transnationalisierungsgrad in Bezug auf die Wahlbindungen fest, welche stark durch individuelle Präferenzen und Eigenleistungen bestimmt sind (Mau 2007: 243). Dabei stellt sich die Frage, wie diese sozialen Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext methodisch analysiert werden können, ohne auf essentialistische Konzeptionen zurückzugreifen. So weist bspw. Wimmer (2008: 63) darauf hin, dass gerade in der Literatur zu transnationaler Migration oft eine problematische Konzeption von ethnischen Gemeinschaften verwendet wird (vgl. auch Amelina/Faist 2012). Ethnische Gemeinschaften werden dabei als gegebene und klar abgrenzbare Gemeinschaften konzipiert, die nun nicht mehr der territorialen Ordnung von Nationalstaaten entsprechen, sondern neu transnational organisiert sind (Wimmer 2008: 63). Drittens besteht eine weitere Herausforderung darin, multiple soziale Ungleichheiten und deren Zusammenspiel in die Untersuchung transnationaler sozialer Ungleichheiten einzubeziehen (Amelina 2017:4). Gemäß Amelina standen die Kategorien Klasse und Ethnizität lange Zeit in der Analyse sozialer Un-

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gleichheiten in der Migrationsforschung im Vordergrund (Amelina 2012: 276). Dies ist insbesondere in den klassischen Assimilationsstudien ersichtlich, in denen soziale Ungleichheit in Bezug auf die Hierarchisierung von „ethnclasses“ innerhalb von Immigrationsländern aufgezeigt wurde (Amelina 2012: 275). Auch Anthias (2001: 370) weist darauf hin, dass in Theorien zu sozialen Ungleichheiten materielle Ungleichheiten im Zentrum standen und dabei auch in Studien, welche Geschlechterbeziehungen einbezogen, die Kategorie Klasse als determinierend konzipiert wurde. „Some of these approaches sought to see gender as primarily a class relation, or as serving the needs of capitalism. Gender was seen in terms of the role that women played (in the capitalist system) as a reserve army of labour (Beeckey 1977) or as domestic unpaid labourers (Gardiner 1975; Molyneux 1979).“ (Anthias 2001: 372)

Amelina argumentiert, dass auch in neueren Migrationsforschungen, welche die globale Dimension in die Analyse einbeziehen, die Fokussierung auf der wirtschaftlichen Dimension sozialer Ungleichheiten bestehen bleibt (Amelina 2012: 278). Folglich berücksichtigen sie die Multidimensionalität sozialer Ungleichheit nicht ausreichend (ibid.). Diese Fokussierung auf die Kategorie „Klasse“ findet sich auch in Analysen sozialer Ungleichheiten im transnationalen Raum, wie Amelina (2017: 2ff) in verschiedenen Studien nachweist. Andere Autor_innen fokussieren auf die Bedeutung von Gender in der Analyse transnationaler Migrationsprozesse (vgl. Fouron/Glick Schiller 2001, Mahler/Pessar [2001], Apitzsch [2003]) und vernachlässigen dabei andere Kategorien wie Ethnizität oder Klasse. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass verschiedene Autor_innen auf die Bedeutung der Analyse multipler sozialer Ungleichheiten im transnationalen Kontext hinweisen und zu der Frage führen, wie die Bedeutung von sozialen Ungleichheiten für transnationale soziale Felder untersucht werden kann, ohne dabei einen methodologischen Nationalismus oder einen methodologischen Kollektivismus zu reproduzieren. Dies erfordert gemäß Amelina (2012: 247) nicht nur eine Hinterfragung des Untersuchungsraumes, sondern auch den Einbezug von multi-dimensionalen Quellen von sozialen Ungleichheiten. Im folgenden Kapitel wird der Frage nachgegangen, wie das Zusammenspiel verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten im transnationalen Raum erforscht werden kann. In einem ersten Teil wird die Intersektionalitätsdebatte vorgestellt um aufzuzeigen, welche Herausforderungen sich ergeben, um das Zusammenspiel verschiedener Differenzkategorien theoretisch zu erfassen. Anschließend wird mit dem analytischen Konzept der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse von Amelina (2017) eine Möglichkeit dargestellt, um die dyna-

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mische Interdependenz verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten zu analysieren. Es wird aufgezeigt, wie sich dieses Konzept durch die offene Vorgehensweise sowie die Berücksichtigung der Prozesshaftigkeit sozialer Ungleichheiten eignet, um in der Verbindung mit der Biographieforschung die Bedeutung multipler sozialer Ungleichheiten in intergenerationalen Transmissionsprozessen im transnationalen Migrationskontext zu analysieren. 3.2.1 Intersektionalität und die Herausforderungen der Analyse multipler sozialer Ungleichheiten1 Seit den 1990er Jahren hat sich die theoretische Erfassung multipler sozialer Ungleichheiten als Intersektionalität, in der die Wichtigkeit der Verwobenheit verschiedener sozialer Ungleichheiten hervorgehoben wird, als zentrales Thema in der Geschlechterforschung etabliert (Walby/Armstrong/Strid 2012: 225). Das Ziel der Intersektionalität ist das Erkennen von Überschneidungen und Kokonstruktionen sichtbarer und unsichtbarer Stränge sozialer Ungleichheit (Lutz 2014: 8). Die Stärke der Intersektionalität besteht deshalb auch darin, die Multidimensionalität sozialer Ungleichheiten sichtbar zu machen (Lutz/Herrera Vivar/Supik 2013: 13). Dies erfordert gemäß Lutz/Davis eine Hinterfragung offensichtlicher Differenzerklärungen sowie eine Konzeption der relevanten Kategorien als flüssig und verschiebbar und nicht statisch (Lutz/Davis 2009: 231). Gemäß Winker/Degele (2009: 11) hat die Intersektionalitätsdebatte in den USA ihren Ursprung, weil dortige Schwarze Feministinnen sich nicht von den westlichen, weissen Mittelschichtsfrauen im Zusammenhang mit rassistischen Ausgrenzungserfahrungen repräsentiert fühlten (Winker/Degele 2009: 11). Der Begriff intersectionality taucht erstmals in den 1990er Jahren in der englischsprachigen Diskussion auf, angeregt durch die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (Lutz et al. 2013: 13). Crenshaw verwendet den Begriff der Intersektionalität, um die Verwobenheit sozialer Ungleichheiten aufzuzeigen und illustriert diese mit dem Bild der Verkehrskreuzungen (Winker/Degele 2009: 12). Lutz (2014: 5) zeigt auf, dass Intersektionalität zunehmend auch in Europa zuerst in der englischsprachigen Literatur rezipiert wurde und in den letzten fünfzehn Jahren immer bekannter wurde.

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Dieses Kapitel ist eine ausführlich überarbeitete Fassung der Abschnitte „Intersektionalität“ und „Intersektionalität & Biographieforschung“ die als Teilergebnis der vorliegenden Arbeit im Aufsatz „Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung“ (Ammann Dula 2018), vorab publiziert wurde.

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Das Intersektionalitätskonzept umfasst verschiedene theoretische Strömungen der Geschlechterforschung, Ansätze mit politischem Anspruch wie auch postmoderner Dekonstruktion, anwendungsorientierte Generalistlnnen wie auch theorieinteressierte Spezialistlnnen (Winker/Degele 2009: 13). Winker/Degele (2009: 15) zeigen auf, dass sich dabei drei zentrale Fragen stellen, nämlich nach der Auswahl der Kategorien, deren Verknüpfung sowie auch des Einbezuges und Verknüpfung verschiedener Analyseebenen. Die Frage nach der Auswahl der für die Analyse relevanten Differenzkategorien wird unterschiedlich beantwortet. Die klassische Debatte umfasst die drei Kategorien Geschlecht, Klasse und „Rasse2“. Diskutiert wird dabei, ob diese drei Kategorien, welche im US-amerikanischen Kontext entstanden sind, aufgrund der historischen Besonderheit auch auf andere Kontexte übertragen werden können (vgl. Lutz 2014: 7). Gemäß Winker/Degele (2009: 6) bestehen gewisse Wissenschaftler_innen auf den Einbezug von mindestens vier Kategorien, dazu gehört bspw. die Kategorie Sexualität. Lutz/Wenning führen bis zu 13 Linien der Differenz auf (Lutz/Wenning 2001: 20). Daran zeigt sich die Schwierigkeit der Anwendung von Intersektionalität, um der Komplexität der Verwobenheit und Dynamik der verschiedenen Kategorien Rechnung zu tragen und zugleich dabei keine der relevanten Kategorien zu vergessen (Lutz 2014: 9). Eine weitere Herausforderung stellt die Frage nach der Verbindung der verschiedenen Kategorien und der Analyse von deren Wechselwirkungen dar (Winker/Degele 2009: 18). Die Metapher der Intersektionalität als Straßenkreuzung für die Verbindung verschiedener Kategorien, die von Crenshaw vorgeschlagen wurde, wird von Walgenbach (2013: 269) kritisiert, da diese Metapher der Heterogenität der verschiedenen Kategorien nicht genügend Rechnung trägt. Gemäß Walgenbach suggerieren die kreuzenden Strassen, dass sich einzelne soziale Kategorien mit weiteren Kategorien verbinden liessen. Dabei wird die Interdependenz und die wechselseitigen Abhängigkeiten zwischen den Kategorien sowie die in sich heterogene Strukturiertheit von Kategorien zu wenig thematisiert (Walgenbach 2013: 268). Walgenbach plädiert dafür, additive Perspektiven zu überwinden, indem auf das gleichzeitige Zusammenwirken von sozialen Un-

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Die deutschsprachige Übersetzung von „race“ ist in Rücksicht auf die nationalsozialistische Vergangenheit problematisch (vgl. Winker/Degele 2009: 10). Trotzdem ist gemäß Winker/Degele (2009:10) die Verwendung des Begriffes notwendig, um Prozesse der Ausgrenzung, Diskriminierung sowie gewaltförmige Naturalisierung und Hierarchisierung zu analysieren. Um diese soziale Konstruiertheit von „Rasse“ zu kennzeichnen schlagen Lutz/ Herrera Vivar/Supik (2013: 11) vor, den Begriff in Anführungszeichen zu schreiben. Diese Schreibweise wird auch hier verwendet.

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gleichheiten fokussiert wird um die Wechselwirkungen verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheiten zu analysieren (Walgenbach 2012: 81). Weiter stellt auch die Auswahl und Konzeption der verschiedenen Ebenen sozialer Ungleichheiten in der Intersektionalitätsdebatte eine Herausforderung dar, die unterschiedlich diskutiert wird. Gemäß Lutz (2014: 10) hat Anthias bereits 1998 ein Mehrebenenmodell entwickelt, das eine Analyse auf vier unterschiedlichen Ebenen vorsieht: Die Ebene der Diskriminationserfahrungen, die Ebene der Akteure (inter-subjektive Praxis), die institutionelle Ebene und die Ebene der Repräsentationen (Symbolik und Diskurse). Winker/Degele haben diese Mehrebenenanalyse weiterentwickelt und zu einem Modell, bei dem sowohl gesellschaftliche Sozialstrukturen der Makro- und Mesoebene, Prozesse der Identitätsbildung der Mikroebene wie auch kulturelle Symbole der Repräsentationsebene einbezogen werden (Winker/Degele 2009: 18). Sie kritisieren, dass viele empirische Untersuchungen die verschiedenen Ebenen als sich wechselseitig ausschliessend konzipieren und daraus folgend nur eine Ebene bearbeiten (Winker/Degele 2009: 21). Die Biographieforschung stellt eine andere Möglichkeit dar, die verschiedenen Ebenen von sozialen Ungleichheiten zu analysieren, indem multiple und teilweise kollidierende Differenzkategorien rekonstruiert werden und Prozesse der Normierung und Marginalisierung gesellschaftstheoretisch verortet werden (Tuider 2011: 231). Trotz der Einzelfallanalyse lässt die Biographieforschung es zu, gesellschaftliche Regeln, Diskurse und soziale Bedingungen zu rekonstruieren, welche die individuelle Strukturierung und Verarbeitung von Erlebnissen steuern (ibid.: 242). Damit kann das Zusammenspiel sozialer Ungleichheitsprozesse der Mikro- und Makroebene als miteinander verwobene methodische Schritte gedacht werden (ibid.: 244). Durch eine methodisch offene Herangehensweise ermöglicht die Biographieforschung zudem die Analyse von Mehrfachzugehörigkeiten und das Zusammenwirken verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten in biographischen Erzählungen (ibid.: 239, vgl. Dausien 2008). Durch eine anti-kategoriale Herangehensweise kann die Analyse der Wechselwirkung von Differenzen und deren Überschreitung und Destabilisierung einbezogen werden (Tuider 2011: 231). Die offene Herangehensweise der Biographieforschung ermöglicht deshalb einerseits, die Frage nach den relevanten Differenzkategorien aus dem empirischen Material zu rekonstruieren. Andererseits liegt in der Verschränkung von individueller und gesellschaftlicher Ebene in der Biographieanalyse auch das Potential, die Frage nach der Interdependenz der verschiedenen Kategorien aus dem empirischen Material zu rekonstruieren. Damit ist eine Fokussierung auf die Handlungsstrategien der Akteure möglich, ohne die gesellschaftlichen Machtstrukturen zu vernachlässigen.

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Lutz/Davis (2009: 229) bezeichnen die Anwendung von Intersektionalität in der Biographieforschung als doing intersectionality, da dabei der Fokus auf die Akteure gerichtet wird, wie sie im Alltag innerhalb dieser Strukturen ihre multiplen Zugehörigkeiten aushandeln und dadurch die Kontrolle über ihr Leben gewinnen. Die Strukturen von Rassismus, Klassendiskriminierung oder Sexismus werden dabei nicht als determinierend für das individuelle Handeln betrachtet, da Kategorien wie Gender oder „Rasse“ von Akteuren auch für die Unterwanderung oder Veränderung von Praktiken der Unterdrückung genutzt werden können (Lutz 2014: 12). Für die Anwendung von Intersektionalität in der Biographieforschung weist Lutz (2014: 11) auf die doppelte Konstruktion von Intersektionalität hin, die sie als differences in situatedness bezeichnet. Diese betrifft den Interaktionsprozess zwischen den Personen, die in die Datenerhebung (Interviews) und Datenanalyse involviert sind (ibid.: 11). Dabei werden Differenzen wie Klasse, „Rasse“/Ethnizität, Alter sowie Geschlecht und Nationalität, aber auch Religion oder Körper durch die Interviewperson eingebracht und haben sowohl in deren Selbstkonzept und Lebensvision eine Bedeutung, zugleich sind diese jedoch auch bei der interviewten Person bedeutend (ibid.: 11). Diese differences in situatedness von Intersektionalität spielt sowohl im Interview wie auch in der Analyse eine Rolle, da Intersektionalität sowohl in der Konstruktion der Lebensgeschichte der interviewten Person wie auch in der Analyse durch die interviewende Person wirksam ist (ibid.: 11). Zudem weist Lutz darauf hin, dass die Betonung von gewissen Kategorien in der Erzählung nicht bedeutet, dass diese die wichtigsten Kategorien darstellen, sondern in Zusammenhang mit gewissen Erfahrungen oder Lebensphasen stehen (ibid.: 11). Als weiteren Aspekt nennt Lutz die Bedeutung von Machtbeziehungen, deren Einfluss im jeweiligen Kontext, der Lokalität und dem Zeitpunkt ebenfalls zu analysieren sind (ibid.: 12). Eine andere Möglichkeit, die Frage der Verbindung relevanter Kategorien sowie der verschiedenen Ebenen der Analyse der Wechselwirkung zu verbinden, schlägt Amelina (2017) mit dem Konzept der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse vor. Im folgenden Kapitel wird dieses Konzept erläutert und aufgezeigt, wie durch diesen analytischen Ansatz die Frage nach der Verknüpfung der verschiedenen Ebenen sozialer Ungleichheiten konzipiert werden kann und sich insbesondere auch für die Analyse multipler sozialer Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext eignet (vgl. Amelina 2017).

 

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3.2.2 Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse 3 Seit dem Ende der 1990er Jahre wird das Konzept social boundaries4 vor allem in den englischsprachigen Fachrichtungen Anthropologie, Geschichte, Politikwissenschaften, Sozialpsychologie sowie auch der Soziologie als analytisches Konzept angewendet (Lamont/Molnar 2002: 167). Im Zentrum steht dabei die Frage, wie soziale Grenzen mit der Produktion von sozialen Ungleichheiten in Verbindung stehen (Pachucki/Pendergrass/Lamont: 2007: 333). Die Konzeption von sozialen Grenzziehungsprozessen in den Sozialwissenschaften beruht mehrheitlich auf der Publikation von Lamont/Molnar (2002), die in ihrer Übersicht die vielfältige Verwendung von sozialen Grenzziehungsprozessen aufzeigen (Pachucki et al.: 2007: 333, vgl. auch Duemmler 2015). Die Literatur zu Grenzziehungsprozessen fokussiert auf die Dynamik von sozialen und symbolischen Grenzen in Bezug auf Religion, kulturelle Klassifikationen, Geschlecht und Sexualität, Immigration oder Ethnizität und „Rasse“. Untersucht werden dabei sowohl die Eigenschaften von Grenzen sowie die Mechanismen von deren Aktivierung, Aufrechterhaltung, Veränderung oder Auflösung (Pachucki et al.: 2007: 332). Lamont/Molnar (2002) zeigen auf, dass Forscher_innen in ganz unterschiedlichen Themenbereichen soziale Grenzziehungsprozesse analysiert haben wie bspw. betreffend sozialer und kollektiver Identitäten, Arbeitsmarkt, Wissenschaft, Gemeinschaften, nationale Identitäten und räumlichen Grenzen (für eine aktuellere Übersicht vgl. Pachucki et al.: 20075). In sämtlichen Publikationen der verschiedenen Disziplinen steht dabei die Frage nach der Rolle von symbolischen Ressourcen (bspw. konzeptuelle Unterscheidungen, interpretative Strategien, kulturelle Traditionen) für die Gründung, Aufrechterhaltung und Anfechtung oder sogar Auflösung von institutionalisierten sozialen Differenzen (bspw.

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Dieses Kapitel (2.2) ist eine ausführlich überarbeitete Fassung des Abschnittes „Intersektionalität als Grenzziehungsprozesse“ das als Teilergebnis der vorliegenden Arbeit im Aufsatz „Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung“ (Ammann Dula 2018) bereits publiziert wurde.

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Im Englischen ist der Begriff „social boundaries“ üblich, hier übersetzt mit dem Begriff „soziale Grenzziehungsprozesse“, um damit die Prozesshaftigkeit des Konzeptes zu betonen.

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Aktuelle Anwendungsmöglichkeiten des Konzeptes der sozialen Grenzziehungsprozesse finden sich in Bezug auf Religion und Ethnizität bspw. bei Duemmler (2015) sowie bei Dahinden, Duemmler, Moret (2014), in Bezug auf die transnationale Migrationsforschung vgl. Amelina (2012) bzw. Amelina (2017).

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Klasse, Geschlecht, „Rasse“, oder regionale Ungleichheiten) im Vordergrund (Lamont/Molnar 2002: 168). Die Konzeption sozialer Ungleichheiten als soziale Grenzziehungsprozesse ermöglicht, ein essentialistisches Verständnis kategorialer Unterscheidungen sozialer Ungleichheiten zu überwinden, und stattdessen die Kategorisierungsprozesse zu analysieren, durch welche soziale Ungleichheiten hergestellt und verändert werden (Amelina 2012: 283). Diese konstruktivistische Perspektive der Analyse von Kategorisierungsprozessen ermöglicht auch die Konzeption von ethnischen Gemeinschaften (ethnic groups) als analytische Grundlage zu hinterfragen (Brubaker 2004: 10). So plädiert bspw. Brubaker dafür, den Fokus der Analyse auf die Entstehung sozialer Kategorien zu richten (Brubaker 2004: 10). „As analysts, we should certainly try to account for the ways in which – and conditions under which – this practice of reification, this powerful crystallization of group feeling, can work. But we should avoid unintentionally doubling or reinforcing the reification of ethnic groups in ethnopolitical practice with a reification of such groups in social analysis.“ (Brubaker 2004: 10)

Im Zentrum der Analyse stehen Prozesse und Dynamiken, durch welche Kategorien zu Gruppen werden im Sinne von group-making as project (Brubaker 2004: 13). Ethnische Gruppen werden somit als Variable untersucht, welche vorkommt oder eben nicht vorkommen kann (Brubaker 2004: 12). Indem ethnische Gruppen nicht als unhinterfragte Einheit, sondern deren Prozesse der Gruppenbildung und Grenzziehung zum Gegenstand der Forschung gemacht werden, kann ein methodologischer Kollektivismus (Brubaker 2004: 13) in der transnationalen Migrationsforschung überwunden werden. Die Konzeption von Ethnizität als soziale Grenzziehungsprozesse ermöglichet zudem auch die Bedeutung von Ethnizität für die Herausbildung und Veränderung sozialer Ungleichheiten zu untersuchen. Auch Wimmer (2008) nutzt das Konzept von sozialen Grenzziehungen, um eine essentialistische Konzeption von Ethnizität zu überwinden. Er versteht Ethnizität als Ergebnis sozialer Prozesse und widerspricht damit der Herderschen Auffassung von ethnischen Gruppen als einzigartige, homogene und abgeschlossene Gruppen (Wimmer 2008: 63). Als Vertreter einer konstruktivistischen Sichtweise vertritt er die These, dass ethnische Zugehörigkeiten aktiv gestaltet und nicht von Geburt her zugeschrieben werden (Wimmer 2010: 99). Prozesse der Gruppenbildung durch soziale Grenzziehungen und deren Bedeutung für soziale Ungleichheiten theoretisiert auch Anthias (2001) in ihrem Artikel zum Thema der sozialen Schichtung. Sie zeigt die Bedeutung des Zusammenspiels der Kategorien von Klasse, Ethnizität und Gender für die soziale

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Schichtung auf. Die Schwierigkeiten, die Bedeutung von Klasse, Ethnizität und Gender für die soziale Schichtung zu konzipieren, liegen gemäß Anthias (2001: 375) darin, dass Klasse als Unterscheidung in Bezug auf materielle Ressourcen betrachtet wird. Im Gegenzug wird Ethnizität gemäß Anthias (ibid.: 375) als Position in Bezug auf Kultur im symbolistischen oder identifikatorischen Bereich angesiedelt. Dabei wird die Bedeutung von Ethnizität für soziale Beziehungen, welche soziale Ungleichheiten erzeugen, vernachlässigt (ibid.: 375). Sie kritisiert an Ansätzen, welche die gegenseitige Beeinflussung von Ethnizität und Klasse fokussierten, deren Konzeption als homogene Gruppen (Anthias 2001: 374). Wie die zuvor von Wimmer (2008) und Brubaker (2004) vorgeschlagene Konzipierung von Ethnizität betont auch sie die Bedeutung von Grenzziehungsprozessen der verschiedenen Kategorien für die Analyse der Schichtung sozialer Beziehungen, um damit Fragen nach der Interdependenz der verschiedenen Kategorien zu untersuchen (Anthias 2001: 375). „The issue of boundaries relates not only to the difference in the boundary between class, gender and ethnic groups, but to the boundary between one social class and another, as well as one ethnic group and another.“ (Anthias 2001: 376)

Die Konzeption sozialer Ungleichheiten als Resultat sozialer Grenzziehungsprozesse erlaubt gemäß Anthias (2001: 376), die Frage zu stellen, wer die Klassifikation vornimmt, zu welchem Zweck diese dienen und welche Effekte damit erzeugt werden und ermöglicht damit auch Teilungen und Gemeinsamkeiten innerhalb der verschiedenen Einheiten zu untersuchen. Gender, Ethnizität und Klasse sind für Anthias dabei zentrale Kategorien, anhand derer die Kategorisierung der Gesellschaft produziert und organisiert wird (ibid. 2001: 377). Die Kategorie der Klasse bezieht sich gemäß Anthias (2001: 377) auf die Produktion und Reproduktion des ökonomischen Lebens, Gender auf die Produktion und Reproduktion von vergeschlechtlichten Unterschieden und Ethnizität auf die Produktion und Reproduktion von kollektiven und solidarischen Beziehungen in Bezug auf die Herkunft oder kulturelle Unterschiede. Dabei ist gemäß Anthias (2001: 377) zu beachten, dass diese Kategorien in spezifischen historischen Kontexten produziert werden und deshalb veränderbar sind. Durch die Fokussierung auf verschiedene Prozesse, welche zu sozialen Ungleichheiten führen, ist das Konzept sozialer Grenzziehungsprozesse anschlussfähig an die Intersektionalitätsdebatte, in der die Interdependenz verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten im Vordergrund steht (Amelina 2012: 283):

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„In sum, the sociology of social boundaries and, in particular, the intersectional approaches mentioned (Walby and Armstrong, 2012) tend to avoid a dichotomy between the conventional class-focussed inequality studies and studies on ethnicity/race, gender and other inequality projects, since they understand different sets of unequal relations as mutually reinforcing and stabilizing each other.“ (Amelina 2012: 283)

Amelina bezeichnet soziale Grenzziehungen als sociocultural boundaries und zeigt die Verknüpfung der theoretischen Perspektiven aus der Kultursoziologie, der Intersektionalitätstheorie und dem Sozialkonstruktivismus auf (Amelina 2017: 39) und entwickelt damit das Konzept sozialer Grenzziehungen von Lamont/Molnar (2002) weiter (Amelina 2017: 41). Amelina hinterfragt deren Erklärungsprimat, das symbolische Grenzziehungen als eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Ressource für die Entstehung und Stabilisierung von Hierarchien betrachtet. Stattdessen hebt sie die Performativität der kulturellen (bzw. symbolischen) Grenzziehungen hervor und begründet damit, dass kategoriale (intersektionelle) Unterscheidungen in die ungleiche Verteilung von Lebenschancen münden (vgl. Abbildung 1). Um die Bedeutung von kulturellen Systemen der Klassifizierung in den Vordergrund zu stellen, die zu der Produktion sozialer Hierarchien führen, verwendet sie den Begriff der soziokulturellen Grenzziehungen (Amelina 2017: 44). „sociocultural boundaries as hierarchies of social positions or locations within different social contexts (networks, families, organizations, institutional macro-areas etc.) that are created through the use of historically specific, intersubjectively valid categorical distinctions between (and, thus, definitions of) who is ,in’ and who is ,out’.“ (Amelina 2017: 46)

In der folgenden Abbildung 1 von Amelina (2017: 45) sind die Prozesse soziokultureller Grenzziehungen schematisch dargestellt, um aufzuzeigen, wie kategoriale Unterscheidungen im Zusammenhang mit Prozessen der Hierarchisierung zu ungleichen Lebenschancen führen. Dies ermöglicht zu verstehen, wie und auf welche Art und Weise soziale Hierarchisierungen von Privilegien und Unterordnung produziert und verändert werden und zeigt damit den Zusammenhang von kategorialen Unterscheidungen und sozialen Ungleichheiten auf (Amelina 2017: 46).

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Abbildung 1: Das Konzept soziokultureller Grenzziehungen

Categorical distinctions  cultural systems of  classification Processes of categorization  that include hierarchization

Sociocultural boundaries  (inequalities sets of  unequal social relations)

Quelle: Amelina (2017: 45)

Die kategorialen Unterscheidungen werden dabei als intersubjektiv geteilte und historisch spezifische Klassifikationen verstanden und können bewusst oder unbewusst, implizit oder explizit erfolgen und sind in einem nicht essentialistischen Sinne zu verstehen (Amelina 2017: 45). Diese von Amelina als cultural systems of classification bezeichneten kategorialen Unterscheidungen führen zu hierarchisierten sozialen Positionen, welche sich in der Form von ungleichen Lebenschancen zeigen und zu einer ungleichen Verteilung von geschätzten Ressourcen führen (ibid.: 45). Diese kategorialen Unterscheidungen verortet Amelina (2017: 45) in Anlehnung an die Soziologie der sozialen Praxis in spezifischen sozialen Praktiken der alltäglichen Routinehandlungen (ibid.:46). In Bezug auf die Intersektionalitätsdebatte weist Amelina (2017: 54) darauf hin, keine der Achsen sozialer Ungleichheit im Vornherein zu bestimmen, da die kategorialen Unterscheidungen, welche soziale Ungleichheiten erzeugen, sozial produziert und im spezifischen historischen Kontext verortet sind. Die Bedeutung des Zusammenspiels verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten muss deshalb den spezifischen sozialen und historischen Kontexten Rechnung tragen (ibid.: 54). Die Anwendung des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen, bei dem die Prozesshaftigkeit und die Verbindung von strukturellen und individuellen Aspekten der Produktion, Reproduktion und Transformation sozialer Un-

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gleichheiten im Zentrum steht, lässt sich gerade deshalb mit der methodischen Vorgehensweise der Biographieforschung verbinden, weil auch in der Biographieforschung die Prozesshaftigkeit und Offenheit für die Analyse der Wechselwirkung zwischen gesellschaftlich sozialen Ungleichheiten und Handlungen der Akteure im Vordergrund stehen. Im folgenden Kapitel werden die Anwendungsmöglichkeiten des analytischen Konzepts der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung theoretisch erläutert und dann im empirischen Teil angewendet. 3.2.3 Analyse intergenerationaler Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext Während im ersten Kapitel intergenerationale Transmissionsprozesse und die damit verbundenen Konzeptionen von Familie und Generationen im transnationalen Migrationskontext kritisch diskutiert wurden, stand im zweiten Kapitel die Frage im Vordergrund, wie multiple soziale Ungleichheiten im transnationalen Migrationskonzept analysiert werden können. Die Verbindung von Biographieforschung und dem Konzept soziokultureller Grenzziehungen stellt den spezifischen Ansatz des vorliegenden Forschungsprojekts dar, um intergenrationale Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext zu analysieren, ohne dabei essentialistische Konzeptionen von Kultur, Ethnizität oder Familien zu verwenden und zugleich auch Konzeptionen zu vermeiden, welche intergenerationale Transmissionsprozesse in Verbindung mit Assimilationsprozessen bringen. Der Fokus richtet sich stattdessen auf Prozesse der Weitergabe und der Transformation von Migrationserfahrungen in Generationenbeziehungen. Durch die Verbindung der rekonstruktiven Biographieforschung mit dem Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen können die individuelle Handlungsmuster in gesellschaftlichen Machtgefügen verortet werden und die daraus resultierenden Interdependenzen von intergenerationalen Transmissionsprozesen mit multiplen sozialen Ungleichheiten im transnationalen Migrationskontext rekonstruiert werden. Im folgenden Kapitel wird die rekonstruktive Biographieforschung als methodologische Vorgehensweise für die empirische Untersuchung genauer erläutert. Es wird aufgezeigt, dass die rekonstruktive Biographieforschung eine Möglichkeit der „Operationalisierung“ eines methodologischen Transnationalismus (Amelina/Faist 2012) darstellt und Implikationen hat für die Datenerhebung und Datenanalyse. Im Sinne der biographischen Reflexivität werden zudem auch der Forschungsverlauf und dessen Auswirkungen auf die vorliegenden Forschungsergebnisse aufgezeigt.

 

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Transnationale Perspektive als methodischer und methodologischer Zugang

Im folgenden Kapitel wird zuerst das methodologische Verfahren erläutert und anschließend das methodische Vorgehen vorgestellt. Durch das ausgewählte Verfahren der Datenerhebung und Auswertung wird angestrebt, die bereits erläuterte transnationale Forschungsperspektive anzuwenden. Die Vorgehensweise orientiert sich deshalb an einem methodologischen Transnationalismus mit dem Ziel, den von Amelina/Faist (2012: 3 ff) beschriebenen, drei zentralen methodischen Herausforderungen der transnationalen Migrationsforschung zu begegnen. „First, migration researchers too often presume the nation-state as the central relevant context for empirical studies on international migration. Second, some migration scholars select ethnicity as the dominant category relevant for research organization. Third, a great many of empirical studies are characterized by concepts naturalizing ethnic belonging.“ (Amelina/Faist 2012: 3)

Erstens wurde für die Erweiterung des Untersuchungskontextes und damit die Orientierung an einem relationalen Verständnis von Ortsbezügen (Amelina 2012, Amelina/Faist 2012) bei der Datenerhebung das methodische Vorgehen der multi-sited-ethnography einbezogen, da bei diesem Konzept die Frage der Verortung der Forschungsmethodik reflektiert wird (Amelina/Faist 2012: 9). Das Konzept der multi-sited ethnography wurde erstmals von Marcus (1995) konzipiert. Er nennt verschiedene Techniken, wie durch die Konstruktion und Verfolgung von Bewegungen in verschiedenen Settings die Komplexität kultureller Phänomene analysiert werden kann wie bspw. durch die Verfolgung von Personen, Dingen, Metaphern, Geschichten und Allegorien oder auch Lebenswegen, Biographien sowie Konflikten (Marcus 1995: 106 ff). Für die vorliegende For-

 

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schung ist insbesondere die Variante der Lebenswege und Biographien in Bezug auf die Anwendung der rekonstruktiven Biographieforschung von besonderem Interesse, weshalb hier diese Technik näher beschrieben wird. Die Analyse von Lebensgeschichten ist eine bestimmte Form der Erhebung von ethnographischen Daten, die gemäß Marcus (1995: 109) bisher selten als Möglichkeit von multisited research diskutiert wurde. Lebensgeschichten bieten die Möglichkeit, soziale Kontexte durch die Narration von individuellen Erfahrungen sichtbar zu machen. „They are potential guides to the delineation of ethnographic spaces within systems shaped by categorical distinctions that may make these spaces otherwise invisible.“ (Marcus 1995: 110)

Die Idee, Lebensgeschichten als Grundlagen für die Untersuchung transnationaler Migrationsprozesse zu nutzen wird auch in der Biographieforschung diskutiert (vgl. Apitzsch 2003, Bauschke-Urban 2010, Lutz 2004, Lutz/Schwalgin 2006, Ruokonen-Engler 2012, Siouti 2013 etc.). Indem die Methode der rekonstruktiven Biographieforschung die soziale Welt und die Erfahrungen der Migrant_innen in den Mittelpunkt stellt (Ruokonen-Engler 2012: 111), können transnationale Lebenswelten erforscht und ein methodologischer Nationalismus überwunden werden. Die Biographieforschung ermöglicht gemäß RuokonenEngler (2012: 119) „in den Biographien durch die Prozesse von Spacing, Syntheseleistung sowie die prozessuale zeitliche Struktur“ die Herstellung von transnationalen Räumen zu analysieren. Auch Bauschke-Urban (2010) argumentiert in ihrer Untersuchung von Transnationalisierungsprozessen in der Wissenschaft, dass die Biographieforschung es ermöglicht, „transnationalisierte Mesound Makrostrukturen als biographiegenerierende Faktoren in ein Wechselverhältnis mit biographischen Narrationen von transnational Mobilen zu setzen“ (Bauschke-Urban 2010: 129). Zweitens stellt sich die Frage nach der Überwindung der Naturalisierung der ethnischen Zugehörigkeit, da diese bei der Datenerhebung ein relevantes Kriterium darstellte. Durch die Konzeption von Ethnizität als einem Element von sozialen Grenzziehungsprozessen (vgl. Kapitel II, 2.2; Brubaker 2004, Wimmer 2008, Amelina 2017) wird die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit als eine nicht gegebene Kategorie angenommen, sondern gefragt, welche Bedeutung ethnische Zugehörigkeit für die Akteure haben kann im interdependenten Zusammenspiel verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten. Zudem wird angestrebt, eine normative Konzeption von Familie zu überwinden (vgl. Kapitel 2, 2.1). Wie bei der Konzeption von Ethnizität wird auch Familie als Kriterium für die Datener-

Transnationale Perspektive als methodischer und methodologischer Zugang | 67

hebung angewendet, ohne daraus direkt auf die Bedeutung von Familie zu schliessen. Im Sinne der bereits beschriebenen Konzeption von (transnationalen) Familien als soziale Praxis wird auch hier die Frage gestellt, inwiefern Familie für die Akteure relevant ist und in welchem Zusammenhang die Bedeutung von Familie mit anderen Kategorien sozialer Ungleichheiten steht. Drittens gehört gemäß Amelina/Faist (2012: 6) zu einem methodologischen Transnationalismus auch die Selbstreflexion. „On the one hand self-reflexivity discloses a situational power hierarchy between the researcher and the researched. On the other, it promises transnational studies additional research perspectives by shedding light on strategies of de-ethnicization in research organization.“ (Amelina/Faist 2012: 10)

Die Selbstreflexion von Machthierarchien erfolgt hier durch die Reflexion des empirischen Forschungssettings, indem die eigene Positionierung kritisch analysiert wird. So weisen auch Ruokonen-Engler/Siouti (2013: 248) auf die Bedeutung hin, die Rolle der ForscherIn in der transnationalen Migrationsforschung zu diskutieren und zu analysieren. Sie begründen diese Reflexion mit der Frage des Zusammenhanges zum Forschungsfeld und der Überwindung eines methodologischen Nationalismus, bei dem der Nationalstaat als Rahmung bei der Datenerhebung nicht hinterfragt und die Analyse von Migrationsbiographien aus der Perspektive der Einwanderungsländer vorgenommen wurde (RuokonenEngler/Siouti 2013: 251). Die Überwindung des methodologischen Nationalismus beinhaltet gemäß Ruokonen-Engler/Siouti (2013: 251) deshalb nebst der Reflexion des Analyserahmens und den damit normativen kulturellen Erwartungen auch die Analyse der Forschungsbeziehung sowie der Rolle der Forschenden im Feld der transnationalen Wissensproduktion. Die von ihnen vorgestellte biographische Reflexivität ist insbesondere auch für die Biographieforschung im transnationalen Kontext bedeutend und stellt ein methodologisches Hilfsmittel dar, das notwendig ist, um die transnationale Forschungsperspektive als Theorie und Methode weiterzuentwickeln (2013: 252). „This is especially important in the field of migration studies, where the researcher’s own biographical entanglements with migration play a central role both in relation to the story of the origins of the research topic and in access to and construction of the search field, the analysis of data, and the resulting transnational production of scientific knowledge. However, it is not the migration experience, but a methodologically controlled reflection of the researcher’s own experiences and their influence on the development of the research process that prove to be a resource for carrying out the research. This means that the constitu-

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tion of the research design need to be explicit about the meaning of the research’s experiences as part of the construction of the research fields”. (Ruokonen-Engler/Siouti 2013: 252)

Die Bedeutung des Interaktionsprozesses zwischen den Personen, die in die Datenerhebung (Interviews) und Datenanalyse involviert sind, wird auch von Lutz (2014) unter dem bereits beschriebenen Stichwort der differences in situatedness von Intersektionalität aufgezeigt (Lutz 2014: 11, vgl. Kapitel II, 2.1). Dabei spielen gemäß Lutz verschiedene Differenzen wie Klasse, „Rasse“, Ethnizität, Alter sowie Geschlecht und Nationalität, aber auch Religion oder Körper, die durch die Interviewperson eingebracht werden und zugleich auch bei der interviewten Person bedeutend sind, eine Rolle (ibid.: 11). Diese Reflexion erfolgt einerseits am Ende dieses Kapitels in Bezug auf den Prozess der Datenerhebung, sowie in den jeweiligen Fallrekonstruktionen, wo explizit auch der spezifische Interviewkontext reflektiert wird. Im Folgenden wird nun die methodische Vorgehensweise erläutert, welche sich sowohl bei der Datenerhebung und Datenanalyse an der Methode der rekonstruktiven Biographieforschung nach Rosenthal (2011) orientiert. Als erstes wird die Auswahl dieser Methodik begründet, um anschließend die damit zusammenhängende Wahl des Samplings, der Datenerhebung und Datenanalyse zu erläutern.

4.1 REKONSTRUKTIVE BIOGRAPHIEFORSCHUNG ALS METHODOLOGISCHES RAHMENKONZEPT In den vorangehenden Ausführungen wurde bereits die theoretische Relevanz der Biographieforschung für die Analyse intergenerationaler Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext aufgezeigt. Rosenthal (2009: 50) hebt zudem hervor, dass durch die rekonstruktive Biographieforschung die Erfahrungen der Migration sowohl im Zusammenhang der gesamten Biographie sowie der kollektiven Geschichte analysiert werden können. Die empirisch begründete Hypothesen- und Theorieentwicklung der rekonstruktiven Biographieforschung ermöglicht gemäß Siouti (2013: 93) eine differenzierte Analyse transnationaler Migrationsprozesse, welche der Binnenperspektiven der Akteur_innen Raum gibt als Artikulation normativer Vorstellungen von Integrations- und Assimilationsprozessen (vgl. Lutz 2014: 212). Dazu gehört insbesondere auch die Einbettung der Erfahrungen in die jeweils relevanten sozialen Kontexte, Gesellschaftssysteme und Diskurse (Rosenthal 2009: 50). Diese rekonstruktive Heran-

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gehensweise eignet sich aufgrund der damit verbundenen Logik des Entdeckens und der Offenheit des Vorgehens (Rosenthal 2011: 13) insbesondere für die Untersuchung bisher unbekannter sozialer Phänomene und kaum erforschter Lebenswelten (Rosenthal 2011: 18). Hier wird argumentiert, dass die Erforschung intergenerationaler Transmissionsprozesse im transnationalen Migrationskontext ein solches kaum erforschtes soziales Phänomen darstellt. Die rekonstruktive Biographieforschung beinhaltet gemäß Rosenthal (2011: 38) das Prinzip der Kommunikation als Orientierung am Regelsystem der Alltagskommunikation und das Prinzip der Offenheit, bei dem die theoretische Strukturierung des Forschungsgegenstandes zuerst zurück gestellt wird und einen Verzicht auf eine hypothesengeleitete Datengenerierung und Datengewinnung impliziert (ibid.: 38). Diese beiden Prinzipien haben Implikationen auf die Wahl des methodischen Vorgehens sowohl bei der Datenerhebung, der Datenauswahl als auch der Datenanalyse, weshalb die rekonstruktive Biographieforschung hier als methodologisches Rahmenkonzept bezeichnet wird.

4.2 PRINZIP DER OFFENHEIT BEI DER DATENERHEBUNG Das Prinzip der Offenheit hat einen Verzicht auf hypothesengeleitete Datengenerierung zur Folge. Dies bedeutet, dass die Stichprobe nicht bereits zu Beginn der Forschung definierbar ist, sondern durch Annahmen, welche im Laufe der Forschung gebildet werden, entwickelt wird (Rosenthal 2011: 47). Dabei finden die Prozesse der Datenerhebung und der Datenanalyse parallel statt mit dem Ziel der Generierung von Theorie. Kontrolliert werden diese Prozesse durch die sich im Entstehen befindende Theorie (ibid.: 84). Diese Vorgehensweise orientiert sich am theoretischen Sampling, das ursprünglich von Glaser/Strauss 1967 entwickelt wurde und in der Biographieforschung üblich ist (ibid.: 84)1. Der Entdeckungslogik folgend, kann nicht bereits im Voraus definiert werden, welche Fälle sich für die Forschung als theoretisch relevant erweisen (Rosenthal 2011: 83). Der Umfang der Stichprobe sowie die Grösse und die Merkmale der Grundgesamtheit eines theoretischen Samplings lassen sich erst am Ende des Forschungsprozesses genau bestimmen (ibid.: 86). Die theoretische Sättigung wird durch re-

                                                             1

In der rekonstruktiven Fallanalyse der Biographieforschung nach Rosenthal (2011) geht es im Gegensatz zu dem von Glaser/Strauss beschriebenen Verfahren der grounded theory jedoch nicht um das Auffinden von Kategorien (vgl. Glaser/Strauss 2010), sondern um Fallanalysen.

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konstruktive Fallanalysen dann erreicht, wenn keine neuen Fälle mehr gefunden werden, die die Konstruktion eines neuen Typus erfordern oder zu einer Modifizierung der bisherigen theoretischen Verallgemeinerung führen könnten. Es geht deshalb nicht wie in der quantitativen Forschung darum, Aussagen über die statistische Häufigkeit des Auftretens von Fällen zu generieren. Die Rekonstruktion von Einzelfällen endet damit, wenn im theoretischen Sinne nichts Neues mehr entdeckt werden kann (Rosenthal 2011: 85). In der rekonstruktiven Biographieforschung unterscheiden Fischer-Rosen thal/Rosenthal (1997: 151) zwischen einer ersten und zweiten theoretischen Stichprobe. Die erste Stichprobe umfasst alle zu führenden Interviews, während die zweite Stichprobe die Auswahl der Fälle bezeichnet, welche einer Fallrekonstruktion unterzogen werden (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 151, Rosenthal 2011: 93). Dies bedeutet, dass die erste theoretische Stichprobe umfangreicher ist und nicht alle der erhobenen Interviews analysiert werden. „Orientiert sich die Stichprobenziehung zu Beginn noch an vorab gehegten theoretischen oder alltagsweltlichen Annahmen oder ergibt sie sich mehr oder weniger zufällig, so verändert sich dies im Laufe der Studie. Die Auswahl erfolgt zunehmend anhand der sich unter dem Einfluss der empirischen Einsichten entwickelnden theoretischen Verallgemeinerungen.“ (Rosenthal 2011: 93)

Die Auswahl des zweiten Samples und damit der Entscheidung zu der Analyse der erhobenen Interviews basiert auf der Grundlage der Gesprächsnotizen und den biographischen Daten, die nach den Interviews angefertigt werden (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 151) und auch als „Memos“ bezeichnet werden (vgl. Rosenthal 2011: 90). Für die ersten Interviews wurden entsprechend der offenen Forschungsfrage kosovo-albanische Personen mit Migrationserfahrungen in der Schweiz ausgewählt. Diese Interviews fanden an deren jeweiligen aktuellen Wohnort sowohl in der Schweiz wie auch im Kosovo statt. Die Auswahl der ersten Interviewpartner folgte dabei mehr oder weniger zufällig, wobei auf eine möglichst große Vielfalt an Migrationsgeschichten, Alter, Geschlecht und sozio-ökonomischen Status geachtet wurde. Die ersten Interviews wurden im Jahr 2012 erfasst. Gemäß dem Vorgehen nach Rosenthal (2011: 94) wurde zuerst zufällig ein Interview ausgewählt und analysiert. Parallel dazu wurden im Sinne einer, von Rosenthal (2011: 95) als oberflächlich bezeichneten Maximierung der Unterschiede, weitere Personen interviewt. Für die Minimierung und Maximierung des Samplings dienten insbesondere unterschiedliche Migrationsprozesse: Einige Personen kamen über Familiennachzug oder als „Gastarbeiter_innen“ in die Schweiz, andere über den

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Asylprozess, einige verfügen über eine uneingeschränkte Niederlassungsbewilligung, andere mussten die Schweiz wieder verlassen, einige leben heute noch in der Schweiz, andere im Kosovo. Dieses Sample, nach Rosenthal (2011: 92) auch als erste theoretische Stichprobe bezeichnet, besteht insgesamt aus 21 Personen mit sehr unterschiedlichem sozio-ökonomischem Status (hochqualifizierten Personen mit Universitätsabschluss, Personen ohne berufliche Qualifikation) sowie sehr unterschiedlichen familialen Verhältnissen (verheiratete Personen, Personen mit Kindern, ledige Personen, geschiedene Personen), welche heute entweder in unterschiedlichen Orten der deutschsprachigen Schweiz oder im Kosovo leben. Die Interviews wurden insgesamt über einen Zeitraum von drei Jahren (Frühjahr 2012 – Oktober 2015) erhoben. Die Kontaktaufnahme erfolgte teilweise über Schlüsselpersonen, welche durch ihre Funktion bei der Gewerkschaft oder als Integrationsbeauftragte über Kontakte zu kosovo-albanischen Personen verfügten. Zudem nahm ich in der Schweiz an verschiedenen Anlässen teil wie Buchvernissagen von kosovoalbanischen Autor_innen und kosovo-albanischen Festen, um auch dort Kontakte zu knüpfen auf der Suche nach weiteren Interviewpersonen. Als interessante Möglichkeit für die Kontaktaufnahme boten sich insbesondere Flugreisen zwischen Kosovo und der Schweiz an. Als alleinreisende Schweizerin mit albanischen Sprachkenntnissen wurde ich auf diesen Reisen oft angesprochen, weshalb ich in den Kosovo reise. So kam ich in Kontakt mit Personen, welche zwischen Kosovo und der Schweiz hin- und her reisten, und damit potentiell in transnationale Migrationsprozesse zwischen Kosovo und der Schweiz involviert waren und somit den Kriterien meines ersten Samples entsprachen. Durch die Analyse der ersten zufällig ausgewählten Fallrekonstruktionen von zwei Personen derselben Familie konnte die Fragestellung weiterentwickelt und konkretisiert werden. Aufgrund der ersten beiden Auswertungen stellte sich die Frage nach der intergenerationellen Weitergabe von transnationalen Migrationserfahrungen und wurde zum Kriterium für die Bildung des zweiten theoretischen Samples (Rosenthal 2011: 93). Es folgten weitere Interviews mit weiteren Mitgliedern derselben Familie. Diese Fallrekonstruktionen zeigten auf, dass in dieser Familie die Transmission von Migrationserfahrungen bereits in der Generation der Großeltern begonnen hatte (beide Großväter waren „Gastarbeiter“). Aus diesem Grund wurde schlussendlich diese Familie als zweites Sample für die Untersuchung der Frage der intergenerationellen Transmission von Migrationserfahrungen gewählt. Diese Entscheidung erforderte es, mit allen Familienmitgliedern biographisch-narrative Interviews zu führen und verlangte eine erneute Kontaktaufnahme mit der Familie. Das letzte Interview wurde im Oktober 2015 geführt.

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Die nach den ersten beiden Fallrekonstruktionen erarbeitete Fragestellung nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen führte zu der Entscheidung, eine Einzelfallstudie basierend auf diese sieben Mitglieder einer Familie zu beschränken, insbesondere auch, da bei keinem der anderen erhobenen Fälle ein Migrationsprozess über drei Generationen festgestellt werden konnte. Zudem zeigte es sich, dass in der ausgewählten Familie sowohl maximale und minimal kontrastierende Vergleiche gezogen werden können durch den Vergleich der Geschwister. Die drei ältesten Geschwister weisen einen ähnlichen Migrationsprozess auf, alle drei wurden in Jugoslawien geboren und migrierten anfangs der Einschulungszeit mit den Eltern in die Schweiz. Alle drei sind heute verheiratet und haben je zwei Kinder. Eine maximale Kontrastierung ist zu den beiden jüngeren Geschwistern möglich, welche in der Schweiz geboren wurden. Die maximale Kontrastierung ist auch aufgrund der Generation von allen Geschwistern in Bezug zu ihren Eltern möglich. Zudem unterscheiden sich die fünf Geschwister der Familie auch durch ihre sozio-ökonomische Situation und den Bildungsstatus. Diese Heterogenität ermöglicht eine maximale Kontrastierung bei gleichzeitig ähnlicher Ausgangssituation. Durch die Fokussierung auf eine Familie wurden mehrere biographisch-narrative Interviews sowohl einzeln als auch mit mehreren Familienmitgliedern über drei Jahre hinweg geführt. Ferner ermöglichte dies die Erhebung einer hohen Dichte an unterschiedlichen Materialien und Informationen.

4.3 BIOGRAPHISCHE REFLEXIVITÄT: HINWEISE AUF SOZIOKULTURELLE GRENZZIEHUNGSPROZESSE IN DER SCHWEIZ An dieser Stelle wird die von Ruokonen-Engler/Siouti (2013: 255) & Amelina/Faist (2012:6) vorgeschlagene biographische Reflexivität angewendet, um dadurch den Einfluss der Forscherin auf den gesamten Forschungsprozess zu reflektieren. Diese Reflexion hat das Ziel, die Bedeutung von den durch die Forscherin eingebrachten Erfahrungen und die durch sie als Person wirksamen Kategorien und deren Einfluss auf die Datenerhebung sichtbar zu machen (Ruokonen-Engler/Siouti 2013: 255). Mein Interesse für das Thema der transnationalen Migrationsprozesse zwischen Kosovo und der Schweiz wurde auf einer Studienreise in den Kosovo im Jahr 2010 geweckt, die ich in der Rolle als wissenschaftliche Assistentin begleitete. Als Begleitperson einer Gruppe von Studierenden begegnete ich in der Schweiz und dann auch im Kosovo immer wieder Menschen, die als Mig-

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rant_innen Bezüge zu beiden Ländern herstellten oder durch familiale Netzwerke mit beiden Ländern verbunden waren. Aus dem geweckten Interesse wurde schliesslich die vorliegende, über mehrere Jahre dauernde Forschungsarbeit und damit eine intensive Beschäftigung mit transnationalen Beziehungen zwischen Kosovo und der Schweiz. In dieser Zeit lernte ich auch meinen heutigen Ehemann kennen und bin durch ihn nun selbst in transnationale familiale Netzwerke zwischen der Schweiz und dem Kosovo involviert. Für den Forschungsprozess und die Interaktion bei der Datenerhebung sind diese familialen Beziehungen relevant, da durch meinen Doppelnamen die Ehe mit einem Kosovo-Albaner sichtbar ist. Durch Begegnungen auf den Reisen in den Kosovo mit Menschen mit kosovo-schweizerischen Bezügen entstanden die ersten Interviews für das Sample. Ich erhielt den Eindruck, dass meine persönlichen Erfahrungen und Beziehungen zu Kosovo sowie meine Grundkenntnisse der albanischen Sprache den Aufbau einer Vertrauensbasis zu den interviewten Personen erleichterten. Ich erlebte in den Gesprächen, dass mein Interesse am Kosovo und an den Lebensgeschichten als positiv wahrgenommen und auch meine Ehe mit einem kosovo-albanischen Ehemann als Interesse an ihrem Herkunftsland interpretiert wurde. Jedoch werden durch meine Fokussierung auf kosovo-albanische Personen sowie meinem eigenen Bezug zu Kosovo die Interviewpartner mit dem Thema der geographischen und/oder ethnischen Zugehörigkeit konfrontiert, auch wenn ich im Interview offen nach ihrer Lebensgeschichte fragte und versuchte, die Themen Migration und Ethnizität nicht zu erwähnen. Im Gegensatz zu der Kontaktaufnahme über persönliche Begegnungen stellt sich die Suche nach Interviewpersonen über verschiede Schlüsselpersonen wie Sozialarbeitende, Vertreter_innen von Gewerkschaften und albanischen Vereinen in der Schweiz als schwierig dar. Viele der Personen in der Schweiz, die ich telefonisch kontaktierte und mein Forschungsvorhaben erläuterte, waren skeptisch und wollten wissen, ob die Ergebnisse in der Zeitung publiziert werden. Obwohl ich die Anonymität sowie den wissenschaftlichen Zweck meines Forschungsvorhabens erläuterte, waren einige Personen nicht bereit für ein Interview. Wenn Personen sich bereit erklärten für ein Interview, waren dies oft die „erfolgreichsten“ Personen der Familie mit verantwortungsvollen beruflichen Positionen oder Hochschulabschlüssen oder boten mir an, zu weiteren „erfolgreichen“ Personen Kontakte zu vermitteln. Damit zeigte sich bei der Datenerhebung ein allgemeines Präsentationsinteresse der kosovo-albanischen Personen in der Schweiz, sich selbst aber damit auch die kosovo-albanische Bevölkerung in der Schweiz als „erfolgreich“ darzustellen.

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Die Art und Weise der Kontaktaufnahme und der Interaktionen im Feld haben eine große Aussagekraft über das Feld selbst (Wagner 2017: 55). Die Erfahrungen bei der Datenerhebung für die vorliegende Forschung weisen darauf hin, dass soziokulturelle Grenzziehungsprozesse für dieses Feld wirksam sind. In der Phase der eigentlichen Datenerhebung in den Jahren 2012 – 2014 wurde in den Medien und der Öffentlichkeit nach wie vor ein sehr negatives Bild der kosovoalbanischen Bevölkerung verbreitet (vgl. Burri Sharani et al.: 2010: 41, Duemmler 2015: 141). Ich gehe deshalb davon aus, dass dieser immer noch verbreitete negative Ruf der kosovo-albanischen Bevölkerung die Datenerhebung und auch die Interviews in der Schweiz beeinflusste. Einerseits wurde dadurch Skepsis und Misstrauen gegenüber Medien ausgelöst und damit auch die Bereitschaft beeinträchtigt, an einer wissenschaftlichen Studie teilzunehmen. Anderseits hat dies die Bereitschaft von Personen erhöht, sich für ein Interview zur Verfügung zu stellen, um sich selbst als positives Beispiel zu präsentieren und sich damit von den negativen Schlagzeilen zu distanzieren. Hinweise auf ein Präsentationsinteresse meiner Interviewpartner_innen, sich vom negativen Ruf der kosovoalbanischen Bevölkerung abzugrenzen und sich selbst als gut integriert und erfolgreich darzustellen, gibt es in fast allen Interviews. Diese Hinweise finden sich in einigen Interviews explizit wie bspw. im folgenden Zitat von Clirim: Clirim: die erst mit 12 13 in die Schweiz gekommen sind..die haben halt..sind die ganze Jugend rüber wenn man sich halt eigentlich entwickelt..nur Albaner gewesen..und die haben dann Problem für die ist es schwierig gewesen dann..umwandeln und mit einem Schweizer zusammen hangen..weil für den ist das ganz etwas anders und..und dann sind eben diese Konflikte gekommen..und die haben wir ja nicht gehabt weil wir ja..eigentlich von Kind an..gelernt haben mit Schweizer zusammen zu sein (2013a: 576-581)

In anderen Interviews wurde vor- oder nach dem eigentlichen Interview darauf hingewiesen, dass nicht alle Albaner_innen schlecht integriert sind. Andere betonten ihre Dankbarkeit der Schweiz gegenüber. Dies deutet darauf hin, dass die interviewten Personen mich als „Vertreterin“ der schweizerischen Bevölkerung betrachteten, da ich die Interviews für eine Arbeit an einer Universität erhob. Daraus lässt sich die Hypothese ableiten, dass meine eigenen Bezüge zu der kosovo-albanischen Bevölkerung durch meinen Ehemann weniger wirksam im Interviewprozess als meine Position als Schweizerin waren. Die biographischnarrativen Interviews gaben den Personen einen Raum, um sich von negativen Darstellungen der kosovo-albanischen Bevölkerung abzugrenzen und deuten auf die Wirksamkeit von ethnischen Grenzziehungsprozessen in der Schweiz hin. Möglicherweise war gerade dieser Wunsch, sich von den negativen Darstellun-

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gen der kosovo-albanischen Bevölkerung in der Schweiz abzugrenzen, die Motivation für die Zusage für ein Interview mit mir. Durch die Teilnahme an Forschungskolloquien wurde meine eigene Position bei der Datenerhebung und Interpretation reflektiert, und so der Einfluss meiner eigenen Erfahrungen auf die Analyse der Daten einbezogen. Diese Reflektionen werden im empirischen Teil fallspezifisch bei den jeweiligen Fallrekonstruktionen dargestellt.

4.4 PRINZIP DER KOMMUNIKATION BEI DER DATENERHEBUNG: BIOGRAPHISCH-NARRATIVE INTERVIEWS Die rekonstruktive Biographieforschung als methodologisches Rahmenkonzept beinhaltet nebst dem bereits beschriebenen Prinzip der Offenheit auch das Prinzip der Kommunikation, d.h. der Orientierung am Regelsystem der Alltagskommunikation (Rosenthal 2011: 38). Diese hat Konsequenzen für die Datenerhebung. Kommunikative Verfahren spielen dabei eine bedeutende Rolle, da damit Raum für alltägliche Prozesse der Verständigung und Bedeutungsaushandlung entstehen (Rosenthal 2011: 43). Als idealtypische Datenbasis für die Biographieforschung gilt deshalb seit den 1970-er Jahren das biographisch-narrative Interview von F. Schütze (1983) als zentrales Verfahren für die Generierung von erzählten Lebensgeschichten (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 139). Inzwischen gehört das narrative Interview gemäß Przyborski/Wohlrab-Sahr (2014: 79) zu den prominentesten und fundiertesten Erhebungsverfahren im Bereich der qualitativen Sozialforschung. Ausgangspunkt ist dabei Schützes methodologischer Ansatz der autobiographischen Stegreiferzählungen (Schütze 1983: 285). Diese Erzählungen, die nicht bereits vorbereitet wurden, ermöglichen die Produktion von Texten, die aus den Orientierungsstrukturen des faktischen Handelns entwickelt werden und damit den eigenerlebten Erfahrungen am Nächsten stehen (ibid.: 1983: 285). Dabei gelten gemäß Kallmeyer/Schütze (1977: 162) für die Sachverhaltsdarstellung drei grundlegende Regeln resp. Zugzwänge: Der Kondensierungszwang, der Detaillierungszwang und der Gestaltschliessungszwang. Schütze (1982: 571) nennt diese Zugzwänge später auch „dreifachen Zugzwang des Stegreif-Erzählens eigenerlebter Ereigniszusammenhänge“, und betont dabei, dass als Vorbedingung dafür drei wesentliche Bedingungen erfüllt sein müssen: Der Erzähler muss als hinreichend in das Erlebte involviert gewesen sein, die Erzählung muss thematisch begrenzt sein und die Erzählung muss den Charakter einer StegreifAufbereitung selbsterlebter Erfahrungen haben, d.h. nicht eine vorbereitete Er-

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zählung wiedergeben (Schütze 1982: 573-574). Beim Kondensierungszwang geht es darum, eine überschaubare Darstellung zustande zu bringen, weshalb vieles weggelassen oder zusammengefasst wird (Kallmeyer/Schütze 1977: 162). Gemäß dem Detaillierungszwang muss die Darstellung jedoch soweit wie notwendig ins Detail gehen, um die intendierte Sachverhaltsstruktur erkennbar zu machen (Kallmeyer/Schütze 1977: 162). Beim Gestaltschliessungszwang wird der intendierte Sachverhalt gegenüber anderen Sachverhalten abgegrenzt und in sich geschlossen (Kallmeyer/Schütze 1977: 162). Dies bedeutet, dass der Informant aufgrund der Darstellungszwänge in einen Prozess verwickelt wird, durch den potentiell unplausible Stellen detailliert erzählt werden. Dabei werden kognitive Figuren erzeugt, die dank dem Gestaltschliessungszwang während des Erzählvorganges abgeschlossen werden. Durch den Zugzwang der Relevanzfestlegung und der Kondensierung werden aus dem möglichen aktuellen Themenpotential Stellen ausgewählt, die für den Informanten relevant sind und in der Erzählung zum Ausdruck gebracht werden. Aufgrund dieser Qualitäten der Erzählung hat Schütze Techniken entwickelt, für die Hervorlockung, Aufrechterhaltung und Wiedererzeugung narrativer Strukturen durch nicht standardisierte Interviews (Schütze 1978: 1). Daraus entstanden das narrativ- biographische Interview und die Analyse der biographischen Strukturen (Schütze 1978: 3). Die Technik des autobiographisch-narrativen Interviews hat das Ziel, Primärdaten zu erfassen, „deren Analyse auf die zeitlichen Verhältnisse und die sachliche Abfolge auf der von ihnen repräsentierten lebensgeschichtlichen Prozesse zurückschliessen lässt“ (Schütze 1983: 285). Die dadurch erzeugten Datentexte erlauben, eine Ereignisverstrickung und lebensgeschichtliche Erfahrungsaufschichtung der BiographieträgerIn möglichst lückenlos zu reproduzieren und sowohl den äusserlichen Ereignisablauf wie auch die Erfahrungen der BiographieträgerIn mit den Ereignissen und deren Verarbeitung und Deutungsmuster zu erfassen (Schütze 1983: 285). „Das Ergebnis ist ein Erzähltext, der den sozialen Prozess der Entwicklung und Wandlung einer biographischen Identität kontinuierlich, d.h. ohne examente, aus dem Methodenzugriff oder den theoretischen Voraussetzungen des Forschers motivierte Interventionen und Ausblendungen, darstellt und expliziert.“ (Schütze 1983: 286)

Wichtig ist, die Erzählaufforderung möglichst allgemein zu halten und das Thema möglichst wenig vorzugeben, damit die Erzähler_innen genügend Raum erhalten zu der Erzählung der für sie bedeutenden Ereignisse (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 142). Gemäß Schütze besteht das autobiographischnarrative Interview aus drei zentralen Teilen. Zuerst folgt eine Erzählaufforde-

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rung, welche die InformantIn dazu auffordert, die gesamte Lebensgeschichte oder eine sozialwissenschaftlich besonders interessierende Phase der Lebensgeschichte zu erzählen. Danach folgt die autobiographische Anfangserzählung, die von der interviewenden ForscherIn zuerst nicht unterbrochen wird. Nach der Erzählkoda (bspw. „so das wars“) der InformantIn erfolgt der zweite Teil des Nachfragens. Dabei wird zuerst das bereits angesprochene Erzählpotential weiter ausgeschöpft, indem für jede Stelle weitere Erzählmöglichkeiten angeregt werden. Im dritten Teil folgen danach Aufforderungen zu abstrahierenden Beschreibungen und „Warum-Fragen“, um das Beschreibungs- und Theoriepotential der Informanten zu erfassen (Schütze 1983: 285). Rosenthal hat die Technik des biographisch-narrativen Interviews von Schütze übernommen und die Nachfragetechniken weiterentwickelt (Rosenthal 2011: 152), die sich insbesondere im dritten Teil vom Vorgehen nach Schütze unterscheiden. Anstelle von „WarumFragen“ schlägt Rosenthal vor, im dritten Teil auch neue Themen zu erfragen, die bisher noch nicht erwähnt wurden (ibid.: 162)2. Aufbauend auf Fritz Schützes linguistischer Erzählanalyse unterscheidet Rosenthal (2011: 153) verschiedene Textsorten, die durch das narrative Interview erzeugt werden. Diese haben unterschiedliche Bedeutungen, weshalb deren Unterscheidung für die anschließende Analyse relevant ist (ibid.: 153). Das Ziel des autobiographisch-narrativen Interviews ist das Hervorlocken von Erzählungen. Durch die längeren Erzählungen können Erinnerungsprozesse unterstützt werden, welche im Unterschied zu Argumentationen oder Beschreibungen mit dem konkreten Handeln und damit mit dem Erleben in der Vergangenheit am nächsten stehen (Rosenthal 2011: 153). Im Gegensatz dazu stellen Argumentationen theoriehaltige Textelemente, allgemeine Vorstellungen und Überlegungen der Sprechenden dar, welche viel stärker als die Erzählungen in Zusammenhang mit der Gegenwart stehen und eine grössere Distanzierung von den Erlebnissen darstellen. Argumentationen dienen oft dazu, Erlebtes aus der eigenen Gegenwartsperspektive zu erklären (Rosenthal 2011: 153). Deshalb sind Argumentationen für die Rekonstruktion von Handlungsanalysen weniger nützlich und werden durch diese Interviewtechnik nicht gezielt gefördert (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 139). In den 21 durchgeführten Interviews wurden die interviewten Personen aufgefordert, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Bei der Kontaktaufnahme wurde möglichst vermieden, das Thema der Forschungsarbeit genauer zu benennen. Die interviewten Personen wussten lediglich, dass mein Forschungsinteresse kosovo-albanischen Personen mit Bezug zu der Schweiz galt.

                                                             2

Eine Aufstellung der verschiedenen Nachfragetypen findet sich in Rosenthal (2011: 163).

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I: einfach…es geht einfach darum dass du deine Lebensgeschichte erzählst also am liebsten von Anfang an einfach alles was dir in den Sinn kommt.. ich unterbreche dich auch nicht am Anfang und also wenn du das Gefühl hast du seist fertig dann frag ich noch ein paar Sachen die ich nicht verstanden habe oder etwas nachfragen (Blerina 2012:1-4)

Am Ende des Gespräches wurden die Personen zudem gefragt, was ihre schönste und schwierigste Zeit gewesen ist. Die Interviews wurden aufgenommen für die spätere Bearbeitung (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 140) und wurden anschließend entsprechend der hörbaren Gestalt ohne Rücksicht auf Regeln der Schriftsprache wortwörtlich transkribiert (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 151). Für die Vorbereitung der Analyse wurden nach den Gesprächen „Memos“ erstellt mit Notizen über die Kontaktaufnahme, die Gesprächssituation, besondere Auffälligkeiten oder Eindrücke sowie einer Zusammenfassung der Eckdaten. Diese „Memos“ dienen dazu, die Einflüsse durch die Gesprächssituation festzuhalten und den Einfluss der Interaktion für das Interview analysieren zu können (vgl. Rosenthal 2011: 90). Anschließend wurden sämtliche Gespräche mit den einzelnen Familienmitgliedern sowie mit der Familie transkribiert. Die Transkriptionen folgten möglichst der gesprochenen Sprache, wurden aber aufgrund der Verständlichkeit in Schriftsprache abgefasst. Dabei wurde darauf geachtet, spezifische Ausdrucksweisen wie bestimmte schweizerdeutsche Ausdrücke möglichst nahe am Original aufzuzeichnen. Wortwechsel in Albanisch wurden nach Möglichkeit vom Albanischen ins Deutsche übersetzt und als Übersetzungen gekennzeichnet. Für die Analyse ist es wichtig, nahe bei der gesprochenen Sprache zu bleiben und die grammatikalischen Regeln bei der Transkription zu ignorieren3. Deshalb wurden keine sprachlichen Korrekturen vorgenommen, um die Analyse nicht zu verfälschen. Da es sich um gesprochene Sprache handelt, erscheinen die transkribierten Aussagen unabhängig von den Sprachkenntnissen, teilweise bruchstückhaft.

4.5 ANALYSEMETHODE: BIOGRAPHISCHE FALLREKONSTRUKTIONEN Die Analyse der biographisch-narrativen Interviews erfolgte gemäß der Biographieanalyse von Rosenthal, um dadurch die Lebenserfahrungen der Migration im

                                                             3

Vgl. Transkriptionszeichen.

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gesamtbiographischen und zugleich im gesellschaftlichen Zusammenhang zu begreifen (vgl. Rosenthal 2009: 50). Alle sieben Interviews der ausgewählten Familie wurden anhand der Methode von Rosenthal (2011) einzeln analysiert und dienen als Grundlage, um die Frage nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen zu beantworten. Im folgenden Kapitel wird nun das Verfahren der biographischen Fallrekonstruktion nach Rosenthal (2011) erläutert. Einleitend werden die Prinzipien der rekonstruktiven Analyse beschrieben und anschließend die einzelnen Analyseschritte aufgezeigt. 4.5.1 Prinzipien der rekonstruktiven Analyse Das Verfahren von Rosenthal besteht aus einer Verknüpfung der von Fritz Schütze entwickelten Textanalyse mit der strukturalen Hermeneutik von Ulrich Oevermann und der thematischen Feldanalyse nach W. Fischer und A. Gurwitsch (Rosenthal 2011: 186). Gemeinsam ist den verschiedenen Verfahren das rekonstruktive Vorgehen, das ein abduktives und sequenzielles Verfahren der Hypothesenentwicklung und -überprüfung beinhaltet (Rosenthal 2011: 54). Im Folgenden werden diese Prinzipien der Rekonstruktion, Abduktion und Sequenzialität erläutert. Das Prinzip der Rekonstruktion bedeutet, dass den Interviewtranskripten nicht mit bereits bestehenden Hypothesen oder Kategorien begegnet wird (Rosenthal 2011: 55). Wie bereits beim narrativen Interview gilt bei der Analyse das Prinzip der Offenheit, da es im Gegensatz zu subsumptionslogischen Vorgehensweisen nicht darum geht, im Text bereits im Voraus entwickelte Kategorien anzuwenden und die einzelnen Teile diesen Kategorien zuzuordnen (Rosenthal 1995: 209). Da im narrativen Interview Wert darauf gelegt wird, der Person „Raum zur Gestaltentwicklung“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 142) zu geben, gilt es bei der Rekonstruktion, diese Gestalt nicht durch Kategorien zu zerstören, sondern die Regeln der Konstitution der Lebenserzählung zu rekonstruieren (Rosenthal 1995: 209). Dies geschieht mit Hilfe eines sequenziellen Vorgehens, um damit die latenten sowie auch manifesten Bedeutungen der einzelnen Sequenzen sichtbar zu machen (Rosenthal 1995: 209). Begründet wird diese Vorgehensweise mit der Annahme, dass die biographische Selbstpräsentation durch ein zugrundeliegendes Regelsystem erzeugt wird, das sich nicht aufgliedern lässt (Rosenthal 1995: 210). Zuerst werden die Prozesse der Entstehung, Aufrechterhaltung und Veränderung (Genese) rekonstruiert, um soziale oder psychische Phänomene verstehen und erklären zu können (Rosenthal 2011: 178). Dies erfordert das Kennenlernen der Perspektive der Handelnden als auch der Handlungsabläufe, um zu erfahren, welche Bedeutung den Handlungen damals

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gegeben wurde und welche Bedeutung diesen Handlungen heute zugewiesen wird und in welchen biographisch konstituierten Sinnzusammenhang Erlebnisse und Handlungen gestellt werden. Für die Rekonstruktion des Gesamtzusammenhangs des gegenwärtigen Lebens, und um die daraus resultierenden Gegenwartsund Zukunftsperspektiven zu interpretieren, ist es anschließend notwendig, die Aussagen des Biographen über bestimmte Themenbereiche und Erlebnisse in der Vergangenheit zu verstehen und zu erklären (Rosenthal 2011: 178). Dies erfolgt in der Fallrekonstruktion. Das Prinzip der Rekonstruktion wird idealerweise umgesetzt mit Verfahren, die sich an den Prinzipien eines abduktiven und sequenziellen Vorgehens orientieren (Rosenthal 2011: 57). Das abduktive Schlussfolgerungsverfahren beruht auf Charles Sanders Peirce (Rosenthal 2011: 57). Gemäß Reichertz (2013: 36) ist die Abduktion innerhalb der qualitativen Sozialwissenschaft zu einem prominenten Begriff geworden, der jedoch oft beliebig verwendet wird. Auch die Auslegung des abduktiven Vorgehens nach Peirce ist in der Literatur kontrovers, worauf auch Rosenthal hinweist (Rosenthal 2011: 58). Aus diesem Grund wird hier die Bedeutung und Verwendung der Abduktion als methodisches Vorgehen der qualitativen Sozialforschung gemäß dem Verständnis von Rosenthal weiter erläutert, da auf dieser Grundlage die Methode der rekonstruktiven Biographieforschung von ihr entwickelt wurde, die in der vorliegenden Datenanalyse zur Anwendung kommt. Gemäß Rosenthal (2011: 57) geht es bei der Abduktion im Unterschied zu einem deduktiven oder induktiven Vorgehen um die Hypothesengewinnung und Hypothesenprüfung am Einzelfall und beinhaltet ein dreistufiges Verfahren, das sich durch die Abfolge der Schritte von der Induktion und Deduktion unterscheidet (Rosenthal 2011: 58). Die Abduktion beginnt mit der Betrachtung eines empirischen Phänomens (Rosenthal 2011: 58). In einem ersten Schritt wird von einem empirischen Phänomen auf eine allgemeine Regel in Form von einer Hypothese geschlossen, die das beobachtete Phänomen erklären könnte (ibid.: 58). Die Hypothese muss dabei überprüfbar sein und die beobachteten Fakten erklären können (ibid.: 59). Dabei wirdn nach Rosenthal (2011: 59) jedoch nicht eine einzige Regel oder Hypothese entwickelt, sondern es werden alle zum Zeitpunkt der Auslegung möglichen Hypothesen formuliert, welche das Phänomen vielleicht erklären können. Wissenschaftliche Theorien oder Alltagstheorien können für die Hypothesenentwicklung beigezogen werden, um dabei möglichst unterschiedliche Konzepte für die Erklärung eines empirischen Phänomens beizuziehen (ibid.: 59). In einem zweiten Schritt werden aus den formulierten Hypothesen Folgephänomene deduziert (ibid.: 59). Diese Schlussfolgerungen bezeichnet Rosenthal (2011: 59) als Folgehypothesen. Darauf folgt in einem dritten Schritt

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der empirische Test am Einzelfall im Sinne des induktiven Schliessens (ibid.: 59). Dabei werden die Folgehypothesen bei einem sequenziellen Vorgehen mit der folgenden Textsequenz kontrastiert und können so entweder verifiziert, modifiziert oder verworfen werden. Als plausible Erklärungen gelten dann die Lesearten, die nicht falsifiziert werden können (ibid.: 59). Rosenthal (2011: 70) verbindet die abduktive Vorgehensweise mit einem sequenziellen Vorgehen. Reichertz (1999: 59) weist darauf hin, dass die sequenzielle Vorgehensweise sich besonders für die Datenauswertung nicht standardisierter Daten eignet, weil es damit möglich ist, gültige Vorurteile, Meinungen und Ansichten zu hinterfragen und neu gewonnene Hypothesen zum Gegenstandsbereich durch ein abduktives Vorgehen zu gewinnen. Das Prinzip der Sequenzialität bedeutet, die Analyse in Abfolge des Geschehens zu interpretieren (Rosenthal 2011: 70) und trägt so dem prozessualen Charakter des sozialen Handelns Rechnung (ibid.: 71). In kleinen Analyseschritten wird die Gestaltung der Interaktion rekonstruiert und einzelne Sprecheinheiten nacheinander gemäß einem abduktiven Vorgehen interpretiert (ibid.: 70). Diesem Vorgehen liegt die Annahme zu Grunde, dass die temporale Abfolge von Interaktionen eine eigene Art von Ordnung konstituiert (ibid.: 71). Im Analyseverfahren wird gemäß Rosenthal (1995: 215) bei jeder Sequenz gefragt, welcher Möglichkeitshorizont offen steht, welche Auswahl der Handelnde trifft, welche Optionen ausgelassen werden und was sich daraus für die Zukunft folgern lässt. Von den möglichen Lesarten der Bedeutung einer Sequenz im Lebenslauf oder im Interviewtext werden Folgehypothesen gebildet über den möglichen Fortgang (ibid.: 2015). Diese werden anschließend kontrastiert mit dem faktischen Fortgang der Sequenz (ibid.: 2015). Damit wird es möglich, die Vielzahl aller Möglichkeiten zu erfassen, die der BiographIn offen stehen, sowohl betreffend der Erzählung wie auch der biographischen Handlungssituation (ibid.: 2015). Die Nichtwahl dieser anderen Möglichkeiten dient als Kontrastfolie, um die besondere Fallstruktur der zu interpretierenden Lebensgeschichte aufzeigen zu können (ibid.: 2015). Durch das sequentielle Vorgehen wird mit der Zeit sichtbar, welche Handlungs- und Interpretationsmöglichkeiten die BiographIn jeweils ausschließt und durch welche Regeln diese Auswahl bestimmt ist (ibid.: 2015). Das Besondere der Methode nach Rosenthal ist die Unterteilung in erzählte und erlebte Lebensgeschichte (Rosenthal 2011: 186). Damit trägt sie der Differenz zwischen Erfahrung und Erzählung Rechnung, welche sich durch eine „empirisch rekonstruierte prinzipielle Differenz der temporalen Struktur“ unterscheidet (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148).

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„Erzählte Lebengschichten verweisen damit immer sowohl auf das heutige Leben mit der Vergangenheit wie auch auf das damalige Erleben dieser vergangenen Ereignisse.“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148)

Die lebensgeschichtliche Erzählung ist gemäß Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997: 148) stark mit dem Moment ihrer Entstehung verbunden, da die gegenwärtige Lebenssituation darüber bestimmt, wie der Rückblick in die Vergangenheit gestaltet wird. Gleichzeitig wirkt durch die Erinnerung auch die Vergangenheit auf die Gegenwart ein (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148). Dies bedeutet, dass zuerst die gegenwärtige Erzählsituation und die heutige Perspektive der Biograph_innen und die damit verbundenen Mechanismen, die die Auswahl der erzählten Geschichten steuern, rekonstruiert werden müssen (ibid.: 149). Aus diesen Überlegungen schlagen Fischer-Rosenthal/Rosenthal (1997: 149) vor, bei den biographischen Fallrekonstruktionen zwischen zwei Ebenen, der erlebten und erzählten Lebensgeschichte zu unterscheiden und in getrennten Analyseschritten zu rekonstruieren und anschließend zu kontrastieren. „Um die sequentielle Gestalt einer lebensgeschichtlichen Erzählung und ihr Wechselverhältnis mit der erlebten Lebensgeschichte erfassen zu können, um die einzelnen Sequenzen sowohl in ihrer latenten wie auch in ihrer manifesten Bedeutung im Kontext der erzählten, aber auch der erlebten Lebensgeschichte verstehen zu können, wird sowohl die sequentielle Gestalt der erzählten wie erlebten Lebensgeschichte rekonstruiert.“ (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 149; Hervorh. im Original)

Bei der Analyse der erzählten Lebensgeschichte wird die biographische Selbstpräsentation rekonstruiert. Es wird herausgearbeitet, „in welchen Sequenzen sich die biographische Selbstpräsentation gestaltet und welche Bedeutung die erzählten Erlebnisse heute“ für die BiographIn haben (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 150). Dabei wird die biographische Bedeutung der Erlebnisse in der Gegenwart und die biographische Gesamtsicht und Gesamtevaluation, die den Gestaltungsprozess des Interviews konstituieren, analysiert (ibid.: 150). Diese Gestalt der erzählten Lebensgeschichte wird anhand der Sequenzen rekonstruiert, welche sich in der biographischen Selbstpräsentation zeigt (ibid.:150). Die Analyse der erlebten Lebensgeschichte dient der Rekonstruktion der chronologisch erlebten biographischen Ereignisse mit dem Ziel, die Bedeutung dieser Ereignisse für die damalige Zeit zu rekonstruieren (Fischer-Rosen thal/Rosenthal 1997: 149). Daraus lassen sich die biographischen OrientierungsStrukturen herausarbeiten, die sich im Verlauf der Sozialisation herausgebildet haben und die im lebensgeschichtlichen Verlauf reproduziert oder transformiert

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werden (ibid.: 149). Durch eine sequentielle und abduktive Vorgehensweise wird „die Gestalt der erlebten Lebensgeschichte und die funktionale Bedeutsamkeit ihrer Teile hypothetisch rekonstruiert“ (ibid.: 150). Die sequenzielle und abduktive Vorgehensweise wird sowohl für die Rekonstruktion der erzählten als auch der erlebten Lebensgeschichte angewendet um damit dem prozessualen Charakter bei der Analyse der erlebten und der erzählten Geschichte Rechnung zu tragen (Rosenthal 1995: 213). Bei der Analyse der Abfolge der biographischen Daten geht es darum, potentielle Handlungsmöglichkeiten zu erfassen und aus diesen Möglichkeiten heraus die Bedeutung der getroffenen Entscheidungen zu rekonstruieren (ibid.: 213. Dasselbe gilt für die erzählte Lebensgeschichte (ibid.: 214). Zu Beginn eines Interviews stehen viele Möglichkeiten offen, was wie erzählt wird. Im Verlauf des Interviews und nach jeder Sequenz verengen sich die Möglichkeiten zunehmend. Jede Darstellungsform eröffnet einen gewissen Handlungsspielraum und schließt zugleich andere thematische Felder oder Folgehandlungen aus. Sowohl die erzählte wie die erlebte Lebensgeschichte besteht demzufolge aus Handlungsabläufen, das heisst Prozessen von Selektionen, aus denen bestimmte Anschlusshandlungen resultieren und zu bestimmten Folgehandlungen führen (Rosenthal 1995: 214). Diese beiden Analysen werden zuerst in getrennten Analyseschritten rekonstruiert (Rosenthal 2011: 186). Erst bei der Fallrekonstruktion wird die erzählte und erlebte Lebensgeschichte kontrastiert, um aufzeigen zu können, welche biographische Bedeutung eine Erfahrung zu der damaligen Zeit hatte und welche Funktion die Darstellung des Erlebens für die interviewte Person im gegenwärtigen sozialen Kontext hat (ibid.: 207). Aufbauend auf den Prinzipien der rekonstruktiven Analyse sowie der Unterscheidung in erzählte und erlebte Lebensgeschichte entwickelte Rosenthal (2011) ein spezifisches Vorgehen, die biographische Fallrekonstruktion, das nun im folgenden Kapitel genauer erläutert wird. 4.5.2 Analyseschritte Die biographische Fallrekonstruktion nach Rosenthal (2011: 487) umfasst folgende sechs Analyseschritte, welche auf einer sequenziellen und abduktiven Vorgehensweise aufbauen und die Unterscheidung in erlebte und erzählte Lebensgeschichte beinhalten. Diese Analyseschritte dienten der Auswertung der vorliegenden biographisch-narrativen Interviews der ausgewählten Familie und werden im Folgenden genauer erläutert.

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Analyse der biographischen Daten (Ereignisdaten) Gemäß Rosenthal (2011: 188) werden zuerst die Daten, welche kaum an die Interpretation der Biographin oder des Biographen gebunden sind wie bspw. Geburt, Anzahl Geschwister, Ausbildungsdaten, Wohnortswechsel in die zeitliche Abfolge der Ereignisse im Lebenslauf zusammengestellt und analysiert. Diese Daten werden sowohl aus dem transkribierten Interview sowie auch allen anderen zur Verfügung stehenden Quellen, wie den Interviews mit den anderen Familienmitgliedern, entnommen. Zudem werden auch historische und gesellschaftspolitische Daten, welche für den Fall relevant sein könnten, in die Liste der Daten aufgenommen wie bspw. die Ereignisse im ehemaligen Jugoslawien (vgl. Kapitel I: Verflochtene Geschichte: der gesellschaftliche Kontext). Gemäß Rosenthal (2011: 188) wird jedes einzelne Datum zuerst unabhängig vom Wissen über die Selbstdeutung und Erzählungen des Interviewten und unter Ausblendung des Wissens über den weiteren biographischen Verlauf analysiert. Informationen über den für die BiographIn relevanten Kontext werden dabei miteinbezogen und gegebenenfalls zusätzlich recherchiert. Handlungsprobleme, sowie die zur Verfügung gestandenen Alternativen werden gedankenexperimentell entworfen und danach gefragt, welche Handlungsmöglichkeiten die BiographIn in einer bestimmten Situation hatte (ibid.: 188). Mit diesen Fragen wird jedes Datum analysiert und Hypothesen über weitere Handlungsoptionen entworfen. Bei der Hypothesenbildung wird gegenstandsbezogenes theoretisches und empirisch fundiertes Wissen über die Auswirkungen bestimmter Lebensereignisse während eines bestimmten Lebensalters miteinbezogen (ibid.: 188). Die zu Beginn der Analyse grösstmögliche Anzahl an Hypothesen wird im Verlauf der Analyse bis hin zum Abschluss immer mehr reduziert, bis nur noch wenige mögliche Hypothesen zur Verlaufsstruktur der BiographIn übrig bleiben. Diese vorläufigen Ergebnisse dienen als Vorbereitung der weiteren Analyseschritte (Rosenthal 2011: 188). Text- und Thematische Feldanalyse (erzähltes Leben) Das Ergebnis dieses Analyseschrittes wird auch als Präsentationsinteresse (vgl. Köttig 2005: 70) bezeichnet, da das Ziel dieses Analyseschrittes darin besteht, die Regeln für die Genese der Gegenwart und der damit verbundenen Selbstpräsentation herauszufinden (Rosenthal 2011: 196). Bei diesem zweiten Auswertungsschritt verbindet Rosenthal (1995: 218) das methodische Vorgehen der Erzähl- und Textanalyse von Fritz Schütze (1983) mit Anregungen von Wolfram Fischer (1982) zur thematischen Feldanalyse (basierend auf den theoretischen Arbeiten von Aron Gurwitsch). Es geht Rosenthal (1995: 218) dabei darum, die strukturalistische Variante der phänomenologischen Wissenssoziologie von

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Gurwitsch und dessen gestalttheoretisch-phänomenologische Konzeption methodisch umzusetzen. Im Gegensatz zum Vorgehen von Schütze steht dabei gemäß Rosenthal (ibid.: 218) nicht die Rekonstruktion des subjektiv gemeinten Sinnes, sondern die Rekonstruktion der dargebotenen Gesamtgestalt der Biographie aus der interaktiv konstituierten Bedeutung der Erfahrungen und Handlungen der Subjekte im Vordergrund. Die Rekonstruktion der sequentiellen Gestalt der biographischen Selbstpräsentation dient dem Ziel, die latent wirkenden Steuerungsmechanismen mit der bewusst zugänglichen biographischen Gesamtpräsentation zu kontrastieren, um herauszufinden, welche Mechanismen zu der thematischen und temporalen Auswahl und Verknüpfung der Erzählungen führen (ibid.: 218). Dazu wurde in einem ersten Schritt der Interviewtext gemäß der zeitlichen Abfolge in einer stichwortartigen Übersicht in Analyseeinheiten (Sequenzen) gegliedert. Redewechsel, Textsorte (Argumentation, Beschreibung oder Erzählungen und deren Unterkategorien) sowie thematische Modifikationen werden dabei als Kriterien angewendet und die Textsorten der einzelnen Sequenzen vermerkt (ibid.: 218). Das analytische Vorgehen entspricht der sequentiellen Analyse der biographischen Daten (ibid.:219). Entsprechend dem Aufbau des Textes wird jede Sequenz analysiert ohne Kenntnis über den folgenden Text. Die Interpretation fokussiert dabei auf die Art und Funktion der Darstellungsweise, die biographische Bedeutung des erwähnten Ereignisses hat bei diesem Analyseschritt keine Relevanz (ibid.: 219). Gefragt wird danach, welche Funktion der jeweilige Präsentationsanfang für die Person heute hat, weshalb diese Erfahrung in der jeweiligen Textsorte dargestellt wird und weshalb welches Thema in welcher Ausführlichkeit präsentiert wird. Bei jeder Sequenz wird versucht, thematische Felder aufzufinden und Hypothesen zu entwerfen für die darauffolgenden Sequenzen. Rosenthal (2011: 200) schlägt folgende Leitfragen für diesen Analyseschritt vor: „Weshalb wird dieser Inhalt an dieser Stelle eingeführt? Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Textsorte präsentiert? Weshalb wird dieser Inhalt in dieser Ausführlichkeit oder Kürze dargestellt? Was könnte das Thema dieses Inhaltes sein bzw. was sind die möglichen thematischen Felder, in die sich dieses Thema einfügt? Welche Lebensbereiche und welche Lebensphasen werden angesprochen und welche nicht? Über welche Lebensbereiche oder Lebensphasen erfahren wir erst im Nachfrageteil und weshalb wurden diese nicht während der Haupterzählung eingeführt?“ (Rosenthal 2011: 200)

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Im Verlaufe der Analyse zeigt sich, welche Felder von der BiographIn ausgestaltet werden, welche nicht thematisiert werden und wie diese Erlebnisse systematisch nur in spezifische Felder eingebettet werden und mögliche andere Erlebnisse vermeidet (Rosenthal 1995: 219). Rekonstruktion der Fallgeschichte (erlebtes Leben) Hier geht es darum, die biographische Bedeutung der einzelnen erzählten Erlebnisse in der Vergangenheit entlang der sequenziellen Struktur der erlebten Lebensgeschichte zu rekonstruieren (Rosenthal 2011: 202). Die Analyse der biographischen Daten wird an dieser Stelle wieder aufgenommen und mit den Selbstaussagen der BiographIn zu Ereignissen in der Vergangenheit kontrastiert. Dabei werden auch weitere Texte biographischer Erlebnisse miteinbezogen, welche in der Analyse der biographischen Daten noch nicht berücksichtigt wurden (Rosenthal 2011: 202). In der Logik der sequenziellen Analyse wird der Chronologie der erlebten Lebensgeschichte folgend, jedes biographische Erlebnis betrachtet, inklusive der jeweiligen Interviewpassagen, in denen die BiographIn darüber spricht (ibid.: 202). Ziel ist es dabei, anhand ausgewählter Interviewpassagen Hypothesen zu den einzelnen Daten zu prüfen, sowie auch Erlebnisse ausfindig zu machen, die bisher in der Analyse noch nicht berücksichtigt wurden (ibid. 202). Feinanalyse einzelner Textstellen An dieser Stelle werden die bisher vorliegenden Hypothesen anhand von Feinanalysen überprüft. Dazu werden weitere Sequenzen des Materials feinanalytisch ausgewertet, um die bisherigen Hypothesen zu überprüfen oder um mögliche neue Interpretationen zu entdecken (Rosenthal 2011: 138). Dafür werden einzelne Textstellen nach dem Vorgehen der objektiven Hermeneutik einer detaillierteren sequenziellen Analyse unterzogen mit dem Ziel, die latenten Sinnstrukturen des Textes zu rekonstruieren (ibid.: 206). Auch wenn dieser Analyseschritt für das Überprüfen bereits formulierter Hypothesen verwendet werden kann, werden die bereits formulierten Hypothesen bei der Interpretation in einem ersten Schritt wieder zurückgestellt, um dann gemäß dem abduktiven und sequenziellen Verfahren alle möglichen Hypothesen zu entwerfen und Folgehypothesen abzuleiten (ibid.: 206). Kontrastierung der erzählten und erlebten Lebensgeschichte Bei diesem letzten Analyseschritt geht es darum, mögliche Erklärungen und Differenzen zwischen der Perspektive der Vergangenheit (erlebtes Leben) und der Gegenwart (erzähltes Leben) zu finden (Rosenthal 2011: 207). Diese Kontrastie-

Transnationale Perspektive als methodischer und methodologischer Zugang | 87

rung hilft gemäß Rosenthal (ibid.: 207), die Regeln der Differenz von Erzähltem und Erlebtem herauszufinden und die Frage zu beantworten, welche biographischen Erfahrungen zu der jeweiligen Präsentation in der Gegenwart geführt haben. Die Kontrastierung ermöglicht, die Differenz in der Temporalität zwischen erlebter und erzählter Lebensgeschichte zu berücksichtigen und dadurch Informationen über Mechanismen der Auswahl von Erlebnissen aus dem Gedächtnis und über deren jeweilige Darbietung zu erhalten (Rosenthal 1995: 225). An dieser Stelle der Analyse wird deshalb danach gefragt, welche biographischen Erfahrungen zu der Präsentation führen resp. welche Funktion die Präsentation für die BiographIn hat (ibid.: 225). Komparative Analyse anstelle einer Typenbildung Gemäß Rosenthal (2011: 207) geht es nach den abgeschlossenen Fallrekonstruktionen in diesem letzten Schritt der Analyse darum, Antworten auf die Forschungsfrage zu finden (Rosenthal 2011: 207). Erst jetzt nach der vollständigen Rekonstruktion der Fallstruktur wird die Forschungsfrage, die bei den bisherigen Analyseschritten vorläufig in den Hintergrund gestellt wurde, relevant (ibid.: 187). Rosenthal (2011: 74) nennt diesen letzten Schritt der Beantwortung der Forschungsfrage Typenbildung, basierend auf den methodologischen Arbeiten von Kurt Lewin und dessen Verständnis der Rekonstruktion von Gesetzlichkeiten am einzelnen Fall. In diesem Sinne wird die Verallgemeinerung im theoretischen Sinne vorgenommen und basiert auf dem kontrastiven Vergleich der Fälle, unabhängig von einer numerischen Verteilung (ebd.: 74). Die Typik eines Falles wird nicht durch die Häufigkeit des Auftretens bestimmt, sondern durch die Regeln, die den Typus erzeugen (Rosenthal 1995: 210). In der vorliegenden biographieanalytischen Studie wird in diesem letzten Schritt für die Beantwortung der Forschungsfrage vom methodischen Vorgehen von Rosenthal abgewichen, da die Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen nicht durch die Typik der Einzelfälle, sondern durch den Vergleich der verschiedenen Fallrekonstruktionen beantwortet wird. Aus diesem Grund orientiert sich die vorliegende Studie in diesem letzten Auswertungsschritt an der theorieorientierten Fallrekonstruktion von Miethe (2014), welche anstelle einer Typenbildung die Möglichkeit einer komparativen Analyse vorsieht. Ihre Analysemethode orientiert sich grundsätzlich an dem fallrekonstruktiven Verfahren nach Rosenthal (2011). Im Gegensatz zu Rosenthal ist dieses Vorgehen (nebst anderen Variationen vgl. Miethe 2014) jedoch weniger darauf ausgerichtet, eine einzige strukturbildende Hypothese zu finden, sondern gezielt mehrere Hypothesen für die Beantwortung der Fragestellung zu bilden (Miethe 2014: 173). Diese Strukturhypothesen bilden die Grundlage für den letzten Schritt der

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komparativen Analyse, welche sie als Modifikation zum Verfahren nach Rosenthal an Stelle einer Typenbildung vorschlägt (ibid.: 174). Dabei ist es das Ziel, „fallübergreifend wesentliche Strukturmerkmale zu rekonstruieren“ (Miethe 2014: 174). Die Frage, ob Ergebnisse von Fallrekonstruktionen in Form von Typen oder fallübergreifenden Strukturen dargestellt werden, hängt vom Material und auch dem theoretischen Fokus ab (Miethe 2014: 176). Für die Beantwortung der Frage nach intergenerationalen Transmissionsprozessen werden deshalb die Strukturhypothesen, welche auf den Fallrekonstruktionen der sieben Familienmitglieder beruhen, in Form einer komparativen Analyse miteinander in Bezug gesetzt. In Anlehnung an die theorieorientierte Fallrekonstruktion von Miethe (2014) wird dabei die Theorie der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse herangezogen, um die Frage nach der Bedeutung von multiplen sozialen Ungleichheiten für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen zu beantworten. Um die individuellen Handlungsmuster der Familienmitglieder im relevanten gesellschaftlichen und historischen Kontext zu rekonstruieren, wird nun im folgenden Kapitel der für die ausgewählte Familie relevante gesellschaftliche Kontext beschrieben. Dabei wird ersichtlich, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen im damaligen Jugoslawien, Kosovo und der Schweiz durch die vielfältigen Migrationsbezüge als Geschichte der Verflechtungen (Randeria/Römhild 2013: 9) bezeichnet werden können. Diese Migrationsbewegungen werden im jeweiligen gesellschaftlichen Kontext beschrieben und sowohl aus jugoslawischer und schweizerischer Perspektive erläutert, um dadurch den „‘national‘ konzipierten Raum als Produkt der transnationalen Verflechtungen wahrzunehmen“ (Randeria/Römhild 2013: 10).

 

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Verflechtungsgeschichte: Der gesellschaftliche Kontext

Gemäß einer transnationalen Forschungsperspektive werden für die Rekonstruktion der Fallgeschichte alle Orte einbezogen und die historischen Entwicklungen berücksichtigt, welche für die Biograph_innen relevant sind (Rosenthal 2011: 188). Um dem grenzüberschreitenden Migrationsprozess der Familie Rechnung zu tragen, wird der gesellschaftliche Kontext als Verflechtungsgeschichte (Randeria/Römhild 2013) präsentiert und in den Migrationsbewegungen zwischen Jugoslawien, der Schweiz und dem Kosovo verortet. Die Beschreibung des gesellschaftlichen Kontextes beginnt deshalb mit der Situation des Herkunftskontextes der Familie, welche aus einem albanischen Dorf1 im heutigen Südserbien stammt und zeigt die Migrationsbewegungen innerhalb der politischen und sozioökonomischen Entwicklungen im damaligen Jugoslawien seit Beginn des 20. Jahrhunderts auf. Anschließend wird die Perspektive gewechselt und die Migrationsprozesse zwischen dem damaligen Jugoslawien und der Schweiz im Kontext der schweizerischen Migrationspolitik erläutert. Damit wird versucht, den gesellschaftlichen Kontext als Verflechtungsgeschichte, welche die nationalstaatlichen Grenzen überspannen (vgl. Randeria/Römhild 2013), aufzuzeigen. Diese Konzeption von Randeria/Römhild (2013: 40) bietet die Grundlage für die Analyse von Ungleichheit, Macht und Gewalt im transnationalen Kontext, welche in der vorliegenden Forschung durch die Kombination des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungen und der Biographieforschung erfolgt. Damit wird der Aus-

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Um die Anonymisierung der interviewten Personen zu gewährleisten, wurden Merkmale wie Ortsnamen teilweise gelöscht, verändert oder ersetzt mit Merkmalen mit vergleichbarer Bedeutung wie bspw. der Umschreibung von Ortsnamen (vgl. Meyermann/Porzelt 2014: 8).

 

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gangspunkt gelegt für die Analyse der individuellen Lebensverläufe der Mitglieder der ausgewählten Familie im Kontext dieser transnationalen gesellschaftlichen Entwicklungen, welche im anschließenden empirischen Teil aufgezeigt wird.

5.1 MIGRATIONSGESCHICHTE IM GESELLSCHAFTLICHEN KONTEXT VON JUGOSLAWIEN Migrationsprozesse in Südosteuropa haben eine lange Geschichte und sind verwoben mit komplexen politischen und ökonomischen Entwicklungen. Es gab Vertreibungen, Zwangsansiedlungen oder Umsiedlungen, Flucht vor Repressionen, Gewalt und Krieg sowie Arbeitsmigration (Brunnbauer 2009a: 8). Ursachen, Gründe und Motive dieser Migrationsbewegungen sind dabei oft miteinander verstrickt, so dass eine analytische Trennung der verschiedenen Migrationsformen fragwürdig ist (vgl. Brunnbauer 2009b: 18). Trotzdem wird hier eine Fokussierung auf Arbeitsmigration vorgenommen, da diese Migrationsform für die individuellen Lebensgeschichten der ausgewählten Familie relevant ist. Ziel des folgenden Kapitels ist es, eine Grundlage zu schaffen, um im empirischen Teil die individuellen Lebensgeschichten durch eine rekonstruktive Analyse mit den migrationspolitischen Kontexten und Diskursen in Zusammenhang stellen zu können. Zu den gesellschaftlichen Entwicklungen der Herkunftsregion der Familie2 gehören auch häufige Verschiebungen von politischen und administrativen Grenzen. Die Herkunftsregion wurde im Verlaufe der Geschichte von ganz unterschiedlichen Regierungen besetzt und von unterschiedlichen administrativen und politischen Grenzen durchzogen. Nationale Grenzen und Zugehörigkeiten korrelieren insbesondere für die albanische Bevölkerung nicht miteinander und führen zu anhaltenden politischen Spannungen. Die albanische Bevölkerung stellt heute – ebenso wie in Albanien – im Kosovo die Mehrheit dar, eine Min-

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Es beststeht die Schwierigkeit, dass nur wenige Informationen zu der spezifischen Situation der albanischen Bevölkerung dieser Region vorhanden sind. Die Daten zu der albanischen Bevölkerung in Jugoslawien beziehen sich mehrheitlich auf die Situation in der Region des heutigen Kosovo und bei Informationen zu den Entwicklungen in Serbien fehlen oft Angaben zu der albanischen Minderheit. Es ist jedoch anzunehmen, dass sich die Lebensbedingungen der albanischen Bevölkerung auf dem Lande in Südserbien sowie der Provinz Kosovo ähnlich waren.

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derheit in Montenegro (Ulcinj), in Mazedonien (Tetovo, Gstivar, Debar, Struga, Kieco) sowie Serbien (Preshevo, Bujanovac) (vgl. Roux 1992: 77). Die heutigen Grenzen von Kosovo3 sowie der anderen, heute unabhängigen Nachbarstaaten wie Montenegro, Mazedonien und Serbien stammen mehrheitlich aus der Zeit des sozialistischen Jugoslawiens. Die Politisierung der ethnischen (und in der Region von Bosnien-Herzegowina auch religiösen) Unterschiede prägte die gesellschaftlichen Entwicklungen in der Region von Jugoslawien seit dem 19. Jahrhundert bis heute. Die Auswirkungen der gesellschaftlichen Entwicklungen auf die jeweilige Bevölkerung unterscheiden sich aufgrund der immer wieder ethnisch gefärbten Politik. Je nach Epoche und Regierung spielten Zugehörigkeiten eine andere Rolle und waren verbunden mit Einschluss und Förderung oder gewaltsamen Ausschluss, Verfolgungen und Vertreibungen. Es wird angestrebt, eine Essentialisierung von ethnischen Unterscheidungen durch die Einbettung der Situation der albanischen Bevölkerung in die gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Jugoslawien zu vermeiden. Die teilweise unterschiedliche Situation der ethnischen (und oder religiösen) Gruppen in Jugoslawien wird als Ergebnis und Zusammenspiel von politisch motivierten gesellschaftlichen Prozessen im Ringen um Macht und Herrschaft in dieser Region verstanden, die insbesondere im Kosovo zu einem immer noch anhaltenden albanisch-serbischen Identitätskonflikt führen (vgl. Riedel 2005: 69 ff). Im Sinne eines konstruktionstheoretischen Ansatzes werden ethnische Identitäten dabei als Ergebnisse gesellschaftlicher Prozesse betrachtet, welche massgeblich gesteuert werden durch gesellschaftliche Prozesse in Verantwortung der Politik (vgl. Riedel 2005: 20-21). Im folgenden Kapitel wird nun aufgezeigt, in welchem migrationspolitischen und sozio-ökonomischem Kontext die Migrationsprozesse der ausgewählten Familie stehen und wie die jeweilige Migrationspolitik sowohl von Jugoslawien (wie auch der Schweiz) soziokulturelle Grenzziehungsprozesse förderte, transformierte, initiierte oder reproduzierte. Der Beschrieb beginnt mit einer kurzen

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Kosovo mit seinen heutigen Grenzen besteht erst seit der Gründung von Jugoslawien im Jahr 1945 (Schmitt 2008: 35). Die Provinz Kosovo erlangte Ende der 1960er Jahre eine Teilautonomie, welche 1989 wieder aufgehoben wurde (ibid.: 121). Nach dem Kosovokrieg stand dieses Gebiet von 1999 – 2008 unter internationaler Verwaltung durch die Vereinten Nationen und galt offiziell immer noch als Teil von Jugoslawien (vgl. Schmitt 2008: 20). Erst mit der Unabhängigkeitserklärung im Jahr 2008 und deren Anerkennung durch einige Staaten kann von Kosovo als Staat gesprochen werden. Trotz der diplomatischen Anerkennung von derzeit 108 Staaten (Stand 2014) ist Kosovo bis heute international nicht als unabhängiger Staat anerkannt, insbesondere wegen der Weigerung von Serbien (Bartl 2016: 526).

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Darstellung der Vorläufer der Arbeitsmigration um die Jahrhundertwende (1900) und fokussiert dann auf die Zeit des ersten und zweiten Jugoslawiens, da der transnationale Migrationsprozess der ausgewählten Familie in dieser Zeit beginnt. Nebst den Migrationsprozessen werden auch das jeweilige Bildungssystem und die sozio-ökonomische Situation beschrieben, da diese für die anschließenden Fallrekonstruktionen ebenfalls bedeutend sind. 5.1.1 Vorläufer der Arbeitsmigration um 1900 Um die Jahrhundertwende lebten etwa zwölf Millionen Menschen in den Regionen des späteren Jugoslawiens. Die Mehrheit bestand aus katholischen, orthodoxen und muslimischen Slawen sowie verschiedenster anderer Volks- und Religionsgruppen wie Türken, Albaner, Deutsche, Magyaren, Juden, Roma, Walachen etc. (Calic 2014: 21). Als Resultat komplexer Wanderungsbewegungen bestand ein Mosaik aus unterschiedlicher religiöser und kultureller Hybridisierung. Das Dorf, die Heimatregion, Sprache, Religion und Volkskultur waren insbesondere für die Lebenswelt der bäuerlichen Bevölkerung zentrale Orientierungspunkte (Calic 2014: 21). Am Ende des 19. Jahrhunderts fanden in den damaligen südslawischen Ländern tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Veränderungen statt. Die beginnende Industrialisierung in Westeuropa führte durch die Suche nach neuen Absatzmärkten zu Investitionen in Eisenbahnbau, überregionale Märkte und zu einer Verbreitung der Geldökonomie (Calic 2014: 38). Diese blieb in dieser Zeit auf die Städte beschränkt und führte zu einem großen Gegensatz zwischen den modernen, westlich geprägten und urbanisierten Städten und den Dörfern auf dem Land, wo nach wie vor die traditionelle Sozialstruktur der Großfamilie (zadruga4) vorherrschte (Calic 2014: 38). Diese Großfamilien waren nach einer

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Großfamilien, auch komplexe Familienformen genannt, zeichnen sich durch zwei oder mehrere Kernfamilieneinheiten aus, die gemeinsam einen Haushalt bilden (Kaser 2016: 361). In der albanischen Sprache wird die Großfamilie als „shtëpia e madhe“ (übersetzt „das große Haus“) bezeichnet (ibid.: 361). Diese Art der Familienformierung weist in Südosteuropa charakteristische Besonderheiten auf wie das ungeteilte Gemeinschaftseigentum, die gemeinschaftliche Wirtschaftsweise, die volle Rechtsgemeinschaft der Hausgenossen (ibid.: 361) sowie auch Patriliniarität und patrilokale Ehe (ibid.: 362). Dies bedeutet, dass Frauen für die Konstitution von Verwandtschaft eine geringe Rolle spielten und nicht erbberechtigt waren (ibid.: 362). Die patriarchale Großfamilie war in dieser Zeit auf dem Lande eine verbreitete Familienform, unabhängig der ethnischen oder sprachlichen Zugehörigkeit.

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bestimmten patrilinearen und patrilokalen Gesellschaftsordnung organisiert, verbunden mit strengen Verhaltensregeln (Calic 2014: 28, vgl. auch Kaser 2016: 362). Die Söhne und Enkel blieben mit ihren Familien im elterlichen Haushalt, während die Töchter in andere Haushalte einheirateten (Calic 2014: 28). Die Familien lebten und wirtschafteten im Kollektiv, was zu einer Einschränkung persönlicher Freiheiten führte. Das gemeinsame Eigentum wurde vom Hausvater, der zentralen Autorität im Haus, verwaltet (ibid.: 28). Dieser vertrat die Familie auch nach aussen und regelte familiale und wirtschaftliche Angelegenheiten (ibid.: 28). Gemäß Calic (ibid.: 28) hatten die Frauen dabei eine untergeordnete Stellung. In der Region des heutigen Montenegro und Kosovo herrschte zudem ein strenger archaischer Ehrenkodex, welcher die Blutrache einschloss (ibid.: 28). Im Westen und später auch im Osten und Süden begannen diese Großfamilien im Kontext der beginnenden Industrialisierung, welche neue Erwerbsmöglichkeiten bot, langsam zu zerfallen (ibid.: 28). Zugleich lebten um 1980 in Kroatien und Serbien nach wie vor noch ein Fünftel der Bevölkerung in Großfamilien (ibid.: 28). Goeke (2009: 289) begründet den Fortbestand von Großfamilien mit ökonomischen Gründen, welche Familien daran hinderten, sich aufzuteilen, da diese Familienform auf dem Land eine gewisse wirtschaftliche Absicherung bedeutete (ibid.: 291). Auch Calic bringt die Aufteilung der Großfamilien und die damit verbundene Zersplitterung des Grundbesitzes auf dem Land in Zusammenhang mit einem Risiko von Verschuldung und Armut, insbesondere für Bauern, welche weniger als zwei Hektaren bewirtschafteten (Calic 2014: 30). In Serbien konnten 1910/1912 zwei Drittel der Bauern das Existenzminimum nicht mehr decken, viele ländliche Haushalte lebten von Subsistenzproduktion (Calic 2014: 30). Die Arbeitsmigration stellte eine Möglichkeit dar, um diese Armut zu verlassen. Traditionelle Formen periodischer Wanderarbeit wurden wieder aufgenommen und führten dazu, dass kurz vor dem Ersten Weltkrieg jährlich 150 000 Männer (und teilweise auch Frauen) aus der Region von Bosnien, Montenegro, Serbien, Kosovo und Mazedonien als Wanderhandwerker_innen, Lohnarbeiter_innen oder Kleinstunternehmer_innen in den Nachbarregionen Arbeit suchten (Calic 2014: 31). Zwischen 1899 und 1914 brachen viele Menschen nach Amerika auf, obwohl die Emigration aus dem Osmanischen Reich, zu dem bis 1912 die heutigen Regionen von Mazedonien und Kosovo gehörten, offiziell verboten war (Brunnbauer 2009b: 40). Jedoch wurde dieses Verbot nicht durchgesetzt, da die Regierungsbeamten entweder indifferent in Bezug auf die Auswanderung waren oder Bestechungsgelder für die Ausstellung von Identitätsdokumenten möglicher Emigrant_innen kassierten (Brunnbauer 2009b: 40).

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Vor dem Ersten Weltkrieg spitzten sich die miteinander konkurrenzierenden national-ethnischen Fragen zu (Calic 2014: 66). Nationale und internationale Spannungen führten unter anderem zu den drei Balkankriegen5. Im ersten Balkankrieg von 1912 besetzten Bulgaren und Serben einen Großteil des osmanischen Reiches (Von Aarburg/Gretler 2011: 136). Der Streit um die Aufteilung der jeweiligen Gebiete führte ein Jahr später zum zweiten Balkankrieg zwischen den zuvor verbündeten Parteien (Von Aarburg/Gretler 2011: 136). Diese Kriege gingen mit furchtbarer Brutalität an der Zivilbevölkerung einher (Von Aarburg/Gretler 2011: 136). An der anschließenden Konferenz in London von 1913 wurden die Gebiete neu aufgeteilt. Ein Großteil des Gebietes des heutigen Kosovo wurde Serbien zugesprochen, den westlichen Teil erhielt Montenegro (Von Aarburg/Gretler 2011: 136). Auf dieser Konferenz wurde zugleich auch ein erster albanischer Nationalstaat gegründet, der jedoch nur rund die Hälfte des von der albanisch-sprachigen Bevölkerung bewohnten Territoriums auf dem südwestlichen Balkan entsprach (Von Aarburg/Gretler 2011: 137). Nach Beginn des Ersten Weltkrieges marschierten österreich-ungarische, deutsche und bulgarische Truppen in das Gebiet vom heutigen Kosovo ein (Schmitt 2008: 184). Von 1915 bis 1918 wurde das Gebiet des heutigen Kosovo erneut aufgeteilt und unter die Verwaltung von Österreich-Ungarn und Bulgarien gestellt (Schmitt 2008: 174). 5.1.2 Nationalistische Migrationspolitik im ersten jugoslawischen Staat 6 (1918 – 1941) Im Dezember 1918 wurde das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen gegründet und im Mai 1919 an der Pariser Friedenskonferenz völkerrechtlich anerkannt (Calic 2014: 81). 1929 rief König Aleksander das Königreich Jugoslawien aus (Ramet 2011: 120). Um den Zusammenhalt des Landes zu stärken, führte der König neue Verwaltungseinheiten ein, welche die nationalen und politischen Grenzen der Provinzen der Vorkriegszeit bewusst überschnitten und die Namen von Flüssen trugen (Ramet 2011: 121). Das Bildungswesen im ersten Jugoslawien wurde ganz in den Dienst der Nationalisierungspolitik gestellt und führte zu einer Schliessung der zuvor von Ös-

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Zu der Geschichte der Balkankriege siehe bspw. Calic (2014: 66 ff).

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Mit dem Begriff das erste Jugoslawien resp. der erste jugoslawische Staat wird die Zeit von 1918 – 1941 bezeichnet und damit die Zeit zweier Regierungen zusammengefasst, nämlich das „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (1918 – 1929) (Ramet 2011: 65) und das Königreich Jugoslawien (1929 – 1941) (ibid.: 119) (vgl. Sundhaussen 1993: 31 ff).

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terreich-Ungarn errichteten Schulen in albanischer Sprache. Damit wurde das Ziel verfolgt, Serbokroatisch als Staatssprache durchzusetzen und eine ethnonationale Orientierung der albanischen Bevölkerung zu verhindern. Nichtreligiöse Schulen auch anderer Sprachgemeinschaften wurden verboten, und der Unterricht fand in gemischt ethnischen Klassen statt. Damit konnte nur in islamischen Religionsschulen auf Türkisch oder Albanisch unterrichtet werden (Schmitt 2008: 205). Das religiöse wie auch das staatliche Schulsystem erreichte jedoch nicht die gesamte albanische Bevölkerung. Die Analphabet_innenrate blieb insgesamt sehr hoch, insbesondere unter der albanischen Bevölkerung, weil der Staat gemäß Schmitt (2008: 206) die Errichtung staatlicher Schulen vor allem in den serbischen Siedlungsgebieten förderte.7 Gemäß Calic (2014: 100) setzte sich der bereits während der Jahrhundertwende begonnene soziale Wandel fort. Dies bedeutete eine Auflösung der Großfamilien und eine Diversifizierung der Familienformen. Während in gewissen Dörfern die traditionelle Großfamilie mit bis zu 80 Mitgliedern intakt blieb, gab es Ortschaften, in denen Kernfamilien vorherrschten (ibid.: 100). Mit der Auflösung der Großfamilie verloren auch die Gruppensolidarität und die patriarchale Ordnung an Bedeutung. Die Frauen, gestärkt durch ihre Stellung als Familienoberhäupter im Krieg, konnten in den Städten ihre soziale Stellung aufwerten, besuchten Schulen und Universitäten und kämpften für mehr politische Rechte. Mit 20 % waren die Frauen nun in akademischen Milieus vertreten, wo neue gleichberechtige Geschlechterbeziehungen gelebt wurden (Calic 2014: 99). Die regionalen Unterschiede in dem Gebiet von Jugoslawien spiegelten sich jedoch auch in den Geschlechterverhältnissen wider. In Dörfern der Regionen des heutigen Serbiens, Montenegros und Mazedoniens wurden patriarchale Normen fortgeführt (Calic 2014: 100). Die Weltwirtschaftskrise erreichte Südosteuropa Mitte der 1930er Jahre. Durch die damit verbundene Abschottung der westlichen Industriestaaten verlor Jugoslawien die wichtigsten Absatzmärkte. Hauptverlierer der eintretenden großen Depression waren die Bauern, da sie immer weniger Erzeugnisse auf den Märkten absetzen konnten und zugleich die Preise für ihre Produkte sanken (Calic 2014: 121). Die Mehrheit der Bevölkerung lebte damals trotz regionaler Unterschiede in unbeschreiblicher Armut und schwierigen hygienischen Bedingungen. Insbesondere in Ost- und Südserbien litten die Menschen im Winter an

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Nur 30.2 % der Kinder besuchten den Volksunterricht in staatlichen Schulen, davon waren 30 % Albaner. Auf der Sekundarstufe gab es praktisch keine albanischen Kinder. Das gezielt tiefgehaltene Bildungsniveau der albanischen Bevölkerung zwischen den Weltkriegen förderte zugleich deren hohe Natalität (Schmitt 2008: 206).

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Hunger und Wassermangel (Calic 2014: 101). Die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sowie die Verbreitung von TBC und Alkoholismus waren hoch (Calic 2014: 102). Dies führte dazu, dass immer mehr Menschen auf der Suche nach einem Zusatzverdienst in die Städte drängten. Die entstehende mobile Arbeiterschaft war absolut mittellos, da die Arbeitsmöglichkeiten in den Städten beschränkt und die Arbeitsbedingungen prekär waren (Calic 2014: 121). Die Auswanderung wurde insbesondere in den westlichen Regionen als Ausweg aus der Armut praktiziert. Im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise wurde es in den 1920er Jahre aber immer schwieriger, in den klassischen Zielländern eine Arbeit zu finden (Calic 2014: 105), weshalb sich die Migration von Übersee nach Europa verlagerte. Dabei gehörte Frankreich, gefolgt von Deutschland, zu den beliebtesten Auswanderungsländern (Brunnbauer 2007: 116). Der Staat versuchte die Auswanderung im ersten Jugoslawien zu beeinflussen (Brunnbauer 2009b: 40). In Zagreb und Belgrad wurden spezifische staatliche Organisationen gegründet, mit dem Ziel, die grenzüberschreitenden Wanderungen unter die Kontrolle des Staates zu bringen, die emotionale Anbindung der jugoslawischen Emigrant_innen an die Heimat zu erhalten, bedürftige Rückkehrende zu unterstützen sowie die Emigration der Mitglieder der dominanten „Nationen“ einzuschränken und die Rückkehr von Angehörigen der Minderheiten zu verhindern (ibid.: 40). Die staatliche Auswanderungspolitik stand damit ganz im Dienste der Nationsbildung, was insbesondere anhand der Bemühungen sichtbar wird, durch Auswanderung ethnische Minderheiten loszuwerden (ibid.: 43). So übte die serbisch dominierte Regierung insbesondere Druck auf die albanische und türkische Bevölkerung in Südserbien (Region des heutigen Mazedonien und Kosovo) aus, das Land zu verlassen (ibid.: 43). 5.1.3 Zäsur der Auswanderung: der Zweite Weltkrieg Der Zweite Weltkrieg begann in Jugoslawien 1941 mit dem Überfall der Achsenmächte (Sundhaussen 2014: 47). Nach der Kapitulation des Königreichs Jugoslawien wurde das Gebiet des heutigen Kosovo in drei Besatzungszonen eingeteilt. Ein großer Teil der Region kam unter italienische Kontrolle, Deutschland sicherte sich den Norden, die östlichen Distrikte (inklusive der Herkunftsregion der Familie) wurden von Bulgarien besetzt (Reuter 1982: 33). In den von bulgarischen Truppen besetzten Gebieten wurde versucht, durch Bulgarisierungskampagnen wie bspw. der Einführung des bulgarischen Bildungssystems bei den Mazedoniern die Identifikation mit dem bulgarischen Staat zu fördern (Ramet 2011: 199). Gemäß Calic (2014: 162) mussten alle mazedonischen und serbischen Symbole sowie Namen und Sprache verschwinden.

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Das Verhalten gegenüber der albanischen Bevölkerung wurde von der Absicht Bulgariens geprägt, die Albaner aus ihrem Sektor zu vertreiben (Ramet 2011: 200). 1944 nahm die Besetzung durch die bulgarischen Truppen ein Ende (ibid.: 200). Die italienische Besatzungszone wurde im August 1941 mit Albanien zu einem „Großalbanien“ vereinigt, das ab 1943 unter deutscher Besatzung bestehen blieb (Bartl 2016: 525). Unter der italienischen Besatzung wurden albanischsprachige Schulen eröffnet, albanische Beamte eingestellt und eine albanische Gendarmerie eingerichtet (Petritsch/Kaser/Pichler 1999: 130). Die albanische Bevölkerung erlebte daher die Besatzung durch die Italiener eher als Befreiung (Petritsch et al. 1999: 130). Im Gegensatz dazu ging das totalitäre Regime mit großer Härte gegen die serbische Bevölkerung und gegen die orthodoxe Kirche vor (Petritsch et al. 1999: 131). Gemäß Calic (2014: 162) vertrieben Albaner im italienisch kontrollierten Kosovo und in Westmazedonien die eingesessene serbische und montenegrinische Bevölkerung und zerstörten deren Häuser, Kirchen und Klöster. Nach der Kapitulation von Italien wurde Großalbanien 1943 inklusive der Kosovo-Region von deutschen Truppen besetzt (Reuter 1982: 34). Die deutsche Besatzung versuchte wie zuvor die italienische Besatzungsmacht, die jugoslawische Partisanenbewegung bei den Kosovo-Albaner_innen unbeliebt zu machen (Reuter 1982: 34). Durch politische Zugeständnisse und nationalistische Rhetorik wurde versucht, die Sympathie und Loyalität der albanischen Bevölkerung zu gewinnen (Petritsch/Pichler 2004: 33). Dies gelang ihnen durch die Anerkennung von Großalbanien, wodurch die albanische Bevölkerung die deutsche Besatzungsmacht als eine Art Befreier des früheren Jugoslawiens betrachtete (Malcolm: 2002 297). Im November 1944 musste sich Deutschland schliesslich aufgrund des Einmarsches der roten Armee in Rumänien und Bulgarien zurückziehen (Schmitt 2008: 215). Es folgte ein regionaler Machtkampf in den albanischen Siedlungsgebieten (ibid.: 215). Im Gebiet des heutigen Kosovo schloss sich nur eine kleine Gruppe dem jugoslawischen Widerstand an (ibid.: 218). Die Bevölkerung versuchte den Status quo gegen jede Form des serbischen Einflusses zu verteidigen (ibid.: 218). Am Ende des Zweiten Weltkriegs waren die demographischen und materiellen Verluste in Jugoslawien massiv. Gemäß Calic (2014: 184) waren mehr als eine Million Menschen im Krieg gestorben und etwa 3.5 Millionen hatten ihr Obdach verloren. Viele der bäuerlichen Wirtschaften waren zerstört. Zudem hatte die Wehrmacht bei ihrem Rückzug systematisch Anlagen und Betriebe, Bergwerke sowie auch die Infrastruktur verwüstet (Calic 2014: 184). Der Zweite Weltkrieg führte zu einer scharfen Zäsur der Auswanderung (Goeke 2007: 131). Die ökonomisch motivierten Wanderungen wurden abgelöst

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durch politisch bedingte Emigration wie beispielswiese die in Kriegsgefangenschaft geratenen Jugoslawen, die befreit wurden, Zwangsarbeiter_innen, die repatriiert wurden, in Jugoslawien lebende ausländische Zivilpersonen, die nach Italien oder Österreich flohen sowie die Tschetniks8 und andere „Kollaborateure“, die ebenfalls Jugoslawien verliessen (ibid.: 131). 5.1.4 „Vorübergehend im Ausland beschäftigte Arbeitsmigrant_innen“ im zweiten Jugoslawien (1945 – 1991) Im November 1945 wurde die „Föderative Volksrepublik Jugoslawien“ (FNRJ) ausgerufen und zwei Monate später eine neue Verfassung nach sowjetischem Vorbild angenommen (Sundhaussen 2014: 81). Die neue föderative Volksrepublik bestand aus sechs Republiken (Slowenien, Kroatien, Bosnien-Herzegowina, Serbien, Montenegro und Mazedonien) sowie zwei autonomen Gebieten, Kosovo und Vojvodina, im Verbund der serbischen Republik (Sundhaussen 2014: 81). Die Errichtung von Kosovo als Provinz innerhalb Serbiens stellte einen problematischen Kompromiss zwischen serbischen Herrschaftsansprüchen und albanischen Unabhängigkeitswünschen dar (Calic 2014:180). Begründet wurde dieser Entscheid damit, dass die albanische Bevölkerung (wie auch die ungarische Bevölkerung in der Vojvodina) einen eigenen Nationalstaat außerhalb Jugoslawiens besass (Sundhaussen 2014: 82). Nach dem Krieg verfolgte der Staatspräsident Josip Broz Tito zuerst die Strategie, Albanien in eine von Jugoslawien dominierte Balkanföderation zu integrieren, der auch Bulgarien hätte beitreten sollen (Petritsch et al. 1999: 136). Dies führte zu einer engeren Zusammenarbeit von Jugoslawien und Albanien und großen Zusicherungen an die Albaner im Bildungs-, Wirtschafts- und Verwaltungsbereich (ibid. 1999: 136). Diese Föderationspläne stiessen bei der Sowjetunion unter der Führung von J. W. Stalin auf Widerstand und führten schliesslich 1948 zum Ausschluss Jugoslawiens aus dem Kommunistischen Informationsbüro (ibid. 1999: 136, vgl. Sundhaussen 2014: 100). Dieser Ausschluss bedeutete zugleich auch einen Bruch mit Albanien, da Enver Hoxha Verbündeter von Stalin blieb (Petritsch et al.: 1999: 136). Dies führte dazu, dass die Albaner in Jugoslawien plötzlich zu einer Gefährdung der südslawischen Föderation wur-

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Die nationalserbischen Tschetniks waren die Hauptprotagonisten des serbischen Widerstandes gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg und bestanden aus bewaffneten Guerillatruppen in Teilen Serbiens, Montenegros und Bosnien (Calic 2014: 145).

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den und es zu zahlreichen Verhaftungen, willkürlichen Verfolgungen und Misshandlungen durch die Geheimpolizei kam (ibid.: 136f). Das erste Jahrzehnt von Jugoslawien in der Nachkriegszeit war deshalb für die albanische Bevölkerung insbesondere in der Provinz von Kosovo unter der serbisch-national ausgerichteten Verwaltung des Innenmisters A. Ranković geprägt durch Repressionen, welche erst mit dessen Sturz 1966 ein vorläufiges Ende nahmen (Schmitt 2008: 228). Mit der Gründung der föderativen Volksrepublik war Titos Versuch verbunden, die Auswüchse des Kapitalismus durch industrielle Fortschritte und soziale Gerechtigkeit zu bekämpfen (Calic 2014: 183). Es folgte eine staatlich forcierte Industrialisierung nach dem Vorbild der Sowjetunion, um ein selbst tragendes Wirtschaftswachstum in Gang zu setzen und Arbeitsplätze zu schaffen. Dazu wurden Arbeitskräfte in den Dörfern angeworben und in der Stadt angesiedelt, um damit auch die sozialistische Transformation der Dörfer voranzutreiben (Calic 2014: 185). Rund die Hälfte der Gesellschaft zog nach dem Krieg vom Land in die Stadt oder in stadtähnliche Verdichtungszonen (Sundhaussen 2014: 145). Dadurch fand in den grösseren Städten eine Urbanisierung und Modernisierung statt. Die städtischen Wohnungen verdreifachten sich und die Neubauten erhielten Wasser- und Stromanschlüsse (Schmitt 2008: 260), womit die Kluft zwischen Stadt und Land weiter anstieg. Die Investitionen in Modernisierung und Industrialisierung und der damit verbundene gesellschaftliche Wandel betrafen die verschiedenen Regionen sehr unterschiedlich. In der Provinz Kosovo beispielsweise war die wirtschaftliche Situation nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt sehr schwierig. Das Strassennetz war veraltet und unzureichend. Nur gerade 2.6 % der Haushalte verfügten über Strom. Zudem waren die Industrieanlagen im Krieg zu 70 % zerstört worden (Reuter 1982: 54). Investitionen in die Industrialisierung in der Provinz von Kosovo begannen erst nach dem Sturz von Innenminister Ranković 1966, finanziert aus dem Entwicklungsfonds der Föderation (ibid.: 55). Gefördert wurden vor allem die Energiewirtschaft und der Bergbau, welche verhältnismässig wenige Arbeitsplätze schafften (ibid.: 55). Deshalb konnte die einsetzende Industrialisierung mit dem hohen Bevölkerungswachstum in der Provinz Kosovo nicht Schritt halten. Die Bevölkerung litt unter einer chronischen Arbeitslosigkeit, die bereits 1968 offiziell bei 14 % lag und inoffiziell auf etwa die doppelte Anzahl geschätzt wurde (Schmitt 2008: 256). Die geringe Industrialisierung führte im Kosovo zu dem Fortbestand der landwirtschaftlichen Beschäftigung9 (Sund-

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1971 wies Kosovo mit 51.5 % den höchsten Anteil an landwirtschaftlicher Bevölkerung im damaligen Jugoslawien auf (Sundhaussen 2014: 145).

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haussen 2014: 145). Mehr als 57 % der Höfe waren kaum überlebensfähig, da es sich um Kleinstbetriebe handelte, welche Subsistenzwirtschaft mit vormodernen Methoden betrieben (Schmitt 2008: 257). Gemäß Calic (2014: 187) war die starke Einschränkung der Religionen ein weiteres zentrales Merkmal des zweiten Jugoslawiens. Die staatliche Verfassung garantierte Religionsfreiheit sowie die Trennung von Kirche und Staat. Dies bedeutete, dass Religion zur Privatsache erklärt und der Missbrauch der Religion zu politischen Zwecken unter Strafe gestellt wurde (ibid.:187). In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg wurde kirchliches Eigentum verstaatlicht und religiöse Presseorgane zensiert (Calic 2014: 187). Besonders streng ging der Staat auch gegen islamische Bräuche vor, verbot die Verschleierung der Frauen und schloss Kommunisten, welche Gottesdienste oder Moscheen besuchten, von der Partei aus (Calic 2014: 188). Weil Bildung als Grundlage für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft galt, wurden in ganz Jugoslawien große Anstrengungen für die Alphabetisierung von Erwachsenen und die Schulbildung von Kindern unternommen (CvetkovićSander 2011: 149). Dies hatte Investitionen in die Volksbildung durch die Einführung einer allgemeinen Schulpflicht, den Bau von Volksschulen, Bibliotheken und Kulturorganisationen zur Folge, um Analphabetismus zu bekämpfen und die gesundheitliche Aufklärung zu fördern (Calic 2014: 187). Das kostenlose Schulsystem sollte sicherstellen, dass auch Kinder aus ökonomisch schlechter gestellten Familien die Schule besuchen konnten (Brizić 2007: 95). Die Schulpflicht umfasste ab 1958 acht Jahre Grundschule, die zum weiterführenden Besuch von Mittelschulen berechtigte, die entweder auf eine berufliche Tätigkeit oder auf den Hochschuleintritt vorbereiteten (Brizić 2007: 95). Trotz des anhaltenden tiefen Bildungsstandes der albanischen Bevölkerung verbesserte sich auch deren Zugang zu Bildung im zweiten Jugoslawien erheblich. In der Provinz von Kosovo wurde erstmals ein Netz albanischsprachiger Schulen geschaffen, das jedem albanischen Kind den Besuch der Grundschule ermöglichen sollte10

                                                             10 Dies basierte auf dem Grundsatz, dass für alle nationalen Minderheiten eine Minderheitenschule errichtet wurde, wenn es wenigstens 20 Schüler gab (Brizić 2007: 96). Ab dem dritten Schuljahr wurden für Minderheiten zusätzlich jeweils drei Stunden wöchentlich Serbokroatisch als Pflichtfach eingeführt, um damit die Teilnahme der nationalen Minderheiten am gesellschaftlichen Leben des Landes zu ermöglichen (ibid.: 150). Dieser Serbokroatisch-Unterricht war jedoch wenig erfolgreich, da spezifische didaktische Methoden und Materialien für das Unterrichten einer Fremdsprache fehlten (ibid.: 150). Dies bedeutete für albanische Kinder eine Benachteiligung für den

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(Cvetković-Sander 2011: 149). Trotz diesen Anstrengungen11 blieben die albanischen Schüler_innen in den Mittel- und Oberschulen in der Provinz von Kosovo stark unterpräsent (Schmitt 2008: 239). Vor allem auf dem Land gab es zu wenig Grundschulen und einen großen Mangel an Lehrkräften, insbesondere für den Unterricht in albanischer Sprache (Reuter 1982: 71). Erst die Reformen von 1965 lösten eine Bildungsrevolution aus, die innerhalb von acht Jahren zu einer Verdoppelung der Studierenden führte (Calic 2014: 235). In der Provinz von Kosovo begann die Steigerung der Studierendenzahlen im Jahr 1971 mit der Gründung der ersten zweisprachigen Universität. Im Jahr 1970-1971 waren bereits die Hälfte der 16 000 Studierenden Albaner_innen, 1976-1977 bereits zwei Drittel der nun total 37 000 Studierenden (Roux 1992: 282). Das Bevölkerungswachstum der albanischen Bevölkerung blieb bis 1971 überdurchschnittlich hoch und betrug in der Provinz von Kosovo 6.6 Kinder pro Frau im gebärfähigen Alter im Vergleich zu 2.72 Kinder pro Frau im engeren Serbien (Reuter 1982: 69). Die hohe Natalität in der Provinz von Kosovo betraf allerdings nicht nur die albanische Bevölkerung, die Natalität von Serben in der Provinz von Kosovo war ebenfalls dreimal grösser als in den übrigen Regionen Jugoslawiens (ibid.: 69)12. Die Einführung von marktwirtschaftlich orientierten Wirtschaftsreformen 1965 spitzte die Arbeitsmarktsituation in Jugoslawien zu, da viele Industriearbeiter_innen überzählig wurden (Brunnbauer 2009b: 45) und führte zu einem temporären Rückgang der Gesamtbeschäftigung und zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit. Diese Situation wurde verstärkt durch den Abwanderungsdruck aus der Landwirtschaft und dem hohen Bevölkerungswachstum, wodurch viele zusätzliche Arbeitskräfte auf den bereits gesättigten Arbeitsmarkt strömten. (Brunnbauer 2007: 121) In diesem Kontext legalisierte Jugoslawien die Arbeitsmigration, die bis in die 1960er Jahre von staatlicher Seite verboten war, da das kriegszerstörte

                                                                                                                                Besuch weiterführender Schulen, da diese mehrheitlich auf Serbokroatisch stattfanden (ibid.: 150). 11 Durch diese Investitionen stieg die Anzahl eingeschulter albanischer Kinder im Durschnitt um ca. 5.7 % pro Jahr (Roux 1992: 280). Zudem nahm auch die Einschulung der Mädchen laufend zu, von 21% im Jahr 1938 auf 46.2 % in 1986-87 (ibid.: 280). 12 Eine Erklärung liegt in dem unterschiedlichen Zugang zu Bildung. So sind erhebliche Unterschiede festzustellen zwischen Frauen ohne Schulbildung (Natalität von 6.4 Kinder pro Frau) und mit Sekundarschulbildung (1.9 Kinder pro Frau) (Roux 1992: 335).

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Jugoslawien selbst Arbeitskräfte für den Wiederaufbau benötigte13 (Brunnbauer 2009b: 44). Die Regierung bevorzugte, die Arbeitsmigration zu legalisieren und somit kontrollieren zu können, da offensichtlich wurde, dass zu wenig Beschäftigungsmöglichkeiten in Jugoslawien geschaffen werden konnten und die Zahl der illegal ausgereisten Personen stetig zunahm (Brunnbauer 2009b: 45). Damit war die Absicht verbunden, die Emigration in die offizielle politische Agenda zu integrieren und damit die Abwanderung von unqualifizierten und arbeitslosen Personen zu tolerieren, hingegen die Emigration von qualifizierten Personen und Akademiker_innen zu verhindern (ibid. 2009: 45). Zudem erhoffte man sich dabei positive Effekte für die Volkswirtschaft durch den Devisentransfer (Goeke 2007: 134). Zu diesem Zweck schloss die jugoslawische Regierung ab 1964 Anwerbeabkommen14 mit verschiedenen Staaten ab und versuchte, die Arbeitsmigration staatlich zu organisieren (Goeke 2007: 133). Die Arbeitsmigrant_innen wurden nun als „vorübergehend im Ausland beschäftigte Arbeiter“ bezeichnet (Novinšćak 2009: 127)15. Damit war Jugoslawien das erste und einzige sozialistische Land, das die Arbeitsmigration in den Westen seit den 1960er Jahren erlaubte, um die Überzahl an Arbeitskräften zu exportieren und damit die Situation auf dem nationalen Arbeitsmarkt zu entspannen (Brunnbauer 2009b: 44). Die Arbeitsmigration in den Westen stellte jedoch für die kommunistische Partei von Jugoslawien eine politische Herausforderung dar, da Arbeiter_innen aus dem sozialistischen Land nun in kapitalistischen Ländern gemäß der kommunistischen Ideologie ausgebeutet wurden (ibid.: 45). Jugoslawien reagierte auf diese Kritik, indem einerseits der vorläufige Charakter der Emigration betont wurde, zugleich auch ein Netzwerk von sozialen und rechtlichen Beratern für die Arbeiter_innen im Ausland geschaffen wurde (ibid.: 45). Dieses Netzwerk symbolisierte die Fürsorge des sozialistischen Staa-

                                                             13 Zuvor hatte Jugoslawien in den Nachkriegsjahren versucht, Emigrant_innen wieder ins Land zu holen und drohte den geflüchteten Jugoslaw_innen mit dem Entzug der Staatsbürgerschaft, falls sie nicht innerhalb zweier Monate zurückkehren würden (Goeke 2007: 132). Allerdings blieb es bei leeren Drohungen, da weder die Migrant_innen zurückkehrten noch ihre Pässe entzogen wurden (Goeke 2007: 132). 14 Das erste Abkommen trat 1965 mit Österreich in Kraft, gefolgt von Frankreich 1966, Schweden 1967, Westdeutschland und Luxemburg 1969 und Belgien und den Niederlanden 1970 (Goeke 2011: 745). 15 In Jugoslawien wurde eine klare Unterscheidung gemacht zwischen den vorübergehend im Ausland beschäftigten Arbeiter_innen und den politisch motivierten Migrant_innen, die als Staatsfeinde betrachtet wurden und denen die Rückkehr in die Heimat verboten wurde (Novinšćak 2009: 127).

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tes für seine Arbeiterklasse und verlängerte so seinen Einfluss auf die Bürger_innen, welche im Ausland lebten (ibid.: 45). Zudem unterstützte die Regierung die Bildung von Klubs und Vereinen von Arbeitsmigrant_innen, um so deren „Assimilation“ in westliche, kapitalistische Länder zu verhindern und ihr sozialistisches Bewusstsein und die Loyalität gegenüber Jugoslawien aufrechtzuerhalten (ibid.: 46). Auch in den Teilrepubliken gründete Jugoslawien ab 1951 Emigrantenorganisationen, um die Kontakte zwischen den Emigrant_innen und dem „Mutterland“ zu stärken wie bspw. über die Organisation von Urlaubsreisen in Jugoslawien oder Zeitschriften über sozialistische Aufbauerfolge sowie Folklore und Geschichte (Brunnbauer 2007: 128). Der vorübergehende Charakter der Arbeitsmigration ins Ausland wurde vom jugoslawischen Staat auch durch den Aufbau von jugoslawischen Schulen in Westeuropa bspw. in grösseren Städten in Deutschland verfolgt, um damit die Reintegration der im Ausland lebenden Familien zu vereinfachen (Goeke 2007: 144). In Städten, in denen es keine besonderen Schulen gab, wurde muttersprachlicher Zusatzunterricht angeboten, der nebst dem Ziel der Sprachvermittlung Heimatkunde beinhaltete (Goeke 2007: 143). Die jugoslawischen Arbeiter_innen waren in der Regel besser qualifiziert als Immigranten aus anderen südosteuropäischen Ländern und damit in Westeuropa beliebt als billige Arbeitskräfte. Jedoch waren die oft schlecht bezahlten Jobs in Westeuropa gleichwohl für sie attraktiv, da die Löhne durchschnittlich etwa dreimal über dem jugoslawischen Durchschnitt lagen (Brunnbauer 2007: 122). 1968 arbeiteten in Deutschland rund 300 000 Personen aus Jugoslawien, fünf Jahre später bereits 500 000 Personen. Insgesamt lebten rund 1.1 Millionen „Gastarbeiter_innen“ im Ausland (Calic 2014: 229). Männer fanden vor allem in der Bauindustrie und der verarbeiteten Industrie Arbeit, Frauen auch in der Gastronomie und Hotellerie (Brunnbauer 2007: 122). Der Frauenanteil betrug 1971 31%, wobei erhebliche regionale Unterschiede bestanden. In Kosovo wanderten nur 5% der Frauen aus, während dieser Anteil in der Vojvodina bei 42 % lag (ibid.: 122). Beliebtestes Land für die Arbeitsmigrant_innen war die Bundesrepublik Deutschland (BRD) mit 61.2% (Brunnbauer 2007: 120). Die Anwerbung von ausländischen Arbeitskräften in Deutschland begann bereits Ende der 1950er Jahre. In dieser Zeit stieg die Nachfrage nach Arbeitskräften in Zusammenhang mit dem deutschen Wirtschaftswunder und konnte durch die Schliessung der innerdeutschen Grenze nicht mehr durch Arbeitskräfte aus Ostdeutschland gedeckt werden (Baumann 2012: 142). Zentrales Merkmal in Deutschland war die sozialstrukturelle Platzierung der „Gastarbeiter_innen“ zuunterst in der sozialen Hierarchie, da die Anwerbepolitik rein ökonomischen Gründen folgte und eine Ein-

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wanderung auf Dauer weder vorgesehen noch erwünscht war (ibid.: 142). Der Vertrag mit der Bundesrepublik Deutschland trat 1969 in Kraft (Goeke 2007: 133) und unterschied sich in mehreren Punkten von den bisherigen Abkommen. Nach langen Verhandlungen sicherte Deutschland den jugoslawischen „Gastarbeiter_innen“ dieselben Rechte zu wie den Deutschen Arbeiter_innen, inklusive Kinderzulagen und Sozialversicherungen und war zudem bereit, auf Druck von Tito auch ungebildete Arbeiter_innen im Abkommen zu berücksichtigen und die Transportkosten für die rekrutierten Arbeiter_innen zu übernehmen (Novinšćak 2009: 139). Insgesamt wurden ungefähr 50% der Arbeitsstellen von staatlichen Behörden vermittelt (Goeke 2007: 133). Mit der Schweiz wurde kein spezieller Anwerbevertrag abgeschlossen (ibid.: 133). Jedoch vereinbarte Jugoslawien mit der Schweiz 1964 ein Sozialversicherungsabkommen16, das die Gleichstellung von jugoslawischen und schweizerischen Staatsangehörigen betreffend der Rechte und Pflichten in Sozialversicherungen im Bereich der Altersvorsorge, der Invalidität, der Unfälle und Familienzulagen gewährte (Dahinden 2009: 260). Die Anwerbung von Arbeitskräften in der Schweiz wurde grösstenteils durch die Arbeitgeberverbände organisiert (Goeke 2007: 133). Wie bereits vor dem Zweiten Weltkrieg beabsichtigten die meisten „Gastarbeiter_innen“, nach ein paar Jahren der Arbeit im Ausland nach Hause zurückzukehren (Goeke 2007: 133). Das Ziel war, mit dem Ersparten zu Hause die Häuser zu verbessern oder neu zu bauen, Gebrauchsgüter zu erwerben und im Falle der Bauern in Land oder Landwirtschaftsmaschinen zu investieren (Brunnbauer 2009b: 25). Die Rückkehrabsicht entsprach der staatlichen Politik, welche die Arbeitsmigration als temporäre Migration bezeichnete (ibid.: 25). Genaue Zahlen darüber, wie lange die Migrant_innen im Ausland blieben und wie viele zurückkamen, sind schwer zu erfassen, da viele erneut ins Ausland migrierten, wenn sie Schwierigkeiten hatten mit der Reintegration, insbesondere bei der Arbeitssuche (ibid.: 25). Schätzungen zu folge lag die Rückkehrquote für die Jahre 1964 -1972 bei ungefähr 19 bis 36 % (Brunnbauer 2009b: 25). Für die Migrant_innen stellte die Arbeitsmigration gemäß Goeke (2007: 133) auch eine Möglichkeit dar, durch den Arbeitsaufenthalt im Ausland genügend Geld zu verdienen, um die Familienmitglieder in Jugoslawien finanziell zu unterstützen. Kinder und Ehepartner blieben in der Regel in Jugoslawien zurück (ibid.: 133). Gemäß Goeke (2009: 292) blieben 75% der Kinder von jugoslawischen Arbeitsmigrant_innen in Deutschland im Jahr 1970 bei Verwandten in Jugoslawi-

                                                             16 Abkommen zwischen der Schweizerischen Eidgenossenschaft und der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien über Sozialversicherung vom 8. Juni 1962 (SR 0.831.109.818.1).

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en. Mit der Emigration war nicht nur die Aussicht auf Erwerbsarbeit, sondern auch auf Prestige und sozialen Status verknüpft, bspw. durch den Erwerb von Konsumgütern und führte zu einem lokalen Konkurrenzkampf. Auch der Bau von imposanten Häusern war ein Mittel, um einerseits den Erfolg im Ausland zu zeigen und zugleich auch die Zugehörigkeit zur Heimat zu präsentieren. In landwirtschaftlichen Regionen wurden beispielsweise westliche Traktoren zum Statussymbol, selbst wenn das Grundstück zu klein war, um mit einem Traktor bewirtschaftet zu werden (Brunnbauer 2009b: 34). Dies führte gemäß Brunnbauer (2009b: 35) gerade in ländlichen Regionen dazu, dass viele die Emigration ins Ausland einer Investition in Bildung vorzogen und führte zu einer Entwertung von Bildung. Zudem wurden durch die Emigration auch der Status und die Hierarchie im Dorf verändert. Früher besassen diejenigen Familien das höchste Prestige, die am meisten Land besassen. Mit der „Gastarbeiter_innenmigration“ verschob sich dieses Prestige zu den Familien, die durch die Emigration Einkommen erhielten, obwohl diese Familien früher vielleicht zu den ärmeren Schichten des Dorfes gehörten. Zudem führte der Konkurrenzkampf zu einem Rückgang der traditionellen Kohäsion und Solidarität der Dorfgemeinschaften. Allerdings war das Einkommen durch die Arbeitsmigration für einige Familien auch notwendig, um den täglichen Bedarf zu decken und diente damit nicht nur dem Statusgewinn (ibid.: 35). Die Gastarbeitsmigration ermöglichte es auch, traditionelle Familienformen zu erhalten. Insbesondere in ländlichen Regionen im Süden und Osten blieb die patriarchal organisierte Großfamilie bis ins 20. Jahrhundert bestehen (ibid.: 35). Dies trifft insbesondere auf die albanische Bevölkerung in Jugoslawien zu. Viele Mehrgenerationenhaushalte sandten einen oder mehrere Söhne ins Ausland, um Geld für den gesamten Familienhaushalt zu verdienen. Die Geldüberweisungen wurden vom Vater zentral verwaltet. Die zentrale Verwaltung des Einkommens ermöglichte es zudem, die Frauen von der Erwerbsarbeit fernzuhalten. Daraufhin weist auch der kleine Anteil der Frauen in der Arbeitsmigration hin, der vor 1971 in der Provinz Kosovo 4.7% betrug, im Vergleich zu Slowenien, wo der Frauenanteil an der Arbeitsmigration bei 40% lag (ibid.: 36). Die regionalen Differenzen zeigten sich auch darin, dass gewisse Regionen einen Emigrantenanteil von über 18% aufwiesen, wie bspw. Imotski in Kroatien (1971), im Vergleich zu anderen Regionen mit einem Anteil von unter einem Prozent wie bspw. in Pristina (Kosovo) (ibid.: 28). Die Regionen mit hohem Emigrationsanteil waren meistens agrarische Gebiete im bspw. westlichen und südwestlichen Mazedonien und östlichen Landesteilen von Serbien (Goeke 2007: 135). Zugleich unterschieden sich auch die Migrationsdestinationen je nach Herkunftsregion. So stammten bspw. die meisten Migrant_innen, welche in

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der BRD Arbeit suchten, aus Kroatien und Bosnien-Herzegowina. Die Mehrzahl der Arbeitsmigrant_innen aus Serbien gingen hingegen nach Frankreich, und der Großteil von Personen aus Mazedonien und Montenegro migrierte nach Übersee. Noch deutlicher sind die Unterschiede auf Gemeindeebene (Brunnbauer 2007: 119). So befanden sich 1971 bspw. 54% der Migrant_innen aus Ulcinj (Montenegro) in den USA und 68% der Migrant_innen aus Bitola, einer mazedonischen Gemeinde, in Australien (ibid.: 119). Diese Befunde deuten darauf hin, dass Netzwerke eine entscheidende Rolle spielten für den Migrationsentscheid und die Migrationsdestination (Brunnbauer 2007: 119). Zudem gibt es auch Hinweise auf eine Etappenwanderung. Zwischen 1971 und 1981 wanderten fast eine halbe Million Menschen von einer jugoslawischen Republik in Richtung des ökonomischen Wohlstandes im Norden des Landes, teilweise motiviert durch ethnisch-nationale Kriterien (Goeke 2007: 135). Die Emigrationsquote aus dem Norden wurde damit durch die Binnenmigration aus dem Süden beständig ausgeglichen (Goeke 2007: 136). Gemäß Goeke (2007: 134) weisen die Wanderungsstatistiken sowie die Volkszählungen von 1971, 1981 und 1991 zudem darauf hin, dass es bei den Migrationsprozessen tendenziell zu einer positiven Selektion kam, entgegen der weit verbreiteten Meinung, dass vor allem die ärmste Bevölkerung ihre Heimat aus Not verliess. Dies bedeutet, dass ein hoher Anteil der „Gastarbeiter_innen“ aus der Mittelschicht (mittlere Bildungsabschlüsse und Berufe) stammte, während Personen aus niedrigen sowie auch höheren Schichten selten migrierten (ibid.: 134). Diese positive Selektion bedeutete jedoch auch, dass sich die sozialstrukturellen Daten der Zurückgebliebenen verschlechterten (ibid.: 135). Als jugoslawische Migrationsspezialisten feststellten, dass die Arbeitsmigration sich negativ auf die jugoslawische Wirtschaft auswirkte, da viele in Jugoslawien ausgebildete Arbeiter_innen ins Ausland gingen, wurde 1973 ein neues Gesetz über die Arbeitsmigration erlassen mit dem Ziel, die Emigration von qualifizierten Arbeiter_innen zu beschränken und die Bedingungen für die Rückkehr und Integration in den heimischen Arbeitsmarkt zu regeln (Brunnbauer 2009b: 47). Die Vermittlung von Arbeitskräften wurde nun auf Arbeitslose und bestimmte Berufsgruppen eingeschränkt (Goeke 2007: 136). Zudem sollte die Bindung der Emigrant_innen zum Herkunftsland gestärkt werden und dadurch eine Assimilation in den jeweiligen Gastländern verhindert werden. Mithilfe einer intensivierten Medienpolitik, dem Export der jugoslawischen Presse sowie Spezialprogrammen der jugoslawischen Rundfunkanstalten für „Gastarbeiter_innen“ sollte dieses Ziel erreicht werden (Brednich 1984: 234). Parallel dazu wurden Ausländerbetreuungsprogramme gegründet, um die Rückkehr von Migrant_innen durch Vergünstigungen zu fördern und deren Eingliederung in der Heimat bspw. durch

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Kreditverbilligungen zu erleichtern. Die grösste Rückkehrbereitschaft wurde bei ungelernten Arbeiter_innen, Landwirten, Hausfrauen und Schüler_innen festgestellt, deren Reintegration in den heimatlichen Arbeitsmarkt aufgrund der hohen Arbeitslosigkeit äussert schwierig war (ibid.: 234). Facharbeiter_innen und Akademiker_innen zeigten gemäß Brednich (1984: 234) eine geringere Rückkehrbereitschaft. Diesen wurde durch die Förderung des Kleingewerbes Anreize zur Rückkehr geboten wie beispielsweise Steuerbefreiung im ersten Jahr und weitere Steuerermässigungen in den folgenden Jahren. Zudem wurde versucht, die Betriebsgründungen in den Rahmen kommunaler und regionaler Programme einzubetten (ibid.: 235). Durch den gezielten Aufbau von Produktionsstätten in den Heimatregionen der Arbeitsmigrant_innen wurden neue Arbeitsplätze geschaffen, um dadurch gezielt Facharbeiter_innen zur Rückkehr zu bewegen (ibid.: 234). Allerdings hielt sich der Umfang solcher Massnahmen in Grenzen und trotz diesen Anreizen war eine Rückkehr nach Jugoslawien aufgrund der tiefen Löhne und der allgemein schlechten ökonomischen Situation wenig attraktiv (Brunnbauer 2007: 130). Die Zahl der Rückkehrer in den 1970er Jahren wurde auf 200.000 bis 500.000 Personen geschätzt (Brunnbauer 2009b: 47). Es kann jedoch davon ausgegangen werden, dass die Rückkehrenden weniger von den jugoslawischen Bemühungen beeinflusst waren, sondern diese Remigration in Zusammenhang mit den damaligen wirtschaftlichen Schwierigkeiten in Westeuropa stand und teilweise auch der ursprünglichen Intention der „Gastarbeiter_innen“ entsprach (ibid.: 47). Durch die wirtschaftliche Rezession verhängten 1973 – 1974 die meisten westlichen Länder über einen Anwerbestopp (Brunnbauer 2009b: 22). Da viele nach der Rückkehr trotz der Regierungspolitik keine Arbeit fanden, reisten die Rückkehrer oft wieder aus und nahmen diesmal ihre Familien mit. So führte der Anwerbestopp in Deutschland nicht zum erwünschten Rückgang der Migrationsbevölkerung, sondern der Anteil der ausländischen Bevölkerung blieb so hoch wie nie zuvor (Goeke 2007: 138). Obwohl es weniger Arbeitsplätze für unqualifizierte eingewanderte Arbeitskräfte in Westeuropa gab, blieb eine große Anzahl der jugoslawischen „Gastarbeiter_innen“ mit ihren Familienmitgliedern in den Aufnahmeländern und wurde zu permanenten Auswanderern (Malacic 1996: 236)17. Im Mai 1980 starb Tito im Alter von 88 Jahren. Die Nachricht über seinen Tod führte in ganz Jugoslawien zu einer tiefen Bestürzung, zehntausende Men-

                                                             17 Dies ist auch an der Abnahme der Kinder von jugoslawischen Familien, die im Herkunftsland verblieben, von 42.9% im Jahr 1985 auf 3.4 % im Jahr 2001, zu sehen (Goeke 2011: 746).

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schen versammelten sich für sein Begräbnis (Calic 2014: 264). Zu diesem Zeitpunkt befand sich Jugoslawien bereits in einer tiefen Krise, verstärkt durch den Ölpreisschock und die darauf folgende Rezession (Calic 2014: 264). Die ökonomische Misere und politische Handlungsunfähigkeit verhärtete die Fronten zwischen den Republiken und führte zu einem Reformstau und einer zunehmenden Steuerungsunfähigkeit des jugoslawischen Staates. Zudem wurden sämtliche Konflikte nun in ethno-politische Gegensätze uminterpretiert (Calic 2014: 278). Die Krise der 1980er Jahre zeichnete sich durch eine Stagnation der Produktion und eine wachsende Inflation aus (Roux 1992: 343). Die Arbeitslosigkeit vergrösserte sich und überschritt 1984 die Millionengrenze, wobei Personen unter 24 Jahren und Frauen besonders betroffen waren (Calic 2014: 266). In der Provinz von Kosovo betrug die Arbeitslosigkeit 1981 nach offiziellen Statistiken 29% (90 000 Arbeitssuchende), Experten schätzten die Zahl jedoch auf rund 200 000 Personen und es betraf die albanische Bevölkerung überdurchschnittlich mit einem Anteil von 82% (Schmitt 2008: 255). Da die Rezession auch die traditionellen Zielländer der „Gastarbeiter_innen“ betraf, wurde es in den 1970er Jahre zunehmend schwierig, eine Arbeit im Ausland zu finden (Calic 2014: 266). Die wirtschaftliche Situation in der Mitte der 1980er Jahre war insbesondere für die ländliche albanische Bevölkerung sehr schwierig, welche unter ärmlichen Verhältnissen vorwiegend von der Subsistenzwirtschaft lebte (Schmitt 2008: 257). In den Städten führte die Wirtschaftskrise zu sozialer Unzufriedenheit und Protestaktionen (Calic 2014: 266). Die hohe Inflationsrate führte zu einer erheblichen Verminderung von Einkommen, Sparguthaben und Altersvorsorge und bedeutete nicht nur einen Rückgang der Kaufkraft, sondern auch eine Gefährdung der bisherigen Lebensweise, da sozialer Status und Prestige über materielle Güter definiert wurden (ibid.:280). Dies löste eine tiefgehende Krise aus, verbunden mit wachsenden Zukunftsängsten und Zweifeln am politischen System (ibid.: 280). Da die Wirtschaftskrise nicht alle Sektionen der Beschäftigten gleichermassen traf, verschärften sich auch die sozialen Ungleichheiten, was die Krise weiter anheizte (ibid.: 279). Die Krise zeigte sich gemäß Schmitt (2008: 240) in den 1980er Jahre in der Provinz von Kosovo am Beispiel der Bildungspolitik. Die Universität in Pristina entwickelte sich mehr zu einem politischen Projekt und sollte die Jugendlichen vom bereits gesättigten Arbeitsmarkt fernhalten (ibid.: 240). Die Anzahl der Studierenden wuchs in der Provinz von Kosovo überproportional schnell an18.

                                                             18 So entfielen 1981 in der Provinz von Kosovo auf 10 000 Einwohner 299 Studierende und lag damit über dem jugoslawischen Durschnitt von 200 Studierenden pro 10 000 Einwohner (Schmitt 2008: 240).

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Da die wissenschaftliche Qualität der Universität in Pristina angezweifelt wurde, hatten die Absolvent_innen Schwierigkeiten, außerhalb des Kosovo Arbeitsplätze zu finden (ibid.: 240). Die Schicht der Schüler_innen und Studierenden stellte dabei im Kontext von Zukunftsangst, Arbeitslosigkeit und Nationalismus ein großes Protestpotential dar (ibid.: 240). Im März 1981 kam es an der Universität in Pristina zu Protestdemonstrationen der Studenten, welche ihre Unzufriedenheit mit unerträglichen Studienbedingungen sowie mangelnden beruflichen Perspektiven kundtaten (Reuter 1982: 79, Schmitt 2008: 297). Den Demonstrationen folgten weitere gewaltsame Auseinandersetzungen in anderen Regionen wie Isok, Kaçanik und Suva Reka. Diese entwickelten sich zu einem allgemeinen Aufruhr der albanischen Bevölkerung Kosovos (Reuter 1982: 82). Es folgte eine brutale Intervention der Polizei und der regulären Streitkräfte, der Ausnahmezustand wurde erstmals in der Geschichte des sozialistischen Jugoslawiens verhängt (ibid.: 82). Die Verbindung von Kosovo zur Außenenwelt wurde so gut wie möglich unterbrochen (ibid.: 83). In den nachfolgenden Repressionswellen wurden Tausende Albaner_innen verurteilt, eine große Zahl wurde nach der Revolte vermisst und wurde teilweise später außerhalb der Ortschaften tot aufgefunden (ibid.: 82). Die Situation stabilisierte sich erst im Herbst 1981 wieder (ibid.: 83). Zugleich riefen nationalistische Kreise aus Belgrad die sogenannte serbische Widerstandsbewegung in der Provinz von Kosovo ins Leben, um die angeblich diskriminierte kosovo-serbische Bevölkerung zu schützen (Maliqi 2007: 128). Auch im benachbarten Mazedonien wurde das Zusammenleben von Mazedonier_innen und Albaner_innen zunehmend problematisch (Reuter 1982: 93). In den 1980er Jahren mehrten sich Angriffe auf angeblich nationalistische Inhalte albanischer Schulbücher und führten 1988 zu albanischen Demonstrationen (Dukovski 2007: 146). 5.1.5 Von der temporären zur dauerhaften Migration: Krise und Zerfall des zweiten Jugoslawien (1989 – 1999) Im März 1989 stimmte das kosovarische Parlament in Pristina über die künftige Verfassung der Provinz von Kosovo ab, was zu einer faktischen Aufhebung der Autonomie führte (Schmitt 2008: 309). Es folgten große Protestkundgebungen, die von Milosevic, Präsident der sozialistischen Republik Serbiens, mit der Sonderpolizei gewaltsam niedergeschlagen wurden (ibid.: 310). Im Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen in Slowenien und Kroatien riefen die albanischen Abgeordneten nach einem Referendum im Oktober 1991 die „Republik Kosova“ aus, die allerdings nur Albanien anerkannte (ibid.: 313f). Belgrad erklärte diese Entscheidung für illegal (ibid.: 314). Gemäß Schmitt (2008: 314)

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folgte eine „Serbisierung“ des gesellschaftlichen Lebens, welche zuerst das Bildungswesen und die Medien betraf. Serbische Lehrpläne wurden eingeführt, albanische Lehrinhalte und Unterricht in albanischer Sprache verdrängt und Serbisch wurde zur zentralen Sende- und Zeitungssprache (ibid.: 314). Es folgten Entlassungen von albanischen Journalisten, sowie albanischen Angestellten im Theater in Pristina, dem Gesundheitsbereich und schlussendlich auch in Industrie, Verwaltung und Handel (ibid. 314). In der Siedlungspolitik wurden Anreize für Serben zur Ansiedlung gemacht und Erschwerung von Immobilienverkäufen an Albaner (ibid.: 315). Die albanische Bevölkerung reagierte auf die zunehmende Serbisierung mit dem Aufbau einer albanischen Parallelgesellschaft, welche insbesondere ein paralleles Bildungs- und Gesundheitssystem beinhaltete (ibid.: 317). Diese Parallelstrukturen wurden durch die Einführung einer 3% Steuer auf dem Einkommen der Diaspora im Ausland finanziert (ibid.: 317). In Deutschland und in der Schweiz wurde eine Exilregierung unter B. Bukoshi gebildet, die durch den Zugriff auf die 3% Steuer erheblichen Einfluss hatte (ibid.: 318). Die Aufhebung des Autonomiestatus 1990 der Provinz Kosovo führte für die albanische Bevölkerung dazu, dass die Rückkehrabsichten zunehmend aufgegeben wurden. Während die ersten „Gastarbeiter_innen“ mit ihren Löhnen in die Bildung der jungen Erwachsenen in der Heimat investierten, was die hohe Anzahl von Studierenden an der Universität in Pristina in den 1980er Jahren zeigte, führte die steigende Arbeitslosigkeit auch von Studienabgänger_innen dazu, dass die unter 18 jährigen Kinder vermehrt durch den Familiennachzug ins Ausland geholt wurden (Von Aarburg/Gretler 2011: 51). Im Zusammenhang mit der zunehmenden Perspektivenlosigkeit und dem drohenden Dienst in der jugoslawischen Armee stellte die Migration ins Ausland für kosovo-albanische Männer eine Strategie dar, um dieser Situation zu entgehen (Schmitt 2008: 317). Rund 400 000 jüngere Männer migrierten in das mittel- und europäische Ausland, teilweise auch um zu studieren (ibid.: 317). Im Juni 1991 erklärten sich Slowenien und Kroatien für unabhängig, verbunden mit bewaffneten Auseinandersetzungen. In Slowenien dauerte der Krieg nur gerade zehn Tage (Calic 2014: 308). Der bewaffnete Widerstand ging jedoch zwischen bewaffneten Serben und kroatischen Sicherheitskräften in Kroatien weiter, wobei die Serben von der jugoslawischen Volksarmee unterstützt wurden (ibid.: 308). Diesmal scheiterten jedoch die Versuche der europäischen Gemeinschaft, einen Waffenstillstand auszuhandeln. Erst die Vermittlung des Sonderbeauftragten des UNO-Generalsekretärs im November und die Entsendung einer Blauhelmtruppe in die umkämpften Gebiete führten zu einem Rückzug der Volksarmee aus Kroatien (ibid.: 309-310). Die Anerkennung von Slowenien und

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Kroatien erfolgte zuerst durch Deutschland, bevor im Januar die anderen europäischen Staaten folgten (ibid.: 310). Im Dezember 1991 beantragten ebenfalls Bosnien-Herzegowina und Mazedonien die Anerkennung durch die Europäische Gemeinschaft (Calic 2014: 312). Am selben Tag als Bosnien-Herzegowina von der Europäischen Gemeinschaft als souveräner Staat anerkannt wurde, erklärten im Gegenzug die bosnischen Serben ihre Unabhängigkeit (ibid.: 312). Daraus entwickelte sich ein mehrere Jahre andauernder Krieg, bei dem die Streitkräfte der bosnischen Serben durch die jugoslawische Volksarmee unterstützt wurden (vgl. Calic 2014: 312). Während dem Krieg in Bosnien-Herzegowina fanden ethnische Säuberungen, bestehend aus Einschüchterungen, Diskriminierung, Internierung, Deportation, Folter und Massenmord statt, die vor allem die Zivilbevölkerung trafen (Calic 2014: 315). Im März 1994 konnten internationale Vermittler schliesslich die Kontrahenten auf ein gemeinsames Staatswesen verpflichten, der „Föderation BosnienHerzegowina“, womit der Krieg beendet wurde (Calic 2014: 314). Im Schatten des Bosnienkrieges spitzte sich die Situation in der Provinz von Kosovo zunehmend zu. Jedoch wurde an der Konferenz in Dayton im Herbst 1995, wo das Abkommen über die Zukunft Bosniens beschlossen wurde, die Kosovofrage nicht ernsthaft erörtert (Maliqi 2007: 131). Dies führte zu großer Unzufriedenheit der kosovo-albanischen Bevölkerung und zunehmender Kritik am Präsidenten Ibrahim Rugova, welcher sich für eine gewaltfreie Lösung einsetzte (ibid.: 131). Ein Jahr später, 1996 tauchte zum ersten Mal der Name UCK (Befreiungsarmee des Kosovos) auf, einer Geheimorganisation, welche mit zahlreichen Überfällen auf Polizeistationen und serbische Siedlungen auf sich aufmerksam machte (ibid.: 131). Die UCK intensivierte 1997 ihre Aktivitäten (ibid.: 132). Milosevic diente das Aufkommen des militanten Widerstandes als Vorwand, um massiv gegen die albanische Zivilbevölkerung vorzugehen (ibid.: 132). Im Oktober 1998 stellte die Nato ein Ultimatum an Milosevic, der darauf einige Einheiten aus dem Kosovo abziehen liess, aber die Vertreibung und Massaker an den Albaner_innen fortführte (ibid.: 133). Schliesslich begann die NATO im März 1999 mit Luftschlägen gegen Serbien und setzte diese Angriffe aus der Luft bis zur Unterzeichnung des Friedensplanes im Juni 1999 fort (Schmitt 2008: 336). Der Friedensplan wurde durch Milosevic und das Parlament in Belgrad angenommen und daraufhin die serbischen Streitkräfte aus der Provinz von Kosovo abgezogen (Melčić 2007: 133). Die ebenfalls im Juni 1999 verabschiedete Resolution 1244 durch den UNO-Sicherheitsrat bestätige die territoriale Unversehrtheit Jugoslawiens, sah aber gleichzeitig eine substantielle Autonomie für den Kosovo vor (Schmitt 2008: 336).

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Während dem Krieg flohen viele Menschen aus dem Kosovo oder wurden vertrieben. Der Höhepunkt der Fluchtbewegungen fand im März 1999 mit Beginn der Nato Angriffe statt (Seifert 2004: 174). Gemäß Schätzungen waren im Verlaufe des Krieges im Minimum 1,2 Millionen Kosovo-Albaner_innen auf der Flucht, wobei mindestens die Hälfte Kosovo verliess (ibid.: 174). Vertreibungen, Erfahrungen des Tötens und der Gewalt betrafen nahezu die gesamte Bevölkerung, schätzungsweise kamen 10 000 Menschen im Krieg ums Leben und rund 60 000 Häuser wurden zerstört (ibid.: 174). Internationalen Organisationen zufolge nahmen die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo ein ähnliches Ausmass an wie zuvor in Bosnien. Auch Vergewaltigungen wurden wie in Bosnien als Kriegs- und Vertreibungswaffe eingesetzt (ibid.: 174). Der Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen im Zuge des Zerfalls von Jugoslawien in den 1990er Jahren hatte Auswirkungen auf die jugoslawische Immigrationsbevölkerung in Westeuropa (Goeke 2011: 746). Während die Zahl der Migrant_innen aus Jugoslawien bis 1987 aufgrund der Rückkehrmigration stetig abnahm, stieg durch den Zerfall Jugoslawiens nebst dem Familiennachzug auch die Einreise von Flüchtlingen an und führte zu einer enormen Zunahme der jugoslawischen Bevölkerung im Ausland (ibid.: 746). In Deutschland wuchs beispielsweise die Zahl der jugoslawischen Bevölkerung von 551 600 Personen im Jahr 1987 auf knapp eine Million im Jahr 2004 (ibid.: 746). Die Unterschiede zwischen Arbeitsmigration und Fluchtmigration waren dabei fliessend, da viele Arbeitsmigrant_innen nun ihre Kinder während dem Krieg nach Deutschland holten, während andere Flüchtlinge den Weg der Arbeitsmigration nutzten, um dem Krieg zu entkommen (ibid.: 746). 5.1.6 Geschlossene Grenzen: Entwicklungen im Kosovo nach dem Krieg von 1998/99 Nach Beendigung des Krieges stand Kosovo unter der Zivilverwaltung der UNMIK (United Nations Mission im Kosovo) (Schmitt 2008: 336) basierend auf der UN-Resolution 1244 (vgl. auch Kramer/Džihić 2005: 22). Diese hatte gemeinsam mit der KFOR19 den Auftrag zur Errichtung einer Übergangsverwaltung,

                                                             19 KFOR (Kosovo Force) bezeichnet die im Auftrag der NATO geführte bewaffnete Truppe, basierend auf der UN Resolution 1244 (Kramer/Džihić 2005: 25). Diese hat mit dem Auftrag, die Sicherheit zu gewährleisten, damit vertriebene und geflüchtete Menschen zurückkehren, die internationale Friedensorganisationen arbeiten können und Humanitäre Hilfe ausgeliefert werden kann, eine transnationale Administration aufgebaut (ibid.: 25).

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des Aufbaus einer kosovarischen Verwaltung und der Ausarbeitung einer endgültigen völkerrechtlichen Klärung des Status von Kosovo (Schmitt 2008: 336). Gemäß Schmitt wurden durch die Präsenz der UN-Verwaltung viele Arbeitsplätze und damit eine Scheinkonjunktur geschaffen, da viele kosovarische Personen nun Arbeit als Angestellte, Übersetzer_innen und Fahrer fanden. Die eigentlichen Probleme von Kosovo, die Wirtschaftskrise, der Energiemangel, die Arbeitslosigkeit, ethnische Spannungen und Rechtsstaatlichkeit vermochte die UNMIK nicht wirklich zu verändern und scheiterte an den unklaren rechtlichen und politischen Vorgaben aus New York sowie den eigenen organisatorischen Schwächen20 (Schmitt 2008: 338). Kosovo hat seit 2001 ein eigenes Parlament, einen Präsidenten und eine Regierung mit Ministern (Schmitt 2008: 340). Im März 2002 wurde Ibrahim Rugova, Vertreter des jahrelangen gewaltfreien Widerstandes und der gemäßigten etablierten Partei LDK, zum ersten Präsidenten gewählt (Melčić 2007: 134). Nach dem Tod von Ibrahim Rugova im Jahr 2006 wurde Hashim Thaci Präsident, ein ehemaliger UCK-Kommandant (Schmitt 2008: 341). Dies bedeutete gemäß Schmitt eine tiefgreifende Machtverschiebung in der kosovo-albanischen Gesellschaft. Die alte, urbane Elite aus der jugoslawischen Zeit, die sich für einen friedlichen Widerstand eingesetzt hatte, wurde mit dem Tod von Rugova durch junge, kampferprobte und teilweise schlecht gebildete Männer aus ländlichen Gegenden und teilweise auch aus der Diaspora ersetzt (Schmitt 2008: 341). Die ehemaligen Kämpfer der UCK verdrängten viele Aspekte der Frauenemanzipation, die in der jugoslawischen Zeit erreicht worden waren (ibid.: 342). Ihre Übernahme der Macht stellte einen Rückschlag für die Modernisierung der kosovo-albanischen Gesellschaft dar (ibid.: 342). Im Februar 2008 erklärte das Parlament von Kosovo die Unabhängigkeit unter den Bedingungen des AhtisaariPlans (Sundhaussen 2014: 500)21. Eine Verfassung wurde angenommen, welche gemäß Rathfelder die Selbstverwaltung des Kosovo stärkt. Die Regierung übernahm die Verantwortung für das Erziehungssystem, die Verwaltung, die Pässe, die Organisation der Wahlen, die Sozialpolitik, die Renten und die Landesverteidigung (Rathfelder 2010: 404). Die Unabhängigkeit wurde von den USA, England, Frankreich, Deutschland und weiteren Ländern diplomatisch aner-

                                                             20 Da die UNMIK wenig Ergebnisse vorweisen konnte und mit Korruptions- und Prostitutionsvorwürfen in Verbindung gebracht wurde, lehnten viele Kosovo-Albaner_innen die UNMIK als „koloniale Herrschaft“ ab (Schmitt 2008: 337). 21 Der Ahtisaari-Plan konzipiert den Kosovo als multiethnischen, demokratischen und

dezentralisierten Rechtsstaat in 15 Artikeln, mit umfassenden Rechten für die Minderheiten des Landes (Sundhaussen 2014: 498).

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kannt, darunter auch der Schweiz (Bajrami 2013: 250). Hingegen weigerten sich Russland, China, Indien und die meisten lateinamerikanischen und afrikanischen Staaten, den Kosovo diplomatisch anzuerkennen (Rathfelder 2010: 404). Im Juni trat die neue Verfassung in Kraft und die Ablösung der UNMIK durch die EURechtsstaatsmission EULEX (European Union Rule of Law Mission in Kosovo) begann (Burri Sharani et al. 2010: 17). Jedoch wurde die UNMIK nicht vollständig abgezogen, da Russland im UNO Sicherheitsrat das Veto einlegte (ibid.: 2010: 17). Die Bildung eines funktionierenden kosovarischen Staates ist seither immer noch im Aufbau, in dem gemäß Sundhaussen (2014: 503) Nationalismus, Korruption, organisierte Kriminalität, Nepotismus, Misswirtschaft und soziale Ungleichheiten von Bedeutung sind. Eine weitere Herausforderung ist der Nordkosovo, wo seit der Unabhängigkeitserklärung eine diffuse Situation herrscht. Eine Zusammenarbeit mit den kosovarischen Behörden lehnt die dort lebende serbische Bevölkerung strikt ab und profitiert von administrativen und politischen Parallelstrukturen, die durch Belgrad finanziert werden (ibid.: 504). Seit März 2011 werden immer wieder Gespräche zwischen den Regierungen in Pristina und Belgrad geführt unter der Vermittlung der EU, wobei vor allem praktische Probleme im Zentrum stehen. Die Verhandlungen kommen nur wenig voran und werden immer wieder von Zwischenfällen überschattet (ibid. 2014: 504). Die wirtschaftliche Situation im Kosovo nach dem Krieg war katastrophal. Gemäß dem Bericht der Weltbank (2004: 5) war dies das Resultat fehlender Investitionen, internationaler Sanktionen, einer verfehlten Wirtschaftspolitik, anhaltender Inflation, abgebrochenen internationalen Handelsbeziehungen und Geldflüssen. Auch 5 Jahre nach dem Ende des Krieges lebte ein großer Teil der Bevölkerung in Armut, wobei große Unterschiede zwischen ländlichen und urbanen Regionen sowie bestimmten Gemeinden bestanden (Kramer/Džihić 2005: 135). Trotz des jährlichen Wirtschaftswachstums konnten bis heute nicht genügend Arbeitsstellen geschaffen werden, um die hohe Arbeitslosigkeit, insbesondere von jungen Erwachsenen (15 – 24 Jahre), zu reduzieren (World Bank 2004: 64). Diese beträgt für diese Bevölkerungsgruppe seit dem Jahr 2004 schätzungsweise 66.5 %, die gesamte durchschnittliche Arbeitslosigkeit beträgt je nach Berechnungsart seit 2004 bis 2012 zwischen 39.7 – 45.4 % (United Nations Development Programme 2014: 33, vgl. Kramer/Džihić 2005: 135). Insgesamt zählt die Arbeitslosenrate im Kosovo zu einer der höchsten in Europa, auch im Vergleich mit anderen südosteuropäischen Ländern, wobei junge Erwachsene, Frauen und Roma besonders betroffen sind (Kramer/Džihić 2005: 135). Die Unzufriedenheit mit der wirtschaftlich schlechten Situation führt dazu, dass viele, vor

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allem jüngere, Kosovar_innen den Wunsch äussern, das Land zu verlassen (ibid. 137). Der Wiederaufbau des Bildungssystems im Kosovo ist durch das in den 1990er Jahren de facto getrennte Bildungssystem mit großen Herausforderungen verbunden (Kramer/Džihić 2005: 108) und wurde nach dem Ende der Kriegsverhandlungen dem Verantwortungsbereich der UNMIK übergeben. Dabei wurde beschlossen, die aufgebauten Strukturen des kosovo-albanischen Schattenstaates aus den 1990er Jahren nicht zu übernehmen. Dies bedeutete den Aufbau eines ganz neuen Bildungssystems (ibid.: 109). Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass die jungen Menschen nach Abschluss des Studiums kaum Chancen auf einen Arbeitsplatz haben. Die hohe Arbeitslosigkeit der unter 24jährigen führt zu einer verstärkten Tendenz zur Auswanderung von bildungswilligen und relativ gut ausgebildeten jungen Menschen (ibid.: 2005: 113). Die Bedeutung der Familie nimmt im Kosovo nach dem Krieg auch im Kontext fehlender Ressourcen und institutionalisierter staatlicher Unterstützung wieder an Bedeutung zu (Blagojević 2013: 176). Damit sind Re-Traditionalisierungs-, Re-Patriarchalisierungs- und Re-Familiarisierungsprozesse feststellbar, die teilweise die begonnenen Modernisierungsprozesse von Familien und die Transformation von Geschlechterrollen verlangsamten oder rückgängig machten (ibid.: 175). Jedoch zeigen sich auch gegenläufige Tendenzen wie die Betonung von weiblicher Bildung und weiblicher Berufstätigkeit sowie einer geschlechtsspezifischen Thematisierung von Problemen (Seifert 2004: 199). So gibt es Hinweise darauf, dass sich die Geschlechterbeziehungen auch innerhalb der Familien verändert haben. Blagojević stellt fest, dass sich in Zusammenhang mit einem Rückgang der Geburtenraten die Familienformen verändern und es verstärkt zu innerfamilialen Aushandlungen von Geschlechterrollen kommt (Blagojević 2013: 176). Auch die entstandenen Netzwerke von Frauen-NGOs wie beispielsweise „Kosovo Women Network“, das aus mehr als 50 lokalen albanischen und serbischen Frauenorganisationen besteht, weisen darauf hin, dass sich selbstbewusste Frauen organisieren und die Dominanz der Männerstrukturen im politischen Bereich in Frage stellen (Kramer/Džihić 2005: 119). Die Diskussion von Geschlechternormen und Geschlechterrollen in der Nachkriegszeit wurde zudem auch durch die große Präsenz von internationalen Organisationen beeinflusst, welche durch ihre Mitarbeitenden vor Ort ein individualisiertes, neoliberales Identitätsmodell abgeben (Seifert 2004: 201). Dies führt zu teilweise widersprüchlichen und parallelen Prozessen von Modernisierung und ReTraditionalisierung. Insgesamt ist ein hohes Ausmass an sozialer Ungleichheit zwischen Männern und Frauen in den Bereichen Einkommen, Arbeitsmarkt und politischer Beteiligung festzustellen (Kramer/Džihić 2005: 118). So gehen

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durchschnittlich nur gerade 30.1% der Frauen einer bezahlten Beschäftigung nach, im Gegensatz zu 75.4 % der Männer (ibid.: 118). Das durchschnittliche Einkommen der Frauen beträgt pro Monat etwa 42 Euro im Gegensatz zu 136 Euro bei den Männern (ibid.: 118). Dabei sind jedoch große Unterschiede zwischen den verschiedenen Gemeinden sowie ethnischen Gruppen feststellbar. Insbesondere in urbanen Gebieten sind die Geschlechterdifferenzen kleiner als in ländlichen Gebieten (ibid.: 118). Nach dem Krieg kehrten viele ins Ausland geflohene Albaner_innen freiwillig oder unfreiwillig in den Kosovo zurück22. Zwischen Juni 1999 und Dezember 2012 waren es mehr als 200 000 Menschen. Der grösste Teil kam aus Deutschland (42.4 %) und der Schweiz (17.3 %) und war zwischen 18 – 34 Jahren alt (United Nations Development Programme 2014: 29). Gemäß einer Studie von Gashi/Adnett weisen insbesondere Personen mit engen familialen Beziehungen zu Kosovo, mit hohen Bildungsabschlüssen, sowie Personen, die aus ökonomischen Gründen ins Ausland migrierten, eine höhere Wahrscheinlichkeit einer Rückkehr in den Kosovo auf (Gashi/Adnett 2015: 73). Dies bestätigt auch der Human Development Report von 2014, der zum Schluss kommt, dass vor der Rückkehr in soziale Kompetenzen investiert und die Rückkehrenden deshalb oft gut ausbildet sind (Human Development Report 2014: 28). Der Bericht zeigt zudem auf, dass Rückkehrende im Vergleich zu der übrigen Bevölkerung besser im Arbeitsmarkt integriert sind und zugleich auch höhere Löhne erzielen als Personen mit vergleichbaren Ausbildungen ohne Migrationserfahrungen (ibid.: 28). Zugleich wurde die legale Einwanderung in die ehemaligen Destinationsländer wie die der EU und die Schweiz erheblich beschränkt. Da Kosovo weder EU-Mitglied ist noch zum Schengenraum gehört, wird für einen Aufenthalt in Deutschland oder der Schweiz ein Visum benötigt, das in der Regel auf 90 Tage pro Jahr beschränkt ist und keine Arbeitsbewilligung beinhaltet (Eidgenössisches Departement für auswärtige Angelegenheiten EDA 2016). Eine Arbeitsbewilligung in der Schweiz erfordert im Gegensatz zu der Zeit des zweiten Jugoslawiens heute einen Nachweis, dass niemand aus der Schweiz oder der EU/EFTA dieselbe Arbeit ausführen könnte und ist damit hochqualifizierten Personen vorbehalten. Eine Migration aus dem Kosovo in die Schweiz ist heute für die nicht

                                                             22 Die schweizerischen Behörden unterstützten die Rückkehr in den Kosovo mit einem Rückkehrhilfeprogramm (Burri Sharani et al. 2010: 31). Seit 1999 steht die Prüfung der Zumutbarkeit des Wegweisungsvollzuges im Vordergrund der schweizerischen Asylpraxis gegenüber Personen aus Kosovo und Kosovo gilt seit dem 1. April 2009 als verfolgungssicheres Land (ibid.: 32). Dies bedeutet, dass auf Asylgesuche von Kosovaren nicht mehr eingetreten wird, ausser bei Hinweisen auf Verfolgung in Einzelfällen (ibid.: 32).

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hochqualifizierte kosovarische Bevölkerung nur noch über den Familiennachzug möglich. Dies führt zu einer steigenden Bedeutung innerethnischer Eheschliessungen, da diese in Zusammenhang mit einer hohen Arbeitslosigkeit und einer zunehmenden Perspektivenlosigkeit im Kosovo gerade für junge Menschen praktisch den einzigen legalen Weg für eine Migration in die Schweiz darstellen. Auf die Bedeutung der Heiratsmigration als neuer Weg der Immigration in die EU weist auch Leutloff-Grandits (2015: 168) hin. Sie stellt dar, dass Personen der „zweiten Generation“ in Europa oft Partner_innen aus dem Kosovo heiraten. Durch die grenzüberschreitende Heirat vergrössert sich die geographische Distanz zu den Herkunftsfamilien, und damit verändert sich auch die Bedeutung des Heiratens. Dies kann einerseits einen Freiheitsgewinn darstellen, jedoch auch eine grössere Vulnerabilität in den neuen Gemeinschaften aufgrund der engen Verknüpfung des Aufenthaltsstatus mit der Ehe. Zudem stellt sie fest, dass Eltern oder Geschwister bei der Suche nach einer „guten“ Heiratspartnerin oder einem „guten“ Heiratspartner, der möglichst großen Erfolg bescheren soll, nach wie vor eine wichtige Rolle spielen und diese dadurch auch an den neuen familialen Netzwerken, die durch die transnationale Heirat entstehen, teilnehmen (LeutloffGrandits 2015:169). 5.1.7 Fazit: Arbeitsmigration aus jugoslawischer Perspektive An dieser Stelle wird die Migrationspolitik im ersten und zweiten Jugoslawien in Bezug auf soziokulturelle Grenzziehungsprozesse rekapituliert. Im ersten Jugoslawien stand die Migrationspolitik im Dienste der allgemeinen ethno-nationalen Politik, indem versucht wurde, mithilfe der Emigration unbeliebte Minderheiten loszuwerden und zugleich die Emigrant_innen der erwünschten „Nationalitäten“ stärker an sich zu binden. Damit wurden ethno-nationale Unterschiede betont und vermutlich auch zementiert. Die Versuche, die emotionale Anbindung der Mitglieder der erwünschten „Nationen“ im Ausland zu erhalten und damit eine dauerhafte Abwanderung zu verhindern, wurden im zweiten Jugoslawien wieder aufgenommen. Die Versuche des zweiten Jugoslawiens, die Bindung der Emigrantinnen mit Jugoslawien aufrechtzuerhalten, beruhte im Gegensatz zum ersten Jugoslawien nicht auf einer ethno-nationalen Politik, sondern stellte eine Strategie dar, um die Migrationspolitik mit der parteipolitischen Ideologie des sozialistischen Jugoslawischen Staates zu verbinden. Die sozialistische Ideologie der „Brüderlichkeit und Einheit“ (vgl. Calic 2014: 181) war eine politische Strategie, um die national-ethnisch-religiösen Differenzen innerhalb Jugoslawiens zu überwinden und eine Identifikation mit der jugoslawischen Staatsideologie zu fördern. Dies galt

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auch für die jugoslawischen Staatsangehörigen im Ausland, deren Identifizierung mit der jugoslawischen Politik gezielt durch spezifische Propaganda gefördert wurde. Zudem wurde durch die Betonung der Fürsorge des sozialistischen Staats für die „vorläufig im Ausland beschäftigen Arbeiter“ die staatlich unterstützte Emigration in kapitalistische Länder gerechtfertigt. Die Migrationspolitik wurde damit verbunden mit der nationalen, sozialistischen Parteipolitik Jugoslawiens mit dem Ziel der Schaffung einer jugoslawischen Identität als Überwindung ethnisch-religiöser Trennlinien und kann damit auch als Strategie von „undoing ethnicity“ resp. „doing nationality“ bezeichnet werden. Dazu diente auch die zeitliche Befristung der Arbeitsmigration und der Förderung der Rückkehr. Durch spezifische Propaganda in den Emigrationsdestinationen wurde versucht, die Identifikation mit dem jugoslawischen Staat aufrechtzuerhalten und eine „Assimilation“ in den Emigrationsländern zu verhindern. Gestärkt wurde diese Tendenz durch die Politik der Aufnahmeländer, welche die Arbeitsmigrant_innen als „Gastarbeiter“ bezeichneten und ebenfalls keine Integration wünschten. Die staatliche Migrationspolitik von Jugoslawien, welche auch den migrationspolitischen Interessen der Migrationsdestinationen entsprach, hat damit versucht, die Integration der Emigrant_innen im Ausland zu verhindern und damit soziokulturelle Grenzziehungen zwischen den jugoslawischen Emigrant_innen und den Gesellschaften in den Emigrationsdestination gefördert. Zugleich trug die staatlich geförderte Rückkehrorientierung insbesondere im Süden von Jugoslawien durch die temporäre Arbeitsmigration von mehrheitlich Männern zum Erhalt der Großfamilien und dem Fortbestehen einer patriarchalen Geschlechterordnung bei. Dabei waren jedoch auch die regionalen Unterschiede bedeutend, da in anderen Regionen die Arbeitsmigration auch im Zusammenhang mit der Auflösung der traditionellen Großfamilien und einer Veränderung von Geschlechterrollen stand, worauf auch der höhere Frauenanteil an der Arbeitsmigration bspw. in Slowenien hinweist. Die Migrationspolitik des zweiten Jugoslawischen Staates war zudem stark verknüpft mit wirtschaftlichen Interessen. Die Emigration wurde erlaubt und gefördert, um damit den eigenen Arbeitsmarkt zu entlasten. Gefördert wurde vor allem die Auswanderung unqualifizierter Arbeiter_innen. Die Fachkräfte sollten im Land bleiben oder möglichst rasch wieder aus dem Ausland zurückkehren. Der staatliche Einfluss blieb jedoch beschränkt, da die Emigrationsentscheide stärker durch lokale Netzwerke gesteuert und durch die Anwerbestrategien der Emigrationsdestinationen beeinflusst wurden. Die Unterscheidung in hoch- und weniger qualifizierte Arbeitskräfte trug deshalb kaum zu der Entstehung einer neuen Differenzlinie zwischen den unterschiedlich qualifizierten Arbeitskräften

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bei. Die gesellschaftliche Trennlinie befand sich aufgrund des großen Erfolges der Arbeitsmigration zwischen Familien mit und ohne Einkommen durch die Erwerbsarbeit im Ausland. Insbesondere in Regionen mit einem sehr hohen Emigrationsanteil führte die Arbeitsmigration zu einer Veränderung der Sozialstrukturen und einer „Kultur der Migration“ (vgl. Brunnbauer 2007: 123). Die dank der Arbeitsmigration im Herkunftsdorf realisierten Investitionen verhalfen Familien an Prestige und Status zu gewinnen, was zu einem erhöhten Konkurrenzdenken und einer Konsumorientierung führte. Zugleich wurde damit in Zusammenhang mit einer hohen Arbeitslosigkeit Bildung als Möglichkeit für die Realisierung von sozialem Aufstieg entwertet. Die Arbeitsmigration ins Ausland brachte damit grössere Veränderungen für die Bevölkerung auf dem Lande als die Industrialisierungs- und Modernisierungsbestrebungen der jugoslawischen Regierung. Der Zerfall von Jugoslawien brachte nicht nur eine Vielzahl von Kleinstaaten mit teilweise andauernden ethno-nationalen Spannungen hervor, sondern zugleich auch eine total veränderte Situation in Bezug auf Migrationsmöglichkeiten. Aufgrund der Einschränkungen der Emigrationsmöglichkeiten aus Kosovo gewinnt die Heiratsmigration für Kosovo-Albaner_innen an Bedeutung, um die EU-Grenzen zu überwinden und kann auch als Bekenntnis zu familialen kosovarischen Werten und Traditionen eingestuft werden (vgl. Leutloff-Grandits 2015: 163). Dies deutet daraufhin, dass die Migrationsbeschränkungen die Bedeutung ethnischer und familialer Werte und Traditionen bestärkt und damit möglicherweise zur Bildung ethnischer Grenzziehungen in den Emigrationsländern beiträgt. Im folgenden Kapitel wird nun die Perspektive gewechselt und Migrationsbewegungen zwischen Jugoslawien und der Schweiz im Zusammenhang mit der schweizerischen Migrationspolitik betrachtet. Auch hier wird als Fazit dargestellt, wie die Migrationspolitik zu der Bildung ethnischer Grenzziehungen beitrug.

5.2 MIGRATIONSPROZESSE ZWISCHEN DER SCHWEIZ UND JUGOSLAWIEN AUS DER PERSPEKTIVE DER SCHWEIZERISCHEN MIGRATIONSPOLITIK Das folgende Kapitel zeigt die Veränderungen der schweizerischen Migrationspolitik gegenüber Personen aus dem damaligen Jugoslawien und Kosovo auf. Es wird dabei ersichtlich, dass die jugoslawische Migrationspolitik der „vorüberge-

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hend im Ausland Beschäftigten“ auch den Interessen der schweizerischen Migrationspolitik entsprachen. 5.2.1 Reversible und provisorische Einwanderung: die „Gastarbeiter_innenmigration“ (1948 – 1990) Die Migrationspolitik der Schweiz wurde 1931 erstmals auf Bundesebene in einem Gesetz geregelt (Piguet 2006: 20). Das Bundesgesetz über den Aufenthalt und die Niederlassung von Ausländern (ANAG) enthielt einerseits ein flexibles System der Niederlassung wie etwa die Saisonnier-Bewilligung (Ausweis A23) die Jahresaufenthaltsbewilligung (Ausweis B) oder die Niederlassungsbewilligung (Ausweis C) (ibid.: 20). Andererseits wurde darin festgehalten, dass für die Zuwanderung die moralischen und wirtschaftlichen Interessen der Schweiz zu berücksichtigen sind, insbesondere auch der Grad der „Überfremdung“ (D’Amato 2008: 179). Damit wurde die Grundlage erstellt für eine reversible und provisorische Einwanderung (Piguet 2006: 20). Die schweizerische Wirtschaft zeichnete sich nach dem Zweiten Weltkrieg inmitten des kriegszerstörten Europas durch eine ungewöhnlich lange Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs aus, der bis 1974 andauerte (Vuilleumier 2011: 101). Dies führte zu einer anhaltenden großen Nachfrage nach Arbeitskräften und einem Anstieg der Löhne. Industrielle Arbeitgeber begannen, ausländische Arbeiter_innen zu rekrutieren mit der Absicht, diese Entwicklung zu stoppen und Kosten zu sparen (ibid.: 101). Die Politik setzte auf die Rotation ausländischer Arbeitskräfte, also auf eine kontinuierliche Ersetzung der Migrant_innen durch neue, anzulernende Arbeiter_innen, damit diese nicht sesshaft werden konnten, um einerseits diesem Bedarf zu entsprechen und zugleich auch eine „Überfremdung des Landes“ zu verhindern (Piguet 2006: 20). Damit sich die Migrant_innen nicht dauerhaft niederlassen konnten, wurde nach 1945 die erforderliche Dauer des Aufenthalts für das Anrecht auf eine längerfristige Niederlassung von fünf auf zehn Jahre verlängert (D’Amato 2008: 179). Zudem wurden auch die Bedingungen für die Familienzusammenführung restriktiver gehandhabt und für Personen mit der Bewilligung A (Saisonnier) ganz ausgeschlossen (ibid.: 179). Zu Beginn des Einsatzes erhielten deshalb Arbeiter_innen die Arbeitsbewilligung nur für die Dauer eines Jahres, die verlängert werden konnte (ibid.: 179). Dieser Typ der Migration wurde als „Gastarbeitermigration“24 be-

                                                             23 Die Bewilligung A berechtigte zu einem neunmonatigen Aufenthalt (Piguet 2006: 18) 24 Der Begriff „Gastarbeiter“ ist in Deutschland und in der Schweiz gebräuchlich und bezieht sich auf den temporären Charakter der Migration, womit impliziert wird, dass

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zeichnet, um damit den temporären Charakter der Migration zu betonen (Piguet 2006: 21). 1948 wurde mit Italien das erste Rekrutierungsabkommen abgeschlossen, das dieser Konzeption entsprach (Piguet 2006: 21). Um die Herkunft der Arbeitskräfte zu diversifizieren, wurde 1961 ein neues Abkommen über die Arbeitsmigration mit Spanien unterzeichnet (ibid.: 22). Dieses Abkommen entsprach zudem auch dem Ziel, die zunehmenden Forderungen der italienischen Arbeiter_innen durch eine erhöhte Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt zu schwächen (ibid.: 22). In den 1960er Jahren begann die Rekrutierung von jugoslawischen und portugiesischen „Gastarbeiter_innen“ (Mahnig/Piguet 2003: 90) Die ersten albanischen „Gastarbeiter_innen“ sind 1965/66 in Genf nachzuweisen, die von Unternehmen offenbar direkt in Gjilan, einer Kleinstadt in der Provinz Kosovo, rekrutiert wurden (Von Aarburg/Gretler 2011: 20). Anwerbungen von sogenannten Kosovo-Albaner_innen wurden auch durch den schweizerischen Bauernverband durchgeführt für Beschäftigungen in der Landwirtschaft, woraus eine Kettenmigration in die Schweiz entstand (Schmitt 2008: 284). Allerdings ist anzumerken, dass Aussagen zu der genaueren Herkunft der Arbeiter_innen aus dem damaligen Jugoslawien schwierig sind, da die ausländischen Arbeiter_innen nicht nach ethnischen Zugehörigkeiten differenziert wurden. Sämtliche Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden in den amtlichen Statistiken bis 1998 als „Jugoslawen" bezeichnet (Burri Sharani et al 2010: 26)25. Ebenso wenig unterschieden die jugoslawischen Behörden im Austausch mit

                                                                                                                                eine Integration dieser ausländischen Arbeiter_innen in die nationale Gemeinschaft nicht erwünscht ist (vgl. Piguet 2006:21, Novinšćak 2009: 121). Der Begriff „Gastarbeiter“ ist zudem nur in der männlichen Form gebräuchlich, obwohl ab 1949 weiblichen Arbeitskräfte für den häuslichen Bereich, in der Textil- und Lebensmittelbranche rekrutiert wurden und bis 1959 die Zahl der weiblichen Arbeitskräfte bei der nicht saisonalen Immigration sogar höher ist als die der Männer (Piguet 2006: 19). Dies steht in Zusammenhang mit der öffentlichen Wahrnehmung: die Arbeitsmigration wurde als eine typische männliche Migrationsform betrachtet. Zudem waren durch die Arbeit im Bausektor und im Gastgewerbe die Männer sichtbarer als die Frauen (vgl. Juhasz/Mey 2003: 20-21). Aufgrund dieser zugeschriebenen Bedeutung wird der Begriff hier stets in Anführungszeichen verwendet sowie mit der Bezeichnung _innen, um damit zu kennzeichnen, dass diese temporäre Arbeitsmigrationsform auch Frauen umfasste. 25 Personen aus Kosovo wurden von 1998 bis 2005 zu der Kategorie „Serbien und Montenegro“ gezählt und bis 2008 als „Serben“ (vgl. Burri Sharani et al 2010: 26).

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Schweizerischen Organisationen ethnische Gruppen26 (Von Aarburg/Gretler 2011: 29). Im Zusammenhang mit der fremdenfeindlichen Schwarzenbach-Initiative von 196927, welche knapp abgelehnt wurde, erfuhr die Schweizer Migrationspolitik gemäß Mahnig/Piguet einen Wendepunkt. 1970 führte der Bundesrat per Verordnung eine Jahresquote für die Zulassung neuer Arbeitskräfte ein, auf der Basis der Anzahl der Arbeitskräfte, die die Schweiz verlassen haben. Damit griff der Staat erstmals in das freie Spiel des Arbeitsmarktes ein (Mahnig/Piguet 2003: 79). Um diese Verordnung umzusetzen und die Zulassungsquote der Arbeitskräfte bestimmen zu können, wurde 1973 ein bundesweites Zentralregister eingeführt, in dem sämtliche Ausländer_innen, die über eine SaisonnierBewilligung, eine Jahresaufenthaltsbewilligung oder eine Niederlassung verfügten, registriert wurden (ibid.: 80). Dank der Beschränkung der Bewilligungen gelang es der Schweiz, im Gegensatz zu den europäischen Nachbarländern, den krisenbedingten Konjunkturschock nach der Ölkrise von 1973 auf die ausländischen Arbeitskräfte abzuwälzen und die Zahl der ausländischen Bevölkerung zu verkleinern (ibid.: 85). In der Industrie wurden gemäß Piguet zwischen 1974 und 1977 insgesamt 15.8 % der Arbeitsplätze abgebaut. Rund 67% der abgebauten Stellen betrafen ausländische Arbeitskräfte (Piguet 2006: 43). Da ausländische Arbeitnehmer_innen eine Stelle benötigten, um ihre Aufenthaltsbewilligung zu verlängern, bedeutete der Verlust ihres Arbeitsplatzes für sie zugleich die Rückkehr in die Heimat (ibid: 43). Gemäß Von Aarburg/Gretler (2011: 22) arbeiteten seit den 1970er Jahren stets mehrere zehntausend jugoslawische „Gastarbeiter_innen“ in der Schweiz mit zeitlich limitierten Aufenthaltsbewilligungen (Saisonnier Bewilligung A oder Jahresaufenthaltsbewilligung B). Die Zahl der Saisonnier Bewilligungen aus

                                                             26 Anhand von der Sprache und der Religionszugehörigkeit kann versucht werden, Rückschlüsse auf die ethnische Zugehörigkeit zu ziehen (Von Aarburg/Gretler 2011:21). In der Volkszählung im Jahr 2000 gaben rund 95.000 Personen Albanisch als ihre wichtigste Sprache an von insgesamt 360.000 erfassten ausländischen Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien, also rund ein Viertel (Von Aarburg/Gretler 2011: 33). Diese Zahlen sind allerdings nicht repräsentativ, da nur Personen erfasst wurden, die eine Nicht-Landessprache als Hauptsprache angaben. Sprachlich gut integrierte Personen sowie eingebürgerte Personen und deren Nachkommen wurden gar nicht erfasst (Von Aarburg/Gretler 2011: 34). 27 Die Initiative wurde benannt nach dem Mann, der die treibende Kraft hinter dieser Initiative war. Ziel war eine Begrenzung des Ausländeranteils pro Kanton auf Maximum 10 % (Mahnig/Piguet 2003: 77).

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dem damaligen Jugoslawien stieg seit 1974 laufend an. 1980 wurden zum ersten Mal über 40 000 Bewilligungen erteilt (ibid.: 23). Dieser Anstieg stand im Zusammenhang mit dem Rückgang italienischer Saisonniers, der Ende der 1960er Jahre begonnen hatte. Nach einer anfänglichen Skepsis von Arbeitgebern und Behörden gegenüber Arbeiter_innen aus einem sozialistischen Land (man befürchtete klassenkämpferisches Verhalten), stellten immer mehr Unternehmen vor allem im Niedriglohnbereich Saisonniers aus Jugoslawien ein (ibid.: 25-26). In den ersten Jahren der Arbeitsmigration aus Jugoslawien wurden die Arbeiter_innen von Mitarbeitenden des jugoslawischen Konsulates unterstützt, welche sich nach der korrekten Behandlung und Bezahlung ihrer Landsleute erkundigten (ibid.: 25). Im Verlaufe der Jahre liess diese Unterstützung jedoch nach. Dies führte zu einer Ungleichbehandlung zwischen Staatsangehörigen aus Jugoslawien und Arbeiter_innen aus Italien und Spanien, welche durch den Einsatz ihrer Regierungen die Erlaubnis für den Familiennachzug erhielten sowie einen Rechtsanspruch auf den Erwerb einer dauerhaften Niederlassungsbewilligung durchsetzen konnten (ibid.: 26). 5.2.2 Kulturelle Nähe und Distanz: Das Drei-Kreise-Modell von 1990 In den 1990er Jahre führten gemäß Mahnig/Piguet verschiedene Veränderungen dazu, dass die Ziele der Kontingentierungspolitik, welche sowohl eine Stabilisierung der ausländischen Bevölkerung wie auch eine wirtschaftliche Flexibilität verfolgte, nicht mehr miteinander verbunden werden konnten (Mahnig/Piguet 2003: 93). Erstens wurde aufgrund einer Abnahme von Rekrutierungskandidat_innen die Verbesserung der Aufenthaltsbedingungen auf spanische und portugiesische Staatsbürger_innen ausgedehnt. Dies führte zu einer Abnahme der Jahresausweise zugunsten von Niederlassungsbewilligungen und schränkte damit die Steuerungsmöglichkeiten der Regierung ein. Zudem nahm durch den nun erlaubten Familiennachzug auch die Einwanderung von nicht berufstätigen Personen zu, welche nicht der Kontingentierung unterlag. Zweitens fand im Kontext des Wandels der internationalen Politik und der zunehmenden Isolation der Schweiz eine Diskussion um die EWR-Abstimmung statt. Dabei stand das Thema der freien Personenfreizügigkeit im Zentrum der politischen Debatte und wurde als Hinweis gedeutet, dass fremdenfeindliche Kräfte in der Bevölkerung wieder im Auftrieb waren (Mahnig/Piguet 2003: 92-93). Um einerseits die von der Wirtschaft gewünschte Liberalisierung zu erreichen, zugleich jedoch auch die Ängste der Bevölkerung vor einer „Überfremdung“ zu berücksichtigen, führte die Schweiz 1991 eine neue Migrationspolitik, das „Drei-Kreise-Modell“, ein,

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das zugleich auch eine Annäherung an die Europäische Gemeinschaft berücksichtigte (Piguet 2006: 71): Zum innersten Kreis wurden Staaten der Europäischen Gemeinschaft (EG) und der EFTA gezählt. Ziel dieses Kreises war eine schrittweise Liberalisierung und Realisierung des freien Personenverkehrs. Zum zweiten Kreis gehörten die Länder der traditionellen Rekrutierungsgebiete, die außerhalb der EG und EFTA lagen wie die USA und Kanada. Mit diesen Ländern wurde eine Vereinfachung von administrativen Prozessen, eine Verbesserung der Rechtsstellung und eine Unterstützung der beruflichen Weiterbildung angestrebt. Zum äusserten Kreis gehörten jene Länder, aus denen überhaupt keine Migrant_innen zuglassen werden sollten, ausser in Ausnahmefällen hoch qualifizierte Fachkräfte (Piguet 2006: 72). Gemäß Piguet (2006: 72) wurde die Einteilung der Länder in diese drei Kreise mit dem Kriterium der „kulturellen Distanz“ begründet. Dies beruhte auf der Vorstellung, dass die Überfremdungsängste der Bevölkerung nicht auf der Anzahl der Immigrant_innen basierte, sondern durch die „kulturelle Distanz“ zwischen Einheimischen und Migrant_innen geweckt wurde (ibid.: 72). Dieses Kriterium wurde von der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus (EKR) 1996 als Diskriminierung und Verstoss gegen die UNO-Konvention gegen Rassendiskriminierung beurteilt (ibid.: 76). Die Regierung wies die Kritik der Kommission jedoch zurück und hielt am bestehenden Modell fest (ibid.: 77). Obwohl Jugoslawien bereits seit den 1960er Jahren ein traditionelles Rekrutierungsland war, wurde es im September 1991 dem dritten Kreis zugeordnet (Piguet 2006: 72). Begründet wurde diese Entscheidung mit der schlechten Menschenrechtslage in Jugoslawien, die zu einer Vermischung zwischen wirtschaftlicher Immigration und Asyl führen könnte, die man klar getrennt behalten wollte (ibid.: 72). In der Folge davon wurden Personen aus Jugoslawien allmählich von der Saisonarbeit ausgeschlossen, was mehr als 50 000 Personen betraf (ibid.: 74). In Zusammenhang mit der drohenden Verschärfung der schweizerischen Migrationspolitik sowie der sich zugespitzten Lage in Jugoslawien Anfang der 1990er Jahre nahm gemäß Von Aarburg/Gretler (2011: 23) die Umwandlung von Saisonnier-Bewilligungen in Jahresbewilligungen laufend zu. Dafür waren die Arbeiter_innen auf die Arbeitgeber angewiesen, da die Umwandlung einerseits von der Anzahl vollständiger Monate als Saisonnier sowie auch dem Vorliegen eines mehr als einjährigen Arbeitsvertrages abhing. Auch die kantonale Fremdenpolizei hatte einen gewissen Ermessensspielraum betreffend der Berechnung der notwendigen Monate für die Erteilung der Jahresbewilligung, da gemäß dem Ausländergesetz von 1931 der „Grad der Überfremdung des Lan-

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des“ bei der Erteilung von Niederlassungsbewilligungen zu berücksichtigen war (ibid.: 24). Im Jahr 1994 wurden die Möglichkeit der Erneuerung der Saisonnier Bewilligung und die Umwandlung in eine Aufenthaltsbewilligung für alle Staatsangehörigen des zweiten und dritten Kreises ganz beendet (Piguet 2006: 74). Gemäß Piguet bedeutete dies für zahlreiche Saisonniers aus dem damaligen Jugoslawien, welche die erforderliche Anzahl Saisonaufenthalte nicht vorweisen konnten, ein Ende des Aufenthaltes in der Schweiz. In der Folge nahm die Zahl der Aufenthaltsbewilligungen, welche an erwerbstätige Jugoslaw_innen erteilt wurden, nach 1994 stark ab. Parallel zu dieser Massnahme stieg nun die Zahl humanitärer Aufnahmen und Familienzusammenführungen an (Piguet 2006: 74). Grund dafür war die Furcht der Immigrant_innen vor weiteren Einwanderungsbeschränkungen (ibid.: 74) sowie auch der beginnende gewaltsame Zerfall von Jugoslawien. 5.2.3 Ablösung der Arbeitsmigration durch Asylmigration während der Kriege (1990 – 1999) Die Asylmigration aus Jugoslawien begann in der Schweiz in den 1980er Jahren mit rund 100 Asylgesuchen pro Jahr (Burri Sharani et al 2010: 29). Diese nahm ab 1988 im Zusammenhang mit dem sich androhenden gewaltsamen Zerfall von Jugoslawien deutlich zu, während die Zahl der Einreise von Erwerbstätigen sank. Im Zusammenhang mit dem Krieg im Norden von Jugoslawien entzogen sich zudem viele junge kosovarische Männer dem Einzug in die kriegsführende jugoslawische Armee (Burri Sharani et al 2010: 30). Allerdings blieb 1992 der erwartete Anstieg an Asylgesuchen im Kontext des Krieges in Kroatien aus, was auf die Verschärfung der schweizerischen Asylpolitik von 1990 zurückzuführen ist (Piguet 2006: 98). Die restriktive schweizerische Asylpolitik bewirkte eine Umlenkung auf die Nachbarländer. Während in der Schweiz die Zahl der Asylgesuche zwischen 1991 und 1992 trotz des Krieges in Kroatien abnahm, stiegen die Asylgesuche in den europäischen Nachbarländern von 1988 bis 1991 drastisch an (ibid.: 99). In den Jahren 1998/1999 wurden in der Schweiz fast 50 000 Asylgesuche von Kosovar_innen registriert. Viele erhielten eine vorläufige Aufnahme und mussten nach dem Ende des Krieges im Sommer 1999 die Schweiz wieder verlassen (Burri Sharani et al. 2010: 31).

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5.2.4 Öffnung und Beschränkung: das Zwei-Kreise-Modell ab 1998 Die Einwanderungspolitik des Drei-Kreise-Modelles wurde zunehmend auch von Unternehmern kritisiert, die sich Zugang zu gut qualifiziertem Personal wünschten (Mahnig/Piguet 2003: 100). Mehrere wissenschaftliche Studien stützten ihr Argument, dass die Immigration von schlecht qualifizierten Arbeitskräften auf lange Frist den nationalen wirtschaftlichen Interessen schade (ibid.: 100). Als Antwort darauf setzte der Bundesrat erneut eine Expertenkommission ein. Basierend auf deren Ergebnisse wurde 1998 das „Drei-Kreis-Modell“ zugunsten eines Modelles von zwei Kreisen aufgegeben, das sowohl die Bedürfnisse der Wirtschaft nach einer quotenfreien Rekrutierung im EU-Raum wie auch die Eindämmung der Fremdenfeindlichkeit ermöglichen sollte, da davon ausgegangen wurde, dass europäische Arbeitskräfte in der Schweiz keine fremdenfeindlichen Reaktionen auslösen (ibid.: 101). Seither hat sich die Migrationspolitik nur wenig verändert. Das Zwei-Kreise-Modell fand seine Fortsetzung 2002 mit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens zwischen der Schweiz und der EU. Dies bedeutet, dass für EU/EFTA-Bürger das neue Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer (AuG; SR 142.20) von 2005 nicht gilt, sondern nur auf Personen aus nicht EU/EFTA-Ländern angewendet werden kann (Piguet 2006: 145). Seit 2008 ist die Schweiz zudem assoziiertes Mitglied von Schengen, was den freien Personenverkehr zwischen der Schweiz und der EU durch die Aufhebung von Personenkontrollen an den Binnengrenzen erleichtert (Staatssekretariat für Migration SEM 2016). Das System der zwei Kreise wirkte sich unterschiedlich auf die verschiedenen Nachfolgestaaten Jugoslawiens aus. Da Slowenien seit 2004 EU-Mitglied und seit 2007 zum Schengenraum gehört, können slowenische Staatsbürger_innen von der freien Personenfreizügigkeit innerhalb der EU/EFTA und damit auch der Schweiz profitieren. Dies gilt ebenfalls für Personen aus Kroatien, das 2013 ebenfalls der EU beigetreten ist. Jedoch gelten für diese Personen noch die Grenzkontrollen, da Kroatien (noch) nicht Teil des Schengenraumes ist. Für die meisten Staatsangehörigen der anderen Länder des ehemaligen Jugoslawiens wie Mazedonien, Montenegro und Serbien wurde Ende 2009 die Visumspflicht für Aufenthalte im Schengenraum von bis zu 90 Tagen aufgehoben (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD 2009). Diese Visumsbefreiung wurde Ende 2010 auf Staatsangehörige von Albanien sowie Bosnien und Herzegowina ausgedehnt. Für Staatsangehörige von Kosovo gilt jedoch weiterhin die Visumspflicht, auch wenn sie Inhaber eines serbischen Passes sind (vgl. Rathfelder 2010: 419).

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Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass sich die Migrationspolitik der Schweiz seit den 1960er Jahren für die Bevölkerung aus dem ehemaligen Jugoslawien stark verändert hat. Bis zur Einführung des 3- Kreis-Modelles in den 1990er Jahren konnten Personen aus Jugoslawien visumsfrei einreisen und waren beliebte „Gastarbeiter_innen“. Seit damals sind die Möglichkeiten für einen legalen Aufenthalt über den Arbeitsweg wie auch via Asylprozess zunehmend eingeschränkt. Seit 1994 erhalten nur noch hochqualifizierte Personen aus NichtEU-Ländern eine Arbeitsbewilligung. Dies betrifft bis heute die Nachfolgestaaten von Jugoslawien, die nicht EU Mitglieder sind. Für Personen aus dem Kosovo ist seit 2009 auch eine Asylmigration nicht mehr möglich, da der Kosovo von der Schweiz als „safe country“ eingestuft wird. Auch die Reisemöglichkeiten sind für Personen mit einem kosovarischen Pass stark eingeschränkt, da selbst für kürzere Aufenthalte im Schengenraum ein Visum erforderlich ist. Die zunehmende Einschränkung der Möglichkeiten einer Migration in die Schweiz hat dazu geführt, dass illegale Migrationsprozesse und Heiratsmigrationen gestärkt wurden (Dahinden 2009: 262). Im folgenden Kapitel wird die Migrationspolitik der Schweiz betreffend der Migration aus dem ehemaligen Jugoslawien und Kosovo zusammenfassend in Bezug auf die Produktion und Transformation von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen dargestellt. 5.2.5 Fazit: Migrationspolitik als Verstärkung soziokultureller Grenzziehungen in der Schweiz Basierend auf der geschichtlichen Darstellung der schweizerischen Migrationspolitik kann zusammenfassend festgehalten werden, dass sich die Wirkung von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen gegenüber kosovo-albanischen Personen in der Schweiz an drei zentrale Aspekten zeigt: Erstens die Auswirkung der saisonalen „Gastarbeiter_innenmigration“ in Bezug auf die sozio-ökonomische Stellung und zweitens die Zuteilung von Jugoslawien zum zweiten resp. dritten Kreis und das damit verbundene Argument der sogenannten „kulturellen Distanz“ und damit verbunden die geschlossenen Grenzen. Dazu kamen drittens negative Zuschreibungen in Bezug auf den Asylstatus und kürzlich auch aufgrund der religiösen Zugehörigkeit, die mit vergeschlechtlichten Stereotypisierungen verwoben ist (vgl. Duemmler 2015: 148). Durch die saisonale „Gastarbeiter_innenmigration“ in den 1960er Jahren fanden fast ausschliesslich Männer ohne Familien in der Schweiz in der Landwirtschaft, im Bau- und im Hotelgewerbe eine Anstellung und waren durch die unqualifizierte Arbeit im unteren Lohnsektor ganz unten in der sozialen Hierar-

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chie der schweizerischen Gesellschaft platziert (Duemmler 2015: 141). Während die Arbeitsmigrant_innen im Herkunftsland durch ihre im Vergleich zu Jugoslawien sehr hohen Erwerbseinkommen an sozialem Status und Prestige gewinnen konnten, befanden sie sich im Ausland oft unter prekären Arbeitsbedingungen. Dies bestärkte vermutlich die Rückkehrorientierung der „Gastarbeiter_innen“ sowie die Tendenz, die Familien im Herkunftsland zurückzulassen und damit auch die Segregation zwischen der schweizerischen Bevölkerung und den „Gastarbeiter_innen“. Die auf Rotation der ausländischen Arbeiter ausgerichtete schweizerische Migrationspolitik verstärkte diese Tendenz durch die saisonalen Arbeitsbewilligungen und das damit verbundene Verbot des Familiennachzuges. Aufgrund der Platzierung im unteren Lohnsektor gelang den wenigsten Migrant_innen ein beruflicher Aufstieg in der Schweiz, da ihre Möglichkeiten zur Weiterqualifikation in diesen Sektoren stark eingeschränkt waren. Sie waren deshalb auch besonders betroffen von globalen Restrukturierungen und der Rezession auf dem Arbeitsmarkt in den 1990er Jahren, wo viele Migrant_innen ihren Arbeitsplatz verloren (Duemmler 2015: 141). Dadurch wurden viele von der Schweizerischen Bevölkerung zunehmend als soziale Last empfunden. Die Zuordnung zu der untersten sozialen „Schicht“ wird häufig auch damit begründet, dass es sich dabei (vermeintlich) um Männer „aus bildungsfernen und armen Regionen“ handelte (ibid.: 141). Dabei ging vergessen, dass mit der zunehmenden Krise in Jugoslawien jedoch auch viele Männer als Saisonniers mit einer angefangenen oder abgeschlossenen akademischen Ausbildung in die Schweiz kamen (Von Aarburg/Gretler 2011: 52, vgl. Goeke 2007: 134), die jedoch kaum in Verbindung gebracht wurden mit jugoslawischen „Gastarbeiter_innen“. Diese Zuordnung wurde auch genutzt, um interne Barrieren beim Erwerb von Bildung und Zugang zu Arbeit auch für die nachfolgende Generation zu rechtfertigen (vgl. Duemmler 2015: 142). Soziokulturelle Grenzziehungen wurden durch die Migrationspolitik der Schweiz durch die Zuordnung von Jugoslawien zu dem dritten Kreis, die ethnokulturell begründet wurde, verstärkt (Duemmler 2015: 141). Die Einführung des Drei-Kreise-Modells in den 1990er Jahre förderte eine Unterscheidung zwischen „europäischen“ und anderen Migrant_innen, basierend auf dem Argument der „kulturellen Distanz“ (Dahinden 2014: 11). Die Zuordnung von Jugoslawien zum aussereuropäischen, dritten Kreis führte zu einer Betonung der „kulturellen Unterschiede“ zwischen Staatsangehörigen der EU/EFTA und Personen aus Jugoslawien. Obwohl Jugoslawien ein traditionelles Rekrutierungsland war, galten jugoslawische Staatsbürger_innen nun als „kulturfremd“ (Dahinden 2009: 261). Dieses Bild wurde in der öffentlichen Wahrnehmung verstärkt durch die Beschreibung der „Gastarbeiter“ als ungebildete junge Männer, welche aus unter-

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entwickelten ländlichen Regionen stammen. Entgegen dieser weitverbreiteten Annahme stellt Goeke (2007: 134) dar, dass die Volkszählungen von 1971, 1981 und 1991 in Jugoslawien auf eine positive Selektion der Mittelschicht (mittlere Bildungsabschlüsse und Berufe) bei den Migrationsprozessen hinweisen. Durch die Zuteilung von Jugoslawien zum dritten Kreis wurden die ehemaligen „Gastarbeiter_innen“ aus dem Jugoslawien zu unerwünschten Migrant_innen und mit dem Begriff „Jugo“ bezeichnet, der zu einem Schimpfwort wurde (Schader 2006: 29). und damit mit zunehmenden internen und externen Barrieren beim Erwerb von Bildung, Arbeit, Staatsbürgerschaft, Wohnraum etc. konfrontiert (Dahinden 2009: 264, Duemmler 2015: 142) Im Zusammenhang mit dem gewaltsamen Zerfall von Jugoslawien und der steigenden Asylgesuchzahlen entstand in den 1980er Jahren eine negative Einstellung gegenüber Asylsuchenden trotz der hohen Solidarität gegenüber der massenhaften Auswanderung während dem Kosovokrieg (Burri Sharani et al 2010: 41). Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien wurden abschätzig als „Asylanten“ bezeichnet und in Verbindung gebracht mit der Drogenproblematik, da im schweizerischen Drogenhandel Netzwerke aus Albanien eine wichtige Funktion einnahmen (ibid.: 41). Dadurch verstärkte sich das negative Image gegenüber Kosovo-Albanern insbesondere in der Deutschschweiz, die eine starke Zuwanderung durch Familiennachzug aus dieser Region verzeichnete (Burri Sharani et al 2010: 41). In den Medien tauchten nun zunehmend emotional geführte migrationspolitische Debatten auf, in denen die albanischen Einwanderer aus dem damaligen Jugoslawien in Verbindung gebracht wurden mit Schlagwörtern wie Drogendealer, Gewalt, Kriminalität, Machos, patriarchalen Kultur- und Familienstrukturen, Asylmissbrauch und Arbeitslosigkeit (Duemmler 2015: 141, Dahinden 2009: 13f). Die Zuschreibungen erhielten zudem auch geschlechtsspezifische Unterscheidungen. So wurden männliche Jugendliche mit den Stereotypen von „gewaltbereiten Balkan-Macho“ oder „Raser“ verbunden, hingegen weibliche Jugendliche mit dem stereotypen Bild von hilflosen Opfern von traditionell patriarchalen und vermeintlich islamisch geprägten Geschlechterrollen (Burri Sharani et al 2010: 41). Diese soziokulturellen Grenzziehungsprozesse haben bis heute nicht an Bedeutung verloren und zeigen sich am niedrigen sozio-ökonomischen Status sowie der hohen Arbeitslosigkeit und ökonomischen Marginalisierung von albanischen Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich mit anderen Bevölkerungsgruppen (Duemmler 2015: 142, Piguet 2006, Fibbi et al 2005: 120) und ziehen sich in der folgenden Generation fort, worauf deren Übervertretung in weniger anspruchsvollen Bildungs- und Ausbildungsangeboten hindeuten (Duemmler 2015: 142). Haenni Hoti (2006: 69) zeigt bspw. auf, dass auf den

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Sekundarschulstufen I und II Schüler_innen aus Montenegro und Serben im Vergleich mit schweizerischen Kindern häufiger in Klassen mit Grundansprüchen (Realschule) vertreten sind, welche die Möglichkeiten für weiterführende Bildung erheblich einschränken. So weisen auch Burri Sharani et al. (2010: 52) darauf hin, dass Jugendliche aus Serbien und Montenegro fast zehnmal häufiger als schweizerische Jugendliche eine höchstens zweijährige Berufsausbildung absolvieren. Diese verkürzten Ausbildungen führen oft zu einer tiefen Stellung auf dem Arbeitsmarkt. Nur ein sehr kleiner Anteil von knapp 4 % absolviert die Matura (Abitur), im Vergleich zu 22 % der schweizerischen Kinder (Burri Sharani et al. 2010: 52). Fibbi/Kaya/Piguet (2003: 7) weisen nach, dass in der deutschsprachigen Schweiz die Chancen auf eine Arbeitsstelle für albanisch-sprachige Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien im Vergleich zu gleichqualifizierten schweizerischen Personen aufgrund von Diskriminierungsprozessen um 59 % kleiner sind. Dazu kommen in der letzten Zeit auch zunehmende Grenzziehungsprozesse aufgrund der Religion. Duemmler (2015: 148ff) weist darauf hin, dass die muslimischen Einwanderer zu den „unbeliebten Anderen par excellence“ in der Schweiz wurden. Die Muslime erfuhren in der Schweiz seit dem September 2001 eine zunehmende Aufmerksamkeit, in der antimuslimische Einstellungen und Ängste geschürt wurden. Den Höhepunkt dieser Entwicklungen fand im Herbst 2009 statt in der politischen Abstimmung gegen den Bau von Minaretten (Duemmler 205: 149). In ihrer empirischen Studie von symbolischen Grenzen unter jungen Erwachsenen im schulischen Kontext in der Schweiz zeigt Duemmler (2015: 159) dann auch auf, dass „Albaner_innen“ und „Muslim_innen“ die unbeliebtesten Ausländer_innen darstellen. Dies deutet darauf hin, dass nebst Klasse, Ethnizität und Geschlecht zunehmend auch die Religion als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse eine Bedeutung erhält und damit die Außenseiterposition der muslimischen und albanischen Bevölkerung weiter verstärkt wird.

 

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Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen der Mitglieder einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien

Nachdem im vorherigen Kapitel der gesellschaftliche Kontext anhand der Migrationsbewegungen zwischen Jugoslawien, Kosovo und der Schweiz als verwobene Geschichte präsentiert wurde, widmet sich dieses Kapitel der biographieanalytischen Darstellung der ausgewählten Familie, welche sich in diesem gesellschaftlichen Kontext verortet. Zur Familie gehört die Mutter Adifete, der Vater Admir sowie die fünf Geschwister. Abbildung 2: Die ausgewählte Familie (Sampling II)

Quelle: Eigene Darstellung

 

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An dieser Stelle werden nun die sieben Fallrekonstruktionen, beruhend auf der im Kapitel III beschriebenen rekonstruktiven Analysemethode nach Rosenthal (2011), dargestellt1. Da die gegenwärtige Perspektive den Rückblick in die Vergangenheit bestimmt (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 148) wird jeweils zuerst die interviewte Person anhand deren aktueller Situation zum Interviewzeitpunkt kurz vorgestellt. Darauf folgt die Reflexion der Kontaktaufnahme und der Interviewsituation und darauf aufbauend die Ergebnisse aus der Analyse der erzählten Lebensgeschichte (entspricht dem Analyseschritt der Text- und Thematischen Feldanalyse nach Rosenthal 2011: 196 ff). Anschließend wird die Fallrekonstruktion dargestellt, welche die Ergebnisse sämtlicher Analyseschritte nach Rosenthal (2011) beinhaltet. Aufgrund eines Restrisikos einer De-Anonymisierung werden zum Schutz der persönlichen Daten die gesamten biographischen Daten dieser Arbeit nicht beigefügt. Am Ende jeder Fallrekonstruktion erfolgt eine Zusammenfassung der zentralen Strukturhypothesen der einzelnen Fallrekonstruktionen. Dieser Schritt dient der Vorbereitung der komparativen Analyse nach Miethe (2014) für die Beantwortung der Frage der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen und der Bedeutung soziokultureller Grenzziehungsprozesse.

6.1 BEDEUTUNG VON FAMILIALEN UND GESCHLECHTSSPEZIFISCHEN ERWARTUNGEN: DIE FALLREKONSTRUKTIONEN DER ELTERN Um der Frage nach der intergenerationellen Transmission von Migrationserfahrungen nachzugehen, wird zuerst die Analyse der ersten Generation der Eltern, Admir und Adifete beschrieben. Anschließend werden die Fallanalysen der fünf Kinder in der Reihenfolge ihrer Geburt dargestellt. Die Frage der intergeneratio-

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Für die Anonymisierung wurden sämtliche Identifikationsmerkmale wie Eigennamen, Berufe, Herkunft im Sinne einer Pseudonymisierung ersetzt mit dem Ziel, die Bestimmung des Betroffenen auszuschließen oder wesentlich zu erschweren. Um dabei den Lesefluss zu erhalten und das Analysepotenzial der Daten zu erhalten wurden dabei Identifikationsmerkmale durch Merkmale vergleichbaren Informations- und Sinngehalts ersetzt, die jedoch keinen Rückschluss auf die Biograph_innen erlauben, um damit das Analysepotenzial der Daten zu erhalten (vgl. Meyermann/Porzelt 2014:7). Vornamen wurden dabei bspw. durch einen vergleichbaren Vornamen und ein Nachname durch einen vergleichbaren Nachnamen ersetzt.

Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen | 133

nalen Transmission wird im anschließenden Kapitel VI ausführlich anhand der herausgearbeiteten Strukturhypothesen diskutiert. Adifete und Admir sind beide in den 1950er Jahren geboren und stammen aus benachbarten Dörfern derselben Gegend der Gemeinde Bujanovac in der serbischen Teilrepublik des ehemaligen Jugoslawiens. Trotz der ähnlichen Ausgangslage zeigen die Fallrekonstruktion von Admir und Adifete eine ganz unterschiedliche Handlungsstruktur auf, geprägt durch familiale und geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, was sich beispielsweise in dem sehr unterschiedlichen Zugang zu Bildung zeigt. Beide leben heute im Kosovo zusammen in einer Wohnung, gemeinsam mit ihren beiden Söhnen, der Schwiegertochter und den Enkeln sowie der jüngsten unverheirateten Tochter. 6.1.1 Admir ‒ der erfolgreiche „Rückkehrer“ Zum Zeitpunkt des ersten Interviews ist Admir 58 Jahre alt und lebt mit seiner Ehefrau Adifete in Prizren, einer großen Stadt in Kosovo. Er geht keiner regelmässigen Erwerbsarbeit nach, sondern lebt von der Vermietung von Eigentumswohnungen im selben Wohnhaus. Er übernimmt kleinere Handwerkerarbeiten und bezeichnet sich selbst als Hauswart. Kontaktaufnahme und Interviewsituation Ich treffe Admir das erste Mal im Sommer 2012 im Kosovo. Zuvor habe ich seinen jüngsten Sohn Egzon kennen gelernt und mit ihm und Admirs älteren Töchtern Arbresha und Blerina in der Schweiz Interviews durchgeführt. Egzon hat die Eltern und die übrigen Geschwister im Kosovo informiert, dass ich mit ihnen ebenfalls ein Interview führen möchte. Ich erhielt von Egzon einen Beschrieb des Hauses im Kosovo. Darauf gehe ich bei ihnen im Kosovo vorbei und klingle an der Haustür. Admir öffnet die Tür und ich erläutere ihm mein Anliegen. Er scheint erfreut und schlägt mir vor, am kommenden Samstagnachmittag vorbei zu kommen, da dann die ganze Familie zu Hause sei. An diesem Samstag im Sommer 2012 treffe ich die gesamte Familie zu Hause im Wohnzimmer an. Ich setzte mich auf das Sofa auf den freien Platz zwischen Admir und Donika. Clirim und Adifete sitzen mir gegenüber auf Stühlen und die Ehefrau von Clirim ist in der Küche, serviert uns Tee und später selbstgemachtes Gebäck. Ich hatte eigentlich vor, bei diesem Treffen mit den Familienmitgliedern individuell Termine zu vereinbaren. Jedoch werde ich aufgefordert, doch gleich zu beginnen. Dies verunsichert mich etwas, und ich fordere daraufhin die einzelnen Familienmitglieder auf, ihre Lebensgeschichte zu erzählen.

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Daraus entstand das erste Interview mit der Familie, mit biographisch-narrativen Passagen von Admir, Clirim und Donika2. Ein Jahr später besuche ich erneut die Familie und es entstanden dabei zwei Interviews. Das Interview (2013a) mit Egzon, Donika und Clirim sowie das Interview (2013b), bei dem Admir und Adifete dazustossen. Die folgende Analyse der erzählten Lebensgeschichte basiert auf dem ersten Interview bei der Familie (2012), weil Admir dort über längere Zeit ohne Unterbrechung seine Lebensgeschichte schildert. Das zweite Interview (2013b) fliesst bei den weiteren Analyseschritten und insbesondere auch der Fallrekonstruktion von Admir mit ein. Die erzählte Lebensgeschichte „also mit der ganzen Familie bin ich zufrieden“3  Admir beginnt auf meine Aufforderung hin als erster seine Geschichte zu erzählen. Zu beachten ist, dass das Gespräch mit Admir in Anwesenheit von seiner Ehefrau und seinen beiden erwachsenen Kindern, Clirim und Donika stattfindet. Wie in der unten abgebildeten Eingangssequenz zu sehen ist, gibt Admir bei Beginn des Gespräches zu verstehen, dass seine erwachsenen Kinder erzählen wollen. Erst auf mein Insistieren beginnt er selbst zu erzählen. I: ..ja also also was mich eben interessieren würde das ihr einfach vielleicht also doch jemand also.. Admir: .. (die zwei die wollen) reden I: wobei sie sind ja..also vom Alter her würden Sie vielleicht anfangen..dass ihr erzählt vielleicht ehm Admir: ja I: von der ehm…also einfach eure Geschichte also von der Geburt von Anfang so an bis hierhin (2012: 1-6)

Admir präsentiert sich in der anschließenden Erzählung als erfolgreicher Rückkehrer. Aus diesem Präsentationsinteresse heraus stellt er seine Lebensgeschichte berichtartig in einer Kurzversion dar, um damit das Ergebnis seiner Geschichte, seine aktuelle befriedigende Situation, zu betonen. Diese aktuelle Zufriedenheit beinhaltet nicht nur die Beendigung seiner Erwerbsarbeit, sondern auch den erfolgreichen Werdegang seiner Kinder. Aus diesem Präsentationsinteresse der

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Diese Interviewpassagen aus demselben Interview werden für die Fallrekonstruktionen von Admir, Clirim und Donika genutzt und sind mit der Jahreszahl (2012) gekennzeichnet.

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Admir (2012: 60).

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erfolgreichen Rückkehr lässt sich erklären, weshalb er seine beiden anwesenden Kinder erzählen lassen wollte, da beide im Kosovo beruflich erfolgreich sind. Seine eigene Lebensgeschichte stellt er dafür zurück, indem er diese sehr stark zusammengefasst erzählt. Daraus gibt sich auch ein Hinweis auf eine mögliche Handlungsstruktur: sein eigener Lebensentwurf wird zugunsten des „Erfolges“ der Kinder zurückgestellt. Mit dem Erfolg seiner Familie rechtfertigt er in seiner Selbstpräsentation zugleich auch mir und insbesondere seinen anwesenden Kindern gegenüber die Migration in den Kosovo. Diese Selbstpräsentation der erfolgreichen Rückkehr entspricht zudem auch der Migrationspolitik im damaligen Jugoslawien sowie der Schweiz, welche die „Gastarbeiter_innenmigration“ stets als temporale Migration konzipierte. Fallrekonstruktion: Migration im Interesse der Familie „jetzt ist Zeit oder wir gehen oder vergessen“4 Familialer Kontext Die Eltern von Admir sind in der Zeit des ersten Jugoslawiens geboren und lebten in einem albanischen Dorf auf dem Land, vermutlich von der Subsistenzwirtschaft als Bauern. Wie folgendes Genogramm (Abbildung 7) zeigt, hatte Admirs Vater sieben Geschwister, fünf davon starben bereits im Kindesalter. In dieser Zeit war die Säuglingssterblichkeit sehr hoch und deutet auf die prekären Bedingungen der damaligen Bevölkerung auf dem Land hin (vgl. Calic 2014: 102). Admirs Vater, der 1926 geboren ist, erlebte seine Kindheit und Jugendzeit im ersten Jugoslawien. Das Bildungssystem war im ersten Jugoslawien ausschliesslich serbisch, Analphabetismus war deshalb insbesondere unter der albanischsprachigen ländlichen Bevölkerung sehr stark verbreitet. Admirs Vater war fünfzehn Jahre alt, als der Zweite Weltkrieg ausbrach und die Region von Bulgaren besetzt wurde. Als 19-Jähriger wird er die Bildung des zweiten Jugoslawiens durch Titos Partisanen als Befreiung von den Bulgaren erlebt haben. Admirs Mutter ist 1937 geboren und hat den Zweiten Weltkrieg als Kind erlebt. Die Besetzung der Bulgaren in dieser Zeit erschwerte auch für sie den Zugang zu Bildung, der für sie als Mädchen aufgrund damaliger geschlechtsspezifischer Rollen in ländlichen Milieus stark eingeschränkt war. Der große Altersunterschied zwischen Admirs Eltern resp. das junge Alter seiner Mutter weisen auf traditionelle Rollenerwartungen hin. Die Eltern heirateten vermutlich kurz vor Admirs Geburt, da seine Mutter 17 Jahre alt war bei seiner Geburt. Da es in diesem ländlichen Milieu üblich war, dass Frauen in den kollektiven Familienwirtschaften mitarbeiteten, gewann die Familie von Admirs Vater mit der Heirat eine zusätz-

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Admir (2012: 482).

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liche Arbeitskraft. Die Eltern von Admir bekamen insgesamt sieben Kinder. Diese hohe Natalität war für die damalige Bevölkerung auf dem Lande keine Seltenheit und verweist auf den geringen Bildungsstand der Eltern. Bis zu der Zeit des zweiten Jugoslawiens hatte die albanische Bevölkerung in dieser Region praktisch keinen Zugang zu Bildung. Admir ist das erste Kind und der älteste Sohn der Familie. Kindheit im Dorf Admir präsentiert seine Kindheit im Kontext einer einfachen, bäuerlichen Lebensweise. Er beschreibt das gemeinsame Leben mit den Eltern in einem Haus, in dem auch der Stall integriert ist. Der Boden des Hauses ist aus Erde, es gibt keinen Strom. Admir: meine Vater und meine Mutter und Andere..also einen kleinen Korridor oder..und auf der anderen Seite ist der Onkel mit seiner Frau.. und dann immer so, hinten bei den Zimmer so ein kleiner Stall.. eine Kuh oder zwei.. (2013b: 253-255)

Die Präsenz von Eltern, Onkel und dessen Frau weist auf das Leben in der Großfamilie hin, was in der damaligen Zeit auf dem Land üblich war. Die Familie besitzt Boden für die Landwirtschaft, Wald und einige Kühe und lebt in dieser Zeit vor allem von der Holzwirtschaft. Die Möglichkeiten für Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit sind in dieser ländlichen Region eher gering5. Das Aufwachsen in einer, in dieser Zeit in der Regel nach patriarchalen Strukturen organisierten Großfamilie, bedeutet oft den Vorrang familialer Interessen über individuellen Bedürfnissen. Dies weist darauf hin, dass die Priorität familialer Interessen und patriarchale Normen ein wichtiger Bestandteil von Admirs familialer Sozialisation darstellt. Admirs Präsentation der bäuerlichen Lebensweise in seiner Kindheit erfüllt zugleich die Funktion, seinen erfolgreichen sozialen Aufstieg in den familialen Kontext zu stellen. Durch den Beschrieb der einfachen Lebensverhältnisse wird der erfolgte Aufstieg umso eindrücklicher. Trotz der geringen Bildungsmöglichkeiten des Herkunftsmilieus, absolviert Admir alle acht Jahre der Grundschule im Dorf. Bis in die 4. Klasse wird in Al-

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Die ländlichen Gebiete in Jugoslawien litten unter einer ausbleibenden resp. verspätet einsetzenden Industrialisierung, was zu einem dauerhaften Mangel an nichtlandwirtschaftlichen Beschäftigungsmöglichkeiten und zu einem geringen Lohnniveau führte (Brunnbauer 2007: 120).

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banisch unterrichtet6. Im Alter von 12 Jahren, also in der 6. Klasse, wird das Erlernen der serbokroatischen Sprache obligatorisch (Roux 1992: 291). Somit lernt Admir in der Schule nun, nebst seiner Muttersprache, serbokroatisch, die dominante Sprache im damaligen Jugoslawien. Jedoch kommt er im Alltag kaum in Berührung mit dieser Sprache, da das Dorf, in dem er aufwächst, mehrheitlich von der albanischen Bevölkerung bewohnt wird. Die Kenntnisse der serbokroatischen Sprache sind damals jedoch bedeutsam für den Zugang zu weiterführender Bildung, da es vor 1970 noch keine albanisch-sprachigen Universitäten gab. Admir eröffnet sich durch die Absolvierung der achtjährigen Grundschule die Möglichkeit zum Besuch des Gymnasiums. Da alle Geschwister von Admir die acht Grundschuljahre absolvieren, was in dieser Zeit eine Ausnahme darstellt7, zeigt sich die Förderung der Bildung in Admirs Herkunftsfamilie unabhängig von Alter und Geschlecht. Diese findet im Kontext der Bemühungen des jugoslawischen Staates statt, den Zugang zu Bildung zu verbessern, da Bildung als Grundlage für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft galt (vgl. CvetkovićSander 2011: 149). Die Schulbildung von Admir und seinen Geschwistern führt deshalb zu einer gewissen Sozialisierung mit der jugoslawischen Staatsideologie. Das folgende Genogramm (Abbildung 3) zeigt die familiale Konstellation von Admirs Herkunftsfamilie zum Zeitpunkt seiner Kindheit und Jugendzeit im damaligen Jugoslawien. Die fehlenden Angaben zu der Herkunftsfamilie von Admirs Mutter deuten auf die Bedeutung der patrilokal organisierten Großfamilie hin. Alle abgebildeten Personen, inklusive Ehefrau des Onkels wohnten in Admirs Kindheit zusammen in einem Haus. Wie lange Admirs Großeltern noch lebten, ist unklar.

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Vorschulen und Kindergärten gibt es, sind in dieser Zeit jedoch wenig entwickelt (Roux 1992: 282). Insbesondere auf dem Land fehlen solche Einrichtungen. Es gibt in den Dörfern in dieser Zeit jeweils eine Grundschule (1. - 4. Klasse), Oberstufen werden oft zusammengelegt und existieren nicht in jedem Dorf (vgl. Reuter 1982: 71-72). Das Dorf von Admir muss ein etwas grösseres Dorf gewesen sein, da dort die gesamte Grundschule angeboten wurde.

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Statistiken zu der benachbarten Provinz Kosovo belegen, dass bis in die siebziger Jahre viele albanische Kinder nur die vierjährige Volksschule besuchten, selbst in Orten, welche eine achtklassige Grundschule aufwiesen (vgl. Reuter 1982: 71). Jedoch steigt die Zahl der Schüler albanischer Nationalität stetig an und hat sich in der Zeit von 1944/45 bis 1970/71 mehr als verzehnfach, insgesamt sind jedoch serbische und montenegrinische Schüler nach wie vor im Vergleich zum Bevölkerungsanteil überrepräsentiert (vgl. Reuter 1982: 72).

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Abbildung 3: Genogramm Admir (Zeitpunkt seiner Kindheit und Jugend)

Quelle: Eigene Darstellung

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Jugendzeit zwischen dem Gymnasium in der Stadt und dem Hof der Eltern im Dorf Die Förderung der Bildungswege aller sieben Kinder wird ermöglicht durch die temporäre Arbeitsmigration des Vaters nach Deutschland (BRD) Mitte der 1960er Jahre. Die Arbeitsmigration des Vaters steht im Zusammenhang mit der steigenden Arbeitsmigration aus Jugoslawien. Der Vater findet dort in einer Hafenstadt eine Arbeit und kann mit dem Einkommen die Lebensbedingungen der gesamten Familie verbessern und die Notwendigkeit der übrigen Familienmitglieder (und der Kinder), über Arbeit Einkommen zu erwirtschaften, vermindern. Als ältester Sohn besucht Admir nun als erstes Kind der Familie das Gymnasium in der knapp 4 km entfernten Stadt. Der Besuch des Gymnasiums verweist auf die Bildungsaspiration und zugleich auf eine soziale Mobilität, die durch die Familie gefördert wird. Für Admir bedeutet der Besuch des Gymnasiums nun einen langen Schulweg. Er beschreibt im Interview die damalige Situation mit kaum geteerten Strassen und ohne öffentlichen Verkehr. Admir stellt dar, dass er nie alleine in die Schule ging, sondern sich die gleichaltrigen Kinder des Dorfes sammelten und sich gemeinsam auf den langen und mühsamen Weg zur Schule machten. Daran zeigt sich, dass Admirs Zugang zu Bildung in seiner Familie etwas Besonderes bedeutete, nicht aber in seinem Herkunftsdorf, indem auch andere Eltern ihren Kindern den Besuch des Gymnasiums ermöglichten. Diese von den Eltern unterstützte Bildungsaspiration steht in Zusammenhang mit der staatlich geförderten Bildung, welche in den 1970er Jahre zu einer Bildungsexpansion führte. Folgendes Zitat zeigt, dass Admir den Besuch des Gymnasiums für ihn als Selbstverständlichkeit präsentiert. Zugleich stellt Admir auch dar, dass es in dieser Zeit nebst dem Bildungsweg durchaus andere Möglichkeiten gab und betont damit die Priorisierung von Bildung über Erwerbsarbeit. Admir: ja in Bujanovac fast sind alle in Gymnasium..//mhm//..im Gymnasium ehm ist eso..eingeschult gewesen oder so eine Teil..so eine kleine so..ehm Plastikfabrik gewesen..dort sind ein paar..also..Schüler sind gewesen..und Metallfabrik ist auch eine..oder wo..sonst alle auf Gymnasium (2013b:269 – 272)

Nebst dem Besuch des Gymnasiums hilft Admir als ältester Sohn in Abwesenheit des Vaters zu Hause auf dem Hof mit. Im Interview stellt Admirs Sohn Clirim die Kindheit seines Vaters deshalb als dessen schwerste Zeit dar. Da Admir diese Aussage seines Sohnes relativiert, zeigt er auf, dass für ihn diese harte Arbeit selbstverständlich war.

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Admir: also gearbeitet habe ich viel also von ganz klein an, also ich habe viel Arbeit gemacht also zu Hause mit dem Boden und in der Schule, Gymnasium auch gemacht, und in Bujanovac also in dieser Zeit habe ich zu Hause viel gemacht, auch in der Schule.. also es war nicht so schwer (2012: 558-560)

Mit zwanzig Jahren schließt Admir das Gymnasium im Jahr 1974 erfolgreich ab. Dies zeigt, dass er die Arbeit auf dem familialen Hof mit der Bildungsaspiration erfolgreich verbinden konnte. Damit ist er der Erste der Familie, der einen Bildungsweg einschlägt. Distanzierung vom Herkunftsdorf: Wehrdienst und Studium in Jugoslawien Nach dem Ende des Gymnasiums absolviert Admir mit zwanzig Jahren den obligatorischen Wehrdienst in der jugoslawischen Volksarmee8. Admir erwähnt berichtartig die Absolvierung des Militärdienstes und grenzt sich damit von der späteren Einwanderungswelle in die Schweiz ab, in der nach dem Beginn des gewaltsamen Zerfalls von Jugoslawien ab 1991 viele junge Männer ins Ausland migrierten, um dem Einzug in die jugoslawische Armee zu entgehen. Admir macht im Wehrdienst in der multiethnischen jugoslawischen Volksarmee Erfahrungen in der Zusammenarbeit mit Kameraden anderer ethnischer Gruppen und lernt andere Regionen von Jugoslawien kennen. Wie die Schule hat auch die Armee offiziell den Auftrag, die Identifikation mit der jugoslawischen Republik zu fördern9. Der anschließende Beginn des Studiums an der Universität in Skopje in serbokroatischer Sprache deutet darauf hin, dass er sich mit der jugoslawischen Republik identifizieren konnte, da er in dieser Zeit auch die Möglichkeit gehabt hätte, an der neu gegründeten albanisch-sprachigen Universität in Pristina10 zu studieren. Admir begründet den Entscheid für das Studium in Mazedonien mit der Anerkennung der Diplome wie folgendes Zitat zeigt:

                                                             8

In Jugoslawien herrschte uneingeschränkte Wehrpflicht. Wehrdienstverweigerung wurde mit bis zu fünf Jahren Zuchthaus bestraft (Reuter 1987: 195).

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Die multiethnische Armee sollte Ausdruck der ethnischen Mannigfaltigkeit in der Gesellschaft sein (Bjelajac: O. J.).

10 Die Universität in Pristina (Kosovo) verzeichnete in dieser Zeit einen enormen Zuwachs (Malcolm 2002: 326), hatte jedoch in dieser Zeit keine gute Reputation außerhalb des Kosovo. Die wissenschaftliche Qualität wurde angezweifelt und Absolvent_innen hatten Schwierigkeiten, außerhalb von Kosovo eine Anstellung zu finden (vgl. Schmitt 2008: 240; Reuter 1982: 62).

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Admir: weil für uns ist etwas ein Problem wegen Kosovo..weil unsere (_____) weil die kennen nicht weißt du die Diplome oder das Zeug..oder //mhm//..und dann..und so näher ist von Bujanovac dass nach Mazedonien gehst..oder.. (2013b: 318-320)

Admirs Entscheid für ein Studium in Serbokroatisch deutet darauf hin, dass der soziale Aufstieg sowie die Nähe zu der Familie für ihn wichtiger waren als die Identifizierung mit der albanischen Bevölkerung. Re-Orientierung am Herkunftsmilieu: Familiengründung im Herkunftsdorf und Abbruch des Studiums Ungefähr ein Jahr nach dem Beginn des Studiums verlobt sich Admir im Alter von 22 Jahren im Jahr 1976 mit einer gleichaltrigen Frau aus dem Nachbardorf. Seine künftige Ehefrau hat wie viele Frauen damals auf dem Lande nur die ersten vier Grundschuljahre besucht (vgl. Roux 1992: 281). Die Heirat einer Frau aus dem Nachbardorf stellt in Admirs Leben eine Re-Orientierung an der Familie und seinem Herkunftsmilieu dar. In Zusammenhang mit der Heirat präsentiert Admir die zentrale Rolle seines Onkels sowie der Tante seiner künftigen Ehefrau, durch deren Ehe die beiden Familien bereits verbunden waren. Admir: also meinen Onkel ist geheiratet vorher sie sind also Eltern.. und sie ist eben zur Tante gekommen oder und wir sind zwei Häuser mit dem Onkel also da ist unser Haus und meine Onkel auf einer (________) ..und.. eben da haben uns schon gekannt.. der Eine und Andere.. aber zuletzt haben.. also der Onkel und die Tante haben so angefangen zu sagen ..seid ihr so einverstanden dass man ..ihr miteinander eben…so selber haben wir nicht angefangen (2012: 156-160)

Damit zeigt Admir auf, dass sein Onkel in Abwesenheit seines Vaters, der damals den grössten Teil des Jahres in Deutschland als „Gastarbeiter“ verbrachte, eine zentrale Position einnimmt. Dies weist darauf hin, dass die familialen Interessen und Erwartungen der erweiterten Familie auf Admirs Leben einen Einfluss haben. Ein Jahr nach der Heirat wird die erste Tochter geboren, 1980 die zweite. Die Geburt der zweiten Tochter führt zum Abbruch des Studiums. Die Familiengründung und der Abbruch des Studiums zeigen auf, dass es Admir nicht gelungen ist, den Bildungsweg mit familialen Erwartungen an Familiengründung und Übernahme der Rolle als Familienernährer zu vereinbaren. Der Abbruch des Studiums findet zum Zeitpunkt der wachsenden Arbeitslosigkeit statt, von der junge Erwachsene, auch Universitätsabsolvierende, besonders betroffen waren. Die Realisierung des sozialen Aufstieges über Bildung wird in

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Frage gestellt, da sichtbar wird, dass Prestige und sozialer Status einfacher und rascher über Arbeitsmigration ins Ausland realisiert werden kann. Saisonale Arbeitsmigration in die Schweiz (1980 – 1986) 1980 reist Admir im Alter von 25 Jahren nach der Geburt der zweiten Tochter als Tourist in die Schweiz, um Arbeit zu suchen. Er verlässt somit zum ersten Mal die neu gegründete Familie auf der Suche nach Erwerbsarbeit. Die Sorge um die Ernährung der Familie ist der Hauptgrund für die Emigration, da Männer in Familienhaushalten in dieser Zeit oft die moralische Verpflichtung hatten, sich finanziell am Haushalt zu beteiligen. Migration stellte eine Möglichkeit dar, das Funktionieren des Familienhaushaltes sicherzustellen (Dahinden 2005: 159). Die Arbeitsmigration ins Ausland stellt Admirs Versuch dar, die Rolle als Ernährer für seine neu gegründete Familie zu übernehmen. Er führt damit als ältester Sohn die Familientradition der temporären Arbeitsmigration weiter: Wie bereits sein Vater und auch der Vater seiner Frau verlässt er Jugoslawien auf der Suche nach Arbeit. Mit dieser Entscheidung übernimmt er auch die damit verbundene, von der Familie übermittelte Geschlechterrolle. Aufgrund des Anwerbestopps in Deutschland reist Admir jedoch nicht wie sein Vater und weitere Verwandte nach Deutschland, sondern sucht als erster der Familie Arbeit in der Schweiz. Er kann sich dabei auf Kontakte von Bekannten berufen11. Im selben Jahr, als Admir eine Saisonnier-Bewilligung für die Schweiz erhält, wird sein drittes Kind, ein Sohn, geboren. Admir erwähnt die Geburt seines ersten Sohnes nur kurz. Seinen Ausführungen ist jedoch zu entnehmen, dass er für die Geburt im Herkunftsdorf bei seiner Frau war. Der Vorname seines Sohnes deutet daraufhin, dass die Geburt des ersten Sohnes und somit des Stammhalters der Familie Begeisterung in Admirs Familie ausgelöst hat. Seine Frau lebt nun mit den drei kleinen Kindern im Haus von Admirs Eltern, während er durch seine Arbeit in der Schweiz die Rolle als Familienernährer übernimmt. Auf diesem Hof leben zudem auch seine jüngeren drei Brüder und seine Schwestern. Admir betont die Anwesenheit der drei Brüder, welche immer noch zu Hause gewesen sind. Admir: drei (Brüder noch) zu Hause Clirim: mit der Tante mit irgend einer Schwester halt von ihm haben sie uns jeweils schnell ins Spital gebracht zum Arzt oder so.. (2013b: 207 - 210)

                                                             11 So weisen auch verschiedene Studien über die Migration aus dem ehemaligen Jugoslawien auf die Bedeutung von Netzwerken als zentralen Faktor für den Zugang zum Arbeitsmarkt hin (Brunnbauer 2007:123).

Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen | 143

Er stellt dar, dass die Brüder in seiner Abwesenheit die Sorge um seine Frau und Kinder übernehmen und präsentiert damit die Anwesenheit von männlichen familialen Bezugspersonen als zentral. Dies deutet auf die Bedeutung des Familienhaushalts als Kollektiv hin und einer geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung in der Familie, in denen die Brüder in seiner Abwesenheit die Verantwortung für die Großfamilie übernehmen. Dieser Haushalt lebt nun von den Einnahmen durch die temporäre Arbeitsmigration im Ausland sowohl von Admir wie auch seinem Vater, die sich zugleich im Ausland befinden. In der Zeit als Admir nun beginnt, saisonal in der Schweiz zu arbeiten, verschlechtert sich die Wirtschaftslage in Jugoslawien und die sozio-politischen Spannungen in dieser Region nehmen zu (vgl. Kapitel 5). Unter diesen Umständen beginnt Admir mit dem in der Schweiz erarbeiten Geld, auf dem Land des Vaters im Herkunftsdorf ein eigenes Haus zu bauen. Die durch Arbeitsmigration erworbenen finanziellen Mittel werden nun in Eigentum (Immobilien) investiert. Admir stellt dar, dass er von Anfang seiner Zeit in der Schweiz gearbeitet und gespart hat um mitzuhelfen beim Bau von weiteren Häusern. Admir: haben wir uns verteilt.. haben wir zwei Haus gemacht..und dann haben wir angefangen so ein wenig..mehr arbeiten und ein wenig..mehr auseinander die Häuser..und dann hab ich da ein Haus gemacht und dann wieder andere Haus.. (2013b: 256 - 258)

Mit dem Bau der Häuser beginnt sich nun auch der Mehrgenerationenhaushalt von Admirs Großfamilie aufzulösen: jeder Bruder hat nun ein eigenes Haus. Der Häuserbau stellt damit sowohl ein Symbol der Moderne, der Auflösung des Mehrgenerationenhaushaltes, als auch dem Erhalten der patrilokalen Familientradition dar, da die Häuser nur für die männlichen Nachkommen und deren Familien bestimmt sind. Viele „Gastarbeiter_innen“ aus dem ehemaligen Jugoslawien sparten in der Schweiz, um in ihrer Heimat Häuser aufzubauen. Neue großzügige Familienhäuser wurden quasi im gegenseitigen Wettbewerb aufgebaut und symbolisierten den individuellen Erfolg wie auch den Anspruch, trotz Abwesenheit der lokalen Gemeinschaft anzugehören. Diese Häuser dienten vor allem dem Prestigegewinn, da sie selten von allen Familienmitgliedern bewohnt wurden (Brunnbauer 2007: 124). Dies trifft auch auf Admir zu. Indem er ein Haus für seine Frau und die Kinder baut, stellt er trotz seiner physischen Abwesenheit seine Fürsorge und Präsenz für die Familie dar. Das Haus wird zum stellvertretenden Symbol der erfolgreichen Übernahme seiner Ernährerrolle. Nebst Prestigegewinn stellt das Haus jedoch auch eine Möglichkeit dar, in die Heimat zurückkehren zu können und sich so quasi den Platz in der Familie zu sichern.

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Trotz dem Hausbau im Herkunftsdorf ist Admir zugleich auch bestrebt, in der Schweiz eine Jahresaufenthaltsbewilligung und damit das Recht zu erwerben, die Familie in die Schweiz zu holen. Indem Admir das komplizierte Bewilligungsverfahren in beiden Interviews thematisiert, betont er seine Bemühungen für den Familiennachzug in die Schweiz. Admir: und dann wieder auf Schweiz..und dann vier Saison also jede Saison 9 Monate..auf die vier Jahre.. eh wenn dir 7 Tage fehlen..dann bekommst du keine über..verlierst du sie wieder vier Jahre andere..es ist Problem gewesen oder..aber ich habe also aufgepasst wegen dem dann habe bin ich egal wenn ich gearbeitet habe bin ich in der Schweiz geblieben bis zum letzten Datum dass.. Stempel bekommst//mhm// ((Egzon lacht))..dass ich nicht mehr Visa brauche mit B oder //mhm//..dann habe ich bekommen (2013b: 300 306)

Er stellt damit dar, wie wichtig es für ihn ist, dass seine ganze Familie zusammenleben kann. Damit betont er den Unterschied zu seiner Herkunftsfamilie, wo der Vater lange Zeit als „Gastarbeiter“ in Deutschland lebte und oft abwesend war. Diese Trennungserfahrungen versucht Admir nun zu überwinden, indem er die Familie zu sich in die Schweiz holen will. Admir: später sind Kinder auch nachher mit mir oder ..nach nachher so die fünf sechs Jahre lang und dann also ist besser wenn es wenn sie miteinander (2012: 74 - 76)

Der Hausbau im Herkunftsdorf und das gleichzeitige Bestreben, in der Schweiz eine Jahresaufenthaltsbewilligung und somit das Recht auf Familiennachzug zu erhalten, stellt eine Erweiterung der Handlungsmöglichkeiten von Admir dar: Er lässt sich die Option zur Rückkehr ins Herkunftsdorf offen im gleichzeitigen Streben nach einer Migration mit der Familie in die Schweiz. Ein Jahr später besucht ihn seine schwangere Ehefrau mit den Kindern in der Schweiz. Sie bringt das vierte Kind, wieder eine Tochter, in der Schweiz zur Welt. Grund dafür sind vermutlich die besseren medizinischen Möglichkeiten in der Schweiz. In der Familie von Admir wird während dem Interview die Geburt der Tochter Donika in der Schweiz rege diskutiert, da Admir zu diesem Zeitpunkt noch über keine Aufenthaltsbewilligung mit Recht auf Familiennachzug verfügte. Wie untenstehendes Zitat illustriert betont Admir, dass die Umstände dafür legal waren, indem er die Krankenkasse erwähnt. Er normalisiert damit die ungewöhnliche Situation der Geburt der vierten Tochter in der Schweiz und relativiert seine Aussage, dass seine Tochter illegal in der Schweiz geboren ist.

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Admir: aber für drei Monate habe ich Krankenkasse bezahlt und alles für die ganze Familie und dann.. Adifete: (________) Admir: ˪sie ist dann also schwangere Frau gewesen in dieser Zeit und dann ist Donika geboren (2012: 243 - 245)

Admirs Frau reist nach der Geburt und dem Ablauf des Touristenvisums mit den nun vier Kindern wieder ins Herkunftsdorf zurück. Bis zu der offiziellen Bewilligung für den Familiennachzug reist sie öfters mit oder ohne Kinder in die Schweiz, um ihren Ehemann zu besuchen und überbrückt so die Trennungssituation. Die älteste Tochter wird im Herkunftsdorf eingeschult und verbleibt während diesen Besuchen teilweise auch alleine bei der Großmutter und der erweiterten Familie. Die Einschulung der ältesten Tochter Arbresha und zwei Jahre später auch des Sohnes Clirim (Besuch des Kindergartens mit 5 Jahren) im Herkunftsdorf sind Hinweise auf die Weitergabe der Bildungsaspiration an seine Kinder. Zugleich wird die zweitälteste Tochter Blerina (6 Jahre alt) nicht eingeschult und deutet auf eine geschlechtsspezifische Ungleichbehandlung der beiden fast gleichaltrigen jüngsten Geschwister hin. Migration der Familie in die Schweiz Mit rund 30 Jahren erhält Admir die B-Bewilligung dank eines unbefristeten Arbeitsvertrages in einer Firma im Bausektor und damit das Recht, seine Familie in die Schweiz zu holen. Er macht von dieser Möglichkeit Gebrauch und bringt nun die ganze Familie offiziell in die Schweiz. Mit dieser Entscheidung findet ein bedeutender Wandel in Admirs Familie statt: Während sowohl sein Vater als auch sein Schwiegervater in Deutschland arbeiteten und dabei ihre Frauen und Kinder im Herkunftsdorf in den Großfamilien blieben, entscheidet Admir, seine Frau und die vier Kinder in die Schweiz zu holen, obwohl damit für die Ernährung der Familie wesentlich mehr finanzielle Ressourcen notwendig sind. Dies bedeutet, dass das Gehalt von Admir nun primär für die Lebenskosten seiner eigenen Familie in der Schweiz ausgegeben wird und praktisch kein Geld mehr übrig bleibt für Investitionen im Herkunftsdorf. Die Migration mit seiner selbst gegründeten Familie stellt somit eine geographische wie auch finanzielle Ablösung von der Herkunftsfamilie dar, dessen Prozess bereits mit dem Aufbau der verschiedenen Häuser für die Geschwister von Admir begonnen hat. Admir:..und einmal habe ich schon gedacht dass ich nicht die Familie wieder hinunter nehme in die Schweiz aber eben die Situation da gewesen ist nicht so gut oder.. (2012: 479 - 481)

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Wie dieses Zitat zeigt, begründet Admir den Familiennachzug in die Schweiz mit der Krise in Jugoslawien Mitte der 1980er Jahre und der damit verbundenen Unsicherheit über die politische und wirtschaftliche Zukunft. Mit dem Familiennachzug ändert sich das Leben von Admir. Er lebt nun zusammen mit seiner Familie in Buchs, Kanton Aargau, einer Kleinstadt mit damals etwa 6000 Einwohnern und einem Ausländeranteil von 10%. Die Bevölkerung ist in den letzten Jahrzehnten ständig gestiegen aufgrund der zunehmenden Industrialisierung. Nach fast 6 Jahren des grösstenteils räumlich getrennten Lebens mit seiner Ehefrau und den Kindern leben nun alle zusammen in einer Mietwohnung. Admir ist der einzige, der die sprachlichen Hürden bereits überwunden hat und sich auf Deutsch verständigen kann, im Gegensatz zu seiner Frau und den vier Kindern. Damit ist seine Ehefrau nun nicht nur finanziell, sondern auch im Alltag, zumindest zu Beginn, abhängig von ihm. Die älteste Tochter wird in die dritte Klasse eingeschult, die beiden jüngeren Kinder, Blerina und Clirim, besuchen den Kindergarten. Admir lebt die folgenden 14 Jahre mit seiner Frau und den Kindern in der Schweiz. Er erzählt sehr wenig über das Leben in der Schweiz. Die wenigen Aussagen, die er dazu macht, stehen alle im Zusammenhang mit seinen Arbeitserfahrungen in der Schweiz. Admir: bin ich in einer Fabrik 16 Jahre lang habe ich in derselben Fabrik bis am Ende habe ich gearbeitet.. //I:mh// Karton Swisswell heisst das… dort habe ich auch gut also habe ich gut auch Maschinen gelernt oder weil ich also bin ich gut mit der Arbeit und mit Kollegen und alles große Firma ist alles gut gewesen (2012: 71 - 74)

Wie obenstehendes Zitat exemplarisch zeigt, betont er immer wieder, dass er 16 Jahre in derselben Firma gearbeitet hat und stellt sich als pflichtbewussten und kollegialen Arbeiter dar, der in dieser Zeit auch viel gelernt hat. Umzug in ein Zweifamilienhaus auf dem Land Im Alter von 33 Jahren wird Admirs Frau wieder schwanger und 1987 kommt das 5. Kind, wieder ein Sohn, auf die Welt. Admir findet eine grössere Wohnung in Zuzgen, einem Dorf ca. 40 km vom bisherigen Wohnort entfernt, und zieht mit seinen fünf Kindern und seiner Frau in ein altes Zweifamilienhaus auf dem Lande. Der neue Wohnort liegt näher bei der Firma, wo Admir arbeitet. In die andere Haushälfte zieht sein Bruder ein. Die Erzählungen von Admirs Kindern weisen darauf hin, dass dieser Bruder eine wichtige Unterstützung für die Familie darstellt. Admir hat ihm in der gleichen Firma eine Arbeit vermitteln können. Somit wohnen Admir und sein Bruder und ihre jeweiligen Familien nebeneinan-

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der und arbeiten wie auch weitere Familienmitglieder (Cousins) in derselben Firma. Admir präsentiert sich damit als wichtige Person der Familie, welcher die Brücke in die Schweiz geschlagen und vielen weiteren Familienmitgliedern die Migration in die Schweiz ermöglicht hat. Er stellt sich als „Pionier“ dar, welcher den anderen Verwandten eine Arbeitsstelle in derselben Firma vermitteln konnte. Durch die Unterstützung weiterer Familienmitglieder erhält er die Bindung zur Herkunftsfamilie aufrecht. Investition in Immobilien Ein Jahr nach der Geburt des jüngsten Kindes beginnt die Ehefrau Adifete ebenfalls in einer Fabrik zu arbeiten. Sie arbeitet abends, wenn Admir bereits wieder zu Hause ist. Unterstützung in der Kinderbetreuung leistet vermutlich auch der Bruder von Admir und dessen Frau, die direkt nebenan wohnen. Auch die älteste Tochter, welche nun 11 Jahre alt ist, hilft zunehmend im Haushalt und der Betreuung der jüngeren Geschwister mit. Admir: aber wir sind also in einem kleinen Dorf in Zuzgen gewesen und Schule ist im Dorf gerade in der Nähe gewesen..weil und also dann ist kein Problem gewesen also oder dann ist..also sie hat angefangen ein paar Jahre also nur am Abend nur dann wenn ich zu Hause gewesen bin also am Abend von 6 Uhr bis um 10 und dann „5 oder 10 Jahre lang dann hat lang Schicht gearbeitet und so“ ((undeutlich gesprochen leise und schnell)) (2012: 79 - 83)

Admir betont zuerst, dass die Aufnahme der Erwerbsarbeit kein Problem darstellte und deutet damit zugleich auch an, dass die Aufnahme einer Erwerbsarbeit ihre Aufgaben der Kinderbetreuung nicht tangierte durch die Teilzeitarbeit am Abend. Damit wird ersichtlich, dass ihr Einstieg in die Erwerbsarbeit nicht zu einer Neuverhandlung der geschlechtsspezifischen Rollen in der Ehe führt. Das zusätzliche Einkommen durch seine Frau stellt Admir als Mittel dar, um zu sparen und weitere Häuser aufzubauen und nicht als Notwendigkeit für die Bedürfnisse der siebenköpfigen Familie zu decken. Er stellt damit seine Rolle als Familienernährer nicht in Frage. Admir kauft 1991 ein Stück Land in einer großen Stadt der damaligen Provinz Kosovo. Die Investition im Kosovo ist erstaunlich, da Admir und seine Familie bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Bezüge zu der Provinz Kosovo erwähnen und sich in dieser Zeit die politische Situation in der Provinz Kosovo zuspitzt

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und die Bodenpreise teuer werden.12 Eine Investition in Südserbien, seiner Heimatregion, wäre viel günstiger gewesen. Dies deutet darauf hin, dass der Landkauf im Kosovo in Zusammenhang steht mit dem Ausruf der völligen Unabhängigkeit der Republik Kosova (Schmitt 2008: 19) als Gegenreaktion für die Aufhebung der Autonomie durch Belgrad und dem folgenden Aufbau einer albanischen Parallelgesellschaft. Im Gegensatz zur Herkunftsregion, welche zu der serbischen Provinz gehört, besteht nun trotz den Repressionen die Hoffnung auf eine eigene Republik, in der die albanische Bevölkerung die Mehrheit bilden sollte. Dies deutet darauf hin, dass Admir seiner ethnischen Zugehörigkeit eine Bedeutung für die Investitionen in Immobilien zuschreibt. Damit findet eine Erweiterung potentieller Wohnmöglichkeiten der Familie statt, welche nun in zwei verschiedenen Ländern Wohneigentum besitzt. Die Investitionen in Immobilien im Kosovo deuten auf eine zunehmende Bedeutung von Admirs ethnischer Zugehörigkeit hin. Damit ist eine Veränderung von Admirs Handlungsstruktur erkennbar. Bis zu seinem Studium an der Universität in Skopje gibt es keine Anzeichen, welche auf eine Bedeutung der albanischen Zugehörigkeit hindeuten. Die nun getätigte Investition im Kosovo weist darauf hin, dass für Admir die ethnische Zugehörigkeit in der Zeit in der Schweiz an Bedeutung gewonnen hat. Zeitlich verläuft diese Entwicklung gleichzeitig mit dem Aufbau eines Parallelsystems im Kosovo durch die kosovo-albanische Bevölkerung in der Diaspora, darunter auch in der Schweiz. Die kosovo-albanische Zugehörigkeit gewinnt in dieser Zeit unter der kosovarischen Bevölkerung in der Schweiz an Bedeutung, was an der Entwicklung von jugoslawischen Migrantenvereinen hin zu ethnisch getrennten Vereinen sichtbar wird (Dahinden/Moret 2008: 239)13.

                                                             12 Zu dieser Zeit gibt es widersprüchliche Informationen. Einerseits hat im Jahr zuvor, 1990, das Parlament in Belgrad eine neue zentralistische Verfassung verabschiedet, welche formell die Autonomie von Kosovo wie auch der Vojvodina aufhob (Schmitt 2008: 314). Dieser Entschluss hatte eine „Serbisierung“ des gesellschaftlichen Lebens zufolge (ibid.: 314): es wurden Anreize für Serben zur Ansiedlung geschaffen und die Immobilienverkäufe an Albaner erschwert (ibid.: 315). Jedoch lagen die Bodenpreise im Kosovo weit über den Preisen in Kernserbien. Dies veranlasste serbische Besitzer dazu, ihr Grundstück zu verkaufen (ibid.: 286). 13 Nach den Unruhen in Pristina 1981 bildeten sich in Zürich die ersten albanischen Vereine, welche sich von den jugoslawischen Vereinen trennten (Dahinden/Moret 2008: 239). Die albanischen Vereine waren oft politisch verbunden mit dem Herkunftsland und bildeten eine zentrale finanzielle und politische Unterstützung für den Aufbau der Parallelgesellschaft im Kosovo, welche insbesondere den Bildungs- und Gesundheitsbereich betreffen. Diese Parallelstrukturen werden durch die Einführung einer 3%

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Umzug in eine Eigentumswohnung in der Kleinstadt Rheinfelden Zwei Jahre später erwirbt Admir im Jahr 1993 eine 4.5-Zimmerwohnung in einem Mehrfamilienhaus (Wohnblock) in der nicht weit entfernten Kleinstadt Rheinfelden in der Schweiz. Der Umzug fällt zusammen mit dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit der ältesten Tochter Arbresha sowie der Einschulung des jüngsten Sohnes Egzon. Arbresha beginnt mit 16 Jahren eine Ausbildung als Detailhandelsangestellte in einem Kaufhaus. Der Umzug in die Kleinstadt steht im Zusammenhang mit Admirs Bemühung um bessere Ausbildungsmöglichkeiten für seine Kinder und kann deshalb als Admirs Strategie des Strebens nach sozialem Aufstieg in der Schweiz betrachtet werden. Drei Jahre später, 1996, erhalten Admir und seine Familie die unbeschränkte Aufenthaltsbewilligung (C) in der Schweiz. Der Erwerb von Wohneigentum in der Schweiz und der unbeschränkten Niederlassungsbewilligung deuten auf Admirs Bemühungen nach einem Verbleib in der Schweiz hin. Dies zeigt sich auch am Aufbau eines familialen Netzwerkes in unmittelbarer Nachbarschaft in der Schweiz, das aus den Familien seines Bruders und seiner Schwester besteht. Admir unterstützt seinen Schwager, welcher in derselben Kartonfabrik arbeitet wie er, seine Familie nachziehen zu können. Die Schwester von Admir zieht nun mit ihrer Familie in das freigewordene Zweifamilienhaus im Dorf Zuzgen neben dem Bruder. Admir übernimmt somit eine Unterstützungs- und Vorreitersituation gegenüber seinen Geschwistern und erfüllt so die Rolle als ältester Sohn der Familie. Admir kauft 1996 ein weiteres Haus in Albanien am Meer, das er vermietet und somit zusätzliches Einkommen bringt. Damit besitzt er mit 42 Jahren bereits vier Immobilien: Ein eigenes Haus im Herkunftsdorf in Südserbien, ein Grundstück in einer Großstadt in der Provinz Kosovo, eine Pension in Albanien und eine Eigentumswohnung in der Schweiz. Admir:..und dann haben wir gespart ein wenig mehr..((Donika lacht leise))‘um eben da ein zu bauen und also weil wir haben eben hier ein Haus gekauft und in Albanien so ein kleines..ein Privathaus gehabt am Meer immer auf Bujanovac gereist auf Serbien wo wir geboren‘ ((Adifete seufzt)).. und dort haben wir auch Haus gemacht oder.. am Anfang und dann..also haben wir gearbeitet und immer gespart und gebaut (2012: 83 - 87)

                                                                                                                                Steuer der Diaspora finanziert (Schmitt 2008: 317), welche über die albanischen Vereine organisiert wurde (Dahinden/Moret 2008: 241). Die albanischen Vereine hatten als „bounded solidarity“ ebenfalls eine wichtige Bedeutung für die humanitäre Unterstützung der albanischen Bevölkerung im Krieg wie aber auch im Aufbau der bewaffneten Befreiungsarmee UCK (Dahinden/Moret 2008: 242).

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Diese Investitionen zeigen Admirs Handlungsstruktur, über den Erwerb von Immobilien Einkommen zu erwirtschaften, zugleich jedoch auch sozialen Status zu gewinnen. Damit wird ersichtlich, dass Admir das Streben nach sozialem Aufstieg nach dem Abbruch des Bildungsweges durch Investitionen in Immobilien fortsetzt. Familiale Veränderungen In den folgenden Jahren verändert sich die Situation der Familie in der Schweiz. Admir erwähnt diese Veränderungen nicht, so wie er grundsätzlich, abgesehen von der Arbeit, nicht über sein Leben in der Schweiz erzählt. 1997 heiratet die älteste Tochter Arbresha mit 20 Jahren nach erfolgreichem Abschluss ihrer Ausbildung als Detailhandelsangestellte einen Kosovo-Albaner, den sie in der Schweiz kennen gelernt hat und bekommt kurz nach der Heirat ihr erstes Kind, einen Sohn. Admir wird nun zum ersten Mal Großvater. 1999 schließt Clirim, der älteste Sohn von Admir, mit 18 Jahren die obligatorische Schule mit einem Sekundarschulabschluss14 ab. Clirim findet keine Lehrstelle15, sondern beginnt als unqualifizierter Arbeiter in derselben Firma (Swiss-

                                                             14 Gemäß Imdorf (2005) ist in der Schweiz das Schulsystem föderalistisch organisiert und umfasst 26 teilweise voneinander abweichende kantonale Schulsysteme. Die Primarschule dauert je nach Kanton fünf oder sechs Jahre. Anschließend folgt die drei bis fünfjährige Sekundarstufe I, in der die Schüler_innen in verschiedene Leistungsgruppen aufgeteilt werden. Dabei werden drei Leistungsniveaus unterschieden. Die Schulen des untersten Niveaus werden als Schulen mit „Grundansprüchen“ bezeichnet, darauf folgen Schulen mit „mittleren“ oder „erweiterten“ Ansprüchen und das höchste Niveau stellen Schulen mit „höheren Ansprüchen“ dar. In vielen Deutschschweizer Kantonen werden die Schulzüge mit Grundansprüchen als „Realschulen“ bezeichnet, vergleichbar mit der „Hauptschule“ im bundesdeutschen Kontext. Schulen mit erweiterten Ansprüchen werden als „Sekundarschulen“, die mit der deutschen“ Realschule“ verglichen werden können (Imdorf 2005: 64). Das Schulsystem in dem relevanten Kanton umfasst 2 Jahre Kindergarten, anschließend 6 Jahre Primarschule. Danach erfolgt eine Selektion, wonach die Schüler_innen entweder die restlichen drei Jahre in der Realschule oder der Sekundarschule absolvieren. Der Besuch der Sekundarschule ermöglicht den Übertritt ins Gymnasium, auch Kantonsschule genannt, das mit der Matur/Abitur abgeschlossen wird und zum Eintritt in einen universitären Studiengang oder einer Fachhochschule befähigt (vgl. Imdorf 2005: 75). 15 Es ist eher selten, dass ein Sekundarschüler keine Ausbildung absolviert. Studien belegen, dass ausländische männliche Schüler deutlich mehr Schwierigkeiten haben, ei-

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well) wie Admir zu arbeiten. Es ist deshalb anzunehmen, dass Admir eine zentrale Rolle gespielt hat, um seinem Sohn eine Arbeit zu organisieren. Clirims Besuch der Sekundarschule deutet darauf hin, dass Admir für seinen Sohn einen Bildungsweg anstrebte. Mit dem Einstieg als ungelernter Arbeiter in derselben Firma werden künftige Bildungs- und Ausbildungsmöglichkeiten für seinen ältesten Sohn praktisch unmöglich. Trennung der Familie: Migration der Ehefrau mit den jüngsten Kinder in den Kosovo Ein Jahr nach dem Ende des Krieges im Kosovo zieht Admirs Ehefrau im Jahr 2000 mit den beiden jüngsten Kindern in den Kosovo, der zu diesem Zeitpunkt nach wie vor unter der Zivilverwaltung der UNMIK steht und vom Krieg gezeichnet ist. In dieser Zeit kehren relativ viele Kosovo-Albaner_innen aus der Schweiz in den Kosovo, teils freiwillig teils unfreiwillig, zurück16. Wie folgendes Zitat illustriert, stellt Admir diese Entscheidung als wohlüberlegt dar und betont die Freiwilligkeit der „Rückkehr“. Damit grenzt er sich gegenüber anderen kosovo-albanischen Personen ab, welche die Schweiz verlassen mussten. Zugleich betont er auch, dass es ihm darum ging, die Verbundenheit mit der Herkunftsregion aufrecht zu erhalten. Admir: und ja die zwanzig Jahre in der Schweiz sind auch gut gewesen oder habe ich viel gearbeitet viel gearbeitet.. viel gemacht und.. hier gebaut und so oder dass mir immer so gedacht dass ich zurück gekommen oder dass wir nicht immer in Ausland bleiben..//I: mh// also meine Idee ist so gewesen oder und Kinder in die Schule und unsere Heimat und es so ..wegen Assimilationen von den Kinder oder wenn sie immer auf eine andere Land dann..mit der Zeit kommt alles vorbei oder alles weg oder und drum das und ich selber also ich habe selber einverstanden dass ich zurück komme oder..(2012: 41 - 47)

Da Adifete nur mit den jüngsten beiden Kindern in den Kosovo zieht, zeigt sich, dass Admirs Sorge um die „Assimilation“ vor allem die beiden jüngsten Kinder betrifft, die in der Schweiz geboren sind und nie im Herkunftsdorf gelebt haben. Die Migration in den Kosovo kann deshalb als Admirs Strategie betrachtet wer-

                                                                                                                                ne Lehrstelle zu finden als einheimische männliche Jugendliche (vgl. Haeberlin/Imdorf/Kronig 2004: 21). 16 In den ersten Jahren nach dem Krieg werden Rückkehrer von der Schweiz unterstützt mit Rückkehrhilfe in Form von Geld oder Baumaterial (Burri Sharani et al. 2010: 30). Möglich, dass die Familie von dieser Rückkehrhilfe profitierte, um ihr Haus fertig zu bauen.

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den, die Verbundenheit seiner Kinder zur „Heimat“ sicher zu stellen. Da die Familie jedoch nicht ins Herkunftsdorf, sondern in den Kosovo migriert, ist davon auszugehen, dass Admir mit „Heimat“ Bezug nimmt zum albanisch-sprachigen Siedlungsraum und damit die ethnische Zugehörigkeit für den Migrationsentscheid in den Kosovo bedeutend ist. Die „Rückkehr“ und die Befürchtung einer „Assimilierung“ seiner Kinder in der Schweiz entsprechen zudem sowohl der jugoslawischen wie auch der schweizerischen Migrationspolitik. Admir präsentiert sich in diesem Sinne als idealen „Gastarbeiter“, sowohl aus schweizerischer wie ehemals jugoslawischer Sicht: Er arbeitet im Ausland bis er genügend Geld erarbeitet hat, investiert sein Geld in Immobilien in seiner Heimat (Haus im Herkunftsdorf und im Kosovo) und zieht dann mit seiner Familie dahin zurück. Die Kinder wurden durch albanisch-sprachigen Unterricht mindestens sprachlich auf diese „Rückkehr“ vorbereitet. Daraufhin deutet auch, dass Admir die Migration in den Kosovo als „Rückkehr“ präsentiert, obwohl es sich im eigentlichen Sinne bei der Migration in den Kosovo nicht um eine Rückkehr handelt, denn Admir und seine Familie haben noch nie im Kosovo gelebt und haben dort auch keine Verwandten. Admir betont, dass eine Rückkehr ins Herkunftsdorf für ihn keine Option darstellt, wie folgendes Zitat zeigt. Admir: drum habe ich schon gedacht am Anfang oder dass man wenn wir zurück gegangen dann gehen wir auf..sonst nach Bujanovac nichts nein.. sonst wären wir noch immer dort in der Schweiz..//I: mh// immer noch bis jetzt finde ich es ist kein Weg oder (2012: 107-109)

Für ihn gibt es nur zwei Optionen, ein Verbleib in der Schweiz oder eine Migration in den Kosovo. Als Gründe gegen eine Migration ins Herkunftsdorf nennt er die serbische Politik sowie fehlende Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten resp. die guten Bildungsmöglichkeiten im Kosovo. Admir: schwierig dass du machen etwas kannst machen selber oder privat Firma oder nicht einfach wenn du nicht einverstanden bist mit serbischem Präsidenten mit Serbien … Parlament oder wie sagen wir ..ist ein wenig ein Problem wir in Bujanovac wir sind drei große Gemeinden es sind mehr Albaner //I: mh// und weil es ist immer schwer dass du kannst etwas machen kannst du nur machen was Serbien wollen oder was die sagen was mit dem einverstanden bist dass für die geben und alles und dann weil sonst kannst du nicht gut //I: mh// und weil Leben ist so wir sind ..große große Dorf.. Boden ist nicht so viel oder und die Fabrik hat auch die paar die gewesen sind auch fast alle zu und keine Produktion und kannst nicht.. drum habe ich schon gedacht wenn wir zurück gekommen

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aus der Schweiz dann gehe ich nur auf Prizren Zentrum und wo Universitäten sind wo Schulen sind wo große..da kann man schon also vieles zum Leben und Kinder (2012: 95 104)

Damit wird deutlich, dass das Streben nach sozio-ökonomischem Aufstieg im Sinne von Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten von Admir als zentrales Argument präsentiert wird. Der Erwerb von Wohneigentum in der Kleinstadt in der Schweiz sowie der Besuch der Sekundarschule des ältesten Sohnes deuten darauf hin, dass er diesen Aufstieg in der Schweiz angestrebt hatte. Jedoch hat keines der älteren Kinder in der Schweiz einen sozialen Aufstieg über Bildung oder Arbeit realisiert. Der Zeitpunkt der Migration, seine jüngste Tochter ist nun am Ende der obligatorischen Schulzeit, zeigt auf, dass die Aus- resp. Bildungsmöglichkeiten der jüngsten Kinder eine Rolle spielen für diesen Migrationsentscheid. Kosovo bietet seinen jüngsten beiden Kindern mehr Bildungsmöglichkeiten, da die Selektionsprozesse anders als im schweizerischen Bildungssystem verlaufen. So wird Donika in Prizren direkt in das Gymnasium eingeschrieben, obwohl sie in der Schweiz die Realschule (unterste Bildungsstufe) besucht hat. Das Gymnasium eröffnet ihr den Zugang zur Universität, eine Möglichkeit, die sie in der Schweiz mit dem Realschulabschluss nicht gehabt hätte. Admir lebt die folgenden zwei Jahre in der Schweiz, wo er in der 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung mit seiner zweitältesten Tochter Blerina (22 Jahre alt) und seinem Sohn Clirim (21 Jahre alt) zusammenlebt. Sein Sohn arbeitet in derselben Kartonfabrik wie er, seine Tochter in einer Wäscherei. Mit Admir in der Schweiz bleiben somit nur die erwerbstätigen, bereits volljährigen Kinder. Dies deutet daraufhin, dass die Begründung des Aufenthaltes in der Schweiz stark mit Erwerbseinkommen verbunden ist. Zudem zeigt sich eine Fortsetzung der familialen geschlechtsspezifischen Rollenverteilung. Die Tochter Blerina übernimmt die Aufgaben der Mutter, indem sie sich nebst der Erwerbsarbeit auch um den Haushalt kümmert. Die älteste Tochter ist verheiratet und lebt mit ihren Kindern in der Nachbarschaft in Rheinfelden und gehört mit der Heirat gemäß der patrilokalen Familientradition nun zur Familie des Ehemannes. In diesen zwei Jahren lernt seine Tochter Blerina im Kosovo einen Mann kennen, den sie ein Jahr später im Kosovo heiratet. Ihr Ehemann zieht nun zu ihr in die Schweiz in eine eigene Wohnung in Rheinfelden. Kurz nach der Hochzeit bekommt sie ihren ersten Sohn. Admir wird nun zum dritten Mal Großvater. Er migriert erst nach der Hochzeit von Blerina in den Kosovo. Zum Zeitpunkt seiner Migration in den Kosovo sind nun beide ältesten Töchter, die in der Schweiz bleiben, verheiratet und leben mit ihren kosovo-albanischen Ehemännern und den Kindern in der Schweiz. Ihre Anbindung an die neue „kosovo-albanische

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Heimat“ ist durch die Ehemänner und Schwiegereltern aus dem Kosovo gewährleistet. Admirs Migration in den Kosovo Im Jahr 2002 verlässt Admir im Alter von 48 Jahren die Schweiz und migriert zu seiner Ehefrau und den beiden jüngsten Kindern in den Kosovo. Mit dieser Migration gibt Admir zugleich die schweizerische Niederlassungsbewilligung für sich, seine Ehefrau und die jüngsten beiden Kinder ab. Eine künftige Rückkehr in die Schweiz ist für ihn und seine jüngsten Kinder nun nicht mehr möglich. Auch für kurze Besuche der restlichen Familie in der Schweiz brauchen sie nun alle ein Visum. Dies bedeutet, dass der Entscheid, die Schweiz zu verlassen, für Admir definitiv ist und er auch für seine beiden jüngsten Kinder, welche in der Schweiz aufgewachsen sind, eine Zukunft im Kosovo vorsieht. Mit der Migration in den Kosovo gibt er zugleich auch seine Erwerbsarbeit auf. Er verkauft die Eigentumswohnung in der Schweiz und baut damit weitere Wohnungen im Kosovo, die vermietet werden. Dadurch beendet er die Strategie des sozialen Aufstieges dank der Erwerbsarbeit in der Schweiz und lebt fortan von der Vermietung seiner Immobilien in Albanien und im Kosovo. Admir präsentiert die Migration in den Kosovo als erfolgreiche Realisierung des sozio-ökonomischen Aufstieges in der „Heimat“. Admir: Das habe ich gut studiert ..so habe ich schon gedacht am Anfang so gut gelaufen dann ist dann alles gut der Plan ist gut gegangen ich bin ja früher gekommen.. und jetzt seit 15 Jahren ich arbeite nichts also fast nichts also zu Hause Hauswart sagen wir.. ja nur hier vermieten Studenten vier Zimmer und zwei Laden und zwei Wohnungen die wir selber brauchen oder.. (2012: 495 - 498)

Die Migration in den Kosovo wird von Admir als geplantes Ziel des erfolgreichen sozio-ökonomischen Aufstieges präsentiert. Er betont dabei, dass er sich diesen Aufstieg durch harte Arbeit verdient hat und diese Migration von Anfang geplant war. Admir: sind Arbeitsjahre ((lacht)) sagen wir Arbeitsjahre viel gemacht viel gearbeitet Überzeiten auch damit ich ein bisschen mehr immer dass ich hier ein wenig mehr mache damit wenn ich zurück komme dass ich Geld habe und dass ich eine Wohnung habe dass ich alles habe.. (2012: 544 - 546)

Admir erwähnt die guten Ausbildungen seiner jüngsten beiden Kinder und stellt damit dar, dass sein Plan, durch die Migration seinen Kindern eine gute Ausbil-

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dung (Gymnasium und Universität) zu ermöglichen, aufging. Nebenbei erwähnt er, dass seine Tochter Donika arbeitet. Damit vermeidet er, den abgebrochenen Bildungsweg seiner Tochter zu erwähnen und so nicht zu thematisieren, dass nicht beide Kinder die Bildungserwartungen erfolgreich erfüllen konnten. 2009 erhält Serbien visumsfreien Zugang zum Schengenraum (vgl. Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD 2009). Da Admir und seine Familie alle über serbische und kosovarische Pässe verfügen und serbische Nummernschilder an den Autos haben, kann Admir nun problemlos seine Familie im Herkunftsdorf besuchen, das heute in Serbien liegt und auch ein Besuch bei den ältesten beiden Töchtern in der Schweiz ist nun visumsfrei möglich. Wie in folgendem Zitat ersichtlich ist, stellt Admir: die ganze Familie ist unten jetzt ich habe nur ich alleine bin von der Familie zurück also in der Schweiz habe ich noch einen Bruder und Schwester die arbeitet und zwei Tochter noch und eine Schwester ist in Deutschland.. eine in Mazedonien …und.. von Familie von Frau sind alles oder in Bujanovac..//I:mh// aber wir gehen oder.. jede zweite dritte Woche oder gehen Samstag Sonntag (2012: 114 - 117)

Erweiterung der Familie im Kosovo 2010 verlässt sein ältester Sohn Clirim die Schweiz und zieht mit seiner Ehefrau und der neugeborenen Tochter zu Admir und seiner Frau in dieselbe Wohnung im Kosovo. Clirim findet bald darauf Arbeit in derselben Firma wie seine Schwester Donika. Damit lebt nun mit Ausnahme der beiden verheirateten Töchter die gesamte Kernfamilie (Admir mit Ehefrau und den drei jüngsten Kindern inklusive Familie des ältesten Sohnes) gemeinsam in der Eigentumswohnung in Prizren, Kosovo. Admir betont die Vorteile des Lebens im Kosovo. Er erwähnt, dass Clirim und seine Frau arbeiten, was in einem Land mit einer sehr hohen Arbeitslosenquote eine Besonderheit darstellt. So gelingt es ihm, seinen Sohn als erfolgreich darzustellen, obwohl Clirim keine Ausbildung hat und lange Zeit in der Schweiz arbeitslos war. Dabei wird auch ersichtlich, dass Admir ein gutes Leben über Arbeit, Einkommen, Immobilien und Konsumgüter (Auto) definiert. Admir: keinen Stress nix oder also gut organisieren gut leben und so.. er arbeitet Frau arbeitet kannst ja fast alles hierher ((sehr undeutlich)) das langt alles zu Hause Auto hat (2012: 533 - 534)

Ungefähr im selben Jahr stirbt Admirs Mutter im Herkunftsdorf. Admir verkauft nach dem Tod seiner Mutter sein Haus in Südserbien an einen Cousin und kauft dafür ein Stück Land etwas außerhalb von Prizren. Der Hausverkauf, der zu-

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sammenfällt mit dem Tod seiner Mutter, symbolisiert die Ablösung gegenüber der Herkunftsfamilie und des Herkunftsortes. Zudem verkauft er auch die Pension in Albanien, um den Aufbau eines Zweifamilienhauses auf diesem neuen Grundstück am Stadtrand zu finanzieren. Damit wird eine örtliche Konsolidierung sichtbar: Sämtliche Investitionen werden nun in den Kosovo verlagert und symbolisiert die Verlagerung des Lebensmittelpunktes nach Prizren. 2013, beim letzten Interview, stehen zwei neue Häuser auf diesem Grundstück am Stadtrand. Es handelt sich um zwei zusammengebaute Einfamilienhäuser, ganz ähnlich wie die zwei Häuser damals im Dorf Zuzgen in der Schweiz. Geplant ist, dass der älteste Sohn mit seiner Frau und den zwei Kindern in die eine Haushälfte und Admir mit seiner Frau und den beiden unverheirateten Kindern Egzon und Donika in die andere Haushälfte ziehen wird. Dieses Zweifamilienhaus symbolisiert Admirs sozio-ökonomischen Erfolg und zugleich auch sein Bestreben, die Familie an einem Ort zusammenzuhalten. Dieser Familienzusammenhalt zeigt sich auch darin, dass die Einkommen von allen Familienmitgliedern des Haushaltes zusammengelegt werden. Admir: bis dann muss ich noch etwas arbeiten zwischen drin etwas verdienen.. also nicht vom Geld wegnehmen.. aber wir sind einverstanden also mit dem Lohn alles zusammen zu Hause und dann organisieren was man macht also //I: mh// das geht gut bin ich zufrieden also mit der ganzen Familie bin ich zufrieden (2012: 57 - 60)

Admir stellt damit dar, dass es ihm gelungen ist, in Prizren eine neue Form des familialen Mehrgenerationenhaushalt aufzubauen, welcher, wie in den Großfamilien üblich, als Kollektiv nach patriarchalen Strukturen organisiert wird und ihm eine Vorrangstellung einräumt. Daraufhin deutet auch die Arbeitsteilung im Haushalt während des Interviews. Seine Schwiegertochter, die Frau von Clirim, backt uns während dem Gespräch in der Küche einen Kuchen und bedient uns. Der erfolgreiche soziale Aufstieg, den Admir sich durch harte Arbeit in der Schweiz erfüllt hat, ist deshalb ein Familienprojekt, das zugleich auch eine Anbindung seiner Söhne beinhaltet. Dieser neue Mehrgenerationenhaushalt befindet sich im Unterschied zu seiner eigenen Kindheit in einer Großstadt, die im Unterschied zu seinem Herkunftsdorf allen Familienmitgliedern mehr Möglichkeiten eröffnet, wie Admir im folgenden Zitat betont. Admir: also zufrieden bin ich die letzten zehn Jahre da bin ich zufrieden der Plan und alles ist gut bin zufrieden dass für die Kinder sind auch gut und arbeiten auch zufrieden sind oder also die Zeit ist also gut gelaufen bin ich frei was ich will kann ich machen Auto habe ich Visum habe ich Pass habe ich von beiden von Serbien und von Kosovo die Kinder

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auch also bin ich frei was ich will wo ich will machen das ist die zehn Jahre sind also gut (2012: 537 - 542)

Admir präsentiert damit, dass er in seinem Leben mit 58 Jahren alles erreicht hat, was er wollte - und vielleicht auch musste. Sein Plan der „Rückkehr“ ist aufgegangen. Er lebt heute mit seiner Ehefrau und seinen beiden erwachsenen, unverheirateten Kindern sowie dem ältesten Sohn mit dessen Frau und zwei Kindern in der gleichen Wohnung. Bald werden sie in ein Zweifamilienhaus mit Garten an den Stadtrand umziehen. Der sozio-ökonomische Aufstieg vom einfachen Leben im Herkunftsdorf in Südserbien zu einem neuen Leben für die eigene Kernfamilie in einer Großstadt im Kosovo ist ihm gelungen. Fallstruktur: Realisierung des sozio-ökonomischen Aufstiegs für die Familie An dieser Stelle wird die Zusammenfassung der Fallstruktur dargestellt, um die zentralen Elemente der Fallrekonstruktion nochmals verdichtet festzuhalten als Vorbereitung für den komparativen Vergleich und die Beantwortung der Fragestellung der intergenerationalen Transmissionsprozesse im nächsten Kapitel. Die Darstellung folgt nun den zentralen Handlungsstrukturen und nicht mehr der sequenziellen Logik. Familiale Verpflichtungen als ältester Sohn, Ehemann und Vater Nachdem Admirs Vater in den 1970er Jahren saisonal in Deutschland zu arbeiten beginnt und den grössten Teil des Jahres dort verbringt, übernimmt Admir als ältester Sohn die Verantwortung für die jüngeren Geschwister und die Mutter. Dies wird sichtbar an seiner Mithilfe auf dem elterlichen Hof (Subsistenzwirtschaft und Holzwirtschaft) nebst dem Besuch des Gymnasiums. Er lernt hier, Verantwortung für eine Familie zu übernehmen. Diese familialen Verpflichtungen führen zu einem Spannungsfeld zwischen Bildungsweg und familiale Unterstützung und führen nach der Heirat zu einem Abbruch des Studiums. Damit stellt Admir die familiale geschlechterspezifische Rolle als Familienernährer über den Bildungsweg. Dies wird ersichtlich an der Rückkehr auf den elterlichen Hof und der dortigen Gründung einer eigenen Familie, vermittelt durch Verwandte. Als Ehemann und Vater führt er die Übernahme familialer Verantwortung weiter, indem er in die Schweiz migriert und mit dem erworbenen Einkommen seine Familie unterstützt. Er orientiert sich damit am vom Vater vorgelebten Streben nach sozio-ökonomischem Aufstieg durch Arbeitsmigration ins Ausland. Die Migration steht deshalb in Zusammenhang mit der Übernahme der Rolle als Familienernährer. Zugleich kann er mit der Organisation von Arbeit für

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den Bruder und den Schwager in derselben Firma in der Schweiz auch seine Rolle als ältester Sohn erfüllen. Später hilft er den jüngeren Geschwistern, den Familiennachzug zu organisieren und findet ihnen eine geeignete Wohnmöglichkeit in der nächsten Umgebung. Insgesamt kann festgestellt werden, dass Admir die Rolle des ältesten Sohnes und damit der Unterstützung seiner Geschwister und der Mutter nach der Migration des Vaters übernimmt. Er wird dadurch zur zentralen Person in der Familie. Die Form der Unterstützung ändert sich im Verlaufe des Lebens, zuerst handelt es sich um ganz direkte Unterstützung auf dem Hof, später besteht die Unterstützung in der Organisation von Arbeit und Wohnung für seine Geschwister in der Schweiz. Diese direkte Unterstützung der erweiterten Familie endet mit der Migration in den Kosovo resp. mit dem Verkauf des eigenen Hauses im Herkunftsdorf nach dem Tod seiner Mutter. Streben nach sozialem Aufstieg über Bildung und Arbeit Durch die Arbeitsmigration seines Vaters erlebt Admir eine Unterstützung seines Bildungsweges, der ihn zuerst ans Gymnasium in der nächsten Stadt und später in die Nachbarrepublik an die Universität führt. Damit findet zugleich eine Entfernung vom familialen, ländlichen und bildungsfernen Milieu statt, die mit der Heirat einer Frau aus dem Nachbardorf beendet wird. Das Streben nach sozialem Aufstieg und die Entfernung vom Herkunftsdorf führt Admir nach der Familiengründung durch die Arbeitsmigration im Ausland fort. Diese ermöglicht ihm geschlechtsspezifische familiale Erwartungen an seine Rolle als Familienvater mit seinem Streben nach sozialem Aufstieg als Kompensation des abgebrochenen Bildungsweges zu vereinen. Dies wird sichtbar am Bau eines eigenen Hauses auf dem Hof des Vaters. Die Migration der gesamten Familie in die Schweiz begründet Admir mit besseren Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten für seine Kinder und stellt eine Kontinuität seiner Bestrebung nach einer Distanzierung vom ländlichen, bildungsfernen Milieu dar und beinhaltet die Übertragung des Strebens nach sozialem Aufstieg resp. der Bildung an seine Kinder. Dies zeigt sich daran, dass alle Kinder den Sekundarschulübertritt (Übertritt höhere Bildungsstufe) in der Schweiz versuchen. Trotzdem schafft keines der älteren drei Kinder in der Schweiz einen höheren Bildungsabschluss. Die erneute Migration in den Kosovo mit den jüngsten beiden Kindern entspricht deshalb seinem Streben des Übertrages der Bildungsaspiration an seine beiden jüngsten Kinder, welche beide im Kosovo das Gymnasium abschliessen und ein Universitätsstudium beginnen.

 

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Anbindung an die „neue Heimat“: Wiederherstellung eines Mehrgenerationenhaushaltes Trotz der geographischen Distanz ist für Admir die Verbindung zur Herkunftsregion zentral. Die ethnische Komponente gewinnt dabei während der Zeit in der Schweiz an Bedeutung, worauf die Investitionen in Immobilien in albanischsprachigen Regionen (Kosovo und Albanien) hinweisen. Auch bei der Wahl der Ehepartner seiner Kinder zeigt sich die Bedeutung der geographischen und ethnischen Zugehörigkeit: Beide Töchter und auch der Sohn heiraten kosovo-albanische Personen. Darin ist Admirs Bestreben seit der Migration in die Schweiz festzustellen, seine eigene Familie zusammenzuhalten und eine Verbindung zum Kosovo herzustellen. Admir wählt Kosovo als neue Migrationsdestination aus und begründet diese mit guten Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Da er zudem seine eigene finanzielle Absicherung im Alter (Vermietung von Wohnungen, Pension aus der Schweiz) organisiert, wird sichtbar, dass er damit anstrebt, seinen Söhnen einen Bildungsaufstieg und die künftige Übernahme der Rolle als Familienernährer im selben Land zu ermöglichen und damit die Tradierung der Arbeitsmigration im Ausland zu beenden. Eine künftige Arbeitsmigration seiner jüngsten Kinder verhindert Admir zudem auch durch den Verfall der schweizerischen Niederlassungsbewilligungen. Darin ist sein Streben zu erkennen, für seine Kinder die Vereinbarkeit von Familie und sozio-ökonomischem Aufstieg in einem Land zu ermöglichen und damit eine erneute Migration seiner Kinder zu verhindern. Es gelingt ihm damit, seine Familie zusammenzuhalten und in Prizren einen neuen Mehrgenerationenhaushalt für sich und seine Söhne aufzubauen. Symbolisiert wird diese familiale Anbindung seiner Söhne an ihn durch das neue Zweifamilienhaus für seine beiden Söhne. Dadurch wird zudem auch ersichtlich, dass Admir nach dem Erhalt resp. der Weitergabe einer patrilinearen Familienordnung strebt. 6.1.2 Adifete – Hüterin des familialen Zusammenhaltes Die Darstellung der Fallanalyse beginnt wie bei Admir mit dem Beschrieb der Kontaktaufnahme und der Interviewsituation und anschließend dem Präsentationsinteresse (erzählte Lebensgeschichte). Die Reflexion der Interviewsituation ist bei Adifete besonders bedeutsam, da im Sinne der differences in situatedness (Lutz 2014) Sprache und Geschlecht als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse sichtbar werden, die durch die Interviewsituation resp. die Interviewerin relevant wurden. Adifete ist beim ersten Mal, als wir uns im Sommer 2012 bei ihr zu Hause begegnen, 58 Jahre alt und lebt mit ihrem Ehemann Admir, der jüngsten

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Tochter Donika sowie dem verheirateten Sohn Clirim und dessen Ehefrau und Kind in einer Eigentumswohnung im Stadtzentrum von Prizren im Kosovo. Kontaktaufnahme und Interviewkontext: Sprache und Geschlecht als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse17 Es findet ein erstes Gespräch im Wohnzimmer statt, bei dem ich nach der Lebensgeschichte aller anwesenden Familienmitglieder frage. Nachdem Admir seine Lebensgeschichte erzählt hat, frage ich Adifete nach ihrer Lebensgeschichte. Ihr Sohn Clirim übersetzt zuerst, übernimmt jedoch anschließend das Gespräch und sie kommt nicht dazu, ihre Geschichte zu erzählen. I: wie ist für euch gewesen Adifete: He Clirim: wie war es für dich Adifete: ..gut.. I: Oder wenn ihr vielleicht auch von vorne anfängt.. Ihr seid ja auch ursprünglich von aus Bujanovac Adifete: mh ich verstehe sie nicht Clirim: wo sie ist es ist schwierig…sie ist sie kann nicht gut reden Admir: ˪sie ist sie kann nicht gut reden oder (2012: 124 - 131)

Es unternimmt darauf niemand der Anwesenden und deutschsprechenden Familienmitglieder den Versuch, ihre Teilnahme am Gespräch durch eine Fortsetzung der Übersetzung zu ermöglichen. Auch beim zweiten Besuch in der Familie gelingt es mir nicht, mit ihr direkt ins Gespräch zu kommen. Jedoch stelle ich bei der Transkription der Interviews fest, dass die Mutter die Aussagen der anderen Familienmitglieder aufmerksam mitverfolgt und anscheinend auch versteht, was an häufigen Lachern und kurzen Kommentaren ersichtlich ist. Nach den Fallrekonstruktionen der anderen Familienmitglieder und dem Entscheid, das theoretische Sampling auf diese Familie zu fokussieren, nehme ich 2015 erneut über den Sohn Egzon Kontakt mit der Familie auf. Ich frage Egzon per Email an für ein Gespräch mit seiner Mutter und erwähne die Möglichkeit, eine Übersetzung für das Gespräch mitzubringen. Egzon schlägt ein Treffen mit

                                                             17 Dieses Kapitel der Analyse des Interaktionsprozesses von Adifete mit der Interviewerin ist eine überarbeitete Fassung des Abschnittes „Grenzziehungsprozesse als doppelte Konstruktion von Intersektionalität im Forschungsprozess“, das als Teilergebnis der vorliegenden Arbeit im Aufsatz „Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung“ (Ammann Dula 2018) publiziert wurde.

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seiner Mutter an einem Samstagmittag im Herbst 2015 in einem Café im Stadtzentrum von Prizren vor und bietet an, dabei zu sein, um zu übersetzen. Die Wahl des Interviewortes erstaunt mich, da ich davon ausging, dass das Interview wie bisher bei der Familie zu Hause stattfinden würde. Ich vermutete deshalb im Vorfeld des Gespräches, dass Adifete mir vielleicht Dinge erzählen könnte, die sie in Anwesenheit ihres Ehemannes nicht ansprechen würde. Adifete begründet gleich zu Beginn die Ortswahl. Die Großkinder seien zu Hause und wollte deshalb lieber im Café mit mir sprechen, da es zu Hause zu laut sei. Ihr Ehemann Admir würde nach den Kindern schauen. Dies deutet darauf hin, dass in Bezug auf die Sorge um die Enkelkinder eine Veränderung der familialen Geschlechterrollen stattgefunden hat und sich Admir in der Kinderbetreuung der Enkelkinder engagiert. Das Interview mit Adifete findet in einer entspannten Atmosphäre statt. Adifete lacht viel, weint zwischendurch jedoch auch, als sie vom Tod ihrer Mutter erzählt. Der Sohn Egzon übersetzt ihr meine Fragen. Adifete antwortet oft direkt auf Deutsch. Einige Male antwortet sie zuerst auf Deutsch und ergänzt sich selbst auf Albanisch. Trotz der entspannten Atmosphäre ist es insgesamt sehr schwierig, ein biographisch-narratives Interview zu führen. Meine bewusst sehr offenen Fragen nach der Familien- und Lebensgeschichte und erzählgenerierenden Nachfragen werden von Egzon bei der Übersetzung oft präzisiert. Dadurch kommt Adifetes Erzählfluss immer wieder ins Stocken und die Auswahl der Themen wird durch die Übersetzung beeinflusst. Zudem hat auch die Anwesenheit des jüngsten Sohnes Einfluss auf die angesprochenen Themen. Dies wird an der folgenden Stelle ersichtlich, als Adifete erwähnt, dass sie ihre Kinder nicht unterstützen konnte wegen der Sprache. Adifete: wart schnell.. als ihr klein ward.. sagen wir mal.. ich konnte euch nicht helfen mit deutsch..dort ist das Problem Egzon: mh..sie sagt sie hat ..ehm Mühe gehabt als wir noch Kinder gewesen sind hat sie halt nicht können wirklich helfen mit Deutsch und Adifete: helfen weißt du Egzon: mit Deutsch und mit Schule in der Schweiz und alles und das.. hat ihr immer ein bisschen Sorgen gemacht weil sie uns nicht helfen konnte wir sind dann auf uns selber halt verlassen gewesen (2015: 21 - 29)

Egzon ergänzt die Ausführungen der Mutter mit der Bemerkung, dass er und seine Geschwister als Kinder auf sich selber angewiesen waren, resp. „verlassen“ waren. Dieses Zitat zeigt exemplarisch auf, dass durch die Übersetzung seine Erinnerungen und sein Erleben in dieses Gespräch einfliessen. Zudem hat

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Adifete ein Vorwissen darüber, was ich bereits weiss resp. was die anderen Familienmitglieder, Donika, Clirim und ihr Ehemann mir erzählt haben, da sie bei diesen Gesprächen 2012 und 2013 dabei war. Dies erklärt auch, warum Adifete praktisch nichts über Ereignisse erzählt, die ihre Kinder betreffen wie bspw. deren Heirat. Die Analyse des Interviews 2015 sowie des Interaktionsprozesses während allen Gesprächen zeigt auf, dass dem Thema der Sprache eine besondere Bedeutung zukommt. Das Argument der fehlenden Sprachkenntnisse bewirkt, dass Adifete im ersten Gespräch mit der Familie nicht dazu kommt, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Da alle anderen Familienmitglieder gut deutsch sprechen, ergibt sich dadurch eine unterschiedliche Interaktion zwischen mir und ihr und den übrigen Familienmitgliedern. Die Sprachkenntnisse schränken die Möglichkeiten ein, mit ihr alleine zu sprechen. Dies deutet darauf hin, dass die fehlenden Sprachkenntnisse ihre Autonomie in deutschsprachigen Kontexten einschränkt wie bspw. während ihrer Zeit mit der Familie in der Schweiz. Durch mich als deutschsprachige Forscherin wird eine solche Situation wiederhergestellt. Im biographisch-narrativen Interview finden sich weitere Hinweise auf die Bedeutung der Sprache. Die Analyse hat aufgezeigt, dass das Thema der Sprache im Zusammenhang steht mit vergeschlechtlichten, klassenspezifischen und ausländerrechtlichen soziokulturellen Grenzziehungsprozeen in der Schweiz. So bezeichnet Adifete die Zeit in der Schweiz als „schwierig“ im Gegensatz zu ihrer Kindheit und der Zeit als Ehefrau und Mutter im Herkunftsdorf im ehemaligen Jugoslawien. Wie in folgendem Zitat ersichtlich ist, thematisiert sie als zentralen Aspekt nebst den fehlenden Sprachkenntnissen auch den Einstieg in die Erwerbsarbeit, den sie als finanzielle Notwendigkeit darstellt und sie hinderte, ihren Kindern in der Schule beim Lernen der deutschen Sprache zu helfen. Adifete: arbeiten Fabrik weißt du in: Schweiz /mh/ und zu Hause auch arbeiten ((lacht)) putzen waschen ((lacht)) (4) Essen machen Kinder Schule und es so ist ein Problem weißt du (2015: 15 - 18)

Dieses Zitat zeigt die Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen in der Schweiz für Adifete auf. Als Mutter von fünf Kindern und Ehefrau eines „Gastarbeiters“ und mit verkürzter Grundschulbildung sind ihre Möglichkeiten beschränkt, in der Schweiz Erwerbsarbeit mit ihrer Mutterrolle zu verbinden und auch noch am gesellschaftlichen Leben in der Schweiz teilzunehmen. Diese Situation kann gemäß Lenz (1996: 216) als dreifache Vergesellschaftung im Geschlechterverhältnis bezeichnet werden. Soziale Ungleichheit im Geschlechterverhältnis zeigt sich durch Prozesse ungleichzeitiger Vergesellschaftung von

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Frauen und Männern auf nationaler Ebene. Gleichzeitig wirken Einflüsse im Rahmen eines ungleichen kapitalistischen Weltsystems international auf diese Geschlechterverhältnisse ein. Als erste Ebene der Vergesellschaftung bezeichnet Lenz die Familie resp. den Haushalt und die damit verbundene neopatriarchale Arbeitsteilung (Lenz 1996: 216). Dies zeigt sich bei Adifete beim Einstieg in die Erwerbsarbeit, neben der sie nach wie vor die ganze Haushaltsarbeit in der Familie verrichtet. Als zweite Ebene bezeichnet Lenz (1996: 216) die Arbeitskraft im kapitalistischen Arbeitsmarkt, die sich bei Adifete in der Situation als unqualifizierte Arbeitskraft in einer Firma im Tieflohnsektor zeigt. Die dritte Ebene stellt der moderne Nationalstaat dar, als politische Vergesellschaftung, Staatsbürgerschaft und der politischen Partizipation (Lenz 1996: 217). Dazu gehören auch die Regelungsmechanismen des Zugangs zu nationalstaatlich vermittelten grundlegenden Ressourcen, wie das Recht auf einen Arbeitsplatz oder Zugang zur sozialen Sicherung (Lenz 1996: 217). Bei Adifete betrifft dies ihren Ausländerstatus, der ihren Zugang zum Arbeitsmarkt sowie die politische Teilnahme einschränkt. Diese dreifache Vergesellschaftung wirkt als soziokultureller Grenzziehungsprozess in Verbindung der Kategorien Klasse, Geschlecht und Ausländerstatus und schränkt ihre Möglichkeiten der Aneignung von Sprachkompetenzen und der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben stark ein. Adifete spricht diese soziokulturellen Grenzziehungsprozesse an, indem sie das Leben in der Schweiz als schwierig bezeichnet, weil sie keine ihrer Rollen für sie befriedigend ausführen konnte. Dies führte zu einer Schwächung ihrer Position in der Familie in der Schweiz. Diese Situation wurde im Interviewkontext im Kosovo durch meine Präsenz als deutschsprachige Schweizerin reproduziert. Die erzählte Lebensgeschichte: „Kinder haben Geld (dann) vergessen (sie den) Vater“18 Adifete präsentiert ihre Lebensgeschichte als eine Wieder-Annäherung an ihre Kindheitssituation. Das Aufwachsen in der erweiterten Großfamilie mit regelmässigen Besuchen der Verwandtschaft in der Umgebung beschreibt Adifete als schöne Zeit und stellt damit dar, dass für sie die Pflege von verwandtschaftlichen Beziehungen sehr wichtig ist. Dieser Familienzusammenhalt entspricht ihrem zentralen Präsentationsinteresse, aus dem heraus sie die Arbeitsmigration ihres Vaters als Problem für ihn darstellt, da er alleine in der Fremde den Großteil des Jahres verbringen muss und dabei auch Aufgaben zu übernehmen hat, die eigentlich die Frauen übernehmen wie kochen und waschen, wie folgendes Zitat zeigt.

                                                             18 Adifete (2015: 194).

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Adifete: aber Leben mein Vater nicht so gut weißt du ganzer Tag gearbeitet und nach Hause gekommen muss kochen essen und so..waschen auch (2015:158 - 159)

Sie präsentiert damit zugleich auch die Bedeutung von familialen Geschlechterrollen, indem sie darstellt, dass der Vater seine Rolle als Familienernährer wahrnimmt und damit im Interesse der Familie seine eigenen Bedürfnisse zurücksteckt. Diese Trennung der Familie durch die Arbeitsmigration des Vaters bewertet sie zudem auch als negativ für die Vater-Kinder-Beziehung. Die eigene Migration zu ihrem Ehemann in die Schweiz wird damit zur Strategie, diese familiale Trennung zu überwinden, damit ihre eigenen Kinder ihren Vater nicht vergessen. Zudem stellt sie mit der Migration in die Schweiz den Zusammenhalt ihrer Kernfamilie über ihre eigenen Interessen, was an ihrer Beschreibung der schweren Situation in der Schweiz sichtbar wird. Die Familie umfasst für Adifete jedoch nicht nur die eigene Kernfamilie. Im Zusammenhang mit dem Tod ihrer Mutter problematisiert sie die Distanz zu ihrer Herkunftsfamilie und stellt damit die Migration in den Kosovo als Rückkehr in die Nähe ihres Herkunftsdorfes und ihrer (erweiterten) Familie dar. Sie betont, dass damit die regelmässigen Besuche bei Verwandten in der Umgebung nun wieder möglich sind. Durch die Betonung der Pflege der familialen Beziehungen zu der erweiterten Familie präsentiert sich Adifete über die Familie, welche sie lokal im Herkunftskontext verortet. Individuelle Bedürfnisse, Wünsche und Erwartungen werden dabei für den Erhalt des Familienzusammenhaltes zurückgestellt. Die Bedeutung der erweiterten Familie steht im Zusammenhang mit den Folgen des Todes ihres Großvaters, wie die Analyse der gesamten Lebensgeschichte aufzeigt. Adifete stellt dar, dass ihre Großmutter ihre fünf Kinder nach dem Tod ihres Ehemannes ohne Unterstützung der erweiterten Familie alleine unter sehr schwierigen sozio-ökonomischen Bedingungen großzog. Die Pflege der Verwandtschaftsbeziehungen wird damit zu Adifetes zentraler Handlungsstrategie, welche in Zusammenhang mit der Absicherung der sozio-ökonomischen Situation der Familie ,gerade in Zeiten von politischen und ökonomischen Unsicherheiten, steht. Zudem zeigt die Analyse der erzählten Lebensgeschichte auch auf, dass Adifete der Präsentation des Strebens nach sozialem Aufstieg ihres Ehemannes Admir und ihres Sohnes Clirim widerspricht. Im Gegensatz zu Admir thematisiert sie den sozialen Abstieg, den die Migration in der Schweiz für sie brachte. Dies wird besonders deutlich am Thema des Hausbaues. Wie folgendes Zitat illustriert, stellt Adifete dar, dass sie durch Admirs Arbeitsmigration im Herkunftsdorf ein schönes Haus aufgebaut hatten, jedoch das Herkunftsdorf verliessen,

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ohne dort jemals gewohnt zu haben. Stattdessen zieht sie zu Admir in die Schweiz und lebt dort in der ersten Zeit in einem alten, nicht renovierten Zweifamilienhaus. Adifete: neue Haus gelassen in die Schweiz eine alt Haus genommen mein Gott ((lacht)) (2015: 1254)

Zudem stellt Adifete auch dar, dass für sie eine Rückkehr ins Herkunftsdorf eine Alterative zu der Migration in den Kosovo darstellt. Auch damit widerspricht sie ihrem Ehemann Admir, der betont, dass eine Rückkehr aufgrund der fehlenden Arbeits- und Bildungsmöglichkeiten für ihn nicht in Frage kam. Mit diesen Abweichungen vom zentralen Präsentationsinteresse des Strebens nach sozialem Aufstieg lässt sich erklären, weshalb Admir und Clirim im ersten Gespräch mit der Familie im Jahr 2012 Adifete nicht unterstützen, ihre Lebensgeschichte zu erzählen. Fallrekonstruktion: Leben mit der Familie Familialer Kontext Adifetes Eltern sind in der Zeit des „ersten Jugoslawiens“ geboren. In dieser Zeit steht das Schulsystem im Dienst der Nationalisierungspolitik und besteht ausschliesslich aus serbokroatischen Schulen und führte deshalb zu einer sehr tiefen Alphabetisierungsquote der albanischen Minderheit, insbesondere der ländlichen Bevölkerung und der Frauen. Dies bedeutet, dass Adifetes Eltern als Teil der albanischen Bevölkerung auf dem Lande im südlichen Teil Jugoslawiens vor dem Zweiten Weltkrieg in einer marginalen Situation befanden und kaum Zugang zu Bildung, politischer Mitbestimmung oder Erwerbsarbeit außerhalb der Landwirtschaft hatten. Adifete erzählt, dass ihr Großvater in der Zeit des ersten Jugoslawiens im Jahr 1932 umgebracht wurde. Sie präsentiert die Ermordung im Zusammenhang mit einem Krieg, wie folgendes Zitat zeigt: Adifete: sie waren mit kleinem Knaben..nur Großmutter...Vater ist umgebracht im Krieg..Großvater hatten wir nicht..ich weiss es nicht (2015: 635 - 638)

Allerdings zeigen Recherchen auf, dass es in dieser Zeit um 1932 im ersten Jugoslawien keinen Krieg gab. Sie bringt seinen Tod, wie folgendes Zitat zeigt, jedoch auch in Verbindung zu Kommunisten, was darauf hin deutet, dass Adifetes

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Großvater erschossen wurde, weil er sich politisch im kommunistischen Bauernverbund engagierte19. Adifete: vom Krieg weißt du Kommunist..//ja// vorne weißt du..Serbe (2015: 642)

Durch Adifetes Situierung der Ermordung ihres Großvaters in einer Zeit des Krieges normalisiert sie dieses Ereignis, da im Krieg viele Menschen erschossen wurden, und vermeidet dadurch die Notwendigkeit einer weiteren Erläuterung der Umstände. Zugleich stellt sie damit auch dar, dass ihr Großvater nicht gezielt aufgrund seines besonderen politischen Engagements ermordet wurde, sondern im Kontext von Krieg. Sie erwähnt erst später nochmals kurz, dass der Großvater durch einen serbischen Nachbarn ermordet wurde. Adifete: ja ohne Vater.. ohne Vater weißt du..meine Großmutter fünf Kinder weißt du fünf Söhne..weißt du mit Kleinem schwanger gewesen weist du mit kleinem weißt du..Serbe weißt du..wie soll ich sagen ein Nachbar von uns hat ihn erschossen (2015: 653-656)

Im Zentrum von Adifetes Erzählung über die Ermordung ihres Großvaters stehen nicht die damaligen politischen Umstände, sondern die Folgen für ihre Großmutter, welche nun ihre fünf Söhne alleine großzuziehen hat. Ihr Vater war damals fünf Jahre alt und die Großmutter war schwanger mit dem jüngsten Sohn. Eine alleinerziehende Frau ist in dieser Zeit auf dem Lande eine große Ausnahme, da dort in dieser Zeit das Leben in Mehrgenerationenhaushalten üblich war. Das Leben ohne Verwandtschaft und die damit verbundenen Solidaritätsbeziehungen stellt unter den damaligen sozio-ökonomischen Bedingungen im ländlichen Milieu ein großes Armutsrisiko dar (vgl. Calic 2014: 101). Adifete thematisiert die finanzielle Notlage, die mit dem Tod des Großvaters verbunden war, wie in folgendem Zitat zu sehen ist.

                                                               19 1931 fanden Studentendemonstrationen in Belgrad statt, die auf Initiative der Kommunistischen Partei organisiert wurden und stellen den ersten öffentlichen Protest gegen die Königsdiktatur dar. Diese Studentenunruhen breiten sich aus auch in Zagreb und Ljubljana und hielten in Belgrad bis April 1932 an (Ramet 2011: 126). Zugleich wurden Regimekritiker wie Anhänger der Ustascha in Kroatien (Ramet 2011: 135) oder Mitglieder der Demokratischen Partei und des Bauernbundes verurteilt (Ramet 2011: 131). Jedoch ist nichts über einen Krieg zu finden.

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Adifete: ganz alleine weißt du I: (aber im selben Dorf) Adifete: ohne Zahltag ohne ehm weißt du I: und wie haben sie gelebt (2) Adifete: Erde bebaut..Vieh..wie Männer wie soll ich sagen (2015: 668 - 673)

Adifete beschreibt, dass ihre Großmutter damals mit der Arbeit auf dem Hof ihre Familie ernährt hat und somit männlich konnotierte Aufgaben in der Landwirtschaft übernehmen musste. Sie stellt damit das Leben ihrer Großmutter ohne (männliches) Erwerbseinkommen als schwierig dar. Indem Adifete die finanziellen Konsequenzen für die Großmutter durch die Ermordung des Großvaters erwähnt, präsentiert sie eine geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie: Die Ehemänner sind verantwortlich für die Ernährung resp. das finanzielle Einkommen der Familie. Diese Aufgabenteilung wird durch den Tod des Großvaters verändert, da die Großmutter nun alleine die Aufgabe der Familienernährung übernehmen muss. Diese Rollenveränderung wird von Adifete als problematisch beschrieben und in Zusammenhang gebracht mit einer finanziell prekären Situation. Den Zweiten Weltkrieg erlebt Adifetes Vater als Jugendlicher, Adifetes Mutter war acht Jahre alt bei Kriegsbeginn. Aufgrund der Nationalpolitik im ersten Jugoslawien und den Bulgarisierungsversuchen im Zweiten Weltkrieg hatten Adifetes Eltern kaum Zugang zu Bildung und erlebten ihre Kindheit und Jugendzeit im Kontext von Repressionen. Religionsunterricht war die einzige Möglichkeit für Bildung und spielte in dem Leben der Familie vermutlich eine wichtige Rolle, woraufhin Adifetes Bezeichnung für ihren Vater als „Baba Hadschi“20 hindeutet. Die Religion könnte zudem auch im Zusammenhang mit der schwierigen Situation der Großmutter an Bedeutung gewonnen haben, die Adifetes Vater und dessen Brüder alleine großzog. Die Anbindung an die muslimische Gemeinschaft ermöglichte ihr vermutlich soziale und ökonomische Unterstützung und den Ersatz der Unterstützung der erweiterten Familie. Wie in folgendem Genogramm (Abbildung 4) ersichtlich ist, hatte Adifetes Vater fünf Brüder und auch Adifetes Mutter stammt aus einer kinderreichen Familie mit 7 Schwestern und 2 Brüdern. Die hohe Natalität war in dieser Zeit üblich und stand in Zusammenhang mit einem tiefen Bildungsstatus. Die Erfahrung der fehlenden Unterstützung der erweiterten Familie führte vermutlich für Adifetes Vater zu einer

                                                             20 Als Hadschi werden Personen bezeichnet, welche die Pilgerfahrt nach Mekka unternommen haben. Der Titel wird aber auch genutzt, um ältere Personen zu ehren (vgl. Hadschi 2015).

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Stärkung der Bedeutung des Familienverbandes der fünf Brüder, die gemeinsam auf dem Hof der Großmutter von den Einnahmen aus der Landwirtschaft unter prekären Bedingungen lebten. Möglicherweise übernahm Adifetes Vater als ältester Sohn die Rolle als Vaterersatz, da eine klare geschlechterspezifische Rollenaufteilung sowie patriarchale Strukturen zu dieser Zeit auf dem Lande üblich waren. Kindheit auf dem Lande Adifete wird 1954 als erstes Kind in einem kleinen albanischen Dorf, in der serbischen Provinz der damaligen sozialistischen föderativen Republik Jugoslawien geboren. Die Eltern haben vier Jahre vor Adifetes Geburt im Jahr 1950 geheiratet. Die Mutter war damals 17 Jahre, der Vater 23 Jahre alt. Adifete wächst zusammen mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder und ihrer sechs Jahre jüngeren Schwester in dem Dorf bei ihren Eltern auf. Die Familie lebt von Subsistenzwirtschaft: Kühe, Hühner, Bienen und Landwirtschaft. Adifete erzählt wenig über ihre Kindheit und das Aufwachsen mit ihren beiden Geschwistern. 1961, mit sieben Jahren, besucht Adifete die Dorfschule bis zur 4. Klasse in Albanisch. Adifete berichtet nichts über die Schulzeit. Nach vier Jahren Grundschule (anstelle der obligatorischen 8 Grundschuljahre) bleibt Adifete auf dem Hof der Eltern und hilft bei den Tieren. Im Kontext der damaligen Zeit ist eine vierjährige Schulbildung für Mädchen auf dem Lande, insbesondere auch unter der albanischen Bevölkerung, nicht aussergewöhnlich21. Die damalige geschlechtsspezifische Gewichtung von Bildung wird daran ersichtlich, dass Adifetes zwei Jahre jüngerer Bruder die Oberstufe im Nachbardorf besuchen kann. Adifete bleibt als Mädchen eng an das Dorf und das eigene Zuhause gebunden, während dem Bruder eine Entfernung von der Familie und ein Besuch der Schule im Nachbardorf ermöglicht werden. Das folgende Genogramm (Abbildung 4) gibt einen Überblick über die familiale Situation in Adifetes Kind- und Jugendzeit im Herkunftsdorf bei Bujanovac. Dabei sind so weit bekannt ebenfalls die Bildungsabschlüsse eingetragen und zeigt die unterschiedlichen Bildungsmöglichkeiten von Adifete und ihren drei Geschwistern auf.

                                                             21 Statistischen Zahlen aus dieser Zeit belegen, dass viele Mädchen nur die ersten vier Grundschuljahre besuchen (42% der Mädchen zwischen 10 und 14 Jahren sind Analphabetinnen im Vergleich zu 18% der gleichaltrigen Knaben (Roux 1992: 281).

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Abbildung 4: Genogramm Adifete (Zeitpunkt der Kindheit und Jugend)

Quelle: Eigene Darstellung

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Aufwachsen im familialen Frauenhaushalt In dieser Zeit verlässt ihr Vater die Familie und reist nach Deutschland (BRD) und findet dort im Eisenindustriebetrieb in einer Kleinstadt eine Anstellung. Auch ihre verheirateten Onkel reisen nach Deutschland, um Arbeit zu suchen. Adifete stellt damit die Arbeitsmigration der Männer in Zusammenhang mit deren Rolle als Familienernährer. Mit dem Beginn der Arbeitsmigration ihres Vaters und dessen Brüder verändert sich die Familiensituation für Adifete grundlegend. Wie auch im Genogramm (Abbildung 4) ersichtlich ist, verbleiben auf dem Hof der Familie nur die Frauen, die in Abwesenheit sämtlicher Männer zentrale Entscheidungen im Haus und Hof zu treffen haben. Adifete verbringt damit die zweite Hälfte ihrer Kindheit mit ihrer Mutter, den jüngeren Geschwistern, der Großmutter sowie ihren Tanten und deren Kindern. Damit werden diese Frauen zu Adifetes zentralen Bezugspersonen. Auffallend ist, dass das Ende von Adifetes Schulzeit zusammenfällt mit dem Beginn der Arbeitsmigration ihres Vaters. Dies zeigt auf, dass Adifetes vorzeitiges Ende der Schulbildung mit ihrer Rolle als älteste Tochter zusammenhängt. In Abwesenheit des Vaters unterstützt sie ihre Mutter mit der Arbeit auf dem Hof und der Sorge um die jüngere Schwester. Adifete erzählt, dass sie die Arbeitsmigration des Vaters als ein „Verschwinden“ erlebt hat. Sie stellt damit dar, dass ihr damaliges Leben sich auf das Leben im Dorf fokussierte und sie von weiter entfernten Orten und Ländern nichts wusste. Adifete: als er ging..als er ging für das erste Mal..für uns war als alle verloren waren Egzon: also er ist verschwunden irgendwie also.. verschwunden und verloren irgendwie Adifete: ich habe nicht gewusst wo ist Deutschland weißt habe ich nichts gehört von Deutschland I: ja Adifete: wir wussten nicht wo er hinging..wohin die gebracht werden. mit einer Agentur sind sie gegangen (2015: 588 - 596)

Adifete erwähnt zudem, dass ihr Vater und seine vier Brüder mit einer Agentur nach Deutschland gingen. Dies weist darauf hin, dass sie über keine bereits bestehenden familialen Netzwerke verfügten und somit die ersten der Familie waren, die im Ausland Arbeit suchten. Im Gegensatz zu ihrem Leben auf dem Dorf, umgeben von der erweiterten Familie, präsentiert Adifete die Schwierigkeiten, die die Arbeitsmigration für ihren Vater bedeutete, wie folgendes Zitat zeigt.

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Adifete: oh..schwer war das Leben meines Vaters weißt du..weißt du alleine..Mutter in Bujanovac weißt du..mein Vater allein ((seufzt)) 15 Jahre alleine mit der Mutter..weißt du drei Jahr drei Monate und dann retour so..und Ferien zwei Mal im Jahr weißt du..Sommerferien und Winterferien..weißt du ganzes Jahr..schneutzt (3) sechs Monate nicht gesehen weißt du..aber wir weißt du mit Mann und mit Kinder immer weißt du gehen nach Deutschland Duisburg gewesen..//mh// weißt du am Weekend.. Samstag Sonntag..aber gut gewesen..aber Leben mein Vater nicht so gut weißt du ganzer Tag gearbeitet und nach Hause gekommen muss kochen essen und so..waschen auch..(.......) (4) aber jeta eshte me probleme ((das Leben hat Probleme)) ((lacht)) (2015:152 - 160)

Sie thematisiert diese Schwierigkeiten ihres Vaters anhand von Aufgaben, die in ihrer Familie bisher von den Frauen übernommen wurden wie waschen und kochen. Adifete stellt damit das Leben alleine in der „Fremde“ als viel schwieriger dar und begründet diese Schwierigkeiten mit der Umkehrung von geschlechtsspezifischen Aufgaben. Im Gegensatz zu dem als schwierig dargestellten Leben ihres Vaters betont Adifete das schöne Leben ihrer Familie im Herkunftsdorf dank dem, durch die Arbeitsmigration des Vaters, erwirtschafteten Einkommens. Adifete: ganz gut..weißt du Geld genug Vater nicht aber Geld genug weißt du ich habe mit Mutter gelebt...alle miteinander weißt du ich habe zwei Schwestern und nur einen Bruder (3) und und mit Mama weißt du mit Mutter leben ((schneutzt)) mein Vater in Deutschland weißt du..wie habe ich gesagt Winter ist gekommen Geld genommen (2015: 165 - 168)

Sie stellt damit dar, dass sich auch nach der Abwesenheit ihres Vaters ihr Leben in der Großfamilie auf dem Hof nicht negativ verändert. Im Gegenteil, dank dem erwirtschafteten Einkommen des Vaters hat ihre Familie keine finanziellen Sorgen. Adifete zeigt nebst den ausreichend vorhandenen finanziellen Mitteln auch die Bedeutung der Pflege von Beziehungen zu weiteren Verwandten, wie folgendes Zitat illustriert. Adifete: gut super...meine Schwester Bruder.. ich Mutter..wenn hast du Geld genug lebst du auch gut da..spazieren hier weißt du bei Schwester bei Onkel bei Sohn.... aber ist gut gewesen.. (2015: 182 - 184)

Als Adifete 16 Jahre alt ist, kommt ihre jüngste Schwester auf die Welt. Auffallend ist der große Altersunterschied von 10 Jahren zwischen den Geburten der beiden jüngeren Schwestern. Die Vermutung liegt nahe, dass dieses vierte Kind symbolisch die Präsenz des Vaters verkörpert, der nun seit mehr als fünf Jahren den größten Teil des Lebens als Arbeitsmigrant im Ausland verbringt und je-

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weils nur am Ende des Jahres für wenige Monate zu der Familie zurückkehrt. Adifetes zwei Jahre jüngerer Bruder schließt in dieser Zeit die obligatorischen 8 Jahre Grundschule ab und besucht anschließend das Gymnasium, was in dieser Zeit keine Selbstverständlichkeit war. Die Schulbildung des Sohnes wird gefördert, während Adifete als älteste Tochter Aufgaben im Haus und der Betreuung der jüngeren Geschwister übernimmt. Damit wird die Weitergabe einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung in Adifetes Familie bestätigt. Jedoch verändert sich diese geschlechtsspezifische Förderung von Bildung in Bezug auf die jüngeren Geschwister. Im Gegensatz zu Adifete kann nun die sechs Jahre jüngere Schwester die gesamten 8 Jahre Grundschule besuchen. Der lange Schulweg ist bei ihr kein Hinderungsgrund mehr. Möglicherweise wird sie durch den älteren Bruder begleitet. Dies zeigt auf, dass die Möglichkeiten für den Erwerb von Bildung in Adifetes Familie nicht nur durch das Geschlecht, sondern auch durch die Position in der Geschwisterreihe beeinflusst sind. Als älteste Tochter erhält Adifete die Aufgabe, in Abwesenheit des Vaters, die Mutter mit der Arbeit auf dem Hof und der Versorgung der jüngeren Geschwister zu unterstützen. Adifete verbringt ihre weiteren Jahre mit der Mutter und den jüngeren Geschwistern zu Hause. Sie hilft mit auf dem Hof mit den Tieren sowie dem Haushalt und der Betreuung der jüngeren Schwestern. Dazu gehören häufige Besuche bei weiteren Familienmitgliedern in den umliegenden Dörfern. Verlobung und Heirat Auch die Familie ihres künftigen Ehemannes gehört zu den Verwandten, denen Adifetes Familie regelmäßige Besuche abstattet, da ihr Onkel mit der Tante ihres künftigen Ehemannes verheiratet ist. Dieser studiert zu diesem Zeitpunkt an der Universität in Skopje. Adifete berichtet, dass ihre Verwandten bei der Wahl ihres künftigen Ehemannes eine bedeutende Rolle eingenommen haben, wie folgendes Zitat zeigt. Sie stellt damit dar, dass die Interessen der Familie über ihren eigenen Wünschen stehen, auch wenn sie selbst schließlich ihr Einverständnis gegeben hat. Adifete: meine Vater sagt nicht so weißt du ..aber mein Onkel weißt du sagt wieso nicht ist ein schöner Sohn weißt du ....Schwiegervater arbeiten in Deutschland weißt du Geld früher wenn in Ausland arbeiten und jetzt auch so ist..ja dann arbeiten in Deutschland dann genug Geld..dann gesagt wieso nicht weißt du..und dann meine Mutter hat mich gefragt was sagst du und ich habe gesagt nein //lacht// weißt du und Schwiegervater weißt du ist ein bisschen aggressiv..//mh// ich kannte ihn schon alles Familie..//ja ja// gesagt nein...in sechs Monaten einmal kommen..und mit Mann ist gut das ist kein Problem..((lacht)) und dann so weißt du.. habe ich gesagt ok (2015: 260 - 268)

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Adifete präsentiert ihren anfänglichen Widerstand gegen diese Verlobung in Zusammenhang mit der Aggressivität des Schwiegervaters und stellt deshalb dessen Abwesenheit durch seine Arbeit im Ausland als positiv dar. Ein Jahr nach der Verlobung findet die Hochzeit statt. Adifete erwähnt, dass sowohl die Verlobungsfeier sowie auch die Hochzeit Ende Jahr stattfinden, weil dann sowohl der Schwiegervater wie auch der eigene Vater zu Hause sind. Dies weist auf deren zentrale Stellung in der Familie trotz der Abwesenheit durch die Arbeitsmigration hin. Adifete: dann Neuesjahr verlobt..nächstes Jahr wieder..weißt du..nächstes neues Jahr heiraten..und dann schwanger Tochter gekommen ((lacht)) ..alles Kinder weiter weiter..fünf Kinder..und dann...alles gut gewesen (2015: 268 - 271)

Indem sie anschließend die Abfolge der Ereignisse von der Verlobung bis zu der Geburt der Kinder beschreibt, stellt sie dar, wie zentral diese Ereignisse in ihrem Leben sind. Sie zieht eine positive Bilanz und zeigt damit auf, dass sie die gute Ehe über die vielen Kinder definiert und betont damit ihre Rolle als Ehefrau und Mutter. Dies zeigt sich auch im folgenden Zitat, in dem Adifete die Hochzeit als „Hauptsache“ im Leben einer Frau präsentiert. Adifete: ja am 2. Januar...ist gut gewesen ein bisschen kalt aber..wenn ist jung.. aber ist schon gut..Hauptsache heiraten mein Vater meine Hochzeit und..Mann auch so..und dann kommen mit Auto und genommen mit Bus Autobus ((lacht)) und dann kommen holen (3) und dann bei Mann (2015: 275 - 278)

In diesem Zitat verweist Adifete zudem auch auf die patrilokale Familientradition, in der die Hochzeit den Wechsel in die Familie des Ehemannes impliziert. Die Heirat bedeutet für Adifete einen Umzug ins Nachbardorf in den Haushalt der Schwiegereltern. Zugleich verbleibt sie im ähnlichen Milieu und übernimmt dort Haushaltsarbeiten wie bereits zuvor in der eigenen Familie. Adifete: bei Mann muss ein bisschen putzen bisschen "chai" ((Tee)) machen so.."nuse" ((Braut)) aber es ist gut bis jetzt ist gut... (2015: 278 - 280)

Die Heirat mit ihrem Ehemann aus dem Umfeld der Familie stellt für Adifete somit eine Kontinuität ihres bisherigen Lebens dar. Dies betont Adifete auch mit der Fortsetzung der gegenseitigen Besuche bei Verwandten, die sie als festen Bestandteil ihres Alltages darstellt.

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Adifete: aber es ist gut weißt du..Familie ist gut gewesen weißt du..meine Familie und die Familie meines Mannes weißt du immer miteinander..reden spazieren weißt du essen.. bei mir Nachtessen bei mir..aber gut gewesen weißt du (2015: 284 - 286)

Adifete bezeichnet diese Zeit als verheiratete Frau als eine gute Zeit. Das Einkommen aus der temporären Arbeitsmigration des Schwiegervaters ermöglicht der gesamten Familie einen guten Lebensstandard. Wieder sind die Männer in der Familie abwesend: Der Schwiegervater verbringt den größten Teil des Jahres als „Gastarbeiter“ in Deutschland und ihr Ehemann besucht zu Beginn noch die Universität in Mazedonien. Adifete kümmert sich mit ihrer Schwiegermutter um den Haushalt. Adifete: und als ich geheiratet habe sagen wir mal ((lacht)) geheiratet meine Mann..Schwiegervater auch gewesen in Deutschland auch viel Geld ((lacht)) aber super gewesen..meine Schweigermutter mit mir weißt du mit mir haben..meine Mann haben gell drei Schwester und drei Brüder..alles in Schule mein Mann gewesen in Fakultät weißt du in Skopje..//mh// Makedonien..aber gut weißt du Leben wir gut..Kinder haben Geld vergessen Vater..((lacht)) es so oder..wenn du hast Geld vergessen Vater..((lacht)) aber gut gewesen..weißt du kein Problem mit Mann...und dann.. alles super weißt du (2015: 189 196)

Zugleich stellt Adifete zum ersten Mal negative Konsequenzen der Arbeitsmigration und der Abwesenheit der Männer für die Kinder dar. Sie stellt dar, dass die Arbeitsmigration der Männer der verbleibenden Familie ein „gutes Leben“ im Herkunftsdorf ermöglicht, jedoch auch dazu führt, dass die Kinder ihre Väter vergessen. Arbeitsmigration des Ehemannes nach der Familiengründung ins Ausland Im Jahr der Hochzeit kommt 1977 die erste Tochter Arbresha auf die Welt. Drei Jahre später folgt die Geburt der zweiten Tochter. Adifete thematisiert die Geburt des zweiten Kindes im Zusammenhang mit dramatischen Ereignissen, wie dem Tod Titos sowie dem Tod eines Mädchens im Fluss und betont damit das Engagement ihres Ehemannes, der quasi sein Leben riskierte im Fluss, um das Auto zu holen und sie zum Arzt zu bringen, wie folgendes Zitat illustriert.

 

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Adifete: am selben Tag hat das Wasser ein Mädchen mitgenommen...aus der Nachbarschaft Egzon: ja und am selben Tag ist.. ein kleines Mädchen vom vom Fluss erfasst worden und irgendwie gestorben (2) ist ein chaotischer Tag gewesen.. Adifete: weißt du dieser Tag ist Tito gestorben..weißt du Tito in Jugoslawien (2015: 825 829)

Adifete zeigt anhand dieser tragischen Umstände bei der Geburt auch auf, wie bedeutend für sie die Anwesenheit ihres Ehemannes ist. Mit dem Tod von Tito erwähnt sie zudem zum ersten Mal auch politische Ereignisse. Sie stellt dar, dass der Tod von Tito damals überall in den Medien präsent war22. Sie geht nicht weiter auf dieses Thema ein. Da Adifete nur an dieser Stelle politische Ereignisse erwähnt, liegt die Vermutung nahe, dass sie damit nicht auf die durch Titos Tod beginnende Krise des sozialistischen Jugoslawiens anspielt, sondern auf die tragischen Umstände der Geburt ihrer zweiten Tochter. Nach der Geburt des zweiten Kindes reist ihr Ehemann zum ersten Mal auf Arbeitssuche in die Schweiz. In der Zeit verschlechtert sich nicht nur die Wirtschaftslage, sondern auch die Spannungen in Jugoslawien nehmen zu. Adifete präsentiert die Arbeitssuche und den Studienabbruch ihres Ehemannes in Zusammenhang mit seiner Rolle als Vater und Familienernährer. Adifete: er hatte noch ein paar Prüfungen und wir sind in die Schweiz gegangen und dann vorbei Egzon: ja das ist eigentlich ziemlich schnell gegangen als sie geheiratet sind hat er noch ein zwei Prüfungen gemacht Adifete: └weißt du Kind bekommen Egzon: und dann Adifete: weißt du wenn du hast wenn du nicht Geld hast wenig Geld Vater muss..muss nicht so gut weißt du..muss in die Schweiz gehen und Schule fertig (2015: 343 - 350)

Sie stellt dar, dass er in die Schweiz reiste, um Arbeit zu suchen. Arbeitsmigration stellt damals im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise und der großen Arbeitslosigkeit in Jugoslawien praktisch die einzige Möglichkeit dar, die Rolle als Familienernährer zu übernehmen (vgl. Dahinden 2005: 159). Da Deutschland 1973 einen Anwerbestopp erließ, kann Admir nicht wie ihr Vater nach Deutsch-

                                                             22 Der Tod von Josip Broz Tito im Mai 1980 führte zu einem „Erstarren“ von Jugoslawien, viele waren tiefbestürzt (Calic 2014: 264). Am offiziellen Staatsbegräbnis nahmen so viele internationale Delegationen teil wie nie zuvor (ibid.: 264).

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land reisen. Adifete erwähnt, dass ein Bekannter ihres jüngeren Bruders ihrem Ehemann eine Arbeitsstelle in der Schweiz vermittelt und weist damit auf die Bedeutung familialer Netzwerke für die Arbeitssuche hin. Adifetes Ehemann arbeitet bereits in der Schweiz, als Adifete 1981 den ersten Sohn auf die Welt bringt. Überbrückung der Trennung vom Ehemann Die folgenden vier Jahre verbringt Adifete mit den drei Kindern zusammen mit der Schwiegermutter sowie den Geschwistern des Ehemannes im selben Haus im Dorf und reist immer wieder in die Schweiz, um ihren Ehemann zu besuchen. Die älteste Tochter Arbresha besucht im Dorf den Kindergarten und die Schule. Sie ist bei diesen Besuchen bei Admir in der Schweiz deshalb nicht immer dabei und verbleibt bei Adifetes Schwiegermutter im Familienhaushalt. Während eines Aufenthaltes bei Admir in der Schweiz im Jahr 1984, im Alter von 30 Jahren, bringt Adifede dort das vierte Kind, wieder eine Tochter, auf die Welt. Nach der Geburt reist sie wieder zurück nach Bujanovac. Adifete stellt dar, dass sie in der Wartezeit auf den Erhalt der Aufenthaltsbewilligung für den Familiennachzug in die Schweiz, mit den Kindern zwischen dem Heimatdorf und der Schweiz hin und her reist. Adifete: Arbresha hat angefangen in Bujanovac in dritte Klasse in die Schweiz I: und mit dem hin und her Adifete: ja hin und her... sag ihr manchmal haben wir sie zu Hause gelassen und manchmal bin ich mit ihr länger geblieben Egzon: Sie haben sie dann auch öfters zu Hause gelassen bei den Großeltern.. Adifete: Großmutter Schwiegermutter (2015: 435 - 441)

Der Sohn beginnt in Bujanovac im Jahr 1986 den Kindergarten, die älteste Tochter besucht nach wie vor die Schule. Nur die zweitälteste Tochter, welche ein Jahr älter ist als der Sohn, wird nicht eingeschult. Gründe dafür sind keine bekannt, deuten jedoch auf eine geschlechtsspezifische Förderung der Bildung der Kinder hin. Adifete berichtet, dass ihr Ehemann sich um eine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz bemühte. Sie präsentiert den Erhalt dieser Bewilligung als Ergebnis seines Fleisses und Durchhaltevermögens, da er im Gegensatz zu ihrem Bruder diese Strapazen auf sich nahm, die ganzen 9 Monate lang in der Schweiz zu arbeiten. Zugleich weist Adifete in folgendem Zitat auch darauf hin, dass ihr Mann mit der Arbeitsmigration in der Schweiz vor allem finanzielle Interessen verfolgte.

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Adifete: mein Mann hat bekommen Visa..mein Bruder hat auch gearbeitet mit meinem Mann.. aber wenn kommt Schnee weißt du..((lacht)) im November Schnee..kalt..ja ich gehe..((lacht)) hat er gesagt ich kann nicht bleiben Egzon: dazumal hat mal Adifete: und im März weißt du 15. März muss gehen in die Schweiz Garantie bekommen sagt nein ist kalt will nicht..aber mein Bruder..hat genug Geld gehabt weißt du interessiert nicht..aber mein Mann weißt du..zu viel Geld interessiert (2015: 382 - 388)

Damit zeigt Adifete auf, dass die Arbeitsmigration des Ehemannes nicht nur der Erfüllung der Rolle als Familienernährer entsprach, sondern auch dem Erwerb von sozialem Status und Prestige im Herkunftsdorf diente, was an der Thematisierung des Erwerbes des Autos ersichtlich ist: Adifete: Ford weißt du gekommen ehm mit Auto (5) bin ich alleine zu Hause mit Kinder weißt du..und Clirim mit ehm Arbresha und Blerina (2015: 1203 - 1204)

Ihr Ehemann kauft mit dem erwirtschafteten Geld als erstes ein Auto, mit dem er am Ende der Saison zur Familie zurückkehrt, was in dieser Zeit im Herkunftsdorf als Prestigeobjekt galt. Nach dem Autokauf wird in den Bau eines eigenen Hauses auf dem Hof des Vaters im Herkunftsdorf investiert. Dies zeigt sich auch daran, dass die Migration der Familie in die Schweiz etwa zum selben Zeitpunkt erfolgte, als das eigene Haus fertig gebaut ist: Adifete: nicht so groß aber schönes Haus weißt du (2) sag ihr als wir das Haus gebaut haben..die haben Tür zugemacht und "viel Spaß" in der Schweiz (2015: 1241 - 1243)

Migration in die Schweiz 1986 erhält Adifetes Ehemann den Aufenthaltsstatus B in der Schweiz und damit offiziell das Recht auf Familiennachzug. Daraufhin werden die drei ältesten Kinder in der Schweiz eingeschult oder besuchen den Kindergarten. Der Umzug in die Schweiz mit ihren Kindern bedeutet eine große Veränderung in Adifetes Leben. Sie verlässt damit zum ersten Mal für längere Zeit ihre Herkunftsregion und ihre erweiterte Familie. Die Migration der Kernfamilie ins Ausland stellt auch in Bezug zur vorherigen Generation einen Wendepunkt dar. In der Generation ihrer Eltern sind jeweils die Männer alleine ins Ausland gezogen und haben ihre Familie im Herkunftsdorf zurückgelassen. Indem Adifete thematisierte, dass Kinder ihre Väter vergessen, wenn diese genügend Geld haben und im Ausland arbeiten, begründet sie die Begleitung ihres Ehemannes in die Schweiz mit dem Familienzusammenhalt. In Bezug auf die Arbeitsmigration ihres Vaters stellte

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sie zudem auch dar, dass dieser alleine im Ausland waschen und putzen musste. Dies sind Aufgaben, die Adifete den Frauen zuschreibt. Die Begleitung ihres Ehemannes ist deshalb auch mit geschlechtsspezifischen Aufgaben verbunden: Indem sie ihn begleitet, übernimmt sie die Haushaltsarbeit für ihren Ehemann und erfüllt so ihre Aufgabe als Ehefrau und hält damit eine geschlechtsspezifische Aufgabenteilung aufrecht. Adifete thematisiert in Zusammenhang mit dem Antrag auf die Bewilligung des Familiennachzuges die Notwendigkeit einer preiswerten, jedoch ausreichend großen Unterkunft. Sie stellt damit auch dar, dass sie sehr gut informiert war über das komplexe Bewilligungsverfahren. Adifete: jetzt erzähle ich über Zuzgen da sind wir in einer Wohnung gewesen..dann kommen als wir gekommen in Zuzgen in Block..aber Block ist 3.5-Zimmer..und dann mein Mann weißt du muss machen Visa für Kinder weißt du..und dann gesagt fünf Kinder kann nicht in 3.5-Zimmer..weißt du..und dann ist klein..und dann Wohnung ist dreihundert Franken muss Miete im Monat nur dreihundert Franken mehr nicht (2015: 402 - 407)

Adifete weist in obigem Zitat darauf hin, dass der Familiennachzug in die Schweiz zu prekären finanziellen Verhältnissen führte. Im Gegenzug zu der Arbeitsmigration der Männer, dank deren Einkommen Adifete im Herkunftsdorf ein sorgenfreies Leben hatte, muss nun das Einkommen für die zu diesem Zeitpunkt sechsköpfige Familie ausreichen. Sie stellt damit dar, wie untenstehendes Zitat zeigt, dass sie für das gemeinsame Leben als Kleinfamilie bereit ist, das schöne neugebaute Haus im Herkunftsort zu verlassen. Adifete: neue Haus gelassen in die Schweiz eine alt Haus genommen mein Gott ((lacht)) (2015: 1254)

Nebst dem sozialen Abstieg, den Adifete anhand der Wohnsituation thematisiert, zeigt Adifete auf, dass die Migration in die Schweiz auch aufgrund der Sprache für sie eine große Herausforderung darstellt. Mit dem Beispiel der Post illustriert sie, dass sie mit der Migration in die Schweiz ihre Autonomie einbüßt, wie folgendes Zitat zeigt. Adifete: und dann wenn zu Hause wenn klingt weißt du.. ciao willkommen ((lacht)) kann

nicht reden weißt du was soll ich sagen.. wenn die Post kommt die haben auch))..wenn kommen..dann weißt du ..reden..ühh .. soll ich unterschreiben oder soll ich nicht unterschreiben (2015: 1104 - 1107)

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Sie weiß nun nicht mehr, was sie unterschreibt und weist damit darauf hin, dass sie an Einfluss über Entscheidungen verliert, die sie aufgrund der Sprache nicht versteht. Weiter zeigt sie anhand des folgenden Beispiels – Spaghetti kochen – auf, dass sich durch die Migration in die Schweiz ihr Status auch in Bereichen verändert, die zuvor klar in ihren Kompetenzbereich gehörten wie bspw. das Kochen. Ihr Mann zeigt ihr neue Essgewohnheiten auf und sie muss nun neu lernen zu kochen. Adifete: weißt wenn gehen in die Schweiz..weißt du in Bujanovac sind wir vorher gewesen..Spaghetti weißt du Spagehtti..habe ich nie gesehen..nicht eins...meine Mann in der Schweiz haha was machst du Spaghetti ((lacht)) habe ich nie gesehen..weißt du..und Spaghetti weißt du so Tisch..ich habe gesagt wo ist Brot..((lacht)) wo ist Brot mit Brot musst du essen...nein nein nicht mit Brot..ich kann nicht essen weißt du..doch doch probieren...aber jetzt.. so viel essen ((lacht)) aber vorher.. nicht gesehen wenn du nicht siehst....für sie auch jetzt wenn nicht gesehen..vielleicht...aber jetzt ist gut weißt du... und ((hustet)) meine große Tochter..Arbresha..gelernt weißt du..und dann jede Spezialität habe ich gemacht..Schweizer Spezialität (2015: 208 - 217)

Sie zeigt damit anhand der Sprache und des Essens auf, dass die Migration in die Schweiz ihren Status als Hausfrau und Mutter tangierte. Zugleich erwähnt Adifete in Zusammenhang mit dem Kochen auch ihre Tochter Arbresha. Dies weist auf die Weitergabe von geschlechtsspezifischen Aufgaben an ihre älteste Tochter hin. Einstieg in die Erwerbsarbeit Ein Jahr später, im Alter von 33 Jahren, bringt Adifete im Jahr 1987 den jüngsten Sohn Egzon zur Welt. Adifete beginnt eineinhalb Jahre nach dessen Geburt in einer Fabrik zu arbeiten. Das Ende der Familienplanung korreliert mit Adifetes Einstieg in die Erwerbsarbeit und wird von ihr als finanzielle Notwendigkeit präsentiert. Adifete: wenn früh Schicht dann anfangen um fünf Uhr morgen bis um halb zwei.. dann Frühschicht..wenn späte Schicht dann halb zwei bis am halb elf..gearbeitet..aber gut gewesen..arbeiten aber Geld genommen..schwer aber muss..Kinder wenn nur ein Zahltag ist eng (2015: 482 - 485)

Sie betont, wie in folgendem Zitat sichtbar wird, dass ihr Einstieg in das Erwerbsleben für die Kinder, insbesondere für den jüngsten Sohn, kein Problem darstellt. Hier werden ihre Bemühungen ersichtlich, trotz Erwerbsarbeit ihre Rol-

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le als Hausfrau und Mutter zu erfüllen. Zudem übernimmt schrittweise auch ihre älteste Tochter immer mehr Aufgaben im Haushalt. Adifete: aber meine Mann kommt weißt du um fünf am Abend kommt und ich um fünf weg..und Arbresha ist ein bisschen groß weißt du..und dann ist noch Egzon und Donika und..alle fünf miteinander weißt du und so ((lacht)) //mh// ich habe fünf Kinder weißt du (3) so ist..aber gut gewesen (2015: 67 - 70)

Der Einstieg in die Erwerbsarbeit stellt Adifete als Mehrfachbelastung dar, in der sie die Schwierigkeit nennt, nebst der Erwerbstätigkeit ihrer Rolle als Mutter in Bezug auf die Unterstützung der Kinder in der Schule gerecht zu werden. Adifete: es ist eben alles gut gewesen weißt du //mh// Mann und Kind und //mh// (das ist gekommen) (2) arbeiten Fabrik weißt du in: Schweiz //mh// und zu Hause auch arbeiten ((lacht)) putzen waschen ((lacht)) (4) Essen machen Kinder Schule und es so ist ein Problem weißt du aber es ist gut gewesen weißt du lernen gut (3) (2015: 15 - 18)

Adifete stellt die fehlenden Sprachkenntnisse als Schwierigkeit und Problem dar. Indem sie erwähnt, dass das Lernen gut war, weist sie darauf hin, dass diese Situation vor allem für sie selbst ein Problem war, und weniger für die Kinder. Die prekäre finanzielle Situation, ihre Mehrfachbelastung durch Erwerbsarbeit und Arbeiten im Haushalt und der Kinderbetreuung schränken ihre Möglichkeiten ein, in der Schweiz die deutsche Sprache zu lernen. Einfluss darauf haben vermutlich auch ihre Rückkehrpläne, die Adifete im folgenden Zitat anspricht. Sie stellt dar, dass der Verbleib in der Schweiz von dem Finden einer Arbeit ihres Ehemannes in Bujanovac abhängig ist. Adifete: ja ja so ist es ..jedes mal haben wir geplant Geld zu sammeln..sogar der Vater hat ein bisschen Geld hier in einer Fabrik für Lastwagen gelassen...er hat dem Chef ein bisschen Geld gegeben..falls du einen Chauffeur brauchst..weißt du normal (2015: 1264 1269)

Den Verbleib in der Schweiz stellt Adifete damit in den Zusammenhang mit der Erwerbsarbeit ihres Ehemannes. Adifete widerspricht damit Admirs Erzählung, der stets betont, dass eine Rückkehr ins Herkunftsdorf für ihn keine Option darstellt. Dies zeigt auf, dass der Wunsch nach Rückkehr ins Herkunftsdorf insbesondere für Adifete ein wichtiges Anliegen ist.

 

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Kauf von Immobilien und Umzug in die Kleinstadt 1993 erwerben Admir und Adifete im Alter von 39 Jahren eine 4.5-ZimmerEigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus in Rheinfelden, einer Kleinstadt in der Schweiz. Die neue Wohnung bietet mehr Komfort als das alte Zweifamilienhaus auf dem Land. Adifete thematisiert den Umzug in die neue Wohnung in der Kleinstadt in Zusammenhang mit den Nachteilen des alten Hauses, wie folgendes Zitat zeigt. Adifete: Rheinfelden war schön groß 4.5-Zimmer weißt du und auch schön gewesen weißt du.. I: und die ist neu gewesen Adifete: nein nicht so viel neu aber Egzon: also ja relativ neu (2) Adifete: weißt du schön renoviert und ist gut (2015: 1534 - 1539)

Sie präsentiert damit den Erwerb der Eigentumswohnung nicht als sozialen Aufstieg, sondern lediglich als Verbesserung der vorher prekären Situation. Adifete lebt die folgenden vier Jahre zusammen mit ihrem Ehemann und den fünf Kindern in der 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung in Rheinfelden. Die älteste Tochter besucht eine Ausbildung und bringt einen Ausbildungslohn nach Hause. Alle anderen Kinder besuchen die Schule. Adifete arbeitet im Schichtbetrieb, ihr Ehemann leistet viele Überstunden und arbeitet oft auch samstags, um mehr Einkommen zu erzielen. Die Kinder sind tagsüber oft alleine zu Hause. Die Schulleistungen der Kinder sind nicht besonders gut. Dies wird sichtbar, indem nur dem ältesten Sohn beim zweiten Versuch der Eintritt in die höhere Schulstufe (Sekundarschule) gelingt, er dafür jedoch ein Schuljahr wiederholen muss. Adifete erzählt nichts über diese Zeit und erwähnt auch die Schwierigkeiten der Kinder in der Schule nur in Bezug auf das Thema der Sprache. 1996 erwirbt der Ehemann gemeinsam mit einem Kollegen eine Pension in Albanien am Meer. Geplant ist ein Ausbau dieser Pension, um zusätzliche Einnahmen durch die Vermietung zu erzielen. Während die Tochter und ihr Ehemann von einem „Hotel am Meer“ sprechen, nennt Adifete die Immobilie in Albanien eine „Baustelle“, wie folgendes Zitat zeigt. Damit wertet sie diese Investition ab und vermeidet wiederum eine Darstellung eines erfolgreichen sozioökonomischen Aufstieges.

 

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Adifete: ein Haus noch nicht ganz fertig Baustelle aber nicht ganz fertig weißt du nur Baustelle weißt du.. Egzon: ja so quasi das Gerüst ist ungefähr gewesen und ehm..die Immobilien hat den Zweck gehabt dass es einmal ein Hotel wird..//mh// und dann hat mein Vater das gekauft zusammen mit einem Kollegen von ihm..halbe halbe weil es ist ziemlich groß gewesen eigentlich..und dann haben sie das auch fertig bauen wollen und..wirklich ein Hotel daraus machen..aber es ist nie dazu gekommen (2015: 1293 - 1299)

Veränderung der Familiensituation 1997 heiratet die älteste Tochter Arbresha mit 20 Jahren nach erfolgreichem Abschluss ihrer zweijährigen Ausbildung einen Kosovo-Albaner. Arbresha bekommt kurz nach der Hochzeit das erste Kind. Adifete wird zum ersten Mal Großmutter. Sie stellt, wie folgendes Zitat illustriert, dar, dass die notwendige Erwerbsarbeit ihre Möglichkeiten einschränkt, sich als Großmutter um ihren Enkel zu kümmern. Adifete: wenn frei ist gehe ich schaue ich..wenn nicht arbeiten..//ja// aber arbeiten mit Schicht..//ja// halbtag.. Arbresha arbeiten normal sie bis sieben oder bis acht hat sie gearbeitet‘ Egzon: von sieben Uhr.. Adifete: wenn früh Schicht dann anfangen um fünf Uhr morgen bis um halb zwei.. dann Frühschicht..wenn späte Schicht dann halb zwei bis am halb elf..gearbeitet..aber gut gewesen..arbeiten aber Geld genommen..schwer aber muss..Kinder wenn nur ein Zahltag ist eng (2015: 478 - 485)

Im selben Jahr stirbt Adifetes Mutter im Alter von 64 Jahren plötzlich an einem Herzinfarkt im Herkunftsdorf. Adifete lebt zu diesem Zeitpunkt mit ihrer Familie in der Schweiz. Sie erzählt ausführlich über den Tod ihrer Mutter und erwähnt, wie schlimm es für sie war, ihre Mutter vor deren Tod nicht mehr gesehen zu haben und weint während dem Interview. Ihre emotionale Betroffenheit weist darauf hin, dass sie die Distanz zu ihren Eltern resp. zu ihrer Familie im Herkunftsdorf als schwierig erlebt. Adifete: ja noch in der Schweiz gewesen meine Bruder mir telefoniert weißt du elf Uhr am Abend.. weißt du sagt hallo mit Mann gesprochen weißt du..was passiert meine Mann...sagt meine ((weint)) Mutter gestorben (3) ((weint)) (2015: 121 - 123)

 

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Migration mit den jüngsten beiden Kindern in den Kosovo Ein Jahr nach dem Ende des Krieges im Kosovo migriert Adifete im Sommer 2000 mit den jüngsten beiden Kindern Donika, 16 Jahre alt, und Egzon, 13 Jahre alt, in den Kosovo. Auf dem 1991 gekauften Grundstück wurde in der Zwischenzeit das alte Haus abgerissen und ein neues mehrstöckiges Wohnhaus ist im Aufbau. Adifetes Ehemann sowie die älteren Kinder verbleiben in der Schweiz. Damit kommt es zu einer erneuten Trennung der Familie und zu einer großen Veränderung im Leben von Adifete und ihren beiden jüngsten Kindern. Sie wohnt nun alleine in einer Stadt, in der sie nie zuvor gelebt und sie auch keine weiteren Verwandten hat. Adifete stellt diese Migration als Annäherung an ihre Herkunftsfamilie dar und vermeidet damit die Thematisierung der damit verbundenen Trennung innerhalb ihrer eigenen Familie. Dies verdeutlicht sie am wöchentlichen Besuch ihres Vaters im Herkunftsdorf. Adifete: ˪weißt du meine Familie ist da und..und dann..meine Mu: Mutter ist gestorben aber ist Vater lebt und wenn kommen..Vater ist ein Jahr später gestorben im Himmel mein Vater Egzon: └als wir zurückgekommen sind ist der Großvater also ihr Vater noch am Leben gewesen Adifete: jede Woche gehen Bujanovac ((lacht)) (2015: 96 - 101)

Adifete stellt dar, dass sie dank den Sprachkenntnissen (im Kosovo wird ihre Muttersprache gesprochen) sich in dieser neuen Stadt, die sie überhaupt nicht kennt, zurecht findet, und zeigt damit auf, dass für sie die Vorteile dieser Migration überwiegen. Adifete: für mich ist gut aber für Kinder ((lacht)) und alleine weißt du meine Mann ist geblieben in der Schweiz weißt du zuerst bin nur ich mit den Kinder weißt du Donika und Egzon .. kleine Kinder.. Stadt nicht gekannt weißt du erstes Mal kommen in Prizren weißt du ich habe Prizren nicht gekannt..weißt du wir wohnen in Bujanovac weißt du..und dann ein bisschen Problem ist aber geht schon ((lacht)) verstehen schon reden so ((lacht)) mit Egzon spazieren weißt.. du jede Strasse musst du lernen (2015: 80 - 85)

Adifete begründet die Migration in den Kosovo indirekt auch mit der ethnischen Zugehörigkeit, indem sie erwähnt, dass eine Migration nach Mazedonien für sie keine Option war, obwohl ihre Schwester in Mazedonien lebt und auch ihr Ehemann in Skopje studierte. Sie begründet dies mit der Angst vor den Serben.

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Adifete: Mazedoner und dann Serben auch Angst haben weißt du..wegen.. Mazedonien nicht..aber in Kosovo ist besser (2015: 1045 - 1046)

In Mazedonien stellt die albanische Bevölkerung, wie auch in Südserbien, wo Adifete herkommt, eine Minderheit dar, im Gegensatz zum Kosovo, wo seit dem Krieg die albanische Bevölkerung die Mehrheit bildet und die serbische Bevölkerung als Minderheit in einzelnen Gemeinden lebt. Adifetes Schilderung der Ermordung ihres Großvaters durch einen serbischen Nachbarn ist vermutlich die Begründung für ihre Angst. Adifetes Ehemann Admir verbleibt in der Schweiz, wo er in der 4.5-ZimmerEigentumswohnung mit seiner zweitältesten Tochter Blerina (22 Jahre alt) und seinem Sohn Clirim (21 Jahre alt) zusammenlebt. Der Sohn arbeitet in derselben Fabrik wie er, seine Tochter in einer Wäscherei. Die Tochter Blerina kümmert sich nebst der Erwerbsarbeit um den Haushalt und übernimmt die Aufgaben, die zuvor Adifete ausführte. Dadurch wird eine Fortsetzung der geschlechtsspezifischen Aufgabenteilung im Haushalt erkennbar. In diesen zwei Jahren lernt ihre Tochter Blerina in Prizren einen Mann kennen. Blerina reist immer wieder in den Kosovo und heiratet ein Jahr später im Kosovo. Sie zieht nach der Hochzeit mit ihrem Ehemann in die Schweiz in eine eigene Wohnung in Rheinfelden. Kurz nach der Hochzeit bekommt sie ihren ersten Sohn. Adifete wird nun zum dritten Mal Großmutter. Adifete erwähnt diese Ereignisse nicht, obwohl sie gemäß dem Interview mit Blerina eine entscheidende Rolle gespielt hat bei der Wahl des Ehemannes. Anstelle der Heirat ihrer Tochter im Kosovo erwähnt Adifete den Tod ihres Vaters im selben Jahr im Herkunftsdorf. Sie zeigt daran auf, wie wichtig ihr die Nähe zu ihrer Herkunftsfamilie ist. Adifete: Vater gestorben aber dann bin ich hier gewesen weißt du nicht so viel schwer //mh// aber Mutter (5) weißt du wenn gestorben wegen Vater weißt du bin ich ja hier gewesen weißt du.. bei Vater weißt du und dann schauen wir weißt du bisschen hart..ist schwer.. aber wie Mutter nein (3) weißt du.. ((weint)) meine Mutter nicht gesehen (2015: 138 - 141)

Die Bedeutung ihrer Herkunftsfamilie ist auch daran sichtbar, dass Adifete die durch ihre Migration in den Kosovo entstandene geographische Distanz zu ihrer Kernfamilie in der Schweiz nicht thematisiert.

 

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„Familiennachzug“ im Kosovo Im Jahr der Hochzeit der zweitältesten Tochter Blerina verlässt Adifetes Ehemann im Jahr 2002 definitiv die Schweiz und migriert zu seiner Ehefrau und den beiden jüngsten Kindern nach Prizren. Mit der Migration in den Kosovo gibt er zugleich auch die schweizerischen Niederlassungsbewilligungen für sich, Adifete und die beiden Kinder ab. Der Mittelpunkt der Familie wird damit nach Prizren verlegt. Wöchentliche Besuche im Herkunftsdorf sind dadurch möglich. Jedoch wird nun für Besuche bei den verbleibenden zwei Töchtern und Enkeln und dem ältesten Sohn in der Schweiz ein Visumantrag notwendig. Die Familie hat in den letzten Jahren am Stadtrand ein neues Doppeleinfamilienhaus gebaut. Die eine Seite ist für die Familie des ältesten Sohnes vorgesehen, die andere Hälfte für Adifete, Admir sowie die künftige Familie des jüngsten Sohnes. Adifete erwähnt den Bau des neuen Hauses und betont dabei die Vorteile des Gartens für ihre Enkelkinder. Adifete: aber diese Haus wir machen ist besser schön weißt du..haben ein bisschen..Kinder muss spielen wir haben zwei Garagen mit Auto drinnen..und ein großer Balkon..alles Natur (2015: 1552 - 1554)

Sie stellt damit dar, dass diese Investition für die Familie und die Kinder gemacht wird. Zugleich zeigt sie jedoch auch anhand der Garagen und den Autos dar, dass sie im Kosovo nun wieder einen gewissen Lebensstil erreicht hat. Diese künftige Wohnsituation in unmittelbarer Nähe der Familie ihres Sohnes und dessen Kinder erinnert an die Wohnsituation ihrer eigenen Kindheit im Mehrgenerationenhaushalt im Herkunftsdorf. Insgesamt stellt Adifete ihr eigenes Leben in Bezug zu dem Wohlbefinden ihrer Familie dar. Dazu gehört die Heirat und Familiengründung ihres ältesten Sohnes, der mit seiner Ehefrau und den Kindern mit ihr in derselben Wohnung lebt. Adifete: aber jetzt gut ist weißt du Mann Kind so wachsen alles..kein Probleme nichts..alles gut ist (2) haben Sohn geheiratet haben zwei Kinder ((seufzt)) ganzen Tag spielen Kinder mit Kinder ((lacht)) (2015: 142 - 145)

Adifete zeigt damit auf, dass für sie zu einem guten Leben die Familiengründung des Sohnes gehört. Damit präsentiert sich Adifete über ihre Rolle als Großmutter. Zu ihrer positiven Bilanz zu ihrem Leben gehört zudem die Nähe zur Familie sowie das Vorhandensein von ausreichend finanziellen Mitteln, wie folgendes Zitat zeigt.

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Adifete:..jetzt alle Kinder arbeiten wir bleiben..schauen noch Kind Sohn..meine Haus ist groß halbe Haus wir geben Miete und dann geht es weißt du..zu Hause Geld Laden unten wir haben auch vermieten..und alles arbeiten ist gut...genug Geld (....) jetzt ist gut..Prizren..vorher nicht so gewesen...aber jetzt ist Staat...Kosovo nicht machen wie Schweiz...vor 15 Jahren ist Krieg gewesen weißt du..aber..hier wenn alle arbeiten jede Person zu Hause..wie wir..Egzon arbeitet Donika Clirim..Frau von Clirim..Zahltag nicht so gut aber kommen 1500 Franken..Euro..genug..und zu Hause nehmen auch Egzon: Miete Adifete: nehmen auch Miete 1000 Euro..genug weißt du (2015: 350 - 360)

Mit ihrer positiven Bilanz zeigt Adifete auf, dass sie ihre zwei zentralen Anliegen in ihrem Leben erfüllen konnte, nämlich die Nähe zu ihrer Herkunftsfamilie und das gemeinsame Leben im Familienverband, zu dem nebst ihren Verwandten vor allem der Sohn mit den Enkelkindern zählt. Die ausreichenden finanziellen Mittel stellen eine Absicherung dar, um eine weitere künftige Arbeitsmigration der Söhne zu verhindern. In ihrer positiven Bilanz ihres Lebens zeigt sie auf, dass sie die Trennungen der Familie überwinden konnte, welche sie bereits als Kind erlebt hat und sie in Zusammenhang bringt mit der prekären Situation ihrer Großmutter und der Ermordung ihres Großvaters. Fallstruktur: Hüterin der familialen Geschlechternormen und des Familienzusammenhaltes Migration im Interesse der Familie Adifete verbindet die Arbeitsmigration mit der Aufgabe der Familienväter, ihre Familien zu ernähren und präsentiert damit eine geschlechtsspezifische Rollenaufteilung. Den Beginn der Arbeitsmigration bringt sie in Zusammenhang mit dem Tod ihres Großvaters. Da ihre Großmutter alleine ihre fünf Kinder zu ernähren hatte, migrieren alle fünf Söhne auf der Suche nach Arbeit ins Ausland, um ihre eigenen Familien zu ernähren. Die Arbeitsmigration wird von Adifete ambivalent dargestellt. Einerseits zeigt sie auf, dass sie und ihre Geschwister dank dem Einkommen des Vaters ein sorgenfreies Leben führen konnten, zugleich dies aber auch dazu führte, dass sie ihren Vater kaum kannte und zudem auch die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie tangiert wurde. Um diese selbst erlebte Trennung der Familie zu überwinden, begleitet Adifete ihren Ehemann mit Kindern in die Schweiz. Adifete zeigt an den Folgen dieser Migration auf, dass sie um ihre Kernfamilie zusammenzuhalten ihre gute sozioökonomische Situation im Herkunftsdorf verlässt und mit den Kindern ihrem Ehemann in die Schweiz folgt. Sie stellt dar, dass sie das Leben in der Schweiz aufgrund einer „dreifachen Vergesellschaftung“, welche durch ihre Stellung als

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Ausländerin (ohne Sprachkenntnisse), Arbeiterin und Frau, ihre Möglichkeiten, die Aufgabe als Hausfrau und Mutter zu übernehmen, als problematisch erlebt hat. Am Tod ihrer Mutter im Herkunftsdorf zeigt Adifete auf, dass das Leben in der Schweiz für sie auch verbunden ist mit einer Trennung von ihrer Herkunftsfamilie. Die erneute Migration in den Kosovo mit den jüngsten beiden Kindern stellt für sie eine Strategie dar, die familiale Trennung zu ihrer Herkunftsfamilie erneut zu überwinden. Das Leben im Kosovo ermöglicht ihr nebst einem gewissen finanziellen Wohlstand die familialen Netzwerke der erweiterten Familie zu pflegen, sowie ihre Rolle als Mutter und Großmutter zu übernehmen. Weitergabe der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung im Zusammenhang mit einer dreifachen Vergesellschaftung in der Schweiz Die Arbeitsmigration ihres Vaters führt dazu, dass Adifete als älteste Tochter die Grundschule nicht beenden kann und ihre Mutter in der Arbeit auf dem Hof und der Sorge um ihre jüngeren Geschwister unterstützt. Dies verstärkt ihre Identifizierung mit einer klaren geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung in der Familie, in der die Frauen zu Hause arbeiten, während die Männer für das Einkommen sorgen. Diese Situation setzt sich auch nach der eigenen Familiengründung im Haushalt der Schwiegermutter fort. In der Schweiz greift Adifete in der Situation der dreifachen Vergesellschaftung auf die Unterstützung ihrer ältesten Tochter zurück. Dies führt zu einer Transmission der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung an ihre ältesten Kinder, indem die ältesten Töchter sie nun im Haushalt und der Betreuung der jüngsten Kinder unterstützen. Die anschließende Migration in den Kosovo ermöglicht ihr einen Zuwachs an Autonomie, da sie die Sprache beherrscht und aufgrund ausreichender finanzieller Ressourcen keiner Erwerbsarbeit nachzugehen hat. Sie stellt dar, dass sie sich nun wieder ganz ihrer Rolle als Hausfrau, Mutter und Großmutter widmen kann. Die Weitergabe der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung in der Familie wird erneut ersichtlich, da Adifete nun durch die Schwiegertochter Unterstützung im Haushalt erhält. Dies weist darauf hin, dass der Erhalt der familialen Geschlechterrollen für Adifete eine zentrale Handlungsstrategie darstellt. 6.1.3 Der transnationale Migrationsprozess der Eltern: Erfolgreicher sozialer Aufstieg und Weitergabe der patrilokalen Verortung in der „neue Heimat“ Kosovo In den Fallrekonstruktionen von Admir und Adifete fallen ihre Ähnlichkeiten auf. Beide sind gleich alt und stammen aus Familien in benachbarten albani-

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schen Dörfern der serbischen Provinz im damaligen Jugoslawien. Beide Väter sind als „Gastarbeiter“ in Deutschland und damit den größten Teil des Jahres abwesend und erwirken durch ihr Einkommen einen gewissen Wohlstand und Statusgewinn im Herkunftsdorf. Zudem sind die beiden Familien bereits vor der Hochzeit durch die Heirat von Onkel und Tante miteinander verbunden. Ihre durch die Verwandten initiierte Heirat bewirkt deshalb eine Verstärkung der Verbindung dieser beiden Familien und einen Verbleib im gleichen Herkunftsmilieu. Die Arbeitsmigration ihrer Väter steht im Zusammenhang mit ihrer Rolle als Familienernährer und führt zu einer geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung, welche von Admir und Adifete fortgesetzt wird. Adifete orientiert sich an ihrer Rolle in der Familie, als Hausfrau und Mutter und stellt die Pflege des familialen Zusammenhalts als zentral dar, der für sie als handlungsleitend für die transnationale Migration präsentiert wird. Admir präsentiert das Streben nach sozialem Aufstieg als zentrales Handlungsmuster. Nach dem Abbruch des eigenen Bildungsweges steht dabei die Transmission der Bildungsaspiration an seine Kinder im Vordergrund, die er durch das Streben nach finanziellen Ressourcen zu ermöglichen versucht. Dieses Streben nach sozialem Aufstieg ist seine Begründung für den transnationalen Migrationsprozess, den er über Erwerbsarbeit und Investitionen in Immobilien (Besitz) realisieren kann. Die Präsentation der Migration in den Kosovo als „Rückkehr“ ermöglicht Admir, den Migrationsprozess als erfolgreichen sozio-ökonomischen Aufstieg darzustellen und Adifete, damit die Wiederannäherung an die Herkunftsfamilie zu betonen. Im Kosovo entsteht ein Mehrgenerationenhaushalt, ähnlich wie ihn Admir und Adifete in ihrer Kindheit erlebt haben. Im Unterschied zu ihren ländlichen Herkunftsdörfern bietet Prizren als Großstadt Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten. Damit gelingt es Admir und Adifete, ihre Strategien, die Weitergabe des Strebens nach sozialem Aufstieg sowie die Bewahrung der örtlichen Vereinigung der Familie zu verbinden und damit die Weitergabe der Arbeitsmigration, welche eine Abwesenheit des Ehemannes in Zusammenhang mit der Rolle als Familienernährer beinhaltet, zu überwinden. Die Anbindung der Söhne an die neue Heimat erfolgt durch Admir auch über den Bau eines Zweifamilienhauses für die künftigen Familien der Söhne sowie der jüngsten Kinder durch die Rückgabe der Niederlassungsbewilligung. Die Anbindung der ältesten beiden Töchter an die neue „Heimat“ Kosovo wird über die Heirat kosovo-albanischer Ehemänner, deren Familien aus Nachbargemeinden von Prizren stammen, sichergesellt. Die „Rückkehr“ wird damit zu einer Strategie der Überwindung der saisonalen Arbeitsmigration sowie auch der Weitergabe der patrilokalen Verortung der Familie in der neuen „Heimat“.

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6.2 DIE NACHKOMMEN: FÜNF GESCHWISTER ZWISCHEN SÜDSERBIEN, DER SCHWEIZ UND DEM KOSOVO Im Folgenden werden die Fallrekonstruktionen der fünf Geschwister in der Reihenfolge der Geburt vorgestellt. Wie bei den Fallrekonstruktionen von Admir und Adifete werden auch hier die Analyseschritte zusammenfassend und ergebnisorientiert dargestellt. In einem ersten Teil wird jeweils der Interviewkontext reflektiert und die Hypothesen aus der Analyse der Interviews, der sogenannten „erzählten Lebensgeschichte“, beschrieben. In einem zweiten Schritt wird die erlebte und erzählte Lebensgeschichte anhand der Fallrekonstruktion abgebildet. In einem letzten Schritt wird die Zusammenfassung der Fallstruktur dargestellt. Diese dienen im folgenden Kapitel der komparativen Analyse, um die intergenerationalen Transmissionsprozesse in dieser Familie zu analysieren. 6.2.1 Arbresha –Streben nach familialer Anerkennung und Zugehörigkeit über sozialen Aufstieg Im Sommer 2012 treffe ich Arbresha, welche zu diesem Zeitpunkt 35 Jahre alt ist und mit ihrem Ehemann und den drei Kindern in einer 3-Zimmer-Eigentumswohnung in einer Kleinstadt in der Schweiz lebt, wenige Bahnminuten entfernt von Rheinfelden, wo sie früher mit ihren Eltern gelebt hat. Sie arbeitet Teilzeit als Detailhandelsangestellte in einem Kaufhaus. Der älteste Sohn besucht zu diesem Zeitpunkt das Gymnasium, die ein Jahr jüngere Tochter die Realschule und der jüngste Sohn den Kindergarten. Kontaktaufnahme und Interviewkontext Ich vereinbare mit Arbresha telefonisch einen Interviewtermin. Die Nummer habe ich von ihrem jüngsten Bruder Egzon erhalten. Sie schlägt ein Treffen an einem Vormittag bei ihr zu Hause vor, weil sie am Nachmittag arbeitet. Sie bittet mich, möglichst früh, also vor 11 Uhr, zu kommen, weil sie nachher für die Familie kochen muss, die zum Mittagessen nach Hause kommt. Wir vereinbaren einen Termin um 9 Uhr. Die Begründung des Interviewzeitpunktes lässt erkennen, dass Arbresha sowohl ihrer Rolle als Mutter und Hausfrau eine große Bedeutung beimisst und zugleich aber auch die Erwerbsarbeit als zentralen Bestandteil definiert. Sie stellt dar, dass sie Hausarbeit und Erwerbsarbeit aufeinander abgestimmt hat. Indem sie sowohl der Hausarbeit und der Erwerbsarbeit Priorität vor meiner Absicht einräumt, stellt sie diese beiden Aufgaben als gleich-

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wertig dar. Sie präsentiert sich mir damit gleich zu Beginn als erwerbstätige Hausfrau und Mutter. Arbresha wohnt in einem einfachen Wohnblock in der Nähe des Bahnhofes und des Kindergartens. Die 3-Zimmer-Wohnung ist frisch gestrichen und hell. Der jüngste Sohn, 6 Jahre alt, ist zu Hause, da ausnahmsweise der Kindergarten ausgefallen ist. Wir sitzen am Esstisch, während der Sohn im Wohnzimmer vor dem Fernseher sitzt. Arbresha spricht mit ihm deutsch und albanisch. Das Interview findet in Schweizerdeutsch statt, das Arbresha aktzentfrei und fließend spricht. Das Thema der Sprache wird von Arbresha im Interview wiederholt angesprochen. Zu Beginn stellt sie dar, dass sie als Kind in der Schule aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse ausgeschlossen wurde. Am Ende des Interviews thematisiert sie positive Rückmeldungen von Kunden bei der Arbeit, die sie aufgrund ihrer guten Schweizerdeutsch-Kenntnisse loben. Daraus lässt sich die Hypothese entwickeln, dass das Beherrschen der örtlichen Landessprache ein Mittel für Arbresha darstellt, um ihre Position als Migrantin zu überwinden und Zugehörigkeit zu erfahren. Nachdem ich das Aufnahmegerät ausgeschaltet habe, fragt sie mich, was für eine Art „Doktorarbeit“ ich schreibe und was ich denn „so schnell“ studiert habe. Die Frage nach meinem Studium und der Einschätzung meines Alters deutet darauf hin, dass Arbresha mich in Verbindung bringt mit ihrem jüngeren Bruder Egzon, durch den ich ihre Kontaktdaten erhalten habe, der zu diesem Zeitpunkt 25 Jahre alt ist und in der Schweiz studiert. Daraus schließe ich, dass ich von Arbresha nicht in erster Linie als Schweizerin, sondern als Bekannte ihres Bruders wahrgenommen wurde. Auch Arbreshas anschließende Frage, weshalb ich einen Kosovaren geheiratet hätte und was meine Familie darüber denkt, deutet auf die Wirksamkeit der „gemeinsamen Situation“ hin. Dies trug, zusammen mit der vermeintlichen Nähe von mir zu ihrem Bruder, zur Bildung eines Vertrauensverhältnisses während des Interviews bei. Dies ermöglichte ihr, erlebte Vorurteile und Ausgrenzungserfahrungen in der Schweiz thematisieren zu können, worauf ihre ausführliche Schilderung der anfänglichen Ablehnung ihrer Eltern gegenüber ihrem künftigen Ehemann hinweist. Erzählte Lebensgeschichte: „ich habe es keine Minute bereut, dass ich diesen Mann genommen habe“23 Arbreshas Erzählung beginnt und endet mit ihrer Familie. Im Mittelpunkt des Hauptteiles steht die ausführliche Begründung der Wahl des Ehemannes entge-

                                                             23 Abresha (2012: 131-132).

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gen dem anfänglichen Widerstand ihrer Eltern. Die Darstellung ihrer glücklichen und erfolgreichen Familie stellt Arbreshas Präsentationsinteresse dar. Abresha: ich kann jetzt wirklich sagen ja ich habe es keine Minute bereut dass ich diesen Mann genommen habe und dass irgendwie etwas schiefgelaufen ist..also ich habe drei volle gesunde Kinder ..und also von dem her bin ich also wunschlos glücklich (2012: 131 – 134)

Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung der Wahl ihres Ehemannes und als Beweis für die gelungene Ehe wird die Bedeutung von Eigentum und Besitz deutlich. Arbresha präsentiert das alte Haus der Familie des künftigen Ehemannes als Hauptgrund für die Ablehnung ihres Vaters zu dieser Heirat. Daraus kann die Hypothese entworfen werden, dass die Präsentation des erfolgreichen Strebens nach Besitz und Eigentum verbunden ist mit dem Beweis ihrem Vater gegenüber, dass sie mit der Wahl ihres Ehemannes die richtige Entscheidung getroffen hat. Die Rechtfertigung der Wahl ihres Ehemannes zeigt sich auch in Arbreshas Präsentation des beruflichen Erfolges ihres Ehemannes als Widerlegung der von ihr präsentierten Vorurteile ihrer Familie gegenüber einem kosovoalbanischen Asylbewerber, der „nichts taugt“. Arbresha: mittlerweile verdient er auch super und ja ..und alles durch hartes Schweiß und Schaffe erarbeitet..er ist wirklich eigentlich hat er nichts gelernt wirklich Stufe zu Stufe und ein wenig mit Kursen und mit Weiterbildung ist er wirklich so weit gekommen wie er jetzt da ist und er ist jetzt wirklich auch stolz auf sich und ich bin auch stolz auf ihn weil.. das kann man nicht gerade einfach eso..ein Ausländer der ja eigentlich nicht einmal recht hat Deutsch können oder so..also dass er es soweit gebracht hat..also muss ich sagen ist gut (2012: 464 - 470)

Die Darstellung des Erwerbes von Wohneigentum sowie der guten schulischen Bildung ihres Sohnes dienen dazu, dieses Präsentationsinteresse der gelungen Ehe zu stützen. Durch die Analyse des gesamten Interviews wird deutlich, dass diese Präsentation als „erfolgreiche Familie“ auch im Zusammenhang steht mit Ausgrenzungserfahrungen, um sich vom aktuellen negativen Diskurs über Kosovo-Albaner in der Schweiz abzugrenzen, was exemplarisch in folgendem Zitat ersichtlich ist. Arbresha: man fühlt sich wie zu Hause dann kommt halt zwischendrin halt so ein wenig so ein Nazi und so die verdammten Ausländer hier weg mit euch und dann fühlt man sich doch ein wenig doch angegriffen auch wenn es nicht persönlich an mich gerichtet gewesen

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ist oder..oder wie es halt früher geheissen hat die dummen Jugos oder..klar das tut schon weh weil man kann nicht alle in den gleichen Sack hinein werfen klar gibt es auch von denen die Probleme..gemacht haben in der Schweiz das verstehe ich auch oder Albaner oder Jugos es ist egal die wirklich auch Probleme in der Schweiz gemacht haben und eigentlich das gibt es überall (2012: 398 - 405)

Fallrekonstruktion: Sozialer Aufstieg als Streben nach Anerkennung Kindheit in der Großfamilie in Südserbien 1977 kommt Arbresha als erstes Kind von Adifete und Admir im Herkunftsdorf der Familie ihres Vaters auf die Welt. Sie wächst im gemeinsamen Haushalt mit ihrer Mutter, Großmutter väterlicherseits und den Geschwistern des Vaters auf. Andere Kinder in ihrem Alter gibt es zu diesem Zeitpunkt noch keine, da ihr Vater als ältester Sohn als erster heiratet und eine Familie gründet. Zu diesem Zeitpunkt ist ihr Großvater bereits als „Gastarbeiter“ in Deutschland und ihr Vater studiert an der Universität in Skopje. Als Arbresha drei Jahre alt ist, wird ihre Schwester Blerina geboren. 1981, ein Jahr nachdem der Vater zum ersten Mal auf Arbeitssuche in die Schweiz reist, folgt der erste Bruder Clirim. Arbresha ist nun vier Jahre alt. Der Vater verlässt nach der Geburt des Bruders die Familie, um in der Schweiz zu arbeiten. Für Arbresha bedeutet dies ein Aufwachsen in einer Familie, in der die engsten männlichen Bezugspersonen (Vater sowie Großväter sowohl der Mutter wie des Vaters) den größten Teil des Jahres abwesend sind. Das folgende Genogramm (Abbildung 5) zeigt die Familiensituation in Arbreshas Kindheit in Luqan, dem Herkunftsdorf des Vaters auf. Dabei wird ersichtlich, dass Arbresha vor allem mit weiblichen Bezugspersonen im Haushalt in Luqan lebt, während die anderen Familienmitglieder, insbesondere die Männer, aufgrund der Arbeitsmigration zwischen Luqan und Deutschland resp. der Schweiz hin und her pendeln (in Graustufen markiert). Arbresha erfährt so als Kind eine geschlechtsspezifische Rollenteilung, in der Väter resp. Männer im Ausland für das Einkommen der Familie sorgen und damit den größten Teil des Jahres abwesend sind. Zugleich erlebt sie die dadurch entstandene SemiAutonomie der Frauen, die sich im Alltag alleine um den Haushalt, Hof und die Kinder kümmern.

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Abbildung 5: Genogramm Arbresha (Zeitpunkt der Kindheit in Luqan)

Quelle: Eigene Darstellung

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Kindergarten und Primarschule in Südserbien Arbresha besucht 1982/83 zuerst den Kindergarten und anschließend die Schule im Herkunftsdorf. Der Unterricht in den Kindergärten bis in die zweite Klasse erfolgt in der Muttersprache, dem Albanischen. Arbresha berichtet nur ganz kurz über diese Zeit. Abresha: also vor Ewigkeiten..also ..also ich bin in Bujanovac geboren..das ist ja jetzt mit in Serbien quasi..sind alles Albaner dort also die Mehrheit…und ehm dann bin ich dort in die Schule Kindergarten bis und mit 3. Klasse bin ich dort in die Schule gegangen (2012: 8 - 10)

Mit dem Verweis auf die zeitliche Entfernung distanziert sie sich von ihrem Herkunftsdorf. Dies kann erklärt werden mit ihrem Präsentationsinteresse, sich in der Schweiz als gut integriert darzustellen. Als Arbresha die erste Klasse besucht, ist ihre Mutter wieder schwanger. Die Mutter reist mit den Kindern in die Schweiz zum Vater. Dort wird 1984 die jüngere Schwester Donika geboren. Wie im Genogramm (Abbildung 5) ersichtlich ist, stellt damit für Arbresha in dieser Zeit der familiale Mehrgenerationenhaushalt in Luqan die zentrale Orientierung dar. Arbresha bleibt zu Hause bei ihrer Großmutter im Herkunftsdorf. Sie berichtet nur kurz über die Geburt ihrer zweiten Schwester in der Schweiz, die sie als ungewöhnlich darstellt, da bisher alle Geschwister wie sie in Südserbien auf die Welt gekommen sind. Da sie sich korrigiert, dass die Anderen eine Schwester bekommen haben, stellt sie eine Art Distanz zu diesen Ereignissen dar, da sie selbst zu diesem Zeitpunkt nicht bei der Familie in der Schweiz ist sondern sich in Südserbien bei der Großmutter befindet. Abresha: zwischendrin hat er uns mal in die Schweiz geholt also zur zum Besuch über die Sommerzeit..und da waren wir noch zu Dritt und denn..haben wir..haben sie..nochmals eine Schwester bekommen..und dann ist sie dann hier in Aarau geboren (2012: 15 - 18)

Arbresha besucht weiterhin die Schule in Südserbien im damaligen Jugoslawien. Die Mutter reist bis zum Erhalt der Bewilligung für den Familiennachzug öfters mit den jüngeren Geschwistern zwischen der Schweiz und Bujanovac hin und her. 1986 wird der Bruder von Arbresha in den Kindergarten in Luqan bei Bujanovac eingeschult.

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Schulzeit in der Schweiz: Leben in der Kernfamilie Arbreshas Vater erhält 1986 die Aufenthaltsbewilligung B und damit das Recht auf Familiennachzug. Arbresha reist nun mit ihrer Mutter und den restlichen Geschwistern zum Vater in die Schweiz. Sie ist 9 Jahre alt, als sie in die Schweiz nach Buchs zieht. Dies bedeutet für sie eine große Umstellung, da sie nun zum ersten Mal mit beiden Eltern und den Geschwistern zusammen in einer Mietwohnung in einem Mehrfamilienhaus ohne Garten lebt und sich von der Großmutter und der erweiterten Familie wie auch den gleichaltrigen Kindern in ihrer Schulklasse trennen muss. Die Kernfamilie wird nun zum zentralen Bezugspunkt, da sie sich außerhalb der Familie nicht verständigen kann und zu diesem Zeitpunkt keine weiteren Verwandten in der Schweiz leben. Arbresha wird in die dritte Klasse eingeschult, obwohl sie kein Deutsch spricht. Dies bedeutet für sie die Fortsetzung ihrer Schulzeit in einer ihr fremden Sprache. Da die Mutter kaum Deutsch spricht und sich zudem um die jüngste Tochter Donika kümmert (zu diesem Zeitpunkt 2 Jahre alt), und auch ihr Vater viel arbeitet, erhält Arbresha kaum Unterstützung von ihren Eltern. Dies erfordert von Arbresha eine hohe Selbständigkeit, sich alleine in einem neuen, fremdsprachigen Schulumfeld einzufinden. Arbresha präsentiert die Migration in die Schweiz als Verdienst des Vaters, der durch Fleiß und harte Arbeit die Aufenthaltsbewilligung erlangt hat und stellt damit die Migration in die Schweiz als angestrebtes Ziel dar. Arbresha: dann hat er irgendwie regelmäßig immer gearbeitet 4 Jahre lang..und das ist so gewesen früher wenn du ja regelmäßig gearbeitet hast eine Weile lang bekamst du irgendwie eine Aufenthaltsbewilligung also B ..und dann hat er dies bekommen (2012: 13 - 15)

Zugleich stellt sie die Migration aber auch als „Katastrophe“ für ihr eigenes Leben dar. Sie zeigt am Thema der Schule und der Sprache auf, mit welchen Schwierigkeiten die Migration in die Schweiz verbunden ist. Abresha: am Anfang ist es für mich eine Katastrophe gewesen.. gut ich bin die älteste gewesen die Anderen sind noch klein gewesen die sind erst in den Kindergarten gekommen also die Schwester in Rheinfelden und der Clirim eben der große Bruder .. und die Anderen sind ja ganz Babys noch gewesen oder..und wo ich dann hier gekommen bin..kein Deutsch nichts .. ich bin dann hier in die dritte Klasse reingekommen also wirklich mit Händen und Füssen und ich glaube dazumal damals hat es auch noch nicht so viele Ausländer gehabt .. es ist ein einziger Italiener gewesen ..und alles Schweizer also wirklich nicht so wie es heute mehrheitlich Ausländer in den Klassen sind oder.. und ich habe ich bin einfach hier in der Schulklasse gesessen ich habe nichts verstanden nichts (2012: 255 262)

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Sie eröffnet damit ein Spannungsfeld zwischen den negativen Konsequenzen der Migration auf ihr eigenes Erleben und dem rational begründeten Entscheid der Eltern. Dabei kritisiert sie diesen Entscheid nicht, sondern betont ihre spezifische Betroffenheit als älteste Tochter. Sie stellt dar, dass sie nicht nur in der Familie die einzige ist, die eine solche schwierige Situation erlebt, sondern auch in der Schule, da es fast keine anderen ausländischen Kinder gibt. Trotzdem präsentiert sie sich nicht nur als hilflos und ausgeliefert, sondern zeigt auf, dass sie sich mit Händen und Füssen verständigt hat, um ihre Sprachlosigkeit zu überbrücken. Arbresha thematisiert am Beispiel des Mathematikunterrichtes, wie einschneidend für sie die fehlenden Sprachkenntnisse waren, weil sie deshalb ihre Fähigkeiten nicht einbringen konnte. Arbresha: schwierigere Aufgaben gekommen immer schwieriger und ich dann quasi so für mich ah Scheiße ich kann das aber ich konnte es ja nicht sagen ..ich solle aufstrecken und so und der Lehrer hat das dann gemerkt dass ich es eigentlich kann aber einfach nicht aussprechen kann..und dann hat er mich doch aufgerufen und dann sagt er ja weißt du die Lösung und dann ich.. so aber nicht was und dann ist er so also er hat mich wirklich lieb voll nett aufgenommen dass muss ich auch sagen..und dann ist er gekommen hat mir die Kreide in die Hand gedrückt komm jetzt darfst du aber zeich eh die Lösung grad an der Tafel aufschreiben und ich habe dann so Freude gehabt dann habe ich angefangen die Lösung gemacht aufgeschrieben und dann hat die ganze Klasse applaudiert und dann habe ich gedacht he man was denken die ich bin doch nicht dumm ich kann nur nicht Deutsch (2012: 267-276)

Arbresha präsentiert jedoch nicht nur Schwierigkeiten, sondern thematisiert auch die Unterstützung durch Lehrpersonen. Dies wird im folgenden Zitat ersichtlich, in dem sie aufzeigt, dass sie durch ihre besonders schwierige Situation viel Aufmerksamkeit, Anerkennung und Unterstützung außerhalb der Familie erfährt. Arbresha: ja früher durch dass es nicht so viele Ausländer gehabt hat haben wir nicht wie jetzt so Deutsch Unterricht gehabt für die Ausländer aber ich habe das so lieb und nett gefunden dass dann der Lehrer immer einen Mitschüler genommen hat und es hat dann so ein Buch gehabt mit Bilder und Namen also das heißt das und dann steht unten dran oder Stuhl ist abgebildet und unten dran steht dann Stuhl und so.. (2012: 276 - 280)

Die Unterstützung der Lehrpersonen erwähnt Abresha auch in Zusammenhang mit der Teilnahme am Skilager. Sie benennt hier zum ersten Mal ein Spannungsfeld zwischen den Lehrpersonen und ihrem Vater, der versucht zu verhindern, dass sie am Skilager teilnimmt. Arbresha nennt als Ablehnungsgrund die Mi-

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schung von Knaben und Mädchen und thematisiert damit unterschiedliche Wertvorstellungen und Normen ihres Vaters sowie der Schule in Bezug auf Geschlechternormen. Als weiteren Ablehnungsgrund erwähnt sie die Kosten und stellt damit dar, dass die finanziellen Ressourcen zu dieser Zeit in der Familie knapp waren. Möglicherweise konnte Arbresha aus diesem Grund auch an anderen Freizeitaktivitäten von Kindern in ihrem Alter nicht teilnehmen. Arbresha: als die Zeit gekommen ist für Skilager und so das hat man bei uns ja nicht so gekannt unten und dann mein Vater zuerst nein sicher nicht du gehst dort nicht eine Woche Buben und Mädchen zusammen und weiß nicht was oder und dann hat der Lehrer ihn aufgefordert dass er in die Schule kommt um mit ihm reden zu kommen dann hat er ihm erklärt wie das alles so sein muss und dann hat er gesagt ja ok gut das erste Jahr..das zweite Jahr ist er wieder mit nein gekommen das kostet viel und so und dann hat eben die Schule auch gesagt ja wir können euch schon noch ein bisschen unterstützen klar wir sind halt fünf Kinder (2012: 289 - 295)

Arbresha präsentiert anhand der Frage der Teilnahme am Skilager ihren Vater als Autorität, welche die Teilnahme von ihr an Aktivitäten in der Schule und somit ihre Integration in der Schule und eine zunehmende Ablösung vom Elternhaus verhindert. Gleichzeitig stellt sie jedoch dar, dass Lehrpersonen in der Schule ihren Vater umstimmen konnten und ihr eine Teilnahme ermöglichten. Arbresha thematisiert damit die erlebten Unterschiede zwischen der Familie und der Schule. Die Lehrpersonen stellt sie dabei als Vermittlungspersonen zwischen diesen beiden Systemen dar, die ihr ermöglichten, diese Unterschiede zu überwinden. Die Teilnahme am Skilager führt jedoch nicht zu einer Überwindung ihrer Außenseiterposition, wie Arbresha im folgenden Zitat darstellt: Arbresha: am Anfang ist es wirklich die schwierigste Phase gewesen wenn Skilager hast du dich wirklich ausgeschlossen gefühlt alle Mädchen haben sich da eine Gruppe gebildet ich bin einfach irgendwie so ein wenig im Hintergrund gewesen (2012: 608 - 610)

Arbresha thematisiert, dass der Zugang zu den Mitschülerinnen sehr schwierig ist aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse wie auch ihrem Ausländerstatus. Zugleich stellt sie diesen Ausgrenzungserfahrungen wieder ein positives Beispiel gegenüber, in dem sie erläutert, dass sie es geschafft hat, die Ausgrenzung zu überwinden und Freundinnen in ihrer Klasse zu gewinnen, wie folgendes Zitat illustriert:

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Arbresha: erst mit der Zeit wo man sich ein wenig besser kennen gelernt hat und so.. habe ich erst auch Freundschaften geschlossen die sind sogar auch zu mir nach Hause gekommen und ich habe so gerne mal oder meine Mutter hat zum Beispiel mal Pita gemacht und dann sind zufällig zwei Freundinnen von mir dort gewesen und dürfen wir probieren ja klar dürft ihr probieren haben sie probiert mh das ist ja so lecker (2012: 602 - 606)

Sie präsentiert hier ihre eigene Familie als aufgeschlossen. Die Probleme der Ausgrenzung situiert sie somit nicht bei sich oder ihrer Familie, sondern bei den Vorurteilen der Anderen. 1987, ein Jahr nach Arbreshas Einschulung in der Schweiz, wird ihre Mutter wieder schwanger und bringt einen weiteren Sohn (Egzon) auf die Welt. Die Familie zieht nach der Geburt in ein Zweifamilienhaus mit Garten nach Zuzgen um, einer kleinen Gemeinde ca. 40 km von Buchs (Kanton Aargau) entfernt. Für Arbresha bedeutet dies nach nur einem Jahr einen erneuten Klassenwechsel in eine kleinere Gemeinde. Übernahme Verantwortung für den Haushalt und Betreuung der jüngeren Geschwister Ein Jahr nach der Geburt des jüngsten Bruders beginnt ihre Mutter halbtags zu arbeiten. Sie hat Spätschicht und geht dann arbeiten, wenn der Vater nach Hause kommt. Arbresha ist nun 11 Jahre alt, als sie als älteste Tochter einen Teil der Haushalts- und Erziehungsaufgaben für die jüngeren Geschwister übernimmt. Arbresha präsentiert sich als Stütze der Familie und Mutterersatz für den kleinen Bruder. Arbresha: meine Mutter noch da in der Nacht gearbeitet hat also Spätschicht von fünf Uhr abends ist sie gegangen habe ich den Egzon ein bisschen müssen miterziehen am Abend haben wir immer auf ihn aufpassen müssen da ist er so ein kleiner „Butzgi“ gewesen so ein fetter und ja…da sind wir halt auch noch in Zuzgen gewesen und ich habe ..also er ist mein Bruder und irgendwie wie mein Kind (2012: 158 - 162)

Sie stellt ihren jüngsten Bruder dar als wäre er ihr eigenes Kind und betont damit die enge Beziehung zu ihren jüngeren Geschwistern. Zugleich betont sie aber auch die Verpflichtung, die diese Rolle mit sich bringt und stellt damit dar, dass sie diese geschlechtsspezifische Rolle nicht gewählt hat, sondern übernehmen musste.

 

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Verhinderter Übertritt in die Sekundarschule Im gleichen Jahr, Arbresha ist 12 Jahre alt, stellt sich die Frage betreffend dem Übertritt in die Sekundarstufe I24. Sie absolviert die Aufnahmeprüfung, welche sie jedoch nicht besteht. Mögliche Hoffnungen auf eine erfolgreiche Bildungskarriere werden damit für Arbresha beendet und auch Ausbildungsmöglichkeiten sind mit einem Realschulabschluss eingeschränkt. Arbresha erzählt ausführlich über diese nichtbestandene Sekundarschulprüfung und stellt dar, dass sie deren Ergebnis als große Enttäuschung erlebt hat. Sie erläutert, dass sie den Sekundarschulübertritt nur ganz knapp verpasst hat und nennt als Hauptgrund sprachliche Schwierigkeiten. Damit stellt Arbresha einen Zusammenhang zwischen der verpassten Sekundarschulprüfung und der Migration in die Schweiz her. Arbresha: in der 6. Klasse ja dass man die Real oder Sekundar und ich bin ja erst drei Jahre in der Schweiz gewesen ich bin sonst eigentlich gut in der Schule gewesen also ich habe relativ schnell verstanden und alles aber gleichwohl hat mir noch etwas die Sprache gefehlt oder und dazumal hat man noch .. die Prüfung schriftlich machen müssen für in die Sek nicht wie jetzt halt nur Noten bestanden oder ..und dann habe ich bin ich gleich wohl an die Prüfung und ich habe sie wirklich um zwei Punkte nicht geschafft (2012: 300 - 305)

Arbresha präsentiert nun wieder die Lehrpersonen als unterstützend, im Gegensatz zu ihrem Vater, der Gegenargumente einbringt. In folgendem Zitat wird zudem sichtbar, dass sie die Entscheidung in der „Wir“- Form erzählt. Sie stellt dabei sich selbst wie auch ihren Vater als in diesem Entscheidungsprozess beteiligt dar. Arbresha: die Lehrer zusammengekommen und und auch den Vater haben sie gerufen und haben gesagt durch das ich ja quasi eine Ausländerin bin und wirklich erst seit drei Jahren in der Schweiz bin und habe klar noch ein bisschen die Sprache fehlt manchmal habe ich vielleicht die Aufgaben nicht ganz genau verstanden gehabt oder so..also wollen wir ihr gleichwohl wir sehen die Kapazität ist da und sie ist lernwillig und alles wir wollen sie gleichwohl also wenn ihr auch dafür seid dass wir sie also dass sie gleichwohl in die Sek kann sie kann es ja mal versuchen sie kann ja auch noch zurückkommen in die Real ..und dann sind wir auch so an einem Punkt gewesen sollen wir sollen wir nicht ich habe dann

                                                             24 Die Sekundarstufe I entspricht der Schulstufe mit höherem Anspruchsniveau im Gegensatz zu der Realschule (tiefster Abschluss der obligatorischen Schulzeit). Im Anschluss an die Sekundarstufe I ist der Besuch des Gymnasiums (Sekundarstufe II) möglich oder einer qualifizierenden Berufsausbildung (vgl. Bildungssystem Educa https://bildungssystem. educa.ch/de/schweizerische-bildungswesen 23.08.2018).

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doch ein wenig Angst gehabt..und eh wir sind eben damals auch noch in Zuzgen gewesen.. und dann hätte man auch mit dem Bus auf B. dort ist die Sekundarschule gewesen..ja nein ja nein dann haben wir doch mit dem Vater entschieden ja nein ich bleibe in der Real (2012: 305 - 315)

Der Verbleib in der Realschule sowie die Übernahme von Sorgearbeit für die jüngeren Geschwister weist auf eine Tradierung von geschlechtsspezifischen Rollen in der Familie hin, ausgelöst durch den Einstieg der Mutter in die Erwerbsarbeit. Ausbildung und Einstieg ins Erwerbsleben Als Arbresha 16 Jahre alt ist, zieht die Familie in eine 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung in Rheinfelden, einer Kleinstadt im selben Kanton, ca. 10 km entfernt. Arbresha muss somit zum dritten Mal ihre gewohnte Umgebung verlassen. Da der Umzug zeitlich mit dem Ende ihrer obligatorischen Schulzeit zusammenfällt, ist die Absicht ihrer Eltern erkennbar, ihr mit dem Umzug Zugang zu mehr Ausbildungsmöglichkeiten zu bieten. Arbresha findet in der Kleinstadt eine zweijährige Lehre als Detailhandelsassistentin in einem nahe gelegenen Kaufhaus. Damit erwirbt sich Arbresha in einem typischen Frauenberuf eine qualifizierende Ausbildung, welche ihr den Einstieg in das Erwerbsleben erleichtert. Sie erhält einen Lehrlingslohn und die Aussicht auf einen Arbeitsplatz in demselben Kaufhaus, bleibt aber weiterhin bei ihren Eltern wohnen. Vermutlich gibt sie einen Teil ihres Lohnes zu Hause ab, da die Eltern durch den Kauf der Eigentumswohnung in der Schweiz einen Kredit aufgenommen haben und nun Zins und Hypotheken zurückzahlen müssen. Durch die ganztätige Arbeit kann sie nun nicht mehr im gleichen Umfang die Betreuungsaufgaben der jüngeren Geschwister übernehmen. Ihre drei Jahre jüngere Schwester, welch die Oberstufe besucht, übernimmt nun teilweise an ihrer Stelle die Aufgaben im Haushalt und der Geschwisterbetreuung. Arbresha bezeichnet den Übergang von der Realschule zur Ausbildung als fliessend und thematisiert die Berufswahl nicht. Dies deutet darauf hin, dass sie mit ihrem Abschluss in der Realschule keine großen Wahlmöglichkeiten hatte, eine Lehrstelle zu finden. Verlobung: Ringen um die Zustimmung der Eltern Arbresha ist neunzehn Jahre alt, als sie sich 1996 mit einem Asylbewerber aus dem Kosovo verlobt. Sie arbeitet in dieser Zeit weiterhin im Kaufhaus, wo sie ihre Ausbildung abgeschlossen hat. Arbresha thematisiert ausführlich den Widerstand ihrer Eltern gegen die Verlobung. Sie begründet die Ablehnung der El-

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tern zuerst mit der unterschiedlichen Herkunft: Ihr Verlobter ist Albaner aus Kosovo, während ihre albanische Familie aus Südserbien stammt. Sie stellt dabei die ethnische Zugehörigkeit als unbedeutend dar. Arbresha präsentiert die Vorurteile ihrer Eltern gegenüber Personen aus dem Kosovo, die ihr eine unglückliche Ehe voraussagen, wie folgendes Zitat zeigt. Arbresha: wir haben von den Serben halt von Bujanovac ..haben ein wenig Vorurteile gehabt haben also die Eltern sagen wir es so also die von Kosovo die taugen nichts sind irgendwie fanatisch oder wie man dem sagt ..und eh die haben total andere Sitten und Zeug und Sachen ihr werdet immer Probleme haben..(2012: 39 - 42)

Die Vorurteile betreffen zudem auch den Asylstatus ihres Freundes, wie folgendes Zitat illustriert. Die Vorurteile ihrer Eltern stehen in Zusammenhang mit dem negativen Ruf von Asylsuchenden aus dem Kosovo, der in dieser Zeit in der Deutschschweiz verbreitet ist. Arbresha:..er sei hier Asylbewerber wer weiß was er im Schilde führt halt immer so die ersten Vorurteile die man so ein wenig hat und denn was hat..er stiehlt oder Drogen noch schlimm- (2012: 44 - 45)

Dies weist darauf hin, dass sich die Eltern, welche über die Arbeitsmigration in die Schweiz kamen, von der später einsetzenden Asylmigration abgrenzen. Als weiteren Ablehnungsgrund nennt Arbresha die fehlenden finanziellen Mittel der Familie ihres Freundes. Sie zeigt auf, dass ihr Vater für die Überprüfung der familialen und finanziellen Situation ihres Verlobten zu dessen Familie in den Kosovo reist. Arbresha: mein Vater extra in Kosovo runter gegangen zu der Familie des Mannes ..und hat gesagt er wolle sie wenigstens mal ein bisschen kennen lernen wie die stehen was die besitzen und weil bei uns ist so ein wenig Tradition dass man schaut hat der Mann wenigsten ein Haus steht er gut finanziell da nicht dass dann meine Tochter muss verhungern so indem Sinne oder ..und eh ja die haben halt ein altes Haus gehabt und so nicht halt so finanziell super halt normal ..und dann ist wieder mein Vater hier hinauf gekommen und hat gesagt ja nein er hat mir dies irgendwie abreden wollen weil die stünden nicht gut da (2012: 48 - 55)

Dieser Besuch des Vaters weist auf die patrilokale Heiratsnorm in Arbreshas Familie hin, gemäß dieser die Tochter mit der Heirat in die Familie des Ehemannes wechselt, die von diesem Zeitpunkt an für sie zu sorgen hat. Indem Arbresha

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erwähnt, dass ihr Vater die Familie ihres Freundes im Kosovo besucht, stellt sie zugleich auch dar, dass ihr das Einverständnis der Eltern, insbesondere ihres Vaters, wichtig ist. Dies zeigt sich auch in der folgenden Darstellung ihrer hartnäckigen Versuche, ihre Eltern zu überzeugen, dass ihr Freund ihren Vorurteilen nicht entspricht. Zum ersten Mal zeigt Arbresha auf, dass sie direkt den Eltern widerspricht und für die Akzeptanz ihrer eigenen Entscheidung kämpft. Arbresha:..aber mich hat wirklich nichts abschrecken können ich ich habe gesagt mir ist egal was er für eine Familie hat ich liebe diesen ich will diesen ich habe mich einfach voll entschieden gehabt …ja dann hat es der Vater eigentlich auch eingesehen und meine Mutter auch ..und dann haben wir uns …also mit Besnik meinem jetzigen Mann ..halt nochmals getroffen und gesprochen und halt ein paar Mal nicht nur einmal und dann immer mehr hat eigentlich meine Mutter der Vater ist noch ein wenig der Stolz da gewesen aber der Mutter ist er sofort sympathisch gewesen und er hat halt können..gut über ihn reden und so er hat ja auch gearbeitet obwohl er Asylbewerber gewesen ist (2012: 56 - 62)

Die Verlobung mit ihrem Freund führt deshalb nicht zu einem Bruch mit ihrer eigenen Familie, da Arbresha es schafft, ihre Eltern, vor allem die Mutter, dann auch den Vater, von ihrer Entscheidung zu überzeugen. Die Ausführungen von Arbresha weisen darauf hin, dass bei der Wahl des künftigen Ehemannes Geschlechternormen relevant sind: Der künftige Ehemann und dessen Familie wird durch ihre Familie aufgrund von Einkommen und Vermögen bewertet. Abresha gibt damit auch Hinweise auf elterliche Erwartungen an Geschlechterrollen in der Familie: Der künftige Ehemann wird nach seinen Möglichkeiten bewertet, die Rolle als Familienernährer zu übernehmen. Arbresha hingegen wird vor allem nach dem Aussehen bewertet, wie folgendes Zitat zeigt. Sie stellt dabei dar, dass die Frage nach ihrer Arbeit und Ausbildung für ihre Schwiegereltern eine untergeordnete Bedeutung hat und weist damit auf die künftige Rolle als Hausfrau und Mutter in der Ehe hin. Arbresha: der Mann hat dann einfach seiner Familie gesagt so und so er habe da eine kennengelernt und sie sei von Bujanovac und so..sie haben mich einfach sehen wollen wie ich aussehe und .. (2012: 572 - 574)

Gründung einer eigenen Familie Arbresha ist 20 Jahre alt, als sie kurz nach der Verlobung mit ihrem Freund schwanger wird. Diese Schwangerschaft führt dazu, dass Arbresha und ihr Verlobter bald darauf heiraten. Arbresha bezeichnet sich und ihren Verlobten als fleißig und arbeitsam und versucht damit, die Vorurteile ihrer Eltern gegenüber

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ihrem Mann zu widerlegen. Sie stellt damit zugleich auch eine gleichwertige Verteilung von Arbeit bis zur Schwangerschaft und der Geburt des ersten Kindes dar. Arbresha: er hat gearbeitet ich habe gearbeitet und dann kurz nach dem Heiraten in der Verlobungszeit bin ich schon schwanger geworden mit dem Ersten .. halt ungewollt aber es ist halt passiert weil so früh hab ich nun doch nicht gewollt (2012: 67 - 69)

Abresha erwähnt in obenstehendem Zitat zudem auch, dass die Schwangerschaft für sie zu früh kam und sie sich eine Zeit mit ihrem Verlobten/Ehemann zuerst ohne Kinder gewünscht hätte. Dies wird auch ersichtlich daran, dass sie das Kennenlernen ihres Mannes als die schönste Zeit in ihrem Leben nennt, hingegen die Schwangerschaft mit dem ersten Kind als „Schreck“ bezeichnet. Arbresha: Die schönste Zeit gewesen..ja klar wo ich mit dem Mann zusammen gekommen bin das ist einmal bestimmt die schönste Zeit gewesen ..und dann beim ersten Kind haben wir zuerst einen Schreck gehabt weil ich..ich bin ja kaum 20 gewesen und bin schon schwanger gewesen.. zuerst der Schreck als wir dann das Kind gehabt haben ist wirklich also das ist nochmal eine ganz schöne Zeit gekommen (2012: 624 - 628)

Zugleich betont Arbresha, dass sie sich nach dem ersten Schreck mit der Situation abgefunden hat, indem sie diese Zeit als junge Ehefrau und Mutter schlussendlich als sehr schön darstellt. Die Hochzeit findet sowohl im Kosovo wie auch der Schweiz statt. In Zusammenhang mit ihrer neu gegründeten Familie thematisiert Arbresha erneut die Skepsis ihrer Eltern. Einerseits betont sie, dass ihre Mutter schlussendlich ihren Mann akzeptiert hat wie einen eigenen Sohn. Andererseits erwähnt sie erneut Vorurteile und räumt im Rückblick selbst Zweifel ein. Arbresha stellt damit dar, dass die Vorurteile aus ihrem Umfeld und ihren Eltern zu einer großen Verunsicherung über ihre eigene Entscheidung geführt haben. Arbresha: also meine Mutter kann mein Mann nicht unterscheiden zwischen den eigenen Söhnen so indem Sinn..es ist wirklich nicht ein paar Jahre es ist nicht mal ein Jahr gegangen meine Mutter hat gesagt ich kann ihn im Schoß tragen wie mein eigenes Kind und sie hat es wirklich bereut die paar Wörter die sie mal gesagt hat oder ..aber das sind auch Vorurteile wo halt die Menschen rundum so ein wenig blablabla ein wenig reden ..und sie hat es sie haben es schnell gesehen dass er nicht so gewesen ist oder..klar es hätte auch schief gehen können (2012: 73 - 79)

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Nach der Hochzeit ziehen Arbresha und ihr Mann mit dem Kind in eine eigene Mietwohnung in Rheinfelden, unweit der Eltern. Bereits ein Jahr später, Arbresha ist nun 21 Jahre alt, wird sie wieder schwanger und bekommt als zweites Kind ein Mädchen. Arbresha erwähnt berichtartig die Geburt des zweiten Kindes. Diese wird im Gegensatz zu der ersten Schwangerschaft nicht mehr als ungewollt dargestellt, jedoch auch nicht weiter thematisiert. Damit stellt Arbresha dar, dass sie sich mit ihrer Rolle als Mutter identifiziert. Ihr Ehemann hat in dieser Zeit Schwierigkeiten, die Rolle als Familienernährer zu übernehmen, da er über keine Ausbildung und schlechte Deutschkenntnisse verfügt. Er arbeitet in dieser Zeit im Altersheim (Nachtschicht). Auf ihm lastet der familiale Erwartungsdruck von Arbreshas Eltern, welchen er beweisen muss, dass er seine neugegründete Familie ernähren kann. Dies wird auch in folgendem Zitat ersichtlich, in dem Arbresha aufzeigt, dass sie sich zu Beginn der Familiengründung in einer prekären finanziellen Situation befindet und auf staatliche Unterstützung angewiesen ist, zugleich jedoch auch die Bemühungen von sich und ihrem Ehemann um Arbeit betont. Arbresha: ich habe immer noch voll gearbeitet der Mann hat auch voll gearbeitet..und durch das dass man auch Kinder hat ist ein paar Jahre das Amt für Soziales eingestellt gewesen der Mann hat dann so in der Nacht gearbeitet also als Betreuer und so und auch in einem Altersheim (2012: 82 - 85)

Nach der Geburt des zweiten Kindes beginnt Arbresha Teilzeit zu arbeiten. Die Teilzeitarbeit ermöglicht ihr, ihre Rolle als Hausfrau und Mutter mit Erwerbsarbeit zu vereinen. Diese Situation gleicht nun wieder mehr der Situation als junge Frau vor der Heirat, als sie zuhause, nebst der Ausbildung, der Mutter im Haushalt und der Betreuung der jüngeren Geschwister ausgeholfen hat. Ihr Mann arbeitet nachts in einem Altersheim, während Arbresha vormittags der Arbeit nachgeht. Damit wird keine Fremdbetreuung der Kinder notwendig. Abresha und ihr Mann schaffen es so, gemeinsam Erwerbsarbeit und Kinderbetreuung untereinander aufzuteilen. Arbresha: ja dann hat er ein paar Jahre so in der Nacht gearbeitet und ich habe am Vormittag gearbeitet dass wir halt doch für die Kinder da gewesen sind ..ja weil wir halt auch ein wenig finanziell nicht gerade rosig da gestanden sind.. vor allem auch unten nicht..weil da kannst du so jeden Monat etwas machen aber halt unten nicht (2012: 87 - 90)

Abresha thematisiert hier zum ersten Mal, dass finanzielle Mittel auch gebraucht würden, um „unten“, das heißt im Kosovo bei ihren Schwiegereltern, ein Haus

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aufzubauen. Sie zeigt damit auf, dass mit der Familiengründung und dem Leben in der Schweiz auch familiale Erwartungen an Investitionen für die Herkunftsfamilie des Ehemannes verbunden sind. Arbresha stellt dar, dass sie und ihr Ehemann durch die eingeschränkten Erwerbsmöglichkeiten mit den beiden Kleinkindern und der dadurch finanziellen knappen Situation diesen Erwartungen zuerst nicht gerecht werden können. Dies ändert sich nach dem Krieg im Kosovo im Jahr 1999. Arbresha und ihr Mann kaufen trotz finanziellen Engpässen im Kosovo ein Stück Land. Der Landkauf weist darauf hin, dass sie nun versuchen, familiale Erwartungen zu erfüllen, um damit die Vorurteile ihrer Eltern gegen die Heirat zu entkräften. Trennung der Familie: Migration der Mutter mit den jüngeren Geschwistern in den Kosovo Im Gegensatz zu Arbresha und ihrem Mann verfügen ihre eigenen Eltern zu diesem Zeitpunkt bereits über ein Grundstück mit einem fast fertig gebauten Haus in Prizren. Arbreshas Mutter migriert nun mit den jüngsten beiden Geschwistern (Egzon und Donika) im Jahr 2000 in den vom Krieg noch gezeichneten Kosovo. Für Arbresha bedeutet dies eine Trennung von ihrer Mutter und ihren jüngeren Geschwistern, die bis dahin in derselben Kleinstadt gelebt haben. Arbresha stellt die Migration in den Kosovo als voraussehbares Ereignis dar und präsentiert den Aufenthalt ihrer Eltern in der Schweiz als Zwischenstation, um zu finanziellen Ressourcen zu kommen und sich damit in der Herkunftsregion etwas aufzubauen, wie in folgendem Zitat ersichtlich ist. Arbresha: mein Vater hat schon immer gesagt gehabt..dass er sich etwas aufbauen möchte unten und dann halt zurück er möchte nicht quasi hier sterben weil ob es jetzt gut ist ob du dich jetzt integriert fühlst du bist doch irgendwie ein Ausländer..und dann hat er immer wieder gesagt ja er möchte mal gerne zurück er arbeite höchstens bis 50 dann wolle er sich unten etwas aufbauen und dass er dann unten arbeiten kann oder eben unten leben und dann ist es so weit gewesen (2012: 323 - 328)

In diesem Zitat begründet Arbresha die Rückkehrorientierung ihrer Eltern mit der Frage der Zugehörigkeit in Zusammenhang mit dem Ausländerstatus. Damit stellt Arbresha den Entscheid ihrer Eltern für die Migration in den Kosovo nicht nur als erarbeitetes Ziel dar, sondern zugleich als Strategie auf der Suche nach Zugehörigkeit.

 

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Arbresha thematisiert nun zum ersten Mal schmerzhafte Trennungserfahrungen und zeigt damit ihre emotionale Bindung an ihre jüngeren Geschwister im Zusammenhang mit ihrer Rolle als Mutterersatz für die jüngeren Geschwister auf. Arbresha: nicht nur Mutter und Vater sondern eben auch der Egzon und die Donika und es hat mir wirklich schon auch das Herz gebrochen dass sie wieder zurückgegangen sind (2012: 367 - 369)

Abresha weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass für sie eine Migration in den Kosovo zu einer Option wird, um diese Trennung von ihren Eltern und Geschwistern zu überwinden. Wie folgendes Zitat zeigt, stellt sie eine Migration in den Kosovo als Ziel dar, das sie und ihr Mann sich durch Investitionen in Immobilien im Kosovo am Aufbauen sind. Arbresha: aber wir so im Hintergrund vielleicht schaffen wir es ja auch vielleicht kommen wir ja auch wieder zurück in den Kosovo und wir haben eigentlich auch immer den Hintergedanken gehabt also ich habe meinem Mann das mal..uns wirklich auch unten etwas aufbauen und dass wir dann unten auch leben..und ja die Jahre gehen irgendwie schnell vorbei..und ja es ist halt ein wenig..ja noch nicht soweit ((lacht) (2012: 369 - 373)

Damit zeigt sich, dass der Erwerb von Land im Kosovo und der anschließende Hausbau nicht nur im Zusammenhang mit der Erfüllung familialer Erwartungen stehen, sondern auch die Möglichkeit einer künftigen Migration in den Kosovo eröffnet. Indem sie darstellt, dass für jeden der Brüder begonnen wird, ein Haus aufzubauen, präsentiert Arbresha die patrilokalen Normen in der Familie der Schwiegereltern, wie folgendes Zitat zeigt: Arbresha: mein Bruder also mein Mann hat noch zwei andere Geschwister..also sagen wir jetzt einmal Brüder und noch drei Schwestern und der hat dann ja dann haben wir eigentlich angefangen zu bauen und wir haben dann grad drei Häuser begonnen zu bauen..es ist ja nicht so teuer wie hier es ist genug teuer aber gleichwohl oder ..und dann haben wir halt unten etwas aufgebaut..die Häuser jahrelang sind wir halt dran gewesen weil es halt grad drei gewesen sind (2012: 93 - 97)

Für jeden Bruder wird ein Haus gebaut, jedoch nicht für die Schwestern. Der Hausbau ist zugleich jedoch auch ein Mittel, um ihre Ehe gegenüber ihrem Vater zu legitimieren, der die Heirat aufgrund des fehlenden Besitzes und dem alten Haus ablehnte.

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2002, zwei Jahre nachdem ihre Mutter und die jüngeren Geschwister die Schweiz verlassen haben, heiratet Arbreshas jüngere Schwester Blerina im Kosovo. Die Schwester bekommt kurz nach der Hochzeit ein Kind und zieht in eine eigene Wohnung in Rheinfelden in der Nähe von Arbresha. Im selben Jahr verlässt auch der Vater von Arbresha definitiv die Schweiz und zieht zur Mutter und den jüngsten Kindern nach Prizren. Von der einstigen siebenköpfigen Familie leben nur noch Arbresha, ihr Bruder Clirim und ihre Schwester Blerina in der Schweiz. Arbresha berichtet nichts über diese Veränderungen. Beruflicher Erfolg und Investitionen in der Schweiz In dieser Zeit verändert sich auch die finanzielle und berufliche Situation von Arbresha resp. ihrem Ehemann. Arbresha präsentiert ausführlich den beruflichen Aufstieg ihres Mannes und entkräftet damit die Zweifel ihrer Eltern an der Wahl ihres Ehemannes. Sie stellt den Erfolg ihres Ehemannes auch in Bezug auf seinen Ausländerstatus dar, wie folgendes Zitat zeigt. Arbresha: und eben mittlerweile verdient er auch super und ja ..und alles durch hartes Schweiß und Schaffe erarbeitet..er ist wirklich eigentlich hat er nichts gelernt wirklich Stufe zu Stufe und ein wenig mit Kursen und mit Weiterbildung ist er wirklich so weit gekommen wie er jetzt da ist und er ist jetzt wirklich auch stolz auf sich und ich bin auch stolz auf ihn weil.. das kann man nicht gerade einfach es so..ein Ausländer der ja eigentlich nicht einmal recht hat Deutsch können oder so..also dass er es soweit gebracht hat. (2012: 464 - 470)

Durch den beruflichen Erfolg ihres Ehemannes verbessert sich die finanzielle Situation der Familie. Dies zeigt sich im Jahr 2004 im Erwerb einer Eigentumswohnung in der Nachbarstadt von Rheinfelden. Der älteste Sohn kommt nun in die erste Klasse, der Wohnortswechsel hat noch vor seiner Einschulung stattgefunden. Arbresha arbeitet nun wieder Vollzeit in einer Firma. Der Wohnungskauf in der Schweiz deutet darauf hin, dass der Verbleib in der Schweiz für Arbresha und ihren Mann eine Option bleibt. Sie verfügen damit sowohl im Herkunftsort ihres Ehemannes im Kosovo sowie auch in der Schweiz über Wohneigentum. Zugleich wird damit sichtbar, dass Arbresha sich mit dem Erwerb von Immobilien im Kosovo und der Schweiz an ihrem Vater orientiert, der ebenfalls seine erworbenen finanziellen Ressourcen in Immobilien angelegt hat. Diese Investitionen weisen deshalb auch auf Arbreshas Streben nach Anerkennung ihrer Eltern hin.

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Unterstützung der Geschwister In dieser Zeit wohnt vorübergehend auch der vier Jahre jüngere Bruder Clirim bei Arbresha und ihrer Familie. Arbresha erzählt von seinen Schwierigkeiten. Dabei präsentiert sie sich als zentrale Unterstützung und stellt dar, dass sie ihn wie eine Mutter bei sich zu Hause aufnimmt, als er seine Wohnung verliert. Arbresha veranschaulicht damit die Weiterführung ihrer verantwortungsvollen Rolle als ältere Schwester gegenüber ihren jüngeren Geschwistern, die sie bereits in ihrer Kindheit innehatte. Arbresha: und er hat eigentlich nichts abgeschlossen der große Bruder.. er ist zwar auch ein Sek. Schüler gewesen aber er hat einfach er ist einfach ein wenig auf die schiefe Bahn geraten sagen wir es einmal so halt Ausgang mit Kollegen saufen und ja hat ein wenig ein wenig den Weg verloren sagen wir es so..immer wieder ein wenig Probleme gehabt dann ist er zu mir gekommen..ich habe es immer wieder versucht und am Schluss ist es sogar so weit gekommen dass er sogar ehm die Wohnung verloren hat das Betreibungsamt gekommen ist und dann haben wir ihn bei uns aufgenommen er ist mehr als ein Jahr bei uns hier geblieben ..und dann haben wir ihn unterstützt wo man konnte (2012: 238 - 245)

Familienzuwachs: Bestätigung der Mutterrolle 2007 wird Arbresha im Alter von 30 Jahren wieder schwanger und kündigt noch während der Schwangerschaft ihre Arbeitsstelle bei der Firma. Der ältere Sohn ist zehn Jahre alt, als das dritte Kind auf die Welt kommt. Auch zwischen Arbresha und ihrem jüngsten Bruder bestehen zehn Jahre Unterschied, sowie zwischen ihrem jüngsten Bruder und ihrem ersten Sohn. Diese zehn Jahre Altersunterschied zwischen Geschwistern sind in der Familie von Arbresha somit nichts Ungewöhnliches. Jedoch präsentiert Arbresha einen längeren Entscheidungsprozess für dieses dritte Kind. Arbresha: und der der Kleine haben wir danach auch später ..entschieden sollen wir jetzt nochmals eins sollen wir nicht so langsam Mitte Dreißig bin ich gewesen und gesagt ja doch ..haben wir gesagt dann machen wir nochmal eines dann möchte ich aber nicht arbeiten dann möchte ich nachher für das Kind da sein (2012: 225 - 228)

Sie betont damit einerseits die gemeinsam getroffene Entscheidung. Andererseits deutet der längere Entscheidungsprozess auch auf Zweifel hin und weist auf einen großen Unterschied zum ersten Kind hin, welches nicht geplant war. Zehn Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes bestätigt sie somit noch einmal die Familiengründung und verbindet damit ihren Wunsch, die Rolle als Hausfrau und Mutter übernehmen zu können wie obenstehendes Zitat illustriert. Abresha

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präsentiert das dritte Kind im Vergleich zu ihrem Freundeskreis als etwas Besonderes, obwohl in ihrer Herkunftsfamilie drei und mehr Kinder durchaus üblich sind. Arbresha: ich bin eigentlich die einzige die nochmals ein Drittes gemacht hat die anderen haben alle nur zwei..und alle sind jetzt so langsam in der Lehre..oder halt in der Schule noch so Oberstufe.. (2012: 111 - 113)

Dies weist darauf hin, dass sich Arbresha beim Entscheid für das dritte Kind nicht an ihrem Freundeskreis orientiert, sondern an der Erfüllung familialer Erwartungen. Während die Darstellung des beruflichen Erfolgs des Ehemannes dazu dient, dessen erfolgreiche Übernahme der Rolle als Familienernährer darzustellen, ermöglicht Arbresha die Geburt des dritten Kindes die Bestätigung ihrer Mutterrolle. Einige Monate nach der Geburt ihres dritten Kindes wird auch ihre Schwester Blerina wieder schwanger und bekommt nach einer komplizierten Frühgeburt im Jahr 2008 einen zweiten Sohn. Clirims Migration in den Kosovo Im selben Jahr heiratet ihr Bruder Clirim im Kosovo. Er zieht zwei Jahre später zur Geburt des ersten Kindes zu seiner Ehefrau in den Kosovo in die gemeinsame Wohnung mit seinen Eltern in Prizren, wo zudem die jüngeren Geschwister, Egzon und Donika, wohnen. Arbresha thematisiert in diesem Zusammenhang die Frage einer künftigen eigenen Migration in den Kosovo. Sie präsentiert anhand von ihrem Bruder Clirim die Chancen einer Migration in den Kosovo anhand dessen erfolgreichen beruflichen Werdegangs. Arbresha: er hat sich wirklich toll integriert ..auch unten weil er ja immer hier gewesen ist..und sagen auch alle dass hätten wir nicht gedacht dass er der Clirim so jetzt ist er mehr als zwei Jahre unten fast drei Jahre ..und er hat einen guten Posten dort auch in der Firma und ja..und er hat eigentlich nichts abgeschlossen der große Bruder.. er ist zwar auch ein Sek. Schüler gewesen aber er hat einfach er ist einfach ein wenig auf die schiefe Bahn geraten (2012: 235 - 239)

Zugleich thematisiert sie auch die Risiken am Beispiel ihrer Schwester Blerina und der Gesundheitsversorgung im Kosovo. Arbresha: und ja die Schwester ist eigentlich auch so sie möchte gerne nach unten gehen aber sie hat ein wenig Angst vom Leben unten und darum sagt sie sie möchte lieber hier bleiben ((lacht)) weil sagt sie sie hat ein wenig mehr Probleme gehabt mit der Gesundheit

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ja für sich selber und den Kleinen hat sie im 6. Monat schon geboren ..sie hat drei Monate im Spital bleiben müssen unter ..denen Schläuchen und alles.. ist wirklich auf der Kippe gewesen lebt er oder stirbt er und ..sie hat auf mehr auf diesem Bereich hat sie Angst sagt sie weil ja unten weißt du habe ich ein wenig Angst wie die Medizin unten ist und wenn dann musst du Geld haben und alles privat machen unten im im ..sagen wir mal im Kantonsspital oder wie das unten ist halt Staatsspital.. ist es wirklich Scheiße..es ist eine Katastrophe (2012: 513 - 522)

Diese Thematisierung der Chancen und Risiken einer Migration in den Kosovo zeigt auf, dass durch die Migration der Eltern und des Bruders in den Kosovo auch für sie und ihre Schwester die Frage nach einer Migration in den Kosovo relevant wird. Damit weist sie darauf hin, dass durch die Migration der Eltern in den Kosovo und die Heirat mit einem kosovo-albanischen Mann familiale Erwartungen wirksam werden, selbst in den Kosovo zu ziehen. Transmission von geschlechtsspezifischen Erwartungen an die Kinder Arbresha beginnt im Jahr 2009 wieder zu arbeiten, als ihr jüngster Sohn ca. 1.5 Jahre alt ist, obwohl sie als Hauptgrund für das dritte Kind die Aufgabe der Erwerbsarbeit genannt hat, um sich ganz den Kindern widmen zu können. Diese Phase als Hausfrau und Mutter hat nur knapp zwei Jahre gedauert. Sie findet eine Teilzeitstelle im Detailhandel und kann damit wieder in ihrem gelernten Beruf arbeiten. Die neue Teilzeitstelle ermöglicht ihr, die Aufgabe als Hausfrau und Mutter mit der Erwerbsarbeit zu verbinden. Unklar bleibt, wer nun in dieser Zeit auf ihren jüngsten Sohn aufpasst, da ihr Mann nun auch ganztags arbeitet. Möglich ist, dass ihre ältere Tochter, die nun elf Jahre alt ist, im Haushalt und der Kinderbetreuung mitwirkt. Dies deutet auf die Transmission der familialen Geschlechterrolle an die als älteste Tochter hin. Auf diese geschlechtsspezifische Transmission von elterlichen Erwartungen an ihre Kinder weist auch Arbreshas Betonung des Bildungserfolges ihres ältesten Sohnes hin. Als ihr ältester Sohn im Jahr 2010 die 6. Klasse besucht, besteht die Möglichkeit für einen Übertritt in das höhere Schulniveau (Sekundarstufe). Arbresha stellt dar, dass ihr Sohn den Übertritt prüfungsfrei schafft. Wie bereits die Brüder von Arbresha, jedoch im Gegensatz zu ihr und ihren Schwestern, besucht nun auch ihr eigener Sohn die höhere Schulstufe. Der Besuch der Sekundarschule des Sohnes stellt im Vergleich zu den Bildungsabschlüssen von Adifete und ihrem Mann einen Aufstieg dar. Arbresha präsentiert stolz den schulischen Erfolg ihres ältesten Sohnes.

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Arbresha: was meine Kinder so betrifft..ich bin ganz stolz auf den großen Buben weil er es eh eigentlich immer gut mit der Schule gehabt es ist reibungslos immer gelaufen .. (2012: 210 - 212)

Ein Jahr später befindet sich die Tochter in derselben Situation. Die Frage nach einem Übertritt in die Sekundarschule wird von Arbresha jedoch nicht aufgeführt, die Tochter verbleibt in der Realschule. Dies deutet darauf hin, dass die geschlechterspezifische Unterscheidung von Schulleistungen und Förderung von Bildungswegen, wie sie bereits in Arbreshas Kindheit stattgefunden hat, reproduziert wird. So wie Arbresha und ihre Schwestern bleibt auch ihre eigene Tochter in der Realschule, während der Bruder und der Sohn eine höhere Schulstufe besucht haben. Die geschlechterspezifische Förderung der Kinder findet sich auch in Arbreshas Darstellung der Erziehung ihrer Kinder wieder. Sie erwähnt, dass ihr Sohn gemeinsam mit ihrem Ehemann Sport betreibt (Fußball und Joggen), während sie mit ihrer Tochter einkaufen geht. Arbresha: also es ist wirklich toll wenn man uns als Familie sieht der Bub ist ja mittlerweile fast so groß wie mein Mann sie gehen zusammen Fußballspielen gestern Abend sind sie zusammen noch joggen gegangen..es ist wirklich es hat Vor- und Nachteile wenn man früh Kinder hat oder halt spät Kinder hat ..aber in dieser Zeit am Anfang habe ich gedacht ja scheiße man kann weniger in den Ausgang und so Zeug aber ich muss jetzt wirklich sagen Gott sei Dank habe ich so früh gemacht weil es ist jetzt wirklich toll wenn man halt..oder mit dem Mädchen kann ich einkaufen gehen irgendetwas machen (2012: 219 224)

Bildungsaspiration als Strategie der Überwindung von Ausgrenzungserfahrungen Ein Jahr später besteht ihr Sohn den Übertritt von der Sekundarschule ins Untergymnasium, während ihre Tochter weiterhin die Grundschule besucht. Arbresha präsentiert stolz den Bildungserfolg ihres Sohnes. Arbresha: also er hat die Prüfung grad mit Bravur bestanden also wirklich locker bestanden.. er hat nicht müssen an die mündliche weil man kann ja schriftlich und dann kann man sich noch in der Mündlichen gehen wenn es so ein wenig halb an der Grenze liegt und er hat es wirklich toll bestanden (2012: 213 - 216)

Der Stolz über die guten Schulleistungen ihres Sohnes stellt für Arbresha zugleich auch ein Abgrenzungsmerkmal gegenüber anderen ausländischen Familien dar, wie folgendes Zitat zeigt.

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Arbresha: der Bub in die Sekundarschule gekommen ist ist es doch ein wenig ein angenehmes Gefühl ja mein Bub hat es so etwas ein bisschen mehr gebracht oder jetzt wo er in die Kantonsschule25 gegangen ist ja super also fühlst dich als Eltern wirklich stolz.. also wirklich stolz wenn ..es hat halt schon ein paar Ausländer aber halt nicht so viele..als wir jetzt am Info Abend gewesen sind oder so mein Bub ist gewesen nochmals eine andere Albanerin ein Mädchen ist gewesen wo in der Kantonsschule sind und sonst schon Ausländer aber vielleicht halt Italiener oder Spanier oder halt andere halt Albaner sind wirklich mein Bub und..eben das Mädchen und man fühlt sich dann schon ein wenig besser dass das wirklich dein eigenes Kind doch etwas etwas mehr macht (2012: 629 - 636)

Wichtig ist ihr die Unterscheidung zwischen den verschiedenen Nationen. Zentrale Referenzgruppe sind nur albanische Kinder, in Bezug auf diese stellt sie ihren Sohn als besonders erfolgreich dar. Sie zeigt damit auf, dass sie die Bildungserwartungen, die sie auf ihren Sohn überträgt, zugleich auch in Zusammenhang stellt mit einer Abgrenzung gegenüber der restlichen albanischen Bevölkerung in der Schweiz, deren Bildungserfolg sie damit negiert. Arbreshas Bemühungen der Abgrenzung von der albanischen Bevölkerung in der Schweiz werden auch ersichtlich in Bezug auf das Freizeitverhalten ihrer Kinder. Sie betont, dass es ihr wichtig ist, dass ihre Kinder sich nicht nur mit albanischen Kindern treffen, sondern auch schweizerische Kinder als Freunde haben. Das Thema nennt Arbresha vor allem in Bezug auf ihren Sohn wie folgendes Zitat illustriert. Arbresha: er große Bub der hängt gar nicht mit Albaner zusammen nicht dass er sie nicht aber einfach wie die manchmal die Einstellung haben oder wenn sie ein wenig nicht es so schulisch sagen wir mal begabt sind oder so..möchte er nicht so viel mit denen zu tun haben..also er hat jetzt wirklich zwei Schweizer Kollegen26 wo ihn also sie holen ihn die ganze Zeit hier ab bei uns und fahren zusammen in die Kanti also gar nicht ausgeschlossen die kommen auch hier und mein Bub geht auch zu denen oder wenn der Peter also der Schweizer Geburtstag hat dann lädt er ihn ein gehen sie ins Kino nehmen Popcorn zusammen und so also wirklich merkst du also heutzutage merkst du dass wirklich ein Ausländerkind in der Klasse ausgestoßen wird dass wird er nicht..also bei meinen Kindern jetzt nicht also im Allgemeinen so wie ich es so sehe ..jetzt nicht aber früher ist es halt schon leider so gewesen (2012: 611 - 620)

                                                             25 In der Schweiz wird in einigen Kantonen das Gymnasium als Kantonsschule bezeichnet. 26 Die Bezeichnung „Kollege“ wird in der Umgangssprache in der Schweiz sowohl für Arbeitskollegen wie auch Freunde verwendet.

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Dies deutet darauf hin, dass Arbreshas Betonung der Abgrenzung gegenüber der albanischen Bevölkerung in Zusammenhang steht mit Vorurteilen gegenüber der albanischen Bevölkerung in der Schweiz, die insbesondere männliche Jugendliche betreffen (vgl. Duemmler 2015:141). In obenstehendem Zitat wird ersichtlich, dass Arbresha ihre Bemühungen um die gute Integration ihres Sohnes in der Schule in Bezug setzt zu ihren eigenen Ausgrenzungserfahrungen in der Kindheit. Dies weist darauf hin, dass die Bildungsaspiration, die sie an ihren Sohn richtet, eine Strategie darstellt, um Ausgrenzungserfahrungen durch sozialen Aufstieg zu überwinden. Arbresha stellt dar, dass sie auch heute noch mit Ausgrenzungserfahrungen konfrontiert ist, wie folgendes Zitat zeigt. Arbresha: man fühlt sich wie zu Hause dann kommt halt zwischendrin halt so ein wenig so ein Nazi und so die verdammten Ausländer hier weg mit euch und dann fühlt man sich doch ein wenig doch angegriffen auch wenn es nicht persönlich an mich gerichtet gewesen ist oder..oder wie es halt früher geheißen hat die dummen Jugos oder..klar das tut schon weh weil man kann nicht alle in den gleichen Sack hinein werfen klar gibt es auch von denen die Probleme..gemacht haben in der Schweiz das verstehe ich auch oder Albaner oder Jugos es ist egal die wirklich auch Probleme in der Schweiz gemacht haben und eigentlich das gibt es überall das gibt es auch überall und also ich muss sagen ich fühle mich schon wohl in der Schweiz und auch integriert und alles (2012: 398 - 406)

Sie stellt damit ein Spannungsfeld dar zwischen ihrer eigentlichen Zugehörigkeit zur Schweiz, wo sie seit fast 30 Jahren lebt und sich zu Hause fühlt, und gleichzeitig aber immer wieder von anderen als Ausländerin wahrgenommen wird. Daraus wird ersichtlich, dass Arbreshas Bildungsaspiration, die sie an ihren Sohn überträgt und das Streben nach beruflichem Erfolg ihres Ehemannes in Zusammenhang steht mit der Suche nach der Überwindung ihrer Situation als Ausländerin. Im selben Jahr, als ihr Sohn erfolgreich in die höhere Schulstufe wechselt, bewirbt sich ihr Bruder Egzon im Kosovo erfolglos um einen Studienplatz (Master) in der Schweiz. Ein Jahr später versucht er es erneut und erhält die Zusage für einen Masterstudiengang an einer anderen Universität. Jedoch benötigt er für das Studium in der Schweiz ein Visum, das ihm beim ersten Versuch verweigert wird. Arbresha erklärt ausführlich die großen Schwierigkeiten ihres Bruders und ihre eigene Betroffenheit über die Absage durch das Migrationsamt und betont dabei ihr eigenes Engagement als ältere Schwester für ihren Bruder, wie folgendes Zitat illustriert.

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Arbresha: und ich habe wirklich nochmals eine Stellungnahme nehmen müssen unterschreiben und garantieren dass der Egzon wenn er fertig ist dass er zurück geht also jegliches Zeug und dann haben sie es wirklich dann nochmal so eine Revision ist das gewesen.. haben sie nochmals eine Revision gemacht und ich habe wirklich ich habe wirklich am Telefon weinen müssen ich habe der Frau gesagt ich glaube es einfach nicht mein Bruder ist ein so toller Kerl er hat sich das schon ein Leben lang gewünscht und er ist ja hier aufgewachsen er ist nicht einer kommt ein Typ ist Albaner einer von unten kommt hier an und oh wow das ist das Paradies der Egzon hat das gekannt er ist ja bis zur Sek ((Sekundarschule)) da gewesen oder ..und..ich habe ihm so..es hat mich so gerührt es hat mir so leidgetan für den Egzon dass er nicht hierhin kommen kann für die Schule zu machen .. (2012: 177 - 186)

Arbresha stellt dar, dass Egzon dank ihrer Unterstützung schlussendlich doch noch ein Visum für die Schweiz erhalten hat. Sie präsentiert sich somit wieder in der Rolle der älteren Schwester, welche die Sorge für die ganze Familie trägt. Sie erwähnt zudem, dass sie die Ablehnung des Visumantrages durch die Behörden nicht verstehen kann, da ihr Bruder in der Schweiz geboren ist und thematisiert damit erneut die Unterschiede zwischen der gefühlten Zugehörigkeit und den rechtlichen Rahmenbedingungen. Dank dem Rekurs erhält Egzon 2011 schlussendlich ein Visum für das Studium in der Schweiz und kann gerade noch rechtzeitig zum Semesterstart anreisen. Er wohnt in der ersten Zeit bei Arbresha und deren Familie und hat von dort über eine Stunde Zugsfahrt bis zur Universität. Ende Jahr findet er schließlich eine Wohnung in der Nähe der Universität. Migration als Erweiterung des Handlungsspielraumes Arbresha thematisiert im Interview immer wieder die Frage einer künftigen Migration in den Kosovo. Als zentrales Argument präsentiert sie die Ausbildung ihrer Kinder, insbesondere ihres Sohnes. Indem Arbresha die Motivation ihres Sohnes für eine Migration in den Kosovo betont, zeigt sie die Unterschiede der damaligen Entscheidung ihrer Eltern mit ihren eigenen Überlegungen auf: Egzon und Donika wollten damals die Schweiz nicht verlassen. Arbresha: dann haben wir ihn so gefragt und dann sagt er Mami ich würde auch gerne unten weitermachen weil unten gibt es ja auch die amerikanische College Schule ..und das ist eine Option für uns und das ist wirklich eine super Schule..und eh haben wir auch gedacht ob wir es jetzt zwischendurch würden schaffen dass wir jetzt einmal doch zurückgehen ..dass der große Bub halt in eine amerikanische Schule geht und auch dort studiert und kann er dann auch noch ins Ausland gehen von mir aus ..in die Schweiz London keine Ahnung Amerika was er halt auch will oder (2012: 421 - 427)

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Wie obenstehendes Zitat illustriert, präsentiert Arbresha die Migration nicht als endgültiges Ziel, sondern als Mittel zum Zweck um den kontinuierlichen Bildungsaufstieg ihres Sohnes zu realisieren. Sie orientiert sich dabei stark an ihrem jüngeren Bruder Egzon, welchen sie als Vorbild für ihren Sohn sieht. Die Bildungsmöglichkeiten für ihre Tochter erwähnt Arbresha erst auf meine Nachfrage hin. Sie erläutert, dass eine Migration in den Kosovo auch ihrer Tochter die Möglichkeit für einen höheren Bildungsabschluss bietet, obwohl sie in der Schule nicht so gut ist und deshalb in der Schweiz eine Berufsausbildung (Lehre) machen würde. Arbresha: weil sie halt nur in der Real ist klar kann sie nach der Lehre mit Weiterbildungen und alles und es so aber weil sie halt nicht eine ganz gute in der Schule ist oder und ..hat sie mich auch einen Tag gefragt Mami und wenn wir dann zurück gehen sagt sie was mache ich dann unten..sage ich ja unten ist es so dass du zuerst ins Gymnasium musst also wenn du nach der neunten Klasse gehst du noch drei Jahre ins Gymnasium und dann kannst du schauen entweder machst du Praktikum (2012: 657 - 661)

Die Rechtfertigung einer Migration mit den Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder macht deutlich, dass sich Arbresha an ihrer Herkunftsfamilie orientiert und die Argumentation ihres Vaters wiederholt. Jedoch zeigt sich auch eine Veränderung. Arbresha erwähnt, dass sie aufgrund der erlebten Schwierigkeiten von Egzon nun die Migration in den Kosovo erst in Erwägung zieht nach Erhalt des Schweizerpasses. Im Gegensatz zu ihren Eltern ist für Arbresha damit eine Migration in den Kosovo nicht das Ende des familialen Migrationsprozesses, sondern eine Möglichkeit der Erweiterung von Bildungsmöglichkeiten, die auch in anderen Ländern fortgesetzt werden könnte. Arbresha: wenn jetzt wirklich der Bub möchte auf London ein Jahr mal etwas machen gehen oder so dass er noch ein wenig ..vorteilhafter da steht oder nicht noch erst muss Visum holen und so wir haben es vor allem jetzt mit dem Egzon gesehen das ist so schade wegen den wirklich wegen dem scheiß Pass mu: nicht kannst eh eben nicht in das Land gehen kannst wo du etwas erreichen möchtest.. und das ist ein großer Punkt für uns gewesen wo wir uns gesagt haben ja ok dann lassen wir uns auch einbürgern (2012: 432 - 437)

In diesem Sinne präsentiert Arbresha den Erwerb der Schweizerischen Staatsbürgerschaft als Mittel, um ihren Kindern den Zugang zu Bildungsinstitutionen im Ausland zu ermöglichen. Gleichzeitig stellt sie aber auch einen Verbleib in der Schweiz als Option dar und betont, wie gut ihre Kinder in der Schweiz bereits integriert sind.

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Arbresha: wir sind positiv beeindruckt eh von euch als Familie ihr seid integriert die Kinder sind im FC das Mädchen macht Handball der Bub ist schon immer in FC gewesen also wir sind wirklich es ist nicht schlimm wenn wir nicht in Kosovo gehen von dem her (2012: 439 - 441)

Damit weist sie auf die Ambivalenzen hin, die für sie mit der Frage einer Migration in den Kosovo verbunden sind. Dies wird auch im folgenden Zitat sichtbar, in dem sie den Erwerb des Schweizerpasses als Garantie darstellt, jederzeit wieder in die Schweiz zurückkehren zu können. Arbresha: haben wir gesagt probieren wir dann haben wir Schweizerpässe und wenn es halt wirklich voll daneben geht kann man auch noch zurück (2012: 444 - 445)

Diese Ambivalenz für oder gegen eine Migration in den Kosovo setzt Arbresha in Bezug zu der Frage der Zugehörigkeit. Sie bezeichnet in folgendem Zitat die Schweiz wie eine Heimat und erwähnt ihre Zweifel, ob sie sich im Kosovo wohl fühlen würde wie folgendes Zitat zeigt. Arbresha:. wenn ich es jetzt soweit bringe dass ich wie mein Vater ein Einkommen habe unten etwas wird es ehrlich gesagt ich bin nicht eh gegen die Schweiz also du musst mich jetzt auch nicht falsch verstehen eh wir sind froh dass wir da gewesen sind wir haben uns aufbauen können und ich bin ich fühle mich schon auch integriert hier und alles also es ist kein Problem weil ich bin nun auch seit der dritten Klasse schon seit über 20 Jahren hier es ist schon so wie Heimat aber gleich hat man im Hintergrund Kosovo unten weil dort haben wir noch mehr Familie dadurch das meine Familie zurück gegangen ist habe ich es auch..also ich würde es sehr gerne probieren also ich meine eh wenn es jetzt nach ein paar Jahren nicht würde klappen oder ich würde mich jetzt doch nicht wohl fühlen unten oder so klar kann ich dann immer wieder hier hinkommen (2012: 380 - 389)

In diesem Zitat wird zudem die starke Orientierung an ihren Eltern und der Familie ersichtlich, indem sie die Schweiz wie ihr Vater als Zwischenstation präsentiert, um sich etwas aufzubauen. Dies weist darauf hin, dass die Frage der Migration in den Kosovo in Zusammenhang steht mit familialen Erwartungen sowohl ihrer Eltern wie auch der Schwiegereltern. Zugleich nennt sie auch Zweifel im Zusammenhang mit ihren eigenen Erfahrungen und den Erfahrungen ihrer jüngeren Geschwister: Migration wurde von ihnen allen als schwierige Herausforderung erlebt. Die Option, dank dem Erwerb der schweizerischen Staatsbürgerschaft die Migration „ausprobieren“ zu können, stellt damit eine Art Kompromiss dar, da Arbresha sich nicht definitiv entscheiden muss. Sie hält sich und

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ihren Kindern damit alle Optionen offen. Diese Strategie steht auch im Zusammenhang mit der Frage der Zugehörigkeit. Sie stellt dar, dass sie trotz der 20 Jahre weder zur Schweiz, noch zum Kosovo, noch zu Südserbien eine starke Zugehörigkeit entwickelt hat. Fallstruktur: sozialer Aufstieg der Kernfamilie als Streben nach Anerkennung Vereinbarkeit familialer Erwartungen und Ausbildung Abresha wird in ihrer Jugendzeit als ältester Tochter eine geschlechtsspezifische Rollenverteilung vermittelt, die sich darin äußert, Verantwortung für die jüngeren Geschwister zu übernehmen und im Haushalt mitzuhelfen. Mit der Wahl eines typischen Frauenberufes kann Arbresha ihren eigenen Wunsch nach einer Ausbildung mit der Übernahme von geschlechtsspezifischen Rollen in Einklang bringen. Dies zeigt sich insbesondere auch nach der Heirat und Familiengründung. Damit führt Arbresha die von den Eltern vorgelebte geschlechtsspezifische Rollenaufteilung weiter, indem sie die Mutterrolle und ihr Ehemann die Rolle des Familienernährers übernimmt, obwohl sie im Gegensatz zu ihrem Ehemann über eine Ausbildung in der Schweiz verfügt. Wie ihre Mutter verbindet Arbresha ihre Rolle als Hausfrau und Mutter mit der Erwerbsarbeit und trägt damit zum familialen Einkommen bei. Die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung wird an die Kinder weitergegeben, indem die bildungsmäßigen Aspirationen an den Sohn delegiert werden, der diese erfolgreich durch den Besuch des Gymnasiums erfüllt. Streben nach familialer Anerkennung für ihre Partnerwahl Abresha begründet die Ablehnung ihrer Eltern gegen die Heirat eines kosovoalbanischen Asylbewerbers mit den knappen finanziellen Mitteln der Familie des künftigen Ehemannes, die durch das fehlende eigene Haus im Kosovo symbolisiert werden. Das anschließende Streben nach sozio-ökonomischem Aufstieg dank des beruflichen Erfolges ihres Ehemannes und dem Hausbau im Kosovo wird zu Arbreshas Strategie, ihre Ehe gegenüber ihren Eltern zu legitimieren und deren Vorurteile zu widerlegen. Die drei Kinder, die Investitionen in Immobilien und die Übertragung der Bildungsaspiration an ihren Sohn sowie auch die Frage einer Migration in den Kosovo zeigen eine Orientierung am Handlungsmuster ihres Vaters auf und damit das Streben nach dessen Anerkennung. Streben nach einer Überwindung des Ausländerstatus in der Schweiz Das Streben nach sozialem Aufstieg durch die berufliche Karriere des Ehemannes, den Erwerb von Immobilien und den Bildungserfolg des ältesten Sohnes

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stellt zudem auch eine Strategie dar, Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihrer Situation als Ausländerin in der Schweiz zu überwinden. Arbresha zeigt auf, dass sie bereits in ihrer Kindheit in der Schweiz Ausgrenzungserfahrungen gemacht hat und heute noch als Ausländerin wahrgenommen wird. Mit dem beruflichen Erfolg ihres Ehemannes und den Bildungserwartungen an ihren Sohn sind Arbreshas Bemühungen verbunden, sich von der albanischen Bevölkerung in der Schweiz und den damit verbundenen negativen Zuschreibungen abzugrenzen. Anhand der Frage nach einer künftigen Migration in den Kosovo stellt Arbresha dar, dass die Frage der Zugehörigkeit im Zusammenhang mit Ausgrenzungserfahrungen in der Schweiz sowie familialen Erwartungen im Kosovo für sie ein Spannungsfeld bleibt. Den Erwerb der schweizerischen Staatsbürgerschaft stellt sie als eine Möglichkeit dar, zwischen diesen beiden Ländern hin und her pendeln zu können. 6.2.2 Blerina – Aushandlung von Nähe und Distanz in der Familie Blerina weist auf den ersten Blick viele Ähnlichkeiten mit ihrer drei Jahre älteren Schwester Arbresha auf, sowohl in Bezug auf das Geschlecht, die Familiensituation sowie auch den Migrationsprozess. Wie Arbresha ist auch Blerina mit einem Kosovo-Albaner verheiratet und lebt mit zwei Kindern in Rheinfelden, wenige Bahnminuten vom Wohnort von Arbresha entfernt. Im Gegensatz zu Arbresha präsentiert sich Blerina jedoch nicht als „erfolgreiche Familie“, sondern stellt die Aushandlung von Nähe und Distanz zu der Familie in den Fokus ihrer Erzählung. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 32 Jahre alt. Sie wohnt gemeinsam mit ihrem Ehemann und den zwei Kindern in einer 3-Zimmer-Mietwohnung in Rheinfelden. Ihr jüngster Sohn besucht den Kindergarten, der ältere Sohn die dritte Klasse. Blerina arbeitet abends (Teilzeit) in einer Firma im Büro, während ihr Ehemann Vollzeit in derselben Kartonfabrik (Swisswell) in Rheinfelden arbeitet wie zuvor ihr Vater. Kontaktaufnahme und Interviewkontext Von ihrem jüngeren Bruder habe ich ihre Telefonnummer erhalten. Als ich anrufe, spreche ich zuerst mit ihrem Ehemann, der den Anruf an Blerina weiterreicht. Wir vereinbaren einen Termin bei ihr zu Hause. Bei der Kontaktaufnahme fallen mir die unterschiedlichen Sprachkompetenzen von Blerina und ihrem Mann auf. Blerina spricht fließend schweizerdeutsch, während ihr Ehemann kaum Deutsch spricht.

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Das Interview mit Blerina findet an einem Nachmittag im Sommer 2012 statt. Wir sitzen während dem Interview am Esstisch in der Küche, während die Kinder im Wohnzimmer vor dem Fernseher spielen. Der Ehemann ist nicht zu Hause. Das Interview dauert insgesamt zweieinhalb Stunden und findet in einer lockeren Atmosphäre statt. Wir sprechen beide Schweizerdeutsch, das Blerina akzentfrei spricht. Während dem Gespräch fällt mir auf, dass Blerina mit den Kindern mehrheitlich albanisch spricht. Da ihr Ehemann kaum Deutsch spricht, stellt albanisch vermutlich die Familiensprache dar. Blerina weiß, dass ich vor diesem Interview bereits mit ihrem jüngeren Bruder Egzon und ihrer älteren Schwester Arbresha gesprochen habe. Am Ende des Interviews fragt sie mich, ob ich einen Zeitungsartikel oder ein Buch schreibe. Dies weist darauf hin, dass es für sie vor dem Interview nicht klar war, für was ich die Informationen aus dem Interview verwende und sie mich nicht in Verbindung mit universitärer Bildung bringt. Daraus schließe ich, dass ihre Präsentation der fehlenden Ausbildung gleich zu Beginn nicht durch meine Präsenz als Forscherin einer Universität ausgelöst wurde, sondern der Kontrastierung zu dem erfolgreichen Bildungsweg ihres jüngeren Bruders Egzon dient, durch den ich ihre Kontaktangaben erhalten habe. Erzählte Lebensgeschichte: „ja nein“ und „hin und her“ Bei der Analyse der erzählten Lebensgeschichte fällt auf, dass Blerina immer wieder die Verwendung von „ja nein“ verwendet. Die Analyse dieser Textstellen zeigt auf, dass sie mit dem Ausdruck „ja nein“ ein Spannungsfeld aufzeigt zwischen ihrer eigenen Lebensplanung und dem Einfluss der Familie, was sich auch in der Formulierung von „wir“ und „ich“ äußert, wie beispielsweise in folgendem Zitat: Blerina: und etwa ein Jahr lang oder so ist einfach hin und her gegangen und dann irgendwann haben wir gesagt ja nein das will ich gar nicht entweder ganz oder gar nicht (2012: 22 - 23)

Diese Ausdruckweise verwendet Blerina vor allem dann, wenn es um Entscheidungen geht, die in Zusammenhang mit familialen Erwartungen stehen wie Heirat, Anzahl Kinder oder der Frage nach dem Verbleib in der Schweiz oder der Migration in den Kosovo. Dieses Spannungsfeld zwischen ihrem eigenen Lebensentwurf und elterlichen Erwartungen bildet ihr zentrales Präsentationsinteresse. Blerina zeigt anhand der erfolglosen Lehrstellensuche, der Wahl des Ehemannes, der Anzahl Kinder sowie auch der Wahl des Wohnortes auf, dass sie immer wieder an Grenzen gestoßen ist, die ihren eigenen Lebensentwurf ein-

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schränken. Mit der Bezeichnung „hin und her“ verortet sie dieses Spannungsfeld zwischen Kosovo und der Schweiz. Kosovo verbindet sie mit den elterlichen Erwartungen, die Schweiz mit dem Streben nach Unabhängigkeit von der Familie. Diesese Spannungsfeld ist verbunden mit der Frage nach einem Verbleib resp. einer künftigen Migration in den Kosovo, wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: das hin und her..ein bisschen Probleme was machst du ob es eben ob es als Eltern ob du den Kinder das irgendwie …zumutest runter zu gehen.. ob es dann denen irgendwie alles versaust auf Deutsch gesagt..oder bleibst du hier…dann ja ist deine Zukunft dann die du..ja bist du dann nicht so glücklich da (2012: 34 - 37)

Damit präsentiert Blerina ihre Rolle als Mutter und die Sorge um die Zukunft der Kinder als ausschlaggebend für künftige Entscheidungen und stellt damit das Wohl der Kinder über ihre eigenen Interessen. Die schlechten Deutschkenntnisse ihres Ehemannes lassen vermuten, dass er seine Zukunft eher nicht in der Schweiz sieht. Daraus kann die Hypothese entwickelt werden, dass dieses Spannungsfeld zwischen der Schweiz und Kosovo möglicherweise eine Kontroverse zwischen Blerina und ihrem Ehemann darstellt. Fallrekonstruktion: Familiale Aushandlungsprozesse Kindheit in Jugoslawien Blerina wird 1980 im Herkunftsdorf ihres Vaters im damaligen Jugoslawien geboren. Sie wächst zusammen mit ihrer drei Jahre älteren Schwester und dem ein Jahr jüngeren Bruder auf dem Lande in der Großfamilie auf, in dem nebst ihrer Mutter und Großmutter auch die Geschwister ihres Vaters wohnen. Blerinas Großvater und auch ihr Vater sind in ihrer Kindheit aufgrund der Arbeitsmigration den größten Teil des Jahres abwesend. Das Einkommen des Vaters und des Großvaters ermöglicht der Familie einen guten Lebensstandard und einen erhöhten sozialen Status im Dorf. Für Blerina bedeutet dies eine Abwesenheit der engsten männlichen Bindungspersonen. Migration in die Schweiz Als Blerina vier Jahre alt ist, besucht sie mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Clirim den Vater in der Schweiz. Die Mutter ist schwanger und bekommt 1984 in der Schweiz ihr viertes Kind, eine Tochter. Die Familie verfügt zu diesem Zeitpunkt noch über keine Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz. Vermutlich reist die Mutter in den kommenden zwei Jahren öfters mit Touristenvisum zwischen der Schweiz und dem Herkunftsdorf hin und her. Ihre ältere Schwester Arbresha verbleibt zeitweise alleine bei der Großmutter, da sie in Luqan eingeschult wird.

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Auch Blerinas ein Jahr jüngerer Bruder besucht 1986 den Kindergarten in Luqan, im Gegensatz zu Blerina. Dies deutet auf eine geschlechtsspezifische Förderung der Bildung der Söhne in dieser Familie hin. Blerina erwähnt erst auf Nachfragen ihre Immigration in die Schweiz. Wie folgendes Zitat zeigt, thematisiert sie die Zeit des hin und her zwischen Bujanovac und der Schweiz bis zum Erhalt der Aufenthaltsbewilligung nicht. Blerina: mit vier bin ich etwa hier gewesen und so richtiges Visum haben wir etwas später gehabt also ab vier Jahren bin ich hier in der Schweiz gewesen und unten kann ich mich gar nicht so erinnern überhaupt nicht (2012: 77 - 79)

Diese Darstellung der Immigration im Alter von vier Jahren sowie der fehlenden Erinnerungen an die Zeit im damaligen Jugoslawien weisen darauf hin, dass es ihr wichtig ist, ihre Verbundenheit mit der Schweiz zu präsentieren. Dies wird auch im folgenden Zitat sichtbar, in dem sie zeigt, dass sie den Herkunftsort ihrer Familie mit Ferien verbindet. Blerina: wir gehen ja wir sind ja immer jedes Jahr nach unten in die Ferien und so und wir haben uns immer gefreut dass wir gegangen sind dass tun wir jetzt noch aber wir sind auch immer wieder froh wenn wir zurück kommen weil da hast du doch einen Alltag oder und Ferien ist halt Ferien ist immer schön (2012: 79 - 82)

Zwei Jahre später (1986) erhält der Vater die Bewilligung für den Familiennachzug und die Familie lebt nun offiziell in der Schweiz in Buchs. Zum ersten Mal lebt die Kleinfamilie vereint in einer kleinen Mietwohnung. Das Leben spielt nun, im Gegensatz zu der frühen Kindheit auf dem Lande in Anwesenheit der erweiterten Familie, in engen Verhältnissen statt, da das Einkommen des Vaters für die gesamte Kernfamilie in der Schweiz ausreichen muss. Zudem hat ihre Familie zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz kaum familiale Unterstützung, da Blerinas Vater der erste der Familie ist, der die Familie in die Schweiz nachziehen lässt. Schulzeit in der Schweiz Mit dem Erhalt der Aufenthaltsbewilligung werden die Kinder in der Schweiz eingeschult. Die ältere Schwester besucht die dritte Klasse. Blerina ist sechs Jahre alt und kommt mit ihrem ein Jahre jüngeren Bruder in den Kindergarten. Für alle drei Kinder stellt die deutsche Sprache eine Herausforderung dar, da in der Familie stets albanisch gesprochen wurde.

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Ein Jahr später (1987) kommt ihr jüngster Bruder Egzon auf die Welt. Die nun siebenköpfige Familie zieht in ein altes Zweifamilienhaus im Dorf Zuzgen. Der Umzug nach Zuzgen bedeutet für Blerina und ihren Bruder einen Wechsel des Kindergartens nach nur einem Jahr. Ein Jahr später besuchen Blerina und ihr Bruder die Schule. Blerina und ihre Geschwister können für die Hausaufgaben nicht auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen, da die Mutter kaum Deutsch spricht und Teilzeit zu arbeiten beginnt und der Vater viel arbeitet. Blerina präsentiert ihre Kindergarten- und Schulzeit als eine schwierige Zeit, in der sie als Ausländerin abgestempelt wurde wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: also ich muss ehrlich sagen so eh so feindlich ist man schon dazumal gewesen..also wie soll ich sagen man hat dich halt als Ausländer schon so gehasst..vielleicht ein blödes Wort aber halt nicht so gern gehabt also man hat dich nicht akzeptiert als Kind also daran kann ich mich schon erinnern also hier jetzt also im Kindergarten vor allem und erste Klasse eigentlich bis in die vierte Klasse kann man gut sagen man ist ausländerfeindlich gewesen oder so (2012: 86 - 90)

Blerina erwähnt zudem Beschimpfungen in Bezug auf ihren Herkunftsort, wie in untenstehendem Zitat sichtbar ist. Dies deutet darauf hin, dass ihre Vermeidung der Präsentation der Herkunft ihrer Familie aus Bujanovac im Interview eine Reaktion auf diese Ausgrenzungserfahrungen darstellt. Blerina. als Jugo haben sie damals gerufen ja genau huere Jugo geht doch dort wo ihr gekommen seid was sind ihr hier gekommen und eben so Sprüche das hast du schon viel gehört (2012: 93 - 95)

Blerina weist mit diesen Ausgrenzungserfahrungen darauf hin, dass sie und ihre Familie in der ersten Zeit auf sich alleine gestellt sind und sie kaum Gelegenheit für Kontakte außerhalb der Familie hat. Dies ändert sich 1993, als die gesamte Familie in eine 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung in die 10 km entfernte Kleinstadt Rheinfelden zieht. Für Blerina, nun 13 Jahre alt, bedeutet dies wieder ein Wechsel und Trennung von ihrem gewohnten Umfeld. Jedoch bietet die Kleinstadt mehr Möglichkeiten für Freizeit und Ausbildung und auch eine größere Schule mit mehr Migrant_innen. Blerina zeigt auf, dass sie nun auch Kontakte zu Gleichaltrigen pflegt, wie in folgendem Zitat ersichtlich ist. Blerina: ja viel Kollegen und Kolleginnen sozusagen haben wir dazumal aufs Mal gehabt (2012: 143 - 144)

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Im selben Jahr beginnt Blerinas ältere Schwester eine zweijährige Ausbildung in einem Kaufhaus. Blerina ist zu dieser Zeit noch in der Schule. Sie stellt dar, dass der Einstieg ihrer Schwester ins Erwerbsleben für sie eine Einschränkung bedeutet, da sie sich als zweitälteste Tochter nun anstelle der Schwester vermehrt um die jüngeren Geschwister zu kümmern hat. Dies zeigt eine Transmission der familialen geschlechtsspezifischen Rollen in ihrer Familie auf. Blerina: weil ich habe dann auf die anderen Kleinen alle schauen müssen weil die große Schwester gearbeitet hat den ganzen Tag und dann hat doch jemand müssen zu Hause sein für die Jüngeren (2012: 163 - 165)

Blerina besucht nun die 6. Klasse. Es stellt sich die Möglichkeit, durch eine Prüfung in die Sekundarschule (höheres Anspruchsniveau) zu wechseln. Blerina betont, dass sie diese Prüfung nur wegen einem Punkt nicht geschafft hat. Ihr Bruder besteht die Prüfung ebenfalls beim ersten Mal nicht, wiederholte diese aber ein Jahr später und wechselt dann in die Sekundarschule. Dies deutet auf eine geschlechtsspezifische Förderung der Bildung in der Familie hin, die von Blerina jedoch nicht thematisiert wird. Sie begründet stattdessen den Unterschied zwischen sich und ihrem Bruder mit dessen guten Leistungen und der unterschiedlichen Unterstützung durch Lehrpersonen, wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: wenn du Probleme gehabt hast bist du immer zu dem Lehrer weil der hat dir immer geholfen also der hat dir immer Mühe gegeben ..auch wenn er.. ja wenn er eigentlich nicht dein Hauptlehrer gewesen ist.. aber der hat immer ja..dich irgendwie unterstützt und ja wenn er gemerkt hat ein Schüler ist wirklich sehr gut wie jetzt beispielsweise mein Bruder.. er hat dann nachher ein wenig viel ja..also er hat dann gemerkt..also der ist dann zu ihm..der hat sich Mühe gegeben..er hat alles gemacht dass er ja lernt macht und tut (2012: 138 - 142)

Die Bedeutung von Lehrpersonen für die Förderung von Bildungsmöglichkeiten zeigt Blerina auch in Bezug auf die Ungleichbehandlung von schweizerischen und ausländischen Kindern auf. Sie begründet so die fehlende Unterstützung für ihre Schulbildung mit ihrem Ausländerstatus, wie folgendes Zitat zeigt. Blerina: bei den einen Lehrer hast du es einfach gemerkt dass sie einfach als Ausländer bist du einfach ein wenig hinten drein ..und irgendwo denke ich es ist irgendwo verständlich auf eine Art und irgendwo sind wir doch alles Menschen wenn man so schaut und auf eine Art ja gut ich würde auch lieber mein ..ja wie soll ich sagen mein deutsches ja einfach

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Verwandte irgendwie ja haben dir einfach die einen Lehrer weniger geholfen (2012: 104 108)

Studien weisen darauf hin, dass in den 1990er Jahre ausländische Kinder überdurchschnittlich oft in der Realschule verbleiben, und davon insbesondere Schüler_innen aus dem ehemaligen Jugoslawien besonders betroffen sind (vgl. Haeberlin/Imdorf/Kronig 2004: 11). Damit zeigt sich, dass Diskriminierungsprozesse und familiale Geschlechterrollen resp. die Transmission von Sorgearbeit Blerinas Bildungsmöglichkeiten einschränken. Erfolglose Lehrstellensuche Blerina ist 16 Jahre alt, als sie die obligatorische Schulzeit mit einem Realschulabschluss (tiefstes Anspruchsniveau) beendet. Sie sucht ungefähr ein Jahr lang ergebnislos einen Ausbildungsplatz. Blerina thematisiert ihre erfolglose Lehrstellensuche und präsentiert in diesem Zusammenhang ihren Berufswunsch Damenschneiderin und zugleich auch die Gründe, die sie hinderten, diese Ausbildung zu absolvieren: Blerina: bis zur also Real ((Realschule)) habe ich ja fertig eine Lehre habe ich keine gemacht… da hat es paar verschiedene Gründe wieso nicht.. erstens man ist ein wenig ja…eh ja ein wenig faul oder irgendwie so ein wenig ((lacht)) ja und dann nachher ja es hat geheißen ja man muss einfach da in der Nähe eine Lehrstelle finden und ja da findest du findest du ja nicht gerade über die Straße und weiter haben wir dazumal nicht so dürfen also weiterweg Basel Bern oder so und da in Rheinfelden hast du wirklich nichts gefunden oder auf jeden Fall nicht das was dich interessiert hat ..und ja ich habe jetzt Damenschneiderin wollen am Anfang und da hast du halt auf Basel oder Bern müssen..und da ist so Fachschule ((der Kleine weint)) und das hast du zahlen müssen und das hat der Vater ja finanziell nicht so gehabt (2012: 5 - 13)

Als zentrale Begründung erwähnt sie die Distanz zur nächsten Ausbildungsstätte. Wie obenstehendem Zitat zu entnehmen ist, erwähnt sie familiale Normen, die sie daran hindern, eine Lehrstelle in der nächsten größeren Stadt zu suchen. In folgendem Zitat führt sie diese familialen Normen weiter aus, indem sie auf die Geschlechternormen in ihrer Familie hinweist: Blerina: Aarau wäre ja noch irgendwie gegangen aber Basel aber immer mit so ..ja Hintergedanken und ich habe das immer so ein wenig..ja..nicht so gerne gehabt..und immer so mit vorsichtig sein und ja nicht pass auf und mach keine Schande (2012: 168 - 171)

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„Keine Schande über die Familie zu bringen“ deutet darauf hin, dass voreheliche Sexualität in Zusammenhang mit vorehelicher Schwangerschaft thematisiert wird, um dem Ruf der Familie nicht zu schaden. Blerina zeigt damit auf, dass das Interesse der Familie über den individuellen Freiräumen steht und ihre berufliche Möglichkeiten einschränkt. Gleichzeitig sagt Blerina, dass sie dies nicht gerne gehabt hat und kritisiert damit diese Argumentation ihrer Eltern. Als weiteren Grund für die fehlende Lehrstelle nennt Blerina ihren Ausländerstatus, wie folgendes Zitat zeigt. Blerina: die Zeit gekommen ist zum Schnuppern eine Lehrstelle zu finden also es ist dann einfach ja es ist dann aufgefallen weil am Schluss sind dann eh alle Schweizer haben eine Lehrstelle und alle Ausländer die meisten haben keine gehabt und dass hast du dann einfach schon gemerkt (2012: 109 - 112)

Mit dieser Argumentation relativiert Blerina die Auswirkungen der familialen Geschlechternormen auf ihre erfolglose Lehrstellensuche und weist auf Diskriminierungsprozesse für ausländische Schüler_innen hin. Studien zur Lehrstellensuche von Jugendlichen zeigen auf, dass Blerina aufgrund ihres Geschlechtes und der Herkunft von strukturellen Benachteiligungen auf dem Ausbildungsstellenmarkt betroffen ist, welche verstärkt werden durch eine frauentypische Berufsorientierung27. Einstieg ins Erwerbsleben Nach etwa einem Jahr der erfolglosen Lehrstellensuche findet Blerina eine Anstellung in einer Wäscherei in Rheinfelden, in der vor allem Frauen arbeiten. Diese Arbeit ist deshalb vereinbar mit geschlechtsspezifischen familialen Normen. Gleichzeitig bedeutet dieser Einstieg in die Erwerbsarbeit auch das Ende der Suche nach einer Ausbildungsmöglichkeit. Damit fällt die Zeit der Ausbildung als Übergang und Vorbereitung für das Erwachsenen- und Berufsleben weg. Als unqualifizierte Arbeitskraft hat sie eine prekäre Position auf dem Arbeitsmarkt, sowohl in finanzieller Hinsicht wie auch betreffend Status und Auf-

                                                             27 Studien zur Lehrstellensuche von Jugendlichen zeigen auf, dass strukturelle Probleme insbesondere jungen Frauen, die sich beruflich frauentypisch orientieren, den Zugang zum Ausbildungsstellenmarkt erschweren, weil ihnen ein engeres Spektrum von Ausbildungsberufen zur Verfügung steht als Jungen, die sich männertypisch orientieren (Imdorf 2014: 49). Dies führt zu einer hohen Konkurrenz bei frauentypischen Ausbildungsberufen, was sich insbesondere für junge Frauen mit Migrationshintergrund als problematisch auswirkt, da diese ein mittleres Schulniveau fordern (ibid. 2014: 50).

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stiegsmöglichkeiten. Blerina stellt ihren Einstieg in das Erwerbsleben als zufällig dar und erwähnt als Hauptmotivation finanzielle Interessen, wie folgendes Zitat zeigt. Blerina: dann nächstes Jahr dann habe ich dann einen Job gehabt weil mich das Geld dann doch irgendwie gereizt hat mehr und eben ja und..ja und nachher…ja und dann bist du einfach irgendwie drin und gehst halt nicht mehr raus..so hat es sich dann einfach ergeben dass du einfach gearbeitet hast und gearbeitet hast und gleichwohl noch zu Hause abgegeben hast ..müssen (2012: 16 - 20)

Gleichzeitig zeigt sie auf, dass sich der finanzielle Anreiz im Rückblick als Illusion erwies, da sie das verdiente Geld zu Hause abgeben musste. Sie stellt damit ein Spannungsfeld dar zwischen ihrem Wunsch nach finanzieller Selbständigkeit und den familialen Verpflichtungen, zum familialen Einkommen beizutragen. Dies zeigt auf, dass ihre persönlichen Interessen und Bedürfnisse durch die Interessen der Familie eingeschränkt werden. Fortsetzung einer geschlechtsspezifischen Rollenverteilung Im selben Jahr heiratet ihre Schwester Arbresha, bekommt ein Kind und gründet einen eigenen Haushalt in derselben Kleinstadt. Mit dem Auszug ihrer älteren Schwester fällt auch eine Unterstützung für Haushalt und Geschwisterbetreuung weg. Nebst der Mutter ist nun Blerina die einzige Frau, welche im Haushalt mithilft. Wie untenstehendes Zitat illustriert, präsentiert sich Blerina als zentrale Person in der Familie, welche die Verantwortung für Haushalt, Putzen und Essen übernimmt. Sie begründet diese Verantwortung mit ihrem Geschlecht und zeigt so die Fortsetzung einer geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung in der Familie auf. Blerina: dann haben wir hat die Mutter dann eine Weile lang dieselbe Schicht gehabt..und dann hat es halt nicht so funktioniert..und dann der Vater tun wir Schicht wechseln schaust dass es Schichtwechsel gibt und dann ist einfach meine Mutter hat sie ist sie zu Hause gewesen hat sie Frühschicht gehabt haben wir immer Gegenschicht gehabt so ist immer jemand eine Frau zu Hause gewesen ((lacht))..halt geputzt und Essen und alles gemacht da bin eigentlich immer ich so gewesen (2012: 243 - 248)

Zwei Jahre später im Jahr 1999 beendet auch ihr ein Jahr jüngerer Bruder die obligatorische Schule. Obwohl er im Gegensatz zu Blerina über einen Sekundarschulabschluss verfügt und dadurch mehr Ausbildungsmöglichkeiten hat, steigt er wie Blerina direkt in die Erwerbsarbeit ein und beginnt in derselben Fabrik

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wie ihr Vater zu arbeiten. Für die Familie bedeutet dies eine zusätzliche Einnahmequelle. Ein Jahr nach dem Krieg im Kosovo im Jahr 2000 migriert die Mutter mit den beiden jüngsten Geschwistern in den Kosovo. Blerina ist nun 20 Jahre alt und verbleibt als einzige Frau mit ihrem Bruder und ihrem Vater in der 4.5Zimmerwohnung in der Schweiz. Blerina thematisiert, dass sie nun stellvertretend für die Mutter den Haushalt ihres Vaters und Bruders weiterführt, obwohl sie wie die anderen auch Vollzeit arbeitet, wie folgendes Zitat illustriert. Sie stellt die Übernahme der Haushaltsarbeiten als Pflicht dar und zeigt damit die Fortsetzung der Transmission familialer Geschlechterrollen auf. Blerina: bin ich zu Hause gewesen habe alles machen müssen und zwei Männer irgendwo mein Vater ..hat zwar auch den ganzen Tag gearbeitet (2012: 565 - 567)

Verlobung Mit 21 Jahren lernt Blerina im Jahr 2001 in Prizren einen Mann kennen. Blerina präsentiert ihre Mutter als die zentrale Person bei der Wahl ihres künftigen Ehemannes und stellt Ethnizität und Herkunft als zentrale Kriterien dar. Sie betont die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit, da es sich um einen Mann handelt, der für die albanische Unabhängigkeit in der UCK gekämpft hat. Blerina: meine Mutter ihn ja auch schon gesehen sie hat ihm ja schon gut gefallen weil er auch schon er ist eben in der UCK gewesen das hast du sicher auch schon gehört oder dort und er ist halt dabei gewesen und dann hat er davon erzählt und halt erzählt wie es dort gewesen ist und meine Mutter ja sie hat sie ist sie ist immer so die Männer die muss man bewundern weil das kann nicht jeder machen und irgendwie so und sie ist halt schon so stolz gewesen auf den..und dann hat sie dann immer..hat sie dann mal erwähnt hier am Telefon ja ich habe so einen hübschen und herzigen und so (2012: 259 - 265)

In untenstehendem Zitat wird Blerinas Auseinandersetzung mit dem Vorschlag ihrer Mutter ersichtlich. Sie thematisiert ihr anfängliches Zögern und zeigt auf, dass sie sich gleichwohl darauf einlässt. Blerina: ich habe eigentlich keine Lust so gehabt..ehm…und dann hat sie dann gesagt.. ja komm hast du vor zum runter kommen und dann habe ich gesagt ja eigentlich nicht und sie dann im Winter musst du schon wieder kommen (2012:265 - 267)

Sie thematisiert damit ein Spannungsfeld zwischen ihren eigenen Vorstellungen und den Erwartungen der Familie, die von ihrer Mutter an sie gerichtet werden.

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Blerina stellt dar, dass sie sich nicht einfach dem Willen der Mutter fügt, sondern beginnt, sich mit dem Vorschlag der Mutter auseinanderzusetzen wie folgendes Zitat zeigt. Blerina: nach einem Monat bin ich wieder nach unten nach einem Monat wieder immer so drei vier Wochen runter weil wir haben damals Kurzarbeit gehabt ich habe minus 200 Stunden gehabt wo dann die Firma zu gegangen ist..und dann hat dann die Chefin das ist eine Flotte so gewesen ja ich habe einen unten kennengelernt kann man nicht so machen weil wir haben einen Tag arbeiten müssen einen Tag frei oder ein zwei Tage nicht gearbeitet das ist so blöd habe ich gesagt kann man es nicht so machen ich arbeite eine Woche oder zwei Wochen aneinander und dann habe ich zwei Wochen frei dass ich wenigstens gehen kann weil ja für zwei drei Tage lohnt es sich nicht und dann haben wir es so machen können (2012: 271 - 278)

Blerina arbeitet zu diesem Zeitpunkt nach wie vor in der Wäscherei, die Kurzarbeit einführt, was auf die schwierige wirtschaftliche Situation des Unternehmens hinweist28 und ihr Arbeitsplatz gefährdet ist. Dies weist darauf hin, dass die Verlobung, resp. künftige Heirat und Familiengründung für Blerina auch eine Strategie darstellt, um der drohenden Arbeitslosigkeit durch Familiengründung zu entgehen. Blerina thematisiert das Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz in Zusammenhang mit der Frage der Eheschließung wie folgendes Zitat illustriert. Blerina: und etwa ein Jahr lang oder so ist einfach hin und her gegangen und dann irgendwann haben wir gesagt ja nein das will ich gar nicht entweder ganz oder gar nicht (2012: 22 - 23)

Die Feinanalyse dieser Stelle aus dem Interview zeigt auf, wie unklar und spannungsvoll Blerina diese Situation darstellt: Der Zeitraum des Hin und Her ist lange und unbestimmt. Unbestimmt bleibt auch das “wir“ sowie die eigentliche Entscheidung. Im Gegensatz dazu steht das klare „ich“. Damit offenbart sich Blerina als mitbestimmend an der Entscheidung. Unklar ist jedoch, über was sie schlussendlich entscheidet, über die Dauer des Entscheidungsprozesses, die Hei-

                                                             28 Kurzarbeit bezeichnet die vorübergehende Reduzierung oder vollständige Einstellung der Arbeit in einem Betrieb und wird bei wirtschaftlich bedingten Arbeitsausfällen eingeführt mit dem Ziel, vorübergehende Beschäftigungseinbrüche auszugleichen und die Arbeitsplätze zu erhalten. Dabei bleiben die arbeitsrechtlichen Vertragsbeziehungen bestehen (vgl. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO 2016).

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rat an sich oder den künftigen Wohnort als Ehepaar. Interessanterweise erwähnt sie dabei auch ihren künftigen Ehemann nicht direkt. Die Erwähnung des „wir“ deutet darauf hin, dass die Ehe nicht eine individuelle Entscheidung, sondern eine familiale Angelegenheit darstellt. Schwangerschaft und Heirat Blerina verlobt sich mit diesem Mann im Kosovo und wird bald darauf schwanger. Die Schwangerschaft führt zu einem Ende des Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz und einer baldigen Heirat. Die Hochzeit findet im Kosovo statt, also in dem Land, wo ihr künftiger Ehemann und dessen Familie sowie auch ihre Mutter und die jüngeren Geschwister leben. Blerina nennt die Hochzeit einen der schönsten Momente ihres Lebens. Der Zeitpunkt der Hochzeit im Winter deutet darauf hin, dass der Zeitpunkt nicht geplant war, weil idealerweise Hochzeiten im Kosovo im Sommer stattfinden (vgl. Leutloff-Grandits 2015) und durch ihre Schwangerschaft bestimmt ist. Blerina: so ein Jahr nachher haben wir uns quasi verlobt wie das so üblich ist dann haben wir dann geheiratet ist halt im Winter gewesen ja ein bisschen blöd aber es hat geschneit und kalt die Heizung ist kaputt gegangen im Restaurant..schon ein bisschen blöd..und dann eine Woche bin ich dort gewesen verheiratet und dann zum Glück bin ich grad wieder zurück gekommen mit meinem Mann (2012: 280 - 284)

In obenstehendem Zitat betont Blerina, dass sie nach der Hochzeit „zum Glück“ schnell wieder in die Schweiz zurückgekommen ist. Damit weist sie darauf hin, dass die Wahl der Schweiz als künftigen Wohnort des jungen Ehepaares weit weg von der Familie der Schwiegereltern keine Selbstverständlichkeit darstellt, denn dadurch wird die patrilokale Familientradition, in der üblicherweise die Braut mit der Hochzeit in die Familie des Ehemannes zieht, verändert. Blerina präsentiert die Schweiz als künftigen Wohnort jedoch als Bedingung, wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: ich habe das klar und deutlich gesagt ich komme nicht runter sorry dann machen wir halt Schluss ich lasse mich trennen ist mir egal aber runter komme ich nicht (2012: 319 - 320)

Blerina betont dabei, dass für sie eine Migration in den Kosovo nicht in Frage kommt. Wie folgendes Zitat aufzeigt, stellt sie den Entscheid zwischen Kosovo und der Schweiz als Wahl zwischen zwei verschiedenen Familienmodellen und Frauenrollen dar.

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Blerina: und dann nein ich habe die Schwiegermutter dann stehst du auf weiß auch nicht putzt du den ganzen Tag putz dort putz dort..und Kaffee machen Tee Essen nein das ist jetzt nichts für mich..ich muss es ja hier auch ich muss hier auch putzen Essen machen aber es ist halt alles anders machst es für deine eigene Familie dort musst du für 20 Leute machen es ist ein wenig..ja umständlich und ja..und jeder hat eigene Wünsche und weiss nicht was und dann musst du da das habe ich mir jetzt nicht vorstellen können..und dann denkst du für deine Kinder du willst auch nicht alle im Haus da ein Leben lang.. und unten kannst kannst du es nicht anders (2012: 342 - 349)

Blerina präsentiert Kosovo als Land, indem die patrilokalen Traditionen nicht verhandelbar sind, und sie in der Familie der Schwiegereltern die traditionelle Frauenrolle zu übernehmen hätte. Im Gegenzug zeigt sie auf, dass ihr ein Leben in der Schweiz mehr Freiheiten bietet, da sie als Ehefrau nur für ihre eigene Familie den Haushalt zu führen hat und gleichzeitig auch erwerbstätig sein kann. Mit dem klaren Entscheid gegen ein Leben im Kosovo zeigt Blerina, dass sie die Übernahme der traditionellen Rolle als Schwiegertochter ablehnt. Gründung einer eigenen Kernfamilie in der Schweiz Nach Blerinas Hochzeit im Jahr 2002 verlässt nun auch ihr Vater definitiv die Schweiz und zieht zu Blerinas Mutter und den jüngeren Geschwistern nach Prizren. Damit findet in Blerinas Leben ein Wechsel der männlichen Bezugspersonen statt, der Vater geht und der Ehemann kommt. Dies bedeutet, dass Blerina nie alleine oder ohne Männer in einem Haushalt lebt. Sie wird von der Tochter zur Ehefrau und zugleich auch zur Mutter. Eine Zeit als selbständige junge Frau gibt es für sie nicht. Im Gegensatz zu Blerina erlebt der ein Jahr jüngere Bruder eine Zeit als junger Erwachsener, unabhängig von der Familie. Er bleibt nach der Migration des Vaters alleine in der 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung, während Blerina mit ihrem Mann und ihrem Kleinkind eine andere, kleinere Wohnung mietet. Dies deutet auf eine Fortsetzung der patrilokalen Tradition in Blerinas Familie hin. Söhne bleiben in der Familie und Töchter ziehen zu ihren Ehemännern. Zugleich stellt Blerinas Umzug in eine eigene Mietwohnung mit ihrem Ehemann in der Schweiz auch eine Veränderung dieser patrilokalen Norm dar. Blerina hätte gemäß dieser Norm zu ihrer Schwiegerfamilie in den Kosovo ziehen müßen. Eine Norm, der sich Blerina erfolgreich widersetzt hat. Das junge Ehepaar mietet eine 2.5-Zimmer-Wohnung in Rheinfelden in der Nähe ihrer älteren Schwester Arbresha. Für Blerina bedeutet die Gründung der eigenen Familie an ihrem bisherigen Wohnort eine gewisse Kontinuität. In Rheinfelden kann sie ihrer Arbeit weiter nachgehen und bleibt im gewohnten

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Umfeld wohnen. Zudem ist Blerina nun die Person, die mit Sprache und Kontext vertraut ist, im Gegensatz zu ihrem Ehemann, der neu in der Schweiz ist. Familiengründung in der Schweiz Nach der Hochzeit bringt Blerina ihren ersten Sohn in der Schweiz auf die Welt. Blerina arbeitet nach dem Mutterschaftsurlaub29 weiter in der Wäscherei, welche finanziell jedoch nicht gut dasteht. Sie stellt dar, dass der Ehemann in den ersten fünf Monaten keine Arbeit findet und sie sich damit in einer finanziell prekären Situation mit nur einem Einkommen befindet. Blerina: er ist dann fünf Monate so ohne Arbeit gewesen..und wir haben uns dann..wir haben 2800 Franken gehabt netto Lohn und dann hast du gleichwohl Wohnung bezahlen müssen Essen Krankenkasse gut das ist schon alles billiger gewesen als jetzt aber gleichwohl..und dann..nachher ist er halt dann.. ja..sind wir dann haben uns am RAV30 angemeldet dass sie uns einfach unterstützen weil wir haben kein Geld bekommen einfach zum Unterstützen uns irgendwie doch helfen etwas zu finden (2012: 284 - 289)

Dies weist darauf hin, dass sie von ihren Eltern keinerlei finanzielle Unterstützung erhält. Blerina hat nun eine Doppelfunktion als Ernährerin der Familie sowie als Mutter eines Kleinkindes und erledigt zudem alle Haushaltsarbeiten. Bereits in ihrer Familie hatte sie vor der Heirat eine ähnliche Aufgabe, als sie arbeitete, sich um den Haushalt kümmerte und bei der Betreuung der jüngeren Geschwister mithalf. In diesem Sinne stellen diese Aufgaben für sie eine gewisse Kontinuität dar. Für ihren Ehemann bedeutet die Migration in die Schweiz eine Schwächung seiner Position, da er in der ersten Zeit keine Arbeit hat und somit seine Rolle als Ernährer der Familie nicht übernehmen kann. Zudem befindet er sich in einem Land, in dem er der Sprache nicht mächtig ist und keine Verwandten vor Ort hat. Dies bedeutet für ihn ein großer Unterschied im Gegensatz zu seinem „Heldenstatus“ im Kosovo als ehemaliger UCK-Kämpfer. Diese unterschiedliche Positionierung von Blerina und ihrem Ehemann wird in folgendem Zitat ersichtlich, in dem Blerina am Beispiel der Arbeitssuche ihres Ehemannes

                                                             29 In der Schweiz dauert der gesetzliche Mutterschaftsurlaub 14 Wochen (vgl. Informationsstelle AHV/IV 2017).

30 RAV ist die Abkürzung für die regionalen Arbeitsvermittlungszentren. Diese haben den Auftrag, das Arbeitsvermittlungs- und Arbeitslosenversicherungsgesetz umzusetzen. Es handelt sich dabei um spezialisierte Dienststellen in den Bereichen Arbeitsmarkt, Stellenvermittlung und Arbeitslosigkeit (vgl. Staatssekretariat für Wirtschaft SECO 2016).

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ihre zentrale Unterstützungsfunktion resp. die geschwächte Position ihres Ehemannes darstellt: Blerina: auf der Baustelle Andermatt der sucht nimmt immer wieder Leute könnte mal fragen ob..sind wir gerade von dort grad gegangen zu Fuß..und dann nachher..mein Mann so versteckt irgendwie ..bin ich hinauf haben wir klingeln müssen zu Hause ist irgendwie komisch gewesen und dann der Mann so hinaus ja so und ich wir suchen Arbeit ja aber nicht Sie auf dem Bau ja nein aber mein Mann und dann ist gerade so ein wenig richtig so..und dann wie sieht denn dein Mann aus und ich dann also erstens ich muss sagen er kann dann kein Deutsch er kann kein Wort er ist gerade erst gekommen im Januar und so he ja er muss nicht schaff..nicht Deutsch können er muss arbeiten ja ich glaub schon dass er dies kann und dann…hat er gesagt hat er noch nie auf dem Bau gearbeitet ja und er wo ist denn der Mann ja er ist vorher grad dahinten gewesen ja dann ich rufe ihn dann dann habe ich ihn gerufen er solle kommen oder er so richtig wirklich cool so von den Füßen so heraufgeschaut eingestellt am Montag soll er hinauf kommen dann bekomme er noch Zeug und Schuhe (2012: 290 - 301)

Während Blerina nach dem Mutterschaftsurlaub wieder zu arbeiten beginnt, übernehmen verschiedene Tagesmütter die Aufgabe der Kinderbetreuung, teilweise auch ihre Schwiegermutter aus dem Kosovo. Die Kinderbetreuung übernimmt nicht der Ehemann, auch wenn er zeitweise arbeitslos ist, sondern andere Frauen, also „Ersatzmütter“. Daraus ist zu schließen, dass in ihrer eigenen Familie die klare Rollenaufteilung zwischen Mann und Frau weitergelebt wird. Diese klare geschlechtsspezifische Rollenaufteilung wird jedoch auch vorübergehend transformiert, indem ihr Bruder die Kinderbetreuung übernimmt. Blerina präsentiert diese Situation jedoch klar als Ausnahme, da ihr Bruder sich in einer schwierigen Situation ohne Arbeit befindet, wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: komm zu mir weil ich habe ich habe ja ihm seine Hilfe dann gebraucht weil ich habe dann arbeiten müssen und dann hat wegen dem Astrit den Kleinen habe ich damals ja noch nicht gehabt und dann habe ich gesagt dann wohnst du bei mir und dann ist ja gratis quasi also Wohnen Essen Trinken alles und dann schaust du dafür einfach auf den Großen und..zwischendrin ein Zigarettenpäckli oder so und zahl ich dir einfach zwischendrin noch und er hat ja doch immer Geld gehabt er hat ja gearbeitet.. nein da hat er nicht gearbeitet weil da ist er ja aber vom RAV hat er ja Geld gehabt (2012: 608 - 614)

Blerina begründet diese Rollenumkehrung mit typisch geschlechtsspezifischen Argumenten: Sie braucht Hilfe, die ihr Bruder ihr bietet und gleichzeitig sorgt sie sich um ihn, indem sie weiterhin den Haushalt macht und für ihn kocht. Wie

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in folgendem Zitat sichtbar ist, zeigt Blerina auf, dass die Mehrfachbelastung als Hausfrau, Mutter, Ehefrau und Erwerbstätige dazu führt, dass sie kaum mehr Zeit hat, um ihren Freundeskreis zu pflegen. Sie weist damit darauf hin, dass sich ihre sozialen Kontakte seit der Familiengründung hauptsächlich auf die Familie beschränken. Blerina: nachher wenn du geheiratet hast ist irgendwie alles.. der Kontakt weg mit den meisten irgendwie kein Kontakt mehr mit denen.. irgendwie Schade aber ja das ist irgendwie ((lacht)) so gekommen ja (2012: 144 - 146)

Distanzierung von der Schwiegerfamilie Blerina stellt am Beispiel der Geburtstagsfeier ihres Sohnes die Fortsetzung ihrer Distanzierungsbestrebungen von der Schwiegerfamilie auch nach der Heirat und der Geburt des ersten Kindes dar. Während einem Besuch bei der Schwiegerfamilie im Kosovo hält sie sich nicht an die Verhaltensregeln der Schwiegerfamilie, die aufgrund eines Todesfalles in der Familie die Geburtstagsfeier nicht gestatten. Blerina: habe am Vater angerufen komm mich holen vor 8 Uhr am Morgen he ich bin im Falle noch im Bett ja Schlafmütze weil er ist eigentlich immer einer der früh aufsteht und dann komm mich holen ja jetzt ist huere früh es sind alle noch am Schlafen ja das ist egal und dann ist er um 8 Uhr um 8:15 bereits gekommen und dann nachher ich die Sachen bereits eingepackt und Astrit eingepackt und die Schwiegermutter wohin gehst du ich gehe zu den Eltern wieso denn sorry ich will mein Kind 1. Geburtstag 1 Jahr alt schon etwas feiern und hier ist es halt jetzt etwas blöd und so dann geh ich halt zu den Eltern dann mache ich dort etwas mit den Kinder und dann sie ja ist gut mach das hat sie nichts dagegen gehabt (2012: 492 - 499)

Sie zeigt damit auf, dass sie eine Möglichkeit findet, außerhalb der Schwiegerfamilie den Geburtstag ihres ersten Sohnes zu feiern und dabei auf die Unterstützung ihrer Eltern zählen kann und so einen Kompromiss findet, dem auch ihre Schwiegermutter zustimmt. Dies weist darauf hin, dass Blerina es gelingt, innerhalb der familialen Normen einen Handlungsspielraum auszuhandeln. Dies zeigt Blerina auch am Beispiel des Baus eines eigenen Hauses auf dem Grundstück der Schwiegereltern. Sie präsentiert damit einerseits die Wirksamkeit familialer Erwartungen, die von ihrem Ehemann übernommen werden, wie folgendes Zitat zeigt, zugleich jedoch auch ihr Streben nach einer gewissen Distanzierung.

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Blerina: wir dann gebaut haben bin ich schon nicht dafür gewesen aber ich habe nichts gesagt weil ich habe gewußt ich kann eh nicht groß ändern weil mein Mann hat unbedingt dort wollen weil die Schwiegereltern dort etwas oben und wir so ein wenig unten es ist gleichwohl gerade nahe..und…er hat unbedingt halt dort wollen..ok mach es von mir aus und..und dann nachher eben..und dann der Schwager hat dann auch nach ein paar Jahren ja auch angefangen..und die Schwägerin zu mir..wie kann man nur dort ein Haus bauen wie kann man nur aber ist ein schönes Land also es ist schön also vor allem die Luft ist schön also gesund also im Sommer hast du dort kalt am Abend und..und nachher..wie kann man nur dort neben denen und neben denen und eben und ja und jeder schaut für sich selber und ich habe gesagt mein Mann will jetzt dort und dann soll er machen ist doch egal und dann Hauptsache man hat ein Haus wenn ich runter gehen möchte ich zu mir nach Hause gehen (2012: 383 - 393)

Blerina stellt an diesem Beispiel zugleich auch dar, dass sie auf Entscheidungen im Kosovo keinen Einfluss hat. Zugleich zeigt sie auf, dass ihr ein eigenes Haus im Kosovo eine gewisse Distanz zu den Schwiegereltern ermöglicht, da ein eigenes Haus die Aufteilung des kollektiven Familienhaushaltes bedeutet. Veränderung Erwerbstätigkeit Zwei Jahre nach der Heirat im Jahr 2004 geht die Wäscherei, in der Blerina seit dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit gearbeitet hat, in Konkurs. Für Blerina ist dies die erste Zeit seit ihrem frühen Einstieg ins Erwerbsleben, in der sie keine Arbeit mehr hat. Sie meldet sich beim Arbeitsvermittlungsamt (RAV) an. Indem sie ihre Arbeitsbemühungen thematisiert, stellt sie dar, dass die Erwerbsarbeit zu einem wichtigen Bestandteil ihres Lebens gehört und sie sich nicht mit der Rolle als Hausfrau und Mutter begnügt. Das RAV vermittelt ihr eine Vollzeitstelle in einem Pflegezentrum. Die neue Arbeitsstelle präsentiert Blerina als eine typische Frauenarbeit: Blerina: nachher Wäsche zusammengelegt und wieder hinauf gebracht und..ja in der Küche auch schon geholfen habe ich also Gemüse schälen oder Servieren auf die Tische halt und Zeug darauf tun und so..es ist nicht schlecht gewesen hast auf jeden Fall Abwechslung gehabt ..es ist eigentlich schön eigentlich ein schöner Beruf gewesen und bezahlt ist es auch gut gewesen (2012: 206 - 210)

Sie übernimmt Tätigkeiten, welche sie durch ihre Arbeit im Haushalt und in der Wäscherei bereits bestens kennt und stellt damit diese Arbeit als ideal dar, um Erwerbsarbeit und Mutterrolle zu vereinen, obwohl sie dort Vollzeit arbeitet. Im selben Jahr findet auch ihr Ehemann eine neue Arbeit. Blerina stellt hier erneut

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dar, dass ihr Mann dank ihrer Bemühungen und familialen Netzwerke in der Kartonfabrik, in der ihr Onkel und zuvor auch ihr Vater gearbeitet haben, eine Arbeit findet. Blerina: haben wir auch gehört irgendwie dass sie Leute suchen dann habe ich auch gesagt komm wir gehen einfach mal vorbei und.. jetzt sind wir dann ..einfach gegangen und dann habe ich gesagt ja mein Onkel arbeitet ja hier und mein Vater hat dort gearbeitet alle von der Familie die meisten arbeiten bei Swisswell und dann…haben sie gesagt ja doch ok..wir können es probieren und dann nachher der Andermatt hat dann auch dort zugemacht dann hat er kein.. hat er können hier anfangen zu arbeiten..jetzt arbeitet er auch schon..neun fast zehn Jahre in dieser Firma und ..es ist..es ist schon schwere Arbeit.. es ist nahe..es hat schon ein paar Sachen so ein wenig Sicherheit (2012: 307 - 314)

Blerina thematisiert, dass die Erwerbsarbeit ihres Ehemannes in dieser Firma ihr ein wenig Sicherheit bietet. Dies weist darauf hin, dass sie die Erwerbsarbeit ihres Ehemannes mit einer finanziellen Absicherung als Familienernährer verbindet und trotz der eigenen Erwerbstätigkeit an der bereits in ihrer Kindheit erlebten geschlechtsspezifischen Rollenteilung festhält. Zweites Kind als Erfahrung des Verlustes der Selbstbestimmung über ihren Körper Blerina thematisiert die Frage nach einem zweiten Kind im Alter von 25 Jahren. Indem sie einerseits darstellt, dass sie sich mit ihrem Mann damit abgefunden hat, nur ein Kind zu haben, andererseits ihre Mutter auf ein weiteres Kind drängt, präsentiert sie hier die Wirksamkeit familialer geschlechtsspezifischer Erwartungen: Blerina: haben wir eigentlich abgeschlossen mit dem Kinder Thema also bei uns ist dann so gewesen gleichwohl eines lieber eines als gar keines..und..nachher..aber meine Mutter..ja nein weißt du mit einem und so da habe ich gesagt ich mach nicht ich probiere nicht noch einmal he es reicht drei mal vier mal und drei Operat(Operationen) also Narkosen volle habe ich ja gehabt also Auskratzungen und eine habe ich nur mit Tabletten gemacht (2012: 631 - 636)

Wie bereits bei der Wahl des Ehemannes präsentiert Blerina ihre Mutter als zentrale Person, die familiale Erwartungen an sie heranträgt. Die „ja nein“ Aussage, die gleichzeitige Erwähnung von Affirmation und Negation, hat sie bereits bei der Wahl des Ehemannes geäußert und weist auf ein Spannungsfeld hin zwischen ihren eigenen Wünschen und den Erwartungen der Mutter resp. der Fami-

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lie. Wie folgendes Zitat illustriert, stellt Blerina dar, dass sie nach dem ersten Widerstand schlussendlich dem Willen ihrer Mutter folgt und ihre eigenen Bedenken zurücksteckt. Blerina präsentiert ihre Mutter als einflussreiche Person für die Wahl des Ehemannes und der Reproduktion. Dabei spielt auch der Ort eine zentrale Rolle: So wie die Auswahl ihres Ehemannes findet auch die Fruchtbarkeitsbehandlung, organisiert durch ihre Mutter, im Kosovo statt. Für die Sorge der Fruchtbarkeit, die Fortpflanzung der Familie, wird Rat bei einer alten Frau mit viel Erfahrung und traditionellem Wissen gesucht. Symbolisch gesehen geht es auch bei der Frage eines zusätzlichen Kindes um den Erhalt der traditionellen Frauenrolle: Eine Frau hat viele Kinder zu gebären, um so für den Erhalt der Familie zu sorgen. Darauf deutet auch folgendes Zitat, in dem Blerina darstellt, wie zentral es ist, einen Knaben als Stammhalter der Familie zu haben. Blerina: weil mein Mann und der Astrit die ganze Zeit gesagt haben wir wollen einen Bub einen Bub weil der Astrit hat immer gesagt ich will einen Bruder weil irgendwie habe ich es mir auch gewünscht weil ich habe gesagt das ist fertig der und keine mehr und einen Bruder und eine Schwester heiratet doch und hat einen Mann und eine andere Familie eine eigene (2012: 832 - 835)

Sie thematisiert im Zusammenhang mit der Frage nach dem Geschlecht des künftigen Kindes die patrilokale Familientradition und weist damit auf die Fortsetzung von familialen geschlechtsspezifischen Erwartungen und Rollen hin. Nach der Fruchtbarkeitsbehandlung im Kosovo erlebt Blerina im Jahr 2007 eine Risikoschwangerschaft. Sie muss lange im Krankenhaus liegen und kann ihre gewohnten Aufgaben der Erwerbsarbeit, Haushaltführung und Kinderbetreuung nicht mehr übernehmen und verliert damit in dieser Zeit ihre zentrale Rolle in ihrer Kleinfamilie. Blerina erzählt sehr ausführlich über diese Zeit im Krankenhaus, welche sie als ganz schwierige Zeit präsentiert. Blerina: und da haben wir dann auch ein Drama gehabt also das ist..also die Phase..eh Horror gewesen muss ich sagen..es ist im fünften Monat schon im Spital gewesen und nur liegen und liegen nicht aufstehen (2012: 40 - 42)

Blerina beschreibt diese Zeit im Spital als Tiefpunkt in ihrem Leben, da sie handlungsunfähig wird und den Ärzten völlig ausgeliefert ist. Dies wird besonders deutlich an Blerinas Beschrieb der Fehldiagnose ihres Arztes. Wie folgendes Zitat illustriert, thematisiert sie, dass ihr Körpergefühl von Professionellen falsch gedeutet wird und beschreibt damit den Verlust der Definitionsmacht über

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ihren Körper, der mit der Fruchtbarkeitsbehandlung beginnt und erst mit dem Kaiserschnitt des zweiten Kindes endet. Blerina:… haben sie gesagt Nierenentzündung wieso Nierenentzündung mir tut es ja nicht da weh die Nieren sind ja etwa da und mir tut es ja da nicht weh mir tut ja der Unterleib weh das hat ja nichts mit dem zu tun ‚und ja ja wann spürt halt weniger gut wenn man schwanger ist eigentlich ist sie eine mega Schlimme‘ aber dann habe ich sagen müssen wer ist da Arzt sie oder ich also ehrlich weil sie hat mich dann so ein wenig auf die Palme gebracht weil sie hat nichts geglaubt was ich gesagt habe weil sie hat immer dann ein wenig eingebildet getan ich bin der Arzt ich habe gesagt weil sie Arzt sind heißt das nicht ich kenne meinen Körper auch gut und ich habe gesagt ich weiß ja was ich fühl was ich sehe oder was ich spüre (2012: 730 - 737)

In der Folge wird Blerina hospitalisiert. Sie präsentiert sich alleine und ausgeliefert, wie folgendes Zitat aufzeigt. Sie erwähnt als einzige Unterstützung eine Krankenschwester. Sie stellt damit dar, dass sie in der Schweiz auf professionelle Hilfe zählen kann. Blerina: ich habe so Rückenschmerzen ich halte es nicht mehr aus ich halte es wirklich nicht mehr aus und dann habe ich nochmals angefangen zu weinen und sie ja Frau Jashari geben sie doch nicht auf jetzt und so bald dann hat sie angefangen zu reden und dann ich nein ja wir können etwas machen hat sie gesagt warten sie eine halbe Stunde dann kommt eine andere Schwester und dann komme Frau Sowieso und dann komme sie und macht ihnen eine Massage mit so Öl irgendwas dann ist sie auch wieder gekommen sicher fast eine Stunde hat sie massiert das hat sie mir dann jeden Tag also drei Tage fast noch zwei Mal halt gemacht so mit dem ich weiß nicht ob es Mandelöl gewesen ist einfach ein Öl etwas ist gewesen hat sie massiert und das hat schon etwas geholfen (2012: 780 - 788).

Aus gesundheitlichen Gründen wird im Krankenhaus frühzeitig ein Kaiserschnitt vorgenommen. Der zweite Sohn von Blerina kommt als Frühgeburt nach knapp sieben Monaten Schwangerschaft auf die Welt. Sein Gesundheitszustand ist in den ersten Monaten sehr fragil. Priorisierung der Mutterrolle Während der ganzen Zeit der Risikoschwangerschaft und Geburt schildert Blerina ihren Mann als wenig präsent. Blerina begründet seine Abwesenheit mit der Sorge um seine Arbeitsstelle und stellt dar, dass er aufgrund der knappen finanziellen Situation seine Rolle als Familienernährer zu priorisieren hat.

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Blerina: und mein Mann genau an dem Tag indem Monat hat er nicht gearbeitet weil in der Zeit wo ich im Spital war hat er ja frei genommen..und dann ehm..genau an dem Tag hat er gesagt ich muss ist er am Abend bei mir gewesen ich muss morgen arbeiten gehen weil he ein Monat ohne Geld und plus ich kann das nicht mehr lange machen obwohl der Chef hat zwar zu ihm gesagt so lange es geht nehmen sie frei und aber finanziell ist auch nicht so (2012: 809 - 813)

Dies weist darauf hin, dass Blerinas Schwangerschaft und die Geburt des zweiten Kindes zu einer Verstärkung der geschlechtsspezifischen Rollenaufteilung in ihrer Familie führt. Aufgrund der gesundheitlichen Schwierigkeiten rund um die Schwangerschaft wird ihr Ehemann zum alleinigen Haupternährer der Familie. Blerina stellt dar, dass sich ihr Leben mit dem zweiten Sohn sehr verändert. Die Sorge um das Überleben des zweiten Kindes dominiert ihr Leben von der Schwangerschaft an bis einige Monate nach der Geburt. Sie beschreibt, dass das Kind nach der Geburt zur Überwachung im Krankenhaus bleiben muss, welches sich in der nächsten größeren Stadt befindet und sie deshalb ihren Mutterschaftsurlaub um weitere fünf Monate durch unbezahlten Urlaub verlängert. Sie besucht ihr Baby regelmäßig im Krankenhaus, um es stillen zu können. Blerina berichtet, dass die Gesundheit des Kindes in den ersten Monaten sehr fragil bleibt aufgrund eines Leistenbruchs und einer Blutvergiftung. Blerina präsentiert im Zusammenhang mit der gefährdeten Gesundheit ihres zweiten Kindes auch die Angst, dieses Kind jemand anderem zur Betreuung anzuvertrauen. Wieder braucht sie in diesem Zusammenhang aber gleichzeitig die Negation und Affirmation (ja-nein). Blerina: der Jüngste eben der ist so auf die Welt gekommen da habe ich gedacht ja nein den kann ich doch niemandem anvertrauen weil er hat ja immer noch mit dem Atmen ein wenig Probleme gehabt auch zu Hause und ich habe dann auch fast nie richtig geschlafen weil ich immer das Gefühl gehabt habe ich muss schauen atmet er immer ein bisschen geschaut ob er ein wenig kommt bis er dann kräftiger worden ist und so nachher..ja..habe ich mir auch schon sagen müssen ja nein das geht nicht weil ich habe dann wirklich niemanden gehabt (2012: 211 - 217)

Dies weist darauf hin, dass die Frage der Fremdbetreuung ein Spannungsfeld darstellt zwischen ihrem Wunsch nach einer Wiederaufnahme der Arbeit, was eine Fremdbetreuung ihres Kindes zur Folge hätte, und ihrer Mutterrolle. Blerina präsentiert nun ihre Aufgabe als Mutter als prioritär gegenüber allem anderen. Für sie ist es nun zentral, eine „gute“ Mutter zu sein, was für sie bedeutet das Kind selbst betreuen zu können.

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Blerina: jetzt bin ich froh dass es so gekommen ist ich habe auch nicht können genießen den Jüngsten den Großen habe ich immer abgeben müssen ..ja hast du eigentlich nichts von ihm so gehabt..den ganzen Tag ja am Morgen früh abgeben dann am Mittag schnell geholt und dann wieder gebracht und dann lauter Stress und am Abend ja vielleicht zwei Stunden und dann ist er auch wieder im Bett und ..viel hast du nicht so von ihm gehabt..aber dass er jetzt er hat zwar öfters öftere Tagesmütter gehabt.. muss ich jetzt ehrlich sagen er ist gut entwickelt (lacht) das muss ich jetzt einfach sagen er ist gut eh ja und er macht sich jetzt auch in der Schule gut er ist momentan sehr gut ich hoffe das bleibt auch so (2012: 62 - 69)

Sie stellt dar, dass eine Umkehrung der Prioritäten stattfindet. Beim zweiten Kind hat nun ihre Mutterrolle Vorrang, während sie beim ersten Kind die Erwerbsarbeit priorisierte und Vollzeit arbeitete. Wie das obenstehende Zitat zeigt, wertet sie nun die Betreuung durch Tagesmütter ab, indem sie betont, dass sich ihr erster Sohn trotz der Fremdbetreuung gut entwickelt hat. Zugleich stellt Blerina auch dar, dass sie die Aufgabe der Erwerbsarbeit bereut und gerne weiterhin Teilzeit gearbeitet hätte. Damit stellt Blerina dar, dass die Priorisierung der Mutterrolle bedingt ist durch die gesundheitlichen Probleme ihres zweiten Kindes und nicht ihrem eigenen Wunsch entspricht. Blerina: aber ich habe es nicht mehr länger können weil da hast du müssen 100 % und ich habe dann nicht können wegen dem Kleinen dann habe ich dann sechs Monate unbezahlt und dann ist es dann nicht mehr gegangen mit unbezahlt ((lacht)) und dann ja haben sie 50 % wenigstens am Nachmittag ist dann nicht gegangen entweder 100 % oder gar nicht habe ich halt aufhören müssen..(2012: 58 - 62)

Blerina stellt damit die Sorge um das Kind über ihre eigenen Interessen der Fortsetzung der Arbeit im Pflegezentrum. Zugleich berichtet sie, dass sie nach der Kündigung weiterhin eine Teilzeit-Arbeit sucht und zeigt damit ihren Wunsch nach der Vereinbarkeit von Erwerbsarbeit und ihrer Mutterrolle auf. Blerina ist 27 Jahre alt und mit den beiden Kindern zu Hause. Sie kümmert sich vor allem um den jüngeren Sohn. Sie erhält in den ersten Jahren professionelle Unterstützung durch eine Früherzieherin sowie eine Physiotherapeutin für die Betreuung ihres jüngsten Sohnes. Die Unterstützung durch Professionelle kann als Ersatz familialer Unterstützung angesehen werden, welche Blerina in der Schweiz nicht hat. Insgesamt verbringt Blerina zwei Jahre als Hausfrau und Mutter. Als ihr jüngster Sohn zwei Jahre alt ist, beginnt sie im Jahr 2010 wieder in einer größeren Firma Teilzeit zu arbeiten. Die Arbeitsstelle tangiert die Verantwortung Blerinas als Hausfrau und Mutter kaum, da sie abends arbeitet, wenn

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ihr Ehemann zu Hause ist. Ihre Situation gleicht nun sehr ihrer Kindheit: Ihr Ehemann arbeitet in derselben Firma wie damals ihr Vater, sie arbeitet Abendschicht wie damals ihre Mutter. Jedoch hatte ihre Mutter mit 30 Jahren im Gegensatz zu Blerina fünf Kinder zu betreuen. Familiale Veränderungen Im Jahr 2009 entscheidet sich der Bruder, definitiv zu seiner schwangeren Frau in den Kosovo zu ziehen. Er zieht mit der Frau und Kind zu seinen Eltern nach Prizren und findet eine gut bezahlte Arbeit. Blerina und ihre Schwester sind nun die einzigen der Kernfamilie, welche noch in der Schweiz wohnen. Blerina zeigt auf, dass sich auch für sie und ihre Schwester die Frage einer künftigen Migration in den Kosovo stellt. Indem Blerina die Schwierigkeiten ihres Ehemannes, sich in der Schweiz einzuleben, thematisiert, weist sie darauf hin, dass die Frage einer künftigen Migration in den Kosovo für ihren Ehemann ein Thema ist. Blerina: und er kann sich immer noch nicht so hier anpassen..er hat noch ein wenig Mühe und ja und unsere Zukunft ist eigentlich…ja.. wir möchten dann schon irgendwann wieder zurück (2012: 25 - 27)

Auch am Thema von Religion und Sprache zeigt sie auf, dass vor allem ihr Ehemann Wert auf die Weitergabe der Verbindung zu seinem Herkunftsland legt wie folgendes Zitat zum Thema Religionsunterricht in der Moschee aufzeigt: Blerina: Mein Mann geht schon ja ja mein Mann ist.. voll dafür aber eh also er tut also ihn ja wie zwingen weil freiwillig ginge er nicht also wenn er wählen könnte ginge er nicht aber mein Mann sagt das musst du und so dann muss er eben gehen dann geht er.. aber freiwillig das hat er nicht so gern.. das liegt ihm jetzt nicht so (2012: 1031 - 1034)

Sie stellt dar, dass für sie selbst die Interessen ihrer Kinder bei der Frage um eine künftige Migration in den Kosovo Priorität haben und sie deren Wohl über ihre eigenen Bedürfnisse stellt. Blerina: als Eltern weißt du gar nicht was sollst du diesen Kinder..ja was sollst du machen so..entweder hier oder unten..und irgendwie ist es dann doch irgendwie zu spät weil er ist jetzt auch schon in der 4. Klasse und dann denkst du erst in zwei drei Jahren dann ist er auch schon ja entweder Lehre oder Sek ((Sekundarschule)) ja und…dann ist es immer so ein wenig…das hin und her..ein bisschen Probleme was machst du ob es eben ob es als Eltern ob du den Kinder das irgendwie …zumutest runter zu gehen.. ob es dann denen ir-

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gendwie alles versaust auf Deutsch gesagt..oder bleibst du hier…dann ja ist deine Zukunft dann die du..ja bist du dann nicht so glücklich da (2012: 30 - 37)

In diesem Zitat thematisiert Blerina die Bildungsmöglichkeiten der Kinder. Damit weist sie auf die Erfahrungen ihrer beiden jüngsten Geschwister hin, die durch die Migration mit den Eltern in den Kosovo Zugang zu Bildungsmöglichkeiten erhalten haben, zugleich aber auch Schwierigkeiten erlebten, die bei ihrer Schwester Donika zu einem Abbruch des Studiums führten und bei ihrem Bruder Egzon die Fortsetzung des Studiums in der Schweiz erschwerten. Die Schwierigkeiten ihres jüngsten Bruders, ein Visum für ein Studium in der Schweiz zu erhalten, werden von Blerina indirekt angesprochen, indem sie thematisiert, dass sie die schweizerische Staatsbürgerschaft für ihre Kinder anstrebt, wie in folgendem Zitat ersichtlich ist. Blerina: ich habe es sehr gerne haben wollen…schon aus dem Grund ja halt.. du bist dann gesichert irgendwo..für Kinder auch Kinder können gehen reisen wo sie wollen aus Spaß aus finanziell aus egal aus welchen Gründen…können sie überall hingehen..mit denen lästig es ist einfach lästig dann musst Visum dann musst du immer wieder die Pässe ändern gehen und ehm gehen eben so..und so haben sie einfach den Pass sicher und brauchen keinen anderen Pass und können gehen reisen wo sie wollen…Spaß sei es Job mäßig sei es sogar einfach freier (2012: 1319 - 1324)

Sie stellt dabei den Erwerb des Schweizerpasses als Erweiterung der Zukunftschancen für ihre Kinder dar. Zugleich präsentiert Blerina die schweizerische Staatsbürgerschaft auch als Sicherheit für sich, in die Schweiz zurückkehren zu können. Blerina: in fünf in zehn Jahren..ich weiß ja nicht wo ich dann bin..und dann kannst du es immer noch retour halt..und wenn ich zum Beispiel unten würde runter und wenn es mir nicht gefällt dann kannst du immer wieder zurück (2012: 1328 - 1330)

Am Thema der schweizerischen Staatsangehörigkeit thematisiert Blerina erneut ein Spannungsfeld zwischen sich und ihrem Ehemann, das gekennzeichnet ist durch ihre „ja-nein“ Formulierung. Sie stellt dar, dass sie die schweizerische Staatsangehörigkeit anstrebt, ihr Ehemann durch seine ausbleibenden Bemühungen, die deutsche Sprache zu lernen, dies jedoch verhindert, wie in folgendem Zitat sichtbar wird.

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Blerina: das Problem ist ich ich habe es eigentlich schon gern haben wollen ..es hat ein paar Gründe wieso aber..ich bekomme es nicht über weil mein Mann müsste Deutschkurse machen..und er und er..zuerst so hat er so keine Lust muss ich sagen..und zweitens du bezahlst musst du auch wieder selber bezahlen..das kostet sehr viel..und drittens ob du es mit dem ersten Niveau schaffst oder nicht…ja nein du bist nicht so gut musst du ein zweites Mal..und dann musst du wieder in zweiten und dann zahlst du wieder..und dann musst du am Abend gehen und dann müsste ich für am Abend zu Hause sein..wieder frei machen dass er gehen kann für die Kinder oder..geht hin und geht gar nicht..und so und ohne den Deutschkurs kann ich den Schweizerpass nicht beantragen (2012: 1278 - 1286)

In folgendem Zitat zeigt Blerina auf, dass der Schweizerpass und der Verbleib in der Schweiz für sie Sicherheit und finanzielle Unabhängigkeit von der Familie bedeutet. Blerina bringt somit die Frage nach dem Verbleib in der Schweiz in Verbindung mit ihrem Streben nach einer gewissen Unabhängigkeit von der Familie. Blerina: aber runter komme ich nicht weil aus dem Grund ich habe nichts ich habe nichts gehabt was soll ich dort machen nur essen es geht ja nicht darum nur essen alle leben unten die meisten von denen essen ja auch halt die sterben ja nicht vor Hunger aber was du isst ist auch noch eine Frage und wie du isst und ja und das Leben besteht ja nicht nur aus Essen ich meine das Leben geht weiter du musst ja noch Versicherungen haben wenn du älter bist wenn du Invalid bist wenn du irgendetwas hast musst du immer etwas haben ich gebe doch nicht die Schweiz auf für was wenn ich weiß die Zukunft ist hier besser und ich habe ich muss niemandem Hand strecken (2012: 320 - 327)

Mit dem Verweis auf das staatliche soziale Unterstützungsnetzwerk in der Schweiz stellt Blerina dar, dass sie in der Schweiz unabhängig von der Familie leben kann im Gegensatz zum Kosovo. Kosovo verbindet sie mit einer unsicheren Zukunft, weshalb sie gegen eine Migration in den Kosovo ist. Blerina zeigt auf, dass es für ihren Mann vor allem um die finanziellen Möglichkeiten geht, während für sie das Thema der Sicherheit im Vordergrund steht. Blerina thematisiert so die verschiedenen Erwartungen betreffend dem Entscheid, als Kleinfamilie in der Schweiz zu wohnen. Blerina: mein Mann sagt zwar du weißt ja nie wenn ich einen Job gehabt hätte was du gemacht hättest vielleicht hätten wir gleichwohl mehr gehabt.. vielleicht aber es ist nicht so..es ist bei mir einfach..ja ich bin jetzt da nicht so..ich muss schon Sicherheit haben (2012: 349 - 351)

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Das Argument der Sicherheit für sich und ihre Familie verbindet Blerina mit ihrer Mutterrolle und begründet mit der Sorge um die Zukunft ihrer Kinder ihren Wunsch nach einem Verbleib in der Schweiz. Sie kann ihre Mutterrolle nutzen, um den Verbleib in der Schweiz, der ihr eine gewisse Distanz zu den Schwiegereltern und damit eine gewisse Autonomie und Selbständigkeit bietet, auszuhandeln. Fallstruktur: Aushandlungsprozesse im transnationalen Spannungsfeld familialer Erwartungen Zurückstecken eigener Interessen für die Familie Blerina übernimmt in ihrer Kindheit und Jugendzeit eine geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in ihrer Familie, indem sie als zweitälteste Tochter im Haushalt und der Kinderbetreuung mithilft. Geschlechternormen und sowie Diskriminierungssprozesse schränken ihre Ausbildungsmöglichkeiten ein und führen dazu, dass sie nach der obligatorischen Schulzeit direkt ins Erwerbsleben einsteigt. Die Fortsetzung geschlechtsspezifischer Aufgaben in ihrer Familie zeigt sich insbesondere nach der Migration ihrer Mutter in den Kosovo, als sie als Frau im gemeinsamen Haushalt mit ihrem Vater und Bruder nebst der Erwerbsarbeit alleine die Haushaltsarbeiten übernimmt. Der Einstieg ins Erwerbsleben ermöglicht Blerina deshalb keine finanzielle Unabhängigkeit oder Ablösung von der Familie, sondern führt zu der Erfahrung, individuelle Interessen dem Wohl der Familie unterzuordnen. Diese Zurückstellung eigener Interessen zu Gunsten der Familie zeigt sich auch im Zusammenhang mit ihrer Rolle als Mutter, indem sie beim zweiten Kind die Arbeit im Pflegezentrum aufgrund gesundheitlicher Probleme ihres Kindes aufgibt und damit eine geschlechtsspezifische Rollenteilung in ihrer Familie fortsetzt. Sie stellt dar, dass die Zukunft ihrer Kinder Priorität hat und sie aus diesem Grund auch einer Migration in den Kosovo zustimmen würde, selbst wenn sie dadurch selbst unglücklich wäre. Spannungsfeld zwischen familialen Erwartungen und eigenem Lebensentwurf Mit der Heirat des, von der Mutter vorgeschlagenen, kosovo-albanischen Mannes entspricht Blerina den familialen Erwartungen. Dadurch entsteht für Blerina eine familiale Anbindung an den Kosovo. Blerina fügt sich den Erwartungen ihrer Mutter, zugleich gelingt es ihr, sich durch den Verbleib in der Schweiz eine gewisse Distanzierung zu der Familie der Schwiegereltern auszuhandeln. Dieses Spanungsfeld zwischen Erfüllung und Distanzierung von familialen Erwartungen zeigt sich auch im Bau eines eigenen Hauses auf dem Land der Schwiegereltern und der Frage nach einem zweiten Kind. Wieder fügt sich Blerina nach an-

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fänglichem Widerstand dem Wunsch der Mutter. Die Mutterschaft wird nun von Blerina zur neuen Begründung für einen Verbleib in der Schweiz. Sie nutzt damit ihre Mutterrolle, um ihr Streben nach einem Verbleib in der Schweiz resp. einer Verhinderung einer Migration in den Kosovo durchzusetzen. Damit entsteht ein Spannungsfeld, bestehend aus familialen Erwartungen, verbunden mit den Eltern und Schwiegereltern im Kosovo, und Blerinas Streben nach einer Distanzierung von der Familie im Kosovo und einem Verbleib in der Schweiz. Verkörpert wird dieses Spannungsfeld durch ihren Mann, der die Frage einer Migration in den Kosovo immer wieder thematisiert und zugleich aufgrund seiner minimalen Deutschkenntnisse auch Hinderungsgrund für Blerina ist, die schweizerische Staatsbürgerschaft zu erhalten, welche Blerina Sicherheit und eine gewisse Unabhängigkeit ermöglichen würde. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Blerina sich in einem transnationalen Spannungsfeld familialer Erwartungen befindet. Die Erwartungen, welche durch ihre Mutter an sie gerichtet werden (Heirat, Reproduktion) werden von Blerina schlussendlich erfüllt. Zugleich sind Blerinas Bestrebungen sichtbar, sich durch den Verbleib in der Schweiz von der Familie zu distanzieren. 6.2.3 Clirim – vom selbstbestimmten Junggesellen in der Schweiz zum verantwortungsbewussten Familienvater im Kosovo Die Fallanalyse von Clirim ermöglicht eine maximale Kontrastierung zu den beiden bereits präsentierten Falldarstellungen der älteren Schwestern Arbresha und Blerina in Bezug auf das Merkmal Geschlecht sowie den Migrationsprozess. Clirim hat sich in seiner Kindheit als erster Sohn nicht um die jüngeren Geschwister zu kümmern und er lebt im Gegensatz zu den beiden älteren Schwestern einige Jahre unverheiratet in der Schweiz. Trotz dieser maximalen Kontrastierung zeigt die Fallanalyse von Clirim gewisse Ähnlichkeiten mit den beiden Fallanalysen seiner älteren Schwestern. Wie bei Arbresha ist beruflicher Erfolg für Clirim bedeutend für die Überwindung seiner Außenseitersituation. Zugleich erlebt er ähnlich wie Blerina ein Spannungsfeld zwischen familialen Erwartungen, welche mit dem Kosovo verbunden sind, und einem selbstbestimmten Leben in der Schweiz. Clirim ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews 31 Jahre alt. Er lebt mit seiner Ehefrau und der zweijährigen Tochter mit den Eltern, dem Bruder und der Schwester in derselben Wohnung in Prizren und arbeitet als Manager in einer größeren Firma. Seine Frau ist Pflegefachfrau und arbeitet im Krankenhaus in der Nähe des Wohnorts.

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Interviewkontext Mit Clirim wurden insgesamt zwei Interviews geführt. Wie seine Geschwister spricht auch Clirim fließend schweizerdeutsch. Das erste Interview findet im Herbst 2012 im Wohnzimmer der Familie in Prizren statt. Dabei sind auch seine Eltern, seine jüngere Schwester Donika, seine Ehefrau und die zweijährige Tochter anwesend. Der Vater beginnt mit der Erzählung seiner Lebensgeschichte. Anschließend frage ich die Mutter nach ihrer Lebensgeschichte. Clirim antwortet an ihrer Stelle und erklärt, dass sie nicht genug Deutsch sprechen kann. Insgesamt ergänzt Clirim während diesem ersten Interview bei der Familie immer wieder die Antworten des Vaters oder der Schwester. Aufgrund dieser Interaktionen lässt sich die Hypothese entwickeln, dass Clirim als ältester Sohn im gemeinsamen Haushalt der Familie eine zentrale Position innehat. Clirim erzählt nach dem Vater seine Lebensgeschichte. Seine Erzählung ist berichtartig und wird ergänzt durch viele Argumentationen. Nur ein einziges Mal benutzt er die Textsorte der Erzählung, als er schildert, wie er die Arbeit als Manager in der Firma gefunden hat. Daraus lässt sich schliessen, dass diese Arbeitsstelle für Clirims Präsentationsinteresse in Anwesenheit der Eltern und der jüngeren Schwester eine zentrale Bedeutung hat. Während dem Gespräch befindet sich seine Ehefrau meistens in der Küche. Sie serviert uns Getränke und bringt uns später einen selbstgebackenen Kuchen. Die kleine Tochter sitzt bei uns im Wohnzimmer und spielt öfters auch mit Clirims Vater Admir. Im Hintergrund läuft der Fernseher mit einer Kindersendung. Aus der Beobachtung der Interaktionen zwischen Clirim und seiner Ehefrau im gemeinsamen Haushalt mit seinen Eltern lässt sich ableiten, dass in der Familie eine geschlechtsspezifische Rollenaufteilung herrscht, in der Clirims Ehefrau als Schwiegertochter nebst ihrer Erwerbsarbeit die Haushaltsarbeiten übernimmt. Das zweite Interview findet ein Jahr später im Sommer 2013 in einem Café in der Nähe des Hauses der Familie in Anwesenheit des Bruders Egzon und der Schwester Donika statt. Ich fordere die drei auf, mir möglichst viel über ihre Kindheit zu erzählen. Clirim beginnt als erster über seine Kindheit und Jugendzeit in der Schweiz zu erzählen. Er berichtet in Abwesenheit seiner Eltern viel ausführlicher über seine Zeit in der Schweiz, die er nicht mehr nur als „Partytime“ wie im ersten Gespräch präsentiert, sondern auch als Krise durch das nicht Erfüllen der väterlichen Erwartungen betreffend dem beruflichen Aufstieg. Dies bestätigt die Hypothese, dass der berufliche Aufstieg von Clirim verbunden wird mit dem Erfüllen elterlicher Erwartungen.

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Erzählte Lebensgeschichte: „jetzt habe ich wirklich sozusagen mein Leben gelebt“31 Die Analyse des Präsentationsinteresses beruht hauptsächlich auf der Auswertung des ersten Interviews, in dem Clirim über längere Zeit jedoch mit Unterbrechungen seine Lebensgeschichte erzählt. Er gibt sich insgesamt als selbstbestimmt, indem er zentrale Entscheidungen in seinem Leben als eigene Entscheidungen präsentiert. Dies beginnt mit der Darstellung seines Entscheides, nach der obligatorischen Schulzeit keine Ausbildung zu machen, sondern lieber direkt mit Arbeiten zu beginnen. Clirim: fertig geworden mit der Schule.. bin ich direkt arbeiten gegangen..ja habe keine Lehre gesucht nichts.. wollte arbeiten gehen (2012: 276 - 277)

Durch diese Darstellung vermeidet er, mögliche Schwierigkeiten bei der Lehrstellensuche zu thematisieren. Auch die spätere Arbeitslosigkeit stellt er als selbstbestimmte Entscheidung dar, indem er erläutert, kein Interesse am beruflichen Erfolg zu haben, sondern lieber mit seinen Freunden das Leben zu geniessen. Clirim: als Vorarbeiter und so meinerseits ist das Interesse nicht so hoch gewesen..//I: mh//..und dann 2005 bin ich dann zu dieser Firma raus.. dann bin ich eine Weile lang arbeitslos gewesen und dort ist so zusagen Partytime gewesen (2012: 280 - 282)

Auch den Verbleib in der Schweiz nach der Migration seiner Eltern in den Kosovo stellt er klar als eigene Entscheidung dar. Er präsentiert damit seine Autonomie gegenüber elterlichen Wünschen und Erwartungen. Clirim: habe ich nur gedacht nein du das ist nichts für mich also.. das habe ich mir nicht zugetraut und habe ich auch nicht wollen und dann habe ich auch den Eltern auch gesagt ich komme nicht (2012: 292 - 294)

Dieses Präsentationsinteresse zeigt sich auch in Clirims Darstellung der Entscheidung, zehn Jahre später in den Kosovo zu migrieren. Er betont, wie gut er sich die Entscheidung überlegt hat und begründet diese mit der Möglichkeit der familialen Betreuung seiner Kinder. Clirim macht klar, dass er seine Entscheidungen im Rückblick als richtig einschätzt, da ihm die Migration in den Kosovo einen erfolgreichen beruflichen Aufstieg auch ohne Ausbildung ermöglicht hat.

                                                             31 Clirim (2012: 456 – 457).

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Clirim: ich bereue es bis jetzt noch nicht dass ich zurück gekommen bin..und so lauft alles ich habe genug Freizeit..ich arbeite von 8 Uhr bis um 4 Uhr.. jeden Sonntag habe ich frei ziemlich einen guten Lohn wenn ich im Gegensatz ich habe ja nur die Sek. ((Sekundarschule)) abgeschlossen..und hier macht jeder noch Gymnasium und Fakultät und das habe ich alles gar nicht..und ich bin doch noch recht hinauf gekommen mit der Position und mit dem Lohn bin ich eigentlich sehr zufrieden (2012: 330 - 334)

Diese Präsentation des selbstbestimmten Lebens ermöglicht Clirim, die fehlende Ausbildung und die erfolglose berufliche Integration in der Schweiz als jugendliche Auszeit darzustellen, die er bewusst geniessen wollte vor der Familiengründung. Damit gelingt es ihm, mit seinem beruflichen Erfolg im Kosovo die vorherigen Schwierigkeiten in der Schweiz zu überdecken. Fallrekonstruktion: Suche nach Anerkennung und Zugehörigkeit Die folgende Fallrekonstruktion beinhaltet alle vorgängigen Analyseschritte, deren Hypothesen in die Fallrekonstruktion eingearbeitet wurden. Als Besonderheit gilt hier, dass zwei Interviews mit Clirim geführt wurden in Anwesenheit anderer Familienmitglieder. Dabei wird der Einfluss der Präsenz der Eltern für das Präsentationsinteresse von Clirim besonders deutlich. Er thematisiert erst im zweiten Interview in Abwesenheit seiner Eltern die Schwierigkeiten in der Schweiz. In den Quellenangaben ist mit der Jahrzahl kenntlich gemacht, aus welchem Interview das Zitat stammt. Kindheit zwischen Bujanovac und der Schweiz Zum Zeitpunkt von Clirims Geburt 1981 lebt die Mutter mit den beiden älteren Schwestern auf dem Hof väterlicherseits in dessen erweiterter Familie. Die beiden Großväter von Clirim arbeiten als „Gastarbeiter“ in Deutschland und der Vater in der Schweiz. Die Bedeutung von Clirims Vorname deutet den Stolz der Familie über die Geburt des ersten Sohnes als Stammhalter der Familie hin. Als Clirim drei Jahre alt ist, wird die Mutter wieder schwanger und reist mit den Kindern in die Schweiz zum Vater, wo 1984 die Schwester Donika geboren wird. Der Vater wohnt nun seit fast vier Jahren den größten Teil des Jahres in der Schweiz in Buchs, einer schweizerischen Kleinstadt. Durch das Pendeln zwischen dem Herkunftsdorf und der Schweiz überbrückt die Mutter die Zeit der Trennung der Kinder von ihrem Vater. Clirim präsentiert die Zeit als Hin und Her zwischen der Schweiz und Bujanovac, wie folgendes Zitat zeigt.

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Clirim: Ich bin in Bujanovac geboren und dann halt die ersten paar Jahre sind immer so ein wenig hin und her und kann mich nicht groß erinnern ((lacht)) bin noch zu klein gewesen (2012: 266 - 267)

1986 besucht Clirim im Gegensatz zu der ein Jahr älteren Schwester Blerina im Dorf den Kindergarten. Daran wird ersichtlich, dass die Familie Wert legt auf die Einschulung von Clirim. Dies deutet auf eine Übertragung der Bildungsaspiration des Vaters an ihn als ersten Sohn hin. Kindheit in der Schweiz Als Clirim 5 Jahre alt ist, zieht die ganze Familie zum Vater in die Schweiz. Für die Familie bedeutet dies eine große Veränderung. Zum ersten Mal leben nun die beiden Eltern mit den vier Kindern zusammen in einer Kleinstadt in einer Mietwohnung unter engen räumlichen Verhältnissen, in einem neuen Umfeld. Gleichzeitig bringt der definitive Umzug in die Schweiz auch eine Stabilisierung der familialen Situation mit sich: Das Hin und Her zwischen Bujanovac und der Schweiz wird damit beendet und alle Kinder werden in der Schweiz eingeschult. Clirim besucht zusammen mit seiner ein Jahr älteren Schwester Blerina den Kindergarten. Im Kindergarten in der Schweiz macht Clirim die ersten Erfahrungen mit der deutschen Sprache. Clirim stellt seine Familie zu Beginn als isoliert dar und zeigt auf, dass dies dazu führte, dass er sich vor allem mit den anderen Geschwistern abgeben musste. Clirim: vielleicht durch das das wir am Anfang eben wirklich alleine gewesen sind wir haben keine Andere gehabt wir haben..wir fünf Geschwister untereinander immer etwas machen müssen (2013a: 215 - 217)

Anstatt den Wegfall des familialen Unterstützungsnetzwerkes als negativ zu thematisieren, betont Clirim die „Pioniersituation“ seiner Familie. Sie sind die Ersten der Verwandtschaft, die sich in der Schweiz niederlassen. Clirim: wir sind eigentlich (1) die erste Familie mein Vater ist eigentlich der erste gewesen der seine Familie hinaufgeholt hat (1) wir haben jetzt nicht groß Verwandtschaft gehabt mein Onkel ist dort gewesen der hat ab und zu mal die Kinder da gehabt ab und zu nicht (2) ja halt normal Schule wie es in der Schweiz ist Schule Kindergarten erste zweite Klasse sind halt immer mit Schweizer nie groß mit Ausländer zu tun gehabt eigentlich (1) (2013a: 62 - 76)

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Damit präsentiert er ein widersprüchliches Bild seiner Kindheit: einerseits thematisiert er, dass er vor allem mit seinen Geschwistern gespielt hat, weil keine weiteren Verwandten in der Schweiz waren, zugleich erwähnt er den Kontakt zu anderen schweizerischen Kindern. Dies deutet darauf hin, das Clirim diese Präsentation als „Pioniere“ vor allem dazu dient, sich von der späteren Einwanderungswelle aus dem Kosovo abzugrenzen, die vor allem seit 1988 stetig zunimmt (Burri Sharani et al. 2010: 29) und in Verbindung steht mit der Verbreitung eines zunehmend negativen Bildes (ibid.: 25). Kindheit im Dorf Zuzgen Clirim ist 6 Jahre alt, als die Familie in ein Zweifamilienhaus in Zuzgen umzieht. In Zuzgen besuchen Clirim und seine Schwester Blerina das zweite Kindergartenjahr. Im selben Jahr kommt auch der jüngste Bruder Egzon auf die Welt. Das Zweifamilienhaus mit Garten bietet der nun siebenköpfigen Familie mehr Platz. Clirim thematisiert anhand des Umzuges, dass er viel Zeit mit den Geschwistern zu Hause verbringt und auch die Kinder des Onkels öfters zu Besuch kommen. Clirim: die sind halt mehr zu uns gekommen weil die haben im Block gewohnt in einer Wohnung und wir haben in einem Haus gewohnt mit Garten..Schaukel haben wir draussen gehabt so eine schreckliche grüne alte Schaukel ((alle lachen)) so richtig von früher halt (2) und drum sind sie und wir sind halt auch länger dort gewesen und haben (2) sind auch mehr eingewöhnt gewesen an die Schweiz haben mehr gewusst als die (2013a: 155 - 159)

Damit stellt er dar, dass die erweiterte Familie während seiner Kindheit in der Schweiz bedeutend ist. Der Onkel zieht später mit seiner Familie in die zweite Haushälfte ein. Clirim zeigt damit auf, dass räumliche Nähe wichtig ist, um die Beziehungen zu den Verwandten zu pflegen, da er zu diesen in der Schweiz eine engere Beziehung aufbaut als zu denen in Bujanovac. Clirim: meinen zwei Onkels die da gewesen sind..Kinder sind auch meine Cousins genau gleich..aber..mit denen hast du halt viel weniger erlebt und hast viel weniger Gemeinsamkeiten weil du hast sie einmal im Jahr gesehen zwei Wochen lang..und dann (1) ist es das gewesen hast nicht viel erleben können mit denen in der Schweiz hast du von der Tante und vom Onkel hast du halt jeden Tag etwas gehabt (2013a: 256 - 266)

Insgesamt präsentiert Clirim eine Kindheit, in der die eigenen Geschwister sowie die Familie des Onkels und die Cousins und Cousinen eine zentrale Rolle spielen. Nachbarskinder oder Schulfreunde kommen in dieser Zeit nicht vor. Diese Situation verändert sich in der zweiten Klasse, als Clirim beginnt im Fußballclub

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der Gemeinde zu spielen. Clirim stellt dar, dass er durch den Fußballclub viele Freunde gefunden hat und erwähnt dabei jedoch auch eine Unterscheidung zwischen Freunden der Familie und seinem eigenen Freundeskreis, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: bei uns Albaner heißen immer..es gibt Kollegen von außerhalb und es gibt Kollegen von zu Hause..oder man hat quasi einen Kollegenkreis den man nie mit nach Hause nehmen würde..nicht weil es schlechte Leute sind oder es ist einfach so..und dann haben wir Kollegen wo auch bei einem zu Hause wilkommen sind die kommen übernachten und du gehst übernachten..und ich habe halt meine zwei drei gehabt deren Eltern sich auch gekannt haben untereinander..nur bei denen bist du pennen gegangen oder sind pennen gekommen mit den Anderen das sind einfach Kollegen gewesen von der Schule vom FC vom je nach dem..und die hättest du nie mit nach Hause genommen..nicht weil sie jetzt schlecht gewesen sind aber..aber es sind halt bei den Albaner immer so zwei..man sagt auch shoki sthepie und shoki rruges oder.. Kolleg von der Strasse und Kollegen von zu Hause.. (2013a:495 - 504)

Er begründet diese Unterscheidung mit einem albanischen Sprichwort und stellt damit dar, dass Ethnizität für ihn bedeutsam ist. Dies deutet darauf hin, dass Ethnizität möglicherweise auch für die Trennlinie zwischen den verschiedenen Arten von Freunden bedeutend ist und nur albanische Freunde zu Hause wilkommen sind. Als Clirim 10 Jahre alt ist, kauft sich der Vater ein Stück Land im Zentrum von Prizren. Clirim stellt damit dar, dass eine künftige Migration in den Kosovo in der Familie diskutiert worden ist und der Vater plant, die Schweiz wieder zu verlassen, wie in folgendem Zitat ersichtlich ist. Clirim: Ich kann mich als Kind erinnern weil dass sich viele wundern weil nach dem Krieg sind ja viele von Bujanovac vom Kosovo von irgendwo gekommen und viele denken wir haben es genau gleich gemacht wenn ich dann sage dass wir schon im 1991 hat mein Vater gewusst dass er irgendwann wird in Prizren leben wolle haben alle gesagt du bist nicht ganz in der Birne kannst doch nicht auf Kosovo gehen und kennst keine Sau weißt nicht was läuft und das ist so ein kleiner Boden da ist alles leer gewesen und so also da ist nichts gewesen und 1991 sind ja auch die großen Proteste gewesen von den Studenten und genau in dieser Zeit hat er gekauft und dann haben alle gesagt und ich kann mich erinnern er hat dazumal schon gesagt also wenn ich fünfzig bin (2012:484 - 491)

Clirim macht deutlich, dass durch diesen Landkauf in Prizren die prekäre finanzielle Situation der Familie in der Schweiz weiter anhält. Es wird gespart, damit

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das Einkommen des Vaters nicht nur für die Ernährung der siebenköpfigen Familie reicht, sondern auch, um im Kosovo ein Haus aufzubauen. Clirim: und dann weiß ich noch halt ab und zu (2) ist jetzt vom Geld her die haben halt wollen sparen denn die sind ja quasi mit dem Gedanken.. in die Schweiz Geld machen Haus bauen und wieder retour..nachher hast du irgendwie..hast noch am Samstag zwei drei Kilo Äpfel gekauft und das hat reichen müssen für die Woche //mhm// ob du jetzt alles an einem Tag isst oder jeden Tag ein wenig (2013a: 70 - 74)

Umzug in die Kleinstadt Als Clirim 12 Jahre alt ist, zieht die Familie 1993 in eine 4.5-ZimmerEigentumswohnung in Rheinfelden. Die Tante väterlicherseits migriert nun mit ihrer Familie auch in die Schweiz und übernimmt die freiwerdende Wohnung im Zweifamilienhaus in Zuzgen. Der Umzug bedeutet für Clirim ein neues Umfeld und eine Trennung von bisherigen Schulkollegen sowie das Ende der Teilnahme im Fußballclub. Er thematisiert jedoch diese Trennungserfahrungen nicht, sondern erläutert vor allem die der Ankunft der Tante und deren Familie in der Schweiz. Dies deutet darauf hin, dass die Orientierung an der Familie zentral ist. Clirim betont an dieser Stelle wieder die besondere Situation seiner Familie, welche die weiteren Verwandten unterstützt. Clirim: Am Anfang ist er bei uns im selben Haus..und dann sind wir in die andere Haushälfte Onkel ist dort geblieben (....) und dann wo wir auf..der der Mann von der Tante(.) von der Schwester vom Vater ist auch schon in der Schweiz nachher gewesen der hat aber die Kinder und die Tante ziemlich spät herauf geholt (….) wo die dann gekommen sind weil sie halt Anfang und die haben Kinder die haben auch schon drei Kinder und das jetzt eh der Schwager quasi vom Vater nicht zu viel Geld am Anfang schon ausgeben muss für eine Wohnung weil die Häuser sind huere billig gewesen.. alte Häuser über hundert Jahre dazumal..und dann sind dann haben wir eben..eh zehn Jahre sind wir dann auch schon fast in der Schweiz gewesen..haben wir die Wohnung gekauft und sind dort eigentlich ausgezogen damit dann die Tante mit der Familie dort einzieht (….) und wir sind dann auf Rheinfelden gezogen (2013a:194 - 203)

Clirim stellt dar, dass sich diese Vorreiterposition in Rheinfelden wiederholt: weitere Verwandte ziehen in eine Wohnung gleich unter ihnen. Damit weist er auf die Bedeutung der erweiterten Familie in seiner Kindheit und Jugendzeit hin. Das folgende Genogramm (Abbildung 6) zeigt die Familienmitglieder, welche in der Schweiz wohnhaft sind (grau markiert). Dabei wird das familiale Netzwerk in der nahen Umgebung in der Schweiz ersichtlich.

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Abbildung 6: Genogramm Clirim (Zeitpunkt seiner Kindheit und Jugend in der Schweiz)

Quelle: Eigene Darstellung

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Auch nach dem Umzug nach Rheinfelden haben Kontakte zu der erweiterten Familie eine zentrale Bedeutung, wie folgendes Zitat zeigt: Clirim: die sind jeweils zu uns gekommen die Mirjeta oder die Andere.. sind die sind rein gekommen wir waren irgendetwas am Schauen kommt rein nimmt die Fernbedienung Donika: hat geschaltet Clirim: als wäre sie zu Hause oder ((I: lacht mh)) weil die Mutter von ihnen ist so etwas pingeliger gewesen die hat sie nicht alles machen lassen und ja kein Dreck und weiß nicht was und bei uns ist es halt ein bisschen.. easier sage ich mal deshalb sind sie die ganze Zeit bei uns gehängt (2013a:166 - 173)

Clirim stellt in diesem Zitat dar, dass die Kinder von weiteren Verwandten oft zu ihnen zu Besuch kommen, da es in Clirims Familie weniger streng zugeht. Dies deutet darauf hin, dass Clirim und seine Geschwister in Abwesenheit der Eltern, welche beide erwerbstätig sind, viele Freiheiten haben resp. nicht beaufsichtigt werden. Clirim ist zu diesem Zeitpunkt ungefähr 13 Jahre alt. Im folgenden Zitat zeigt er auf, dass er sich in Abwesenheit der Eltern mit seinen Kollegen zu helfen weiß. Clirim: wir haben ja kein wir haben ja nicht dürfen Nintendo wenn man es noch kennt ((lacht)) ((alle lachen)) heutzutage kennt das vielleicht niemand mehr aber .. weil alle haben das in der Schule gehabt also die Schweizer aber wir nicht weil das ist halt dazumals viel zu teuer gewesen für ein Spielzeug hundert Franken ausgeben auf keinen Fall oder..darum sind wir halt viel mit den Kollegen am Mittwochnachmittag Schulfrei..mit dem Velo auf R.. ist jetzt auch nicht so weit vielleicht fünfzehn zwanzig Kilometer.. dann sind wir in R. im Manor spielen gegangen und die haben dort.. so einen Nintendo gehabt und einen riesigen Fernseher mit Spiele dann sind wir halt dort den ganzen Tag spielen gegangen und am Abend..bevor die Eltern nach Hause gekommen ((lacht)) sind sind wir wieder zu Hause gewesen (2013a: 101 - 109)

In diesem Zitat weist er zudem auf die finanziell knappe Situation der Familie hin. Clirim zeigt einen kreativen Umgang mit knappen Ressourcen, um dadurch nicht von seinen Mitschülern und Kollegen ausgeschlossen zu werden. Das Nichtbesitzen eines Nintendos wird zum Anlass einer gemeinsamen Freizeitaktivität genutzt. Damit zeigt sich eine paradoxe Situation. Einerseits weist der Erwerb einer Eigentumswohnung durch die Eltern in der Kleinstadt auf das Streben nach einem Statusaufstieg in der Schweiz hin. Zugleich führt jedoch die Sparsamkeit der Eltern dazu, dass sich die Familie gewisse Spielzeuge für die Kinder nicht leisten kann. Clirim thematisiert daran eine Unterscheidung zu schweizeri-

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schen Kinder und deutet damit Ausgrenzungserfahrungen an. Am Beispiel des Nintendos zeigt Clirim, dass er, um Zugehörigkeit zu erfahren, selbständig im Rücken der Eltern entsprechende Strategien entwickelte. Sekundarschule in Rheinfelden Clirim ist 13 Jahre alt, als er 1994 beim zweiten Anlauf und als erster der Geschwister den Übertritt in die Sekundarschule schafft. Im Gegensatz zu ihm hat keine seiner älteren Schwestern diese Prüfung ein zweites Mal versucht. Dies weist darauf hin, dass Clirim als erster Sohn der Familie mit elterlichen Bildungserwartungen konfrontiert ist. Clirim begründet das erstmalige Durchfallen durch die Prüfung mit dem Ortswechsel. Clirim: dann sind wir auf Rheinfelden gezogen //I:mh//..und dann Rheinfelden in die 7. (Klasse) und dann bin ich ein Jahr noch in die Real weil dazumal ist noch Sek Prüfung gewesen es ist nicht ab den Noten gegangen //I:mh// dann habe ich zwar die Prüfung gemacht gehabt in der 6. Klasse.. aber ich bin gerade frisch auf Rheinfelden gekommen alles frisch neue Lehrer neue Schüler und so habe sie knapp verpasst.. //I:m// dann bin ich halt ein Jahr in die Real dann habe ich sie wiederholt die Sek.Prüfung dann bin ich in die Sekundarschule (2012: 270 - 275)

Auch in den weiteren kurzen Erzählungen über die Schulzeit präsentiert sich Clirim stets als sehr guten und intelligenten Schüler und bezeichnet sich als „Naturtalent“. Er betont, dass er auch ohne Hausaufgaben zu machen einer der Besten in der Schule ist. Das folgende Zitat deutet jedoch auch darauf hin, dass er kaum Unterstützung von den Eltern oder anderen Bezugspersonen erhält und niemand kontrolliert, ob er Hausaufgaben macht. Clirim: ich habe eigentlich nie groß Hausaufgaben gemacht oder bin meistens der letzte gewesen in der Klasse rein alle Schweizer so pfng die Bücher auf und ich so was machen der Lehrer auch schon vorne..was macht er wir haben heute Prüfung und ich so was wir haben heute Prüfung ((alle lachen)) wir haben ja früher Hausaufgaben Büchlein gehabt //mhm// ich habe dort drin Zeichnungen gehabt Sprüche und so Sachen aber nicht die Hausaufgaben.. oder die haben alle immer aufgeschrieben an dem und dem Tag ist die und die Prüfung habe ich nie gemacht..dann bist du einfach so die Prüfung und..ehm u:pps..und dann bist du doch einer von den Besten gewesen..halt Natur (2013a: 1107 1114)

Clirim weist hier zudem auch auf die eine Unterscheidung zwischen sich als Ausländer und den übrigen schweizerischen Kindern hin. Damit thematisiert Cli-

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rim, dass sein Status als Ausländer in der Schule eine Rolle spielte. Jedoch führt er diese Erfahrungen in der Schule nicht weiter aus. An der Beziehung zu seinem Hauptlehrer thematisiert Clirim seine ambivalente Position in der Schule. Er stellt sich als besonders intelligenten, jedoch auch als anstrengenden Schüler dar, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: er ist drei Jahre mein Hauptlehrer gewesen und er so ein riesen Arschloch wie du gewesen bist habe ich mein Leben noch nie erlebt weil (1) und ich so bo:h und das vor der ganzen Klasse //ehm// und ich so es ist mir eigentlich egal gewesen weißt du..aber gerade so: vor Klasse und so und ich so: ja ok und er so aber es gibt ein aber .. und ich so ja und er dann ich habe noch nie seit ich Lehrer bin ein Schüler gehabt den ich so gern gehabt habe wie dich..und nachher und dort bin ich ganz durch gewesen und dann weiß ich noch habe ich ihm gesagt gehabt irgendwie so..ja bin ich jetzt ein Arschloch.. oder hast du mich gerne gehabt..und er so ja du bist ein Arschloch aber ich habe dich gern gehabt ((lacht)) ja merci vielmal und er so aber hat es irgendwie schon positiv im Sinne gemeint (aber) also quasi halt wie er sagt anstrengend und.. er hat immer sagen müssen jetzt mach einmal deine Hausaufgaben..jetzt lern doch einmal (2013a: 1123 - 1133)

Diese ambivalente Situation in der Schule, zwischen Naturtalent und auffälligem Verhalten, zeigt sich auch im Vergleich der erlebten und erzählten Lebensgeschichte. Im Gegensatz zu seiner Darstellung als guter Schüler zeigen die biographischen Daten, dass Clirim für die neunjährige obligatorische Schuljahrzeit insgesamt elf Jahre benötigt. Er ist beim Schulabschluss 18 Jahre alt und damit zwei bis drei Jahre älter als seine Mitschüler_innen. Diese lange Schulzeit deutet darauf hin, dass er nebst der wiederholten Sekundarschulprüfung noch weitere Schuljahre wiederholen musste. Gründe dafür, können sowohl sein Verhalten, als auch die fehlende Unterstützung durch seine Eltern sein, da beide berufstätig sind. Ferner können auch Diskriminierungsprozesse aufgrund seiner Herkunft eine wichtige Rolle spielen. In Rheinfelden beginnt Clirim das Jugendzentrum zu besuchen. Auch an diesem Beispiel zeigt er auf, dass er als Jugendlicher machen konnte, was er wollte und zunehmend beginnt, sich gegen die Autorität des Vaters zu widersetzen resp. dessen Anweisungen nicht zu befolgen. Clirim: dann sind wir halt auf Rheinfelden dann hat es angefangen älter geworden mehr Kollegen Jugendtreff..ein wenig in Ausgang..der Vater hat gesagt bis um elf Uhr man ist irgendwie um 12 Uhr nachhause gekommen und ((lacht)) (2013a: 95 - 98)

 

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Ethnizität als Spannungsfeld Clirim stellt dar, dass im Zusammenhang mit dem Umzug nach Rheinfelden auch die albanische Sprache in der Familie an Bedeutung gewinnt, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: wo wir nach Rheinfelden umgezogen sind da bin ich dann in die 6. Klasse hinein gekommen haben wir auch angefangen in die albanische Schule zu gehen aber schreiben lesen ein bisschen Historie von uns und all so Sachen jetzt nicht großartig..Hauptsache dass deine Sprache nicht vergisst (2013a: 78 - 81)

Clirim weist damit auf die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit in Verbindung mit der Albanischen Sprache hin und bringt diese in Zusammenhang mit den Bemühungen seiner Eltern, die ethnische Zugehörigkeit an die Kinder weiterzugeben. Clirim: vor allem wenn albanische Sänger oder so gekommen sind vom Kosovo in die Schweiz sind wir manchmal huere weit mit dem Auto hat er die ganze Familie mit dem Auto dorthin gebracht (2) immer halt (Ideen) Kultur und unser Zeug nicht vergessen und so (1) sind wir jeweils so albanische Musik mit der Familie und so (2013a: 75 - 78)

Dabei stellt er Ethnizität als Abgrenzungsbemühungen dar, sich von den später zugezogenen albanischen Jugendlichen zu distanzieren, die er als Problemfälle bezeichnet, wie folgendes Zitat illustriert. Clirim: alles Problemfälle gewesen die sind dann auf die Schweizer los und ich habe diese irgendwie in der Klasse gehabt (die das irgendwie haben mögen) aus dem gleichen Dorf wie ich von da oder irgendwie ein Cousin vom Verwandten und hast halt gleichwohl für die Dasein müssen und ich immer so zwischendrin oder..ich habe es eigentlich immer (geschafft) weil eigentlich immer haben die Shippis ((Albaner)) Respekt von mir gehabt.. das habe ich auch gelernt als ich dann dazumals im Jugendtreff gearbeitet habe die sind vielleicht zwei Jahre älter gewesen als ich..und wenn ich gesagt habe so jetzt ist Ruhe dann ist auch Ruhe gewesen (2013a: 597 - 603)

Zugleich erwähnt Clirim in obenstehendem Zitat auch, dass er andere Albaner unterstützen muss, da es sich um entfernte Verwandte handelt. Er zeigt damit auf, dass er in seiner Jugendzeit ethnische Zugehörigkeit als Spannungsfeld erlebt zwischen Abgrenzung und familialer Zugehörigkeit. In der folgenden Erzählung stellt er „die Albaner“ und „die Schweizer“ als auch räumlich getrennte

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Gruppen dar: die Albaner sind vor allem im Jugendtreff, die Schweizer in Bars. Clirim zeigt auf, dass er sich in beiden Gruppierungen bewegt. Clirim: ich meine du hast die Albaner gehabt und die Jugos und (da) ist in den Jugendtreff gekommen wenn ein Schweizer im Jugendtreff das haben sie sich nicht vorstellen können die haben immer gemeint du gehst hinein und wirst massakriert oder weiß auch nicht was ((I: atmet tief durch))..es ist wirklich so krass gewesen //mhm//aber ich bin auch viel durch die Schweizer Kollegen von der Schule bin ich in Schweizer Bars drinnen gewesen..und dann haben mir die Albaner gesagt leck wie kannst du nur so in eine scheiß Bar hinein gehen wo nur Bauern hängen..weißt du..die haben es von Anfang an ist es so gewesen die Schweizer haben nachher auch nicht groß mit denen zu tun haben wollen (2013a: 689 - 696)

Einstieg ins Erwerbsleben Nach dem Abschluss der obligatorischen Schulzeit beginnt Clirim wie sein Vater in der Kartonfabrik Swisswell zu arbeiten. Wie seine ältere Schwester Blerina absolviert er keine Ausbildung, obwohl er im Gegensatz zu ihr die Sekundarschule besucht hat und sich ihm dadurch mehr Möglichkeiten für weiterführende Schulen oder Ausbildungen bieten. Anhand der Aussage seines Lehrers zeigt er auf, dass er die Kompetenz für eine Ausbildung gehabt hätte und begründet den direkten Einstieg ins Erwerbslaben mit fehlendem Interesse, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: er hat mir halt immer gesagt ich finde es schade dass du das was du kannst und deine Gescheitheit ((Intelligenz)) und deine Kapazität und so einfach nicht ausnutzen willst..und ich weiß nicht für mich damals ist es irgendwie (1) (werken) und so Sachen sind für mich irgendwie..zu schade gewesen irgendwie gewesen mit der Sekschule ((Sekundarschule)) irgendwie Büro KV ((Kaufmännische Ausbildung)) irgendwie machen wollen weil damals irgendwie wo KV..das ist jetzt auch nicht weiß Gott was..habe ich mir immer gesagt ich bin nicht einer der der Non-Stopp im Büro sitzen kann (2013a: 11331139)

Clirim erwähnt als Alternative zum direkten Einstieg ins Erwerbsleben nur die Möglichkeit einer kaufmännischen Ausbildung. Indem Clirim sagt, dass er keine Lehrstelle sucht, vermeidet er eine Thematisierung von möglichen Schwierigkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Ausbildung. Auch den Besuch einer weiterführenden Schule schließt Clirim aus und zeigt damit auf, dass er keine Bildungsaspiration verfolgt wie folgendes Zitat zeigt.

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Clirim: ich habe mir immer gesagt KV Lehre..acht Stunden lang vor dem PC sitzen..he das bin nicht ich..irgendwie das nicht dies nicht weiter in die Schule habe ich sowieso nicht wollen.. und dann.. bin ich halt arbeiten gegangen (2013a:1143 - 1145)

Diese Aussage weist darauf hin, dass er kaum über Kenntnisse des schweizerischen Berufsbildungssystems und Ausbildungsmöglichkeiten verfügt. Er erwähnt, dass er als einziger der Klasse keine Ausbildung absolviert und zeigt damit auf, dass es ungewöhnlich ist, keine Ausbildung (Lehre) zu absolvieren. Clirim: und ich bin der Einzige von der Klasse gewesen der keine Lehre gemacht hat und irgendwie schon arbeiten gegangen in die Firma Swisswell (2013a: 1117 - 1119)

Da er zuvor thematisiert hat, dass er der einzige Ausländer in der Klasse ist, stellt sich hier die Frage, inwiefern der Ausländerstatus bedeutend ist für die fehlende Ausbildung. Studien weisen darauf hin, dass ausländische Jugendliche, insbesondere auch Personen aus dem ehemaligen Jugoslawien mit vermutlich schlechten Abschlussnoten, Schwierigkeiten haben, eine geeignete Ausbildung zu finden (Haeberlin et al.: 2004: 10). Diese Studien weisen zudem darauf hin, dass fehlende Beziehungsnetze mit ein Grund für die Benachteiligung von ausländischen Jugendlichen bei der Lehrstellensuche sind (ibid.: 23). Dies trifft vermutlich auch auf Clirim zu, der schlussendlich dort zu arbeiten beginnt, wo bereits sein Vater und weitere Verwandte beschäftigt sind. Clirim: dann nach der Sekundarschule ich bin ja 1999 fertig geworden mit der Schule.. bin ich direkt arbeiten gegangen..ja habe keine Lehre gesucht nichts.. wollte arbeiten gehen bin ich in dieselbe Firma wie der Vater auch bei Swisswell (2012: 276 - 278)

Damit zeigt sich die Weitergabe des väterlichen Status als unqualifizierter Arbeiter in der Schweiz an Clirim. Clirim tritt somit in die Fussstapfen seines Vaters und trägt mit 18 Jahren zum Familieneinkommen bei. Der Einstieg ins Erwerbsleben führt damit nicht zu einer Ablösung von der Familie, sondern zu einer zumindest räumlichen Annäherung an seinen Vater, da er nun am selben Ort wie dieser arbeitet. Migration der Familie in den Kosovo Ein Jahr später im Jahr 2000 verlässt die Mutter mit den jüngsten beiden Geschwistern, Donika und Egzon, die Schweiz und zieht nach Prizren. Clirim bleibt mit dem Vater und der älteren Schwester Blerina in derselben Wohnung in der

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Schweiz. Blerina übernimmt die Haushaltsarbeiten. Clirim stellt dar, dass es seine Entscheidung ist, in der Schweiz zu bleiben. Clirim: als meine Familie zurück gekommen ist bin ich knapp 19 Jahre alt gewesen und das ist für mich unvorstellbar gewesen.. weil 1. Prizren habe ich hinten und vorne nicht gekannt oder gar nicht.. es ist für mich ganz etwas Fremdes gewesen.. und ich habe gewusst ich habe da keine Familie ich habe keine Kollegen kein gar nichts habe ich nur gedacht nein du das ist nichts für mich also.. das habe ich mir nicht zugetraut und habe ich auch nicht wollen und dann habe ich auch den Eltern auch gesagt ich komme nicht.. auf keinen Fall (2012: 289 - 294)

Damit zeigt er auf, dass seine Entscheidungen von der Familie respektiert werden. Zwei Jahre später verlässt auch der Vater die Schweiz und zieht zur Mutter und den jüngeren Geschwistern nach Prizren. Im selben Jahr findet die Heirat der Schwester Blerina im Kosovo statt, welche nach der Heirat aus der Eigentumswohnung in Rheinfelden auszieht und sich mit ihrer neu gegründeten Kernfamilie in eine kleinere Mietwohnung im selben Ort niederlässt. Clirim ist damit der einzige der Familie, der unverheiratet in der Schweiz in der 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung der Familie bleibt. Diese Situation wird von keinem der Familienmitglieder thematisiert. Dies deutet auf die Bedeutung patrilokaler Familiennormen hin, nach denen Familiengüter nur an die männlichen Familienmitglieder vererbt werden. Clirim nennt die Abwesenheit beider Eltern und Geschwister als ambivalente Situation. Einerseits stellt er dar, dass er dadurch neue Freiheit hat wie folgendes Zitat illustriert. Clirim: mit 18 sind die ja retour da bin ich eh alleine gewesen da habe ich machen können was ich wollte (2013a: 98 - 99)

Andererseits bezeichnet er das Leben alleine in Abwesenheit der Eltern auch als „schlimm“. Er veranschaulicht dies am Beispiel der Übernahme von Haushaltsarbeiten, wie im folgenden Zitat sichtbar ist. Er präsentiert die bisherige geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie Clirim: also die schlimmste Zeit ist schon am Anfang gewesen als sie zurück gekommen sind weil es ist.. bin auf einmal alleine gewesen und so lange mein Vater noch in der Schweiz gewesen ist hat er sich um alles gekümmert und so und dann habe ich anfangen müssen alles selbst zu machen selber kochen selber aufräumen es hat eine Zeit gebraucht bis ich alles gelernt habe und hinein gekommen bin ins alleine leben (2012: 465 - 469)

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Wie folgendes Zitat illustriert, sucht er in dieser Situation Rückhalt bei seinen Schwestern und bei seinem Onkel und zeigt damit die zentrale die Bedeutung der erweiterten Familie nach dem Wegzug seiner Eltern auf. Clirim: es ist halt irgendwie gegangen weil ich habe ja Arbresha und die Blerina gehabt und meine Tante mein Onkel.. vom Onkel mütterlicherseits die Söhne sind dort gewesen.. habe ich doch ein etwas engeren Familienkreis um mich gehabt..und dann bin ich halt viel meistens unter der Woche in der Familie mal bei der Schwester mal beim Onkel und am Wochenende in den Ausgang (2012: 370 - 374)

Loyalitätskonflikt Clirim arbeitet in den ersten Jahren nach der Emigration seines Vaters in derselben Firma weiter. Er präsentiert seine guten Leistungen, die dazu führen, dass ihm die Stelle als Vorarbeiter vorgeschlagen wird. Diesen beruflichen Aufstieg lehnt er jedoch ab, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: bin sehr weit hinauf gekommen bis ich irgendwann selber keinen Bock gehabt habe weil viele meine Eltern viele von der Firma Swisswell sagen immer so ja Clirim du hättest Vorarbeiter werden können du hättest Betriebs- vom Betriebsleiter irgendwie nachher Stellvertreter hättest du irgendwie können..die Firma Swisswell hätte mir sogar die Schule bezahlen wollen für das..und Vorarbeiter haben sie mich einfach so machen wollen und ich habe das dann nicht wollen (2013a: 1156 - 1161

Er thematisiert hier das Spannungsfeld zwischen dem Erfüllen elterlicher Erwartungen und dem Respekt von Verwandten. Einerseits stellt er dar, dass er diese Entscheidung entgegen den elterlichen Erwartungen getroffen hat. Das Ausschlagen dieses Angebotes begründet er mit der Anwesenheit seiner Verwandten in dieser Firma in unteren beruflichen Positionen. Clirim: haben sie das Gefühl ich kann zu meinem Onkel zum Bruder meines Vaters der hat ja auch dort gearbeitet und ihn zwingen dass er länger bleibt oder am Samstag arbeiten kommt und ich so der klatscht ((Ohrfeige)) mir eine ((alle lachen)) und dann weiß ich noch hat der (Bub) zu mir gesagt gehabt ja dass kann er nicht machen dann zeigst du ihn an und ich so ich könnte ihn schon anzeigen dass er mir eine geklatscht hat haben sie das Gefühl ich getraue mich dann nach Hause zu gehen ((lachen)) mein Vater würde mich killen dass ich den Onkel anzeige ((alle lachen)) ich habe ihm dann gesagt ich kann das nicht ich kann das nicht weil..auch aus Respekt (2013a: 1166 - 1173)

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Clirim nennt diesen Loyalitätskonflikt gegenüber seinen Verwandten erst im zweiten Gespräch, bei dem seine Eltern nicht anwesend sind. Dies weist darauf hin, dass er diese Entscheidung gegen den Willen seines Vaters getroffen hat, der von ihm einen beruflichen Aufstieg erwartet. Dies zeigt sich auch im folgenden Zitat, in dem Clirim einen Zusammenhang herstellt zwischen der ethnischen Zugehörigkeit und der väterlichen Erwartung am beruflichen Aufstieg. Clirim: habe ich es nicht gemacht (dann) mein Vater ist wütend geworden und huere viel in der Firma..he wieso nicht der erste Albaner der rauf kommt und so (weißt du) (2013a: 1178 - 1180)

Clirim spricht damit die Vorurteile an, die die „Albaner“ in Verbindung bringen mit einem tiefen sozialen Status. Er thematisiert, dass sein Vater vom ihm erwartet, durch beruflichen Erfolg diesen Zusammenhang zu widerlegen. Durch das Nicht-Erfüllen dieser väterlichen Erwartungen gerät er in eine Krise, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: ich so ich möchte das nicht Mann das bin nicht ich (ein paar) jetzt noch..und dann ist ja nicht lange gegangen und dann ist mir alles auf den Kopf gefallen und dann bin ich (_______) hat mich die ganze Zeit gestresst mit dem Zeug (2013a: 1180 - 1183)

Clirim thematisiert diese Krise erst im zweiten Interview. Damit zeigt sich, dass er in Anwesenheit der Eltern vermeidet, den verpassten beruflichen Aufstieg in der Schweiz zu thematisieren. Partytime als „Junggeselle“ Clirim ist 24 Jahre alt, wohnt alleine und ist arbeitslos. Er stellt dar, dass er beginnt, sich in dieser Krise für Ausgang und Partys zu interessieren. Der Abbruch des begonnenen beruflichen Aufstieges und die damit verbundene Krise führen zu einer Orientierung an Gleichaltrigen. Dies weist darauf hin, dass Clirim einen Ablösungsprozess vom Elternhaus erlebt, der gemäß Böhnisch zu „der Suche nach neuen personalen und sozialen Orientierungen außerhalb der Herkunftsfamilie“ (Böhnisch 2008: 156) 32 führt. Diese Suche führt bei Clirim zu einer Ablehnung der Orientierung an Erwerbsarbeit und sozialem Aufstieg, die er in Verbindung bringt mit elterlichen Erwartungen. Dies zeigt sich in folgendem Zitat,

                                                             32 Gemäß Böhnisch (2008: 156) trifft die Gleichaltrigenorientierung für einen Großteil der späteren Kindheit und Jugend zu und wird im sozialwissenschaftlichen Sprachgebrauch auch mit dem Begriff „peer-group“ erfasst.

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in dem Clirim diese Zeit nicht als Krise, sondern als seine schönste Zeit bezeichnet, in der er sich dafür entschieden hat, das Leben mit seinen Kollegen zu genießen. Clirim: und halt die schönste Zeit als Junggeselle ist wirklich dort wo ich nach 6.5 Jahren aus Swisswell heraus bin und dann habe ich über ein Jahr gar nicht arbeiten wollen.. und so und jetzt habe ich wirklich sozusagen mein Leben gelebt in dieser Zeit bin ich im Ausgang gewesen feiern gegangen und habe viele Kollegen gehabt die in einer Band gewesen sind da sind wir viel herum gekommen und.. weil das ist wirklich auch die schönste Zeit gewesen als Junggeselle da habe ich viel gesehen und erlebt (2012: 455 - 459)

Er bringt im ersten Interview diese Zeit in Zusammenhang mit der Bezeichnung als Junggeselle und begründet damit diese Zeit mit der Rolle als lediger Mann ohne Verantwortung für eine Familie. Damit gelingt es ihm, diese Zeit der Arbeitslosigkeit zu thematisieren, ohne familiale Geschlechternormen in Frage zu stellen, gemäß denen die Erwerbsarbeit der Männer in Zusammenhang steht mit deren Rolle als Familienernährer. Dies zeigt sich im folgenden Zitat des zweiten Interviews, in dem er aufzeigt, dass diese Zeit der Arbeitslosigkeit und der Partys nicht kompatibel wäre mit dem Status eines verheirateten Mannes. Clirim: habe ich einfach nur Party machen wollen..die Eltern sind hier und dort ist die Zeit gewesen als ich mir gesagt habe..so Clirim jetzt muss du durchziehen einfach das Leben genießen..weil ich habe gewusst irgendwann kommt heiraten und so und ich so ich möchte das nicht machen nachdem ich geheiratet habe (2013a: 1195 - 1199)

Die Krise und Schwierigkeiten, die er in dieser Zeit antrifft, werden erst ersichtlich durch die Gespräche mit seinen älteren Schwestern. Sie stellen beide unabhängig voneinander dar, dass Clirim die eigene Wohnung nicht mehr bezahlen kann und vorübergehend bei den Schwestern lebt und auf deren Kinder aufpasst. Damit fällt auf, dass sich Clirim immer wieder als erfolgreich präsentiert, auch in Momenten der Krise. Die lange Schulzeit, keine Ausbildung, der Verlust der Erwerbsarbeit und die zweijährige Arbeitslosigkeit stellt er stets als selbstgetroffene Entscheidungen dar. Ihm gelingt es dadurch, sich als jemanden darzustellen, dem sich viele Möglichkeiten bieten, obwohl die berufliche wie ökonomische Situation als ungelernter, arbeitsloser, ausländischer junger Mann zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz schwierig ist.

 

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Hin und Her zwischen dem Kosovo und der Schweiz Clirim lernt mit ungefähr 25 Jahren im Kosovo eine Frau kennen und verlobt sich ein Jahr später mit ihr. Er beschreibt die Rolle seines Cousins als zentral beim Kennenlernen seiner künftigen Ehefrau und zeigt damit auf, dass die Verlobung auch im Zusammenhang steht mit familialen Interessen. Clirim: und dann in dieser Zeit habe ich auch meine Frau hier kennengelernt..//I:mh// so durch einen Cousin.. über ein Jahr lang sind wir in Kontakt gewesen miteinander haben einander immer wieder geschrieben bin ich runter gekommen und.. dann irgendwann sind wir halt einverstanden gewesen und dann haben wir uns verlobt (2012: 283 - 286)

Die Darstellung des „Einverstanden-seins“ steht im Gegensatz zu früheren Entscheidungen, bei denen Clirim stets betont hat, dass es sich um seine eigenen Interessen handelt. Dies deutet darauf hin, dass die Entscheidung der Verlobung in Zusammenhang steht mit der Erfüllung familialer Erwartungen. Wie folgendes Zitat zeigt führt die Verlobung zu einem Hin und Her zwischen der Verlobten im Kosovo und seinem Wohnort in der Schweiz: Clirim: das ist die Zeit gewesen wo ich auch angefangen habe.. wo ich immer so etwas hin und her habe nicht gewusst wo.. wie soll ich kommen soll ich nicht kommen soll ich schw- soll ich die Frau rauf holen oder gehen (2012: 286 - 289)

Die Verlobung ist damit auch ein Entscheid zwischen der Erfüllung familialer Erwartungen im Kosovo, verbunden mit Familiengründung und Verantwortung als künftiger Ehemann und Familienvater, und einem unabhängigen Leben in der Schweiz als junger lediger Mann. Das Hin und Her verbindet Clirim mit einem Zwiespalt zwischen einem selbständigen Leben in der Schweiz und einem Leben in der Familie im Kosovo. Clirim: und dann als ich mich mit der Frau verlobt habe hat es angefangen bin ich immer wiedermal dort- und dann wieder dort und das hat halt so auch nicht funktioniert dann wieder zwei drei Monate irgendwo gearbeitet und dann habe ich es wieder sein gelassen.. bin runter gekommen ein paar Monate bin ich wieder rauf.. und das ist immer so ein Zwiespalt gewesen ja und nicht gewusst soll ich meine Frau rauf nehmen..//I:mh// dort leben.. oder da runter kommen (2012: 295 - 300)

Dies zeigt sich daran, dass Clirim nicht die Frage der Heirat, sondern die Frage des künftigen Lebensmittelpunktes als zwiespältig erlebt. Da Clirim nun wieder in der „ich“ Form erzählt, stellt er dar, dass er im Gegensatz zu der Verlobung

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den Entscheid über den künftigen Lebensmittelpunkt selbst treffen kann und nicht von der Familie beeinflusst wird. Zugleich erwähnt er auch, dass die Suche einer Erwerbsarbeit in Zusammenhang steht mit der Frage nach dem künftigen Lebensmittelpunkt. Clirim: obwohl die Schwester hier schon am Arbeiten gewesen ist der Bruder in der Schule und so.. es ist jetzt nicht die Angst gewesen dass ich hier nicht überlebe oder so und meine Frau ist auch am Arbeiten gewesen (2012:300 - 302)

Er berichtet, dass er durch dieses Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz seine Arbeitsstellen in der Schweiz nach wenigen Monaten immer wieder verlässt. Clirim präsentiert diese temporäre Erwerbsarbeit in der Schweiz als eigene Entscheidung und erwähnt auch eine Erwerbstätigkeit im Kosovo als Möglichkeit, trotz einer Arbeitslosenquote im Kosovo von über 40 %, da dort auch seine Schwestern und seine Verlobte Arbeit gefunden haben. Er stellt damit im ersten Interview in Anwesenheit seiner Eltern dar, dass er sowohl im Kosovo wie auch in der Schweiz Aussichten auf Erwerbsarbeit hat und seine Entscheidung der Migration in den Kosovo nicht davon abhängt. Im Gegensatz dazu schildert Clirim im zweiten Interview ausführlich seine Bemühungen, in der Schweiz eine Arbeit zu finden. Er stellt die Arbeitssuche in der Schweiz einerseits als Notwendigkeit dar, um den Anspruch auf Arbeitslosengeld nicht zu verlieren. Andererseits will er damit seinem Kollegenkreis zeigen, dass er auch ohne Ausbildung eine Arbeit finden kann. Clirim: im letzten Monat bevor das RAV fertig gewesen ist..habe ich ja etwas machen müssen weil..habe ich mir so überlegt ja s- wieder in eine Firma und ich so nein Mann..und dann ist so die Zeit gekommen als ich irgendwie halt quasi Manager von den Bands und alle so ohh..gesagt jetzt muss ich was machen das..dass die Albaner vor allem sagen he..weil alle haben immer gesagt so gescheid ((intelligent)) in der Schule und es versaut du hast nichts gemacht (2013a: 1199 - 1205)

Als zentrale Referenzgruppe nennt er die „Albaner. Da Clirim nie von Albanerinnen spricht, präsentiert er als zentrale Referenzgruppe ausschließlich männliche Kollegen, was auf eine geschlechtsspezifische Orientierung von Erwerbsarbeit hinweist. Clirim stellt dabei dar, wie wichtig ihm die Anerkennung der anderen ist. An dieser Stelle wird ersichtlich, dass ihm die Anerkennung, die er als „Manager“ erhält, nicht genügt und er den anderen beweisen will, dass er beruflich etwas erreichen kann. Dies weist darauf hin, dass er sich über Erwerbsarbeit zu identifizieren versucht und sich damit auch den elterlichen Erwartungen wie-

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der annähert. Er schildert ausführlich, wie er eine Arbeitsstelle in einem Einrichtungshaus findet. Clirim: bin ich Verkäufer gewesen weißes Hemd schwarze Hosen schwarze Schuhe..und dort..um es nicht zu übertreiben 70% von den Albaner von Rheinfelden und Umgebung sind extra in Lipo gefahren..weil keine Sau mir geglaubt hat dass ich Verkäufer jetzt dort bin weil..ohne Lehre im Verkauf gibt es nicht..sind sie extra schauen gekommen ob es wirklich so ist oder ob ich nur gelogen habe..und quasi nur im Depot oder irgendwie so arbeite..und ich habe es gemerkt weil..die sind..der Eingang ist gewesen die Kasse und meine Teppich Abteilung weil sie haben jeden Mensch gesehen der reinkommt..die sind hinein gekommen..haben mich gesehen irgendwie voll geil wie hast du das geschafft und ich so Köpfchen halt oder..und so sind sie wieder aus der Kasse raus..das heißt sie sind nicht lädelen gekommen und haben vergessen was sie kaufen wollten das ist viel logisch gewesen die sind gekommen zum Schauen stimmt es oder stimmt es nicht (2013a: 1245 1255)

Er stellt diese Arbeitsstelle im Einrichtungshaus „Lipo“ (preisgünstiges Einrichtungshaus) als Erfolg dar, welcher ihm bei den anderen Albanern Anerkennung bringt, obwohl es sich dabei um eine wenig qualifizierte Erwerbsarbeit im Tieflohnsektor handelt. Der berufliche Einstieg gelingt Clirim in der Schweiz nur in einem prekären Arbeitsmarktsektor. Clirim ist nun 27 Jahre alt und seit mehr als einem Jahr verlobt, als er eine Arbeit gefunden hat und damit über festes Einkommen verfügt. Er heiratet kurz nachdem er die neue Arbeitsstelle gefunden hat. Dies weist darauf hin, dass seine Bemühungen um eine feste Arbeitsstelle in der Schweiz in Verbindung stehen mit der geplanten Heirat und der Übernahme der künftigen Rolle als Ehemann. Clirim stellt dar, dass er einerseits immer noch unentschlossen ist in Bezug auf den künftigen Wohnort, anderseits zeigt er auch auf, dass er diese Arbeitsstelle nicht verlassen möchte wie in folgendem Zitat sichtbar ist. Clirim: ich habe gewusst ich werde heiraten..und ich habe mich ja nachher verlobt..ich habe gewusst ich werde heiraten..aber ich habe ja nicht gewusst komme ich zurück oder nehme ich meine Frau hinauf..habe eigentlich dort weiterarbeiten wollen (2013a: 1257 1259)

Clirim berichtet, dass er aufgrund der Heirat im Kosovo seine Arbeitsstelle in der Schweiz erneut verliert, da der Arbeitgeber kein Verständnis zeigt für seine Abwesenheit aufgrund der Hochzeit. In folgendem Zitat stellt er dar, dass er den

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Verlust der Arbeit bewusst in Kauf genommen hat, weil für ihn die geplante und teure Hochzeit wichtiger ist als der Erhalt der Arbeitsstelle. Clirim: im Mai hinein sagt mir dann der Direktor also Sommerferien kannst du vergessen du kannst sie jetzt nehmen und ich so hallo gehts noch ich so ich werde heiraten weißt du und ich so schon alles geplant alles gebucht und so weißt du und so das interessiert mich nicht jetzt Ferien und ich so ja sicher kein Problem bin ich in die Ferien hätte ich nach zwei Wochen zurück müssen ich bin irgendwie nach einem Monat gegangen..und ich so die fristlose Kündigung bereits in der Post ((lacht)) dann hat mich halt das RAV gestraft selber Schuld..zuerst drei Monate und dann habe ich es aber am RAV erklärt und ich so dass ist mir egal ich gehe vor das Arbeitsgericht und ich so der hat mich nach Strich und Faden verarscht wieso..ich wieso ich so zu denen wir Albaner machen riesen Hochzeiten und ich so haben sie das Gefühl ich verliere fünfzehntausend Franken nur weil der das Gefühl hat er müsse mir nun die Ferien nicht geben (2013a:1260 - 1270)

Er begründet die Priorisierung der Hochzeit mit der ethnischen Zugehörigkeit „wir Albaner“. Dies deutet darauf hin, dass die ethnische Zugehörigkeit bei der Wahl der künftigen Ehepartnerin bedeutend war. Ähnlich wie bereits beim Verzicht auf die Stelle des Vorarbeiters stellt Clirim dar, dass bei seiner Entscheidung die berufliche und finanzielle Zukunft keine Rolle spielt. Nach der Hochzeit im Kosovo reist Clirim erneut in die Schweiz und meldet sich arbeitslos. Er zeigt damit auf, dass er auch nach der Hochzeit und trotz der erneuten Arbeitslosigkeit sich nach wie vor nicht zwischen einer Migration in den Kosovo oder einem Verbleib in der Schweiz entscheiden kann. Die ausführliche Thematisierung des Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz erläutert Clirim nur im zweiten Interview. Er vermeidet gegenüber seinen Eltern aufzuzeigen, dass seine Entscheidung für eine Migration in den Kosovo ein lang andauernder Prozess ist, verbunden mit den erfolglosen Bemühungen, in der Schweiz eine dauerhafte Arbeitsstelle zu finden. Migration in den Kosovo Im Jahr 2010 wird die Ehefrau von Clirim im Kosovo schwanger. Clirim präsentiert die Schwangerschaft seiner Frau als Grund, der ihn veranlasste, in den Kosovo zu ziehen. Er stellt in folgendem Zitat dar, dass er dort bei der Kinderbetreuung auf die Unterstützung seiner Eltern zählen kann. Clirim: dann ist mein Frau schwanger geworden und dann habe ich mir gesagt nein ich gehe zurück..und zwar nur weil ich weiß wie es halt in der Schweiz ist..am Morgen früh aufstehen und das Kind einem Fremden in die Hand drücken und habe ich gesagt für mich

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nicht da sind meine Eltern und mein Kind ist zu Hause und ja..seit dann bin ich halt da (2013a: 1272 - 1276)

Er stellt, wie bereits sein Vater, die Migration in den Kosovo als Rückkehr dar, obwohl er zuvor im Zusammenhang mit der Migration seiner Eltern betont hat, dass ihm dieses Land fremd ist. Da nun seine Eltern und die jüngeren Geschwister im Kosovo leben, stellt diese Migration eine Rückkehr zu seiner Kernfamilie dar. Dies weist darauf hin, dass mit der Migration in den Kosovo die Familie zum zentralen Bezugspunkt in seinem Leben wird und zugleich sein selbständiges Leben unabhängig von der Familie ein Ende findet. Im Zusammenhang mit der Familiengründung und der Migration in den Kosovo gewinnt nun auch das Thema Erwerbsarbeit an Bedeutung, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: ich bin gekommen und nach einer Woche habe ich bereits eine Arbeit gehabt..//I: ja// oder.. schon gerade angefangen integrieren und alles..weil wenn ich jetzt da noch Monatelang keinen Job gefunden hätte und nein und.. dann verlierst du schnell die Lust und denkst ja es läuft nichts und hat nichts und..und das ist bei mir aber nicht der Fall gewesen..ich habe sofort guten Job gefunden mit gutem Lohn und.. im Moment ziemlich von Anfang an gut funktioniert (2012: 422 - 427)

Clirim stellt damit eine Verbindung her zwischen der Migration in den Kosovo, der Übernahme der Rolle als Familienvater und dem Interesse an einer Erwerbsarbeit. Er begründet mit der Übernahme der Rolle als Familienvater das Ende des selbstbestimmten Lebens als Junggeselle in der Schweiz und dem anschließenden Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz. Beruflicher Erfolg im Kosovo Trotz einer hohen Arbeitslosigkeit findet Clirim kurz nach seiner Migration im Kosovo eine Arbeit als Sicherheitsbeauftragter in derselben Firma, in der seine Schwester Donika in der Administration arbeitet. Etwa ein Jahr später wechselt er gemeinsam mit seiner Schwester in eine andere Firma etwas außerhalb von Prizren. Clirim präsentiert diese Firma als renommierte internationale Unternehmung und betont damit seinen beruflichen Erfolg. Er begründet diesen Erfolg mit den Arbeitserfahrungen in der Schweiz, wie folgendes Zitat illustriert. Clirim: habe dort einen Schweizer kennengelernt der eine Firma aufgemacht wo ich jetzt am Arbeiten bin..das ist die erste große Firma gewesen hier..da im Balkan also richtige internationale Firma sage ich halt mal..bin mit dem ins Gespräch gekommen hat mich so ein wenig ausgefragt und habe ihm alles erzählt und ich habe gedacht ja er ist so ein Kun-

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de..dann so ja und dann hat er irgend mal gefragt hast du Lust heute Nachmittag dort und dort irgendwann vorbeizukommen..ich bin da an einer Firmeneröffnung dran..dann sind wir reden gegangen.. hat er mich nehmen wollen also .. mir reicht es schon dass du in der Schweiz gearbeitet hast ich weiß du hast Arbeitsmoral und Pünktlichkeit und das Zeug.. das hast du mittlerweile sicher Intus..dann hab ich dort angefangen (2012: 319 - 326)

Er berichtet, dass er seine Arbeitserfahrungen in der Schweiz nutzen konnte, um im Kosovo beruflich erfolgreich zu sein. Er stuft diese Arbeitserfahrungen als nützlicher ein als einen höheren Bildungsabschluss, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: wir haben beide ziemlich schnell eh..bei denen ein hohes Ansehen erreicht obwohl wir beide keine Fakultät haben..wir haben Kellner die zwei Fakultäten haben und arbeiten als Kellner..//I:mh// aber bei uns ist es halt so gewesen die wissen bei uns sind von der Schweiz sie sind anders drauf von der Arbeitsmoral..wir müssen wirklich beide nicht in die Schule wir haben so ein ..krasses logisches Denken wir beide //I:mh//..wir kapieren Sachen einfach brutal schnell (2012: 890 - 894)

Damit stellt er dar, dass er durch seinen beruflichen Erfolg im Kosovo die fehlende Ausbildung in der Schweiz kompensieren kann. Diese Darstellung im ersten Interview in Anwesenheit seines Vaters weist darauf hin, dass er mit dem beruflichen Erfolg väterliche Erwartungen erfüllen kann. Im zweiten Interview bringt Clirim den beruflichen Erfolg in Zusammenhang mit der Suche nach Anerkennung von seinem Kollegenkreis. Wie bereits bei der Arbeitsstelle im Einrichtungshaus in der Schweiz stellt er dar, dass seine Kollegen ihm diesen beruflichen Erfolg nicht zutrauen. Clirim: und so alle in der Schweiz oh wow der Clirim ist Manager in einer internationalen Firma..hat alle angeschießen..ich sehe es weil jedes Mal wenn irgendwie Verwandte oder so kommen der Kollegen und ich fange an zu erzählen sagen sie mir so ja: es ist gut komm weißt du..weil die arbeiten immer noch in Budenen und ich bin..weil alle haben erwartet dass ich eh..dass ich es nicht schaffe im Kosovo..und jetzt habe ich es denen gezeigt und jetzt..scheißt es diese ein wenig an (2013a: 1280 - 1286)

Fragen der Zugehörigkeit Nebst dem beruflichen Erfolg bringt Clirim auch das Thema der Sprache in Zusammenhang mit Fragen der Zugehörigkeit und Anerkennung. Er präsentiert sich dabei anhand von sprachlichen Differenzen als Außenseiter im Kosovo und begründet dies mit der Herkunft seiner Familie aus Südserbien.

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Clirim: Die Sprache ist ich merke es ja auch bei mir kommen sie auch immer wieder und fangen an lachen ah hehe ..sage ich du ich bin von Bujanovac verstehst du es ja also..sage ich immer so (2012: 927 - 928)

Er stellt damit anhand der Sprache Unterschiede dar zwischen der Bevölkerung in seinem Herkunftsdorf und der Bevölkerung im Kosovo. Er zeigt auf, dass er diese Unterschiede aufrechterhält, indem er seine gefühlte Zugehörigkeit zum Herkunftsdorf der Familie betont. Clirim: es kommt täglich vor da sagst du wieder irgend einen Spruch weil ..ich verlerne einfach das Bujanovacische Albanisch nicht..ich bin gerne in Prizren hier aber wenn mich jemand fragt woher ich komme sage ich von Bujanovac..eh das werde ich immer sagen..weil..die wissen meine Eltern wissen auch wenn ich auf Bujanovac gehe.. dann fühle ich mich..wie im Himmel //I: mh//.. weil das ist einfach irgendwie..mein Boden (2012: 968 - 972)

Seine Außenseiterposition präsentiert Clirim auch anhand des fehlenden Freundes- und Bekanntenkreises. Er stellt dar, dass er zu Beginn im Kosovo fast niemanden kannte. Wie folgendes Zitat zeigt, präsentiert er die Arbeitsstelle und seinen beruflichen Erfolg als Möglichkeit, im Kosovo Kontakte zu knüpfen und damit seine Position als Außenseiter zu überwinden. Clirim: ich kenne jetzt mittlerweile huere viel Manager von..mega großen Firmen im Kosovo..und ich habe ja mit denen Kontakt..und ich sehe diese auf der Straße und die begrüßen dich..weil am Anfang hat mir niemand hoi gesagt..und jetzt sehe ich bekomme immer wieder Einladungen über..bekommst immer wieder Geschenklein über von denen..und so das sind halt schon Sachen wann..du dich danach gut fühlst (2013a: 1330 - 1335)

Zudem betont Clirim seine Verbundenheit mit seinem Geburtsort im Herkunftsdorf der Familie seines Vaters. Obwohl er sich damit auf die patrilokale Familientradition beruft stellt er dar, dass er sich in Fragen der Zugehörigkeit von seinen Eltern unterscheidet, wo folgendes Zitat zeigt. Clirim: meine Eltern sagen wir sind von Prizren aber..das ist für mich der größte Streitpunkt gewesen mit den Eltern..sie immer so ja sag Prizren sag Prizren ich so nein ich sage nicht Prizren..weil es gibt eine Sache auf der Welt den Geburtsort kannst du nie ändern..ich so.. egal was für einen Pass ich habe egal wo ich lebe bei mir im Geburtsort steht Bujanovac und ich bin von Bujanovac..und ich werde immer sagen ich bin von Bujanovac.. (2012: 992 - 996)

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Clirim zeigt damit auf, dass für ihn die Unterschiede zwischen der albanischen Bevölkerung in Prizren und in Bujanovac eine größere Rolle spielen als für die Eltern. Dies zeigt sich auch in der folgenden Erzählung bezüglich dem Verkauf des Elternhauses im Herkunftsdorf. Clirim: als wir das Haus verkauft haben..das ist..das ist für mich eigentlich einer der schlimmsten Tage gewesen in meinem Leben..das ist einfach entschieden worden..das Haus wird verkauft..haben wir auch spät auch erst mitbekommen..und so und..er hat es ja..ihm seinem Cousin verkauft..also ihm seinem Onkel der Sohn..und das ist jetzt wie viele Jahre her keine Ahnung..es ist auch schon ein paar Jahre her..und seit da bin ich (nicht mehr) dorthin../I:mh/ weil der Cousin hat mit einem Hag ((Zaun)) dann den Boden so abgetrennt..also der Eingang zu allen drei Onkel..also seit das Haus verkauft wurde bin ich nie mehr auf meinem alten Boden wo unser erstes Haus gestanden bin ich nie mehr gewesen..das ist jetzt schon ein paar Jahre her..ich schaffe es einfach nicht..weil..irgendwie mein heimisches ist weg..das heimische Gefühl (2012: 1006 - 1014)

Clirim stellt dar, dass er die Frage der Heimat und der Zugehörigkeit nun nicht mehr geographisch verorten kann. Gleichzeitig zeigt er aber auch ein Spannungsfeld auf zwischen der gefühlten Verbundenheit und den Möglichkeiten, dort zu wohnen, wie folgendes Zitat zeigt. Clirim: bin ich hier hin gekommen wollte ich unbedingt auf Bujanovac..und jetzt geht es eigentlich weil..ich sehe es ja mitterlweile auch bin ich Papa und mein Kind und Zukunft.. und ich weiß auch in Bujanovac hast du keine Zukunft..dort kannst du nichts machen entweder bist du dort Bauarbeiter oder sendet dir irgendjemand Geld von der Schweiz oder..hoffst dass die Eltern bald in die Pension kommen und von der Pension von der Schweiz lebst..oder halt so Sachen..dort kannst du nichts erreichen..und da in Prizren kannst du ich habe es ja selber gesehen so ohne Schulen und so habe ich ziemlich viel erreicht..und dann denke ich mir wird es meine Kleine auch einfacher haben dann..//I:mh// oder da kann ich für sie das Leben sichern und dort.. würde das nicht funktionieren (2012: 973 - 981)

Damit übernimmt er die Argumentation seines Vaters, der sich wegen den besseren Zukunftsmöglichkeiten seiner Kinder für die Migration nach Prizren und nicht zurück nach Bujanovac entschieden hat. Er orientiert sich dabei an den Argumentationen beider Eltern, indem er nebst der väterlichen Argumentation der besseren Zukunftsmöglichkeiten für die Kinder in beiden Interviews auch das

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mütterliche Argument des familialen Zusammenhalts mit Besuchen bei den Verwandten thematisiert. Clirim: wenn die Schwestern da sind hast du doch hin und wieder eine Abwechslung hast mehr Besuch kannst selbst mehr auf Besuch gehen.. dann wird es noch besser denke ich mal (2012: 448 - 449)

Dies weist darauf hin, dass mit der Migration in den Kosovo und der Übernahme der Rolle als Familienvater auch eine Annäherung an die eigenen Eltern stattfindet. Trotz beruflichem Erfolg und der Gründung einer eigenen Familie stellt er dar, dass sein Wohlbefinden im Kosovo von der Anwesenheit seiner Familie abhängig ist. Durch die Betonung des Familienzusammenhaltes und dem ausdrücklichen Wunsch, seine Schwestern im Kosovo zu haben, zeigt er auf, dass die Familie für ihn die eigentliche Zugehörigkeit bedeutet. Fallstruktur: Rückkehr in die Familie im Kosovo nach selbstbestimmter Zeit als Junggeselle in der Schweiz Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen Clirim erhält als erster Sohn der Familie einen Bildungsauftrag. Dies zeigt sich im Besuch des Kindergartens im Herkunftsdorf und an der erfolgreichen Wiederholung der Prüfung für die Sekundarschule in der Schweiz. Zugleich zeigt Clirim aber auch am Beispiel der Hausaufgaben auf, dass er keine Unterstützung für die Schule von den Eltern erhält. Damit wird ein Spannungsfeld zwischen den elterlichen Erwartungen und deren fehlenden Unterstützung sichtbar. Dies führt zu einer verlängerten obligatorischen Schulzeit und zu eingeschränkten Ausbildungsmöglichkeiten. Diese werden zudem durch Diskriminierungsprozesse auf dem Lehrstellenmarkt durch seinen Ausländerstatus und der Herkunft aus dem ehemaligen Jugoslawien weiter eingeschränkt. Clirim stellt den direkten Einstieg in die Erwerbsarbeit jedoch als eigene Entscheidung dar und vermeidet damit eine Thematisierung seines erfolglosen Bildungsaufstieges. Auch im Erwerbsleben nimmt er die Möglichkeit zum beruflichen Aufstieg nicht wahr und enttäuscht damit wieder väterliche Erwartungen, die er nun thematisiert. Dies führt zu einer Krise und Orientierung an Gleichaltrigen. Durch die Verlobung mit einer Frau im Kosovo findet eine erneute Auseinandersetzung mit elterlichen Erwartungen statt. Dies führt zu einem jahrelangen Suchprozess zwischen dem Erfüllen elterlicher Erwartungen durch Heirat und Familiengründung im Kosovo und einem selbständigen Leben in der Schweiz. Mit der Geburt des ersten Kindes nimmt dieser transnationale Suchprozesses ein Ende und Clirim kehrt in seine Kernfamilie im Kosovo zurück. Er übernimmt dort die Rolle als Familienva-

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ter und orientiert sich an den elterlichen Erwartungen, was sich im Streben nach beruflichem Aufstieg und der erfolgreichen Übernahme seiner Rolle als Familienernährer zeigt. Suche nach Zugehörigkeit Clirim verbringt seine Kindheit größtenteils mit seinen Geschwistern und Verwandten. Mit dem Umzug in die Kleinstadt und durch die arbeitsbedingte Abwesenheit der Eltern beginnt sich Clirim an gleichaltrigen Kindern und Jugendlichen zu orientieren, mit denen er die meiste Zeit unbeaufsichtigt verbringt. Zu diesem Zeitpunkt wird die ethnische Zugehörigkeit für ihn relevant, die er in Verbindung bringt mit negativen Zuschreibungen und zu einem Spannungsfeld zwischen Abgrenzung und familialer Zugehörigkeit führt. Dieses Spannungsfeld spitzt sich in Bezug auf einen möglichen beruflichen Aufstieg zu, den er aufgrund des familialen Loyalitätskonfliktes ausschlägt. Dies führt in Zusammenhang mit der Emigration seines Vaters zu einem Ausstieg aus der Erwerbsleben und einer Orientierung an Gleichaltrigen. Das Streben nach beruflichem Aufstieg wird erst nach der Migration in den Kosovo zu seiner zentralen Handlungsstrategie, um Anerkennung von den zurückgelassenen Freunden in der Schweiz zu erhalten und zugleich auch seine Außenseiterposition im Kosovo zu überwinden. Indem Clirim anhand der Sprache die anhaltenden Unterschiede zwischen sich und der übrigen Bevölkerung im Kosovo thematisiert, zeigt er auf, dass er trotz des beruflichen Erfolgs im Kosovo nach wie vor eine Außenseiterposition innehat. Die Familie wird damit zum einzigen Ort, an dem er Zugehörigkeit erfährt. 6.2.4 Donika ‒ die beruflich erfolgreiche Außenseiterin im Kosovo Der unterschiedliche Migrationsprozess von Donika ermöglicht in Bezug auf die drei älteren Geschwister eine maximale Kontrastierung. Im Gegensatz zu ihren älteren drei Geschwistern ist Donika in der Schweiz geboren und migriert mit 16 Jahren mit ihrem jüngeren Bruder und der Mutter in den Kosovo. Sie ist zudem nicht verheiratet, hat keine Kinder und lebt nach wie vor bei ihren Eltern. Als jüngste Tochter hat sie in ihrer Kindheit keine Haushalts- und Betreuungsaufgaben in der Familie zu übernehmen und wird damit weniger in die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung der Familie eingeführt als ihre älteren Schwestern. Trotz der Kontrastierung zu den älteren Geschwistern zeigt die Analyse von Donikas Fallstruktur jedoch auch Ähnlichkeiten mit ihrem älteren Bruder Clirim auf. Wie er orientiert sich Donika nicht an den familialen Bildungserwartungen,

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sondern realisiert im Kosovo eine berufliche Karriere, welche in Zusammenhang steht mit Fragen der Zugehörigkeit und, im Unterschied zu ihrem älteren Bruder, auch mit Aushandlungsprozessen geschlechtsspezifischer Rollenerwartungen. Interviewkontext Donika ist zum Zeitpunkt des ersten Interviews 28 Jahre alt und lebt zusammen mit ihrem Bruder Clirim und dessen Familie bei ihren Eltern in Prizren. Sie arbeitet in derselben internationalen Firma wie ihr Bruder und ist dort verantwortlich für die Administration. Sie spricht fließend Schweizerdeutsch. Das erste Interview findet im Sommer 2012 im Wohnzimmer der Familie in Prizren statt. Vor dem Haus sind zwei Autos mit serbischen Nummernschildern parkiert. Diese gehören Donika und ihrem Bruder. Obwohl sie und ihr Bruder am selben Ort arbeiten, fahren beide jeweils getrennt im eigenen Auto zur Arbeit. Dies deutet darauf hin, dass Donika durch ihren beruflichen Erfolg eine gewisse Selbständigkeit und sozialen Status realisieren kann, die symbolisiert werden durch ihr eigenes Auto. Beim ersten Gespräch ist der Vater, die Mutter, der Bruder Clirim mit seiner Frau und der kleinen Tochter anwesend. Donika erzählt als letzte ihre Geschichte. Der Vater und Clirim betonen in ihren vorgängigen Erzählungen, wie erfolgreich für sie die Rückkehr in den Kosovo verlaufen ist. Ich habe erwartet, dass Donika eine ähnliche Geschichte erzählen wird, da ich weiß, dass sie heute eine leitende Funktion in einer internationalen Firma hat. Ihre Geschichte steht jedoch in einem großen Gegensatz zu den vorgängigen Erzählungen. Als sie ihre Lebensgeschichte zu erzählen beginnt und die Migration in den Kosovo thematisiert, fängt sie an zu weinen und betont, wie schwierig diese Migration für sie gewesen ist. Gemäß meinem ersten Eindruck präsentiert sich Donika als „anders“ als die restlichen Familienmitglieder und als ohnmächtig gegenüber Entscheidungen des Vaters. Umso mehr erstaunt es mich, dass sie immer noch bei der Familie wohnt, trotz ihrer finanziellen Möglichkeiten und ihrem beruflichen Erfolg. Daraus lässt sich die Hypothese entwickeln, dass der berufliche Erfolg nicht zu einer erhöhten Selbständigkeit und Ablösung von der Familie führt. Das zweite Interview findet ein Jahr später im Sommer 2013 im Kosovo in einem Café in der Nähe des Wohnortes der Familie in Anwesenheit ihrer beiden Brüder Egzon und Clirim statt. Ich fordere die drei auf, mir möglichst viel über ihre Kindheit zu erzählen. Der älteste Sohn Clirim dominiert das Gespräch und erzählt als Erster. Donika unterbricht, korrigiert und ergänzt ihn an mehreren Stellen. Aus diesem Gespräch erhalte ich einen ganz anderen Eindruck von Donika, die sich in Abwesenheit ihrer Eltern selbstsicher präsentiert. Dies weist darauf hin, dass die im ersten Interview thematisierten Schwierigkeiten aufgrund

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der Migration in den Kosovo im Zusammenhang mit ihren Eltern stehen, die beim zweiten Gespräch nicht dabei sind. Erzählte Lebensgeschichte: „ich habe mir so Mühe gegeben“33 Die Hypothesen aus der erzählten Lebensgeschichte basieren auf dem ersten Interview von 2012, in dem Donika über längere Zeit ohne Unterbruch ihre Lebensgeschichte erzählt. Die Informationen und Erzählungen aus dem zweiten Gespräch werden in der anschließenden Fallrekonstruktion berücksichtigt. Donika beginnt ihre Lebensgeschichte mit der Geburt in der Schweiz und begründet damit ihre besondere Situation in der Familie und ihre spezielle Verbindung zur Schweiz. Die anschließende Migration in den Kosovo nimmt in ihrer Erzählung viel Raum ein. Sie stellt diese Migration als Schicksalsschlag dar, dem sie sich nicht entziehen konnte und zeigt damit ihre eigene Ohnmacht in Bezug auf die elterliche Entscheidung auf. Donika: dann habe ich nicht wollen von meinen Kolleginnen und so weg…dann habe ich mir auch dort schon überlegt oft was soll ich sagen wie soll ich es verhindern und so habe ich aber nichts großartig machen können (2012: 573 - 575)

Zugleich stellt sie auch dar, dass sie sich aus Liebe und Respekt zu ihren Eltern in diese Situation eingefügt hat, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: und auch der Gedanke öfters ist auch wenn ich hier gewesen bin soll ich aufstehen einfach meine Sachen packen und..einfach abhauen von zu Hause einfach gehen…und…irgendwie hat mich ((weinerlich))..einfach immer ehm der Respekt von den Eltern und..eh und die Liebe zu den Eltern..gleich..nicht den Schritt machen lassen habe ich immer gedacht nein komm die wünschen sich das..die wollen das..ich probiere es wieder ((weinerlich))..vielleicht wird es besser (2012: 870 - 874)

Darauf folgt eine Darstellung ihrer Bemühungen, sich mit der Migration in den Kosovo abzufinden und den elterlichen Erwartungen zu genügen. Dies zeigt sie anhand ihres Engagements in der Schule im Kosovo trotz Ausgrenzungserfahrungen und sprachlichen Schwierigkeiten. Donika: und ich habe mir so Mühe gegeben und dann habe ich zum Beispiel eine 2 als Note34 bekommen und ich so wieso das ist unfair und dann mich so ausgelacht und schau

                                                             33 Donika (2012: 659).

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wie du sprichst und..so halt ein paar Wörter die wir brauchen benutzen haben die halt nicht gebraucht und dann ist es halt haben sie mich alle fertig gemacht die ganze Zeit und das ist für mich sehr schlimm gewesen (2012: 659 - 663)

Diese Bemühungen, elterliche Erwartungen zu erfüllen, zeigt sie auch im Besuch der Universität und dem Einstieg in die Erwerbsarbeit nach Abbruch des Studiums. Sie stellen damit ihr zentrales Präsentationsinteresse im ersten Gespräch in Anwesenheit ihrer Eltern dar. Fallrekonstruktion: Beruflicher Erfolg als Suche nach familialer Anerkennung Für die Fallrekonstruktion werden nun wie bereits bei Clirim die Informationen aus beiden Interviews einbezogen. Die jeweiligen Zitate sind mit der Jahreszahl gekennzeichnet. Dabei wird berücksichtigt, dass der Interviewkontext unterschiedlich ist. Wie bereits bei der Fallrekonstruktion von Clirim zeigt sich auch hier eine besondere Relevanz der Präsenz der Eltern während dem ersten Interview. Im Gegensatz zu Clirim thematisiert Donika vor allem in Anwesenheit ihrer Eltern die Schwierigkeiten, die sie jedoch in Zusammenhang stellt mit der Migration in den Kosovo und kritisiert so in deren Anwesenheit den Migrationsentscheid. Kindheit in der Schweiz Donika kommt 1984 als viertes Kind der Familie auf die Welt und wird als erste in der Schweiz geboren. Die Mutter befindet sich zu diesem Zeitpunkt als Touristin zu Besuch bei ihrem Vater in der Schweiz. Dieser wohnt seit fast vier Jahren mehrheitlich in der Schweiz in Buchs. Die Mutter reiste bis zum Erhalt der Aufenthaltsbewilligung für die Familie im Jahr 1986 mit den Kindern zwischen Bujanovac und der Schweiz hin und her. Im Gegensatz zu ihren älteren Geschwistern bedeutet die definitive Migration der Familie in die Schweiz für Donika keine Umstellung, da sie erst zwei Jahre alt ist und das Hin und Her zwischen Südserbien und der Schweiz kaum realisiert hat. Dies zeigt sich auch daran, dass Donika ihre Kindheit in der Schweiz als Kontinuität darstellt bis zu ihrem 16. Lebensjahr.

                                                                                                                                34 Im Notensystem der Sekundarstufe im Kosovo stellt 5 die beste Note dar, die Note 2 ist genügend (unterste Note zum Bestehen), die Note 1 ist ungenügend (vgl. Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder 2010-2017).

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Donika: geboren in Aarau35 ..ja und in der Schweiz aufgewachsen Kindergarten Vorschule ..und bis 16 bin ich in der Schweiz gewesen (2012: 567 - 568)

Ein Jahr später im Jahr 1987 wird ihr jüngerer Bruder Egzon geboren. Die Familie zieht von Buchs in ein Zweifamilienhaus in Zuzgen um. Dieser Wohnortswechsel im Alter von drei Jahren hat für Donika keine zentrale Bedeutung. Dies zeigt sich daran, dass Donika Zuzgen als den ersten Ort darstellt, wo sie aufgewachsen ist. Donika: und dann in Zuzgen halt (1) und wir sind halt fünf Kinder gewesen und alle so halt der Reihe nach also wir haben halt keinen großartigen Abstand mit den Jahren halt.. der eine von dem anderen..und dann weiß ich dass wir die ganze Zeit eigentlich mehr miteinander gespielt haben und nicht so viel (1) andere weil da Albaner und so hat es ja damals noch keine gehabt und Schweizer und so wir haben ja am Anfang auch nicht so (2) die Sprache und das alles gelernt haben halt mehr mit uns (1) gespielt (2013a: 132 - 137)

Sie zeigt die Bedeutung ihrer Geschwister in ihrer Kindheit auf, da sie aufgrund der Sprache kaum Kontakt hatten mit anderen Kindern aus der Nachbarschaft. Sie beschreibt ihre Kindheit in der Schweiz als sehr schöne Zeit und begründet dies mit den Spielmöglichkeiten, die das Zweifamilienhaus mit Garten bietet, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: └an dem Haus haben wir ziemlich mega Spaß gehabt weil das ist so groß gewesen und hat so verschiedene.. Durchgänge gehabt wo vom Einen zum Anderen gehen konntest oder von Oben nach Unten Egzon: └ja es ist so ein..so ein Labyrinth irgendwie gewesen also als Kind kommt es dir so vor Donika: └also als Kind ist es ja: ((lacht)) ist es das Paradies gewesen (2013a: 400 - 404)

Ihre Mutter beginnt ein Jahr nach der Geburt des jüngsten Sohnes Egzon zu arbeiten, so dass zunehmend auch die älteren Schwestern sich um Donika und ihren jüngeren Bruder kümmern. Als Donika mit fünf Jahren den Kindergarten in Zuzgen beginnt, ergeben sich für sie bessere Voraussetzungen als zuvor für ihre älteren Geschwister, da die Eltern nun bereits mit dem Schulsystem und dem Kindergarten in Zuzgen vertraut sind. Trotzdem präsentiert Donika den Eintritt in den Kindergarten als eine schwierige Zeit.

                                                             35 Donika kommt im Kantonsspital Aarau auf die Welt, unweit des damaligen Wohnortes Buchs im Kanton Aargau.

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Donika: nachher in Zuzgen bin ich auch in den Kindergarten (2) mh ja (2) am Anfang emh ist schwierig gewesen weil ich habe ja..nicht wollen und ich weiß daß meine Mutter immer Schwierigkeiten gehabt mich in den Kindergarten zu bringen weil ich bin immer wieder abgehauen von dort und wieder zurück nach Hause ((lacht)) (2013a: 145 - 148)

Donika beschreibt dabei den Kindergarten als erste Ablösung von der vertrauten Umgebung der Familie, der ihr schwerfällt. Sie stellt damit dar, dass für sie die Zeit zu Hause mit der Familie am schönsten war. Donika absolviert zwei Kindergartenjahre. Nach diesen zwei Jahren wird Donika im Gegensatz zu ihren älteren Geschwistern nicht in die Regelschule eingeschult, sondern besucht eine „Einführungsklasse36“. Dies bedeutet, dass die Lehrpersonen befinden, dass Donika die Lernanforderungen für den Eintritt in die erste Klasse noch nicht erfüllt37. In der Einführungsklasse erhält sie individuellere Unterstützung und Förderung, gleichzeitig bedeutet dies eine neue Lernumgebung. Donika erwähnt im zweiten Gespräch berichtartig die Einführungsklasse als Zwischenstation vor der normalen Einschulung, äußert sich jedoch nicht weiter dazu, was darauf hindeutet, dass für sie diese gesonderte Einschulung keine bedeutenden Erinnerungen hinterließ. In der Zeit als Donika und ihre Familie in Zuzgen wohnen, zieht der Bruder des Vaters in die zweite Haushälfte ein. Sie präsentiert den Einzug der Familie des Onkels als eine Erweiterung ihres Freundeskreises, wie in folgendem Zitat ersichtlich ist. Donika: und dann in dem gleichen Dorf ist so ehm ein Onkel von meinem Vater hingezogen und die haben auch Kinder gehabt und dann weiß ich noch bin ich immer mit der also er hat auch Mädchen Töchter gehabt weiß ich bin ich mit denen jeweils (1) noch oft spielen gegangen oder also die sind mehr zu uns (irgendwie) gekommen (2) weiß ich nicht sind irgendwie die einzigen gewesen wo wir wo wir sonst eigentlich mehr..nur unserer Familie (2013a: 149 - 154)

                                                             36 Die Einführungsklasse hat das Ziel, die Kinder mit Entwicklungsschwierigkeiten auf die reguläre Einschulung vorzubereiten und vermittelt über zwei Jahren hinweg den Unterrichtsstoff der ersten Primarklasse und bereitet so die Kinder auf die zweite Regelklasse vor. Ist dieser Übertritt nicht möglich, erfolgt ein Übertritt in die zweite Kleinklasse (vgl. Kanton Aargau, Departement Bildung, Kultur und Sport 2017).

37 Wie Studien zeigen, werden Kinder mit Migrationshintergrund überdurchschnittlich oft in Sonderklassen eingeschult (Fibbi et al. 2015: 108).

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Donika zeigt auf, dass sich der Freundeskreis in ihrer Kindheit auf die Verwandtschaft beschränkt und stellt damit ihre Familie im Dorf Zuzgen als isoliert dar. Die Vergrößerung des familialen Netzwerkes stellt deshalb ein freudiges Ereignis dar, da die vielen Verwandten für sie mehr Möglichkeiten zum Spielen mit anderen Kindern bieten, wie folgendes Zitat illustriert. Donika: wir haben uns immer gefreut wenn jemand gekommen ist neues weil immer mehr und mehr ist irgendwie wie die Familie gewachsen ist einmal ein Onkel gehabt hats du eine Tante gehabt und dann.. die Leute bei denen du halt hast bleiben können die gekommen sind und ehm am Anfang haben wir ja nur uns gehabt und sonst niemand (2013a: 205 208)

Donika betont damit die Bedeutung der erweiterten Familie in ihrer Kindheit, da außerhalb der Familie kaum Beziehungen gepflegt werden. Dies ändert sich mit dem Besuch der ersten Klasse. Donika stellt dar, dass sich mit der regulären Einschulung nun ihr Freundeskreis erweitert. Donika: nachher in der ersten Klasse habe ich dann auch eine Schweizerin zum ersten Mal als Kollegin gehabt ((lacht))..Sandra hat sie geheißen und zu ihr bin ich huere gerne jeweils nach Hause gegangen..sie hat huere weit weg gewohnt..dann bin ich mit dem Velo immer zu ihr nach Hause gefahren und die haben immer so feine Schokolade gehabt ((lacht)) als Kind habe ich immer (eins) und Spielsachen ((lacht)) ja wir sind halt fünf Kinder gewesen und eben mein Vater hat am Anfang auch sparen wollen und so und da haben wir uns nicht so weiß Gott was leisten können..und die hat alles Mögliche gehabt (2013a: 178 - 184)

Sie betont, dass sie nun zum ersten Mal eine Schweizerin als „Kollegin“ hat und stellt damit dar, dass sie der Staatsangehörigkeit eine Bedeutung beimisst. Donika nennt anhand der Spielsachen den Unterschied zwischen ihrer Familie und der Familie ihrer „Kollegin“ und weist auf die finanziell engen Verhältnisse in ihrer siebenköpfigen Familie hin. Sie bringt die ersten Freundschaften mit gleichaltrigen Kindern außerhalb der Familie in Verbindung mit materiellen Unterschieden. Donika begründet die beschränkten finanziellen Möglichkeiten ihrer Familie mit der Sparsamkeit sowie den Rückkehrplänen ihres Vaters, wie folgendes Zitat illustriert: Donika: immer den Gedanken gehabt hier etwas aufbauen und dann zurück kommen..und das hat er..hat er halt gleich immer das den größten (Anteil) des Geldes versucht so auf die Seite zu legen und dann..weiß ich zum Beispiel dann wir haben jetzt nicht immer ins Ski-

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lager können oder ins Sommerlager oder wo auch immer..weil wir sind fünf Kinder gewesen und alle fünf ja: hat halt Clirim: ja Donika: viel gekostet (2013a: 984 - 990)

In obenstehendem Zitat zeigt sie auch auf, dass die beschränkten finanziellen Möglichkeiten dazu führen, dass sie nicht an Aktivitäten wie dem Ski- oder Sommerlager teilnehmen kann, welche ihr einen vertieften Kontakt mit anderen Mitschüler_innen ermöglicht hätten. Erweiterung des Freundeskreises durch den Umzug in die Kleinstadt Donika ist 9 Jahre alt, als sie 1993 mit der Familie in eine 4.5-ZimmerEigentumswohnung in Rheinfelden zieht. Sie stellt dar, dass trotz des Wohnsitzwechsels die Beziehungen zu den Verwandten in Zuzgen weiterhin gepflegt werden, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: └mir sind da auch nachher als wir nach Rheinfelden gezogen sind ist ja immer noch der Onkel und die Tante immer noch in dem Haus //mhm// gewesen und wir sind.. ja noch Jahre lang obwohl wir sind eh huere oft fast jedes Wochenende n: auch zwischen den Wochen immer wieder in Zuzgen gewesen //mhm// und indem Haus nachher mit denen halt alles zeigen wo sie gesehen haben ((lacht)) wo was ist ((lacht)) (2013a: 406 - 410)

Donika stellt zudem anhand der neuen Freundschaften mit Kindern in der Wohnsiedlung dar, dass sich mit dem Umzug in die Kleinstadt ihr Freundeskreis vergrößert und der enge Bezug zu ihren Geschwistern und Verwandten langsam gelockert wird. Donika: nachher dort in Rheinfelden (2) ist auch erstes Mal gewesen als nachher (1) irgendwie mehr mit verschiedenen Leuten zu tun gehabt hast..bist auch größer geworden.. der Kreis ist.. von den Freundschaften der Kreis ist größer ist nachher auch Onkel und die ist nachher halt nicht grad dort gehabt und..hast du auch andere Kolleginnen und Kollegen und (2) mh habe ich auch nachher (2) mehr Türkinnen als Kolleginnen und so gehabt..also eine Türkin eine und ein Türk.. bin ich immer mit denen mehr zusammen gewesen..und mit einer Schweizerin //mhm//die habe ich auch in der Klasse gehabt (1) nachher habe ich eigentlich immer mit denen immer Zeug und Sachen unternommen und (1) weniger..mit Brüdern und Schwestern (2013a:276 - 284)

Sie beschreibt, dass sie mit türkischen Kindern sowie einem schweizerischen Mädchen neue Freundschaften schließt. Indem Donika die Nationalität der je-

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weiligen Kinder thematisiert, stellt sie dar, dass damals die Nationalität bedeutend war und deshalb von ihr bewusst wahrgenommen wurde. Zugleich thematisiert Donika, dass sie sich von anderen albanischen Mitschüler_innen distanziert, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: nachher haben sie herausgefunden dass ich Albanerin sind die haben das gar nicht gewusst ich habe nicht gewusst das die nicht wissen ((lacht)) ((I: lacht)) aber die haben sich einfach gedacht weil ich..irgendwie nicht mit denen bleibe und ich bin mit Schweizer und so haben sich halt gedacht..ich bin Schweizerin..nachher haben sie ehm..weiß ich haben sie zuerst einmal mich blöd angemacht (das) du bist Albanerin und wieso bleibst du nicht mit u:ns und all so Sachen habe ich mir viel Sachen dort..anhören (2013a: 635 - 641)

Dabei zeigt sie auf, dass diese Abgrenzung gegenüber albanischen gleichaltrigen Jugendlichen zu negativen Reaktionen führt. Dies weist darauf hin, dass die ethnische Zugehörigkeit von gewissen Jugendlichen als Merkmal der Gruppenbildung genutzt wurde. Dies zeigt sich auch in folgendem Zitat, in dem Donika die Abgrenzung von den albanischen Gleichaltrigen in der Schweiz mit deren großer Anzahl begründet, die bei ihr Angst auslösen38. Donika: weil am Anfang als so viele so viele gekommen andere gekommen sind und weiß nicht ich habe irgendwie Angst von denen gehabt ((lacht)) (2013a: 654 - 655)

Donika thematisiert zudem auch die verschiedenen Herkunftsorte der albanischen Immigrant_innen in der Schweiz und stellt dar, dass sie sich insbesondere von Personen aus dem Kosovo abgrenzt. Diese Betonung der Unterschiede von Personen aus dem Kosovo und ihrer Herkunftsfamilie aus Bujanovac steht in Zusammenhang mit ihrer heutigen Situation als Außenseiterin im Kosovo. Donika: wir haben halt nur Bujanovac gekannt //mhm// d- dort und halt Verwandtschaft haben wir unsere gehabt in auch dort in der Schweiz auch die von dort sind..und ich habe nicht gewusst was Kosovo sind die sind irgendwie alle von dort und irgendwie ((lacht)) habe ich die alle nicht so gerne gehabt (2013a: 662 - 665)

                                                             38 Die Statistik über die Einwanderung von Staatsangehörigen aus dem ehemaligen Jugoslawien zeigt auf, dass diese Einwanderung aus dieser Region ab 1989 im Kontext der damaligen Wirtschaftskrise und der ethno-nationalen Spannungen massiv zunahm. Mit der Zunahme der Einwanderung aus dieser Region nehmen jedoch auch die Vorurteile gegenüber diesen Personen zu (vgl. Burri Sharani et al. 2010: 41).

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Donika präsentiert ihre Schulzeit in der Schweiz als schöne Zeit und illustriert dies anhand der Unterstützung durch ihre Mitschüler_innen für die Prüfungsvorbereitung wie folgendes Zitat zeigt. Darin erwähnt sie jedoch auch die Skepsis ihres Vaters gegenüber ihrer Freundschaft mit einem Schulkollegen. Sie weist damit darauf hin, dass die Ablösung vom Elternhaus nicht konfliktfrei stattfindet, möglicherweise verbunden mit familialen Geschlechternormen. Dieses Thema, der Freundschaft mit einem „Türken“, wird von Donika jedoch nicht weiter ausgeführt. Donika: und dann ist er einmal gekommen um 10 Uhr am Abend und bei uns zu Hause klopfen ..machen sie auf weißt du und habe ich so es ist spät gewesen und dann habe ich so was ist und so habe ich gedacht irgendetwas ist passiert und so und nachher hat er eh er ist gekommen mir den Spickzettel zu bringen ((lacht)) weil wir am nächsten Tag ((lacht)) Prüfung gehabt haben..ja ist mein Vater huere hässig geworden weshalb er gekommen ist so spät und wieso er mir so Sachen bringt und so ja (1) und so huere nett gefunden und so Hausaufgaben und solche Sachen ((lacht)) haben wir zusammen jeweils gemacht jeweils kurz vorher kurz vor der Schule vor der Klasse..bevor die Schule angefangen hat oder sonst am Abend dann ist er (manchmal) gekommen (3) die Schule allgemein ist eigentlich schön gewesen (2013a: 358 - 367)

Insgesamt präsentiert Donika eine schöne Kindheit und Schulzeit in der Schweiz, trotz der verlängerten Einschulungszeit, den Umzügen und der finanziell knappen Mittel der Familie. Sie stellt dar, dass der Umzug in die Kleinstadt Rheinfelden einhergeht mit einer beginnenden Ablösung von den Eltern und Geschwistern und einer zunehmenden Orientierung an Nachbarskindern und Mitschüler_innen. Diese Präsentation der schönen Kindheit und Schulzeit in der Schweiz mit der erweiterten Familie und Kolleginnen stellt Donika als Kontrast zu der folgenden Migration in den Kosovo dar. Durch ihre Thematisierung der Abgrenzung gegenüber anderen albanischen Kindern aus dem Kosovo betont sie, dass sie Ethnizität nicht als Zugehörigkeit erlebt. Migration in den Kosovo als Alptraum Donika ist sechzehn Jahre alt, als sie mit ihrer Mutter und dem jüngeren ihrem Bruder im Jahr 2000 die Schweiz verlässt und in den Kosovo migriert. Sie stellt dar, dass sie in diese Entscheidung nicht einbezogen wird und aufgrund ihres fehlenden Wissens über Kosovo sich nicht auf diesen weitreichenden Wechsel des Lebensmittelpunktes vorbereiten kann.

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Donika: dann habe ich die Nachricht bekommen dass die planen hierhin zu kommen und das ist für mich sehr schlimm gewesen weil ich nicht weg wollte weil ich wusste gar nicht wohin es geht weil ich habe den Platz nicht gekannt wo man in die Ferien kommt sind wir in Bujanovac in die Ferien..ich habe nicht gewusst das Kosovo überhaupt existiert ich habe gar nicht gewusst ob dass da alles Albaner sind habe gar nicht gewusst wo Prizren ist und halt gar nichts gewusst (2012: 568 - 573)

Sie betont den großen Unterschied zu dem bisherigen Leben in der Schweiz und stellt sie dar, dass für sie die Migration in den Kosovo ein Verzicht auf den bisherigen Lebensstandard bedeutet. Dadurch widerspricht sie der Präsentation ihres Vaters, der diese Migration als lang geplante „Rückkehr“ und sozialen Aufstieg darstellt. Donika: und mir ist dies ganz schlimm vorgekommen weil als wir gekommen sind weil das Haus ist noch nicht fertig gewesen alles noch Baustelle und wir haben eh den Laden wo im 1. Stock nur der ist fertig gewesen wir haben müssen dort drin Leben und Wohnen und das ist für mich ein mega Kontrast gewesen im Gegensatz wie wir es in der Schweiz gehabt haben eine große vier Zimmerwohnung und alles schön eingerichtet und so und hier kommst du rein eh und musst einfach in einem Laden haben wir alle Sachen da drin gehabt und eh am Boden so Matratzen wo wir mussten schlafen es ist.. ich bin ein bisschen geschockt gewesen am Anfang (2012: 587 - 593)

Auch anhand der die Trennung von ihrem bisherigen sozialen Umfeld präsentiert sie diese Migration als einschneidende Erfahrung, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: in der Schweiz wir sind selber viele gewesen fünf also fünf Geschwister..haben wir Tante gehabt..Onkel gehabt..die Söhne vom anderen Onkel sind alle gewesen..und Cousins und Cousine und wir haben viele Verwandte dort gehabt und alle in der Nähe..wir sind dort daran gewöhnt gewesen..ich habe dort eben viele Verwandte gehabt plus noch Kolleginnen und das alles..und als wir hier gekommen sind keine Freundschaften mehr kein gar nichts aber auch keine Verwandten..ich habe die Schwester beide nicht mehr gehabt…habe die Cousinen und Cousins wo wir sind die ganze Zeit zusammen gewesen (2012: 1033 – 1039)

Das folgende Genogramm (Abbildung 7) veranschaulicht die familiale Situation von Donika im Kosovo nach der Migration und zeigt die Distanz zu der restlichen Familie, welche größtenteils in der Schweiz (hellgrau markiert) oder in Südserbien (ohne Markierung) mehrere Autostunden entfernt lebt.

 

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Abbildung 7: Genogramm Donika (Zeitpunkt der Migration in den Kosovo im Jahr 2000)

Quelle: Eigene Darstellung

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Da die Migration von Donika im Alter von 15 Jahren zum Zeitpunkt der Adoleszenz eintrifft, hat Donika zu den üblichen Herausforderungen im Jugendalter zugleich auch die Trennung vom bisherigen Umfeld zu bewältigen und sich in einem neuen Kontext zurechtzufinden. Studien zu Migrationserfahrungen im Jugendalter zeigen auf, dass sich die altersspezifischen Herausforderungen in der Jugendphase durch Migrationserfahrungen erhöhen und zu einer Situation der Verdoppelung der Transformationsanforderungen führen, da es sowohl bei der Adoleszenz wie der Migration um Trennung und Umgestaltung geht (King (2005: 31). die Bewältigung dieser Anforderungen wird dabei gemäß King (ibid.) durch soziales und kulturelles Kapital erleichtert oder aber durch Diskriminierung, Stigmatisierung und Benachteiligung erhöht. Donikas Darstellung der Abwesenheit von Verwandten und Freunden weist darauf hin, dass dieser Wegfall von sozialem Kapital für sie die Bewältigung dieser Phase massiv erschweren, was sie, wie im folgenden Abschnitt erläutert wird, anhand der Suche nach einer geeigneten Schule illustriert. Erfolglose Versuche, die Bildungserwartungen der Eltern zu erfüllen Die Migration in den Kosovo findet während den Sommerferien statt und deutet auf den Zusammenhang der Migration mit elterlichen Bildungserwartungen hin. Der Zeitpunkt ermöglicht den beiden Geschwistern nach den Sommerferien ihre Schulbildung im Kosovo nahtlos weiterzuführen. Der Bruder Egzon kommt in die 8. Klasse der Grundschule (im Kosovo gibt es nur ein Leistungsniveau) und für Donika ist der Besuch des Gymnasiums vorgesehen. Donika thematisiert ihre Schwierigkeiten bei der Suche nach einer geeigneten Schule. Donika: dann ist die Zeit gekommen um sich.. in die Schule anzumelden..eh.. „und dann haben wir nicht gewusst wir haben keine Ahnung gehabt wo die Schulen sind was für Schulen dass es hat und dann sind so Nachbarn gewesen hast du jenstes Zeug gehört der Eine hat gesagt ja diese Schule ist schlecht der Andere hat gesagt ja diese Schule ist gut und geh doch dort und mach doch das und wir haben einfach nichts nichts.. und genau in dem Moment ist hat meine Mutter wieder in die Schweiz müssen sich anmelden gehen wieder“ ((weinerliche Stimme)) (2012: 600 - 606)

Indem Donika die Abwesenheit ihrer Eltern thematisiert, weist sie auf ein Spannungsfeld hin zwischen dem elterlichen Bildungsauftrag und der fehlenden Unterstützung, um diesen Auftrag zu erfüllen. Sie thematisiert ausführlich die Suche nach einer geeigneten Schule in Begleitung ihres Onkels, der ihr auch kaum helfen kann, da auch er die kosovarischen Bildungseinrichtungen nicht kennt. Donika zeigt auf, dass die fehlenden sozialen Kontakte im Kosovo dazu führen,

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dass sie sich schlussendlich nicht in der Schule anmeldet, die ihr empfohlen wurde. Donika: haben wir dann gemerkt wir sind gar nicht in der richtigen Schule und dann haben sie uns aber die Schule so schön präsentiert dann haben wir gedacht nein ich möchte hier weil ich finde dies alles gut die haben mir nachher gesagt mit Computer hast du Computerschule lernst alles eh mit Computer und sie und eh ja habe ich gedacht heutzutage habe ich schon damals gedacht jetzt ist es noch mehr als ich schon gedacht habe dass es wird alles Computer alles arbeiten und so alles Computer ja und jetzt ist Jahre wo ich das studiert habe und ja habe ich gedacht ist besser ich lerne Computer und dann findest du bestimmt einen besseren Job (2012: 626 - 632)

Sie registriert sich schlussendlich aufgrund des Angebotes von Computerkursen in einer Schule, weil sie sich damit einen erleichterten Einstieg ins Erwerbsleben erhofft. Wie obenstehendes Zitat zeigt, stellt Donika damit den Besuch des Gymnasiums nicht als Zugang zu einer weiterführenden tertiären Bildung dar, sondern als Vorbereitung für den Einstieg ins Erwerbsleben. Zugleich zeigt sie im folgenden Zitat auch auf, dass ihr die Schule „falsch“ präsentiert wurde und es sich zudem um eine sehr schwierige Schule handelt. Donika: dass wir keinen Computer haben überhaupt nicht habe ich damals nicht gewusst weil die Mittel all das Zeug haben sie halt nicht gehabt..habe mich dort angemeldet und..dann nachher habe ich ab und zu so ein paar Jugendliche gesehen und so haben sie gefragt wo hast du dich angemeldet habe ich gesagt dort und dann habe ich dann schon haben sie eh dann von allen gehört dass dies eine sehr schwierige Schule ist hart und so und dass man sehr sehr viel lernen muss um dort eh weiterzukommen und gute Noten zu erreichen..habe ich gedacht ja super ((lacht)).. (2012:633 - 639)

Mit der Darstellung der anspruchsvollen Schule begründet sie ihre Schwierigkeiten in der Schule. Sie thematisiert ausführlich ihre Bemühungen, eine gute Schülerin zu sein. Dennoch betont sie, dass sie wegen der Sprache sowie den unterschiedlichen Bildungssystemen in der Schule Mühe hat. Donika: das erste Jahr habe ich mich wirklich Mühe gegeben..und habe ich auch die ganze Zeit gelernt..das Problem ist gewesen..ich habe Albanisch reden können halt so alltägliches Zeug aber so Grammatik und all das Zeug was in Bücher steht habe ich gar nicht verstanden weil es ist anders wie wir sprechen und halt wie es in Bücher steht und auch in Deutsch wenn ich manchmal ein Buch lese verstehe ich auch ein paar Sachen nicht..und mit Albanisch ist noch schlimmer gewesen weil halt mit Verwandten mit denen wir ge-

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sprochen haben halt so alltägliche Sachen mehr nicht habe ich nichts verstanden bei allen Bücher nicht und auch Mathematik und so ist hier ein wenig anders gewesen als in der Schweiz (2012: 639 - 646)

Der Besuch des Gymnasiums stellt für Donika einen Bildungsaufstieg dar. In der Schweiz hätte sie mit ihrem Realschulabschluss nicht die Möglichkeit gehabt, das Gymnasium zu besuchen. Nach acht Jahren Realschule in der Schweiz ist sie jedoch auch nicht vorbereitet, um dem Unterrichtsstoff auf Ebene des Gymnasiums folgen zu können. Sie ist im Gymnasium im Kosovo mit einer doppelten Herausforderung konfrontiert, sowohl in Bezug auf die Sprache wie auch des Schulniveaus. Donika betont, dass sie von den Eltern und auch den älteren Geschwistern in der Schweiz kein Verständnis und damit auch keine Unterstützung erhält für ihre Schwierigkeiten in der Schule. Ihr Weinen an dieser Stelle des Interviews zeigt auf, wie schlimm für sie die Erfahrung der fehlenden familialen Unterstützung war. Donika: und dann haben sie zwei ((die Eltern)) immer mich nicht verstanden das hat mich dann auch gestresst und genervt und mein Bruder ist in der Schweiz gewesen und auch die Schwestern und habe ich immer diesen gesagt und immer ja ist nicht so schlimm und so und ich habe das Gefühl gehabt es versteht mich niemand…. ((weint)) (2012: 669 - 672)

Diese Situation führt zu einer Wut auf ihre Eltern, insbesondere auf ihren Vater, wie untenstehendes Zitat illustriert. Sie stellt dar, dass sich ihre Wut nicht auf die fehlende Unterstützung, sondern gegen den Migrationsentscheid richtet. Donika: mein Vater ist in diesem Jahr ja nicht da gewesen und dann habe ich so einen Hass auf ihn nachher gehabt sowieso warum hat er mich hierhin gebracht..weiß nicht wie schlimm das ist..und ja..und dann nachher im zweiten Jahr und so habe ich ist die Zeit gekommen wo ich mehr rebelliert habe nachher auch ich habe mich das erste Jahr so Mühe gegeben und eh habe doch nichts erreicht am Schluss ist haben sie mich so ausgelacht (_____) ((weint)) (2012:654 - 659)

Sie begründet ihre Resignation vor allem mit Ausgrenzungserfahrungen in der Schule. Donika stellt dar, dass diese schwierigen Erfahrungen in der Schule zu einer Isolation und einem Rückzug in die eigene Familie führen. Donika: weil in der Schule in dieser Zeit habe ich keine gefunden keine Kolleginnen keine Freunde keine..weil ich habe mich nicht verstanden mit den Leuten von hier..und durch das dass sie jeweils so ausgelacht worden bin und..die immer Spaß gemacht haben mit mir

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und ich viele ehm Sachen gesehen habe und so..habe ich immer gedacht es sind alle Menschen hier so..und dann habe ich eigentlich irgendwie mit denen nichts zu tun haben wollen..und dann die eine bin ich immer nur mit meinem Bruder gewesen..oder eine eine Kollegin habe ich gehabt die auch von der ehm auch von der Schweiz zurück gekommen ist..mit ihr..nur ich sie und mein Bruder und..und sonst mit den anderen die die ganze Zeit nur da gewesen sind habe ich nichts zu tun haben wollen (2012: 810 - 818)

Donika stellt dar, dass die Migrationserfahrung zum verbindenden Element für Freundschaften wird und präsentiert die Freundschaft zum Bruder und der Kollegin als eine Art Schicksalsgemeinschaft. Dies weist darauf hin, dass sich im Kosovo die Anbindung an den jüngeren Bruder festigt. Donika begründet ihre Fremdheitserfahrungen im Kosovo nebst den Ausgrenzungen in der Schule auch mit unterschiedlichen Geschlechternormen. Sie illustriert diese am Beispiel des Velofahrens und Fußballspielens: Donika: gehts denn noch Fußballspielen sicher nicht..das machen nur Buben oder so..und da..hat mir so gefehlt irgendwie alles das Zeug irgendwie einmal was unternehmen und draußen in der Natur und so..,(das hat hier nicht gemacht)‘..auch die Buben selber haben es nicht gemacht..und die Mädchen sowieso nicht (2012: 1188 - 1191)

Donika thematisiert diese geschlechtsspezifischen Unterschiede auch in Bezug auf Haushaltsarbeiten. Sie stellt dar, dass sie während der Abwesenheit ihrer Mutter in der Schweiz in der Familie des Onkels Haushaltsarbeiten zu übernehmen hatte, die sie bisher noch nie zu erledigen hatte. Donika: dann bin ich ganz alleine da gewesen mit dem Onkel und allen ihm seinen Kindern und ich habe müssen kochen putzen und alles für sie und das bin ich auch nicht gewohnt gewesen weil in der Schweiz habe ich auch alles hat alles die Mutter gemacht und ich nie ich habe nicht gewusst wie man kocht und wie man putzt und das alles habe ich nicht gewusst wie und mein Onkel ist voll lieb gewesen er hat mir geholfen er hat auch beim Kochen geholfen und alles (2012: 611 - 616)

Dies weist darauf hin, dass Donika erst mit der Migration in den Kosovo geschlechtsspezifische Unterschiede erfährt. Damit wird Donikas spezielle Position in der Familie ersichtlich, da sie im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern nicht in die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in der Familie eingeführt wurde. Donika betont ihre Irritation, als sie im Kosovo eine klare geschlechtsspezifische Rollenaufteilung auch in Bezug auf Freizeitverhalten antrifft und erklärt, dass sie sich auch aufgrund unterschiedlicher Geschlechternormen im Kosovo unver-

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standen fühlt. Sie zeigt damit auf, dass sie als junge Frau die Migration in den Kosovo als Einschränkung erlebt im Gegensatz zum Leben in der Schweiz und begründet mit den unterschiedlichen Geschlechternormen ihre Außenseiterposition im Kosovo. Geplante Rückkehr in die Schweiz Donika ist 20 Jahre alt, als sie trotz der Schwierigkeiten das Gymnasium im Kosovo erfolgreich abschließt. Sie präsentiert als Hauptmotivation für den Abschluss ihren starken Wunsch, anschließend in die Schweiz zurückzukehren. Donika: nach vier Jahren habe ich gedacht ok ich mache jetzt diese Schule fertig obwohl es gar nicht mein Wunsch gewesen ist dass ich hier komme in die Schule gehe und so und dann habe ich gedacht wenn die Schule fertig ist möchte ich unbedingt wieder zurück in die Schweiz (2012: 673 - 676)

Sie stellt dar, dass sie mit dem Abschluss des Gymnasiums den Wunsch der Eltern zu erfüllen versucht und sich damit erhofft, in die Schweiz zurückkehren zu können. Dies weist darauf hin, dass das Erfüllen der Bildungserwartungen ihrer Eltern einzig der Rückkehr in die Schweiz dient. Sie stellt am Ende des folgenden Zitates dar, dass sie vorhatte, zum Zeitpunkt der Volljährigkeit gegen den Willen ihrer Eltern in die Schweiz zurückzukehren. Der Verlust der Niederlassungsbewilligung durchkreuzt ihre Pläne. Sie zeigt auf, dass ihr nun nichts anderes übrig bleibt als sich dem Willen der Eltern zu fügen. Donika: im Sommer wäre ich fertig geworden mit der Schule und im Frühling ist er ((Vater)) in die Schweiz gegangen nachher ist er zurückgekommen und dann hat er haben sie gesagt dass wir das Visum nicht mehr haben und das ist für mich nachher auch wieder ein sehr harter Schlag gewesen weil ich mir gedacht und geplant gehabt habe dass ich im Sommer wenn ich die Schule fertig habe habe ich gedacht ich gehe wieder weg von hier..und als er mir das gesagt hat.. habe ich gewusst das ist das es nicht mehr möglich ist weil.. ohne Visum und so kannst du auch nicht gehen.. und ich habe gewusst es ist gegen den Wunsch von ihnen ((den Eltern)) aber ich habe es trotzdem vorgenommen gehabt..habe gedacht dann bin ich auch 18 und habe dann nicht großartig eh..was dagegen tun.. habe ich gedacht sie werden es mit der Zeit vielleicht eh verstehen (2012: 676 - 685)

Fortsetzung des Bildungswegs auf Wunsch des Vaters Donika hat das Gymnasium erfolgreich beendet und ihre Pläne für eine Rückkehr in die Schweiz sind nun nicht mehr realisierbar. Sie beginnt an der Universität zu studieren. Donika ist damit die erste von ihren Geschwistern, welche ein

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Studium beginnt. Sie gehört auch im Kosovo als Studentin an der Universität zu einer Minderheit39. Donika stellt dar, dass sie damit dem Wunsch ihres Vaters Folge leistet. Donika: hat er gesagt ist ja ..es ist gut ehm in die Fakultät zu gehen…und dann nachher ich so gerade der erste Gedanke nein ich gehe nicht wieder in die Schule…nachher habe ich haben sie gesagt das ist total anders dort ist dies dort ist das weil..weil ich habe einfach immer gedacht die reden das alles so schön aber es ist nicht und ich habe immer versucht ihnen zu zeigen aber sie haben es nicht verstanden für sie sie sind immer so glücklich da gewesen und so aber ich nicht.. und eh..ist mir einfach der Gedanke es versteht mich niemand.. und ich bin ganz alleine…(weint)…das ist so schlimm gewesen…(2) ja ja er ((Vater)) hat mich nachher angemeldet in der Fakultät (2012: 686 - 693)

Sie betont damit, dass ihr Vater, wie bereits beim Migrationsentscheid, für sie zentrale Entscheidungen trifft, und sie sich letztendlich dem Willen der Eltern fügt. Donika thematisiert am Beispiel des Studiums die Unterschiede zu ihren Eltern, die in Prizren glücklich sind und nicht verstehen, wie schlimm das Leben für sie an diesem Ort ist. Sie zeigt damit ihre Bemühungen, den elterlichen Erwartungen zu genügen, wie folgendes Zitat zeigt. Donika: ich bin dann knapp ein Jahr gegangen aber es ist genau gleich schlimm gewesen wie.. die Schule halt vorher schon und es ist die Fakultät gewesen auch für Sprachen nachher sind wir bin ich dann gegangen habe ich gedacht vielleicht ist es leichter weil es sind auch die meisten Schüler gewesen die zurück gekommen sind.. von Deutschland oder der Schweiz weil es ist für deutsche Sprache gewesen.. und so und die Kinder die..ich habe mich nachher besser verstanden mit den Schüler (2012:693 - 698)

Donika beginnt ein Studium in Germanistik, einer der beliebtesten Studienrichtungen im Kosovo, die auch von vielen Studierenden mit Migrationserfahrungen in deutschsprachigen Ländern besucht wird, verbunden mit der Hoffnung auf eine Arbeitsstelle als ÜbersetzerIn (vgl. Schack 2011). Donika begründet ihre Studienwahl mit der Hoffnung, durch ihre guten Deutschkenntnisse weniger sprachliche Schwierigkeiten anzutreffen und nicht mehr die einzige zu sein, die aus

                                                             39 Im Jahr 2002, also ungefähr zum Zeitpunkt von Donikas Studienbeginn, besuchen in ganz Kosovo 16.4% der Frauen eine Hochschule im Gegensatz zu 18.2 % der Männer (UNICEF 2003: 21). An den universitären Hochschulen beträgt der Frauenanteil insgesamt 44% (ibid.: 21), an der Universität (Fakultät) 39% und an höheren Fachschulen (Higher Schools) 61% (ibid.: 22).

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dem deutschsprachigen Ausland kommt. Sie stellt dar, dass sie trotzdem aufgrund der schlimmen Erinnerungen an die Zeit im Gymnasium das Studium abbricht: Donika: dann habe ich gemerkt nein ich mag nicht das nochmal durchmachen.. weil das wäre wieder drei Jahre gegangen.. und dann habe ich es halt.. hingeschmissen habe ich gesagt ich gehe nicht mehr..ich tue mir dies nicht nochmal an.. und ehm.. er hat es nachher beide haben es nicht verstanden.. bin ich oft angeschnauzt worden wegen dem.. „weil ich die Schule hingeschmissen habe“ ((weinerliche Stimme)) (2012: 702 - 706)

Sie thematisiert, dass sie gegen den Willen ihrer Eltern das Studium aufgibt und damit zum ersten Mal ihren eigenen Willen durchsetzt. Wie in folgendem Zitat ersichtlich ist, zeigt Donika auf, dass sie dafür von ihrem Vater mit einem Reiseverbot in die Schweiz bestraft wird. Donika: „wo er mich nachher verboten hat in die Schweiz zu gehen“ ((sehr weinerliche Stimme)) auch in die Ferien nicht weil sonst sind wir ab und zu wieder in die Ferien gegangen.. aber nachher ist die Zeit gekommen wo es mir verboten worden ist weil ich die Schule geschmissen habe das.. auch in die Ferien habe ich nicht dürfen in die Schweiz …das ist für mich auch sehr schlimm gewesen..(2012:706 - 710)

Damit stellt Donika dar, dass ihr Vater nach der Verhinderung ihrer Rückkehr in die Schweiz nun auch die Möglichkeit von Ferien in der Schweiz verbietet. Das Nichterfüllen der elterlichen Bildungserwartungen führt damit zu einer Einschränkung ihrer Möglichkeiten, sich von den Eltern zu distanzieren. Selbständiger Einstieg ins Erwerbsleben Nach dem Abbruch des Studiums sucht Donika eine Arbeitsstelle. Im Kosovo gibt es in dieser Zeit noch kein duales Berufsbildungssystem, was bedeutet, dass nebst einem Hochschulstudium kaum Möglichkeiten für Ausbildungen bestehen. Die Arbeitsmarktsituation ist in dieser Zeit angespannt, die Arbeitslosigkeit sehr hoch, insbesondere für junge Erwachsene und Frauen40. Ohne Ausbildung und Studienabschluss sowie ohne familiale Netzwerke im Kosovo stellt die Arbeitssuche eine große Herausforderung dar. Donika präsentiert ihre Überzeugung,

                                                             40 UNICEF (2003: 19) schätzt die Zahl der Arbeitslosigkeit für Frauen mit Gymnasiumabschluss auf 99.3%, gemäß Eurostat (2014: 4) beträgt die Arbeitslosigkeit von jungen Frauen (15 – 24 Jahre) über 80%, für junge Männer 68%.

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trotz der Kritik ihrer Eltern und auch ohne Universitätsabschluss eine Arbeit zu finden: Donika: haben sie dann auch immer gesagt siehst du wenn du hier keine Schule hast keine Fakultät hast kannst du nichts erreichen findest auch kein Job will dich niemand haben nimmt dich niemand.. und ich so doch ((Mutter sagt im Hintergrund etwas auf Albanisch ist nicht klar zu wem)) doch ich werde etwas finden auch ohne Fakultät (2012: 713 - 716)

Damit zeigt Donika ihre Entschlossenheit auf, ihren eigenen Weg zu gehen auch ohne Unterstützung ihrer Eltern. Sie präsentiert ihre erfolgreiche Arbeitssuche wie folgendes Zitat illustriert. Donika: und dann..habe ich auch einen Job gefunden..ist so auch ein Firma gewesen..//I: mh// an der Administration..und dann habe ich gesehen der Job an sich hat mir gefallen (2012:716 - 718)

Donika betont, dass ihr die Arbeit gefällt, rechtfertigt damit ihre Entscheidung, das Studium abzubrechen, das ihr nicht gefallen hat. Jedoch kündigt sie bereits nach wenigen Monaten diese Arbeitsstelle wieder. Sie riskiert, nach nur zwei Monaten Arbeitserfahrung keine neue Anstellung zu finden, da die Arbeitslosigkeit extrem hoch ist. Mit der Kündigung zeigt Donika auf, dass sie sich gegen eine unfaire und schlechte Behandlung wehrt: Donika: dort ist das Problem gewesen der ehm..der Besitzer von der Firma ist ehm nicht ein guter Mensch gewesen also er ist sehr ..böse und schlecht drauf gewesen weil er hat nicht viel zu tun gehabt und es hat immer nervös gemacht weshalb er nicht viel zu tun hat und nicht viel verdient hat und dann hat er halt alles an uns rausgelassen..habe ich ehm..habe ich gedacht ja ok der Job gefällt mir..ich muss einfach irgendwo anders diesen Job finden..dann habe ich es einfach ehm…dort bin ich dann nur zwei Monate gewesen habe ich gedacht nein mit dem Mensch möchte ich nicht zusammen arbeiten..und dann bin ich hinaus (2012: 718 - 724)

Damit wird ein Wendepunkt in ihrer Selbstpräsentation sichtbar. Bis zum Abbruch des Studiums stellt Donika ihre Bemühungen in den Vordergrund, die Erwartungen anderer zu erfüllen. Mit dem Abbruch des Studiums und der Kündigung der Arbeitsstelle zeigt sie auf, dass sie nun eigenständige Entscheidungen trifft, wenn der Leidensdruck zu groß wird. Sie zeigt auf, dass sie auf diesem Weg erfolgreich ist da sie gleich wieder eine neue Anstellung findet, die ihr sehr gefällt:

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Donika: wo ich dann angefangen habe dort angefangen habe zu arbeiten ist es eigentlich das erste Mal wo es mir etwas positiver da..gewesen ist und ein bisschen geregelter gelaufen ist (2012: 727 - 729)

Sie thematisiert, dass es ihr aufgrund dieser neuen Arbeitsstelle nun auch im Kosovo etwas gefällt. Sie lebt zu diesem Zeitpunkt bereits seit fünf Jahren im Kosovo. Diese von ihr als positiv beschriebene Zeit in dieser Firma dauert gerade 6 Monate, danach wird ihr gekündigt: Donika: dann habe ich eben 6 Monate dort gearbeitet..und..dann haben sie mich dort rausgeschmissen..und haben’s jemand anderen eingestellt..ohne Grund ohne nichts..und das ist auch so etwas was mich hier immer..eh gestresst hat eh weil..da ist es immer auch so gegangen wenn du keine Bekannte und Verwandte da hast..dann ist es schwierig gewesen einen Job zu behalten oder einen finden..weil immer ist es so gegangen die Stellen immer entweder seinem Verwandten oder Bekannten nimmst als einen Fremden..und das ist dann auch dort bei mir so gewesen..und denn..ich habe den Job so gerne gehabt..und dann habe ich gedacht ja..immer irgendwie immer wenn es ein wenig angefangen hat besser zu werden ist wieder etwas gekommen..habe ich wieder denken müssen..siehst du hier ist es gleichwohl nicht gut..weißt du und..ja ((seufzt)) (2012:729 - 738)

Sie präsentiert die Bedeutung von Verwandten für die Arbeitsvergabe und begründet mit der fehlenden Verwandtschaft ihre Kündigung sowie ihre Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche. Zugleich zeigt sie auf, dass die unverhoffte Kündigung bei ihr eine große Verunsicherung auslöst und sie ihre Zuversicht verliert, dass das Leben im Kosovo besser werden könnte. Donika ist nun wieder auf Arbeitssuche. Sie präsentiert sich dabei jedoch nie als arbeitslos, sondern stellt stets ihre Bemühungen dar, auch weniger interessante Arbeitsstellen, teilweise auch von kurzer Dauer, anzunehmen, wie folgendes Zitat illustriert: Donika: dann habe ich wieder eh ein paar Jobs dort ein paar Jobs da..immer so kurze Zeit gewesen.. (2012: 738 - 739)

Sie stellt dar, dass sie durch ihre Arbeitsbemühungen nun auch wieder ein Angebot bei der Firma erhält, bei der ihr zuvor gekündigt wurde, wie in untenstehendem Zitat ersichtlich ist. Damit widerlegt sie nicht nur die Zweifel ihrer Eltern, ohne Hochschulabschluss keine Arbeit zu finden, sondern zeigt auf, dass sie nicht nur irgendeine Arbeit findet, sondern eine, die ihr sehr gefällt.

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Donika: dann.. habe ich mich in Firma.. C. beworben..//I:mh// und nachher habe ich müssen..dort so Papierlein bringen dort dass ich wo ich gearbeitet habe also in der Firma B. als Sekretärin.. so eine Bestätigung habe ich holen gehen müssen..dann bin ich wieder dort gegangen diese zu holen und dann haben sie gesagt komm wieder zu uns arbeiten..dann habe ich nicht gewusst soll ich soll ich nicht..die haben mich rausgeschmissen dann habe ich gedacht vielleicht fange ich dort an..dann verliere ich diese Chance..und dann habe ich gedacht ich könnte nach ich weiß auch nicht vielleicht schmeißen sie mich vielleicht wieder raus..habe ich nicht gewusst was machen…habe ich mir überlegt aber ich habe den Job so gerne gehabt..habe ich gedacht ehm ich fange wieder an (2012:739 - 747)

Leben im Mehrgenerationenhaushalt im Kosovo In der Zeit, als Donika in der Firma in Prizren arbeitet, kommt ihr älterer Bruder Clirim im Jahr 2010 in den Kosovo. Donika ist zu diesem Zeitpunkt 27 Jahre alt. Ihr Bruder zieht mit seiner Frau und der neugeborenen Tochter in die gemeinsame Wohnung in Prizren ein. Dies bedeutet für Donika eine Vergrößerung der Familie in Prizren, jedoch auch ein Leben im Mehrgenerationenhaushalt. Sie lebt nun in einer Wohnung mit ihren Eltern, ihren beiden Brüdern sowie der neu gegründeten Familie des älteren Bruders. Donika thematisiert die veränderte Wohnsituation nicht. Dies weist darauf hin, dass für Donika trotz dem eigenen Einkommen der Auszug aus der Familienwohnung keine Option darstellt. Daran wird sichtbar, dass ihre finanzielle Selbständigkeit nicht zu einer Ablösung von der Herkunftsfamilie führt. Die Bedeutung der Familie zeigt sie auch bei der Arbeitssuche auf, indem sie darstellt dar, dass sie für ihren Bruder eine Stelle in derselben Firma findet, wie untenstehendes Zitat zeigt. Donika nennt die Zufriedenheit ihrer Vorgesetzten mit ihrer Arbeit als Grund für die Einstellung ihres Bruders. Sie stellt dar, dass sie das Argument der Verwandtschaft in diesem Falle als Vorteil für sich und ihren Bruder nutzen kann, der dank ihrer Unterstützung in dieser Firma eine Arbeitsstelle erhält. Donika: dann…ist die Zeit gekommen wo er zurück gekommen ist..und ich bin ja dort am Arbeiten gewesen..und er ist zurück gekommen..und dann habe ich und dann (haben sie) in dem Moment einen Security gesucht..und dann habe ich ihnen sofort gesagt für ihn..und dann haben sie ihn gerade genommen..weil die sind ja eigentlich zufrieden mit mir gewesen immer (2012: 747 - 751)

Beruflicher Aufstieg Ungefähr ein Jahr später findet Donika gemeinsam mit ihrem älteren Bruder eine Arbeitsstelle in einer internationalen Firma in Prizren. Donika stellt dar, dass es

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nun ihr Bruder ist, welcher als erster eine Arbeitsstelle in der neu gegründeten Exportfirma findet und er sich nun seinerseits um eine Stelle für sie bemüht. Donika: er hat halt mit dem Schweizer gesprochen und so hat er ihm gesagt dass er ein anderes Firma aufmacht..und dann…hat er ihm gesagt ob er dort arbeiten komme..und er hat nachher gesagt ja dass.. ich ihm seine Schwester sei und ob ich auch mitkommen könnte falls er mitkommen würde.. und dann hat er gesagt ja..ja ja sehr gerne weil er mich auch gesehen hat wie ich dort arbeite er ist eine Weile lang Kunde gewesen bei uns (2012: 763 - 768)

Donika begründet den Erhalt dieser neuen Arbeitsstelle jedoch nicht mit den familialen Beziehungen, sondern mit ihrer eigenen Leistung, wie in obenstehendem Zitat erkennbar ist. Dies bestätigt sie in folgender Aussage, in der sie ihre Motivation und den Einsatz beschreibt, die mit einem beruflichen Aufstieg in dieser Firma belohnt wird. Donika: es hat mir sehr gefallen dort und dann habe ich mich auch voll reingehängt und eh immer mein Bestes gegeben habe ich gedacht mal schauen ob man weißt du auch kann eh etwas höher erreichen kann dort indem Firma..was ich nachher auch geschafft habe..sie haben mich nachher.. „nicht einmal ein Jahr glaube ich“ ((undeutlich)).. Clirim: mh..sechs sieben Monate.. Donika: „nicht sicher so sechs sieben Monate so“ ((sehr schnell und undeutlich))…eh..haben sie mich dann im Sekretariat weg und dann eh im Back Office habe ich danach angefangen zu arbeiten also im Human Ressources Departement ich mache alle Personalfragen der ganzen Firma mache ich..in meinem Büro (2012: 800 - 808)

Donika stellt dar, dass der berufliche Erfolg auch ihre Zufriedenheit mit dem Leben im Kosovo positiv beeinflusst, wie folgendes Zitat zeigt. Zugleich erwähnt sie in diesem Zitat jedoch auch das heute „geregelte“ Leben, zu dem sie die Anwesenheit ihres Vaters sowie das fertige Haus zählt. Donika: seit ich auch dort angefangen habe ist es eigentlich..hier mehr Bergauf gegangen und dann..und dann wir haben auch in dieser Zeit geschafft das ganze Haus ist fertig gewesen ist der Vater ist ja dann auch hier gewesen und..ist irgendwie alles mehr geregelt..und..habe ich eher zum ersten Mal irgendwie das Gefühlt gehabt dass auch hier irgendwie noch ein normales Leben haben kannst weil..vorher habe ich gedacht dass kannst das gibt es hier nicht oder..habe ich immer gedacht was die ganze Zeit nur drunter und darüber und..passiert dort mal was passiert da mal was und ich habe eigentlich die Schulzeit immer nur schlechte Erfahrungen gehabt (2012:777 - 784)

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Donika nimmt damit eine Kontrastierung vor zwischen der schwierigen Schulzeit im Kosovo und der heutigen befriedigenden Arbeitssituation. Sie stellt damit den beruflichen Erfolg als Strategie dar, den abgebrochenen Bildungsweg zu kompensieren. Dies zeigt sie im folgenden Zitat mit der Betonung des beruflichen Erfolges ohne Hochschulabschluss. Donika: es gibt ja hier ziemlich viele die..hohe Schule abgeschlossen haben aber trotzdem keinen Job bekommen und so..und dann fühlt man sich halt schon..gut wenn man einen Job hat und es ziemlich sicher ist und..obwohl wir jetzt keinen Hochschulabschluss haben und trotzdem hohe Positionen bekommen haben (2013a: 1306 - 1309)

Donika zeigt auf, dass sie dank dem beruflichen Aufstieg im Kosovo nun auch neue Freunde und Kollegen gefunden hat und sie sich dadurch mit dem Leben im Kosovo abfindet: Donika: aber als ich habe angefangen zu arbeiten habe ich halt.. „Kolleginnen und so mehr gehabt Freundinnen und..habe ich auch angefangen mehr hinaus und dann..habe ich auch irgendwie hier gesehen dass“ ((sehr schnell))..gleichwohl noch..andere Seiten hat als ich immer in Gedanken nachher gehabt habe..ja und dann..in der Zeit bin ich immer zufriedener und zufriedener gewesen und jetzt..nach zehn Jahren..“habe ich mich da dran gewöhnt“ ((weinerlich))..das ist mir ist mir.. „lang vorgekommen so..bis die Zeit gekommen ist“ ((sehr leise (2012: 829 - 835)

Sie zeigt damit auf, dass sie durch ihre berufliche Karriere und die damit verbundene Anerkennung ihre in der Schulzeit erlebte Isolation und den Rückzug überwinden kann und sie sich nun auf das Leben im Kosovo einlässt. Sie betont dabei jedoch auch, dass dieser Prozess der Integration im Kosovo zehn Jahre dauert und sie diese zehn Jahre als schwierig erlebt hat. Das folgende Zitat weist darauf hin, dass sie trotz des beruflichen Erfolges diese Schwierigkeiten im Kosovo noch nicht ganz überwunden hat. Donika: jetzt im Sommer als es schön Wetter gewesen ist..ist es so ein See (_________) 45 Minuten mit dem Auto entfernt..und nachher haben sie so beim Arbeiten gesagt komm gehen wir doch an den See und so..habe ich mich gefreut also wow schön und habe ich so gesagt gehen wir doch mit dem Velo..und nachher ist wieder das gewesen dass sie mich ausgelacht haben..((lacht leise)) sicher nicht mit dem Velo weißt du wie lange du hast..und sie können nicht und da hast du keine Straße und das und das und das mit dem Velo haben sie s so gesagt hast du den ganzen Tag bist du gehst so sicher nicht Mann und ja so also in der Schweiz so mit Velo wir haben auch schon Velotour durch die ganze Schweiz ge-

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macht..ich so..das ist nichts wir können ehm ziemlich morgen um 8 Uhr morgen aufstehen und mit den Velos losfahren vielleicht zwei Stunden oder so drei Stund und dann bist du dort hast du doch noch den ganzen Tag..und ich so am Abend kommen wir zurück mit dem Velo..die haben alle gedacht ich spinne ((lacht)) (2012: 1212 - 1222)

Sie begründet ihre anderen Freizeitvorstellungen mit ihren Erfahrungen als Jugendliche in der Schweiz. Dies weist darauf hin, dass Donika nach wie vor Unterschiede empfindet zu der kosovarischen Bevölkerung. Diese Unterschiede begründet sie mit ihrer Kindheit und Jugendzeit in der Schweiz. Auch an den Themen von Eheschließung und Familiengründung stellt Donika dar, dass sie sich von der Bevölkerung im Kosovo unterscheidet: Donika: ich würde schon gerne heiraten und ich würde auch gerne Kinder haben (1) aber halt bis jetzt halt noch nicht der richtige getroffen irgendwie und (1) es ist auch ein wenig das Problem (1) die Leute von hier weil w - wir sind halt gleichwohl etwas anders..und die haben hier gleichwohl ein wenig anders und (1) ich verstehe mich mit vielen auch nicht so: (1) gut (2013a:1417 - 1420)

In diesem Zusammenhang thematisiert Donika eine zunehmende Konfrontation mit gesellschaftlichen und elterlichen geschlechtsspezifischen Erwartungen, wie folgendes Zitat zeigt: Donika: bei den Albaner heiraten sie ja ziemlich..eh frü:h..also eh sie eh wenn du zwanzig bist..und dann musst du anfangen zu schauen heiraten und Kinder und so mit zweiundzwanzig dreiundzwanzig wenn du dreiundzwanzig vierundzwanzig fünfundzwanzig wird es dann schon ein wenig zu spät für Frauen meine ich jetzt..und ich bin jetzt schon neunundzwanzig..((lacht)) und das ist bei uns jetzt momentan zu Hause schon ein manchmal ein blödes Thema weil meine Eltern dann irgendwie tun sie immer ein wenig hässig wieso es noch nicht.. dazu gekommen ist (2013a: 1409 - 1415)

Donika zeigt in obenstehendem Zitat auf, dass sie darauf wartet, den „richtigen“ künftigen Ehemann zu finden. Dies weist darauf hin, dass sie selbst entscheiden will und kann, wen und wann sie heiratet. Sie zeigt damit, dass sie ihre eigene Entscheidung über die familialen und gesellschaftlichen Erwartungen stellen kann. Dies ist ihr vermutlich möglich dank ihrem beruflichen Erfolg, der ihr eine gesellschaftliche und familiale Anerkennung ermöglicht, obwohl sie die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen nicht erfüllt, resp. im Kosovo als 30Jährige, unverheiratete und beruflich erfolgreiche Frau eine große Ausnahme

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darstellt41. Der berufliche Erfolg wird damit zur Strategie, ihren individuellen Handlungsspielraum auszuweiten und die Übernahme von geschlechtsspezifischen Aufgaben zu vermeiden. Fallstruktur: Aushandlung familialer Geschlechterrollen dank beruflichem Erfolg Familiale Anbindung durch die Migration in den Kosovo Donika ist die jüngste Tochter der Familie. Sie verbringt ihre Kindheit vor allem mit ihren Geschwistern und weiteren Verwandten. Mit der Einschulung beginnt sich ihr Freundeskreis schrittweise zu erweitern. In der Oberstufe in der Kleinstadt Rheinfelden hat sie sich einen festen Freundeskreis außerhalb der Familie aufgebaut. Damit zeigt sich ein beginnender Ablösungsprozess von der eigenen Familie. Mit der Migration in den Kosovo mit 16 Jahren nimmt der begonnene Ablösungsprozess ein jähes Ende. Verstärkt durch Ausgrenzungserfahrungen in der Schule zieht sich Donika ganz in die Familie zurück. Dieser Rückzug in die Familie ist bis heute sichtbar, da Donika trotz beruflichem Erfolg nach wie vor im elterlichen Haushalt wohnt. Damit zeigt sich, dass die Migration in den Kosovo zu einer engeren Anbindung an die Familie führt. Aushandlung familialer Erwartungen dank beruflichem Erfolg Diese Anbindung an die Familie zeigt sich nicht nur räumlich, sondern auch in der Wirksamkeit elterlicher Erwartungen, welche mit der Migration in den Kosovo beginnen und ihren Bildungsweg betreffen. Donikas Bemühungen, die elterlichen Bildungserwartungen zu erfüllen, stellen ihre Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen dar, an denen sie sich trotz Schwierigkeiten zu orientieren versucht. Dies zeigt sich am erfolgreichen Abschluss des Gymnasiums und dem Beginn eines Hochschulstudiums. Mit dem Abbruch des Studiums setzt Donika zum ersten Mal ihren eigenen Willen durch. Die erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt wird nun zu ihrer Strategie, sich mit dem Leben im Kosovo abzufinden und ermöglicht ihr, den abgebrochenen Bildungsweg zu kompensieren und die Anerkennung ihrer Eltern zu erhalten. Zugleich ermöglicht ihr der berufliche Erfolg auch, familiale und gesellschaftliche Geschlechternormen auszuhandeln.

                                                             41 Gemäß Eurostat (2014: 3) gehen im Jahr 2007 nur 28.4 % der Frauen im Erwerbsalter einer Erwerbsarbeit nach (Economy Activity Rate) im Vergleich zu 65.7 % der Männer. Kosovo weist damit im regionalen Vergleich eine der tiefsten Erwerbsquoten von Frauen (13.2%) auf (Eurostat 2016).

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Außenseiterposition Mit der Migration in den Kosovo im Alter von 16 Jahren erlebt Donika einen Verlust der Kontakte zu ihrem nächsten Umfeld (Geschwister, weitere Verwandte sowie Freunde außerhalb der Familie). Sie erlebt im Zusammenhang mit ihren sprachlichen Schwierigkeiten Ausgrenzungserfahrungen in der Schule und reagiert darauf mit einer zunehmenden Isolation. Sie begründet ihre Außenseiterposition einerseits mit sprachlichen Schwierigkeiten wie auch unterschiedlichen Geschlechternormen in Bezug auf Freizeitaktivitäten. Erst mit dem beruflichen Erfolg und der damit erworbenen Anerkennung beginnt sie wieder, Kontakte außerhalb der Kernfamilie zu knüpfen. Am Thema der Heirat und Freizeitaktivitäten stellt sie sich jedoch weiterhin als „anders“ als die Mehrheit der Bevölkerung im Kosovo dar. Damit wird sichtbar, dass sie trotz beruflichem Erfolg ihre Außenseiterposition im Kosovo nach wie vor nicht überwunden hat. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass für Donika die Migration in den Kosovo verbunden ist mit dem Ende des begonnenen Ablösungsprozesses und einer Konfrontation mit familialen Erwartungen. Ausgrenzungserfahrungen führen dazu, dass Donika diese Erwartungen nicht erfüllen kann und führen zu einem Rückzug in die Familie. Durch den Abbruch des Studiums gegen den Willen ihrer Eltern und dem erfolgreichen Einstieg ins Erwerbsleben beginnt sie, sich auf das Leben im Kosovo einzulassen. Der berufliche Erfolg ermöglicht ihr, den abgebrochenen Bildungsweg zu kompensieren und dadurch familiale und gesellschaftliche Geschlechternormen auszuhandeln. Diese stehen im Zusammenhang mit der bis heute nicht überwundenen Außenseiterposition im Kosovo und führt zugleich zu einem Verbleib in der eigenen Familie. 6.2.5 Egzon – Transnationaler Bildungsweg als Suche nach Zugehörigkeit Egzon ist der jüngste Sohn und wie Donika in der Schweiz geboren. Obwohl er drei Jahre jünger ist als Donika zeigen beide Geschwister gewisse Ähnlichkeiten auf. Beide migrieren im Schulalter mit den Eltern in den Kosovo. Sowohl Egzon wie auch Donika sind zum Zeitpunkt der Interviews beide nicht verheiratet und wohnen nach wie vor bei ihren Eltern. Trotz der Ähnlichkeiten zeigt die Fallanalyse von Egzon eine ganz andere Handlungsstruktur: Im Gegensatz zu Donika steht bei Egzon nicht die Erwerbsarbeit, sondern der Bildungsweg im Vordergrund, der ihm eine temporäre Rückkehr in die Schweiz ermöglicht.

 

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Kontaktaufnahme und Interviewkontext Ich lerne Egzon im Jahr 2011 in Prizren kennen, als er im Gastgewerbe arbeitet. Sein perfektes Schweizerdeutsch weckt meine Aufmerksamkeit, weshalb ich ihn für die Teilnahme an meinem Forschungsprojekt anfrage. Fast ein Jahr später kontaktiere ich ihn per E-Mail und erfahre, dass er nun an einer Universität in der Schweiz studiert. Wir vereinbaren eine erste Besprechung im Frühling 2012 in der Schweiz und ich erläutere ihm mein Forschungsvorhaben. Im Sommer 2012 findet in der Schweiz ein weiteres Treffen statt, bei dem ein biographischnarratives Interview durchgeführt wird. Mir fällt dabei auf, dass seine Erzählungen sich an seinem Bildungsweg orientieren. Diese Fokussierung kann sowohl beeinflusst sein vom Interviewstandort (Universität), seinem aktuellen Studium sowie auch meinem eigenen Bildungshintergrund und dem Forschungsvorhaben. Jedoch zeigt sich auch im zweiten Interview, das ein Jahr später im Sommer 2013 in einem Café im Kosovo stattfindet, eine Fokussierung auf das Thema Bildung. Damit bestätigt sich die Hypothese der zentralen Bedeutung seines Bildungswegs. Egzon wohnt zu diesem Zeitpunkt wieder bei der Familie in Prizren, da er das Studium in der Schweiz abgebrochen und damit auch die Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz verloren hat. Das Gespräch findet in Anwesenheit des Bruders Clirim und der Schwester Donika statt. Ich lege das Aufnahmegerät auf die Mitte des Tisches und fordere die drei Geschwister auf, von ihrer Kindheit zu erzählen. Darauf spricht als erster vor allem Clirim, dann Donika, und am Schluss auch Egzon. Die Geschwister ergänzen sich teilweise. Insgesamt handelt es sich um ein fröhliches Gespräch, wobei Egzon am wenigsten zu Wort kommt. Dies kann mit der Fokussierung auf das Thema der Kindheit zusammenhängen, da hier der Altersunterschied zwischen den drei Geschwistern von je drei Jahren relevant wird. Egzon hat deshalb gewisse Ereignisse, die die beiden älteren Geschwister erzählen, als Kleinkind erlebt. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass Egzon von seinem älteren Bruder als „fettes Baby“ präsentiert wird. Erzählte Lebensgeschichte „irgendwie tust du dich automatisch mit denen verbinden“42 Im Gegensatz zu meinem ersten Eindruck zeigt sich bei der Analyse des ersten Interviews, dass die Orientierung am Bildungsweg bedeutend ist, jedoch nicht bei seiner Selbstpräsentation im Vordergrund steht. Die Analyse des ersten Interviews zeigt vielmehr die Relevanz des Themas der Zugehörigkeit auf. Das Thema der Zugehörigkeit zeigt sich darin, dass Egzon immer wieder beschreibt, wie er sowohl in der Schweiz wie auch im Kosovo Zugehörigkeit zu Menschen

                                                             42 Egzon (2012: 106 - 107).

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erfährt, die wie er Migrationserfahrungen haben. Dies beginnt mit seinen Erzählungen über die Schulzeit in der Schweiz. Er stellt dar, dass er in der Schule aufgrund der gemeinsamen Sprache Zugang zu anderen albanisch-sprachigen Kindern findet und sich dadurch von schweizerischen Kindern zu distanzieren beginnt. Egzon: haben so unsere Gruppe gehabt…irgendwie ja..eigentlich unbewusst ..irgendwie bist du einfach bei diesen gelandet…jetzt nicht so indem Sinne irgendwie wir müssen uns irgendwie ..trennen von den Schweizer oder irgendwie die Schweizer müssen sich von uns trennen weil wir Ausländer sind ..es ist irgendwie einfach so geworden mit der Zeit einfach am Anfang sind noch alle zusammen gewesen aber irgendwie haben wir dann irgendwie auf einmal begonnen albanisch mit jemandem zu sprechen und dann versteht halt die andere Person das nicht und dann mit der Zeit glaub tust du dich ja so halt ein bisschen distanzieren (2012: 803 - 810)

Auch nach der Migration in den Kosovo stellt Egzon dar, dass er sich aufgrund seiner Migrationserfahrungen mit seinen „einheimischen“ (kosovarischen) Mitschüler_innen nicht versteht. Er zeigt auf, dass er dadurch Zugang zu Gleichaltrigen findet, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie er: Egzon: immer .. wenn du irgendwie eine Person gesehen hast oder kennengelernt hast die irgendwie mal in der Schweiz gewesen war oder in Deutschland oder Österreich oder wo auch immer.. einfach mal im Ausland und wieder im Kosovo lebt.. irgendwie tust du dich automatisch mit denen verbinden, irgendwie, es ist nicht so dass du diese Personen suchst, aber es, ich weiß nicht warum es so gekommen ist aber es ist irgendwie einfach immer so gewesen … ich denk mal einfach weil du dann einfach den Unterschied kennst, und du kannst über Sachen mit denen sprechen die sie dann auch verstehen, jemand der das ganze Leben im Kosovo gewesen ist kannst du halt nicht solche Sachen erzählen (2012: 104 111)

Damit stellt er seine Migrationserfahrungen zugleich als Merkmal für Ausgrenzung wie auch Zugehörigkeit zu Mitschüler_innen dar. Diese Zugehörigkeit, welche sich durch Auslanderfahrungen ergibt, nennt Egzon auch in Bezug auf das Leben in der Schweiz während seinem Masterstudium. Er stellt dar, dass er sich dort wohl fühlt, wo andere Ausländer arbeiten. Egzon: aber die Mitarbeiter super bin ich sofort zurechtgekommen und irgendwie die ganze Atmosphäre wo dort innen ist einfach ..ganz gut gewesen und ..wie viele verschiedene Leute dort innen von vielen verschiedenen Kulturen und Nationen einfach… irgendwie

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muss ich sagen habe ich mich dort drinnen mich irgendwie so ein wenig wohler gefühlt irgendwie weil viele Ausländer dort innen sind und ich irgendwie auch als Ausländer (2012: 561 - 566)

Damit präsentiert sich Egzon in der Schweiz wie auch im Kosovo als ein Außenseiter aufgrund seiner Migrationserfahrungen. Er zeigt jedoch auf, dass diese Migrationserfahrungen nicht zu Einsamkeit oder Isolation führen, sondern er gerade dadurch Zugehörigkeit zu anderen Menschen findet, die ebenfalls Migrationserfahrungen haben. Fallrekonstruktion: Transnationaler Bildungsweg Die Fallrekonstruktion beruht auf beiden Interviews. Dabei wird berücksichtigt, dass das erste Gespräch im Jahr 2012 mit Egzon alleine in der Schweiz stattgefunden hat und beim zweiten Gespräch (2013a) im Kosovo die beiden älteren Geschwister, Donika und Clirim dabei waren. Die Zitate sind entsprechend mit der Jahreszahl gekennzeichnet. Glückliche Kindheit in der Schweiz Egzon kommt 1987 als fünftes Kind und als zweiter Sohn wie Donika in der Schweiz zur Welt. Er verbringt seine ersten Lebensjahre als jüngstes Kind der Familie in der Schweiz, umsorgt von seiner Mutter und seinen älteren Geschwistern in einem Zweifamilienhaus im Dorf Zuzgen. Im Nachbarhaus zieht der Onkel mit seiner Familie ein. Die ersten Kindheitsjahre von Egzon sind geprägt von Stabilität, da die Familienplanung abgeschlossen ist und die nun siebenköpfige Familie über eine Aufenthaltsbewilligung sowie ein gesichertes und regelmäßiges Einkommen des Vaters verfügt. Ein Jahr nach Egzons Geburt beginnt seine Mutter zu arbeiten. Egzon erwähnt, dass seine Mutter den Einstieg in die Erwerbsarbeit seiner Entwicklung anpasst, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: wir sind alle Kinder ja so drei Jahres Unterschied fast alle zueinander dann hat halt auch meine Mutter huere lange gebraucht..bis eigentlich ich der der kleinste gewesen ist..bis ich so weit gewesen bin dass ich auf mich selber aufpassen kann..erst dann hat sie können anfangen zu arbeiten auch in der Schweiz (2013a: 959 - 962)

Aus den Interviews mit den Schwestern und der Mutter ist jedoch ersichtlich, dass seine Mutter bereits eineinhalb Jahre nach seiner Geburt zu arbeiten beginnt und deshalb die Schwestern Betreuungsaufgaben übernehmen. Dies zeigt auf, dass Egzon durch seine Betonung seiner Selbständigkeit vermeidet, die ge-

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schlechtsspezifischen Implikation des Einstieges der Mutter in die Erwerbsarbeit für seine Schwester zu thematisieren. Egzon stellt dar, dass seine Kindheit zu seiner schönsten Zeit in seinem Leben gehört und illustriert dies mit dem großen Haus und den vielen Spielmöglichkeiten wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: das Haus ist recht schön also nicht schön es war ein altes Haus aber die Kindheit dort drin zu verbringen ist super gewesen ein großer Garten haben wir gehabt und es ist ein großes Haus gewesen und irgendwie viele Räume so große Keller und große Garage du hast irgendwie von Raum zu Raum gehen können das ganze Haus wie ein Labyrinth kommt es uns vor als kleines Kind hatte ich immer voll Freude gehabt (2012:858 - 863)

Dabei fällt auf, dass er von „wir“ spricht. Dies deutet darauf hin, dass seine Geschwister in den ersten Lebensjahren seine zentralen Bezugspersonen sind, die er aber nicht weiter erwähnt, da diese für ihn zum selbstverständlichen Umfeld gehören. Die Bedeutung der Familie zeigt er auch anhand der Sommerferien auf, zu denen sich die gesamte Familie zusammenfindet und ins Herkunftsdorf reist, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: wir sind früher in den Sommerferien nur dort hin also nicht nur in den Sommerferien sondern auch eigentlich immer wenn wir irgendwie eine Woche Zeit gehabt haben für mehr als eine Woche sind wir immer runter gefahren so früher halt immer mit dem Auto und..ja sobald irgendwie eine Woche ..die meisten von uns zusammengekommen sind wir eigentlich immer runter gegangen (2012: 1063 - 1066)

Er bringt den Herkunftsort seiner Eltern in Verbindung mit der Pflege des Zusammenhaltes der erweiterten Familie, von der ein Teil nach wie vor in Bujanovac lebt. Im Alter von fünf Jahren besucht Egzon den Kindergarten in Zuzgen. Seine älteren Geschwister haben dort ebenfalls den Kindergarten besucht und seine Eltern sind deshalb nun vertraut mit dem schweizerischen Bildungssystem. Egzon betont seine Vorteile als jüngstes Kind der Familie anhand der Zweisprachigkeit. Durch seine Zweisprachigkeit stellt er sich und seine Familie als gut integriert in der Schweiz dar. Egzon:((lacht)) ja weil ich der jüngste gewesen bin und die alle schon deutsch gesprochen haben habe ich es eigentlich von Anfang an eigentlich grad gekonnt.. weil normalerweise auch jetzt noch..ist es meistens so bei albanischen Familien in der Schweiz man lernt denen irgendwie zuerst albanisch bis die irgendwie so drei vier Jahre alt sind so kurz davor dass irgendwie die Zeit kommt dass sie in den Kindergarten kommen dann schaut man

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dass die auch Deutsch können //mhm//..und bei mir ist das irgendwie von Anfang an einfach..grad beides gewesen weil die Geschwister alle gerade schon Deutsch gesprochen haben und meine Eltern mit mir Albanisch gesprochen haben habe ich gerade beide Sprachen schon von Anfang an können (2013a: 446 - 454)

Schulzeit in der Kleinstadt Als Egzon 6 Jahre alt ist, zieht er mit seiner Familie nach Rheinfelden in eine 4.5-Zimmer-Eigentumswohnung in einem Mehrfamilienhaus. Seine ältere Schwester beginnt nun eine Ausbildung in einem nahegelegenen Kaufhaus und auch seine Mutter erhöht mit der Einschulung von Egzon ihr Arbeitspensum. Egzon stellt dar, dass er trotz des Umzuges in die Kleinstadt nach wie vor viel Zeit im ehemaligen Haus in Zuzgen bei den Verwandten verbringt. Egzon:..als wir in Rheinfelden gewohnt haben und meine Tante und Onkel in Zuzgen gewesen sind in dem Haus ..eigentlich..dann immer wenn wir zusammen gekommen sind…ist es einfach am Schönsten gewesen..ich habe auch die meisten Erinnerungen her ..sind auch einfach meistens mit diesen Leuten…mit den Cousins Cousinen..und ..wir haben dann auch einfach ganz viel immer gemacht…da bin ich gewesen meine Schwester und meine Tante..mit den Cousins und Cousinen weil wir alle so eine Generation gewesen sind alle nur so zwei drei Jahre Unterschied (2012: 1210 - 1216)

Er präsentiert damit die Bedeutung der erweiterten Familie, mit der er die meiste Zeit verbringt. Zudem bietet die Wohnsiedlung in Rheinfelden Egzon und seinen Geschwistern mehr Möglichkeiten, mit anderen Kindern Kontakt aufzunehmen und den Freundeskreis außerhalb der Familie zu erweitern. Dies zeigt sich auch anhand der Freizeitaktivitäten. Egzon beginnt wie sein älterer Bruder in Rheinfelden Fußball zu spielen: Egzon: ja in Rheinfelden habe ich dann mehr Sachen erlebt bin ich dann auch größer worden..mit der Schule habe ich viel: mit den Kollegen..immer wieder Z- .. Sachen gemacht..und dann außerhalb mit dem FC habe ich auch angefangen gehabt dann habe ich dort irgendwie so ein wenig ein Freundeskreis gehabt mit denen in der Schule..und dann mit denen von zu Hause von den Blöcken den vier Reihenblöcken die gewesen sind wo wir dort (2013a: 454 - 459)

Egzon besucht in Rheinfelden die erste Klasse nach nur einem Jahr Kindergarten. Dies ist unüblich, da normalerweise alle Kinder, auch die mit deutscher Muttersprache, in diesem Kanton zwei Jahre lang den Kindergarten besuchen.

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Egzon begründet den frühen Eintritt in die erste Klasse mit seinen guten Deutschkenntnissen dank seiner älteren Geschwister. Egzon: die haben mir gesagt gehabt ich dürfe direkt in die erste KLASSE weil ich gut deutsch gekonnt habe und alles verstanden habe und ((lacht)) das ist eigentlich ziemlich einfach gewesen für mich weil ich war der jüngste und Geschwister schon alle deutsch am Reden und ich habe es irgendwie.. ganz schnell aufschnappen können (2012: 17 - 20)

Egzon weist damit auf die Unterstützung durch seine älteren Geschwister hin. Auf die Vorteile von älteren Geschwistern für den Bildungserfolg von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schweiz weisen auch Bader/Fibbi (2012:17) hin, die aufzeigen, dass die jüngeren Kinder von den Erfahrungen der älteren Geschwister mit dem Bildungssystem profitieren können. Egzon präsentiert sich am Beispiel der Hausaufgaben als einer der besten in der Schule, obwohl er ein Jahr jünger ist als die anderen Kinder. Egzon: ich muss ehrlich sagen ich bin irgendwie so ein kleines Naturtalent irgendwie gewesen ((lacht)) das weiß ich noch ich weiß dass meine Eltern immer so Egzon musst du keine Hausaufgaben machen und ich so nein die habe ich alle bereits in der Schule gemacht einfach ich habe gesehen wie andere Kinder irgendwie eine Stunde gebraucht haben für Mathematikaufgaben zu machen und ich war irgendwie in 10 min fertig gewesen (2012: 742 - 746)

In dieser Passage erwähnt Egzon, dass die Eltern ihn nach seinen Hausaufgaben fragen. Dies deutet darauf hin, dass die Eltern Interesse haben am Bildungserfolg von Egzon und er von ihnen dafür Anerkennung erhält. Egzon nennt die ersten Schuljahre als eine schöne Zeit und stellt dar, dass er aufgrund seiner guten Leistungen in der Klasse Anerkennung erhält, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: die erste und zweite Klasse ist sowieso ganz ich erinnere mich gut eine ganz gute Zeit gewesen..wir haben so ..ein Lehrer gehabt also in unserer Klasselehrer wir haben auch Mathe bei ihm gehabt und wenn wir einen Test gemacht haben so Gruppe A und Gruppe B hat er dann immer für die Gruppe die den bessern Notendurschnitt hat diesen Schüler hat er dann immer fürs Znüni ein Bürli gekauft wir haben immer mega Freude gehabt und Mathematik ist mir immer sehr gut gelegen …dann hat er immer die Tests mit der Klasse korrigiert damit wir auch alle wissen wer kommt an diesem Tag ein Znüni Bürli über wir haben dann auch immer selber einkaufen gehen können bis zum Beck hat er uns das Geld gegeben und wir haben große Freude gehabt dass wir als Kind etwas alleine machen durften ..und dann hat er immer meinen Test als letzter korrigiert und dann war es

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viel immer so knapp zwischen A und B und dann alle so komm Egzon noch deinen Test mit deinem Test gewinnen wir ((lacht))..und das ist auch meistens so gewesen das wir gewonnen haben war eine ganz gute Zeit (2012: 770 - 781)

Egzon bewertet seine Schulzeit nicht aufgrund der Schulleistungen, sondern in Bezug auf seine Position in der Klasse. So präsentiert er die dritte und vierte Klasse als schwierigere Zeit, da er ein Außenseiter war und zeigt damit auf, dass es für sein Wohlbefinden wichtig ist, Zugehörigkeit zu erfahren. Egzon: die dritte und vierte Klasse sind so ein bisschen..also nicht jetzt nicht wegen dem Unterricht her sondern einfach so eine Zeit wo einfach mit den Schüler die in der gleichen Klasse gewesen sind die zwei Jahre sind jetzt eher so ein bisschen…nicht soo gut gelaufen sagen wir so ein bisschen im sozialen Bereich weil im Unterricht irgendwie meine Noten sind trotzdem gut gewesen ich bin trotzdem gut gewesen in der Schule von dem her ist es jetzt nicht irgendwie..hinten her geblieben oder so..aber einfach..also es ist nicht schlecht gewesen von dem her aber irgendwie so ein bisschen eine Außenseiter Zeit gewesen bei mir ((lacht)) (2012: 763 - 769)

Die folgende Erzählung weist darauf hin, dass seine Außenseiterposition im Zusammenhang steht mit der Veränderung der Situation der Familie. In dieser Zeit heiratet seine älteste Schwester Abresha und bekommt kurz nach der Hochzeit einen Sohn und zieht mit ihrem Ehemann in eine eigene Wohnung. Egzon stellt dar, dass die Mitschüler_innen nicht verstehen, dass er mit zehn Jahren bereits Onkel wird und seine freie Zeit mit Babysitten verbringt. Egzon: also meine Schwestern also in dieser Zeit hat die eine die ganz große irgendwann verheiratet also hat geheiratet und ist auch in Rheinfelden geblieben und hatte nachher Kinder bekommen und auch dort ..und ich so also wie alt bin ich damals gewesen also zehn bin ich gewesen als ich Onkel geworden bin auch ganz Freude gehabt in der Schule habe ich dann auch erzählt ich bin Onkel geworden und so dann bin ich Mittwochnachmittags Babysitten gegangen zu ihr als wir frei gehabt haben immer wieder die meisten haben dies zwar irgendwie nicht verstanden wie soll das gehen wie kannst du mit zehn schon Onkel sein (2012: 752 - 758)

Egzon stellt dar, dass er aufgrund seiner familialen Situation zum Außenseiter in der Klasse wird. Zugleich zeigt er auf, dass sich daraus eine Freundschaft bildet zu einer Mitschülerin aus Serbien, die eine ähnliche Familiensituation erlebt, wie folgendes Zitat zeigt:

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Egzon: die Kollegin die auch von Serbien gewesen ist mit der sie ist dann mit mir auch in die Sek auch in die gleiche Klasse nachher gewesen mit der hab ich es auch ganz gut gehabt die ist auch..irgendwie die jüngste gewesen von den Geschwister und hat auch eine Schwester gehabt die Kinder gehabt hat auch schon Tante gewesen ist sie als Tante und ich als Onkel nachher ((lacht)) so haben wir halt auch so Themen besprechen können die du mit anderen nicht hast können (2012: 819 - 824)

Indem Egzon die unterschiedliche Familiensituation mit dem Herkunftsort aus Serbien verbindet, weist er zudem auf die Bedeutung von Ethnizität resp. Nationalität hin. Wie folgendes Zitat illustriert, gewinnt die ethnische Zugehörigkeit für Egzon in dieser Zeit an Relevanz und wird zum Kriterium für Freundschaften: Egzon: ich glaube zwei Albaner sind wir gewesen drei Albaner sind wir gewesen in dieser Klasse und irgendwie.. eine Serbin ist gewesen..also alle Albaner sind von Bujanovac sind eigentlich alle von Serbien sozusagen..da sind wir meistens zusammengeblieben und haben so unsere Gruppe gehabt…irgendwie ja..eigentlich unbewusst ..irgendwie bist du einfach bei diesen gelandet…jetzt nicht so indem Sinne irgendwie wir müssen uns irgendwie ..trennen von den Schweizer oder irgendwie die Schweizer müssen sich von uns trennen weil wir Ausländer sind ..es ist irgendwie einfach so geworden mit der Zeit einfach am Anfang sind noch alle zusammen gewesen aber irgendwie haben wir dann irgendwie auf einmal begonnen albanisch mit jemandem zu sprechen und dann versteht halt die andere Person das nicht und dann mit der Zeit glaub tust du dich ja so halt ein bisschen distanzieren.. aber die.. das ist super gewesen die Zeit (2012: 801 - 810)

Er begründet die Gruppenbildung mit der gemeinsamen albanischen Sprache. Er stellt damit dar, dass Ethnizität im Sinne der Sprache und des Herkunftsortes der Familie zu einer Gemeinsamkeit wird, um in der Schule Zugehörigkeit zu erfahren. In dieser Zeit situiert Egzon zudem auch die Thematisierung einer künftigen Migration in den Kosovo in der Familie. Egzon: also das Thema dass wir in den Kosovo ziehen.. eigentlich..also die letzten zwei Jahre.. also ab der 5/6 Klasse.. ab dann kann ich mich erinnern dass das immer wieder ein Thema war.. ich wusste eigentlich nie so genau was ich davon halten sollte (2012: 23 - 25)

Diese Erzählungen über die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit und der Migration in den Kosovo weisen darauf hin, dass er sich im Alter von 10-11 Jahren mit der Herkunft seiner Familie und der ethnischen Zugehörigkeit auseinandersetzt und damit Zugehörigkeitserfahrungen zu Mitschüler_innen verbindet.

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In der 7. Klasse wechselt Egzon im Jahr 1999 in die Sekundarschule, welche sich im Oberstufenzentrum in derselben Kleinstadt befindet. Egzon und sein Bruder Clirim sind damit die einzigen der Familie, welche die Sekundarschule besuchen. Diese geschlechterspezifische Unterscheidung der Bildung in der Familie wird von Egzon nicht erwähnt. Er präsentiert den Übertritt in die Sekundarschule als eine Veränderung seines Freundeskreises, da die beiden albanischen Mitschüler in der Realschule verbleiben, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: wir uns haben langsam trennen müssen weil nachher entschieden worden ist geht man in die Real oder in die Sek oder in die Sonderklasse ((lacht)) dann ja mit den anderen zwei Albaner die mit mir in die Klasse gegangen sind in die Real gegangen ich bin dann in die Sek. (2012: 816 – 819)

Egzon weist damit darauf hin, dass nur wenige Albaner den Übertritt in die Klasse mit höheren Leistungsansprüchen schaffen. Dies zeigen auch verschiedene Studien auf, welche eine Überrepräsentation von Schülern mit Migrationshintergrund resp. ausländischen Jugendlichen in anforderungsärmeren Schulen nachweisen (vgl. Imdorf 2014: 44, Haeberlin et al. 2004: 9). Egzon stellt dar, dass dies zu einer Auflösung der Gruppenbildung aufgrund ethnischer Zugehörigkeit führt und er sich somit mit der ganzen Klasse gut versteht, wie folgendes Zitat illustriert: Egzon: und in der 7. Klasse ist es super gewesen..die Zeit habe ich echt genossen wir haben es ganz gut gehabt mit allen von den Schüler..wir sind klar gekommen mit allen wir haben immer auch alle zusammen etwas unternommen es ist irgendwie nicht so gewesen dass es so Gruppen gehabt (2012: 828 - 831)

Auch in der Sekundarschule stellt sich Egzon als erfolgreichen Schüler dar, der die anspruchsvollere Leistungsstufe mühelos schafft. Damit präsentiert er sich in Rheinfelden als integriert, mit einem großen Freundeskreis, bestehend aus dem Fußball, der Schule und der Nachbarschaft. Indem er seine Geschwister dabei nicht erwähnt, zeigt er auf, dass eine schrittweise Ablösung von den Eltern und der Familie stattgefunden hat und er sich nun an gleichaltrigen Jugendlichen außerhalb der Familie orientiert. Dabei spielt nun auch die Herkunft, die ethnische Zugehörigkeit oder die Sprache keine Rolle mehr. Egzon: ja dann ist auch irgendwie die Zeit gekommen wo ich dann einfach so ein etwas größeren Freundeskreis aufgebaut hast 13 bin ich damals gewesen..irgendwie hast du halt so deine Leute gehabt vom FC und deine Leute von der Schule und deine Leute von von

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der Nachbarschaft und hast irgendwie viel unternommen mit allen..ja dann bevor es so richtig.. bevor richtig alles aufgebaut hast sind wir dann halt weggezogen (2012:835 - 840)

Insgesamt präsentiert Egzon seine schöne Kindheit und Jugendzeit in der Schweiz. Er hat viele Freunde, besucht mühelos die Sekundarschule, die ihm einen Besuch des Gymnasiums ermöglicht und betreibt Sport. Er stellt sich damit als in der Schweiz gut integriert dar und betont damit die Auswirkungen der folgenden Emigration in ein für ihn fremdes Land. Migration in den Kosovo Egzon ist dreizehn Jahre alt, als er mit seiner Mutter und der jüngsten Schwester Donika nach Prizren zieht. Die Migration erfolgt in den Sommerferien, so dass Egzon und seine Schwester das folgende Schuljahr ohne Unterbruch in Prizren beginnen können. Dies zeigt auf, dass Egzons Eltern Wert darauf legen, die Bildungswege der beiden jüngsten Kinder durch die Migration nicht zu unterbrechen. Egzon vergleicht den Beginn im Kosovo mit Ferien und stellt damit einen Bezug her zu den Ferien, die er mit der Familie jeweils im Herkunftsdorf der Eltern verbrachte. Zugleich verbindet er damit seine Hoffnung, wieder in die Schweiz zurückzukehren. Egzon: am Anfang ist es eigentlich ziemlich komisch gewesen … wir hatten immer so das Gefühl gehabt wir seien einfach in den Ferien weil wir es irgendwie nicht so richtig gekannt haben.. wir sind immer unten in den Ferien gewesen.. dann sind immer alle frei gewesen.. niemand am Arbeiten.. niemand in der Schule.. es sind einfach immer alle da gewesen.. und dann kommt so der Alltag.. jeder hat etwas zu tun.. jeder muss irgendwo hin.. das ist uns dann recht komisch vorgekommen und wir haben es irgendwie .. monatelang gar nicht so richtig realisiert.. wir haben immer gedacht wir sind jetzt in den Ferien und irgendwann geht es dann wieder zurück in die Schweiz ((lacht)) (2012:70 - 77)

Egzon stellt den Neubeginn in Kosovo als interessant dar und präsentiert seine Neugierde, dieses neue Land zu entdecken. Er zeigt auf, dass er sich mit seiner Schwester und Mutter auch ohne Unterstützung von Verwandten schnell zurechtfindet: Egzon: der Start ist eigentlich … ist noch gut gewesen.. nicht schlecht gewesen.. ist einfach alles interessant gewesen.. so ein wenig neugierig wie ist es dann.. wie läuft die Sachen hier ab.. wie.. wie sind die Menschen.. wie denken sie.. wie ist die Kultur… wir sind halt im Kosovo dann in Prizren sind wir ja gezogen.. wir hatten keine Verwandtschaft gehabt.. niemanden.. wir sind auf uns alleine gestellt gewesen.. also nur ich meine Mutter

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und meine Schwester zuerst.. ich bin dreizehn gewesen meine Schwester sechzehn …. und dann haben wir zuerst mal..also die ersten paar Monaten herausfinden wo ist was.. wo ist das Amt wo ist das Amt.. wo muss man sich melden um die Anzüge zu holen.. wo ist das.. wie läuft es ab in der Schule … //I: seufzt//… und wir haben eigentlich ziemlich schnell alles gefunden.. ist eigentlich ziemlich gut gelaufen (2012: 77 – 85)

Nach dieser ersten positiven Bilanz beginnt Egzon die Unterschiede zwischen Kosovo und der Schweiz anhand der verschiedenen Schulsysteme und Schulstandards zu thematisieren und problematisieren. Er stellt die Schweiz als Standard dar und Kosovo in Kontrast dazu als unterentwickelt. Zudem beginnt er die negativen Aspekte, die mit der Migration in den Kosovo verbunden sind, darzustellen. Egzon: die Umstellung von der Schule ist halt schon ziemlich…krass gewesen.. also alleine schon vom … vom Standard mal zuerst.. irgendwie wie die Gebäude sind.. wie alles aufgebaut ist.. ist halt schon ein ziemlich großer Unterschied .. zwischen der Schweiz.. und … was sie alles haben dort.. wie … wie sie lernen wie sind Klassenzimmer was ist alles drinnen das ist halt schon … ich weiß noch ich habe sie haben grad gedacht.. sie haben so komische Bänke so ein großer Tisch ist gewesen.. und eine Bank irgendwie.. so eine längliche Bank die ist mit dem Tisch zusammen gewesen.. wir mussten und irgendwie dort zu viert hinsetzen obwohl es eigentlich ein Tisch für zwei Personen ist ((lacht)) (2012:87 - 93)

Insgesamt stellt Egzon die Migration in den Kosovo als Rückschritt dar. Die Schweiz dient ihm dabei als Referenz, und davon ausgehend bewertet er die Situation im Kosovo als negativ. Zudem zeigt er die Relevanz dieser Differenzen für den Zugang zu den Mitschüler_innen auf, die nichts anderes als den Kosovo kennen: Egzon: ich denk mal einfach weil du dann einfach den Unterschied kennst.. und du kannst über Sachen mit denen sprechen die sie dann auch verstehen.. jemand der das ganze Leben im Kosovo gewesen ist kannst du halt nicht solche Sachen erzählen.. ja weißt du noch wie es in der Schweiz so und so gewesen ist und wir haben das und das in der Schule gemacht.. die haben das einfach nicht verstanden.. da hast du halt so einige Sachen nicht mit ihnen teilen können (2012: 108 - 113)

Egzon stellt dar, dass er mit dieser Außenperspektive nicht alleine ist, sondern gerade dadurch Zugang findet zu anderen Mitschüler_innen, welche wie er aus deutschsprachigen Ländern zurück in den Kosovo gekommen sind. Damit zeigt

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er auf, dass die Auslanderfahrungen nicht nur zu einer Außenseiterposition führen, sondern er diese Erfahrungen nutzen kann, um neue Freundschafen zu knüpfen. 2001 schließt Egzon die 8. Klasse ab und wechselt danach auf das Gymnasium. Er zeigt anhand der Schwierigkeiten, eine geeignete Schule zu finden, auf, dass er sich selbstständig im Alter von vierzehn Jahren um die Fortsetzung seines Bildungsweges kümmert: Egzon: Prüfungen hast du machen müssen vorher damit .. zum Testen ob .. du angenommen wirst oder nicht.. und .. das haben wir dann halt auch immer alles müssen selber suchen einfach halt hinausgelaufen in die Stadt gelaufen und einfach die Leute zu fragen und einfach irgendwie an die Schulen angeklopft um zu fragen wie muss ich das machen wo muss ich hin.. mit wem muss ich sprechen ich will dort und dort in die Schule und irgendwie haben wir keine einzige Schule gehabt und … dann halt auch noch so von den Leuten also von den Nachbarn.. was .. sie so erzählt haben.. also dort und dort ist gut oder dort und dort … dann habe ich mich .. an einer Schule beworben …habe ich müssen eine Prüfung ablegen.. habe ich die gemacht.. und die habe ich zum Glück auch bestanden gehabt (2012: 116 - 124)

Er präsentiert den Besuch des Gymnasiums als Erfolg seiner guten Schulleistung und zeigt seine Zufriedenheit über die erfolgreiche Aufnahmeprüfung. Damit stellt er den Besuch des Gymnasiums als selbstgewählte Kontinuität seines bisherigen erfolgreichen Bildungsweges dar. Die Zeit im Gymnasium beschreibt Egzon mit gemischten Gefühlen und thematisiert hier nun zum ersten Mal den Wunsch, in die Schweiz zurückzukehren. Egzon: diese vier Jahre sind ….ja das ist so …hoch und.. hoch und tief ist es sozusagen gewesen in diesen vier Jahren dann nachher mit der Zeit …haben wir uns dann irgendwie nicht mehr so wohl gefühlt am Anfang in Kosovo, das erste Jahr ist einfach noch so interessant gewesen, bis mal alles kennst und die Leute kennst… danach ist dann schon die Zeit gekommen, wo wir einfach irgendwie nicht mehr haben wollen.. im Kosovo sein.. haben wir zurück wollen in die Schweiz… ich und meine Schwester.. weil meine Mutter eigentlich nicht … die …hatte immer unten bleiben wollen, und … die hatte die Schweiz nie so gerne mein Vater eigentlich auch nicht (2012: 125 - 131)

Wie obenstehendes Zitat zeigt, stellt er die Rückkehr in die Schweiz als gemeinsamen Wunsch von sich und seiner Schwester dar und betont damit den Gegensatz zu seinen Eltern. Damit thematisiert er zum ersten Mal ein Spannungsfeld

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zwischen den Wünschen seiner Eltern und seinen eigenen resp. den Wünschen seiner Schwester. Beginn der Krise Während der Zeit, in der Egzon das Gymnasium besucht, verlässt auch der Vater im Jahr 2002 die Schweiz. Egzon ist fünfzehn Jahre alt, als der Vater nach einer zweijährigen Trennung bei der Familie wieder einzieht. Die Wiedervereinigung der Familie stellt eine große Veränderung für Egzon und seine Schwester dar, insbesondere da Egzons Eltern im Kosovo keiner regulären Arbeit außerhalb des Hauses nachgehen und deshalb zu Hause sehr viel mehr präsent sind als in der Schweiz. In der Zeit, als sein Vater zurückkommt, läuft auch die Niederlassungsbewilligung43 in der Schweiz ab. Egzon stellt die Migration des Vaters als Abnahme von Freiheiten dar, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: dann ist auch noch der Vater dazu gekommen und grad so ein bisschen strenger und dann grad so…ja wir sind jetzt da ihr müsst jetzt da bleiben und da und da machen..und…ja eigentlich kannst du fast sagen gerade im falschen Moment gekommen ((lacht)) wo wir sowieso grad so ein bisschen dickköpfig geworden sind und irgendwie so uns alles so ein bisschen so genervt hat und wir keine Lust auf nichts mehr gehabt haben ja…ja dann ich…so dann ein bisschen…das ganze Zeug das uns genervt hat wurde dann auf ihn übertragen weil er gekommen ist und sowieso gerade anders gewesen ist zu hause ..und als wir dann noch erfahren haben dass er nichts gesagt hat von wegen nach zwei Jahren ist dann die Bewilligung weg und so hat sich alles so ein wenig aufgestaut und bei ihm abgeladen ((lacht)) (2012: 880 - 888)

Er situiert die Migration des Vaters in einer Zeit des wachsenden Unmutes über den Verbleib im Kosovo und relativiert damit die Wut auf seinen Vater. Er stellt dar, dass er nun erst erfährt, dass sie die schweizerische Niederlassungsbewilligung nicht mehr haben. Für Egzon wird damit eine Rückkehr in die Schweiz rechtlich fast unmöglich. Egzon betont, dass die Unstimmigkeiten zwischen seinen Eltern und ihm nicht den Migrationsentscheid in den Kosovo an sich betreffen, sondern die fehlende Kommunikation über den Ablauf der Aufenthaltsbewilligung, wie folgendes Zitat zeigt.

                                                             43 Die Familie besass die Bewilligung C, welche eine uneingeschränkte Niederlassung in der Schweiz beinhaltete. Diese verliert gemäß Art. 61 AuG die Gültigkeit durch Abmeldung oder nach einem mehr als sechs monatigen Auslandaufenthalt. Die Frist kann auf zwei Jahre verlängert werden, wenn vor Ablauf dieser Frist ein entsprechendes Begehren eingereicht wird (Art. 61 AuG; SR 142.20).

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Egzon: einfach hat uns ganz Kosova genervt und irgendwie die Eltern genervt weil sie uns nichts gesagt haben weil irgendwie …einfach so…wir haben einfach gefühlt dass wir irgendwie unfair behandelt worden sind …weil sie uns einfach nichts gesagt haben weißt du es ist einfach um das gegangen nicht dass wir einfach unten gewesen sind ..wir haben einfach von nichts gewusst und dann auf einmal heißt es so und so und es ist so und so ihr könnt ja auch gar nicht geht doch wenn ihr könnt jetzt könnt ihr nicht (2012: 159 - 164)

Die Verheimlichung des Verlustes der Niederlassungsbewilligung wird von Egzon als das eigentliche Problem dargestellt. Egzon zeigt auf, dass diese Situation zu einer Krise führt, in der er sich immer mehr zurückzieht: Egzon: wir sind dann auch so persönlich so ein wenig verschlossener geworden ..nicht mehr so offen mit anderen Leuten sprechen können ..und…irgendwie..ja..einfach die Lust an allem verloren irgendwie..du hast auch irgendwie nicht mehr viel machen wollen ich weiß noch irgendwie ist mal so eine ganz extreme Zeit gewesen da bin ich irgendwie …im zweiten Schuljahr an der Matura gewesen..was ist das die 9. Klasse 10. Klasse oder so.. eine Zeit gewesen wo ich mich so ganz abgeschlossen habe so voll…so ich bin irgendwie selber den Außenseiter geworden weil ich das so habe wollen..bin in die Schule gegangen und habe einfach nichts gesagt..einfach bleiben anhören was die Lehrer zu sagen haben und dann weg nicht versucht irgendwie Freundschaften zu knüpfen oder irgendwie etwas zu unternehmen mit den Mitschülern..das ist alles davon gekommen dass du irgendwie keine Lust mehr gehabt hast auf nichts (2012: 895 – 904)

Er betont, dass er seine Außenseiterposition selbst sucht und zeigt damit auch den Unterschied zu der Schulzeit in der Schweiz vor der Migration auf, in der er sich als sehr gut integriert dargestellt hatte. Dies zeigt auf, dass durch die Krise der begonnene Ablösungsprozess von den Eltern unterbrochen wird und er sich in die Familie zurückzieht. Egzon stellt dar, dass diese Krise durch die Adoleszenz ausgelöst wird, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: da ist einfach so eine Zeit gekommen wo du einfach keine Lust gehabt hast auf gar nichts …und das ist eben auch ..das war auch grad in dem Alter wo du einfach..was bin ich gewesen so 15 16 17 so indem Alter verstehst du einfach vieles nicht und irgendwie bist du sowieso eigentlich so trotzig hast so deine Phasen..dort ist es einfach ganz schlimm gewesen..dort hat es einfach Zeitpunkte gegeben wo du einfach gedacht hast..ich will einfach nur ich will einfach weg von diesem Haus ich will einfach weg von Kosovo und dann denkst du ich hass Kosovo ich hasse alle Leute von Kosovo (2012: 1128 – 1134)

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Dies weist darauf hin, dass Egzon durch die Migrationserfahrung im Jugendalter die altersspezifischen Herausforderungen in der Jugendphase als verdoppelte Transformationsanforderungen erlebt, die kreative wie destruktive Momente beinhalten können (King 2005: 31) und bei ihm zu einer Krise führen. Aus heutiger Sicht kritisiert Egzon sein eigenes Verhalten und zeigt damit auf, dass er den Migrationsentscheid der Eltern heute akzeptiert, wie folgendes Zitat illustriert. Egzon: jetzt im Nachhinein wenn ich daran denke ..ist es die größte Dummheit gewesen die ich gemacht habe ((lacht)) irgendwie in dieser Zeit habe ich bin ich einfach ist es einfach so dazu gekommen dass ich mich so benommen habe..dass ich mich ausgeschlossen habe selber eigentlich von jedem von allen..weil..ja..hätten wir es früher irgendwie richtig akzeptieren können dass wir wirklich im Kosovo sind und dass wir dort unser Leben aufbauen wäre es vielleicht irgendwie anders gekommen dann wäre die ganze Zeit irgendwie anders vielleicht gewesen..hättest du von vornherein irgendwie alles besser geniessen können mehr unternehmen mehr machen und hättest mehr Freude gehabt an allem…ja (2012: 905 - 912)

Damit begründet er die erlebte Krise, welche im Kontext der Bewältigung der doppelten Transformationsanforderung von Migration und Adoleszenz entstanden ist, mit dem eigenen Verhalten, und betont damit die heutige Loyalität gegenüber den Entscheidungen seiner Eltern. Ferien in der Schweiz Egzon ist 16 Jahre alt, als er zusammen mit seiner drei Jahre älteren Schwester (ohne Eltern) in die Schweiz reisen darf. Da die Familie nun keine Niederlassungsbewilligung mehr hat, müssen er und seine Schwester für diesen Besuch in der Schweiz ein Visum beantragen, das in der Regel maximal drei Monate gültig ist. Es ist das erste Mal seit der Migration in den Kosovo, dass sich Egzon ohne seine Eltern für ein paar Monate wieder in der Schweiz aufhält. Egzon stellt diese drei Monate alleine mit seiner Schwester als Wendepunkt dar, um sich mit dem Verbleib im Kosovo abzufinden. Egzon: wir wollen einfach die drei Monate hier bleiben …. und dann ja sind die drei Monate auch wieder vorbei … irgendwann sind wir wieder zurück….dann hat es uns eine kurze Zeit wieder so …dann haben wir irgendwie wieder die Schweiz eine Weile gesehen gehabt ..dann haben wir wieder irgendwie so wollen dort sein …also es ist nachher nicht mehr so gewesen dass wir haben unbedingt in der Schweiz wir haben uns damit abgefunden dass wir im Kosovo sind und uns dort ein Leben aufbauen (2012: 177 - 182)

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Egzon thematisiert, dass er durch die Ferien die beiden Welten, Kosovo und die Schweiz, verbinden kann. Bereits in seiner Kindheit wurden Distanzen zu Verwandten und Bekannten durch das Verbringen von Ferien im Herkunftsdorf überbrückt. Er übernimmt somit die Art und Weise seiner Eltern, Beziehungen zum Herkunftsort zu pflegen., Egzon: manchmal steigt es einfach schon so ein bisschen über den Kopf unten weil halt die Mentalitäten wie sie sind wie die Leute ticken sozusagen ..steigt es dir manchmal schon über den Kopf aber dann ..gehst du sind wir einfach immer in die Schweiz gekommen einfach ein bisschen Ferien gemacht abgeschaltet und so etwas distanziert dann bist du wieder her gegangen und frisch gewesen und alles wieder gut (2012: 1164 - 1168)

Studienzeit in Prizren Donika schließt ein Jahr vor Egzon das Gymnasium ab und beginnt an der Universität in Prizren zu studieren. Egzon stellt dar, dass sie das Studium auf Wunsch des Vaters beginnt wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: sie hat dann angefangen ..also zu studieren ..obwohl sie gar nicht so richtig wollen hat mein Vater konnte sie irgendwie überreden …der ist in dieser Zeit auch schon unten gewesen…und dann hat sie angefangen Germanistik zu studieren ..hat sie gedacht ja komm..vielleicht macht es ja mehr Spaß weil eigentlich Lust hat sie keine gehabt zum Studieren und…dann hat sie eigentlich auch nach dem ersten Semester gleich aufgehört weil es ihr einfach keinen Spaß gemacht (2012: 194 - 199)

Egzon verbindet dabei Bildung mit Lust und Spaß und stellt keinen Zusammenhang mit dem Streben nach sozialem Aufstieg her. Ein Jahr später beginnt auch er an der Universität in Prizren Betriebswirtschaft zu studieren. Er betont, dass er nicht wie seine Schwester vom Vater überzeugt worden ist. Er ist bemüht, den Bildungsweg als seinen eigenen Lebensentwurf zu präsentieren. Egzon: ich habe danach ..auch angefangen studieren…ich hab es eigentlich ..ich bin eigentlich nicht soo begeistert gewesen zu studieren hatte gleichwohl Lust darauf gehabt dann hab ich es doch gemacht also ich bin nicht überredet worden oder so von meinem Vater ich habe es gleichwohl selber am Schluss wollen ..und dann habe ich das Studium angefangen dort.(2012: 199 – 203)

Die Thematisierung des anfänglichen Zögerns zeigt auf, dass der Beginn des Studiums doch nicht so selbstverständlich ist. Das Studium der Betriebswirtschaft deutet auf das Streben nach finanziellem Erfolg über Bildung hin und ist

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vermutlich mit den väterlichen Erwartungen der Realisation eines sozialen Aufstieges über Bildung verbunden. Zugleich handelt es sich dabei um eines der beliebtesten Studienfächer im Kosovo (vgl. Schack 2011). Da Egzon weder die Studienwahl noch Studieninhalte thematisiert zeigt er sein Desinteresse am sozialen Aufstieg. Er betont, dass ihm das Studium gefällt, weil er neue Freundschaften zu Kommilitonen schließt, welche ebenfalls im Ausland gewesen sind: Egzon: dann ist eigentlich gut gelaufen auch mit den Kommilitonen und alles …in dieser Zeit haben wir uns ..die Freundschaften aufgebaut ...es sind eigentlich o auch immer o alle die in Deutschland oder der Schweiz gewesen sind …und irgendwie die haben auch immer jahrelang nachher gehalten auch jetzt immer noch Kontakt mit ihnen und wenn ich jetzt immer wieder wenn ich in den Ferien unten bin oder so ..treffen wir uns immer gehen wir immer zusammen hinaus oder so ..es ist einfach ..die Freundschaft mit diesen ist einfach stärker die Verbindung ist einfach stärker als mit den Leuten …wo immer im Kosovo gewesen sind (2012: 203 - 209)

Er stellt dar, dass für ihn der Bildungsweg eine Möglichkeit darstellt, Zugehörigkeit zu erfahren. Wie in der Zeit des Gymnasiums findet er auch an der Universität den Zugang zu der Mehrheit seiner Kommilitonen nicht. Jedoch kann er auch jetzt wieder Freundschaften mit anderen Kommilitonen knüpfen, die seine Auslanderfahrungen teilen. Distanzierung vom Bildungsweg Egzon präsentiert sich als sehr erfolgreicher Student im ersten Studienjahr. Er thematisiert hingegen zunehmendes Desinteresse, das er mit der Unsicherheit der Akkreditierung der privaten Universität begründet. Egzon: irgendwie bekommen sie die Lizenz nicht über was ist wenn sie diese gar nicht bekommen irgendwie ist das zweite Jahr ….also Zeitverschwendung und dann …irgendwie die Punkte von dem Modulen die du nicht gehabt hast haben irgendwie nicht gezählt du hättest müssen warten auf ein Jahr später um zu schauen ob sie die Lizenz bekommen dann hätten sie dies schon angerechnet…die Zeit geht dann verloren und du bist dir einfach nie sicher ….und darum ist dann auch das zweite Jahr nicht so gut gelaufen bei mir …weil…ich habe mich nicht mehr so angestrengt gehabt für die Uni (2012: 226 – 232)

Erst nach der ausführlichen Beschreibung der Unsicherheit über die Anerkennung der Universität erwähnt er sein Engagement in einer Band, für die er im zweiten Studienjahr viel Zeit und Energie investiert. Damit vermeidet er, die

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Abnahme seiner Bemühungen für das Studium mit seinen Aktivitäten in der Band zu verbinden. Das Musizieren ist die erste Aktivität, die Egzon nennt, die ihm im Kosovo Spaß macht und er nebst der Schule oder dem Studium Zugehörigkeit erfährt: Egzon: dann habe ich viel unternehme also unternommen …eine Gruppe gegründet gehabt weil als Hobby mache ich tanzen…und dann haben wir so eine Band gehabt mit denen dann einfach viel gemacht und sind auch noch gut gewesen also nicht schlecht wir haben dann auch viele Aufträge bekommen dass wir in Konzerten dann auch mittanzen Musikvideos machen und so und dann …das ist dann einfach so gewesen da habe ich (_____) gemacht und in der Uni ist es gerade nicht so gut gelaufen dann habe ich mich nicht mehr so engagiert für die Uni und es ist mir dann auch einfach die Freunde wichtiger gewesen und die Uni ist so ein bisschen hintennach geblieben (2012: 233 - 240)

Egzon erwähnt, dass ihm die Freunde wichtiger werden als die Universität. Die Bedeutung dieser Band wird auch in der langen Erzählung über das Musizieren im Nachfrageteil deutlich. Dies weist darauf hin, dass für Egzon das Erfahren von Zugehörigkeit und Freundschaften wichtiger sind als Bildung. Wie zuvor präsentiert Egzon Auslanderfahrungen als das Hauptkriterium für Freundschaften, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: wir haben es sehr gut gehabt miteinander und sind auch wieder viele wieder gewesen die irgendwie im Ausland auch gewesen sind in der Schweiz in Deutschland irgendwo irgendwas ((lacht)) der eine irgendwie von Amerika ist mal dazu gekommen zu uns der hat eine Weile in Amerika gelebt und dann haben wir irgendwie eine Weile lang mit ihm Englisch gesprochen und der hat zwar auch Albanisch können aber keine Ahnung..dass war so eine Zeit gewesen wo wir nur Englisch gesprochen haben (2012: 1004 - 1009)

Er erwähnt nun zum ersten Mal, dass auch Personen zu seinem Freundeskreis gehören, welche aus nichtdeutschsprachigen Ländern in den Kosovo immigrierten. Die Pflege der englischen Sprache in ihrer Band stellt dabei ein Identifikationsmerkmal dieser Gruppe dar, als Abgrenzung gegenüber der restlichen Bevölkerung. Egzon zeigt auf, dass er durch den Erfolg des Musizierens auch die Aufmerksamkeit und Anerkennung seines Vaters erhält, obwohl dieser sich Sorgen macht um sein Studium, wie folgendem Zitat zu entnehmen ist. Er stellt folglich dar, dass er von seinem Vater Anerkennung erhält für sein Hobby als Zeichen der Integration im Kosovo.

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Egzon: die haben echt alle geschaut diese Sendung mein Vater so schau dort ist wieder der Egzon und hat irgendwie die Leute angerufen so am Anfang der Egzon ist wieder dabei ((lacht))..ja..hat er damals noch gut gefunden er ist dann so richtig begeistert nicht mehr gewesen vom Musizieren weil er gedacht hat das mein Studium geht so ein wenig…aber..ja als..als wir dann immer wieder etwas haben machen können ist er dann irgendwie hat er doch wieder Freude gehabt..irgendwie ist es ist es ihm auch irgendwie so gegangen dass er ..er hat irgendwie doch immer wollen dass wir viel unternehmen dort ..weil das hat irgendwie für ihn wie geheißen man hat es gut im Kosovo (2012: 10471054)

Erfolgreicher Abschluss des Studiums als Möglichkeit der Rückkehr in die Schweiz Obwohl Egzon im zweiten Studienjahr das Studium vernachlässigt und sich vor allem der Musik widmet, schließt er nach etwas mehr als drei Jahren das Bachelorstudium erfolgreich ab. Damit orientiert er sich wieder an den elterlichen Bildungserwartungen. Egzon stellt dar, dass sein Vater ihm nach dem erfolgreichen Studienabschluss die Möglichkeit für eine Fortsetzung des Bildungsweges im Ausland anbietet: Egzon: hat mein Vater gesagt gehabt … wenn du deine Uni abgeschlossen hast kannst du ja deinen Master irgendwo im Ausland machen in die Schweiz zurück oder wo auch immer und dann habe ich so echt wollen dann im Kosovo in Prizren hätte ich meinen Master nie gemacht … ich hätte dann nach dem Bachelor einfach aufgehört und mir dann irgendeine Arbeitsstelle gesucht (2012: 244 – 247)

Egzon zeigt damit auf, dass die Fortsetzung seiner Bildungslaufbahn für ihn erst interessant wird durch die von seinem Vater eröffnete Perspektive, im Ausland zu studieren. Die Weiterführung des Bildungsweges wird damit für Egzon zur Möglichkeit, den Kosovo im Einklang mit den elterlichen Erwartungen wieder verlassen zu können. Wie folgendes Zitat zeigt, präsentiert Egzon das Masterstudium nicht als Interesse an Bildung, sondern als Weg, um in das Land zurückzukehren, in dem er den größten Teil seiner Kindheit verbracht hat: Egzon: mein Vater hat gesagt geh doch auf Amerika oder England oder irgendwo anders wieso in die Schweiz da bist du schon gewesen ((lacht)) und ich ja genau deswegen weil ich schon gewesen bin will ich nicht in ein Land gehen wo ich wieder von Null muss anfangen (___) und irgendwie mal die Ortschaft kennenlernen und die Leute wie die Leute sind wie es dort ablauft und das Ganze will ich nicht das habe ich ja erlebt als ich von der Schweiz nach Kosova gegangen sind und ..die erst nach einer Weile ist es nicht mehr so

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gut gewesen unten nicht mehr so gut gelaufen und in der Schweiz weiß ich einfach wie es geht …ich habe kein Problem mit der Sprache ich habe kein Problem mich überall zu verständigen ich weiß wo alles ist wo musst hin bei welchen Leuten musst du dich..also ja ok dann geh in die Schweiz (2012:270 - 278)

Wie obenstehendes Zitat zeigt begründet er seine Wahl einerseits damit, dass ihm die Schweiz durch seine Kindheit vertraut ist, andererseits aber auch mit den Schwierigkeiten, die mit einem Neubeginn in einem ihm fremden Land verbunden sind, und die er selbst mit der Migration in den Kosovo bereits erfahren hat. Dies weist darauf hin, wie schwierig er die Neuorientierung im Kosovo erlebt hat. Egzon berichtet über seine Bemühungen um einen Studienplatz in einem Masterstudiengang in der Schweiz. Anhand des notwendigen Englischtests betont er seine hohe Motivation für dieses Studium, wofür er keine Kosten und keinen Aufwand scheut, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: irgend so ein Test auf Englisch wo du extra machst um ein Master damit du ein Masterstudium machen kannst…und dann ist es im Kosovo nicht gegangen weil sie das nicht offeriert haben und dann habe ich für das auf Mazedonien auf Skopje …dann habe ich dies dort gemacht ..und .. habe mich dort nochmals angemeldet gehabt und dann haben sie gesagt ja das kannst du hier machen dann haben sie mir so ein paar Bücher gegeben und ein Lernprogramm für den PC und dann haben sie so gesagt ja dann fang mal an zu lernen und dann nach sechs Monaten schauen wir mal wie weit du bist dann können wir vielleicht den Test machen und ich so ok ich brauch dann Test innerhalb von EINEM MONAT ((lacht) (2012: 282 - 289)

Nach nur einem Monat absolviert Egzon erfolgreich diesen Englischtest und erhält trotzdem von der Universität eine Absage. Er begründet diese Absage mit der Frage der Anerkennung der Universität im Kosovo und betont damit, dass die Absage nichts mit seinen Leistungen zu tun hat. Wie folgendes Zitat zeigt, gibt er trotz dieser Absage den Plan für die Fortsetzung seines Studiums in der Schweiz nicht auf: Egzon: das hat nicht geklappt denen ist einfach die Uni zu unsicher ich will es einfach nächstes Jahr nochmals probieren und den Master da nicht machen dann haben sie gesagt ja ok (2012:304 - 306)

Er erwähnt, dass er für die erneute Bewerbung ein Jahr später wieder die Einwilligung seiner Eltern erhält. Da für Egzon als Alternative der Beginn eines Mas-

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terstudiums im Kosovo nicht in Frage kommt, wird deutlich, dass das Studium vor allem der Rückkehr in die Schweiz im Einklang elterlichen Erwartungen dient. Einstieg ins Erwerbsleben auf Wunsch der Eltern Egzon berichtet, dass er nun auf Wunsch seiner Eltern eine Arbeit zu suchen beginnt, obwohl er lieber zu Hause geblieben wäre, wie folgendes Zitat zeigt. Damit zeigt er auf, dass er sich nach den Erwartungen der Eltern ausrichtet. Egzon: haben sie gesagt ja ok …bleibst mal halt einfach noch da und suchst dir einen Job für ein Jahr schaust dass du einfach nicht nur zu Hause sitzt …dann..ja dann habe ich angefangen zu arbeiten oder ja dann bin etwa so zwei drei Monate zu Hause geblieben zuerst habe ich (seufzt) abschalten wollen von allem und nach dem Stress einfach mal so etwas die Zeit genießen zu Hause (2012: 306 – 310)

Egzon berichtet, dass er seine Schwester auf der Arbeitssuche begleitet und dabei eher zufällig eine Arbeitsstelle findet. So rasch einen gut bezahlten Job zu finden, ist im Kosovo mit der sehr hohen Arbeitslosigkeit nicht selbstverständlich. Er zeigt damit den Unterschied zwischen seinem hohen Engagement für die Bewerbung um einen Studienplatz und der Arbeitssuche auf. Dies weist darauf hin, dass der Einstieg in die Erwerbsarbeit für ihn eine sekundäre Bedeutung hat: Egzon: ist es irgendwie so dazu gekommen dass sie sich im Restaurant Prizreni hat sie ein Inserat gesehen gehabt und sie so komm wir gehen mal dorthin und sehen wie es so ist wie es läuft sind wir beide dorthin und dann haben uns die anderen so zwei Anmeldeformulare in die Hand gedrückt weil sie gedacht haben dass wir beide..wollen beide dort … nachher habe ich gedacht ja komm easy fülle ich das einfach auch aus .. und dann haben wir gerade mit dem Restaurant Manager sprechen können (2012: 313 - 318)

Egzon findet eine Anstellung im Restaurant Prizreni. Er betont, dass ihm diese Arbeit insbesondere wegen den deutschsprachigen Gästen aus dem Ausland sehr gefällt, und es darunter auch Gäste hat, mit denen er schweizerdeutsch sprechen kann. Egzon: ich bin zufrieden gewesen habe es gut gehabt mit den Kollegen mit allen die dort gearbeitet haben und dann… Tatsache dass einfach irgendwie viele .. bei uns Ausländer also das heißt einfach Europäer dort gewesen sind also von der Schweiz Deutschland von Österreich vor allem ganz viele ..habe ich irgendwie Freude gehabt sind immer neue Leute gekommen hast immer wieder mit ihnen deutsch mit denen sprechen können oder

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manchmal auf schweizerdeutsch wenn mal jemand gekommen ist haben immer ganz Freude gehabt ((lacht)) (2012: 342 - 347)

Wie bereits während seiner Schul- und Studienzeit zeigt er auch hier auf, dass er den Kontakt zu Menschen aus dem Ausland sucht. Im selben Jahr kommt sein Bruder aus der Schweiz zurück und zieht mit seiner Frau und der neugeborenen Tochter in die elterliche Wohnung in Prizren. Im Jahr 2010 befindet sich nun praktisch die ganze Familie mit Ausnahme der zwei ältesten, in der Schweiz verheirateten, Schwestern, in Prizren. Sein Bruder findet in derselben Firma wie seine Schwester eine Arbeit als Nachtwächter. Alle drei Geschwister gehen nun im Kosovo einer Erwerbstätigkeit nach, trotz einer sehr hohen Arbeitslosigkeit. Egzon stellt dar, dass er sich trotz der Arbeitsstelle, die ihm Spaß macht, nicht wie seine Geschwister im Kosovo bleiben will, sondern sich erneut für ein Masterstudium in der Schweiz bewirbt. Er erwähnt, dass er sich nun zugleich an zwei verschiedenen Universitäten in der Schweiz bewirbt aus Unsicherheit über die Anerkennung seines kosovoarischen Studienabschlusses. Er erhält die Zusage von beiden Hochschulen und entscheidet sich für die Universität in Zürich. Egzon betont seine Freude über die Zusage von beiden Universitäten und erwähnt den Stolz seiner Eltern über den Studienplatz in der Schweiz, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: und hier in Zürich habe ich einen Platz bekommen..und ich bin eher so dafür gewesen für Zürich also ..dann habe ich denen in Basel gesagt ja merci viel Mal aber ich komme nicht ((lacht)) also ich gehe auf Zürich und dann..ja ich habe mich so: gefreut gehabt als die Uni gesagt irgendwie es ist alles gut besorgen sie einfach noch die und die Unterlagen brauchen wir noch einfach von unserer Seite ist alles gut…und meine Eltern haben sich auch voll gefreut gehabt ..und irgendwie voll stolz so überall erzählt ja der Egzon geht jetzt in die Schweiz studieren macht einen Master und so…((lacht)) (2012: 378 384)

Damit wird sichtbar, dass der Entscheid für das Masterstudium eine Möglichkeit darstellt, seinen eigenen Wunsch nach einer Rückkehr in die Schweiz mit den elterlichen Erwartungen zu verbinden. Er erwähnt, dass er sich für die Universität entscheidet, die weiter entfernt vom Wohnort seiner Schwestern und den weiteren Verwandten ist, wie folgendes Zitat zeigt. Er zeigt damit auch auf, dass das Masterstudium für ihn eine Möglichkeit darstellt, eine gewisse Unabhängigkeit von der Familie zu erhalten.

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Egzon: und wäre ich auf Basel gegangen wäre ..hätte ich zwar schon Vorteile gehabt ich hätte bei meiner Schwestern zum Beispiel wohnen können und weniger Kosten gehabt für mich und ..alles aber und auf die andere Seite hätte ich mich schon ziemlich ablenken lassen weil dann die Familie ist einfach immer dort irgendwie die Kinder Neffen Nichten und irgendwie rufen dich die Cousins an gehen wir ein bisschen raus und dann kann ich irgendwie schwer nein sagen und dann wäre ich einfach mitgegangen und dann wäre das Studium sicher wieder so ein bisschen (2012: 362 - 367)

Fremdsein in der Schweiz Egzon berichtet ausführlich über den mühsamen und langen Prozess, ein Visum für das Studium in der Schweiz zu erhalten. Er erhält zuerst eine Ablehnung. Er reicht dank der Unterstützung seiner ältesten Schwester Arbresha erfolgreich Rekurs gegen die Ablehnung des Visumantrages ein. Er zeigt damit auf, dass er für sein Masterstudium in der Schweiz auf die Unterstützung seiner Familie zählen kann. Jedoch verliert er durch die lange Wartefrist das Zimmer im Studentenwohnheim in der Schweiz. Egzon: habe ich eine Wohnung gesucht gehabt und habe eigentlich in einem Studentenwohnheim ..ein Zimmer bekommen gehabt ..habe ich reserviert gehabt für mich aber weil alles verschoben worden ist und weil ich das Visum beim ersten Mal nicht bekam habe ..habe ich dann auch das Zimmer verloren…dann bin ich hier gewesen dann bin ich wieder auf Null gewesen ((lacht)) (201: 475 - 479)

Am Beispiel der Wohnungssuche thematisiert er, dass sich seine Erwartungen, in der Schweiz an seine Erfahrungen der Kindheit anknüpfen zu können, nicht erfüllen und er wieder neu anfangen muss. Egzon: dann habe ich die ersten Zeit bei meinen Schwester gewohnt im Fricktal in Rheinfelden und habe eigentlich von dorther immer nach Zürich gependelt..aber es ist noch gut gewesen dass ich immer am Montag und am Dienstag Vorlesungen gehabt habe..bin ich immer am Sonntagabend auf Zürich gefahren mit dem Zug..bin in einem Hostel abgestiegen bis am Dienstagabend und dann nach den Vorlesungen wieder zurück..der Rest von der Woche dann..bin ich bei meinen Schwestern gewesen…das ist dann ungefähr..fast zwei Monate so gegangen..bis ich dann eine Wohnung gefunden gehabt habe…es ist ziemlich schwierig gewesen..nicht dass es nicht genügend Wohnungen gehabt hat aber es hat einfach nie geklappt..habe sie nie bekommen…die haben sich nicht zurück gemeldet (2012: 479 - 487)

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Da Egzon nun bei seiner Schwester wohnt, stellt er dar, dass zu Beginn auch sein Wunsch nach einer gewissen Distanz zu seiner Familie nicht realisierbar ist. Nach zwei Monaten findet er letztlich eine eigene Wohnung. Er ist zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt und wohnt nun zum ersten Mal in seinem Leben alleine in einer für ihn unbekannten Stadt. Obwohl er sich diese Wohnung wünschte, um damit auch eine gewisse Distanz von seiner Familie zu erhalten, stellt er dar, dass diese Situation für ihn am Anfang nicht einfach ist. Egzon: am Anfang ist es einfach schon ziemlich langweilig gewesen ..nachher auch hier alleine zu leben..ich hab dann doch immer wiedergedacht wäre ich doch gleichwohl irgendwie lieber auf Basel hätte ich meine Familie in der Nähe gehabt..auf die eine Seite bin ich froh gewesen dass ich alleine bin auf die andere Seite sind irgendwie einige Tage absolut ganz langweilig gewesen und irgendwie du lernst zwar den ganzen Tag aber am Abend ..bist du ja gleich frei und hättest doch mal wieder was unternehmen wollen..die Kommilitonen von hier sind die meisten gar nicht von Zürich (2012: 500 - 506)

Nebst den Schwierigkeiten bei der Wohnungssuche erwähnt Egzon auch seine Bemühungen, in der Schweiz eine qualifizierende Arbeitsstelle zu finden. Er berichtet, dass er nach der erfolglosen Suche einer qualifizierten Arbeit schlussendlich irgendeine Stelle sucht, da das Geld knapp wird. Egzon: am Anfang habe ich halt schon eher eine Arbeitsstelle gesucht gehabt wo ich gedacht habe so..also wie soll ich sagen so meine Messlatte etwas höher gestellt gedacht wenn ich jetzt schon ein Studium habe einen Bachelor Abschluss und hier an der Hochschule in Zürich am Studieren bin einen Master mache versuche ich auch etwas Anspruchsvolleres zu finden...aber es ist dann gar nicht..es hat dann einfach nicht funktioniert irgendwie…ich konnte..ich habe auch nirgends einen Vorstellunggespräch bekommen oder so dass ich mich überhaupt mal hätte..dass sie sich einen Eindruck von mir..machen könnten und ich von Ihnen (2012:523 - 529)

Er findet eher zufällig im „Kaufleuten“44 in Zürich eine Stelle im Gastgewerbe. Wie bereits im Restaurant „Prizreni“ im Kosovo stellt Egzon auch hier dar, dass ihm an dieser Arbeit vor allem die Zusammenarbeit mit verschiedenen Leuten aus dem Ausland gefällt. Egzon: ich grad angefangen und es hat mir irgendwie voll gefallen ich weiß nicht irgendwie der Job ist jetzt weiß Gott nicht irgendetwas gewesen aber die Mitarbeiter super bin

                                                             44 Bekanntes Restaurant und Bar. Veranstalter von kulturellen Anlässen.

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ich sofort zurechtgekommen und irgendwie die ganze Atmosphäre wo dort innen ist einfach ..ganz gut gewesen und ..wie viele verschiedene Leute dort innen von vielen verschiedenen Kulturen und Nationen einfach… irgendwie muss ich sagen habe ich mich dort drinnen mich irgendwie so ein wenig wohler gefühlt irgendwie weil viele Ausländer dort innen sind und ich irgendwie auch als Ausländer (2012: 560 - 566)

Egzon bezeichnet sich dabei zum ersten Mal selbst als Ausländer in der Schweiz. Er thematisiert das Spannungsfeld zwischen seiner gefühlten Zugehörigkeit zu der Schweiz, die er mit seiner Geburt und dem Aufwachsen in der Schweiz begründet, und den angetroffenen Schwierigkeiten mit dem Visum und bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Er stellt dar, dass er diese Benachteiligung von Ausländer_innen nicht wahrhaben wollte und dennoch nun selbst diese Erfahrung macht, seine Ziele nicht erreichen zu können, weil er Ausländer ist. Egzon: das hat dann schon angefangen als ich beim Migrationsamt irgendwie das Visum nicht bekommen habe bist du irgendwie automatisch so im Grund genommen wie ein Ausländer irgendwie abgestempelt worden und wirst in die gleiche Schublade hineingesteckt ..und das habe ich irgendwie nicht wollen.. ich habe mich nicht so wie..also ich weiß dass ich ein Ausländer bin in der Schweiz aber ..so ein Gefühl wie ein Ausländer habe ich irgendwie nie gehabt ..ich bin irgendwie also ich weiß nicht ich bin also ich bin auch in der Schweiz aufgewachsen und…ich verstanden ich habe es irgendwie nie so richtig verstanden und dann habe ich halt auch immer gedacht ja..als ich halt Arbeit gesucht gehabt und als sich nie irgendjemand zurück gemeldet hat oder dass ich nie richtig eine Chance gehabt habe …ich weiß nicht wenn du ein Ausländer bist kommt der Hintergedanke immer irgendwann dann denkst du immer ja meinst du es liegt es daran dass ich ein Ausländer bin (2012: 567 - 576)

Zugleich thematisiert Egzon jedoch auch, dass er diese Schwierigkeiten der ersten Zeit in der Schweiz mit dem Visum, der Arbeits- und Wohnungssuche überwunden hat und ihm das Leben in der Schweiz schließlich gefällt, wie folgendes Zitat illustriert. Er zeigt damit auf, dass er es geschafft hat, sein Leben in der Schweiz selbst zu organisieren und ihm diese Unabhängigkeit von der Familie sehr gefällt. Egzon: seit ich wieder da bin …ist auch eigentlich ganz schön..ich finde es super..ich finde es super dass ich mal alleine bin..dass ich mal ein eigenes Leben führen kann..und nicht irgendwie jemand sagen kann mach doch das oder mach doch das..es ist eigentlich auch ganz super hier jetzt ich habe mir mittlerweile einen Freundeskreis aufgebaut ich kenne Leute ich weiß wohin ich gehe weiß was ich machen soll was ich machen kann..das Studi-

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um macht mir eigentlich ..sehr Spaß..obwohl es ziemlich streng ist für mich (2012: 1220 1226)

Schwierigkeiten im Studium Egzon präsentiert ausführlich die Schwierigkeiten im Studium und führt diese auf die unterschiedlichen Bildungssysteme im Kosovo und der Schweiz zurück. Er begründet daher die Schwierigkeiten im Studium mit der Migration in den Kosovo, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: dann wärst du die ganze Zeit in der Schweiz gewesen und hier die Ausbildung gemacht hättest und einen Bachelor hättest wüsstest du dieses Zeug einfach und mir hat es einfach gefehlt…dann habe ich mich halt immer umso mehr anstrengen müssen wie macht man es überhaupt die Kommilitonen anzusprechen oder die anzusprechen welche in der Gruppe gewesen sind zu fragen habe ich mich immer etwas blöd gefühlt dann denken die andern komm du machst ein Masterstudium und weißt so Sachen nicht ((lacht)) (2012: 600 - 606)

Egzon zeigt auf, dass er durch die unterschiedlichen Bildungssysteme nicht nur Schwierigkeiten hat, dem Unterricht zu folgen, sondern zudem auch zum Außenseiter im Studium wird. Damit stellt er dar, dass er in der Schweiz Zugehörigkeit auf der Arbeitsstelle im Gastgewerbe erfährt, wo viele andere Ausländer_innen beschäftigt sind, nicht jedoch im Studium an der Universität. Dies weist auf Diskriminierungsprozesse in der Schweiz hin, welche die Integration im Arbeitsmarkt für Ausländer aus nicht EU-Ländern und insbesondere für Personen aus dem Kosovo erschweren (vgl. Duemmler 2015: 142). Ein Jahr später bricht Egzon das Studium in Zürich ab und verliert dadurch die Aufenthaltsgenehmigung in der Schweiz, welche an das Studium gebunden ist. Egzon begründet den Studienabbruch mit der Schwierigkeit, Studium und Arbeit zu vereinen. Egzon: und dann ist einfach alles irgendwie zu viel worden würde ich sagen eh..zu viel Druck und ich habe ja auch gearbeitet und ich habe unbedingt wollen dass ich..eh alles selber finanziere mit dem Studium mit dem..eh das ganze Leben und alles habe keine Hilfe annehmen wollen..also annehmen wollen am Anfang hat mich halt schon die Familie unterstützt bis ich mal soweit gewesen bin dass ich alles selber machen kann (2) und nachher..ja nachher hat es einfach nicht geklappt (2013a: 1522-1527)

Er zeigt damit auf, dass er in der Studienzeit in der Schweiz versucht, eine gewisse Unabhängigkeit von den Eltern zu erlangen. Diese Bemühungen scheitern

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und führen durch den Abbruch des Studiums zu einem Ende seiner Zeit als selbständiger junger Mann in der Schweiz. Er muss die Schweiz verlassen und zieht wieder zu seiner Familie nach Prizren im Kosovo in den gemeinsamen Familienhaushalt mit den Eltern und Geschwistern. Neubeginn im Kosovo: Fortsetzung des Bildungsweges Egzon ist 26 Jahre alt, als er wieder zu seiner Familie nach Prizren zieht. Er stellt dar, dass er im Kosovo nochmals neu beginnen muss, da seine Pläne durch den vorzeitigen Studienabbruch und dem damit verbundenen Verlust des Aufenthaltsausweises in der Schweiz durcheinandergeraten sind. Er betont, dass er erneut ein Studium beginnen will, wie folgendes Zitat zeigt. Egzon: aber schlussendlich fange ich nochmals von neu an..'ich mache schon noch etwas' //mhm// (2) und das sind auch ein paar Sachen die mich so irgendwie daran hindern..jetzt noch an das Heiraten zu denken weil ich will irgendwie noch Schule ein bisschen machen und dann..eine gute Arbeitsstelle finden damit ich irgendwie so.. (2013a: 1558 - 1561)

Egzon nimmt damit die bisherige Orientierung am Bildungsweg wieder auf. Zugleich zeigt Egzon in obenstehendem Zitat auch, dass die Rückkehr in den Kosovo zu einer Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen führt, welche nun nicht mehr den Bildungserfolg, sondern auch die Familiengründung betreffen. Wieder wird der Bildungsweg zur Strategie, um familiale Erwartungen auszuhandeln. Am Thema der Heirat stellt Egzon zudem auch dar, dass er sich im Kosovo erneut fremd fühlt. Egzon: bist die richtige Person irgendwie findest und so und es ist auch schon immer so ein Problem..die Mentalität von hier wir haben halt schon immer..zwischen zwei Welten sind wir immer irgendwie gewesen..wie Ost und West ((lacht)) weil es ist jetzt schon anders..du kannst dich nicht so darauf einlassen auf die Leute hier irgendwie ist schon klar es braucht halt schon huere Zeit (1) darum wir es sich um die Hochzeit also um das heiraten an sich (1) schon noch eine Weile herauszögern (2013a: 1467 – 1472)

In diesem Zitat thematisiert Egzon die Frage der Zugehörigkeit und stellt diese als Problem dar. Durch die Erfahrungen, auch in der Schweiz ein Ausländer zu sein, kann er seine Zughörigkeit nicht mehr in Bezug auf die Schweiz begründen. Er positioniert sich nun zwischen „Ost und West“, zwischen Kosovo und der Schweiz und stellt dar, dass er in keiner der beiden Welten wirklich dazugehört.

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Fallstruktur: Transnationale Suchbewegungen Aushandlung von Freiräumen durch das Erfüllen elterlicher Bildungserwartungen Egzon verbringt seine Kindheit und Jugend in der Schweiz. Er stellt dar, dass er als jüngster Sohn der Familie sprachliche Vorteile hat, die ihm als Begründung für seinen schulischen Erfolg dienen. Der Bildungsweg steht zugleich in Zusammenhang mit der Erfüllung elterlicher Erwartungen und beginnt bei Egzon bereits in der Schweiz mit dem Besuch der Sekundarschule. Egzon kann im Kosovo seinen Bildungsweg weiterführen trotz eines neuen Bildungssystems und einer anderen Unterrichtssprache und beginnt nach erfolgreichem Abschluss des Gymnasiums ein Hochschulstudium. Er stellt dar, dass das Versprechen seines Vaters, nach dem Bachelorstudium im Ausland das Studium fortsetzen zu können, ihn motiviert, das Studium abzuschliessen. Daraus wird ersichtlich, dass der erfolgreiche Abschluss des Studiums in Zusammenhang mit der Möglichkeit einer Rückkehr in die Schweiz steht. Der Bildungsweg wird zur zentralen Orientierung und ermöglicht Egzon eine Rückkehr in die Schweiz im Einklang mit den elterlichen Erwartungen. Egzon verfolgt hartnäckig dieses Ziel trotz einer erstmaligen Ablehnung und Schwierigkeiten mit dem Visum. Die Studienzeit in der Schweiz stellt zugleich auch ein von den Eltern gutgeheissene Möglichkeit der Distanzierung und Unabhängigkeit von der Familie dar. Im Kosovo nimmt Egzon nach dem Abbruch des Masterstudiums in der Schweiz den Bildungsweg als roten Faden wieder auf. Wieder versucht er, mit dem Befolgen elterlicher Bildungserwartungen sich Freiräume auszuhandeln, die nun die Aufschiebung der Heirat und Familiengründung betreffen. Transnationale Zugehörigkeit Egzon präsentiert Zugehörigkeit bereits in der Schulzeit in der Schweiz als zentrales Thema. Mit anderen albanischen Kindern erlebt er Zugehörigkeit, die er mit der gemeinsamen Sprache und familialen Situation begründet. Auch nach der Migration in den Kosovo stellt Egzon dar, dass er zu Mitschüler_innen Zugehörigkeit erfährt, die ähnliche Erfahrungen gemacht haben wie er und betont damit Auslandserfahrungen als zentrales Kriterium für das Erleben von Zugehörigkeit. Die Suche und Pflege von Zugehörigkeit in Subgruppen mit Migrationsresp. Auslandserfahrungen führt sowohl während dem Bachelorstudium im Kosovo durch die Mitwirkung in der Band wie auch der Arbeit im Gastgewerbe während dem Masterstudium in der Schweiz zu einer Vernachlässigung des Studiums. Egzon stellt damit wiederholt das Erleben von Zugehörigkeit über den vom Vater erwarteten Bildungsweg. Der Abbruch des Studiums und der damit verbundene Verlust der Aufenthaltsbewilligung in der Schweiz zeigt auf, dass

Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen | 327

Egzons Möglichkeiten, Zugehörigkeit zu leben, begrenzt sind durch rechtliche Rahmenbedingungen, Zugangsbeschränkungen auf dem Arbeitsmarkt und dem Zugang zu Bildung sowie auch durch familiale Erwartungen. 6.2.6 Familiale Aushandlungsprozesse der fünf Geschwister Bevor im folgenden Kapitel ein komparativer Vergleich aller Fallrekonstruktionen vorgenommen wird um die Forschungsfrage zu beantworten, werden hier als Abschluss der Fallrekonstruktionen der fünf Geschwister deren wichtigste Themen zusammengefasst. Dabei zeigt sich, dass alle fünf Geschwister Aushandlungsprozesse mit familiale Erwartungen thematisieren. Anhand unterschiedlicher Themen entwickeln sie verschiedene Strategien in der Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen. Sozialer Aufstieg als Streben nach elterlicher Anerkennung und Zugehörigkeit Arbresha präsentiert die Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen anhand der eigenen Wahl ihres Ehemannes. Sie betont, dass ihre Eltern ihren künftigen Ehemann zuerst ablehnten, schlussendlich ihre Wahl aber akzeptiert haben. Als Hauptargument präsentiert sie den fehlenden Besitz von Immobilien der künftigen Schwiegerfamilie. Damit beginnt ein Streben nach sozialem Aufstieg über Immobilien und Bildung nach der Heirat, womit sie sich an den Handlungsstrategien ihres Vaters orientiert. Dies deutet darauf hin, dass sie dadurch die Anerkennung ihrer selbst gegründeten Kleinfamilie durch ihre Eltern anstrebt und damit die Wahl des Ehemannes rechtfertigt. Sie übernimmt dabei familiale geschlechtsspezifische Rollenerwartungen, indem der soziale Aufstieg über den beruflichen Erfolg ihres Ehemannes realisiert wird und über Bildung durch ihren Sohn angestrebt wird, und sie selbst die Mutterrolle übernimmt. Zugleich wird der erfolgreiche sozio-ökonomische Statusaufstieg in der Schweiz auch zur Strategie, Ausgrenzungsprozesse aufgrund ihres Status als ausländische Familie zu überwinden und sich damit vom negativen Diskurs über Ausländer_innen in der Schweiz zu distanzieren. Familiale Aushandlungsprozesse durch die Übernahme familialer Geschlechternormen Blerina präsentiert den Aushandlungsprozess familialer Erwartungen anhand der Wahl des Ehemannes, des Wohnortes und der Kinderzahl und ist im Interview mit ihren „ja-nein“ Aussagen gekennzeichnet. Sie stellt ihre Mutter als zentrale Person dar, welche die geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen an sie heran-

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trägt. Zugleich wird sichtbar, dass Blerina sich in der Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen einen gewissen Handlungsspielraum schafft, der sich an der Distanzierung von ihrer Schwiegerfamilie und dem Verbleib in der Schweiz zeigt. Zugleich zeigt sich die Aushandlung familialer Erwartungen auch in ihrer Kleinfamilie in ihrer Betonung der Verbindung ihres Ehemannes zu Kosovo. Übernahme familialer Geschlechterrollen im Kosovo nach erfolglosen Autonomiebestrebungen in der Schweiz Bei Clirim zeigen sich die Aushandlungen familialer Erwartungen in seiner Unterscheidung in eine Zeit als „Junggeselle“ in der Schweiz und als verantwortlicher Familienvater im Kosovo. In der Zeit als „Junggeselle“ in der Schweiz gibt er gegen den Willen seines Vaters das Streben nach beruflichem Erfolg auf und orientiert sich an Gleichaltrigen. Die erneute Auseinandersetzung mit familialen Erwartungen zeigt sich an der Verlobung mit einer Albanerin im Kosovo und führt zu einem jahrelangen Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz. Erst durch die Schwangerschaft seiner Frau erfüllt Clirim die familialen Erwartungen durch die Übernahme der Rolle als Familienernährer. Er kann diese Rolle nach erfolglosen Versuchen in der Schweiz durch die Migration zu seinen Eltern im Kosovo übernehmen und beginnt damit nun auch erfolgreich das Streben nach beruflichem Erfolg. Dieser berufliche Aufstieg stellt zugleich seine Strategie dar, um seine Außenseiterposition im Kosovo zu überwinden. Familiale Aushandlungsprozesse dank beruflichem Erfolg Die Aushandlung familialer Erwartungen präsentiert Donika anhand des Bildungsauftrages ihres Vaters. Dieser Auftrag ist mit der Migration in den Kosovo verbunden. Trotz ihrer anfänglichen Bemühungen bricht Donika das Studium ab. Durch ihren beruflichen Erfolg erhält sie elterliche Anerkennung, die ihr ermöglicht, geschlechtsspezifische familiale und gesellschaftliche Erwartungen auszuhandeln und Heirat und Familiengründung hinauszuzögern. Familiale Aushandlungsprozesse dank verlängertem Bildungsweg Egzon gelingt es, durch seinen erfolgreichen Bildungsweg familiale Erwartungen zu erfüllen und mit seiner Suche nach Zugehörigkeit zu verbinden. Sein Hochschulabschluss im Kosovo ermöglicht ihm eine Rückkehr in die Schweiz zu Studienzwecken. Nach der erneuten Migration in den Kosovo kann Egzon durch die Fortsetzung des Bildungsweges familiale Erwartungen aushandeln, die nun die Heirat und Familiengründung betreffen.

Familiale Aushandlungsprozesse: Die Fallrekonstruktionen | 329

Der Vergleich der Thematisierung familialer Aushandlungsprozesse der fünf Geschwister zeigt auf, dass die drei ältesten Geschwister die Aushandlung von Geschlechternormen anhand familialer Geschlechterrollen (Familiengründung, Ernährerrolle und Mutterschaft) thematisieren. Auch der soziale Aufstieg über Bildung und Erwerbsarbeit ist ein wichtiges Thema und wird von Arbresha, Clirim sowie den beiden jüngsten Geschwistern eingebracht. Zudem werden auch Zugehörigkeit über Ethnizität und Sprache sowie Ausgrenzungserfahrungen in den Fallrekonstruktionen aller fünf Geschwister angesprochen. Diese Themen sind auch in den Fallrekonstruktionen der Eltern wesentlich und weisen darauf hin, dass der soziale Aufstieg, Zugehörigkeit sowie familiale Geschlechternormen für die Transmission von Migrationserfahrungen in dieser Familie bedeutend sind und in Zusammenhang stehen mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen. Der intergenerationale Vergleich der Fallrekonstruktionen der Mitglieder dieser Familie wird im folgenden Kapitel genauer analysiert in Verknüpfung mit den, in den ersten Kapiteln erarbeiteten, theoretischen Grundlagen.

 

7

Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit

Im Zentrum dieser Untersuchung steht die Frage nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen und der Bedeutung sozialer Ungleichheiten im Sinne von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen. Dazu wurden in einem ersten Schritt die individuellen Handlungsstrukturen im familialen und gesellschaftlichen Kontext rekonstruiert. Eine besondere Beachtung erhält dabei der transnationale Migrationskontext als Verflechtungsgeschichte (Randeria/Römhild 2013), um der grenzüberschreitenden Gestaltung der Lebensverläufe Rechnung zu tragen. Die Analyse der Lebensgeschichten der sieben Familienmitglieder ermöglichte, verschiedene Strukturhypothesen zu rekonstruieren, die in Zusammenhang stehen mit intergenerationaler Transmission und soziokulturellen Grenzziehungsprozessen. Anstelle einer Herausarbeitung von Eigenständigkeitsmerkmalen distinktiver Typen, wie die Typenbildung von Rosenthal (2011) an dieser Stelle vorsieht, wird hier die theorieorientierte Fallrekonstruktion von Miethe (2014) aufgegriffen, da die von ihr vorgeschlagene komparative Analyse es erlaubt, die fallübergreifende Verwobenheit mehr zu gewichten als die Einzelfälle (Miethe 2014: 174). Zudem sieht Miethe (2014: 176) bei der komparativen Analyse eine stärkere theoretische Kontextualisierung vor, als dies bei dem Vorgehen nach Rosenthal (2011) vorgesehen ist und ist deshalb besser geeignet, die Bedeutung von soziokulturellen Grenzziehungen für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen herauszuarbeiten. Die komparative Analyse findet entlang der Themen statt, die aus den Fallrekonstruktionen der Eltern herausgearbeitet wurden: Dem Thema des sozialen Aufstieges (doing class), welches in der Fallrekonstruktion von Admir zentral ist und dem Thema der Transmission von familialen Geschlechternormen (doing gender), das in der Fallrekonstruktion von Adifete bedeutend ist. Grundlage dafür bilden die in den Fallrekonstruktionen herausgearbeiteten Strukturaspekte.

 

332 | Familienleben transnational

Diese werden illustriert mit Interviewpassagen. Diese beiden Themen werden ergänzt durch das Thema der Ethnizität, da dieses bei der Begründung von Adifete und Admir für die Migration in den Kosovo auftaucht und ebenfalls von den fünf Geschwistern thematisiert wird. Diese Narrationen der Familienmitglieder über familiale Geschlechternormen, Ethnizität und sozialen Aufstieg können gemäß Anthias (2003: 26) als Erzählungen über Zugehörigkeit bezeichnet werden und stellen eine Möglichkeit dar, wie Subjekte ihre Positionierung und Selbstverortung in der sozialen Ordnung artikulieren. Sie stehen im Zusammenhang mit imaginären Vorstellungen über Kollektive, welche durch Grenzen konstruiert werden (Anthias 2003: 24). „Die Erzählung über die Zugehörigkeit ist ein Bericht, der eine Geschichte darüber erzählt, wie wir uns selbst in Begriffen von sozialen Kategorien platzieren, etwa Geschlecht, Ethnizität und Klasse. Von diesem Standpunkt aus konstituiert jeder Bericht über den Ort einer Person innerhalb der sozialen Ordnung eine Geschichte, unabhängig davon, ob sie behauptet, erfunden zu sein oder nicht.“ (Anthias 2003: 22 - 23)

Gemäß Anthias stehen damit Erzählungen im Zusammenhang mit gesellschaftlicher Hierarchisierung, die hier als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse konzipiert wird. Die komparative der Erzählungen über Zugehörigkeit ermöglicht deshalb, die Frage nach der Bedeutung von sozialen Ungleichheiten im Sinne von soziokulturellen Grenzziehungen auf intergenerationale Transmissionsprozesse zu beantworten.

7.1 TRANSMISSION FAMILIALER GESCHLECHTERNORMEN: DIALEKTIK DER FAMILIENORIENTIERUNG Der Vergleich der Fallrekonstruktionen beider Eltern mit den fünf Kindern zeigt Formen der Weitergabe familialer Geschlechternormen, zugleich aber auch Aushandlungsprozesse und Veränderungen in Zusammenhang mit dem transnationalen Migrationsprozess der Familie. Der reflexive Umgang mit der eigenen Familie und das damit verbundene biographische Transformationspotenzial werden hier in Anlehnung an Apitzsch (2009: 84) als Dialektik der Familienorientierung bezeichnet.

 

Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit | 333

7.1.1 Vergeschlechtlichte Erzählungen: „putz dort putz dort..und Kaffee machen Tee Essen nein das ist jetzt nichts für mich“ 1 Ausgehend von den Fallrekonstruktionen der beiden Eltern, Adifete und Admir, wird die Transmission von familialen Geschlechternormen fallübergreifend anhand der Themen Sorgearbeit, Gestaltung des Überganges zwischen Jugend- und Erwachsenenphase, Heirat und Familiengründung diskutiert. Dabei zeigt sich die Relevanz von familialen Geschlechternormen für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen und deren Verstärkung durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse. Transmission der Sorgearbeit und Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten Adifete erhält als erstes Kind und älteste Tochter in der Familie den Auftrag, ihre Mutter bei der Sorgearbeit um die jüngeren Geschwister zu unterstützen auf Kosten ihrer Schulbildung. In Zusammenhang mit der Abwesenheit des Vaters, der im Ausland als „Gastarbeiter“ das Familieneinkommen erwirtschaftet, übernimmt sie die Betreuung der jüngeren Geschwister und hilft ihrer Mutter auf dem Hof. Dies führt zu einem vorzeitigen Ende des Besuches der Grundschule. Adifete (und die andern bei diesem Interview anwesenden Familienmitglieder) thematisieren jedoch nicht die Transmission von Sorgearbeit in Zusammenhang mit ihrer Rolle als älteste Tochter, sondern begründen den vorzeitigen Abbruch ihrer Schulbildung mit dem langen und gefährlichen Schulweg. Der Schulweg wird auch in der folgenden Generation von Arbresha und Blerina als Begründung für eingeschränkte (Aus-) Bildungsmöglichkeiten thematisiert, obwohl sie in den Interviews mit Adifete nicht anwesend waren. Die Tochter Arbresha nennt die Entfernung der Sekundarschule als einen Grund, weshalb sie diese Möglichkeit der höheren Schulstufe nicht nutzen konnte. Arbresha: ich habe dann doch ein wenig Angst gehabt..und eh wir sind eben damals auch noch in Zuzgen gewesen.. und dann hätte man auch mit dem Bus auf B. dort ist die Sekundarschule gewesen..ja nein ja nein dann haben wir doch mit dem Vater entschieden ja nein ich bleibe in der Real (2012: 312 - 315)

Blerina begründet ebenfalls mit der geographischen Distanz die ausbleibende Ausbildung nach der obligatorischen Schulzeit. Im Gegensatz zu ihrer Schwester

                                                             1

Blerina (2012: 343-344).

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Arbresha bringt sie den weiten Weg zu möglichen Ausbildungsorten explizit in Zusammenhang mit Geschlechternormen. Blerina: in der Nähe hast du wirklich nichts gefunden und Basel Bern Aarau und so..ja .. Aarau wäre ja noch irgendwie gegangen aber Basel aber immer mit so ..ja Hintergedanken und ich habe das immer so ein wenig..ja..nicht so gerne gehabt..und immer so mit vorsichtig sein und ja nicht pass auf und mach keine Schande (2012: 168 - 171)

Die Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten wird weder von Arbresha oder Blerina in den Zusammenhang mit der Übernahme von Sorgearbeit gebracht. Dies zeigt auf, dass in der Familie Bildungsmöglichkeiten thematisiert und reflektiert werden, jedoch nicht in Verbindung gebracht werden mit der geschlechtsspezifischen Transmission von Sorgearbeit an die ältesten Töchter. Diese werden erst ersichtlich durch die Fallrekonstruktionen: Wie bei der Mutter Adifete stehen bei Arbresha und Blerina die eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten in Zusammenhang mit der Übernahme von Haushalts- und Sorgearbeit für die jüngeren Geschwister und ihrer Position als älteste Töchter. Jedoch wird die Übernahme von Sorgearbeit der Töchter nicht wie bei Adifete mit der Abwesenheit (Arbeitsmigration) des Vaters wirksam, sondern dem Einstieg der Mutter in die Erwerbsarbeit in der Schweiz, wie exemplarisch folgendes Zitat von Arbresha illustriert. Abresha: wo meine Mutter noch da in der Nacht gearbeitet hat also Spätschicht von fünf Uhr abends ist sie gegangen habe ich den Egzon ein bisschen müssen miterziehen am Abend haben wir immer auf ihn aufpassen müssen (2012: 158 - 160)

Die Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten der beiden Töchter resp. die Transmission von Sorgearbeit wird durch den Einstieg in die Erwerbsarbeit der Mutter Adifete ausgelöst, die ihre Erwerbsarbeit als finanzielle Notwendigkeit darstellt. Dies zeigt auf, dass die Transmission von Sorgearbeit an die ältesten Töchter in Zusammenhang steht mit der tiefen sozialen Position der Eltern in der Schweiz als unqualifizierte, ausländische und im Tieflohnsektor arbeitende Personen. Die als dreifache Vergesellschaftung (vgl. Lenz 1996: 217) beschriebene Situation, die Adifete in der Schweiz erlebt, führt dazu, dass sie die in ihrer Familie bereits bekannte Strategie der Transmission von Sorgearbeit an die ältesten Töchter fortsetzt und eine Einschränkung von Bildungsmöglichkeiten zur Folge hat. Dies zeigt sich besonders deutlich in den biographischen Daten von Arbresha: die Frage des Übertritts in die höhere Bildungsstufe (Sekundarschule in der anderen Gemeinde) stellt sich zum Zeitpunkt des Einstieges in die Erwerbs-

Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit | 335

arbeit der Mutter Adifete. Durch den Verbleib in der Realschule im gleichen Dorf wird ihr Einstieg in die Sorgearbeit mehr gewichtet als ihre Bildungsmöglichkeiten. Die Sorge- und Haushaltsarbeit wird durch Arbreshas Beginn der Ausbildung an die folgende Tochter Blerina übertragen. Blerina: meine Mutter hat sie ist sie zu Hause gewesen hat sie Frühschicht gehabt haben wir immer Gegenschicht gehabt so ist immer jemand eine Frau zu Hause gewesen (lacht)..halt geputzt und Essen und alles gemacht da bin eigentlich immer ich so gewesen (2012: 245 - 248)

Damit zeigt sich eine intergenerationale Transmission von Sorgearbeit von Adifete an ihre ältesten Töchter als Strategie des Umgangs mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen in der Schweiz: Adifete übernimmt das selbst erlebte Handlungsmuster der Übertragung der Sorgearbeit an die ältesten Töchter in einer Situation der „dreifachen Vergesellschaftung“ und einer finanziell prekären Situation der Familie. Dies zeigt auf, dass die Transmission familialer geschlechtsspezifischer Rollen durch die soziokulturellen Grenzziehungsprozesse in der Schweiz verstärkt wird. Die Fallrekonstruktion der jüngsten Tochter Donika verdeutlicht den Zusammenhang zwischen der Transmission von Sorgearbeit und den Einschränkungen von Bildungsmöglichkeiten und weist auf die Bedeutung der unterschiedlichen Position in der Geschwisterreihe für die Veränderung der Transmission familialer Geschlechterrollen hin. Als jüngste Tochter wird sie in ihrer Kindheit und Jugendzeit von Sorge- und Haushaltsarbeit freigesetzt und wird mit der Migration in den Kosovo mit elterlichen Bildungserwartungen konfrontiert, was sich am Besuch des Gymnasiums und dem Studienbeginn zeigt. Donika: er ((Vater)) hat mich nachher angemeldet in der Fakultät (2012: 692)

Obwohl Donika das Studium abbricht, kann sie dank ihrem beruflichen Erfolg den Zeitpunkt der Heirat und Familiengründung selbst bestimmen und setzt damit die Veränderung von familialen Geschlechterrollen fort. Die Veränderung der Transmission von familialen Geschlechternormen, der Befreiung von Sorgearbeit und die Förderung von Bildung, finden bei Donika im gesellschaftlichen Kontext von Kosovo statt und führen bei ihr zu einem Spannungsfeld familialer und gesellschaftlicher Geschlechternormen. Dadurch verstärkt sich ihre Außenseiterposition im Kosovo, wo nach dem Krieg eine Verstärkung soziokultureller Grenzziehungen aufgrund des Geschlechts festzustellen ist (vgl. Blagojević 2013: 175).

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Experimentierräume für die jungen Männer vor der Heirat Beim Vergleich der Fallrekonstruktionen der verschiedenen Familienmitglieder zeigt sich die intergenerationale Transmission familialer Geschlechternormen auch an den unterschiedlichen Möglichkeiten der Ausgestaltung des Übergangs von der Jugend- zur Erwachsenenphase. In dieser Phase stehen gemäß Mangold (2013: 20) nebst dem Übergang von der Schule zum Beruf eine Vielzahl von Übergangsthemen in unterschiedlichen Lebensbereichen wie bspw. Freundschaft, Partnerschaft, Beziehungen zu der Familie, an. Diese Zeit der Übergänge wird auch als Moratorium bezeichnet, in der sich die Jugendlichen auf die künftige Position in der Gesellschaft vorbereiten wie bspw. durch Ausbildung oder Studium (ibid.: 20). Als Vorbereitung auf das Erwachsenenalter und die Erwerbsarbeit stellt die Jugendphase damit eine Art Experimentierraum für junge Menschen dar (Mangold 2013: 20), der Erprobung und Abenteuer, in der die Gruppe der Gleichaltrigen an Bedeutung gewinnt und sich die Jugendlichen von ihren Eltern distanzieren (Mangold 2013: 21). Allerdings sind die Konturen des Übergangs der Lebensphase der Jugend ins Erwachsenen- und Erwerbsalter gemäß Böhnisch (2008: 142) zunehmend verschwommen. Die Fallrekonstruktion von Admir zeigt, dass er durch den Bildungsweg bis zum Studium an der Universität in Skopje eine zunehmende Distanzierung vom Herkunftsmilieu erlebt. Der Bildungsweg bedeutet für Admir eine Erweiterung der Möglichkeiten der Gestaltung seines Lebensentwurfs und kann in diesem Sinne auch als eine Art Experimentierraum bezeichnet werden. Die Heirat und Familiengründung im Herkunftsdorf im Kontext einer zunehmenden Arbeitslosigkeit auch von Studienabgängern im damaligen Jugoslawien setzen diesen alternativen Handlungsoptionen ein Ende und führen zu einer Orientierung an der väterlichen Strategie der Erfüllung der Rolle des Familienernährers über Arbeitsmigration ins Ausland. Wie sein Vater erlebt auch Clirim eine Experimentierphase vor der Familiengründung. Diese beginnt in der Schweiz zum Zeitpunkt der Migration der Eltern in den Kosovo und zeigt sich in der Aufgabe der Erwerbsarbeit und der Orientierung an Gleichaltrigen. Clirim bezeichnet diesen Experimentierraum selbst als „Partytime“ und stellt einen Zusammenhang her mit der Zeit als „Junggeselle“. Diese „Partytime“ ist bei Clirim verbunden mit der Herauszögerung der Heirat und Familiengründung und seinem Streben nach einem selbstbestimmten Leben unabhängig von der Familie in der Schweiz wie folgendes Zitat illustriert. Clirim: schon mit zwanzig einundzwanzig..knall hart gesagt habe he ich so nein ich will mein Leben leben und dann..ich so ich mache das nicht heiraten mit zwanzig mit einundzwanzig Kinder und die Frau nach Strich und Faden..eh betrügen und zu Hause lassen

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weil ich zuerst noch muss in Ausgang gehen und mich überhaupt erst finden und ich so..nein und dann haben sie mich wirklich auch in Ruhe gelassen..weil ich das so krass gesagt habe und so nein und fertig..und ich so es wird meine Zeit kommen ich werde es euch dann sagen..und dann so mit vier und fünfundzwanzig..habe ich dann schon gemerkt ok langsam alles erlebt und so jetzt muss ich mich schon und so..Fa:milie gründen (2013a: 1489 - 1496)

Wie sein Vater beendet er durch die Familiengründung und der Erfüllung der Rolle als Familienvater und Familienernährer mit der Migration in den Kosovo diese Experimentierphase. Zudem findet dieses Ende des Experimentierraumes und die Übernahme der Rolle als Familienernährer sowohl bei Admir und Clirim im Kontext einer prekären Arbeitsmarktsituation (Admir) resp. Schwierigkeiten bei der Integration in den Arbeitsmarkt (Clirim) statt, die Admir durch die Migration in die Schweiz und Clirim durch die Migration in den Kosovo überwindet. Die Fallrekonstruktion des jüngsten Sohnes Egzon zeigt zwei Phasen auf, die als Experimentierraum bezeichnet werden können. Beide Phasen stehen in engem Zusammenhang mit dem Erfüllen von elterlichen Bildungserwartungen. Die erste Phase zeigt sich während dem Studium im Kosovo, in der er sich vor allem dem Musizieren widmet und das Studium vernachlässigt. Er stellt damit zeitweise die Orientierung an Gleichaltrigen über die elterlichen Bildungserwartungen und legitimiert diesen Freiraum mit der Unsicherheit über die Akkreditierung der Universität und dem medialen Erfolg der Band. Er gibt dieses Engagement in der Band jedoch wieder auf, weil sich durch ein Masterstudium für ihn die Möglichkeit bietet, im Einklang mit elterlichen Bildungserwartungen in die Schweiz zurückzukehren. Die zweite Phase des Experimentierraumes findet in der Schweiz statt. Dank dem Masterstudium erlebt Egzon in der Schweiz erstmals eine Zeit unabhängig von der Familie, wie folgendes Zitat illustriert: Egzon: ich finde es super dass ich mal alleine bin..dass ich mal ein eigenes Leben führen kann..und nicht irgendwie jemand sagen kann mach doch das oder mach doch das..…(2012: 1221 - 1223)

Egzon rechtfertigt hier die Distanzierung zu der Familie mit der Erfüllung elterlicher Bildungserwartungen. Der „Experimentierraum“ in der Schweiz ist auch rechtlich eng mit dem Studium verknüpft. Der Abbruch des Studiums in der Schweiz führt deshalb zu einem Ende dieses Experimentierraumes und einer Rückkehr zur Familie in den Kosovo. Egzon erfährt soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz, die sich anhand der ausländerrechtlichen Bestimmungen (vgl. Dahinden 2014) sowie Schwierigkeiten beim Zugang zum Ar-

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beitsmarkt und dem Studium zeigen. Diese schränken Egzons Suche nach alternativen Lebensentwürfen und seinem Streben nach Unabhängigkeit von der Familie ein. Nach der Rückkehr in den Kosovo nimmt Egzon diese Strategie der Erfüllung familialer Bildungserwartungen erneut auf, um gewisse Freiräume auszuhandeln. Diesmal betreffen diese die Hinauszögerung von Heirat und Familiengründung und damit einer Aushandlung familialer Geschlechternormen. Damit zeigt sich eine Umkehrung der Prioritäten in Bezug auf seinen Vater: Bei Admir haben familiale Geschlechternormen zu einem Ende des Bildungsweges geführt, während bei Egzon der Bildungsweg eine Distanzierung von familialen Geschlechternormen ermöglicht. Im Gegensatz zu ihren Brüdern kennt Donika keine Zeit unabhängig von der Familie trotz der Freisetzung von der Sorge- und Haushaltsarbeit. Ihre Fallrekonstruktion weist auf die Verstärkung familialer Geschlechternormen durch die Migrationserfahrungen hin. Sie erlebt die Zeit des Übergangs vom Jugend- zum Erwachsenenalter im Kosovo. Ausgrenzungserfahrungen in der Schule schränken ihre Möglichkeiten ein, den Bildungsweg als „Experimentierraum“ zu nutzen und führen zu einem Rückzug in die Familie und später zu einem Abbruch des Studiums. Der Studienabbruch wird vom Vater mit einem Reiseverbot in die Schweiz sanktioniert und schränkt damit ihre Möglichkeiten der Distanzierung von den Eltern und der Suche nach alternativen Lebensentwürfen weiter ein. Donika: aber nachher ist die Zeit gekommen wo es mir verboten worden ist weil ich die Schule geschmissen habe das.. auch in die Ferien habe ich nicht dürfen in die Schweiz …das ist für mich auch sehr schlimm gewesen..(2012: 708 - 710)

Damit zeigt sich, dass die Möglichkeiten, den Übergang von der Jugend zu der Erwachsenenphase als Experimentierphase zu leben, in dieser Familie durch familiale Geschlechternormen bestimmt werden und verknüpft sind mit dem Erfüllen von elterlichen Bildungserwartungen. Diese Übergangsphase wird zudem eingeschränkt durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse, wie Ausländerrechtliche Bestimmungen sowie soziokulturelle Grenzziehungsprozesse im Bildungs- und Arbeitsmarkt, die sich bei Donika im Kosovo und ihren beiden Brüdern in der Schweiz zeigen. Diese soziokulturellen Grenzziehungsprozesse führen bei Donikas zu einer Verstärkung der Bedeutung der familialen Anbindung im Kosovo.

 

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Kontinuität von Sorgearbeit: Übergang von der Herkunftsfamilie zur eigenen Kernfamilie Im Zusammenhang mit der zuvor beschriebenen Transmission von Sorgearbeit kennt Adifete keine Zeit unabhängig von der Familie. Adifete verbringt ihre gesamte Kindheit und Jugendzeit im elterlichen Haushalt mit ihrer Mutter. Die eingeschränkten Bildungsmöglichkeiten und die Übernahme von Haushalt- und Sorgearbeit ermöglichen ihr kaum außerfamiliale Kontakte. Auch nach der Heirat verbleibt Adifete im selben familialen Milieu und führt die familialen Geschlechterrollen fort, indem sie weiterhin Haushalts- und Sorgearbeiten in der Schwiegerfamilie übernimmt. Ihre Fallrekonstruktion zeigt auf, dass damit die Familie zu ihrer zentralen Orientierung wird. Wie Adifete kennen auch die beiden ältesten Töchter in der Schweiz keine Zeit unabhängig vom Familienhaushalt. Sie leben bis zu der Heirat im Haushalt der Eltern und haben dort Haushalts- und Sorgearbeit zu verrichten, obwohl beide im Gegensatz zu Adifete nach der obligatorischen Schulzeit in die Erwerbsarbeit einsteigen und damit auch ein eigenes Einkommen erwirtschaften. Das erworbene Einkommen geben sie ihren Eltern in die gemeinsame Haushaltskasse ab und tragen so mit ihrer Erwerbsarbeit zu den Investitionen in Immobilien ihres Vaters bei, wie folgendes Zitat von Blerina exemplarisch zeigt: Blerina: so hat es sich dann einfach ergeben dass du einfach gearbeitet hast und gearbeitet hast und gleichwohl noch zu Hause abgegeben hast ..müssen (2012: 18 - 20)

Beide Schwestern ziehen zum Zeitpunkt der Heirat und Familiengründung in einen eigenen Haushalt um und setzen dort die Haushalts- und Sorgearbeit für ihre eigene Kernfamilie fort. Wie ihre Mutter bekommen auch beide Töchter, Arbresha und Blerina, kurz nach der Heirat ihre ersten Kinder und kennen somit auch keine Zeit in der Ehe ohne Kinder. Damit zeigt sich, dass die Sorge- und Haushaltsarbeiten, welche beide bereits in der Jugendzeit in der Herkunftsfamilie übernommen haben, wie bei ihrer Mutter nahtlos nach der Heirat und Familiengründung im eigenen Haushalt weitergehen. Die intergenerationale geschlechtsspezifische Transmission von Sorgearbeit wird verstärkt durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz, welche Bildungs- und Erwerbsmöglichkeiten für Personen aus dem Kosovo einschränken (vgl. Duemmler 2015: 142). Dies zeigt sich bei Blerina bei der Verlobung, Heirat und Familiengründung. Diese findet in einer Zeit statt, in der die Zukunft ihrer Arbeitsstelle in Frage gestellt ist. Durch die Familiengründung kann sie die befürchtete Zeit der Arbeitslosigkeit durch die Übernahme der Rolle als Ehefrau und Mutter kompensieren. Auch die Fallrekonstruktion der älteren Schwester Arbresha macht

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deutlich, dass durch die Heirat und Familiengründung nicht nur familiale Geschlechternormen erfüllt werden, sondern auch eine Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Schweiz angestrebt wird: Die geschlechtsspezifische Rollenaufteilung in Arbreshas Ehe ermöglicht dank dem beruflichen Erfolg ihres Ehemannes, in Zusammenhang mit seiner Rolle als Familienernährer, die Realisierung des sozialen Aufstiegs. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass in dieser Familie eine effektive Jugendphase als Experimentierraum und Distanzierung von der Familie den männlichen Familienmitgliedern vor der Familiengründung vorbehalten ist. Bei Admir und Egzon steht dieser Experimentierraum im Zusammenhang mit ihrem Bildungsweg und damit dem Erfüllen elterlicher Bildungserwartungen. Im Gegensatz dazu führt das Nichterfüllen dieser Bildungserwartungen bei Donika zu einer Einschränkung ihrer Möglichkeiten der Distanzierung von der Familie. Clirim ist der einzige, der mehrere Jahre unabhängig von der Familie verbringt und sich in dieser Zeit nicht am erwarteten sozialen Aufstieg über Bildung oder Erwerbsarbeit orientiert. Dies zeigt auf, dass die Möglichkeit der Gestaltung des Überganges zwischen Jugend- und Erwachsenenphase in dieser Familie durch die Transmission von Sorgearbeit und Bildungserwartungen bestimmt wird. Soziokulturelle Grenzziehungsprozesse im damaligen Jugoslawien, der Schweiz und im Kosovo schränken die Möglichkeiten der Erfüllung elterlicher Bildungserwartungen ein und verstärken insgesamt die Transmission geschlechtsspezifischer Rollen in dieser Familie. Heirat und Familiengründung im Interesse der Familie Die intergenerationale Transmission von familialen Geschlechternormen zeigt sich auch anhand der Narrationen zum Thema Heirat und Familiengründung. Die Heirat von Adifete und Admir stellt eine Fortsetzung der Verbindung zweier Familien dar, welche von der erweiterten Familie initiiert wird. Heirat und Familiengründung stellen für sie nicht individuelle Entscheidungen dar, sondern stehen in Zusammenhang mit familialen Interessen. Auf die Bedeutung der Interessen der Familien für die Heirat wies bereits Bourdieu (2005: 66) hin, der erläutert, dass mit der Heirat auch die Kontinuität, Veränderung oder Neudefinition von der Zugehörigkeit zur Familie bestimmt wird, wie folgendes Zitat zeigt: „deshalb ist es ganz logisch, dass in den meisten Gesellschaften die Vorbereitung und Durchführung von Heiraten eine Angelegenheit der betroffenen Gruppe als Ganzes ist und nicht nur der unmittelbar beteiligten Individuen; denn mit der Einführung neuer Mitglieder in eine Familie, einen Clan oder einen Club wird die Definition der ganzen Gruppe mit ih-

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ren Grenzen und ihrer Identität aufs Spiel gesetzt und von Neudefinitionen, Veränderungen und Verfälschungen bedroht.“ (Bourdieu 2005: 66)

Die Fallrekonstruktionen von Adifete und Admir weisen zudem auf die patrilokale Familientradition hin. Adifete zieht nach der Heirat in den gemeinsamen Haushalt mit ihren Schwiegereltern und unterstützt dort ihre Schwiegermutter bei Haushaltsarbeiten nebst der Sorgearbeit für ihre eigenen Kinder. Sie setzt damit die patrilokale Familientradition fort, welche in den ländlichen Regionen des ehemaligen Jugoslawiens in Großfamilien weit verbreitet war (vgl. Calic 2014: 28, Kaser 2016: 362). Die Bedeutung familialer Interessen für die Heirat wird auch in der Fallrekonstruktion von Arbresha ersichtlich. Obwohl sie die Wahl ihres künftigen Ehemannes als individuelle Entscheidung darstellt, thematisiert sie ausführlich das Ringen um die Zustimmung ihrer Eltern. Der Ablehnungsgrund der fehlenden finanziellen Mittel der künftigen Schwiegerfamilie weist auf die Fortsetzung der patrilokalen Familientradition hin, in der die Braut in den Haushalt der Familie des Ehemannes wechselt und deshalb das Vermögen der künftigen Schwiegerfamilie ein wichtiges Kriterium für die künftige finanzielle Absicherung der Tochter in der Ehe darstellt. Im Gegensatz zu ihrer Schwester spricht Blerina die familialen Interessen bei der Wahl des Ehepartners direkt an, indem sie ihre Mutter als zentrale Person für die Auswahl des künftigen Ehemannes darstellt. Blerina: meine Mutter ihn ja auch schon gesehen sie hat ihm ja schon gut gefallen weil er auch schon er ist eben in der UCK gewesen das hast du sicher auch schon gehört oder dort und er ist halt dabei gewesen und dann hat er davon erzählt und halt erzählt wie es dort gewesen ist und meine Mutter ja sie hat sie ist sie ist immer so die Männer die muss man bewundern weil das kann nicht jeder machen und irgendwie so und sie ist halt schon so stolz gewesen auf den (2012: 259 - 264)

Als Kriterien präsentiert sie die ethnische Zugehörigkeit sowie den sozialen Status als ehemaliger Kämpfer für die Unabhängigkeit des Kosovo. Dies zeigt die Relevanz von Ethnizität und Herkunftsort für die Familie auf. Damit stellt Blerina dar, dass sie im Gegensatz zu ihrer älteren Schwester weder den Heiratszeitpunkt noch den Ehepartner frei wählen konnte. Als ihren eigenen Entscheidungsfreiraum präsentiert sie einzig die Wahl des künftigen Wohnortes und damit auch die Haushaltszusammensetzung, was auf eine Transformation der patrilokalen Familientradition hinweist: Die Heirat führt nicht wie bei ihrer Mutter zur Migration in den Mehrgenerationenhaushalt der Schwiegereltern im Kosovo.

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Der Verbleib in der Schweiz und die Gründung eines eigenen Haushalts für ihre Kernfamilie ermöglichen Blerina eine gewisse Autonomie, die sie anhand der Haushaltsarbeiten aufzeigt, wie folgendes Zitat illustriert. Blerina: dann stehst du auf weiß auch nicht putzt du den ganzen Tag putz dort putz dort..und Kaffee machen Tee Essen nein das ist jetzt nichts für mich..ich muss es ja hier auch ich muss hier auch putzen Essen machen aber es ist halt alles anders machst es für deine eigene Familie dort musst du für 20 Leute machen..(2012: 342 – 346)

Diese Transformation der patrilokalen Familientradition, die sich bei der Heirat von Blerina und auch Arbresha erkennen lässt, wird bereits bei Adifete begonnen durch die Emigration zu ihrem Ehemann Admir in die Schweiz (Familiennachzug). Jedoch wird diese Distanz von der Herkunfts- und Schwiegerfamilie von Adifete nicht als neuer Freiraum und Autonomie bezeichnet, sondern als Problem dargestellt, welches den Zusammenhalt der Familie gefährdet. Eine Rückkehr in die Nähe des Herkunftsdorfes ist deshalb für sie zentral. Das gemeinsame Leben mit ihren erwachsenen, ledigen Kindern im selben Haushalt in Prizren sowie der Bau des Zweifamilienhauses für die beiden Söhne zeigt ihr Bestreben auf, ihre Söhne in der Nähe zu haben und damit zumindest ansatzweise die patrilokale Familientradition weiterzuführen resp. zu reaktivieren. Trotz der geographischen Distanz von der Schwiegerfamilie stellen Arbresha und Blerina symbolisch die patrilokale Anbindung an die Schwiegerfamilie über den Bau eigener Häuser am Wohnort der Schwiegereltern im Kosovo sicher. Damit orientieren sie sich an ihren eigenen Eltern, welche ebenfalls stellvertretend für ihre Abwesenheit im Herkunftsort der Familie des Vaters ein eigenes Haus errichteten, jedoch nie dort wohnten. Damit zeigt sich, dass der transnationale Migrationsprozess der Familie zu einer Transformation der patrilokalen Familientradition führt. Diese wird einerseits symbolisch weitergeführt durch den Bau eigener Häuser bei den Schwiegereltern, bewirkt andererseits jedoch eine Auflösung des Mehrgenerationenhaushalts in der Herkunftsfamilie. Während Adifete diese Auflösung bedauert, zeigt insbesondere Blerina, dass ihr die Distanz zu den Schwiegereltern eine gewisse Selbständigkeit ermöglicht. Auch bei Clirim spielen familiale Interessen eine Rolle bei der Heirat und Familiengründung. Er stellt dar, dass er seine künftige Frau während den Ferien im Kosovo durch die Vermittlung eines Cousins kennenlernt. Im Alter von 27 Jahren heiratet er eine kosovo-albanische Frau, was wie bei seinen älteren Schwestern die Bedeutung von Ethnizität und geographischer Herkunft für die Heirat und Familiengründung bestätigt. Die Heirat führt bei Clirim jedoch nicht wie bei seinen älteren Schwestern zu der Gründung eines gemeinsamen Haushal-

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tes mit seiner Ehefrau, da er nach der Heirat zuerst das Hin- und Herpendeln zwischen der Schweiz und dem Kosovo fortsetzt. Clirim befindet sich zu diesem Zeitpunkt in der Schweiz in einer schwierigen finanziellen und beruflichen Situation und ist immer wieder arbeitslos. Als Ausländer ohne berufliche Ausbildung hat Clirim in der Schweiz Schwierigkeiten, eine Arbeitsstelle zu finden und die Rolle als künftigen Familienernährer zu übernehmen. Er setzt erst zum Zeitpunkt der Geburt des ersten Kindes durch die Migration in den Kosovo die patrilokale Familientradition fort. Dies zeigt auf, dass soziokulturelle Grenzziehungsprozesse seine Möglichkeiten einschränken, die patrilokale Familientradition zu transformieren. Die Migration zu den Eltern in den Kosovo ermöglicht ihm, soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz zu überwinden und zugleich familiale Geschlechterrollen zu erfüllen. Insgesamt kann festgehalten werden, dass Heirat und Familiengründung verbunden sind mit den elterlichen Bestrebungen einer ethnischen und geographischen Anbindung ihrer Kinder an die von ihnen gewählte „neue Heimat“. Die drei ältesten Geschwister erfüllen diese familialen Erwartungen mit der Heirat von kosovo-albanischen Personen. Heirat und Familiengründung stehen damit bei allen drei verheirateten Geschwistern im Interesse der Familie, welche über die Einführung der neuen Mitglieder in die Familie bestimmt (vgl. Bourdieu 2005). Das Erfüllen familialer Interessen bei der Heirat und Familiengründung wird zudem bei allen drei Geschwistern verstärkt durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz. Zugleich findet durch den transnationalen Migrationsprozess der Familie jedoch auch eine Transformation der patrilokalen Familientradition statt und zeigt sich an der Auflösung des Mehrgenerationenhaushaltes durch den Bau eigener Häuser. Aufschiebung des Heiratszeitpunktes dank der Realisierung von sozialem Aufstieg Im Gegensatz zu den älteren drei Geschwistern sind Donika (29 Jahre) und Egzon (26 Jahre) nicht verheiratet. Sie leben ledig im gemeinsamen Familienhaushalt mit dem ältesten Bruder, dessen Frau und Kinder sowie den Eltern im Kosovo. Beide thematisieren die Erwartungen ihrer Eltern, möglichst bald zu heiraten und eine Familie zu gründen. Donika präsentiert anhand der Heirat und Familiengründung die Konfrontation mit gesellschaftlichen Geschlechternormen im Kosovo, die eine Heirat im Alter von 23 bis 25 Jahren vorsehen, und von ihren Eltern an sie herangetragen werden. Sie zeigt damit auf, dass sie als 29-jährige unverheiratete Frau diesen Normen nicht entspricht.

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Donika ich würde schon gerne heiraten und ich würde auch gerne Kinder haben (1) aber halt bis jetzt halt noch nicht der richtige getroffen irgendwie und (1) es ist auch ein wenig das Problem (1) die Leute von hier weil w- wir sind halt gleichwohl etwas anders..und die haben hier gleichwohl ein wenig anders und (1) ich verstehe mich mit vielen auch nicht so: (1) gut (2013a: 1417 - 1420)

Wie obenstehendes Zitat illustriert, präsentiert Donika die Wahl des Ehepartners als individuelle Entscheidung und unterscheidet sich damit von den älteren Geschwistern und ihren Eltern, bei denen die Familie bei der Wahl des künftigen Ehepartners eine entscheidende Rolle spielte. Damit zeigt sich eine Veränderung familialer Normen, weil Donika im Gegensatz zu ihren älteren Schwestern selbst die Wahl des Ehepartners und den Zeitpunkt bestimmen kann. Folgendes Zitat ihres älteren Bruders aus demselben Interview zeigt zugleich aber auch auf, dass trotzdem die patrilokale Familientradition nicht in Frage gestellt wird. Clirim: obwohl ich mir vorstellen kann dass es gleichwohl für den Egzon einfacher ist als für sie..ich meine die Mentalität Unterschied weil..immerhin bei ihm kommt ja die Frau zu ihm..und wir sind in dieser Mentalität sie muss sich ja dann anpassen weil sie kann nicht eine Person zehn andere umwandeln..für sie ist es schwierger weil sie kommt..die eben in die eh andere Mentalität und sie muss sich dann quasi anpassen (2013a: 1497 - 1501)

Die Fallrekonstruktion von Donika veranschaulicht, dass sie dank ihrem beruflichen Erfolg sich in ihrer Familie einen Spielraum aushandeln kann, um selbst den Zeitpunkt der Heirat zu bestimmen. Damit wird die Transformation familialer Geschlechternormen fortgesetzt, die bereits in ihrer Kindheit begonnen hat. Bereits in ihrer Kindheit und Jugendzeit wurde sie als jüngste Tochter von Haushalt- und Sorgearbeit befreit. Die Aufschiebung von Heirat und Familiengründung stellt deshalb ihre Strategie dar, diese Transformation von familialen Geschlechternormen weiterzuführen. Wie Donika stellt auch der jüngere Bruder Egzon den Zeitpunkt der Heirat als familiales Aushandlungsthema dar. Die Fallrekonstruktion von Egzon zeigt auf, dass die von den Eltern geförderte Fortsetzung des Bildungswegs ihm eine Hinauszögerung von Heirat und Familiengründung ermöglicht, wie folgendes Zitat illustriert. Egzon: und das sind auch ein paar Sachen die mich so irgendwie daran hindern..jetzt noch an das Heiraten zu denken weil ich will irgendwie noch Schule ein bisschen machen und dann..eine gute Arbeitsstelle finden (2013a: 1559 - 1561)

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Dies zeigt auf, dass die beiden jüngsten Geschwister, Egzon und Donika, durch ihren sozialen Aufstieg über Bildung resp. beruflichen Erfolg familiale Geschlechternormen aushandeln um die Wahl des Ehepartners sowie auch den Zeitpunkt der Heirat selbst zu bestimmen. 7.1.2 Intergenerationale Transmission und Aushandlung familialer Geschlechternormen Der Vergleich der Fallrekonstruktionen der Familienmitglieder zeigt auf, dass familiale Geschlechternormen bei der Frage nach der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen bedeutend sind. Dies zeigt sich an den Bestrebungen der Eltern, patrilokale familiale Geschlechternormen an die folgende Generation zu übertragen und in Zusammenhang mit ihren Versuchen der Anbindung an die „neue Heimat“ im Kosovo durch Migration, die Bestimmung der Kriterien für die Wahl der Ehepartner sowie den Bau eines Zweifamilienhauses für die beiden Söhne. Die Unterschiede zwischen den drei ältesten und den beiden jüngsten, nicht verheiraten Kindern, deuten darauf hin, dass die Transmission von familialen Geschlechternormen insbesondere zum Zeitpunkt von Heirat und Familiengründung wirksam wird. Zugleich zeigt die komparative Analyse auf, dass die Transmission von familialen Geschlechternormen durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse verstärkt wird. Das Streben des Vaters Admir nach sozialem Aufstieg durch Investitionen in Immobilien führt in der Schweiz im Kontext soziokultureller Grenzziehungen dazu, dass der Einstieg in die Erwerbsarbeit der Mutter nicht zu einer verbesserten finanziellen Situation resp. sozialen Position der Familie in der Schweiz führt. Soziokulturellen Grenzziehungen in der Schweiz führen für Adifete zu einer Situation der dreifachen Vergesellschaftung, die die Transmission von Sorgearbeit an die ältesten Töchter verstärkt. Diese schränken auch Clirims Bestrebungen nach einem autonomen Leben ein und führen letztlich zu einer Migration in den Kosovo und damit zu einer Fortsetzung der patrilokalen Familientradition. Damit zeigt sich insgesamt, dass die soziokulturellen Grenzziehungen in der Schweiz die Transmission familialer Geschlechternormen an die ältesten drei Geschwister fördert und deren Suche nach alternativen Lebensentwürfen einschränken. Zugleich findet durch den transnationalen Migrationsprozess der Familie jedoch auch eine Transformation der patrilokalen Familientradition statt, wie die Fallrekonstruktionen von Arbresha und Blerina verdeutlichen. Das Leben in einem eigenen Haushalt in der Schweiz ermöglicht beiden eine gewisse Autonomie und Distanzierung von der Schwiegerfamilie. Die Anbindung wird symbolisch durch den Bau eigener Häuser im Kosovo aufrechterhalten. Dieser

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Bau von eigenen Häusern führt zu einer Aufteilung des Mehrgenerationenhaushaltes im Kosovo und ermöglicht so eine gewisse Distanzierung von der Schwiegerfamilie, wie die Bestrebungen von Blerina deutlich zeigen. Die Fallrekonstruktionen der beiden jüngsten Geschwister zeigen auf, dass in dieser Familie zugleich auch eine Transformation familialer Geschlechternormen stattfindet, die bereits in ihrer Kindheit und Jugendzeit in der Schweiz beginnt und mit ihrer Position in der Geschwisterreihe zusammenhängt. Der soziale Aufstieg über beruflichen Erfolg resp. die Fortsetzung des Bildungsweges ermöglichen beiden eine Aushandlung familialer Geschlechternormen im Kosovo, was sich insbesondere in Bezug auf die Wahl des Heiratszeitpunktes zeigt. Jedoch schränken auch bei ihnen soziokulturelle Grenzziehungsprozese wie bspw. die ausländerrechtlichen Bestimmungen die Aushandlung familialer Geschlechternormen ein.

7.2 ETHNIZITÄT IN ZUSAMMENHANG MIT GESELLSCHAFTLICHEN HIERARCHISIERUNGEN Wie bereits im theoretischen Teil beschrieben, wird in dieser Arbeit Ethnizität als Ergebnis sozialer Prozesse verstanden (Wimmer 2010: 99) durch die Gemeinschaft im Sinne von group making as project (Brubaker 2004: 13) hergestellt wird. Um einen ethnischen groupism (Brubaker 2004: 11) zu überwinden, wird die Bedeutung der ethnischen Zugehörigkeit nicht per se angenommen, sondern die Frage gestellt, ob und wie ethnische Zugehörigkeit durch die untersuchten Personen hergestellt und begründet wird und sich über die Generationen hin verändert. Gemäß der Konzeptualisierung soziokultureller Grenzziehungsprozesse nach Amelina (2017) stellt Ethnizität eine mögliche kategoriale Unterscheidung dar, welche intersubjektiv geteilt wird und in spezifischen historischen Klassifikationen erfolgt, die durch soziale Praktiken zu einer vorläufigen und veränderbaren Stabilisierung von gesellschaftlichen Hierarchisierungen führt (Amelina 2017: 45). Dabei ist die jeweilige Position innerhalb einer Machthierarchie bestimmend für die Handlungsstrategien der Akteure (Wimmer 2010: 101). Dies bedeutet, dass einerseits analysiert werden kann, was an den Grenzen geschieht, d.h. was und wie sich Mitglieder derselben Gruppe von den anderen unterscheiden, sowie auch was Ethnizität beinhaltet, was Jenkins (2008: 111) als cultural staff2 bezeichnet. Die Analyse der Bedeutung von Ethnizität für die in-

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Die Bezeichnung geht auf F. Barth zurück, der damit Sprache, Religion, Bräuche und Gesetze, Traditionen, materielle Kultur, Kochen etc. verstand (Jenkins 2008: 111).

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tergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen erscheint auch deshalb relevant, da bisherige Untersuchungen darauf hinweisen, dass Ethnizität im schweizerischen Kontext eine relevante kategoriale Unterscheidung darstellt, die in Zusammenhang mit gesellschaftlichen Hierarchisierungen steht, welche den Zugang zu gesellschaftlichen Positionen über Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit einschränken (vgl. Fibbi et al. 2003, Fibbi et al. 2005, Fibbi/Lerch/Wanner 2011, Duemmler 2015: 141). An dieser Stelle interessiert nun, welche Bedeutung Ethnizität für intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen in dieser Familie hat und in welchem Zusammenhang diese Erzählungen über Zugehörigkeit (Anthias 2003) mit historischen Klassifikationen und sozialen Praktiken stehen, die zu gesellschaftlichen Hierarchisierungen führen. Im folgenden Kapitel werden nun die Fallrekonstruktionen der Eltern und ihrer fünf Kinder anhand der Erzählungen über Ethnizität diskutiert. Dabei wird die Relevanz von Ethnizität aufgrund von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen ersichtlich. 7.2.1 Erzählungen über ethnische Zugehörigkeit „zwischen zwei Welten sind wir immer irgendwie gewesen“3 Die Fallrekonstruktionen der verschiedenen Familienmitglieder zeigen auf, dass die Erzählungen über Ethnizität (und Nationalität resp. Ausländerstatus) in Zusammenhang stehen mit sozialen Praktiken, die zu gesellschaftlichen Hierarchisierungsprozessen führen und damit als soziokulturelle Grenzziehungen bezeichnet werden können (Amelina 2017). Dabei wird ersichtlich, dass diese gesellschaftlichen Hierarchisierungsprozesse im damaligen Jugoslawien, in der Schweiz und im Kosovo unterschiedlich ausfallen und zu unterschiedlichen Positionierungen der verschiedenen Familienmitglieder führen. Migration stellt dabei eine Strategie dar, damit umzugehen. Zugleich fällt auch auf, dass die fünf Geschwister viel ausführlicher und expliziter das Thema der ethnischen Zugehörigkeit zur Sprache bringen als die Eltern. Dies weist auf die Bedeutung von Ethnizität für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen hin.

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Egzon: (2013a:1468 - 1469).

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Transmission der ethnischen Zugehörigkeit als Sicherung der familialen Anbindung an die „neue Heimat“ Die Fallrekonstruktionen von Adifete und Admir zeigen ihre Bestrebungen, die ethnische Zugehörigkeit an die nächste Generation zu übertragen in Zusammenhang mit einer geographischen Anbindung an die Migrationsdestination resp. die „neue Heimat“ Kosovo. Dies zeigt sich in Admirs Begründung der „Rückkehrpläne“ mit der Befürchtung, dass seine Kinder die „Heimat“ vergessen und sich in der Schweiz „assimilieren“ könnten, wie folgendes Zitat exemplarisch darlegt. Admir: immer so gedacht dass ich zurück gekommen oder dass wir nicht immer in Ausland bleiben..//I: mh// also meine Idee ist so gewesen oder und Kinder in die Schule und unsere Heimat und es so ..wegen Assimilationen von den Kinder oder wenn sie immer auf eine andere Land dann..mit der Zeit kommt alles vorbei oder alles weg oder und drum das und ich selber also ich habe selber einverstanden dass ich zurück komme oder (2012:42 47)

Die Migration in den Kosovo zeigt seine Absicht, die ethnische Zugehörigkeit an seine Kinder weiterzugeben und die Anbindung der beiden jüngsten Kinder an diese „neue Heimat“ zu sichern. Bei den drei älteren Geschwistern erfolgt die Transmission der ethnischen Zugehörigkeit sowie die Anbindung an die „neue Heimat“ über die Heirat von kosovo-albanischen Partnern. Für Admir und Adifete gehört dazu auch die Weitergabe der patrilokalen Familientradition, die sich durch die Errichtung eines Zweifamilienhauses für ihre beiden Söhne zeigt. Adifete begründet die Wahl der „neuen Heimat“ mit der ethnischen Bevölkerungszusammensetzung im Kosovo, da dort seit dem Krieg die albanische Bevölkerung die Mehrheit bildet. Ethnizität als soziokulturelle Grenzziehungserfahrungen Im Gegensatz zu ihren Eltern zeigen die Fallrekonstruktionen der fünf Geschwister auf, dass sie Ethnizität nicht als Zugehörigkeit, sondern mit Ausgrenzung- und Diskriminierungserfahrungen verbinden. Diese Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen situieren die drei älteren Geschwister, Arbresha, Blerina und Clirim in ihrer Schul- und Jugendzeit in der Schweiz. Arbresha präsentiert sich in der Schulzeit als Außenseiterin und begründet dies mit Vorurteilen von Schweizer_innen gegenüber Ausländer_innen, wie folgendes Zitat illustriert.

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Arbresha: im Turnen..hast du müssen die zwei und zwei Gruppen machen hat niemand wollen mit mir einfach weil ich eine Andere gewesen bin weil ich eine Ausländerin gewesen bin.. (2012: 600 - 602)

Arbresha zeigt ihre Bemühungen, diese Ausgrenzungserfahrungen ihren Kindern zu ersparen und zeigt damit die intergenerationale Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen auf. Diese Erfahrungen führen zu Abgrenzungsbemühungen gegenüber dem problematisierten Kollektiv der Albaner (vgl. Ammann Dula 2018). Diese Bemühungen der Distanzierung zeigen auf, dass diese Ausgrenzungserfahrungen dazu führen, dass Arbresha diese negativen Zuschreibungen selbst übernimmt, wie folgendes Zitat veranschaulicht. Arbresha: der große Bub der hängt gar nicht mit Albaner zusammen nicht dass er sie nicht aber einfach wie die manchmal die Einstellung haben oder wenn sie ein wenig nicht es so schulisch sagen wir mal begabt sind oder so..möchte er nicht so viel mit denen zu tun haben.. (2012: 611 - 614)

Blerina thematisiert wie ihre Schwester Ausgrenzungserfahrungen aufgrund ihres Migrationshintergrundes in der Schulzeit. Sie begründet ebenfalls mit der Unterscheidung zwischen Ausländer_innen und Schweizer_innen die fehlende Unterstützung in der Schule sowie bei der Lehrstellensuche und verweist damit auf die Bedeutung von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen hin, welche ihren Zugang zu Bildung einschränken. Zugleich stellt sie dar, dass sie auch heute noch Ausgrenzungserfahrungen macht: Blerina: am Abend haben wir Elternabend gehabt und dann haben wir etwas basteln müssen und dann hast du gemerkt ah ich bin die einzige Ausländerin gewesen und alles Schweizer und ich bin froh dass mein Bub keine Ausl also keine gleichsprachige Ausländer weil dann lernt er vielleicht weniger gut das Deutsche und dann hast du gemerkt alle Schweizer an einen Tisch alle zusammen irgendwie und ich bin dann auf einmal ich habe dann zuerst und dann habe ich gemerkt he ich bin ja voll alleine.. und das hat mir dann irgendwie schon ein bisschen weh getan habe ich sagen müssen also he und so das sollte jetzt nicht mehr sein eigentlich ja jetzt sind wir schon 2013 bald da sollte das eigentlich nicht mehr so sein (2012: 114 - 120)

Ähnlich wie ihre Schwester grenzt auch sie sich von der albanischen Bevölkerung ab und begründet dies mit der Sprache. Sie zeigt auf, wie wichtig es ihr ist, dass ihr Kind Deutsch lernt und weist damit auf ihre Bestrebungen einer guten Integration ihrer Kinder in der Schweiz hin, was sie auch anhand ihrer Bemü-

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hungen für die schweizerische Staatsbürgerschaft thematisiert. Ihre Distanzierungsbemühungen zeigen auf, dass auch bei ihr die Diskriminierungserfahrungen dazu führen, dass sie die negativen Zuschreibungen übernimmt und Ethnizität nicht als Zugehörigkeit erlebt. Im Gegensatz zu diesen Bemühungen thematisiert Blerina die schlechten Deutschkenntnisse ihres Ehemannes, die ihren Erwerb der schweizerischen Staatsbürgerschaft verhindern. Zudem erwähnt sie auch sein Engagement, damit die Kinder die albanische Sprache lernen und auch in die Religion eingeführt werden. Indem sie ihren Ehemann als Hindernis für die Integration in der Schweiz präsentiert und zugleich ihren Wunsch äußert, in der Schweiz zu bleiben, zeigt Blerina ein innerfamiliales Spannungsfeld zwischen sich und ihrem Ehemann auf, in dessen Zentrum die Frage nach einer künftigen Migration in den Kosovo steht. Diese Frage ist, wie ihre Fallrekonstruktion zeigt, verbunden mit der Frage nach Autonomie oder Anbindung an die (Schwieger-) Familie im Kosovo. Auch Clirim bringt die ethnische Zugehörigkeit in Zusammenhang mit einem Spannungsfeld zwischen der Abgrenzung gegenüber vorurteilsbehafteten albanischen Jugendlichen und der eigenen, familial begründeten ethnischen Zugehörigkeit. Die Abgrenzung von der später zugezogenen albanischen Bevölkerung ist für ihn, wie bei den beiden älteren Schwestern, in der Kindheit und Jugendzeit in der Schweiz ein zentrales Thema. Er übernimmt damit den gesellschaftlichen Diskurs, indem er die später zugezogenen Albaner als Problemfälle bezeichnet, wie folgendes Zitat illustriert: Clirim: in der ersten Sek zweiten Sek sind dann die Ausländer gekommen und in die Sonderklasse weil sie halt kein Deutsch gekonnt haben weil sie sich nicht großartig bemüht haben..alles Problemfälle gewesen die sind dann auf die Schweizer los und ich habe diese irgendwie in der Klasse gehabt (die das irgendwie haben mögen) aus dem gleichen Dorf wie ich von da oder irgendwie ein Cousin vom Verwandten und hast halt gleichwohl für die dasein müssen und ich immer so zwischendrin oder (2013a: 595 - 600)

Exemplarisch zeigt obenstehendes Zitat, dass Clirim sich insbesondere von albanischen Kindern distanziert, welche erst später in die Schweiz gekommen sind und diese in Verbindung bringt mit Schlägereien, Sonderschule und fehlenden Sprachkenntnissen und steht damit in Zusammenhang mit dem negativen Diskurs, der insbesondere männliche albanische Jugendliche in der Schweiz betrifft (vgl. Burri Sharani et al. 2010: 41, Duemmler 2015: 148f). Zugleich thematisiert Clirim in diesem Zitat auch das Spannungsfeld zwischen Abgrenzung gegenüber diesen mit negativen Vorurteilen behafteten albanischen Jugendlichen und der

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eigenen ethnischen Zugehörigkeit, die er mit den familialen Beziehungen und den damit erwarteten Unterstützungsleistungen verbindet. In der Fallrekonstruktion von Clirim wird sichtbar, dass sich das Spannungsfeld der familialen (ethnischen) Zugehörigkeit sowie die elterlichen Erwartungen an soziale Aufstiegsmobilität bei der Erwerbsarbeit in der Firma, in der viele Verwandte arbeiten, zuspitzt und dazu führt, dass er ganz aus der Erwerbsarbeit aussteigt. Die Orientierung an Gleichaltrigen und seine „Partytime“ zeigt seine Suche nach alternativen Möglichkeiten von Zugehörigkeit, die er nun nicht mehr über die Familie oder sozialen Aufstieg erfährt. Wie ihre älteren Geschwister thematisiert auch Donika ihre Strategie, sich während ihrer Jugendzeit in der Schweiz von der albanischen Bevölkerung zu distanzieren, wie folgendes Zitat illustriert. Donika: sonst in den Schulen und so eigentlich nie großartig mit..Albaner und so sich (1) bin ich irgendwie ein wenig aus dem Weg weil.. ich weiß nicht habe nur habe nicht so richtig..verstanden mit denen..ich weiß einmal nachher nach einer Weile haben ehm..haben sie gemerkt eh die haben nicht einmal gewusst dass ich Albanerin bin..((lacht)) obwohl ich habe nie gesagt ich bin oder ich bin es nicht (2013a: 625 - 629)

Ihre Fallrekonstruktion zeigt auf, dass sie sich in der Schweiz insgesamt als gut integriert präsentiert durch einen eigenen Freundeskreis, auch als Kontrast zu ihrer späteren Situation im Kosovo. Dies weist darauf hin, dass ihre Darstellung der Abgrenzung von der albanischen Bevölkerung in der Schweiz nicht wie bei Clirim oder Abresha in Zusammenhang steht mit einer Distanzierung von deren tiefer sozialen Positionierung in der Gesellschaft, sondern ihrer Begründung der Außenseiterposition im Kosovo dient. Sie zeigt auf, dass sie über Ethnizität weder in der Schweiz noch im Kosovo Zugehörigkeit erlebt. Sie verbindet das Leben im Kosovo und die albanische Bevölkerung mit negativen Erfahrungen und zeigt auf, dass diese Ausgrenzungserfahrungen zu einem Rückzug in die Familie führen. Donika: habe ich gedacht ich bleibe lieber zu Hause zu Hause bin ich sicher..macht mich niemand blöd an und..muss ich mir nicht wieder so blöde Sprüche (anhören)..und gedacht ich bleibe lieber zu Hause..(2012:827 - 829)

Mit den Ausgrenzungserfahrungen und den sprachlichen Schwierigkeiten im Kosovo begründet sie zudem auch das Nichterfüllen elterlicher Bildungserwartungen. Sie kompensiert den Abbruch des Studiums mit dem Einstieg in die Er-

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werbsarbeit und stellt dar, dass sie durch die guten Arbeitserfahrungen beginnt, sich im Kosovo einen Freundeskreis aufzubauen. Donika: als ich angefangen habe zu arbeiten..habe ich gesehen ja.. es ist doch nicht so wie ich immer gedacht habe..es sind alle so gleichwohl..nette Menschen und so wo..nicht immer so wo..blöd getan haben..sie sind halt eh auch jünger gewesen und so..und dann ist halt eh der Freundeskreis hat sich langsam angefangen zu vergrößern und..dann auch öfters habe ich angefangen ist halt es ist halt die Zeit gekommen wo ich angefangen habe öfters auch hinaus zu gehen (2012: 818 - 823)

Die Fallrekonstruktion von Donika zeigt, dass der Einstieg in die Erwerbsarbeit und später der berufliche Erfolg ihr die Sicherheit geben, den Rückzug in die Familie zu überwinden und Freundschaften zu knüpfen. Anhand des Themas Heiraten stellt sie jedoch dar, dass sie ihre Außenseiterposition nicht ganz überwunden hat. Donika: es ist auch ein wenig das Problem (1) die Leute von hier weil w- wir sind halt gleichwohl etwas anders..und die haben hier gleichwohl ein wenig anders und (1) ich verstehe mich mit vielen auch nicht so: (1) gut (2013a: 1418 - 1420)

Dies weist darauf hin, dass sie sich nach all den Jahren mit dem Leben im Kosovo abgefunden hat, jedoch die Unterscheidung zwischen den „anderen“ und dem „wir“ aufrecht erhält und sich somit von der kosovarischen Bevölkerung abgrenzt. Im Gegensatz zu ihrem älteren Bruder Clirim stellt für sie der berufliche Erfolg nur bedingt eine Möglichkeit dar, um ihre Außenseiterposition zu überwinden. Damit zeigt sich, dass das elterliche Streben der Transmission der ethnischen Zugehörigkeit im Kontext soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Schweiz bei ihren fünf Kinder zu Such- und Aushandlungsprozessen von Zugehörigkeit und sozialen Positionierungen führt. Die fünf Geschwister befinden sich insbesondere in ihrer Jugendzeit in der Schweiz in einem Spannungsfeld zwischen der Erfüllung der elterlichen Bildungserwartungen und soziokultureller Grenzziehungsprozesse. Durch gesellschaftliche Hierarchisierungen und den damit verbundenen sozialen Praktiken wird die ethnische Zugehörigkeit der „Albaner“ zu einem erschwerenden Kriterium für die soziale Aufstiegsmobilität. Die Fallrekonstruktionen der fünf Geschwister zeigen auf, dass soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in Bezug auf ihre ethnische Zugehörigkeit oder ihre Nationalität (resp. Ausländerstatuts) relevant sind und sie in diesem Kontext unterschiedliche Strategien im Umgang damit entwickeln.

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Soziale Mobilität als Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse Arbresha zeigt am Thema des Bildungserfolges ihres ältesten Sohnes den Zusammenhang ihrer Bemühungen der Abgrenzung gegenüber der kosovoalbanischen Bevölkerung in der Schweiz und dem Streben nach sozialem Aufstieg auf. Abresha: der große Bub der hängt gar nicht mit Albaner zusammen nicht dass er sie nicht aber einfach wie die manchmal die Einstellung haben oder wenn sie ein wenig nicht es so schulisch sagen wir mal begabt sind oder so..möchte er nicht so viel mit denen zu tun haben (2012: 611 - 614)

Gemäß obenstehendem Zitat nutzt sie die Bildungsaspiration ihres Sohnes, um sich von der albanischen Bevölkerung in der Schweiz zu distanzieren, welche sie mit einem niedrigen Bildungsstatus verbindet. Die Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der albanischen Bevölkerung stehen in Zusammenhang mit eigenen Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen, welche Arbresha wiederholt erwähnt und die sie in Verbindung bringt mit der Unterscheidung zwischen Schweizer_innen und Ausländer_innen wie folgendes Zitat illustriert: Arbresha: man fühlt sich wie zu Hause dann kommt halt zwischendrin halt so ein wenig so ein Nazi und so die verdammten Ausländer hier weg mit euch und dann fühlt man sich doch ein wenig doch angegriffen auch wenn es nicht persönlich an mich gerichtet gewesen ist oder..oder wie es halt früher geheißen hat die dummen Jugos oder..klar das tut schon weh weil man kann nicht alle in den gleichen Sack hinein werfen klar gibt es auch von denen die Probleme..gemacht haben in der Schweiz das verstehe ich auch oder Albaner oder Jugos es ist egal die wirklich auch Probleme in der Schweiz gemacht haben und eigentlich das gibt es überall das gibt es auch überall und also ich muss sagen ich fühle mich schon wohl in der Schweiz und auch integriert und alles .. aber ich würde es auch gerne mal unten probieren (2012: 398 - 407)

Ihre Bemühungen, sich in der Schweiz über Bildung und beruflichen Erfolg ihrer Familie sowie dem Erwerb der schweizerischen Nationalität als gut integriert darzustellen, zeigen ihre Strategie auf, soziokulturelle Grenzziehungen in der Schweiz zu überwinden, die sie bereits in ihrer Schulzeit erfahren hat. Zugleich wird in obenstehendem Zitat auch ersichtlich, dass es ihr trotz dem Erwerb der schweizerischen Staatsangehörigkeit und dem erfolgreichen sozialen Aufstieg als Familie nicht ganz gelingt, in der Schweiz ihre Außenseiterposition zu überwinden und deshalb eine künftige Migration in den Kosovo eine Option bleibt.

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Dies weist darauf hin, dass soziokulturelle Grenzziehungsprozesse, die sie aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit und der Zuschreibung als Ausländerin macht, ihre Orientierung an der Familie im Kosovo verstärken. Diese bietet ihr eine Alternative für die Suche nach Zugehörigkeit, die sie in der Schweiz trotz des erfolgreichen sozialen Aufstiegs nicht erfährt. Die Strategie, über soziale Mobilität Ausgrenzungserfahrungen zu überwinden und Anerkennung zu erhalten zeigt sich auch in der Fallrekonstruktion von Clirim. Im Gegensatz zu der Situation in der Schweiz, in der soziokulturelle Grenzziehungsprozesse seine Integration in den Arbeitsmarkt erschweren, erfährt Clirim im Kosovo positive Zuschreibungen aufgrund seiner Arbeitserfahrungen in der Schweiz. Er stellt dar, dass er diese positiven Zuschreibungen in Bezug auf seine Arbeitserfahrungen in der Schweiz für seinen beruflichen Erfolg im Kosovo trotz der fehlenden Ausbildung und der hohen Arbeitslosigkeit nutzen kann. Daran zeigt sich, dass Clirim die unterschiedlichen gesellschaftlichen Hierarchisierungen in Bezug auf ethnische Zugehörigkeit resp. Migrationserfahrungen einsetzen kann, um mit der Migration in den Kosovo soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz zu überwinden. Zudem dient Clirim das Ansehen, das er durch seine berufliche Position als „Manager“ genießt auch für die Überwindung seiner Außenseiterposition im Kosovo. Er begründet diese Außenseiterposition mit dem Herkunftsort seiner Eltern (heutiges Südserbien) und zeigt auf, dass diese Herkunft anhand seines Akzents erkennbar ist. Erschaffen von Zwischenwelten Egzon ist der einzige der Familie, der Ethnizität nicht mit negativen Vorurteilen verbindet, sondern in Zusammenhang bringt mit der Suche und dem Erleben von Zugehörigkeit. Bereits in der Schulzeit in der Schweiz präsentiert er die Muttersprache als Merkmal für Freundschaften, wie folgendes Zitat exemplarisch zeigt. Egzon: irgendwie bist du einfach bei diesen gelandet…jetzt nicht so indem Sinne irgendwie wir müssen uns irgendwie ..trennen von den Schweizer oder irgendwie die Schweizer müssen sich von uns trennen weil wir Ausländer sind ..es ist irgendwie einfach so geworden mit der Zeit einfach am Anfang sind noch alle zusammen gewesen aber irgendwie haben wir dann irgendwie auf einmal begonnen albanisch mit jemandem zu sprechen und dann versteht halt die andere Person das nicht und dann mit der Zeit glaub tust du dich ja so halt ein bisschen distanzieren.. aber die.. das ist super gewesen die Zeit (2012: 804 810)

Er stellt dar, dass er über die gemeinsame Sprache zu anderen albanisch-sprachigen Kindern aus Serbien und Kosovo Zugang findet. Im Gegensatz zu seinen

Komparative Analyse: Erzählungen über Zugehörigkeit | 355

Geschwistern betont er dabei nicht die Abgrenzung, sondern das Erfahren von Zugehörigkeit. Die Fallrekonstruktion zeigt auf, dass er immer wieder Zugehörigkeit zu Minderheitsgruppen thematisiert, die entweder auf der gemeinsamen Sprache, Auslanderfahrungen oder dem Ausländerstatus beruhen. Dies zeigt er anhand von Freundschaften im Gymnasium, in der Studienzeit und auch der Band im Kosovo auf. Auch während der Studienzeit in der Schweiz präsentiert Egzon, dass er sich unter anderen Personen mit Migrationserfahrungen wohl fühlt, wie folgendes Zitat illustriert: Egzon: die Mitarbeiter super bin ich sofort zurechtgekommen und irgendwie die ganze Atmosphäre wo dort innen ist einfach ..ganz gut gewesen und ..wie viele verschiedene Leute dort innen von vielen verschiedenen Kulturen und Nationen einfach… irgendwie muss ich sagen habe ich mich dort drinnen mich irgendwie so ein wenig wohler gefühlt irgendwie weil viele Ausländer dort innen sind und ich irgendwie auch als Ausländer (2012: 561 - 566)

Damit zeigt sich in Egzons Fallrekonstruktion seine Verortung als Außenseiter, die er aber nicht als Ausgrenzungserfahrungen, sondern als zentrales Kriterium, um Zugehörigkeit zu erfahren, präsentiert. Insbesondere während der Studienzeit in der Schweiz steht dieses Zugehörigkeitsgefühl zu anderen Ausländer_innen jedoch auch im Zusammenhang mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen betreffend Migrationspolitik und Erfahrungen auf dem Wohn- und Arbeitsmarkt. Dies führt zu seiner eigenen Positionierung als Ausländer in der Schweiz und ist mit einer gesellschaftlichen Hierarchisierung verbunden. Diese Positionierung als Ausländer steht im Gegensatz zu seiner gefühlten Zugehörigkeit zur Schweiz aufgrund seiner Kindheit und Schulzeit und erschwert das Erfüllen der elterlichen Erwartungen an sozialen Aufstieg über Bildung. Diese Erfahrungen, in der Schweiz ein Ausländer zu sein und auch im Kosovo keinen Zugang zur Mehrheitsbevölkerung zu finden, führen dazu, dass er sich nach der anschließenden Rückkehr zu seiner Familie in den Kosovo als „zwischen den Welten“ positioniert. 7.2.2 Intergenerationale Transmission der Suche nach Zugehörigkeit Die komparative Analyse zeigt auf, dass Ethnizität in Zusammenhang steht mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen und relevant ist für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen. Die Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen der fünf Geschwister sowie auch entsprechende Studien

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(vgl. Duemmler 2015) zeigen auf, dass das Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit als Begründung von gesellschaftlichen Hierarchisierungsprozessen in der Schweiz bedeutend ist. Ethnizität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse erschweren für die fünf Geschwister das Erfüllen der elterlichen Erwartungen an sozialen Aufstieg. Daraus resultieren Abgrenzungsbestrebungen gegenüber der kosovo-albanischen Bevölkerung im Zusammenhang mit deren Zuschreibung einer tiefen sozialen Positionierung in der Schweiz, was sich besonders deutlich bei Arbresha zeigt. Bei Clirim führt dies zu einem Spannungsfeld zwischen der ethnischen Zugehörigkeit, welche familial begründet wird, und den elterlichen Erwartungen an sozialen Aufstieg. In diesem Spannungsfeld wird die Strategie von Admir und Adifete, durch Migration soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden auch von Clirim angewendet. Diese Strategie ist zugleich verbunden mit den elterlichen Bestrebungen einer familialen Anbindung und dem Erhalt der ethnischen Zugehörigkeit. Dies zeigt sich bei Arbresha. Aufgrund von Ausgrenzungserfahrungen bleibt für sie, trotz erfolgreichen sozialen Aufstiegs in der Schweiz, die Migration in den Kosovo ein zentrales Thema. Bei Blerina wird die Frage nach einer Migration in den Kosovo zum Spannungsfeld zwischen ihr und ihrem Ehemann, weil eine Migration in den Kosovo eine Annäherung an die Familie beinhaltet, von der sich Blerina abzugrenzen versucht. Im Gegensatz zu den Bestrebungen der Eltern führt die Migration in den Kosovo für Clirim, Egzon und Donika nicht zu einer Stärkung der Identifikation über Ethnizität, sondern zu Suchprozessen zur Überwindung der erneuten Außenseiterposition. Diese wird von Donika und Egzon begründet mit ihrem Aufwachsen in der Schweiz, bei Clirim über die familiale Herkunft in Bujanovac. Die Migration in den Kosovo beinhaltet für alle eine Annäherung an die Familie durch das Leben im gemeinsamen Haushalt und zeigt die Wirksamkeit elterlicher Erwartungen auf. Bildung und beruflicher Erfolg werden deshalb im Kosovo zu Strategien, um Zugehörigkeit zu erfahren und zugleich auch familiale Erwartungen zu erfüllen, resp. im Fall von Donika familiale Geschlechternormen auszuhandeln.

7.3 SOZIALE MOBILITÄT ALS TRANSNATIONALE POSITIONIERUNGEN Die Bedeutung des sozialen Aufstieges ist in den Fallrekonstruktionen der verschiedenen Familienmitglieder ersichtlich und zeigt sich im Streben nach Statuserwerb durch Besitz (Erwerb von Immobilien), Bildung sowie beruflichen Erfolg. Dieses Streben nach sozialem Aufstieg und die Verortung von sozialen Po-

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sitionierungen finden bei den Mitgliedern dieser Familie in einem transnationalen Rahmen statt. Damit werden soziale Ungleichheiten, die in einem grenzübergreifenden, multilokalen Rahmen (Amelina 2017: 32) erfolgen, wirksam. Dies führt dazu, dass soziale Akteure ihre Platzierung innerhalb der sozialen Stratifikation grenzüberschreitend vergleichen und hierarchische Zuordnungen in einer multilokalen Art und Weise stattfinden (ibid.: 33). Soziale Akteure können durch die transnationale Rahmung der sozialen Klassifikationen zugleich mehrere Mitgliedschaften oder Positionierungen innehaben (Amelina 2017: 33). Dies zeigt sich in den Narrationen der verschiedenen Familienmitglieder, die ihre soziale Positionierung zugleich in der Schweiz, im Kosovo und/oder im Herkunftskontext verorten und die diese unterschiedlichen Positionierungen nutzen, um das Streben nach sozialem Aufstieg zu präsentieren. 7.3.1 Erzählungen über soziale Mobilität: „in die Schweiz Geld machen Haus bauen und wieder retour“ 4 Im Folgenden werden die Erzählungen über sozialen Aufstieg der verschiedenen Familienmitglieder genauer analysiert und ihre soziale Positionierung im multilokalen Rahmen anhand der Themen Bildung, Besitz und beruflicher Erfolg illustriert5. Intergenerationale Transmission des sozialen Aufstieges durch transnationale Positionierung Das Streben nach sozialem Aufstieg zeigt sich bereits in der Generation der Väter von Admir und Adifete, die durch die Arbeitsmigration ins Ausland für ihre Familien in der Herkunftsregion einen sozialen Aufstieg über Investitionen in Bildung und Konsumgüter anstrebten. Da diese Investitionen im Herkunftsdorf erfolgen, wird die transnationale Positionierung dieser Bestrebungen nach sozialem Status ersichtlich. In der folgenden Generation führt Admir in einer ersten Zeit nach der Heirat diese Strategie der transnationalen Positionierung durch die saisonale Arbeitsmigration in der Schweiz fort. Dabei zeigt sich eine intergenerationale vergeschlechtlichte Vermittlung sozialer Mobilität, gemäß deren der

                                                             4

Clirim (2013a: 76).

5

Dieses Kapitel ist eine ausführlich überarbeitete Fassung des Kapitels „Transnationaler Aufstieg als Umgang mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen“, das als Teilergebnis der vorliegenden Arbeit im Aufsatz „Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung“ (Ammann Dula 2018), publiziert wurde.

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soziale Aufstieg über die Männer in Zusammenhang mit deren Rolle als Familienernährer erfolgt. Im Kontext der Wirtschaftskrise und den zunehmenden ethno-politischen Spannungen wird die transnationale Positionierung aufgegeben und führt zur Migration der gesamten Familie in die Schweiz. In der Schweiz zeigen sich Bestrebungen nach einer lokalen Positionierung. Jedoch wird die Familie erneut mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen konfrontiert aufgrund der ethno-nationalen Zugehörigkeit und des tiefen sozialen Status durch die unqualifizierte Arbeit im Tieflohnsektor. Dies führt zu einem Ausbleiben der Transmission des sozialen Aufstieges an die Kinder, was sich an dem ausbleibenden Bildungserfolg der älteren Kinder zeigt. Erneut greift Admir auf eine transnationale Positionierung zurück, um die Migration in den Kosovo als „Rückkehr“ zu präsentieren und damit die erfolglosen Versuche des Strebens nach sozialem Aufstieg in der Schweiz zu überdecken. Die Migration in den Kosovo wird begründet mit dem Streben nach sozialem Aufstieg anhand der Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für die Kinder. Zugleich verfolgt Admir mit der Migration in eine Großstadt im Kosovo das Ziel, die Strategie der transnationalen Positionierung zu beenden und aufgrund von Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten seinen Kindern eine lokale Positionierung zu ermöglichen. Symbolisiert wird dieses Streben durch die Errichtung eines Zweifamilienhauses, das zugleich auch die Reaktivierung der patrilokalen Familientradition verkörpert. Sozialer Aufstieg über Bildung Die Arbeitsmigration des Vaters ermöglicht Admir den Besuch des Gymnasiums und anschließend den Beginn eines Hochschulstudiums an der Universität. Der Bildungsweg zeigt Admirs Bestrebungen nach sozialem Aufstieg und stellt damit eine Transformation der elterlichen Strategie dar, über Arbeitsmigration und Investitionen in Konsumgüter sozialen Status zu erwerben. Im Kontext der beginnenden wirtschaftlichen Krise im damaligen Jugoslawien und der steigenden Arbeitslosigkeit auch unter Hochschulabsolventen bricht Admir das Studium ab und orientiert sich an der Handlungsstrategie des Vaters, über Arbeitsmigration im Ausland seine Rolle als Familienernährer zu übernehmen. Das Streben nach sozialem Aufstieg über Bildung wird an die Kinder weitergegeben und zeigt sich darin, dass alle drei älteren Geschwister in der Schweiz die Prüfung für die anspruchsvollere Schulstufe (Sekundarschule) versuchen. Zugleich zeigt sich eine vergeschlechtlichte Priorisierung der Bildung im Zusammenhang mit der Transmission von Sorgearbeit an die Töchter. Diese wird ausgelöst durch Adifetes Einstieg in die Erwerbsarbeit und führt dazu, dass nur der Bildungsweg des ersten Sohn Clirim gefördert wird. Trotzdem erfüllt Clirim

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den Bildungsauftrag nicht, da er nach insgesamt 12 Schuljahren keine Ausbildung absolviert und unqualifiziert ins Erwerbsleben einsteigt. Gesellschaftliche Hierarchisierungsprozesse in Bezug auf die ethnische Zugehörigkeit, das Geschlechte und den sozio-ökonomischen Status in der Schweiz führen dazu, dass die Bildungserwartungen von keinem der älteren drei Kinder in der Schweiz erfüllt werden und führen zu einer nicht intendierten intergenerationalen Transmission von Admirs Status als unqualifizierter Arbeiter an seinen ältesten Sohn Clirim und die Tochter Blerina. Damit zeigt sich, dass Admirs Bestrebungen nach einer lokalen Positionierung in der Schweiz, die das Streben nach sozialer Mobilität über den Bildungsweg der Kinder beinhaltet, aufgrund von soziokulturellen Grenzziehungen nicht die gewünschte Wirkung zeigen. Die Migration in den Kosovo mit den jüngsten beiden Kindern vor deren Abschluss der obligatorischen Schulzeit stellt deshalb eine Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Schweiz dar. Dies zeigt sich an Admirs Begründung der Migration in den Kosovo mit den Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten für seine Kinder. Durch seine Darstellung der Migration als „Rückkehr“ greift Admir auf das Argument der transnationalen Positionierung zurück und kann damit den ausbleibenden sozialen Aufstieg in der Schweiz mit der Rückkehrorientierung überdecken. Im Kosovo erfüllen die jüngsten Kinder in einem ersten Schritt die elterlichen Bildungserwartungen und absolvieren beide erfolgreich das Gymnasium. Damit wird sichtbar, dass die Migration in den Kosovo für Admir eine Strategie darstellt, den sozialen Aufstieg als Familie zu realisieren. Die Übertragung der Bildungsaspiration an die jüngste Tochter und den Sohn stellt zugleich auch eine Transformation familialer Geschlechternormen dar, da bisher nur die Bildung der Söhne gefördert wurde. Egzon übernimmt im Gegensatz zu seinem älteren Bruder Clirim von Beginn an den Bildungsauftrag des Vaters. Bereits in der Schweiz ist er in der Schule erfolgreich und schafft mühelos den Übertritt in die Sekundarschule und absolviert auch nach der Migration in den Kosovo erfolgreich das Gymnasium und das Bachelorstudium. Für ihn wird das Erfüllen der elterlichen Bildungserwartungen zu einer Strategie, in die Schweiz zurückkehren zu können, wie folgendes Zitat exemplarisch illustriert: Der Bildungsweg dient deshalb Egzon nicht dem Streben nach sozialem Aufstieg, sondern der Suche nach Zugehörigkeit. Egzon: hat mein Vater gesagt gehabt … wenn du deine Uni abgeschlossen hast kannst du ja deinen Master irgendwo im Ausland machen in die Schweiz zurück oder wo auch immer und dann habe ich so echt wollen dann im Kosovo in Prizren hätte ich meinen Master nie gemacht … ich hätte dann nach dem Bachelor einfach aufgehört und mir dann irgendeine Arbeitsstelle gesucht (2012: 244 – 247)

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Egzons Aufenthalt in der Schweiz ist zeitlich befristet und an das Masterstudium gebunden und stellt damit eine Tradierung der transnationalen Positionierung dar: Der Erwerb des höheren Bildungsabschlusses in der Schweiz soll ihm, gemäß den elterlichen Erwartungen, einen sozialen Statusaufstieg im Kosovo ermöglichen. Diese transnationale Positionierung entspricht auch der schweizerischen Migrationspolitik durch das zeitlich befristete Studentenvisum. Zudem stellt Egzon die Schwierigkeiten dar, in der Schweiz trotz dem kosovarischen Hochschulabschluss eine qualifizierende Arbeitsstelle zu finden. Dies weist, wie bereits bei seinem Bruder Clirim, auf die Wirksamkeit soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Schweiz hin, die trotz Hochschulstudium zu einer Reproduktion des väterlichen Status als unqualifizierter ausländischer Arbeiter führen. Damit zeigt sich, dass die transnationale Positionierung nur in eine Richtung erfolgreich umgesetzt werden kann: Egzon kann durch den im Kosovo erworbenen Hochschulabschluss in der Schweiz keinen höheren sozialen Status erlangen, weder über Bildung noch über Arbeit. Bei den in der Schweiz verbleibenden Geschwistern Abresha und Blerina zeigt sich die Bedeutung von Bildung nur in Arbreshas Familie. Dies äußert sich in der Transmission von Bildungserwartungen an den ältesten Sohn, der das Gymnasium besucht. Die Fallrekonstruktion von Arbresha zeigt auf, dass der Bildungserfolg ihres Sohnes in Zusammenhang mit ihren Bemühungen steht, in der Schweiz den sozialen Aufstieg als Familie zu realisieren, verbunden mit der Übernahme resp. Transmission familialer Geschlechternormen. Der Bildungserfolg ihres Sohnes dient Arbresha als Abgrenzung von der albanischen Bevölkerung und damit der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse, die sie mit eigenen Ausgrenzungserfahrungen begründet. Insgesamt ist in dieser Familie ein Zusammenhang der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen mit dem Streben nach sozialem Aufstieg über Bildung ersichtlich. Im Kontext soziokultureller Grenzziehungsprozesse im damaligen Jugoslawien und der Schweiz realisiert nur der jüngste Sohn im Kosovo einen erfolgreichen Bildungsweg, der von ihm jedoch nicht primär mit dem Streben nach sozialem Aufstieg, sondern der Suche nach Zugehörigkeit begründet wird. Transnationale soziale Mobilität über Investitionen in Immobilien Der soziale Aufstieg wird in dieser Familie nicht nur über Bildung, sondern ebenfalls über Investitionen in Immobilien angestrebt. Bei Admir erfolgt diese Strategie nach dem Abbruch des Bildungsweges, um sein Streben nach sozialem Aufstieg mit der Rolle als Familienernährer zu vereinbaren. Wie in der Generation seines Vaters investiert er das im Ausland erwirtschaftete Einkommen zu-

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erst im Herkunftsdorf, um dort eine soziale Statuserhöhung zu bewirken. Damit führt er die transnationale Positionierung seines Vaters fort. Dies zeigt sich bei Admir mit dem Kauf eines eigenen Autos und später dem Bau eines eigenen Hauses auf dem Grundstück der Eltern im Herkunftsdorf. Die Strategie, über Investitionen in Immobilien sozialen Status zu erwerben, zieht sich von diesem Moment an wie ein roter Faden durch Admirs Leben, wie er selbst präsentiert: Admir: mehr arbeiten und ein wenig..mehr auseinander die Häuser..ich habe zehn Häuser bis jetzt..((alle lachen)) weg machen wieder weg und jetzt wieder zwei..//mhm// und vielleicht ist letzte und dann mache ich nur eine zwei Meter auf..fünfzig (2013b: 257-259)

Admir erwirbt einige Jahre nach dem Familiennachzug in der Schweiz erneut ein Grundstück mit einem alten Haus in Prizren, in der damaligen jugoslawischen Provinz Kosovo. Die Investitionen in Immobilien im Ausland führen jedoch dazu, dass sich die finanzielle Situation der Familie in der Schweiz kaum verbessert. Dies zeigt sich in den Erzählungen der Geschwister, die thematisieren, dass in ihrer Kindheit in der Schweiz die Finanzen knapp waren, weil gespart wurde, wie exemplarisch folgendes Zitat vom ältesten Sohn illustriert. Clirim: ist jetzt vom Geld her die haben halt wollen Sparen denn die sind ja quasi mit dem Gedanken.. in die Schweiz Geld machen Haus bauen und wieder retour..nachher hast du irgendwie..hast noch am Samstag zwei drei Kilo Äpfel gekauft und das hat reichen müssen für die Woche (2013a: 71 - 74)

Damit zeigt sich in einem ersten Schritt Admirs Kontinuität der transnationalen Orientierung, um soziale Aufstiegsmobilität zu realisieren. Diese Orientierung ändert sich 1993 mit dem Erwerb einer Eigentumswohnung in der Schweiz und dem Umzug in eine Kleinstadt, die mehr Ausbildungs- und Erwerbsmöglichkeiten bietet. Dies weist auf Admirs Absicht der Realisierung des sozialen Aufstieges in der Schweiz hin. Trotzdem bleibt der soziale Aufstieg der Familie in der Schweiz aus, verstärkt durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse, worauf die Thematisierung von Ausgrenzungsprozessen der älteren Geschwister in der Schule und der ausbleibende Bildungserfolg der ältesten drei Kinder hinweisen. Die Fallrekonstruktion von Admir zeigt auf, dass der Ausblieb des sozialen Aufstieges in der Schweiz zur Migration mit den jüngsten Kindern in den Kosovo führt. Durch die Migration in den Kosovo kann Admir dank seiner Investitionen in Immobilien mit 48 Jahren sozialen Status und finanzielle Ressourcen erwerben, ohne dafür arbeiten zu müssen. Er führt im Kosovo die Investition in Immobilien fort, indem er nach dem Tod seiner Mutter sein Haus in seinem Her-

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kunftsdorf verkauft und beginnt, ein neues Zweifamilienhaus am Stadtrand für sich und seine beiden Söhne zu bauen. Diese Investition dient nun jedoch weniger dem Statusaufstieg, sondern dem Streben nach einem Erhalt (resp. der Reaktivierung) der patrilokalen Familientradition, da je ein Hausteil vorgesehen ist für sich und seine Ehefrau sowie die künftigen Familien seiner beiden Söhne. Damit sind Admirs Bestrebungen sichtbar, durch die Investition in Immobilien den sozialen Aufstieg nicht nur für sich, sondern zugleich auch für seine Söhne sicherzustellen. Er befreit damit seine Söhne von der Erwartung des Statusaufstieges über Besitz, so dass sich die beiden ohne finanziellen Druck über beruflichen Status (Clirim) und Bildung (Egzon) profilieren können. Mit dem Verkauf des Hauses auf dem Grundstück der Eltern beendet er zugleich auch die Verbindung zu seinem Herkunftsdorf und symbolisiert mit dem Bau des Zweifamilienhauses am Stadtrand die Verortung an die von ihm gewählte „neue Heimat“ im Kosovo, in der er erfolgreich den sozialen Statuserwerb für sich wie auch seine Kinder realisieren kann. Damit zeigt Admirs Streben nach einer lokalen Verortung, die zugleich auch Adifetes Bemühungen um eine lokale Zusammenführung der Familie entspricht. Die älteste Tochter Arbresha orientiert sich an der Strategie des Vaters, über Immobilien sozialen Status zu erwerben. Diese Orientierung steht in Zusammenhang mit dem Streben nach Anerkennung der Wahl ihres Ehemannes durch ihren Vater, der zuerst aufgrund des fehlenden Besitzes gegen die Heirat war. Wie ihr Vater investiert sie mit ihrem Ehemann zuerst in den Hausbau im Herkunftsort ihres Ehemannes und erwirbt anschließend in der Schweiz Immobilien. Der Erwerb von Wohneigentum im Kosovo und in der Schweiz stellt zugleich auch eine Fortsetzung der transnationalen Positionierung dar. Im Zusammenhang mit ihrem Streben nach der Überwindung von Ausgrenzungserfahrungen in der Schweiz und der Suche nach Zugehörigkeit stellt das eigene Haus im Kosovo für sie eine Möglichkeit dar, durch eine künftige Migration soziokulturelle Grenzziehungen in der Schweiz zu überwinden. Im Unterschied zu ihrem Vater beabsichtigt Arbresha mit dieser transnationalen Positionierung eine Erweiterung der Handlungsoptionen ihrer Kinder. Dies zeigt sich an ihren Bemühungen um die schweizerische Staatsangehörigkeit und den damit verbundenen weltweiten Ausbildungsmöglichkeiten. Auch Blerina und ihr Ehemann investieren in Immobilien im Kosovo. Sie bauen mehrere Jahre lang trotz einer finanziell prekären Situation in der Schweiz ein eigenes Haus auf dem Grundstück der Schwiegereltern im Kosovo. Die Fallrekonstruktion von Blerina zeigt, dass ihre Investition in Immobilien im Kosovo jedoch nicht in erster Linie dem Streben nach sozialem Aufstieg dient, sondern

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dem Aushandlungsprozess zwischen Distanzierung und Anbindung an die Familie der Schwiegereltern, wie folgendes Zitat illustriert. Blerina: ich habe gesagt mein Mann will jetzt dort und dann soll er machen ist doch egal und dann Hauptsache man hat ein Haus wenn ich runter gehen möchte ich zu mir nach Hause gehen (2012: 391 - 393)

Der Bau eines eigenen Hauses im Kosovo symbolisiert die Anbindung an die Schwiegerfamilie im Zusammenhang mit der patrilokalen Familientradition, zugleich ermöglicht das eigene Haus auch eine Aufteilung des Mehrgenerationenhaushaltes und damit eine Distanzierung von der Schwiegerfamilie. Insgesamt wird ersichtlich, dass die Investitionen in Immobilien in dieser Familie in Zusammenhang stehen mit der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen. Die Investitionen in Immobilien stehen bei Admir und Adifete im Zusammenhang mit einer transnationalen Positionierung, um die Möglichkeiten für die Realisierung eines sozialen Aufstieges zu erhöhen. Für Arbresha sind diese Investitionen verknüpft mit der Suche nach Zugehörigkeit und der Überwindung von Ausgrenzungserfahrungen. Zugleich symbolisieren die Investitionen in Immobilien jedoch auch die Weitergabe resp. Aushandlung der patrilokalen Familientradition. Sozialer Aufstieg über beruflichen Erfolg Das Streben nach beruflichem Erfolg stellt nebst Bildung und Immobilien in dieser Familie eine weitere Handlungsstrategie dar, um soziale Aufstiegsmobilität zu realisieren. Diese Strategie wird nur von Clirim und Donika verfolgt und stellt in dieser Familie eine Innovation dar, da sie nicht bereits von den Eltern initiiert wurde. Donika orientiert sich nach dem Abbruch des Studiums am sozialen Aufstieg, indem sie über den Einstieg ins Erwerbsleben erfolgreich versucht, den abgebrochenen Bildungsweg über eine berufliche Karriere zu kompensieren. Sie fügt sich damit an der von ihrem Vater beabsichtigen, lokalen Orientierung der sozialen Positionierung, indem sie darstellt, dass ihr beruflicher Erfolg ihr es ermöglicht, sich mit dem Leben im Kosovo abzufinden, wie exemplarisch folgendes Zitat zeigt. Donika: seit ich auch dort angefangen habe ist es eigentlich..hier mehr Bergauf gegangen und dann..und dann wir haben auch in dieser Zeit geschafft das ganze Haus ist fertig gewesen ist der Vater ist ja dann auch hier gewesen und..ist irgendwie alles mehr gere-

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gelt..und..habe ich eher zum ersten Mal irgendwie das Gefühlt gehabt dass auch hier irgendwie noch ein normales Leben haben kannst (2012: 777 - 781)

Die Fallrekonstruktion zeigt auf, dass Donikas beruflicher Erfolg zugleich auch eine Transformation familialer und gesellschaftlicher Geschlechternormen darstellt, da der soziale Aufstieg in dieser Familie bisher nur durch Männer realisiert wurde und auch im kosovarischen Kontext eine Ausnahme darstellt. Der berufliche Erfolg ermöglicht ihr, selbst über Zeitpunkt der Heirat und Wahl des Ehepartners zu bestimmen und damit in ihrer Familie geschlechtsspezifische Normen auszuhandeln. Auch der älteste Sohn Clirim übernimmt im Kosovo das Streben nach sozialem Aufstieg über Erwerbsarbeit in Zusammenhang mit der Familiengründung und der Geburt des ersten Kindes. Er orientiert sich damit an den elterlichen geschlechtsspezifischen Erwartungen, die sowohl die soziale Aufstiegsmobilität wie auch die Übernahme der Rolle als Familienernährer beinhalten. Im Gegensatz zum Leben in der Schweiz gelingt ihm das Streben nach sozialem Aufstieg im Kosovo auch ohne Ausbildung, trotz der dortigen sehr hohen Arbeitslosigkeit. Dies weist auf unterschiedliche soziokulturelle Grenzziehungsprozesse hin, die ihm in der Schweiz und im Kosovo eine andere soziale Positionierung ermöglichen. Während er in der Schweiz als unqualifizierter Ausländer und Albaner mit Schwierigkeiten bei der Integration in den Arbeitsmarkt konfrontiert ist, kann er im Kosovo die positive Konnotation von Arbeitserfahrungen in der Schweiz für eine berufliche Karriere nutzen. Das, mit der beruflichen Stellung verbundene Prestige ermöglicht Clirim, nicht nur elterliche Erwartungen zu erfüllen, sondern zugleich auch seine Außenseiterposition im Kosovo zu überwinden, wie folgendes Zitat illustriert: Clirim: ich kenne jetzt mittlerweile huere viel Manager von..mega großen Firmen im Kosovo..und ich habe ja mit denen Kontakt..und ich sehe diese auf der Straße und die begrüßen dich..weil am Anfang hat mir niemand hoi gesagt..und jetzt sehe ich bekomme immer wieder Einladungen über..bekommst immer wieder Geschenklein über von denen..und so das sind halt schon Sachen wann..du dich danach gut fühlst (2013a: 1330 - 1335)

Insgesamt zeigt sich, dass die Möglichkeit der sozialen Positionierung über beruflichen Erfolg maßgeblich über kontextspezifische soziokulturelle Grenzziehungsprozesse bestimmt wird, die im Kosovo anders verlaufen als in der Schweiz. Migration stellt deshalb für Clirim eine Möglichkeit dar, soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden. Zugleich zeigt sich auch die Bedeutung der Realisierung von sozialem Aufstieg über beruflichen Erfolg für die

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Transmission familialer Geschlechterrollen. Clirim strebt erst mit der Heirat und Familiengründung nach beruflichem Erfolg im Zusammenhang mit der Übernahme der Rolle als Familienernährer. Im Gegensatz dazu stellt für Donika der berufliche Erfolg eine Möglichkeit dar, familiale Geschlechternormen auszuhandeln. Distanzierung vom sozialen Aufstieg als Suche nach Zugehörigkeit außerhalb der Familie In den Fallrekonstruktionen von Egzon und Clirim finden sich Phasen der Distanzierung von der Familie und den elterlichen Erwartungen an soziale Aufstiegsmobilität. Dies äußert sich darin, dass familiale Erwartungen nicht erfüllt werden und stehen bei beiden Brüder im Zusammenhang mit ihrer Suche nach Zugehörigkeit außerhalb der Familie. Bei Clirim ist diese Phase sichtbar in der Zeit ohne Eltern in der Schweiz und zeigt sich in der Kündigung der Arbeitsstelle und dem Ausschlagen der Möglichkeit eines beruflichen Aufstieges in der Firma, um sich dem Partyleben mit Freunden zu widmen. Er distanziert sich damit von den elterlichen Erwartungen der Realisierung des sozialen Aufstiegs, um sich eine „Auszeit“ zu nehmen. Diese Auszeit beinhaltet eine Negierung jeglicher Formen des sozialen Aufstieges und steht in Zusammenhang mit Autonomie- und Distanzierungsbestrebungen von den Eltern und weiteren Verwandten. Die Wirkung familialer Erwartungen hält jedoch an führt zu einem transnationalen Aushandlungsprozess, der mit der Verlobung im Kosovo beginnt und zu einem Hin und Her zwischen Kosovo und der Schweiz führt. Diese Phase endet nach Clirims erfolglosen Versuchen der Integration in den schweizerischen Arbeitsmarkt und mit der Familiengründung im Kosovo. Clirim rechtfertigt diese Zeit der Distanzierungsbestrebungen von der Familie mit dem Status als „Junggeselle“ und stellt damit die Erfüllung familialer Erwartungen nicht in Frage. Egzons Engagement in der Band im Kosovo stellt den Versuch dar, Zugehörigkeit außerhalb der Familie zu erfahren und führt zu einer Vernachlässigung des Studiums. Wie Clirims „Partytime“ stellt auch Egzons Engagement in der Band einen Versuch dar, die soziale Aufstiegsorientierung über Bildung auszuschlagen im Zusammenhang mit der Suche nach Zugehörigkeit außerhalb der Familie. Er beendet das Engagement in der Band zugunsten des Studiums erst, als der Vater ihm die Möglichkeit der Fortsetzung des Studiums im Ausland in Aussicht stellt. Damit kann Egzon den Bildungsauftrag mit seiner Suche nach Zugehörigkeit verbinden und dank dem Masterstudium die Rückkehr in die Schweiz realisieren.

 

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Streben nach Unabhängigkeit von der Familie dank sozialer Sicherheit Bei Blerina finden sich keine Hinweise auf ein Streben nach sozialem Aufstieg. Soziokulturelle Grenzziehungsprozesse auf dem Arbeitsmarkt in der Schweiz führen dazu, dass sie und ihr Ehemann nicht wie ihre ältere Schwester einen sozialen Aufstieg realisieren können. Jedoch strebt auch sie durch den Verbleib in der Schweiz eine Distanzierung und Unabhängigkeit von der Familie an. Sie begründet ihren Wunsch nach einem Verbleib in der Schweiz mit dem sozialen Sicherungssystem, das ihr bei finanziellen und gesundheitlichen Risiken sowie auch im Alter Schutz bietet und ihr damit eine Unabhängigkeit von familialer Unterstützung ermöglicht, wie folgendes Zitat illustriert: Blerina: was will ich mit zwei Söhnen unten.. keine Ahnung wie die sich entwickeln keine Ahnung was sie sich für Frauen nehmen und dann wo schaut kein Mensch zu mir so habe ich hier Altersheim Pflegeheim hier schaut immer jemand auf dich..(2012: 1399 - 1402)

Blerina nimmt dabei Bezug zu der patrilokalen Familiennorm, indem sie betont, dass die Wahl der künftigen Ehefrauen ihrer Söhne für sie bedeutsam ist, wenn sie im Kosovo leben würde. Die Schwiegertöchter hätten gemäß der patrilokalen Familientradition die Aufgabe, sich im Alter um sie und ihren Ehemann zu kümmern. Im Kosovo, wo außerfamiliale Betreuungs- und Unterstützungsangebote fehlen, stellt die familiale Unterstützung eine Notwendigkeit dar. Sie zeigt auf, dass der Verbleib in der Schweiz dank dem sozialen Sicherheitssystem ihr eine Unabhängigkeit von der erweiterten Familie ermöglicht. Dies führt bei ihr jedoch zu einem innerfamilialen Spannungsfeld, da ihr Ehemann im Gegensatz zu ihr mit dem ausbleibenden sozialen Aufstieg in der Schweiz die Option einer Rückkehr in den Kosovo begründet. 7.3.2 Intergenerationale Transmission des Strebens nach sozialem Aufstieg Wie die komparative Analyse der Erzählungen über soziale Positionierungen zeigen, steht die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen in dieser Familie in Zusammenhang mit dem Streben nach sozialer Aufstiegsmobilität. Dabei wenden die Familienmitglieder unterschiedliche Strategien an, um diese zu realisieren und beziehen sich dabei je nach Situation auf lokale und transnationale Positionierungen im Kontext unterschiedlicher soziokultureller Grenzziehungsprozesse. Bildung, Immobilien und beruflicher Erfolg sind dabei Mittel, um den sozialen Aufstieg zu realisieren. Dabei zeigt sich, dass sich diese

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Strategien aufgrund kontextspezifischer soziokultureller Grenzziehungsprozesse unterschiedlich für eine transnationale Positionierung eignen. So führt der Erwerb von Wohneigentum in der Schweiz nicht zu einem Statusgewinn, jedoch aber die Investitionen in Immobilien im Kosovo. Der Bildungsweg als transnationale Positionierung gelingt Egzon nur im Kosovo und zeigt auf, dass die transnationale Kapitalbildung über Bildung durch nationale soziokulturelle Grenzziehungsprozesse erschwert wird. So ist auch der berufliche Erfolg nur im Kosovo auch ohne Ausbildung möglich. Migration stellt eine Strategie dar, um kontextspezifische soziokulturelle Grenzziehungen zu überwinden und das Streben nach sozialem Aufstieg zu realisieren. Dieses Streben ist in dieser Familie eng verknüpft mit der Transmission familialer Geschlechterrollen, wie die Beispiele von Admir, Clirim und Arbresha aufzeigen. Familiale Geschlechternormen können jedoch auch durch die Realisierung von sozialem Aufstieg transformiert resp. ausgehandelt werden, wie die Fallrekonstruktion von Donika zeigt. Zudem stellt das soziale Sicherheitssystem der Schweiz eine Möglichkeit dar, sich durch eine lokale Positionierung von familialen Erwartungen zu distanzieren und eine gewisse Unabhängigkeit von der Familie anzustreben, wie das Beispiel von Blerina zeigt.

 

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Fazit: Bedeutung soziokultureller Grenzziehungsprozesse für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen

Die komparative Analyse der Erzählungen über Zugehörigkeit zeigt die Relevanz von kontextspezifischen soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen auf. Als Kernthemen konnten das Streben nach sozialem Aufstieg, die Transmission familialer Geschlechternormen sowie die Relevanz der ethnischen Zugehörigkeit für soziokulturelle Grenzziehungsprozesse aufgezeigt werden. Die verschiedenen Familienmitglieder entwickeln dabei verschiedene Strategien der transnationalen und lokalen Positionierungen, um soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden und/oder familiale Erwartungen und Geschlechternormen auszuhandeln. Im Folgenden werden nun die Prozesse der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen und die Bedeutung soziokultureller Grenzziehungsprozesse in dieser Familie zusammengefasst.

8.1 INTERGENERATIONALE TRANSMISSION DER STRATEGIE, DURCH MIGRATION SOZIOKULTURELLE GRENZZIEHUNGEN ZU ÜBERWINDEN In dieser Familie wird die Strategie durch Migration kontextspezifische soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden intergenerational weitergegeben. Diese geht einher mit einer transnationalen Positionierung, dem Streben

 

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nach sozialem Aufstieg sowie einer Transmission familialer Geschlechterrollen, wie in folgender Abbildung 8 dargestellt ist. Abbildung 8: Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungen durch Migration

Quelle: Eigene Darstellung

Die Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse durch Migration zeigt sich bereits in der Generation der Großeltern und steht dort im Zusammenhang mit dem Streben nach sozialem Aufstieg, einer transnationalen Positionierung und der Transmission familialer Geschlechternormen. Die saisonale Arbeitsmigration ermöglicht den Großvätern die Erfüllung ihrer Rolle als Familienernährer und dient dank einer transnationalen Positionierung dem Statusaufstieg im Herkunftsdorf. Durch die saisonale Migration und die transnationale Positionierung wird die patrilokale Struktur der Großfamilie im Herkunftsdorf aufrechterhalten. Dies ist im damaligen Jugoslawien eine weit verbreitete Praxis als Umgang mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen und entspricht dem Interesse der damaligen Migrationspolitik von Jugoslawien, Deutschland und auch der Schweiz. Die Strategie durch Migration soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden wird von Admir fortgesetzt. Ihm ermöglicht diese Strategie die Erfüllung seiner Rolle als Familienernährer in Verbindung mit einer transnationalen Positionierung, die sich zuerst in der saisonalen Arbeitsmigration und später in der Investition in Immobilien in verschiedenen Ländern zeigt, und dem Streben nach sozialem Aufstieg dient. Die Migration der Kernfamilie in die Schweiz stellt eine erste Transformation der transnationalen Positionierung dar und steht in Zusammenhang mit Adife-

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tes Bemühungen, die Abwesenheit der Väter zu vermeiden und den Familienzusammenhalt zu sichern. Zu Beginn führt diese Migration in die Schweiz zu einem sozialen Abstieg, verstärkt durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz. Die Familie entwickelt Strategien einer lokalen Positionierung in der Schweiz über Investition in Immobilien, Erwerbsarbeit und dem Bildungsweg des ältesten Sohnes. Diese Strategien um den sozialen Abstieg in der Schweiz zu überwinden, scheitern, was sich insbesondere an der Transmission des Status als unqualifizierter Arbeiter an den ältesten Sohn Clirim zeigt. Zudem wird im Zusammenhang mit der erlebten dreifachen Vergesellschaftung (Lenz 1996) durch Adifete, Sorgearbeit an die ältesten beiden Töchter übertragen und führt für diese zu Bildungseinschränkungen und einer Transmission familialer Geschlechterrollen. In dieser Situation greifen Admir und Adifete wieder auf die Strategie der transnationalen Positionierung zurück, was sich an Investitionen in Immobilien in Albanien und Kosovo zeigt. Dies ermöglicht ihnen, erneut die Strategie der Migration einzusetzen, um soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden. Die Migration in den Kosovo ermöglicht ihnen schlussendlich die Realisierung des sozialen Aufstieges, um dort die patrilokale Familientradition fortzusetzen. Die folgende Abbildung 9 zeigt den transnationalen Migrationsprozess von Admir und Adifete und stellt den Zusammenhang zwischen Migration, Streben nach sozialem Aufstieg und der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse dar. Abbildung 9: Transnationaler Migrationsprozess von Admir und Adifete

Quelle: Eigene Darstellung

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Die Strategie, durch Migration soziokulturelle Grenzziehungsprozesse zu überwinden, wird auch in der folgenden Generation von Clirim aufgenommen und steht auch bei ihm im Zusammenhang mit der Übernahme familialer Geschlechterrollen. Als Familienvater orientiert er sich nach der Migration im Kosovo am Streben nach sozialem Aufstieg durch beruflichen Erfolg und kann damit die Rolle als Familienernährer übernehmen. Die transnationale Positionierung äußert sich bei ihm im Vergleich mit seinen Kollegen in der Schweiz und seinem Streben nach Anerkennung durch beruflichen Erfolg. Auch Arbresha orientiert sich an der elterlichen Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse durch Migration. Dies zeigt sich bei ihr im Bau eines eigenen Hauses im Kosovo. Eine Migration in den Kosovo stellt sie als Option dar, um soziokulturelle Grenzziehungen in der Schweiz zu überwinden. Damit zeigt sich auch bei ihr eine transnationale Orientierung, die für sie in Zusammenhang mit Ausgrenzungserfahrungen in der Schweiz steht. Zugleich symbolisiert der Hausbau auch ihr Streben nach sozialem Aufstieg und die Orientierung an der patrilokalen Familientradition und familialen Geschlechterrollen. In dieser Familie ist insgesamt eine intergenerationale Transmission von Migration als Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse ersichtlich, die verbunden ist mit dem Streben nach sozialem Aufstieg, der Transmission familialer Geschlechterrollen sowie einer transnationalen Positionierung.

8.2 EINSCHRÄNKUNG VON FAMILIALEN AUSHANDLUNGSPROZESSEN DURCH SOZIOKULTURELLE GRENZZIEHUNGEN Nebst der intergenerationalen Transmission der Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse durch Migration zeigen sich bei den fünf Geschwistern jedoch auch Aushandlungsprozesse, die einen dieser drei zentralen Aspekte, die familialen Geschlechternormen, den sozialen Aufstieg oder die, von den Eltern ethnisch begründete, transnationale Positionierung betreffen. Die komparative Analyse zeigt auf, dass diese familialen Aushandlungsprozesse durch kontextspezifische soziokulturelle Grenzziehungsprozesse beschränkt werden. Diese begrenzen die Möglichkeiten, transnationale Migration als biographische Bewältigungsstrategie (vgl. Siouti 2013: 208) zu nutzen und alternative Lebensentwürfe zu entwickeln. Diese Befunde decken sich mit den Er-

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kenntnissen von Lutz & Schwalgin, die auf die Bedeutung kontextspezifischer Regelungen und Differenzfaktoren hinweisen: „Nicht jede Imagination möglicher Lebensentwürfe ist beliebig umsetzbar. Vielmehr bleibt die Handlungsfähigkeit der einzelnen Subjekte durch an einem jeweils spezifischen Ort wirksame Regelungen, etwa an Einreise- oder Zulassungsbegrenzungen (institutionellen) Rassismen etc., sowie von individuellen und kollektiven Differenzfaktoren (Gender, Ethnizität, Klasse, Nationalität etc.) in multipler Weise begrenzt. Trotz aller Prozesse der Enträumlichung und Virtualisierung orientieren sich Subjekte weiterhin in einem Feld heteronomer Möglichkeitsräume, und Subjekte müssen sich immer noch in einer konkreten Umwelt verorten“. (Lutz/Schwalgin 2006: 100)

Die folgende Abbildung 10 veranschaulicht den Einfluss soziokultureller Grenzziehungsprozesse auf die Möglichkeiten, familiale Erwartungen in Bezug auf die Übernahme familialer Geschlechternormen, der ethnischen Zugehörigkeit oder des sozialen Aufstieges auszuhandeln. Abbildung 10: Einschränkung familialer Aushandlungsprozesse durch soziokulturelle Grenzziehungen

Quelle: Eigene Darstellung

Die Fallrekonstruktionen von Donika und Egzon zeigen auf, dass ihre Möglichkeiten, alternative Lebensentwürfe zu entwickeln, durch kontextspezifische sozi-

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okulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz und im Kosovo, begrenzt werden. Diese erschweren die Möglichkeiten der Realisierung des sozialen Aufstieges in der Schweiz und führen zu der Relevanz von Ethnizität für gesellschaftliche Hierarchisierungsprozesse. Dazu gehören auch ausländerrechtliche Bestimmungen der Schweiz, die die Möglichkeiten einer transnationalen Migration zwischen Kosovo und der Schweiz erheblich einschränken. Diese führen bei Donika und Egzon zu einer Anbindung an die Familie, was sich unter anderem auch im Verbleib im elterlichen Haushalt im Kosovo zeigt. So kann beispielsweise Egzon den transnationalen Bildungsweg nur beschränkt als biographische Bewältigungsstrategie nutzen. Hier zeigt sich ein bedeutender Unterschied zu den Ergebnissen transnationaler Migrationsprozesse der Nachfolgegeneration griechischer Arbeitsmigrant_innen, welche unter anderem auch dank der Personenfreizügigkeit innerhalb der Europäischen Union transnationales biographisches Kapital als zentrale Ressource nutzen können und transnationale Migration eine biographische Bewältigungsstrategie darstellt (vgl. Siouti 2013: 211). Die Migrationspolitik der Schweiz bewirkt im Gegenteil eine Begrenzung der Möglichkeiten, transnationale Migration als biographisches Potential zu nutzen und schränkt die Möglichkeiten der Aushandlung familialer Erwartungen und geschlechtsspezifischer Rollen ein. Die Familie wird in der Schweiz mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen konfrontiert, durch die insbesondere das Kriterium der ethnischen Zugehörigkeit das Streben nach sozialem Aufstieg erschwert. Dies führt bei den fünf Geschwistern zu einem Spannungsfeld zwischen der ethnischen Zugehörigkeit, mit der sie über Verwandtschaftsbeziehungen in Verbindung gebracht werden, und den elterlichen Erwartungen an soziale Aufstiegsmobilität. Dies zeigt sich besonders deutlich bei Clirim, bei dem dieses Spannungsfeld zu einem Loyalitätskonflikt am Arbeitsplatz führt. Im Kontext soziokultureller Grenzziehungsprozesse werden die Orientierung an der Familie und die Übernahme von geschlechtsspezifischen Rollenerwartungen zu Optionen, um den ausbleibenden sozialen Aufstieg in der Schweiz zu überwinden. Damit zeigt sich, dass durch soziokulturelle Grenzziehungsprozesse der reflexive Umgang mit der eigenen Familie und das Potential der biographischen Transformation, die Apitzsch (2009: 84) als Dialektik der Familienorientierung bezeichnet, beeinflussen. Dies wird besonders deutlich an der intergenerationalen Transmission von familialen Geschlechternormen und der Transmission von Sorgearbeit an die ältesten Töchter im Kontext einer dreifachen Vergesellschaftung (Lenz 1996), mit der die Mutter Adifete in der Schweiz konfrontiert ist. Auch Clirim übernimmt schlussendlich die familialen Geschlechterrollen als Familienvater, nachdem seine Versuche einer Distanzierung von der Familie

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aufgrund soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Schweiz erfolglos geblieben sind. Insgesamt wird dadurch ersichtlich, dass soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Schweiz die Transmission familialer Geschlechternormen verstärken.

8.3 LOKALE POSITIONIERUNG ALS BIOGRAPHISCHE RESSOURCE FÜR FAMILIALE AUSHANDLUNGSPROZESSE Nebst der Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungsprozesse durch Migration finden sich in dieser Familie auch die Bestrebungen, über eine lokale Positionierung gewisse Freiräume auszuhandeln. Da in dieser Familie die intergenerationale Transmission von Migration verbunden ist mit einer transnationalen Positionierung, stellt nicht die transnationale Migration, sondern die lokale Positionierung eine biographische Ressource für familiale Aushandlungsprozesse dar. Diese lokale Positionierung als familialer Aushandlungsprozess zeigt sich bei Donika und Blerina auf unterschiedliche Art und Weise. Bei Blerina stellt das Streben nach einem Verbleib in der Schweiz ihre Bemühungen nach einer gewissen Unabhängigkeit von der Familie dar. Die Gründung einer eigenen Familie in der Schweiz sowie der Hausbau im Kosovo ermöglichen ihr, die patrilokale Familientradition zu transformieren und sich von der Großfamilie des Ehemannes zu distanzieren. Dabei erhält das schweizerische soziale Sicherungssystem eine zentrale Bedeutung als Möglichkeit der Unabhängigkeit von familialer Unterstützung, was Blerina am Beispiel der Altersvorsorge thematisiert. Dies zeigt auf, dass die räumliche Distanz ihr zugleich auch eine Distanzierung von der patrilokalen Großfamilie und damit eine gewisse Autonomie ermöglicht. Donika fügt sich letztlich der Entscheidung der Eltern, die zu einer lokalen Positionierung im Kosovo führt, trotz ihrer Präsentation als Außenseiterin. Die lokale Positionierung wird verstärkt durch die schweizerische Migrationspolitik, welche ihr eine Rückkehr in die Schweiz erschwert. Sie stellt dar, dass der berufliche Erfolg im Kosovo ihr hilft, sich mit dem Verbleib im Kosovo abzufinden. Damit zeigt sich, dass eine lokale Positionierung für beide eine Aushandlung und Transformation familialer Geschlechterrollen ermöglicht. Insgesamt konnte anhand der Fallrekonstruktionen von Mitgliedern zweier Generationen einer Familie der intergenerationale Transmissionsprozess von Migrationserfahrungen rekonstruiert werden, der mit der Arbeitsmigration der Großväter beginnt. Die komparative Analyse der Fallrekonstruktionen der Mit-

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glieder dieser Familie ermöglichte den Zusammenhang der intergenerationalen Transmission von Migrationserfahrungen mit soziokulturellen Grenzziehungsprozessen nachzuweisen. Durch die Anwendung einer rekonstruktiven Biographieanalyse in Kombination mit dem analytischen Konzept soziokultureller Grenzziehungsprozess konnte die Vielfalt von Handlungsstrategien aufgezeigt werden im verwobenen gesellschaftlichen Kontext zwischen dem damaligen Jugoslawien, der Schweiz und dem Kosovo. Diese methodische Herangehensweise ermöglichte, den Zusammenhang von sozialen Hierarchisierungsprozessen in unterschiedlichen Kontexten zu analysieren und dadurch den transnationalen Migrationsprozess der Familie, der insgesamt drei Generationen umfasst, als Umgang mit kontextspezifischen soziokulturellen Grenzziehungsprozessen aufzuzeigen. Auf diese Weise konnte die Essentialisierung von Ethnizität, Geschlecht, Familie oder der „zweiten Generation“ überwunden und aufgezeigt werden, wie Familienmitglieder ihr Wissen um kontextspezifische Hierarchisierungsprozesse nutzen, um sich transnational oder lokal zu positionieren und familiale Erwartungen auszuhandeln. Zugleich schränken soziokulturelle Grenzziehungsprozesse die Möglichkeiten der Familienmitglieder ein, transnationale Migrationserfahrungen als biographische Ressource zu nutzen und können zu einer Verstärkung der intergenerationalen Transmission von familialen Geschlechterrollen führen. Es konnte jedoch auch aufgezeigt werden, dass in diesem Kontext eine lokale Positionierung eine biographische Ressource für die Entwicklung alternativer Lebensentwürfe darstellen kann.

8.4 AUSBLICK: RELEVANZ VON SOZIOKULTURELLEN GRENZZIEHUNGSPROZESSEN FÜR FAMILIALE AUSHANDLUNGSPROZESSE IM TRANSNATIONALEN MIGRATIONSKONTEXT Die vorliegende empirische Studie hat das Ziel, am Beispiel einer Familie aus dem ehemaligen Jugoslawien über einen transnationalen Forschungszugang Erkenntnisse über die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen zu erhalten. Im Zentrum stand dabei die Frage nach der intersektionalen Bedeutung sozialer Ungleichheiten für intergenerationale Transmissionsprozesse. In diesem letzten Kapitel wird aufgezeigt, wie diese Erkenntnisse in der Biographieforschung sowie auch die Analyse transnationaler Familien und intergenerationale Transmissionsprozesse angewendet werden können.

 

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8.4.1 Anwendung von Intersektionalität als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung Diese Studie stellt dar, wie das Konzept der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse von Amelina (2017) in der rekonstruktiven Biographieforschung (Rosenthal 2011, Miethe 2014) für den Einbezug verschiedener Analyseebenen und die prozesshafte Konzeption der intersektionalen Wirkung verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten genutzt werden kann. Dieses analytische Konzept der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse hat sich besonders geeignet, um ergebnissoffen die relevanten Kategorien sozialer Ungleichheit in den spezifischen Kontexten herauszuarbeiten und damit die Verwobenheit individueller Handlungsmuster mit gesellschaftlichen Strukturen sozialer Ungleichheiten zu analysieren. Die Erzählungen über Zugehörigkeit (Anthias 2003) der verschiedenen Familienmitglieder zeigen auf, wie soziokulturelle Grenzziehungen als hierarchisierende, kulturelle Skripte sich kontextspezifisch in ungleichen Lebenschancen niederschlagen und die Möglichkeiten beeinflussen, transnationale Migration als biographische Ressource nutzen zu können. Zugleich weisen die vorliegenden Forschungsergebnisse jedoch auch darauf hin, dass die Akteure die kontextspezifische Bedeutung von Kategorien sozialer Ungleichheiten erkennen und Migration damit zu einer Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzen werden kann. Die Anwendung der Konzeption von multiplen sozialen Ungleichheiten als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse (Amelina 2017) erweist sich als besonders relevant für die Biographieforschung im transnationalen Kontext, um das komplexe Zusammenspiel verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten einerseits im jeweiligen Kontext aufzuzeigen, andererseits jedoch auch die individuellen Handlungsstrategien im transnationalen Kontext zu verorten und damit verschiedene Ebenen von gesellschaftlichen Hierarchisierungsprozessen einzubeziehen. Dabei zeigt sich, dass sich die Akteure im transnationalen Migrationskontext sowohl lokal als auch transnational positionieren können und die nationalen und regionalen gesellschaftlichen Kontexte miteinander verwoben sind. So stellen bspw. Migrationserfahrungen für den beruflichen Aufstieg im Kosovo eine Ressource dar, während die Herkunft aus Jugoslawien resp. Kosovo in der Schweiz die Möglichkeiten für sozialen Aufstieg über Bildung und Erwerbsarbeit erheblich erschweren. Die biographieanalytische Studie ermöglichte, die Bedeutung von transnationalen Positionierungen als Umgang mit kontextspezifischen soziokulturellen Ungleichheiten herauszuarbeiten, die für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen in dieser Familie zentral sind. Zugleich konnten anhand von lokalen Positionierungen auch die Bedeutung der

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räumlichen Distanz für familiale Aushandlungsprozesse aufgezeigt werden. Die Anwendung der Konzeption von sozialen Ungleichheiten als soziokulturelle Grenzziehungsprozesse eignet sich deshalb, um in transnationalen Migrationskontexten diese Gleichzeitigkeit von lokalen und transnationalen Positionierungen als multilokale Art und Weise von sozialen Stratifikationen (Amelina 2017: 33) analysieren zu können. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen die Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen sowohl für die Beantwortung der eigentlichen Forschungsfrage, als auch für die Analyse und insbesondere der Interaktion im Feld. Damit kann das Konzept der soziokulturellen Grenzziehungen als Erweiterung der biographischen Reflexivität (Ruokonen-Engler 2012) resp. der differences in situatedness (Lutz 2014) für die Reflexion der Interaktion im Feld, der Interviewsituation sowie auch der Analyse des erhobenen Materials herangezogen werden. Um die Relevanz soziokultureller Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung zu berücksichtigen, werden folgende Leitfragen vorgeschlagen: • Welche Hinweise ergeben sich aus der Interaktion im Feld für die Wirksam-

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keit soziokultureller Grenzziehungsprozesse und welche Erkenntnisse lassen sich daraus für den Untersuchungsgegenstand ableiten? Welche soziokulturellen Grenzziehungsprozesse sind in der Interviewsituation wirksam resp. werden durch die InterviewerIn eingebracht? Welchen Einfluss haben soziokulturelle Grenzziehungsprozesse auf die erzählte Lebensgeschichte (resp. das Präsentationsinteresse) (Rosenthal 2011)? Was wir dadurch erzählt resp. nicht erzählt? Welche Hinweise auf soziokulturelle Grenzziehungsprozesse lassen sich durch den Vergleich von erzählter und erlebter Lebensgeschichte erkennen? Welche soziokulturellen Grenzziehungsprozesse sind für die Akteure von Relevanz und wie gehen diese damit um? Welche Relevanz haben soziokulturelle Grenzziehungsprozesse für die Fallstruktur?

Zudem erscheint es insbesondere für Biographieanalysen im transnationalen Migrationskontext als relevant, zu analysieren, welche Kontexte für die Biographen relevant sind und wie diese im Sinne einer Verflechtungsgeschichte (Randeria/Römhild 2013) miteinander verwoben sind.

 

Fazit: Intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen | 379

8.4.2 Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für transnationale Familien Die vorliegende Studie zeigt auf, wie Familie als Herstellungsleistung im transnationalen Kontext stattfindet. Dabei erweist sich die Konzeption von Familie als soziale Praxis (Morgan 2011, Jurzyk et al. 2014) als grundlegend, um Aushandlungsprozesse von Nähe und Distanz im transnationalen Kontext analysieren zu können. Das Fallbeispiel von Blerina zeigt exemplarisch auf, dass familiale Erwartungen sowohl transnational übermittelt werden können, zugleich aber die geographische Distanz auch die Möglichkeit bietet, eine gewisse Autonomie von der Familie auszuhandeln. Zudem zeigt die vorliegende Studie die Bedeutung von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen als intersektionales Zusammenspiel verschiedener Kategorien sozialer Ungleichheiten auf Familie als soziale Praxis auf. Soziokulturelle Grenzziehungsprozesse können zu einer Einschränkung familialer Aushandlungen beitragen. Familienmitglieder können zudem Migrationsregime nutzen, um ihre Konzeption von Familie intergenerational weiterzugeben, wie das Beispiel des Bestrebens von Admir und Adifete nach einer Wiedererrichtung der patrilokalen Familientradition zeigt. Durch den biographieanalytischen Zugang wurde sichtbar, dass diese familialen Aushandlungsprozesse mit Migrationserfahrungen zusammenhängen können, deren Transmission mehrere Generationen umfasst. Zudem stellen diese familialen Aushandlungsprozesse auch eine Auseinandersetzung mit kontextspezifischen soziokulturellen Grenzziehungsprozessen dar, die sich im Laufe der Zeit verändern und grenzüberschreitend stattfinden können. Die Fokussierung auf sieben Mitglieder derselben Familie hat ermöglicht, die Komplexität der transnationalen Gestaltung von Familie resp. intergenerationaler Transmissionsprozesse aufzuzeigen. Durch die komparative Analyse konnte aufgezeigt werden, dass die Untersuchung von möglichst vielen Mitgliedern einer Familie aufschlussreich sein kann, um der Komplexität von intergenerationalen Transmissionsprozessen Rechnung zu tragen und unterschiedliche Strategien im Umgang mit familialen Erwartungen und soziokulturellen Grenzziehungsprozessen aufzuzeigen. 8.4.3 Relevanz von soziokulturellen Grenzziehungsprozessen für die Analyse intergenerationaler Transmissionsprozesse Die vorliegenden Ergebnisse zeigen die Bedeutung auf, bei weiteren Forschungen zu intergenerationalen Transmissionsprozessen im Migrationskontext eine

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transnationale Forschungsperspektive anzuwenden um einen methodologischen Nationalismus zu überwinden, um die individuellen Handlungsstrukturen und deren vielfältige Positionierungsweisen im transnationalen Kontext zu verorten. Dabei wird die Relevanz von intersektional verwobenen sozialen Ungleichheiten sichtbar: Die Familienmitglieder vergleichen ihre soziale Positionierung im transnationalen Kontext und entwickeln entsprechende Strategien, um grenzüberschreitend ihr Streben nach Sozialem Aufstieg zu realisieren. Dieses transnationale Wissen wird intergenerational weitergegeben Die intergenerationale Weitergabe und Aushandlung familialer Werte und Normen hängt dabei sowohl von kontextspezifischen Hierarchisierungsprozessen wie auch den jeweiligen Migrationsregimes ab, die sich im Laufe der Zeit verändern und damit die Möglichkeiten der transnationalen Positionierung beeinflussen. Damit zeigt sich die Verwobenheit der familialen Generationenbeziehungen mit den sich verändernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als grenzüberschreitende Verflechtungsgeschichte: Während der Vater im ehemaligen Jugoslawiens auf offenen Grenzen für die Arbeitsmigration stieß und dadurch den Schwierigkeiten der Realisierung des sozialen Aufstiegs in Jugoslawien im Kontext von wirtschaftlichen und ethno-politischen Spannungen durch eine Migration in die Schweiz ausweichen konnte, sind die Möglichkeiten der Realisierung eines sozialen Aufstieges im transnationalen Kontext für seine Söhne und Töchter erheblich eingschränkt. Das Beispiel seines Sohn Egzon zeigt deutlich die Schwierigkeiten auf, aufgrund von institutionelle Diskriminierungsprozessen und veränderte Grenzregimes mit kosovarischer Staatsbürgerschaft einen transnationalen Bildungsweg zu realisieren. Zudem zeigt sich anhand der Kontrastierung der Fallrekonstruktion des Vaters und der Mutter die Bedeutung der intersektionalen Verwobenheit von vergeschlechtlichten, ethnisierten und klasenspezifischen Narrativen für intergenerationale Transmissionsprozessen. Sie widerspricht der Narration des transnationalen Strebens nach sozialem Aufstieg ihres Ehemannes und thematisiert stattdessen die Bedeutung des familialen Zusammenhaltes. Damit zeigt sich die Relevanz der Analyse möglichst vieler Familienmitglieder für intergenerationale Transmissionsprozesse, um die unterschiedlichen Transmissionsabsichten und Aushandlungsprozesse herausarbeiten zu können und insbesondere auch Narrationen zu berücksichtigen, die dem dominaten Diskurs, wie bspw. des sozialen Aufstiegs, widersprechen. Der biographieanalytische Zugang hat sich bewährt, um intergenerationale Transmissionsprozesse sowohl im Kontext der Familiengeschichte wie auch in Bezug auf den gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Die Kombination mit dem Konzept soziokultureller Grenzziehungen ermöglicht, die bisherigen Er-

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gebnisse weiter zu differenzieren, in denen vor allem vergeschlechtlichte biographische Transmigrationsprozesse (vgl. bspw. Ruokonen-Engler 2012, Siouti 2013, Apitzsch 2014b) im transnationalen Migrationskontext untersucht wurden. Die vorliegenden Ergebnisse zeigen die interdependente Bedeutung von Klasse, Ethnizität und Geschlecht für die intergenerationale Transmission von Migrationserfahrungen. Diese soziokulturellen Grenzziehungsprozesse, wie bspw. selektive Migrationsregime, Zugangsbeschränkungen zum Arbeitsmarkt und zu Bildungsinstitutionen wirken sich auf die Möglichkeiten aus, „transnationales biographisches Kapital als zentrale Ressource“ (Siouti 2013: 211) zu nutzen. Deshalb kann im transnationalen Migrationskontext gerade auch eine lokale Positionierung eine biographische Ressource für die Aushandlung intergenerationaler Transmissionsprozesse darstellen, wie das Beispiel von Blerina zeigt. Die hier präsentierten Resultate lassen weiterführende Erkenntnise nicht nur für die Analyse intergenerationaler Transmissionsprozeses im Migrationskontext zu. Die Relevanz von intersektional verwobenen sozialen Ungleichheiten für intergenerationale Transmissionsprozesse lässt sich auch auf andere Bereiche übertragen, um familiale Generationenbeziehungen im gesellschaftlichen Kontext zu analysieren. Die Anwendung des Konzeptes der soziokulturellen Grenzziehungsprozesse in der Biographieforschung hat sich dabei als geeignete methodische Herangehensweise gezeigt. Hier liegt der Beitrag der vorliegenden Forschung für die intergenerationale qualitative Forschung, in der gemäß Böker/Zölch (2017) spezifische methodische Anforderungen gestellt werden für die Analyse der Interaktion und Generationendynamik.

 

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400 | Familienleben transnational

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Abbildungsverzeichnis

Abbildung 1: Das Konzept soziokultureller Grenzziehungen | 62 Abbildung 2: Die ausgewählte Familie (Sampling II) | 131 Abbildung 3: Genogramm Admir (Zeitpunkt seiner Kindheit und Jugend) | 138 Abbildung 4: Genogramm Adifete (Zeitpunkt der Kindheit und Jugend) | 169 Abbildung 5: Genogramm Arbresha (Zeitpunkt der Kindheit in Luqan) | 193 Abbildung 6: Genogramm Clirim (Zeitpunkt seiner Kindheit und Jugend in der Schweiz) | 252 Abbildung 7: Genogramm Donika (Zeitpunkt der Migration in den Kosovo im Jahr 2000) | 283 Abbildung 8: Strategie der Überwindung soziokultureller Grenzziehungen durch Migration | 370 Abbildung 9: Transnationaler Migrationsprozess von Admir und Adifete | 371 Abbildung 10: Einschränkung familialer Aushandlungsprozesse durch soziokulturelle Grenzziehungen | 373

 

 

Transkriptionszeichen1

Die Transkription erfolgte entsprechend der hörbaren Gestalt ohne Rücksicht auf die Regeln der Schriftsprache inklusive hörbaren Äusserungen und Signale wie Pausen, Betonungen, Versprechern und Abbrüchen und ohne Verwendung grammatikalischer Satzzeichen (Rosenthal 2011: 92). Die Interviews wurden in schweizerdeutscher Sprache geführt, die Verschriftlichung erfolgte in deutscher Sprache. Dabei wurde darauf geachtet, möglichst nahe bei der gesprochenen Sprache zu bleiben und schweizerdeutsche Ausdrucksweisen zu übernehmen. Stellenweise haben die Interviewpersonen Albanisch gesprochen. Diese Stellen wurden wörtlich in der Originalsprache transkribiert. Für die Publikation wurden diese Interviewpasagen ins Deutsche übersetzt und als Übersetzungen kursiv markiert.

.. (3) ((lachend)) //mh// //ja// ‚nein‘ nein NEIN (sagte er) (______) viel-

Kurzes Absetzen Pause in Sekunden Kommentar oder Übersetzung Äusserung der Interviewerin, die nicht zu einem Sprecherwechsel führt Leise gesprochen Betont Laut Unsichere Transkription Unverständlich, die Länge der leeren Klammer gibt die Dauer der Äusserung wieder Abbruch eines Wortes

                                                             1

Die verwendeten Transkriptionszeichen basieren mehrheitlich auf den Ausführungen von Rosenthal (2011: 93).

 

404 | Familienleben transnational

Ja=ja Ja: ˪ ˩ „sdfadf“ ((schnell gesprochen)) Kursiv I:

 

 

Schneller Anschluss Dehnung der Endung Schneller Sprecherwechsel, Überschneidung am Anfang Schneller Sprecherwechsel, Überschneidung am Ende Kommentiertes Phänomen

Übersetzung aus dem Albanischen ins Deutsche Interviewerin

 

Zeichenerläuterung Genogramme



männliche Person



weibliche Person



Ego/Zentralfigur



verstorbene, männliche Person



verstorbene, weibliche Person

*1971

Geburtsjahr (Jahrgang)



Sterbedatum (Jahr)

*: Luqan

Geburtsort Verheiratet (Jahr der Eheschliessung) Zweifarbigkeit: saisonale Arbeitsmigration Dunkelkrau: Wohnort Deutschland Weiss: Dörfer der Gemeinde Bujanovac (heutiges Serbien) Hellgrau: Wohnort Mazedonien Schwarze Rahmung Wohnort Kosovo Grau: Wohnort Schweiz

 

Soziologie Juliane Karakayali, Bernd Kasparek (Hg.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Jg. 4, Heft 2/2018

Februar 2019, 246 S., kart. 24,99 €(DE), 978-3-8376-4474-6

Sybille Bauriedl, Anke Strüver (Hg.)

Smart City – Kritische Perspektiven auf die Digitalisierung in Städten 2018, 364 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-4336-7 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4336-1 EPUB: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4336-7

Weert Canzler, Andreas Knie, Lisa Ruhrort, Christian Scherf

Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende Soziologische Deutungen 2018, 174 S., kart., zahlr. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-4568-2 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4568-6 EPUB: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-7328-4568-2

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Soziologie Gianna Behrendt, Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Fakten 2018, 166 S., kart. 16,99 € (DE), 978-3-8376-4362-6 E-Book: 14,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-4362-0

Heike Delitz

Kollektive Identitäten 2018, 160 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3724-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3724-7

Anna Henkel (Hg.)

10 Minuten Soziologie: Materialität 2018, 122 S., kart. 15,99 € (DE), 978-3-8376-4073-1 E-Book: 13,99 €(DE), ISBN 978-3-8394-4073-5

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