Evolution - Organisation - Management: Zur Entwicklung und Selbststeuerung komplexer Systeme [1 ed.] 9783428466580, 9783428066582


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German Pages 217 Year 1989

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Evolution - Organisation - Management: Zur Entwicklung und Selbststeuerung komplexer Systeme [1 ed.]
 9783428466580, 9783428066582

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Beiträge zur Verhaltensforschung Heft 27

Evolution Organisation – Management Zur Entwicklung und Selbststeuerung komplexer Systeme

Herausgegeben von

Leonhard Bauer Herbert Matis

Duncker & Humblot · Berlin

Evolution - Organisation - Management

Beiträge zur Verhaltensforschung Herausgegeben von Professor Dr. Dres. h. c. G. Schmölders

Heft 27

Evolution Organisation - Management Zur Entwicklung und Selbststeuerung komplexer Systeme

M i t Beiträgen von Erhard Oeser, Franz Seiteiberger, Rupert Riedl Leonhard Bauer, Herbert Matis, Kurt Dopfer, Ekkehard Häberle Fredmund Malik, Gilbert J. B. Probst, Alfred Kieser

herausgegeben von

Leonhard Bauer und Herbert Matis

Duncker & Humblot * Berlin

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Evolution - Organisation - Management: zur Entwicklung und Selbststeuerung komplexer Systeme / hrsg. von Leonhard Bauer; Herbert Matis. — Berlin: Duncker u. Humblot, 1989 (Beiträge zur Verhaltensforschung; H. 27) ISBN 3-428-06658-8 NE: Bauer, Leonhard [Hrsg.]; GT

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1989 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0522-7194 ISBN 3-428-06658-8

Inhaltsverzeichnis

Die Autoren

3

Vorwort der Herausgeber

5

Erhard Oeser Evolution und Management

7

Franz Seiteiberger Die Evolution des Gehirns und die Hirnleistungen des Menschen

25

Rupert Riedl Anpassungsmängel der menschlichen Vernunft

39

Leonhard Bauer Krise: Gefahr und gute Gelegenheit

55

Herbert Matis Systemansatz und Evolutionsgedanke als Paradigmen in der (historischen) Sozialwissenschaft

77

Kurt Dopfer Ökonomie als lebendes System

95

Ekkehard Häberle Kontingenz und Diffusion als methodische Leitbegriffe

101

Fredmund Malik Elemente einer Theorie des Managements sozialer Systeme

131

2

Inhaltsverzeichnis

Gilbert J. B. Probst Soziale Institutionen als selbstorganisierende, entwicklungsfähige Systeme

145

Alfred Kieser Entstehung und Wandel von Organisationen. Ein evolutionstheoretisches Konzept

161

Literaturhinweise

191

Personenregister

209

Stichwortverzeichnis

211

Die Autoren Bauer, Leonhard, geb. 1940, Dipl.Kfm., Dr. der Handelswissenschaften, o. Prof. für Volkswirtschaftslehre und Ökonometrie an der Wirtschaftsuniversität Wien Dopfer, Kurt, geb. 1939, Dr.oec., a.o. Prof. für Außenwirtschaftstheorie und Entwicklungstheorie an der Hochschule St. Gallen Häberle, Ekkehard, geb. 1941, Dr.rer.pol., Prof. für Unternehmensführung an der Universität Heidelberg, Doz. an der Universität Karlsruhe Kieser, Alfred, geb. 1942, DipLKfm., Dr.rer.pol., o. Prof. für betriebliche Organisation an der Universität Mannheim Malik, Fredmund, geb. 1944, Dr.habil., P.Doz., Vorsitzender der Geschäftsleitung des Managementzentrums St. Gallen Matis, Herbert, geb. 1941, Dr.phil., o. Prof. für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Wirtschaftsuniversität Wien, korr. Mitglied der Österr. Akademie der Wissenschaften Oeser, Erhard, geb. 1938, Dr.phil., o. Prof. für Philosophie an der Universität Wien Probst, Gilbert, J.B., geb. 1950, Dr.oec., o. Prof. für Managementtheorie an der Universität Genf, Leiter des I M I in Genf Riedl, Rupert, geb. 1925, Dr.rer.nat., o. Prof. für Zoologie an der Universität Wien, korr. Mitglied der Jugoslawischen Akademie für Wissenschaften Seiteiberger, Franz, geb. 1916, Dr.med., o. Prof. für Neurologie an der Universität Wien, wirkl. Mitglied d. Österr. Akademie der Wissenschaften, wiss. Mitglied d. M P G zur Förderung d. Wiss., Mitgl. der Deutschen Akademie "Leopoldina"

Vorwort der Herausgeber Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaften waren in ihrer methodischen Ausrichtung seit dem Aufkommen der ökonomischen Klassik und der Neoklassik geprägt durch das in der Ideenwelt von Descartes und Newton wurzelnde mechanistische Paradigma. Dies trifft insbesondere für die Neoklassik zu, während die ökonomischen Klassiker, beginnend mit Adam Smith und seiner Vier-Phasen-Theorie, bzw. Thomas Robert Malthus, auf den bekanntlich Charles Darwin im Vorwort zu seinem Werk über den Ursprung der Arten explizit Bezug nimmt, durchaus evolutionäre Aspekte berücksichtigten. Selbstverständlich erachten die Mainstream-Ökonomen, die in einem derartigen Erklärungsansatz leben, dieses Paradigma als einzige und unumstößliche Wahrheit, so sinnentleert und weltfremd ihre Modelle auch sein mögen. Es wurde ihnen damit zwar ein Instrumentarium zur Verfügung gestellt, das - obwohl ursprünglich in den Sozialwissenschaften (Machiavelli) entwickelt - mehr oder weniger aus der Physik übernommen und damit, der Vorbildfunktion dieser Wissenschaften entsprechend, angewendet werden konnte. Der Regreß auf die "Natur" entzog sie der Legitimationsnotwendigkeit, die ja immer eine gesellschaftsbezogene sein muß. Die großen Veränderungen sowohl im Bereich des Realen (Größenentwicklung der Unternehmungen, Globalisierung der Wirtschaft, Berücksichtigung zusätzlicher Dimensionen in der Psyche des Menschen, ökologische Aspekte) als auch in der zugrundeliegenden Denkweise (Auflösung der klassischen Trennung von Subjekt und Objekt, "Rationalität" als gewillkürte Logik im gewählten System, sprachwissenschaftliche und epistemologische Erkenntnisse) legen es jedoch nahe, zu überprüfen, ob dieses Paradigma für die heutige Situation unserer komplexen Welt noch adäquat ist. Das, was sich heute noch als "Normalwissenschaft" (Thomas Kuhn et alii) deklariert, steckt tief in einer Legitimationskrise. Vor allem wurde mit der Dominanz des mechanistischen Paradigmas auch die Separierung der Wissenschaft und deren Aufspaltung in differente, infolge gelegentlichen Ausbrechens aus "normalwissenschaftlichem Denken" kaum mehr zusammenhängende Einzeldisziplinen begründet und gefördert. Da wir es aber in dieser unserer Welt stets mit ganzheitlichen, vernetzten Systemen zu tun haben, erscheint auch aus dieser Sicht ein Umdenken notwendig; denn: Interdisziplinarität kann nicht additives Zusammenfügen von einzelwissenschaftlichen Erkenntnissen sein, sondern beruht auf einer neuen Qualität des Denkens, welche den bisherigen paradigmatischen Zusammenhang hinter sich läßt.

6

Vorwort der Herausgeber

Angesichts dieser Situation entschlossen sich die beiden Herausgeber im Jahr 1987 ein interdisziplinäres Symposium in Wien zu veranstalten, welches von einem fachübergreifenden Diskurs geleitet sein sollte. Ein neuer Paradigmenansatz scheint sich in der Systemtheorie und der evolutionären Erkenntnistheorie abzuzeichnen. Es geht hier nicht zuletzt um die Rückbesinnung der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften auf ihre evolutionistisch begründeten Ursprünge (David Hume, Adam Smith). Unter diesem Aspekt haben sich in Wien Philosophen, Mediziner, Biologen, Historiker, Ökonomen und Betriebswirte zum gemeinsamen Diskurs zusammengefunden. Es zeigte sich dabei, daß in dem erwähnten Paradigmenansatz vielleicht eine Chance liegt, die bisher so voneinander getrennten Einzelwissenschaften in einem gemeinsamen Erkenntnisinteresse zusammenzuführen. Die wechselseitigen Anregungen und die neuen Dimensionen des Denkens, die sich hier erschließen, sind keineswegs bereits ausgeschöpft, sondern sollen vielmehr als Anregung verstanden werden, hier weiterzudenken und weiterzuentwickeln. Für die sorgfältige Niederschrift und einfühlsame Texterfassung mittels Computer danken wir besonders Brigitte Büchler, Mitarbeiterin an dem von uns geleiteten "Ludwig Boltzmann-Institut für wirtschaftshistorische Prozeßanalyse". Wien, im Frühjahr 1989

Die Herausgeber

Evolution und Management Von Erhard Oeser, Wien Wissenschaftstheoretische Bemerkungen zu einem Paradigmenwechsel in den Wirtschaftswissenschaften Evolution ist das Stichwort für den Paradigmawechsel, mit dem die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften die bisher geläufige methodologische Analogie zur klassischen Mechanik als Grundlagentheorie der Physik verlassen haben und in der Biologie - genauer: in der Theorie organischer lebender Systeme - ein neues V o r b i l d oder Denkmodell suchen. Daß der Wandel in der Denkungsart nicht nur im Rahmen eines für die Praxis unverbindlichen abstrakt-theoretischen Überbaus geschieht, sondern bereits unmittelbar praktische Konsequenzen hat, zeigt die Verbindung der Begriffe "Evolution" und "Management" und das konkrete Interesse der Praktiker an diesem neuen Konzept. Dieser Paradigmawechsel scheint - zumindest was die Grundidee anbelangt, daß soziale Systeme, insbesondere Unternehmen und Betriebe als lebend sich selbst entwickelnde Organismen zu betrachten sind und nicht als imbelebte Maschinen - so reibungslos zu verlaufen, daß man sich nach den Gründen fragen muß. Diese Gründe sind sowohl theoretischer als auch praktischer A r t und lassen sich vorwegnehmend auf folgende thesenhafte Kurzformel bringen: Theoretisch: Jede methodologische Analogie oder Metapher in der Theoriebildung verliert ihre Berechtigung, wenn das zugrundeliegende Konzept, auf das man sich bezieht, seine universelle Gültigkeit im ursprünglichen Wissensbereich verloren hat. I m vorliegenden Fall ist es eben das Grundkonzept der klassischen Mechanik Newtons, das zwar nicht falsifiziert worden ist, in dem Sinne, daß sie als gänzlich falsch verworfen und durch eine andere Theorie (Relativitätstheorie und Quantentheorie) ersetzt werden muß, aber doch in ihrem Universalitätsanspruch drastisch beschränkt worden ist. Sie ist zwar noch immer ausreichend zur Erklärung von einfachen, berechenbaren Systemen mit einem bestimmten Grad von Genauigkeit unter "normalen Bedingungen", wie z.B. zur Erklärung der Bewegungsvorgänge in einer mechanischen Uhr bei Normaltemperatur. Aber bei komplexeren Systemen versagt ihr Erklärungsanspruch, worauf F. v. Hayek schon frühzeitig hingewiesen hat. Heute ist jedoch auch vom gegenwärtigen Stand der modernen Physik her klar, daß solche "integralen" Systeme ( I . Prigogine) nur einen kleinen Ausschnitt der physikalischen Realität darstellen.

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Erhard Oeser

Praktisch: Es zeigt sich gerade an der Komplexität moderner Großbetriebe, die bereits solche Ausmaße erreicht haben, daß es sich hier nicht mehr um einfache quantitative Vergrößerungen handelt, sondern um Beziehungen, um Wechselwirkungsverhältnisse interner und externer Art, die bereits auf einer qualitativ anderen Ebene liegen. Daß man die Konstruktion kleiner Maschinen nicht ohne wesentliche Veränderungen auf große Maschinen übertragen kann, war übrigens schon innerhalb des mechanistischen Erklärungsmodells von allem Anfang an klar. So weist bereits Galilei ausdrücklich darauf hin, daß der Knochenbau eines Riesen ganz anders aussehen müßte als der eines gewöhnlichen Menschen. Damit ist aber bereits ein erster Schritt zu jener Einsicht getan, daß schon bei der bloßen Steigerung der Größe eines Systems, vor allem in Bezug auf seine Stabilität plötzlich ganz andere Eigenschaften auftreten, was formal-mathematisch durch nichtlineare Gleichungen ausgedrückt wird. Umso deutlicher aber wird das Problem, wenn es von vornherein nicht um die Größe eines Systems allein geht, sondern um die Vielfalt der Elemente und ihrer möglichen und tatsächlichen Verknüpfung. Die Reichweite der Technologien in der modernen Industriegesellschaft, die Geschwindigkeit der Veränderung, die sie auslösen, die möglichen (beabsichtigten und nicht beabsichtigten) Effekte solcher beschleunigter Prozesse sind mit den Mitteln der konstruktiven Planung allein nicht mehr zu fassen. I n komplex vernetzten dynamischen Systemen, bei denen sich alles sehr schnell verändern kann, ergibt sich ständig die Notwendigkeit, alle Pläne laufend zu korrigieren: "Von einfachen Terminvereinbarungen über die verschiedenen Arbeitsprogramme, Unternehmenspläne usw. bis zu dem, was wir unseren Lebensplan nennen könnten". 1 So ist man sich also theoretisch wie praktisch über die Notwendigkeit eines Paradigmawechsels in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften einig. Die Krise, in der man sich nun nach einer langen Tradition mechanistischen Denkens, das analog der Newtonschen Gravitation immer nur eine Ursache angeben konnte, wie z.B. der "Eigennutz" von A . Smith, ist somit nicht nur eine Gefahr sondern eine gute Gelegenheit (L. Bauer), das wissenschaftliche Vorbild zu ändern. Wie es bereits Alfred Marshall gefordert hat, soll nicht mehr die Mechanik, sondern die Biologie das Mekka der Ökonomen sein. Die Ökonomie ist als "lebendes System" (K. Dopfer) zu betrachten, das wie alle Lebewesen als offenes System einem Evolutionsprozeß (H. Matis) unterworfen ist. Wie aus wissenschaftstheoretischen Analysen aus der Geschichte der Naturwissenschaften vor allem durch T.S. Kuhn bekannt ist, enthält der Über-

1

Malik, Managementlehre, 1979

Evolution und Management

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gang zu einem neuen wissenschaftlichen Paradigma ein "beträchtliches allgemeines Erklärungspotential" (H. Matis), das sich auch auf andere Bereiche übertragen läßt. Sowohl mit dem Begriff "Paradigma" selbst, als auch mit der Vorstellung der Übertragimg eines Paradigmawechsels von einem Wissensgebiet in ein anderes, ergeben sich jedoch eine Reihe wissenschaftstheoretischer Probleme. Bekanntlich ist der Begriff "Paradigma" bei Kuhn selbst sehr vieldeutig. Er bedeutet nicht nur das Bevorzugen eines bestimmten Methodenarsenals; darüber hinaus hat er eine soziopsychologische Bedeutung, weil er auch die Forschergemeinschaft selbst meint, die eine bestimmte Theorie vertritt und bestimmte Methoden anwendet. U n d schließlich sagt auch Kuhn mit Recht, daß die Wissenschaftler vor einem Paradigmawechsel in einer ganz anderen Welt leben als danach. Alle diese Charakterisierungen lassen sich auch auf den Paradigmawechsel in den Wirtschaftswissenschaften übertragen. Darunter fällt sowohl der Paradigmawechsel, der einen Wechsel des wissenschaftlichen Vorbildes, nämlich von der Physik zur Biologie meint, als auch jener Paradigmawechsel, der innerhalb eines Vorbildes erfolgt und sozusagen sekundär mitvollzogen wird, wie der Wechsel von der klassischen Mechanik über die Thermodynamik zur Quantentheorie. M i t der Theorie thermodynamischer Systeme fern vom Gleichgewicht verliert natürlich auch die klassische ökonomische Gleichgewichtstheorie ihre Gültigkeit, die überdies auch diametral der Theorie offener, d.h. energiedurchflossener lebender Systeme, die immer "Ungleichgewichtssysteme" (K. Dopfer) sind, widerspricht. Bevor auf den Paradigmawechsel vom klassischen Vorbild der Mechanik zur Biologie eingegangen werden kann, ist aber zunächst überhaupt zu klären, warum im Bereich der Wirtschaftswissenschaften eine derartige Vielfalt von methodologischen Anleihen aus verschiedenen Wissensgebieten gemacht wird, was sich nicht nur auf die Naturwissenschaften beschränkt. Denn "der Wirtschaftswissenschafter borgt überall, beim Biologen, beim Geographen, beim Ingenieur, beim Historiker, er borgt gleichermaßen beim Philosophen wie bei vielen anderen". 2 Die methodologische Einsicht, daß die Wirtschaftswissenschaften "keinen thematisch oder verfahrenstechnischen zentralen und unverrückbaren Kern" und somit auch keine "autochthone Methodik" besitzen, ist eine Konsequenz aus der Komplexität des Gegenstandes der Wirtschaftswissenschaften, in dem sich menschliche Handlungen mit empirisch-physikalisch-biologisch beschreibbaren und erklärbaren Ereignissen und Sachverhalten verbinden. Methodologisch bedeutet das, daß die Methodik der Wirtschaftswissenschaften die in den verschiedenen Wissenschaften einzeln oder isoliert ausgebildeten methodologischen Grundformen des Beschreibens, Vorschrei2

Fels/Tintner, Methodik, 1967, S. 4

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bens (Planens), Erklär ens und Verstehens notwendigerweise integrieren muß. Die Methodik der Wirtschaftswissenschaften kann daher weder auf naturwissenschaftliche noch auf geisteswissenschaftliche Methodik noch auf reine Entscheidungstheorie rückgeführt werden. Sie verbindet alle diese Methoden, wobei sie in dieser Verbindung keine dieser Methoden unverändert läßt. Diese Integrierung stellt schon deswegen eine unlösbare Aufgabe dar, weil es die naturwissenschaftliche Methode und die geisteswissenschaftliche Methode in ihrer Reinheit und Isolierung gar nicht gibt. Der Trennungsstrich, der methodologisch zwischen Natur- und Geisteswissenschaften nach traditioneller Auffassung besteht, würde vielmehr mitten durch den Bereich der Naturwissenschaften selbst laufen, nämlich zwischen den sog. beschreibenden (und vergleichenden) und den sog. exakten Naturwissenschaften. De facto gibt es aber diese Trennung überhaupt nicht, sondern, wie das oben dargestellte topologische Schema der methodologischen Verwandtschaft demonstrieren sollte, es gibt nur verschiedene Grade der Ausprägung einer bestimmten Methodik, die sich bereits in der Begriffsbildung eines Wissensgebietes erkennen läßt. In diesem Sinne ist die quantitativ-metrische Begriffsbildung in den traditionell so genannten "exakten" Naturwissenschaften (Astronomie, Physik) am meisten ausgeprägt, was nicht bedeutet, daß in diesem Bereich nicht auch andere Begriffsformen zulässig sind. Grundsätzlich kann man vielmehr sagen, daß in allen Gebieten der Wissenschaft potentiell oder real alle wissenschaftlichen Begriffsformen vorhanden sind und in der Entwicklungsgeschichte einer bestimmten einzelnen Wissenschaft eine bestimmte Dynamik aufweisen. 3 Der Gesamtkomplex wissenschaftlicher Begriffsformen läßt sich nach einer auf Carnap zurückgehenden revidierten Systematik in folgender Reihenfolge auflisten: -

deskriptiv-qualitative Begriffe, die durch definitorische Festlegung zu klassifikatorischen Begriffen werden können;

-

komparative Begriffe, die entweder typologische oder topologische Begriffe sind;

-

Dispositionsbegriffe oder operationale Begriffe, die auch in ihrer einfachsten Form theoretisch belastet sind, weil sie sich auf gesetzmäßige Veränderungen beziehen, die als solche nicht bloß deskriptiv erfaßt werden können;

3

Oeser, Dynamik, 1978

Evolution und Management

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-

quantitativ-metrische Begriffe, die bereits ein Maßsystem voraussetzen und damit die komparative Begriffsbildung, da jedes Maßsystem auf dem Prozeß der Vergleichung beruht;

-

und schließlich die theoretischen Begriffe, deren Sinn und Bedeutung nur im Rahmen einer Theorie verständlich sind.

Die historische Analyse und Rekonstruktion der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften, insbesondere der Nationalökonomie oder Volkswirtschaftslehre, zeigt nun zwar einerseits deutlich die von Carnap postulierte Tendenz zur Quantifizierung und Metrisierung und zur Entwicklung theoretischer Grundbegriffe anstelle frei schwebender spekulativer Begriffe, wie es etwa die "unsichtbare Hand" von Adam Smith war, die den Kreislauf der freien Marktwirtschaft regeln sollte. Auf der anderen Seite wird aber ebenso klar, daß sich nicht eine Begriffsform, wie etwa die qualitative und typologische, einfach durch eine andere, wie die quantitativ-metrische, vollkommen ersetzen läßt. I n diesem Sinne haben jene primär an geisteswissenschaftlicher Methodik (z.B. Kunstgeschichte) oder an biologischer Morphologie orientierten Methodologien im Bereich der Wirtschaftswissenschaften recht, wenn sie den Typusbegriff als notwendige Ergänzung zu mathematisch konstruierten Modellen fordern. Denn der Typus, der den Komplex von wesentlichen oder charakteristischen Merkmalen eines Phänomens in seiner verschiedenartigen Ausprägung darstellt, bildet sowohl die heuristische Grundlage für die Konstruktion von Modellen als auch für die Möglichkeit, Modelle als Theorien mit empirischem Wahrheitsgehalt zu interpretieren. So läßt sich historisch am Modell der vollkommenen Konkurrenz, das schon die Klassiker der Nationalökonomie verwendet haben, zeigen, daß es wenigstens zum Teil auf typische Züge der freien Marktwirtschaft zurückgeht, die verallgemeinert wurden. 4 Diesen Überlegungen, daß die typologische Begriffsbildung die Brücke zwischen theoretischen Modellen und ökonomischer Realität schafft, steht nicht entgegen, daß auf der Ebene der metrischen Begriffsbildung die statistisch-ökonometrischen Methoden ebenfalls diesen Brückenschlag zwischen Theorie und Erfahrung dadurch leisten, daß man - drastisch ausgedrückt - versucht, theoretisch nicht mehr abzubeißen, als man statistisch kauen kann. 5 In beiden Fällen wird jedenfalls erreicht, daß der Haupteinwand gegen das Verwenden von physikalisch motivierten und bewährten mathematischen Schablonen, die dem wirtschaftlichen Leben einfach roh und uneinsichtig aufgestülpt wurden, weitgehend aufgehoben werden kann. Der historisch wahre Kern dieses Vorwurfes, den selbst die Vertreter der "linearen Ökonomik" akzeptieren, 4 5

Neuhauser, Grundlagen, 1967 Fels/Tintner, Methodik, 1967

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Erhard Oeser

liegt eben darin, daß der mathematische Apparat mit der z.B. die allgemeine Gleichgewichtstheorie von Léon Walras formuliert worden ist, aus der Weiterentwicklung der Newtonschen Mechanik stammt. Eine vergleichende Analyse zwischen den geometrischen Gleichgewichtsfiguren der Newtonschen Ebbe- und Fluttheorie und den algebraischen Gleichungen der analytischen Mechanik mit der Entwicklung ökonomischer Theorien könnte demonstrieren, daß es sich um weit mehr als eine bloße Analogie handelt. Wie auch umgekehrt das relativ späte Eindringen der Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie in die Physik eine Übertragung von mathematischen Methoden aus den Wirtschaftswissenschaften bedeutet. Denn der Ursprung der Wahrscheinlichkeitstheorie liegt in der Theorie der Glücksspiele und in den kaufmännischen Risikoüberlegungen. Wie stark die methodologischen Überlegungen der verschiedenartigsten Wissensgebiete in ihrer historischen Entwicklung miteinander verzahnt sind, zeigt auch deutlich die Berufung Hayeks auf die biologische Evolutionstheorie als "beste Illustration einer Theorie komplexer Phänomene", in denen es keine Gesetze gibt, sondern nur ein "allgemeines Muster, dessen Einzelheiten wir nie einsetzen können". 6 Ein weiteres Beispiel ist der sog. methodologische Individualismus in den Wirtschaftswissenschaften, dessen Herkunft aus der individualisierenden Betrachtungsweise der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik ersichtlich ist. Umgekehrt zeigt sich aber, daß es auch seit jeher bei den Naturwissenschaftlern methodologische Anleihen aus dem Gebiet der Wirtschaftswissenschaften gegeben hat. Das berühmteste und eklatanteste Beispiel ist ja die Evolutionstheorie selbst, die ja bekanntlich Darwin unter expliziter Berufung auf die Ideen des Nationalökonomen Thomas Malthus begründete von dem Prioritätsstreit, wo denn die Evolutionstheorie zuerst aufgetreten ist, in der Biologie oder bei den schottischen Moral- und Staatsphilosophen des 17. und 18. Jahrhunderts (wie F.v. Hayek behauptet), ganz zu schweigen. Nicht nur in der Biologie sondern auch in der Physik sind solche Anleihen methodologischer A r t bekannt, wenn man z.B. an das Ökonomieprinzip von Mach denkt, der einen wirtschaftswissenschaftlichen Begriff zur Metatheorie der physikalischen Gesetzeshypothesenbildung gemacht hat. Damit wird nun deutlich, daß bei dieser schon immer gegebenen Wechselwirkung zwischen den methodologischen Konzepten der Naturwissenschaften einerseits, und den Wirtschaftswissenschaften andererseits, die Frage nach einem allgemeinen wissenschaftstheoretischen Modell für die gerechtfertigte Übertragung von methodologischen und inhaltlichen Einsichten von einem Gebiet ins andere einer klaren Antwort bedarf. Einen 6

v.Hayek, Theorie, 1972

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Ansatz dazu lieferte bereits die sog. "vergleichende" oder "komparative" Wissenschaftstheorie, wie sie von Paul Oppenheimer und Kurt Lewin schon in den 20er-Jahren unseres Jahrhunderts entwickelt, aber nicht mehr weiter verfolgt worden ist. Präzisiert man nun systematisch dieses Konzept einer vergleichenden Wissenschaftslehre durch eine Einschränkung auf Methodenvergleichung, dann ergeben sich verschiedene Vergleichsebenen. Für diese Vergleichsebenen hat bereits Stafford Beer 7 eine brauchbare Systematisierung geliefert, indem er drei Grade der Ähnlichkeit unterschied: 8 -

A u f einer ersten "oberflächlichen" und deshalb weitgehend ungesicherten, aber heuristisch wertvollen Vergleichsebene kann man im Sinne eines schwächsten Ahnlichkeitsgrades von einer metaphorischen Ähnlichkeit sprechen, die mehr auf eine spezielle Sicht des vergleichbaren Objektbereiches abzielt, als daß an der Realität selbst überprüfbar wäre. Solche Metaphern beherrschten, wie bereits gezeigt, das Verhältnis von biologischer und soziokultureller Evolutionstheorie wechselseitig.

-

Die zweite Vergleichsebene ist die der Analogie, die insofern präziser ist, weil auf ihr bereits die übereinstimmenden Merkmale von den nicht übereinstimmenden Merkmalen unterschieden werden und damit auch der Umfang, Wert oder die Ergiebigkeit einer Analogie festgestellt werden kann. I n diesem Sinne gibt es, wie Konrad Lorenz bemerkt hat, auch keine falsche Analogie, sondern sie kann nur mehr oder weniger detailliert und deswegen mehr oder weniger informativ sein.* Der informative oder auch heuristische Wert einer Analogie besteht aber nicht in der bloß deskriptiven Feststellung von Übereinstimmungen, sondern gerade im vorliegenden Fall des Verhältnisses von biologischer und soziokultureller Evolutionstheorie in der Rückführung solcher Analogien auf Homologien, wodurch bloß funktionelle Analogien von echten Verwandtschaftsbeziehungen unterschieden werden können. Denn der Sinn jeder A r t von Evolutionstheorie ist ja, Ähnlichkeiten auf Verwandtschaft zurückzuführen, wodurch, wie R. Riedl treffend bemerkt, "äußerliche und wesentliche Ähnlichkeiten" von einander getrennt werden. Diese Trennung bleibt intakt, auch wenn es Analogien auf homologer Basis gibt, die als H o m o l o g i e n 1 0 bezeichnet werden. I n der Zoologie sind solche Fälle wohlbekannt, wie etwa die Ähnlichkeiten zwischen Ichthyosauriern und Walen, bei denen der Grundbauplan ihrer Tetrapoden-Extremitäten homolog, der ihn abwandelnde Fischumriß aber

7 8 9 10

Beer, Decision, 1966, S. I l l f. Vgl. Semmel, Unternehmung, 1984, S. 25 f. Lorenz, Analogy, 1974 Riedl, Ordnung des Lebendigen, 1975, S. 60

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analog im Sinne einer Funktionsanalogie (Fortbewegung im Wasser) ist. Solche Analogien auf homologer Basis, die in den Übertragungsversuchen zwischen biologischer und soziokultureller Evolutionstheorie, wie etwa auch bei Stafford Beer, unbeachtet geblieben sind, halte ich für die wichtigste Verbindung zwischen beiden Gebieten. Denn darauf läßt sich die fundamentale Funktion, welche die evolutionäre Erkenntnistheorie als zweistufige Theorie zwischen der genetisch-organischen und der soziokulturellen Evolution darstellt, begründen. -

Die dritte Vergleichsebene ist nach St. Beer die der Isomorphie. Sie ist die abstrakteste aller Vergleichsebenen und dient dazu, nicht deskriptiv an den Gegenständen beider Objektbereiche, sondern zu bloß abstrakten Modellen dieser Objektbereiche jene identischen Gesetzmäßigkeiten transdisziplinärer A r t herauszuarbeiten, die sich auf die bei der Modellbildung ausgewählten Systemeigenschaften beziehen. Im vorliegenden Fall handelt es sich um die Errichtung einer universalen Evolutionstheorie, die jedoch nicht die Lösung des Problems des Verhältnisses von soziokultureller und biologischer Evolutionstheorie, sondern nur den Rahmen angibt, in dem diese Lösung konkret erfolgen kann.

Greift man nun wieder eine der schon genannten Charakteristiken des Paradigmawechsels auf, dann kann man durchaus im Sinne Kuhns sagen, daß in einem noch viel realistischeren Sinne als bei einem Paradigmawechsel in den Naturwissenschaften die Ökonomen nach ihrem Paradigmawechsel in einer anderen Welt leben: Während die Ökonomen des Newtonschen Weltbildes davon ausgingen, daß die Natur mit Hilfe der wissenschaftlichen Prinzipien der Mechanik so umzugestalten ist, daß sie den materiellen Eigeninteressen der Menschen am meisten dienlich ist, wobei der Veränderung der Natur keine Grenzen gesetzt sind, muß man jetzt davon ausgehen, daß sich heute bereits die katastrophalen Konsequenzen dieser Umgestaltung der Natur zeigen. Denn wie die "evolutionäre Erkenntnistheorie" (K. Lorenz, H . Mohr, R. Riedl, G. Vollmer) zu zeigen versucht hat, sind wir ursprünglich sowohl in unseren kognitiven wie auch moralischen Fähigkeiten nur an die "mittlere Dimension" des Mesokosmos unserer Lebenswelt adaptiert. Während sich jedoch unsere angeborene Erkenntnisfähigkeit durch Lernen und Erfahrung gesteigert hat, wofür gerade die Geschichte der Naturwissenschaften, insbesondere der Physik und Chemie und die Geschichte der Technik beredtes Zeugnis abgeben, sind wir in unserem moralischen, sozialen und wirtschaftlichem Verhalten noch weit zurückgeblieben. M i t dem Wandel sowohl der physikalischen Grundlagentheorien als auch der Entstehung und Entwicklung der biologischen Evolutionstheorie und der darin enthaltenen Vorstellung dynamischer, offener und komplexer Systeme ergibt sich aber auch eine Fülle von neuen Kon-

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zepten für die Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, die sich mit den Bezeichnungen Synergetik, Evolution, Selbstorganisation, Selbstreferenz, Selbstregulation, Entwicklung umschreiben lassen. Was daraus entsteht, ist ein neues Weltbild, das unser Verständnis in allen seinen Schichten und den dazu gehörigen wissenschaftlichen Disziplinen von Grund auf verändern wird. Das materielle Universum ist nach der modernen Physik kein mechanistisches, aus getrennten Objekten bestehendes System. Es ist vielmehr ein System von Beziehungen oder ein komplexes Netzwerk von Ereignissen. Denn die subatomaren Teilchen können nicht selbst wieder so verstanden werden, als bestünden sie aus irgendwelcher materiellen Substanz. Sie sind "Energiebündel" oder "Aktivitätsmuster". Das bedeutet, daß das moderne physikalische Weltbild die grundlegende Verknüpfung und gegenseitige Abhängigkeit aller Phänomene und zugleich ihre innere dynamische Natur zur Grundlage hat. Damit verbunden ist eine weitere Einsicht. Nämlich die grundlegende Erkenntnis, daß dynamische oder turbulente Systeme, wie bewegte Flüssigkeiten oder das Wetter, nicht nur Sonderfälle einer mechanistisch-determinierten Welt sind, sondern vielmehr die Regel. Nur eine verschwindend kleine Teilmenge aller Systeme entspricht dem Ideal der vollständigen Berechenbarkeit und der technischen Brauchbarkeit. Der größte Teil edler natürlichen Systeme, belebte und unbelebte, sind Systeme, die sich in ihren Veränderungen nicht linear verhalten. Das führt z.B. dazu, daß eine exakte Vorhersage des Wetters über Zeiträume von mehr als zwei Wochen im Prinzip ausgeschlossen ist. So führt auch das übertriebene nichtlineare exponentielle Wachstum ins Chaos. Für den menschlichen Erkenntnisapparat, der wie die evolutionäre Erkenntnistheorie gezeigt hat, an gleichmäßige Vorgänge und lineares Wachstum angepaßt ist, sind diese Phänomene der Nichtlinearität, bei denen eine kleine Veränderung zu einem bestimmten Entwicklungspunkt große Veränderungen hervorruft, nicht intuitiv erfaßbar. Die Verdoppelungszeiten, die charakteristisch für exponentielles Wachstum sind, sind deswegen so irreführend, weil die wachsende Größe lange nicht einen Wert erreicht, der Aufmerksamkeit verdient. Aber innerhalb einer einzigen Verdoppelungszeitspanne wächst dann die Größe vom halben Grenzwert bis zur endgültigen Wachstumsgrenze, wenn nicht schon vorher Mechanismen entstehen, die das Wachstum stoppen. "Nichtlinearität" ist charakteristisch für fast alle komplexen Systeme, insbesondere für lebendige Systeme und für bewußte Systeme wie menschliche Sozietäten: Das Bevölkerungswachstum, das Wirtschaftswachstum , die Informationsflut sind Beispiele aus diesem Bereich.

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Komplexe Systeme dieser Art, von denen man annehmen muß, daß sie den größten Teil dessen ausmachen, was wir die reale, belebte und unbelebte Welt nennen, lassen sich daher nicht mehr mit den klassischen Mitteln der analytischen Methode allein behandeln. Diese analytische Methode bestand darin, komplexe Probleme in Stücke zu zerschneiden und einzeln zu lösen, und sie dann wieder folgerichtig zu einem Ganzen zusammen zu setzen. Eine derartige Vorgangsweise war aber nur dort möglich und richtig, wo bestimmte Teilsysteme ohne Verlust ihrer inneren Struktur und Funktion aus dem Zusammenhang isoliert werden konnten, wie z.B. die klassischen mechanistischen Teilsysteme: Waage, Hebel, Fallrinne. Schwieriger hatte man es schon beim Planetensystem, und trotz der berühmten Versuche von Newton bis Laplace ist das Problem der Stabilität des Sonnensystems bis heute nicht geklärt. Der Verlust des klassischen mechanistisch-deterministischen Weltbildes wurde aber bereits in der Physik ersetzt durch die neue Modellvorstellung einer Ordnung hinter dem Chaos - eine neue A r t von Ordnungsbegriff, die dem real in der Welt vorhandenen Wechselspiel von Zufall und Notwendigkeit gerecht wird. Die Grundidee ist die Idee der Selbstorganisation, die bereits in mehreren Details ausgearbeitet worden ist. Die Theorie der Selbstorganisation läßt die Beschreibung von komplexen Phänomenen der Selbsterhaltung, Selbstregulierung, Selbsterneuerung, Anpassung an Umweltveränderungen zu, aber auch des Phänomens der Selbstüberschreitung, das sich in allen Entwicklungs- oder Evolutionsprozessen oder in Lernprozessen manifestiert. In dieser Reihe der selbstorganisierenden Systeme steht auch der Betrieb oder die Unternehmung. U n d zwar stellen Unternehmen, gleichgültig ob sie Dienstleistungsbetriebe oder Produktionsbetriebe sind, Untersysteme im Gesamtsystem eines Landes oder Staates dar. Die selbstorganisierenden, durch Planung und Führung unterstützten "Lernprozesse" solcher Systeme beziehen sich auf die Steigerung und Verbesserung von Produktion und Dienstleistungen. Solche Prozesse können aber nicht aus dem evolutionären Gesamtzusammenhang herausgerissen werden. Das bedeutet, daß in der Unternehmensführung mit den "darunterliegenden" Prozessen biologisch-psychologischer und soziologischer Kooperationsphänomene zu rechnen ist. I m wesentlichen lassen sich drei für die Unternehmensführung relevante evolutionäre Kooperationsstufen unterscheiden:

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- die genetische Kooperation - die neurale Kooperation - die mental-soziale Kooperation. Die genetische Kooperation bedeutet ein Zusammenwirken der Einheiten des Erbmaterials, der Gene, zu einem einheitlichen Plan, dem sog. Genom, der die körperliche und zum Teil auch seelische Konstitution des menschlichen Individuums bestimmt. Die klassische Vorstellung von der Vererbung, die in der Alltagsvorstellung bis heute noch mit dem Begriff des "Blutes" (z.B. "blaues Blut" für erblichen Adel) verknüpft ist, bestand darin, daß man glaubte, es vermische sich das ererbte Blut in der Nachkommenschaft. A u f dieser falschen Vorstellung, daß die physische Basis der Vererbung ein Kontinuum sei, ein "Blut", von dem jeder einzelne Tropfen jeweils sämtliche Eigenheiten des Organismus transportiert, baut die Blutmystik des Rassismus auf. Vermischung des "Blutes" bedeutet dann Verdünnung oder Verunreinigung mit "fremdem Blut". Gregor Mendel hat bereits phänomenologisch zeigen können, daß dem nicht so ist. Aber erst in unserem Jahrhundert war es auf der molekularen Ebene möglich, nachzuweisen, daß sich das Erbgut aus Teilelementen zusammensetzt, die in der Geschlechtszelle reihenweise angeordnet sind. Die zweite Stufe der Kooperationsphänomene, die neurale Kooperation, übertrifft an Komplexität die Stufe der genetischen Kooperation, obwohl sie selbst nur ein Produkt der ersten Stufe darstellt. Denn das genetische System stellt den Plan zum individuellen Aufbau des Gehirns bereit und realisiert auch selbst diesen Plan. Das Gehirn oder das zentrale Nervensystem ist aber selbst wiederum ein Kooperationsphänomen, das durch die Aktivitäten vieler Individuen zustande kommt (siehe Beitrag Seiteiberger). Der Ursprung dieser Vorstellung geht bereits auf die Neuronentheorie von Ramon y Cajal zurück. Seitdem weiß man, daß das Nervensystem aus Neuronen aufgebaut ist, die nicht wie andere Zellen von vornherein in einem Zellverband zusammengeschlossen sind, sondern von denen jedes Neuron für sich unabhängig sein eigenes "biologisches Leben" lebt. M i t den anderen Neuronen steht jedes Neuron durch einen eigenen Kommunikationsapparat, der von Sherrington "Synapse" genannt worden ist, in Verbindung. A u f der letzten Stufe der Kooperationsphänomene erreicht das Zusammenwirken von Individuen einen Grad von Komplexität, der mit keinem anderen Phänomen dieser Welt zu vergleichen ist. Das geht schon dadurch hervor, daß das menschliche Gehirn durch seine materielle Konstruktion (Neuronen und Nervenverbindungen durch Synapsen, die man auf 1 0 1 3

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(Neuronen und Nervenverbindungen durch Synapsen, die man auf 1 0 1 3 schätzt) theoretisch eine Anzahl von verschiedenen geistigen Zuständen erreichen könnte, welche die Anzahl der Elementarteilchen (Elektronen und Protonen) im gesamten Universum bei weitem übertrifft. Dies bedeutet letzten Endes die absolute Individualität oder Einzigartigkeit jedes menschlichen Bewußtseins. Diese Einsicht wird schon auf der Ebene der genetischen Basis des Menschen nahegelegt, wo sich bereits empirisch-naturwissenschaftlich begründbar gezeigt hat, daß jeder Mensch seiner genetischen Ausstattung nach, mit Ausnahme der monozygotischen (eineiigen) Zwillinge, individuell verschieden ist. A u f der Ebene des mentalen Systems zeigt sich jedoch, daß auch sogar eineiige Zwillinge niemals in Verschattungen der Neuronen des Gehirns und somit auch nicht in der Konfiguration des geistigen Zustands identisch sein können. Das erklärt die prinzipielle Unvorhersehbarkeit des individuellen menschlichen Handelns. A u f der anderen Seite wäre es aber auch überhaupt nicht verstehbar, daß zwischen diesen prinzipiell und absolut verschiedenen Individuen überhaupt Kommunikation und Kooperation stattfinden kann. Die Antwort auf dieses jedenfalls durch Planung und Konstruktion nicht lösbare Problem ist, daß alle diese Individuen durch ihre Entwicklung in einer Verwandtschaftsbeziehung stehen, die Ähnlichkeit und "Gesetzmäßigkeit" des Verhaltens bedingt. Das bedeutet, daß man mit einer im Rahmen eines Entwicklungsprozesses zustandegekommenen Ordnung rechnen kann und muß, auf der sich erst weitere Planung und Organisation aufbaut. Menschliche soziale Systeme sind also bereits bis zu einem sehr hohen Grad durch einen Entwicklungsprozeß biologischer und kultureller A r t vororganisiert. Sonst wäre wegen der großen Vielfalt und immensen internen Komplexität der einzelnen Individuen keine Planung und Führung möglich. A u f dieser primären, durch Entwicklungsprozesse vorgegebenen Gesetzmäßigkeit individuellen Verhaltens beruht auch die objektive oder intersubjektive Erkenntnis der Wirklichkeit, die niemals durch ein einziges Individuum allein geleistet wird. I m Modell der evolutionären Kooperationsstufen dargestellt heißt dies, daß bereits unsere Alltagserkenntnis ein Ergebnis sozialer Kooperation repräsentiert. Die soziale Konstruktion der Wirklichkeit, wie sie durch die sprachlich vermittelte Kooperation bewußter menschlicher Individuen zustande kommt, beruht auf einem mehrstufig vororganisierten Prozeß, der diese Konstruktion von vornherein einschränkt. Diese Einschränkung und Kanalisierung des menschlichen Erkennens und Handelns ist notwendig,

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weil sonst nie auf der bewußten Ebene individuellen Verhaltens, das potentiell unendlich variabel ist, irgendeine Art von Kooperation zustande käme: Die vorbewußt und ungeplant organisierten Prozesse, die eine kooperative Ähnlichkeit der Individuen erzeugen, sind sowohl - genetischer und - organischer, als auch - soziokultureller Art. Das bewußte mitteilbare Erkennen ist daher das kooperative Grundphänomen menschlichen Verhaltens: Genetisch durch einen langen evolutiven Prozeß bedingt, hat jeder Mensch eine artspezifische Ausstattung des zentralen Nervensystems (Gehirn) und der Peripherie (Sinnesorgane). Die Repräsentation der Außenwelt durch das menschliche Bewußtsein beruht auf einer artspezifischen organischen Leistung, die grundsätzlich das gleiche überindividuelle, intersubjektive Resultat mit nur geringer individueller Variation hat. Trotzdem handelt es sich hierbei nicht um eine einfache Abbildung der Wirklichkeit. In jedem individuellen Erkenntnisprozeß sind Erkenntnis und Irrtum untrennbar miteinander vermischt. Denn das subjektive innere Modell der Außenwelt besteht nicht nur aus Informationen, sondern auch aus Desinformationen. Desinformationen sind also solche nur nachträglich, nach einem Korrekturprozeß zu erkennen. Sie sind gewissermaßen topologische Verzerrungen der Außenwelt, die im Modell mit den nichtverzerrten Informationen integriert sind. Das im Erkenntnisprozeß aufgebaute Modell der Außenwelt gleicht daher einer Landkarte, in der es zwar die einzelnen Orte wirklich gibt, die jedoch in ihrer Lage zueinander verschoben sind. Aber diese Verschiebung macht die Karte nicht total falsch, weil man auf den Wegen, die in dieser Karte eingezeichnet sind, tatsächlich diese Orte erreichen kann. Das subjektive Modell der Außenwelt kann aber bereits dadurch auf die höhere Ebene der Intersubjektivität erhoben werden, daß das individuelle konkrete Erkenntnissubjekt in eine Kommunikationsverbindung mit anderen Subjekten tritt. Dadurch ergibt sich eine art spezifische soziale Konstruktion der Wirklichkeit. Das erkennende Individuum kann auf diese Weise aus dem Kerker der eigenen gehirnbedingten Subjektivität ausbrechen. Die Kommunikation ist also jener weite Prozeß der menschlichen Erkenntnisgewinnimg, der zumindest im Sinne der Intersubjektivität eine weitere Realitätsgarantie liefert. Das ursprüngliche Medium der direkten personellen Kommunikation ist die natürliche, gesprochene Sprache, die selbst unter dem Selektionsdruck der Verständigung der einzelnen Erkenntnis-

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Subjekte zustande gekommen ist. Wie Berger und Luckmann es ausgedrückt haben, gleicht das Alltagsleben des Menschen dem Rattern einer Konversationsmaschine, die ihm unentwegt seine subjektive Wirklichkeit garantiert, modifiziert und rekonstruiert. Von der direkten interpersonellen Kommunikation ist jedoch die indirekte Kommunikation zu unterscheiden, die erst mit der Erfindung der Schrift gegeben war. Diese neue A r t der Informationsquelle verbindet die Individuen nicht nur synchron im selben Zeitraum sondern auch diachron die Individuen eines Zeitraums mit der Vergangenheit. Aber ebenso wie es im subjektiven Bereich der individuellen Repräsentation Irrtum oder Desinformation gibt, so gibt es auch im Bereich der Kultur die kollektive Desinformation, von der die in der Geschichte der Menschheit aufgetretenen Ideologien Zeugnis ablegen. Sowohl mit der direkten interpersonellen Kommunikation als auch mit der indirekten Kommunikation über das Medium der geschriebenen Sprache ergibt sich ein neuer Replikationsmechanismus, der zu einer ganz anderen Ablaufgeschwindigkeit führt, weil er nicht mehr wie die genetische Information an den Generationswechsel gebunden ist. Für diese neuen Reproduktionseinheiten wurden in der Theorie der soziokulturellen Evolution neue Begriffe in Analogie zum Genbegriff geprägt. Die Soziobiologen 1 1 sprachen von "Kulturgenen", Richard Dawkins konstruierte den Begriff "Meme" (von lat. memoria - Gedächtnis und frz. même - selbst), womit er ausdrücken wollte, daß diese neue Art von Replikatoren eine Funktion des menschlichen Bewußtseins sind. Damit ergibt sich die Möglichkeit, von "Mem-Mutation" ( = Erfindung) und von "Mem-Pool" ( = Insgesamt aller Wissenseinheiten) zu sprechen. A u f der wirtschaftswissenschaftlich-organisationstheoretischen Ebene wurde von Segler (1984) die Bezeichnung "Comps" (von "competence") vorgeschlagen. 12 Comps sind die "Gene" der menschlichen Organisationen; zusammen bilden sie den Genotyp einer individuellen Organisation. Alle A r ten von Comps unterliegen wie Gene evolutorischen Prozessen; sie werden bewertet, reproduziert, eliminiert, variiert und selektiert. Genauso wie man aber auch bezüglich des Begriffes "Mem" fragen muß, welche über eine bloße Metaphorik hinausgehende Bedeutung in der Verwendung solcher neuen evolutionstheoretischen Grundbegriffe steckt, muß man auch den Begriff "Comp" auf seine Problemlösungseffizienz hin untersuchen. Eine solche Problemlösungseffizienz kommt diesem Begriff Comp als Einheit der Evolution menschlicher Organisationen zu, wenn man auch

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Lumsden/Wilson, Gene, 1981 Siehe den Beitrag von Kieser

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die funktionalen Modifikationen angibt, die er gegenüber dem Genbegriff besitzt. A n dieser Stelle zeigt sich, daß auch bezüglich des Evolutionsmechanismus die klassische Darwinsche Selektionstheorie nicht ausreicht. Abgesehen von dem bereits erwähnten Unterschied in der Ablaufgeschwindigkeit der soziokulturellen Evolution, die nicht mehr an den Generationswechsel gebunden ist, muß auch das Selektionskonzept verändert werden. In der Selektion der Lebewesen wird notgedrungen das ganze Individuum eliminiert. Bei menschlichen Organisationen ist es nicht immer so, daß das ganze Unternehmen, das nicht mehr konkurrenzfähig ist, eliminiert wird: "Die organisatorische Evolution ist vor allem durch die Erhöhung der Reproduktionschancen von einzelnen Comps mit überlegener Problemlösungskraft charakterisiert... Es kann zur Elimination von Comps geringerer Problemlösungskraft kommen, ohne daß ganze Organisationen eliminiert werden" (Kieser). Denn Organisationen können auch neue "artfremde" Comps in ihren Comp-Pool aufnehmen und im Gegensatz zum biologischen Bereich sind auch diese Hybridformen reproduktionsfähig. Aus all diesen Überlegungen zeigt sich, daß die Übertragung der biologischen Evolutionstheorie auf den soziokulturellen Bereich zugleich auch deren Umkonstruktion in wesentlichen Punkten ist; d.h. es gibt auch so etwas wie eine Evolution der Evolutionsmechanismen in Richtung höherer Reproduktionsgeschwindigkeit, Variation, Komplexität und innerer Differenzierung. Kehrt man zum historischen Ausgangspunkt einer Theorie der soziokulturellen Evolution zurück, so kann man auch deutlich erkennen, daß zu ihrem Verständnis vor allem die Grundidee Spencers von der Komplexitätssteigerung eine unentbehrliche, wenn auch nicht hinreichende Erklärung liefert. Denn die Spencersche Form "from incoherent homogenity to coherent heterogenity" beschreibt Prozesse der selbsttätigen Erhaltung eines Systems in seiner Umwelt, das dank seiner zunehmenden Komplexität überlebt. Wie bereits Freeman 1 3 festgestellt hat, bedeutet das, daß die Evolution durch die Aktivität der sich selbst verändernden Organismen und nicht primär durch natürliche Selektion, d.h. durch die Umwelt gesteuert wird. Trotzdem wäre es verfehlt, Darwin als bloßen Selektionisten Spencer gegenüberzustellen, der mit seinen Überlegungen zur Steigerung der Komplexität aufgrund größerer Kohärenz verschiedenartiger Elemente wichtige Einsichten der modernen Systemtheorie vorwegnahm. Denn auch Darwin hatte sich, zumindest was die soziokulturelle Evolution anbelangt, keineswegs nur auf das Selektionsprinzip beschränkt. Noch deutlicher als Spencer 13

Freeman, Evolutionary Theories, 1974

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kennzeichnet nämlich Darwin den Prozeß der sozialen und moralischen Entwicklung des Menschen als ein Kooperationsphänomen im heutigen Sinn, dem sich kein Mitglied einer Gemeinschaft entziehen kann. Neben dem Prinzip des "Kampfes" ums Dasein gibt es also auch das Prinzip des "Zusammenwirkens" der Glieder einer Gemeinschaft, und damit wird bereits der Grund zu einer Theorie der Selbstorganisation gelegt, die sich mit dem Phänomen der Selbsterhaltung, Selbstregelung aber auch der Selbstüberschreitung beschäftigt, die mit der Vorstellung des Fortschritts der Menschheit notwendig verbunden ist. A m Schluß soll jedoch noch eine Überlegung angeführt werden, die zwar dem "Paradigmawechsel" seinen ursprünglichen, von T.S. Kuhn betonten revolutionären Charakter nimmt, aber den eigentlichen Fortschritt in der Entwicklung der Methodologie der Wirtschaftswissenschaften, der durch das Evolutionskonzept erreicht worden ist, umso deutlicher macht: Der Paradigmawechsel von der klassischen Mechanik zur biologischen Evolutionstheorie, der sich in den Wirtschaftswissenschaften als Wechsel des wissenschaftlichen Vorbildes vollzieht, bedeutet keineswegs eine vollständige Beseitigung des alten Paradigmas, weder im Sinn einer bereits veralteten und heute nicht mehr gültigen Vorstellung noch im Sinn einer nun als absolut falsch erkannten Theorie. Es ist der Vorteil des Evolutionsparadigmas, die anderen Vorstellungen in sich zu enthalten, sowohl im synchronen als auch diachronen Sinn. Wie es tatsächlich in der Evolution der Lebewesen sehr einfache, maschinenartig auf wenige Reize reagierende Lebewesen gegeben hat und heute noch gibt (wie z.B. Amöben, Zecken usw.), so hat es sowohl in historischen Zeiten als auch in der jüngsten Vergangenheit einfache maschinenartige menschliche Organisationen gegeben und gibt sie auch heute noch - Organisationen, die wie ein Uhrwerk funktionieren, weil sie so ähnliche präzise, eng umschriebene Funktionen ausüben wie z.B. die Besatzung eines Schiffes, die Belegschaft eines kleinen Spezialbetriebes usw., und deshalb auch nach dem Theoriemuster der klassischen Mechanik als fast total planbare, deterministische Systeme behandelt werden können, wenn man von der Komplexität der in ihnen agierenden menschlichen Individuen abstrahiert. Man kann sogar sagen, daß diese klassischen Erklärungsmuster notwendig sind, um die Entwicklung eines Unternehmens korrekt in allen seinen Phasen zu beschreiben. Das aber bedeutet, daß auch die klassische mechanistische Organisationstheorie mit ihrem autokratischen Führungskonzept durchaus eine korrekte Beschreibung der Gründungsphase eines Unternehmens liefern kann. Erst mit der Vergrößerung eines Betriebes, seiner internen Differenzierung und Verkomplizierung seiner externen Situation, müssen auch weitere und differenziertere Erklärungsmechanismen heran-

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gezogen werden. Der Vorteil des neuen Paradigmas, daß sich sowohl mit dem Begriff "Evolution" als auch dem Begriff der "Selbstorganisation" bezeichnen läßt, liegt aber gerade darin, daß die damit beschriebene A r t von nichtmechanistischer oder transklassischer Ordnung beliebige Grade der Komplexität annehmen kann, die nötig sind, um mit einer ständig anwachsenden Umweltkomplexität fertig zu werden. A n diesem Punkt aber versagen alle klassisch-deterministischen Konzepte, die bei steigender Komplexität sehr schnell an die Grenze ihres Erklärungspotentials kommen.

Die Evolution des Gehirns und die Hirnleistungen des Menschen Von Franz Seiteiberger, Wien I n einer Zeit, in der alles in Kosmos und Menschenleben vom evolutionistischen Standpunkt aus ins Auge gefaßt wird, ist es legitim und gewiß nützlich, auch das spätneuzeitliche Organisationsphänomen des Managements in dieser Weise zu befragen und insbesondere mit der Evolution des Gehirns, der faszinierendsten Organisationsform unter der Sonne, zu konfrontieren. Nun ist die Evolution des Gehirns nur ein Teilgebiet der Gesamtevolution und mit einer Reihe von Sonderproblemen belastet, wofür nicht nur die ungemeine Komplexität dieses Organs verantwortlich ist. Die Hirnforschung wirft nämlich mehr Fragen auf, als sie heute beantworten kann. Es treten jedoch die Konturen und Details dieser für unsere Existenz entscheidenden Leitungsstruktur allmählich deutlicher hervor: 1 Das Leben auf der Erde tritt in Form von lebenden Individuen auf, deren Innenwelt über eine Membran, eine Haut, mit der Außenwelt in energetischem, stofflichem und informationellem Austausch steht. Der Informationsaustausch besteht bei den einzelligen Lebewesen darin, daß ein von außen eindringender Reiz zu einer Zustandsveränderung der inneren Situation und diese wieder zu einer passenden Reizantwort des Einzellers, z.B. in Form einer Änderung der Gestalt, einer Bewegung zur Reizquelle hin oder vom Reiz weg, führt. Es handelt sich also um eine Kommunikation zwischen einem Subsystem (Lebewesen) und seiner Umwelt (Ökosystem) in Form von rekursiven Prozessen. Diesen kommunikativen Vorgang zwischen reizbedingter interner Zustandsänderung und Bewegungsantwort, bzw. Reaktion nach außen, bezeichnet man auch als Verhalten. Schon Einzeller verfügen über verschiedene Verhaltensweisen. Bei den mehrzelligen Lebewesen kommt es im Rahmen der Arbeitsteilung des Organismus zur Ausbildung einer für die Aufgaben des Informationsaustausches spezialisierten Zelle, nämlich der Nervenzelle. I n ihr erfolgen auf Reize jene Zustandsänderungen, die man als Erregung bezeichnet und die in passende Äußerungen des Organismus umgesetzt werden. Die Gestalt der Nervenzelle offenbart ihre Funktion: Die Reizaufnahme besorgen kurze Zellfortsätze (die Dendriten), die Erregungsleitungen über verschiedene Distanzen, in der Richtung vom Zelleib weg, der lange Nervenzellfortsatz (das Axon), die Weitergabe dessen Endverzweigungen (die Terminalen). Die Erregungsübertragung geschieht punktuell in den Kontraststrukturebenen (den Synapsen) vermittels chemischer Substanzen (den Transmittern), und wird 1

Vgl. Hemmer, Hirnentwicklung, 1982; Brakenberg, Gehirngespinste, 1973; Delbrück, Wahrheit, 1986

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von elektrischen Veränderungen an der Nervenzellmembran begleitet und gefolgt. 2 Dieses Bau- und Funktionsprinzip der Nervenzelle wurde auch in den höchstentwickelten nervösen Einrichtungen unverändert beibehalten. Der Informationsaustausch, d.h. die Umsetzung von Merkmalen der Umwelt in eine Verhaltensantwort des Organismus, bedarf in einfachster Form nur einer Nervenzelle oder in sparsamer Ausführung zweier Nervenzellen; einer afferenten für die Inputinformation, die direkt auf die zweite für die Outputinstruktion übertragen wird. Das einfachste nervöse System besteht aus einer Kette dreier Nervenzellen, von denen man den beiden äußeren die Funktion des Reiz- bzw. Informationstransportes, der mittleren, intermediären aber bereits die Informationsverarbeitung bzw. die der Informationsverarbeitung bzw. eines Rechenelementes zusprechen kann. Als früheste nervöse Organisation treten bei den radial-symmetrischen Mehrzellern nervöse Netzwerke auf, die aus vielen, durch ihre Fortsätze miteinander verbundenen Nervenzellen bestehen. Zwischen Input und Output tritt damit die Tätigkeit mehrerer intermediärer Nervenzellen, die aus der gegebenen Informationskonstellation ein angepaßtes Verhalten gestalten. Diese assoziativen oder intermediären Nervenzellen bilden auf den höheren Entwicklungsstufen dicht vernetzte Zellanhäufungen (Nervenzellknoten, Ganglien, Kerne), in denen eine integrative Verarbeitung der eintreffenden Informationsvielfalt geleistet wird. Es kommt somit zur Bildung zentraler Nervensysteme. System ist dabei in einem technischen Sinn zu verstehen, da die Nervenzellen miteinander zu einer Funktionseinheit verbunden sind, in der die Aktivität jedes einzelnen Systemelements vom Einfluß der anderen abhängt und ihrerseits Einfluß auf andere Elemente ausübt. Nervensysteme sind also im Wortsinn biologische Systeme der Informationsverarbeitung zum Zweck der Verhaltenssteuerung. In der Phylogenese der Mehrzeller wurden für die selektive Aufnahme bestimmter Reizqualitäten die Sinnesorgane entwickelt, die den afferenten Nervenzellen vorgeschaltet sind. Zunehmend wurden nicht nur Reize aus der Umwelt, sondern auch aus dem eigenen Körper der zentralen Verarbeitung als Input zugeleitet. 3 Die Tendenz zur Zentralisierung der nervösen Verhaltenssteuerung und damit zur relativen Größenzunahme des Zentralorgans kennzeichnet auch den Verlauf der Evolution bei den Wirbeltieren, die vor etwa 500 Millionen Jahren einsetzte und die die Anpassimg an komplizierte Umweltbedingungen ermöglichte.

2 3

Vgl. Mountcastle, Principle, 1978; Seitelberger, Gehirnevolution, 1986, S. 143-156 Vgl. Seitelberger, Informationsverarbeitung, 1986, S. 27-35; ders., Neurobiologische Aspekte, 1982, S. 174-184

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Der Organismus der Wirbeltiere ist axial-symmetrisch gebaut und polar zwischen Ein- und Ausgang des Verdauungskanals differenziert. Ihr Zentralnervensystem (ZNS) liegt in der Mittellinie und weist eine Konzentration von Steuerungsinstanzen am vorderen Pol auf, um den die Einrichtungen für das Erkennen, Ergreifen und Einnehmen der Nahrung sowie für die Fortbewegung angeordnet sind. Jeder Evolutionsschritt in Zusammenhang mit dem Erwerb eines neues Sinngerätes, eines Freß- oder Verteidigungswerkzeuges , geht mit der Bereitstellung einer zusätzlichen komplexeren nervösen Einrichtung zur Integration aller verfügbaren Informationen einher, die gemäß einem allgemeinen ökonomischen Evolutionsprinzip nicht etwa die älteren Strukturen ersetzt, sondern sie überbaut, wobei sie deren Funktion unverändert oder modifiziert in die höhere Leistungsstufe der neuen Integrationsebene mitaufnimmt. Diese Suprastrukturen wachsen also am vorderen Pol zu und fassen alle tieferen Systemebenen mittels dichter nervöser Verbindungen kontrollierend zusammen. Man spricht vom ZNS als von einem Gehirn, wenn bei den höheren Wirbeltieren, den Säugern, die bisher entstandenen fünf Integrationsebenen als distinkte Hirnanteile ausgeprägt vorhanden sind. A u f Einzelheiten des Gehirnbaues kann in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. 4 M i t der für unser Thema vor allem wichtigen höchsten Integrationsebene, dem für die menschliche Seinsweise bestimmenden Großhirn, werden wir uns später näher befassen. Vorher wird ein Abriß der Gehimentwicklung der höheren Arten gegeben. Ein entscheidender Schritt in der Gehirnevolution erfolgte vor ungefähr 200 bis 250 Millionen Jahren, als die reptilischen Vorfahren der Säugetiere sich anschickten, die neue Umwelt des Lebens auf dem Lande zu betreten, und sich als Nachttiere anpassen mußten, weil ihre übermächtigen Feinde in diesem Lebensraum, die Saurier, ausgesprochene Tagtiere waren. Dabei waren vor allem neue Einrichtungen für die räumliche Entfernungsmessung zu entwickeln. Die Sinnesorgane des Hörens und des Riechens wurden für diese Zwecke ausgebaut und die erforderliche nervöse Verarbeitungseinrichtung im Zentralnervensystem lokalisiert. Das bedeutete den wichtigen Schritt der Enzephalisation von Funktionen, d.h. die Verlagerung der Informationsverarbeitung aus der Peripherie, also dem Bereich des Sinnesorgans, in das ZNS mit dem Resultat einer Vergrößerung desselben. Gleichzeitig damit wurde die Netzhaut des Auges durch den Erwerb des Stäbchenapparates für das Nachtsehen angepaßt. Ein weiterer Enzephalisationsschritt ereignete sich vor ca. 64 Millionen Jahren, als die Säugetiere in Tagesnischen eindrangen, wobei eine weitere 4

Vgl. Seiteiberger, Gehirnevolution, 1986, S. 143 ff.; Hemmer, Hirnentwicklung, 1982; Jerison, Evolution, 1973

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Vervollkommnung ihres Sehapparates und eine erhöhte Zusammenarbeit mit dem Hör- und Riechsystem in neugebildeten Regionen der Großhirnrinde im Sinne der sogenannten Kortikalisation von Funktionen erfolgte. In Zusammenarbeit von Gesicht, Gehör und Geruch wurde es möglich, von ein- und derselben Stelle im Raum verschiedene Arten von Informationen zu erhalten und auf einen gemeinsamen lokalisierten Eigenschaftsträger, einen Gegenstand zu beziehen. Dank der zeitlich geordneten Organisation des Gehörs konnten ferner bestimmte Objekte nunmehr nicht nur im Raum, sondern auch als umschriebene Zeitgestalten festgestellt werden. Aber erst in der Geschichte der Primaten, seit ungefähr 50 Millionen Jahren, wurde das Verhalten konsequent im ZNS zentralisiert, also enzephalisiert und vor allem kortikalisiert.Die Primaten entwickelten für das Leben im Wald, im dreidimensionalen Raum der Bäume, ein ausgeprägtes optisches Verhalten mit binokularem räumlichen Sehen und Farbensehen, sowie genauer Koordination von Auge und Hand. Hingegen wurde das periphere Riechsystem nicht weiter entwickelt, während das große zentrale Riechhim andere Funktionen übernahm, die zu Emotion, Motivation und Gedächtnis Beziehung haben. Von der Superfamilie der Hominoiden (menschenähnliche Affen) zweigte sich die Familie der Hominiden, der unmittelbaren Ahnen des Menschen, vor ungefähr 20-15 Millionen Jahren ab, verließ die Wälder und richtete sich in der neuen Umgebung einer offenen Landschaft ein. I n diesem Raum stellte sich den Primaten als gruppenbildende und in Gruppen jagende Lebewesen die Aufgabe, die Orientierung in dem weiten flachen Gelände sicherzustellen. Dazu adaptierten sich ihr Gehör und ihre Lautgebung, indem zur Verständigung über die eigene räumliche Position, die lokale Situation und den Aktionsverlauf zwischen den Mitgliedern der Gruppe Lautfolgen abgegeben, lokalisiert und verstanden wurden. Eine solche Elementarsprache tauchte vermutlich bei den Australopithecinen, kleinen Vormenschen, bereits vor etwa 4 Millionen Jahren auf und dürfte den Ursprung der menschlichen Sprache bilden. Schon aus diesen Entstehungsbindungen erscheint es offensichtlich, daß sprachliche Kommunikation eher auf die Repräsentation und die Mitteilung über Sachwirklichkeiten hinweist als auf die Signalfunktion zur Auslösung emotionaler Reaktionen. Die Sprache ist vor allem der Erkenntnis im Sinn der Erfahrungssicherung (Kognition) gewidmet, wozu ausgedehnte kortikale nervöse Netzwerke erforderlich sind. M i t der Bildung der betreffenden Strukturen erreichte das Gehirn der Hominiden bereits ein größeres Gewicht, als es die heute lebenden menschenähnlichen Affen aus der Familie der Pongiden aufweisen, nämlich ca. 300 g. Für den vielschichtigen Prozeß der Menschwerdung ist die Erhöhung des Hirngewichts aber nur eine Determinante. Die andere,

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vermutlich entscheidendere und frühere, ist die volle Aufrichtung des Körpers, die mit dem Eintritt der früheren Hominiden in eine offene Landschaft erfolgt war. Damit wurde die Aufgabe der Fortbewegung den Beinen überlassen. Die Arme wurden von dieser Aufgabe entlastet und für das Greifen und die Zubereitung der Nahrung freigemacht, sowie für andere Formen des Gebrauchs der Hände, also des Handelns, z.B. für die Erzeugung von Werkzeugen. I n Verbindung damit wurde der Mund und das Gesicht von der Freßfunktion entlastet und schließlich für die kommunikativen Funktionen des mimischen Ausdrucks und der Sprache verfügbar gemacht. Diese Erschließung neuer Tätigkeitsgebiete für die Hand und das Gesicht übte offenbar einen enormen selektiven Druck auf die Vormenschen aus, die riesige Anzahl von Möglichkeiten, die in der Betätigung dieser Körperteile virtuell vorhanden sind, zur Selbsterhaltung und Vermehrung der A r t zu nutzen. So erhöhte sich in der im Vergleich mit anderen evolutionären Veränderungen sehr kurzen Zeit der letzten 4 Millionen Jahre das Gehirngewicht der Hominiden um das 4-fache. Der erste Repräsentant des Genus homo, nämlich der Homo habilis, erschien vor ca. 2 Millionen Jahren mit einem Hirngewicht von etwa 600 g. Vor ca. 1 Million Jahren erreichte der Homo erectus ein Hirngewicht von etwa 1000 g. Die Neandertaler, die vor 100000 Jahren lebten, hatten mit mehr als 1500 g ein sehr schweres Gehirn. Der Homo sapiens, die gegenwärtige Spezies des Menschen, erschien vor etwa 40000 Jahren mit einem mittleren Gehirngewicht von etwa 1400 g und wurde das erste Lebewesen, das sich über die gesamte Erde ausbreitete. Wenn man auf diese letzte Evolutionsphase des Menschen blickt, erkennt man das einzigartige Phänomen, daß sich in ihr ein allgemeiner Trend der Evolution geradezu in sein Gegenteil verkehrt, nämlich der Trend zur Spezialisierung der organischen Ausstattung zwecks Anpassung an eine gegebene Umwelt. Die Entlastung der Hand und des Gesichts sind nämlich nicht Ereignisse der Spezialisierung, sondern der physischen Entspezialisierung. Andere Beispiele sind der Verlust des Haarkleides und die dauernde Fortpflanzungsbereitschaft. Gleichzeitig gingen viele spezialisierte, genetisch gewährleistete Programme des Verhaltens progressiv verloren, so daß das menschliche Verhalten nahezu vollkommen durch individuell erworbene, d.h. erlernte und sozial weitergegebene Programme beherrscht wird. Das ist der Grund, warum man den Menschen auch als "Mängelwesen" charakterisierte. Entspezialisierung erwies sich jedoch in diesem Zweig der Evolution nicht als ein negatives Moment, sondern im Gegenteil als eine höchst fruchtbare Quelle neuer Fähigkeiten, die durch ein Gehirn gewährleistet wurden, das in der Lage war, angemessenes Verhalten in selbstregulierten Instruktionen zu erlernen. Vom Beginn der Evolution an kann man

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nämlich auch einen der Spezialisierung anscheinend entgegenwirkenden Trend des Lernens identifizieren, d.h. des Gewinns von Modifikationen und Erweiterungen des individuellen Verhaltens durch die Einprägung von Instruktionen aus einzelnen, temporär erlebten Ereignissen und Situationen in die Verhaltensmuster. Lernen ist in diesem Sinn eine Eigenschaft aller Lebewesen, die aber in der Nervenzelle eine Spezialeinrichtung gewann. Durch die Evolution von Nervensystemen und besonders von Gehirnen wurde schließlich eine organische Struktur mit höchster Lernfähigkeit, geradezu ein Lernorgan hervorgebracht. Lernen aus den wechselnden Situationen des individuellen Lebens bedeutet Offenheit, Flexibilität und vermehrte Anpassungsfähigkeit an die dauernden Veränderungen in der Umwelt. In dieser besonderen Hinsicht repräsentiert Lernen den evolutionären Trend zur Entspezialisierung in funktionaler Hinsicht. Während Spezialisierung oft in evolutionäre Sackgassen führt, stellt Entspezialisierung Möglichkeiten für adaptive evolutive Veränderungen bereit. Dies bewirkt in der Primatenevolution einen starken Selektionsdruck auf physische Entspezialisierung, verbunden mit einer Erhöhung der Lernfähigkeit. So wurde in einem einzigartigen Weg in der Evolution der Hominiden der Fortschritt zu einer optimalen Anpassung nicht durch generelle Spezialisierung, sondern durch Hereinnahme bestimmter Entspezialisierungen im Sinne einer adaptiven Spezialisierungsfähigkeit erreicht, quasi in einer Spezialisierung für das Mögliche, das Neue und Nichtvorhersehbare, wie sie in der Lernfähigkeit der nervösen Systeme, besonders des Gehirns, gegeben ist. Die Spezialisierung in dieser Evolutionsphase konzentrierte sich in besonders wirksamer Weise auf die Struktur des Organs, auf den Gehirnbau, dessen jüngster Komplexitätszuwachs überhaupt als das spektakulärste Ereignis der Evolution angesehen werden darf. 5 In diesem Zusammenhang soll auch betont werden, daß die dabei ermöglichte Entwicklung der Sprache ihrerseits die Lernprozesse enorm erleichterte, sowie ihre Effizienz erhöhte und so eine der Voraussetzungen für die menschlichen kulturellen Errungenschaften schuf. Wir charakterisierten eingangs das Gehirn als biologisches System der Informationsverarbeitung zum Zweck der Verhaltenssteuerung. Der Begriff Information bedeutet in diesem Zusammenhang eine Nachricht, die eine für den Empfänger belangvolle Neuigkeit enthält. I n der Biologie, im Verhalten, bedeutet Information die Verbindung zwischen Lebewesen und Umwelt in Form eines Austausches von Wirklichkeitsmerkmalen. Die Sinnesorgane nehmen als Rezeptoren bestimmte Merkmale von der A r t einer Nachricht aus der Umwelt auf und leiten sie über das efferente Nervensystem dem zentralen Nervensystem zur Verarbeitung zu; deren Ergebnis wird über das 5

Vgl. Jenson, Evolution, 1973; Lorenz, Rückseite des Spiegels, 1975

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efferente Nervensystem und seine Erfolgsorgane, vor allem die Muskulatur, wieder als Nachricht an die Umwelt abgegeben. Informationen werden in den Rezeptoren zu Signalen bzw. Signalmustern umgewandelt und in dieser Form auch zentral verarbeitet. Zur Umformung zwischen Nachricht und Signal dient ein Zeichenschlüssel, ein sogenannter Code. Man spricht von Codierung und Decodierung der Information. I m Nervensystem sind alle Informationen und ihre Verarbeitungsprodukte in Signalen verschlüsselt, die wieder aus verschieden schnellen Folgen und Anordnungen einer einfachen neuralen Elementarerregung, nämlich des sogenannten Aktionspotentials bestehen. Leider ist es in diesem Zusammenhang nicht möglich, näher auf die Informationsverarbeitung im Zentralnervensystem einzugehen. 6 Man muß betonen, daß das, was im ZNS geschieht, von den affizierenden Einflüssen der Umwelt grundlegend verschieden ist: die neurophysiologischen Vorgänge haben mit den physikalischen Merkmalen von Gravitation, elektromagnetischer und Wärmestrahlung nichts zu tun, sondern sind systemeigene Tätigkeiten, d.h. neurale Erregungsformen, in deren raumzeitlicher Konfiguration einige wenige Merkmale der Umwelt als Information symbolisch repräsentiert sind und die wir nicht als solche registrieren, sondern subjektiv als Licht, Farben, Töne, Wärme und Schmerz empfinden. Diese Erlebnisqualitäten entstehen durch die Tätigkeiten des Nervensystems und nach seinen Regeln. Wir haben keinen direkten Zugang zur Welt, sondern wir stellen sie uns vor. Ihre Objektivität ist uns daher nur als (qualitativ unbezogenes) Gehirnkonstrukt vermittelt; sie ist kein A b b i l d der Wirklichkeit, sondern eine Repräsentantin eigener Art, deren Gestaltungskonzept uns nicht zugänglich ist. I m Bewußtsein, in dem uns die Welt erscheint, erhalten wir nämlich auch keine Auskünfte über die organische Hirntätigkeit, sondern sozusagen nur zensurierte Resultatsberichte. Die Leistungspotenz des Gehirns befähigt uns aber, in der an sich nicht unmittelbar erfahrbaren Welt ein auskömmliches Leben zu führen, eine wirklichkeitsnahe Erkenntnis zu erlangen und auf diese Weise die rein natürlichen Grenzen unserer Erfahrungsbedingungen erfolgreich zu überschreiten. In letzter Zeit wird häufig die These des Philosophen Maturana zitiert: Er behauptet die völlige Abgeschlossenheit des menschlichen Erkenntnissystems und daher die Unerkennbarkeit der Wirklichkeit. Er leugnet die Tatsache des Informationsaustausches mit der Welt und vermeidet mit pedantischer Konsequenz die Begriffe "Information" und "Repräsentation"; er sieht im Organismus nämlich ein geschlossenes System, eine völlig determinierte Maschine, deren kognitiver Bereich, die sog. "Autopoiese" (Selbstherstellung), ihre Homöostase erhalte. Erkenntnis beschränke sich auf Be6

Vgl. Hassenstein, Kybernetik, 1970

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Schreibungen innerhalb des Systems. M i t einem Wort, Maturana ernennt das Subjekt, das sich, wie wir sahen, aus informationsvermittelten Wirklichkeitsfragmenten die objektive Welt modellhaft rekonstruiert, zwar zum Schöpfer, aber zugleich zum unerlösbaren Gefangenen seiner monadischen Scheinwelt, die auch nicht den Trost einer göttlich prästabilierten Harmonisierung der isolierten Einzelexistenzen genießt. Wir haben hier die agnostisch-solipsistische Variante eines strukturalistischen Materialismus vor uns, der den rationalen Erkenntnisstand der Naturwissenschaften nicht zur Kenntnis nimmt bzw. ihm offen widerspricht: eigentlich eine spekulative Metaphysik. 7 Wie Information überhaupt, besitzt auch die im Gehirn behandelte Information kein organisch-materielles Substrat, sondern besteht in den Mustern der im Trägerorgan ablaufenden, codierten dynamischen Erregungsprozesse, also in räumlich-zeitlichen Signalkonfigurationen, die man im technischen Sprachgebrauch als Programm bezeichnet. Grundsätzlich sind die Programme hinsichtlich ihrer Form und ihres Inhalts vom benutzten Gerät unabhängig, da sie allein durch die Verknüpfungsregeln der Signale, ihre Anordnung und ihre Abfolge bestimmt werden. Je mehr Verknüpfungsmöglichkeiten aber ein Verarbeitungsgerät erlaubt, desto schwierigere Programme kann es durchführen. Auf das Gehirn bezogen bedeutet dies, daß wir angesichts seiner Komplexität eine unfaßbare Vielgestaltigkeit und Vielfalt der ihm möglichen Programme und damit eine enorme Leistungskapazität voraussetzen müssen, gerade auch für jene Leistungen, die dem spezifisch menschlichen Verhalten zugrunde liegen und deren exakte Beschreibung nur in höchst begrenztem Umfang möglich, in vollständiger Form aber offenbar unmöglich ist. Weiters folgt daraus, daß die menschlichen Verhaltensprogramme durch Untersuchungen des Trägerorgans Gehirn, etwa durch anatomische Zerlegung des Gehirns und Erstellung eines Schaltplans der Nervenzellen oder durch komplette Registrierung der neurophysiologischen Impulse, nicht vollständig erklärt werden können, weil alle diese Methoden nur das Gerät und seine apparative Tätigkeit beschreiben, nicht aber Einblick in seine eigentliche Leistung gewähren, die auf der dem Organischen enthobenen Ebene der Gehimleistungsprodukte in Form dynamischer Programmstrukturen der Informationsverarbeitung gelegen ist. Die Beschreibung des Verhaltens als Gehirnleistung erfordert demnach die Unterscheidung von zwei kategorial verschiedenen Aspekten. Der eine betrifft die A r t und Folge der physischen Vorgänge im Gehirn, der andere den Gestaltungsplan des Tätigkeitsproduktes. Diese beiden Aspekte sind in einem gegeben. Es besteht aber zwischen ihnen keine unmittelbare Abhängigkeit. Man kann den einen Aspekt in die Kategorie der Energie, den an7

Maturana, Organisation, 1982

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deren in die der Ordnung einreihen, oder den einen dem Bereich der Kausalität, den anderen dem der Finalität zurechnen. Die Hirnforschung ist darin sehr erfolgreich, das Instrument Gehirn und seine physikalisch-chemischen Tätigkeiten zu entschlüsseln; sie hat aber keinen unmittelbaren Zugang zur Komposition und dem Bedeutungsgehalt der Verhaltensprogramme, die dieses Instrument nicht nur durchführt, sondern auch selbst hervorbringt. Die Autonomie dieses Bereiches erscheint im Bewußtsein, insbesondere in der menschlichen Form des Ich-Bewußtseins, der auf Erkenntnis gestützten Entscheidungskompetenz und der Selbstbestimmung des Handelns. Die naturwissenschaftliche Hirnforschung läßt die Integrität des subjektiven psychischen Bereiches unangetastet. Ihre Aufgabe ist es aber, die unverzichtbaren Bedingungen für die geistigen Leistungen in der natürlichen Beschaffenheit des Organes aufzudecken. Die Leistungskapazität der Informationsverarbeitung im menschlichen Gehirn wird wesentlich von der Großhirnrinde gewährleistet. Sie soll in diesem Zusammenhang nur kurz behandelt werden: Die Erforschung des Feinbaus der Großhirnrinde brachte das zunächst überraschende Ergebnis, daß sie aus genormten zylindrischen Bauteilen, sogenannten Modulen, aufgebaut ist. Den Modul kann man in unserem technischen Modell der Datenverarbeitungsanlage mit einem integrierten Schaltkreis vergleichen, von dem in der Großhirnrinde ca. 2 Millionen Stück vorhanden sind, in dem der Input gemäß einem bestimmten Schaltplan verteilt bearbeitet und zu einem entsprechenden Output geformt wird. Die Module der Großhirnrinde sind zylindrische Gebilde von ca. 1 mm 2 Grundfläche und 3 mm Höhe, die senkrecht auf die Rindenoberfläche orientiert sind, einige hundert bis mehrere tausend Nervenzellen umfassen, einander überlappen oder auch überdecken können. Ihre Gesamtzahl wird auf 2-4 Millionen geschätzt. Der Output, d.h. das Verarbeitungsergebnis des einzelnen Moduls, wird als neuer Input an andere Module in der Nähe oder Ferne weitergegeben, von diesen wieder bearbeitet, um wieder weitergegeben zu werden etc. Die Bearbeitungsprogramme werden dabei nicht nur durch die strukturelle, genetisch fixierte Information der Module, sondern auch durch die erworbene, sekundär fixierte Information der materiellen Erlebnisspuren des Gedächtnisses gestaltet. Das verleiht den Bearbeitungsresultaten eine in die aktuelle Situation hineinreichende, gleichsam individualgeschichtliche Dimension. Die allgemeine Funktionsweise der Großhirnrinde entspricht einer repetitiven, prinzipiell gleichartigen Bearbeitung und weiten Verteilung von Information. Grundsätzlich gibt es daher auch keine speziellen Funktionen bestimmter Orte der Großhirnrinde, mit anderen Worten, keine Lokalisierbarkeit bestimmter Leistungen i n Form von Zentren. Die wichtige Rolle einzelner Rindenabschnitte für be-

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stimmte Leistungen, wie sie besonders bei Rindenläsionen in Form von distinkten Funktionsausfällen hervortritt, ist in erster Linie durch die lokale Konzentration bestimmter Input- oder Outputkanäle sowie durch die Konfiguration und Ordnungsstufe der betreffenden Information bedingt. Hingegen kommt in der funktionalen Gliederung der Großhirnrinde, die in beiden Hemisphären spiegelbildlich durchgeführt ist, eine hierarchische Stufung der Verarbeitungsebenen zum Vorschein, z.B. vom einzelnen Sinneseindruck zum Komplex des Wahrnehmungsgegenstandes und von diesem zu einem aktuellen Gesamtsituationsbild. Beim Menschen treten zu diesen Real-Modellen der Welt auch selbstverfertigte Modelle von realen Möglichkeiten, sog. Modell-Objekte hinzu. Diese Produkte der Vorstellungskraft sind Kristallisationen von Erfahrungen und Lernprozessen, die im Gedächtnis bewahrt und durch Erinnerung bereitgestellt werden, und nicht nur mögliche Zustände, sondern auch mögliche Ereignisfolgen zum bewertenden Vergleich, zur Evaluation und zur Verhaltensdisposition zur Verfügung stellen. Für diese höchst bewußten Hirnleistungen der Vorstellungskraft und des Denkens ist die Sprache die unentbehrliche Voraussetzung, in der die verdichteten Abstraktionsprodukte der Hirnleistungen einer neuen, nicht neurophysiologischen, nicht evolutiven, sondern geschichtlich erworbenen Kodierung unterworfen werden, die ihre optimale Nutzung zur Verhaltenssteuerung ermöglicht. Die Instrumentierung der Sprachfähigkeit überlagert in lokalisatorischer Hinsicht die symmetrische Funktionsgliederung der Großhirnrinde in einer darauf senkrechten Orientierimg als Lateralisierungy indem für die Sprache die linke Hemisphäre des Rechtshänders zuständig ist. Diese sog. Hemisphärenspezialisierung bedeutet eine qualitative Erweiterung der Bearbeitungsprogramme, wegen deren sichtlicher Wichtigkeit von der Evolution eine Einbuße an Betriebssicherheit in Kauf genommen wurde. Wir stellen am Gehirn somit nicht nur die ontologische Diskrepanz zwischen organischer Struktur und metaorganischer Funktion fest, sondern erkennen auch die kategoriale Differenz zwischen den einzelnen Integrationsstufen seiner Funktionshierarchie, in deren Ordnung sich der Kosmos unserer Fassungskraft entsprechend widerspiegelt. Damit haben wir in der Schilderung der Gehirntätigkeit eine Grenze erreicht, über die hinaus der heutigen Hirnforschung eine exakte Funktionserklärung, wie wir sie bisher versuchten, nicht oder noch nicht möglich ist. 8 I n der staunenswerten strukturellen Organisation, die uns durch die Evolution mit dem Gehirn zur Verfügung gestellt wurde, sind die Formalbedingungen, nicht aber die Aktualbedingungen unseres Verhaltens repräsentiert. 8

Szentagothai, Apparatus, 1978

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Diese sind durch Selbstbewußtsein, Intelligenz, Sprache, Erkenntnis und Handeln charakterisiert, wofür es in der Tierwelt nur blasse Vorstufen und Andeutungen gibt. Wie schon ausgeführt, handelt es sich beim menschlichen Verhalten nicht um materielle Hirntätigkeiten, sondern um die immateriellen Leistungsprodukte dieser Tätigkeiten, die vermittels der Sprache in symbolischer Form vorliegen und in ihrer Verbindung und Gesamtheit eine eigene Schicht von Wirklichkeit, und zwar von funktionaler Realität, bilden. Diese vom Menschen im geschichtlichen Prozeß geschaffene Wirklichkeitssphäre manifestiert sich in den kulturellen Gebilden und wird in der Teilnahme und Mitwirkung jedes einzelnen Individuums als übergreifender geschichtlicher Lernprozeß der Menschheit instrumentalisiert. Der Prozeß der kulturellen Menschwerdung setzt die Evolution und die Gegebenheiten unserer biologischen Natur zwar voraus, aber er setzt sie nicht fort, sondern er stellt einen neuen Prozeß dar. Kulturelle Entwicklung und biologische Evolution sind wesensverschiedene Vorgänge. Unser Erkennen als Gehirnleistungsfähigkeit ist von den Bedingungen unseres Gehirnorgans abhängig; unsere Erkenntnis als kreatives Hirnleistungsprodukt aber ist nicht auf die Gehirnstruktur und die Evolution reduzierbar: Sie ist Erzeugnis unserer geistigen Freiheit. M i t dem Gehirn verfügen wir über ein Anpassungsinstrument, das uns in den Stand setzt, unsere Lebensbedingungen selbst zu kontrollieren. Diese Entkoppelung des Verhaltens von der biologischen Evolution ist ein fundamentales Merkmal der menschlichen Natur: Wir sind eben "von Natur aus Kulturwesen". Dies ist ein einmaliges Anpassungsexperiment der Evolution, dessen Ausgang übrigens hinsichtlich des Überlebens unserer Spezies noch im Ungewissen liegt. Aus diesen Gründen kann man auch nicht von einer Evolution der Erkenntnis, sondern nur von einer Evolution zur Erkenntnis sprechen. Alle kulturellen Gebilde sind postevolutionäre, schöpferische Erzeugnisse des Menschen im Geschichtsprozeß, dessen Einheit und Richtung nicht auf Vererbung, sondern auf Tradition gegründet ist. 0 Nach dieser fragmentarischen Skizze der Gehirnevolution und -organisation seien als Anhang einige wenige Bemerkungen zum Vergleich zwischen Gehirn und Management vorgebracht: Parallelen zwischen Gehirn und Management betreffen die funktionale Autorität des Managements gegenüber der realen Autorität des Funktionsträgers, des Betriebes mit Anlagen, Energie und Kapital; jene Differenzierung also, die sich historisch durch die Verwissenschaftlichung der unternehmerischen Praxis und die Ablösung der Dispositionsgewalt vom Kapitalbesitz entwickelte. Ein in gewisser Hinsicht ähnliches Verhältnis besteht zwischen

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Vgl. Riedl, Biologie, 1980; Lorenz, Rückseite des Spiegels, 1975

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dem Gehirn als Träger der Informationsverarbeitimg und den strategischen Arbeitsprogrammen, denen die funktionale Realität der Verhaltensleistungen zukommt. I m Verlauf der Perfektionierung dieser Funktionsdialektik kam es in der Gehirnevolution zur Demokratisierung der Entscheidungsprozesse in Form der enormen Vergrößerung der Großhirnrinde durch eine scheinbar additive Vermehrung der Funktionselemente, der Module. M a n könnte das in Parallele zur wachsenden Bürokratisierung und Detaillierung des Managements setzen. Den Modulen dürften dabei im Management kleine aufgaben-offene organisatorische Kerngruppen, quasi aus Menschen gebildete Mikroprozessoren, entsprechen. Schließlich sei darauf hingewiesen, daß in der Gewaltenteilung im Gehirn wie im Unternehmensbereich zwischen Funktionsträgern und Funktionsautorität keine dualistische und entfremdende Strukturaufspaltung vorliegt, sondern eine (zwar komplementär verschiedene aber gleichwertige wie gleichwichtige Aspekte aufweisende) Einheit zum Vorschein kommt. Daneben bestehen aber gravierende Unterschiede: Einmal insofern, als im Management, insbesondere von westlichen Konzernen, trotz starker Bürokratisierung die Leistungsspitze nur aus wenigen Elementen bzw. nur einem einzigen Funktionär, allerdings einem gehirntragenden Menschen besteht, während im Gehirn die höchste Leitungsebene gerade keine Spitze, sondern im Gegenteil die breiteste und elementenreichste Stufe darstellt, auf der die aufwendigsten, vielteiligsten und diffizilsten Operationen getätigt werden. Hingegen wird die Routinearbeit im Gehirn sozusagen mit sparsamsten Gerät und weitgehend fix-verdrahteten Gängen in den tieferen Hirnanteilen geleistet, die relativ wenig Flexibilität gewähren, aber in Bedarfsfällen höhere kompetente Entscheidungsinstanzen rekrutieren können. Wenn man die Hirntätigkeit im Niveau der einzelnen Nervenzellen registriert, ist es erstaunlich, wie wenig sich eigentlich als Grundtätigkeit tut. Die sogenannte Spontanaktivität ist gering, Hemmungen überwiegen die Erregung. Die Potenz des Systems liegt aber in seiner ungeheuren Leistungsbereitschaft und Disponibilität für Neues, in der unbegrenzten Fülle verfügbarer Antworten und kreativer Eigenproduktionen, die insgesamt das ausmachen, was man als Verhaltensfitness und Entscheidungsfreiheit versteht. Auch das macht einen Unterschied zu menschlichen Leistungssystemen, in denen meist alle Elemente in geregelter, fast maschineller Dauertätigkeit gehalten werden. Wichtige Unterschiede bestehen aber zweifellos auch in der SystemUmweltbeziehung und daher in der Natur der jeweils bearbeiteten Information. I m Gehirn handelt es sich um in neurale Signalmuster kodierte Faktoren und Relationen der Realwelt, die erst durch die programmatische Bearbeitimg im Empfänger Gestalt und inhaltliche Bedeutung, zuletzt in sprachlicher Symbolisierung, erhalten. I m Management sind es hingegen

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systemkonforme, inhaltlich definierte Datenmengen, die ihrer bekannten oder erfahrbaren Bedeutung nach evaluiert werden müssen, wobei Sprache als Werkzeug und Vehikel dient. Es gibt schließlich noch einen Unterschied: Das ideologische Dilemma, das für das Management hinsichtlich der Legitimation seiner de factoHerrschaft besteht, existiert im Gehirn nicht: Konflikte zwischen Unternehmer und Management sind ausgeschlossen, da im Gehirn der Unternehmer, sprich: die Hardware des Organs, sprachlos ist und alle Dilemmata zumindest primär - sozusagen nur Vorgänge innerhalb des Managements, d.h. in der Programmebene der Software betreffen. Auch die vorgebrachten Analogien und Anti-Analogien zwischen Gehirn und Management sollten wegen der fundamentalen Unterschiede zwischen dem Gehirn und einem seiner Leistungsprodukte höherer Stufe - als ein solches ist nämlich auch das Management zu betrachten - eben nicht als Erklärungsansätze, sondern nur als metaphorische Verständnishilfen verstanden werden.

Anpassungsmängel der menschlichen Vernunft Von Rupert Riedl, Wien Stellt man sich die Frage, wie es kommt, daß es mit unserer Vernunft so unvernünftig zugeht, dann bemerkt man zunächst, daß offenbar von zweierlei Arten von Vernunft die Rede sein muß. Einmal muß mit Vernunft etwas gemeint sein, das mit unserem klaren Verstand zu tun hat (gegenüber dem "dummen Vieh"); ein andermal ist es etwas, das den Lebenserfolg betrachtet. Offenbar können die beiden in Konflikt geraten. U n d damit sind wir auch schon beim Thema: Historiker haben gute Gründe für die Untergliederung unserer Kulturgeschichte in zwei große Abschnitte; und sie zeigen, daß sich vor rund zweihundert Jahren von einem "Zeitalter des Glaubens" ein "Zeitalter der Vernunft" (des Verstandes?) abzuheben begann. Die frühen englischen Empiristen, die französischen Enzyklopädisten spielen dabei eine Rolle. Die Französische Revolution schüttelte (blutig) das Joch der Aristokratie und des Klerus ab, die Aufklärung redete einem neuen Humanismus das Wort, die Positivisten verbannten die Metaphysik und stellten den sicheren Grund im positiv Wißbaren in Aussicht. Die neue Zeit versprach die neuen Freiheiten aus dem Rechte jedermanns auf Wissen (Bildung, pflegte man zu sagen), auf Selbstgestaltung und Mitgestaltung unserer Welt aus dem Machbaren. U n d zwei Jahrhunderte hindurch haben wir nun das Machbare gemacht; haben diejenigen gefördert, die am meisten machten; und finden uns nun in einer Welt, für welche wir, wie erst jüngst entdeckt wurde, nun selbst verantwortlich sind. Wir erhöhten die Produktion und schufen das Proletariat, wir vermehrten die Güter und die Bevölkerung explodierte, wir verbesserten die Mobilität und verbetonierten die Landschaft. Wir entfesselten neue Energien und schafften den overkill, wir förderten das Wachstum und ruinierten unseren Lebensraum. U n d weil wir uns mit einer reparierbaren Mach-Welt aus Garagen, kanaüsierten Flüssen, Industrien, Menschen-Silos und Asphaltguß umgeben, entsteht in uns die unsinnige Ansicht, daß Mensch und Natur ebenso reparierbar wären. Dabei sind die Verantwortlichen für solche Unvernunft nur schlecht auszumachen. Die Macher dieser Zivilisation sind Ausführende eines "Zeitgeistes" und machen in ihm weiter, so wie sie von ihm gemacht werden. Geschichte, die keiner gemacht hat, ist also in diesem Sinne von allen gemacht worden. Sie ist von unten zu verstehen, aus der Ausstattung des Menschen, seiner Possessivität, der Bemühung um den Ausbau von Sicherheit und Lebensqualität. Aber auch die Geschichte von oben kennt Langzeitgesetze, die

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großen (metaphysischen) Ideen, in welchen wir nun Maß und Regel dafür vereinbaren, was zu besitzen von Wert wäre, worin das Lebensglück bestünde, der Zweck einer Kultur und der Sinn des Lebens. Neben allen Querelen des Alltags, allem H i n und Her großteils sinnloser Zeitereignisse, steckt die Ursache der Zeitprobleme in jenen Langzeitgesetzen, im Zeitgeist, den wir im Wechselspiel zwischen menschlicher Ausstattung und der jeweiligen Theorie der Heilserwartungen selbst fabrizierten. Wie also ist unsere Ausstattimg zu verstehen, jene Vorgabe an Vernunft, mit welcher wir i n der Folge gemeinsam unseren Zeitgeist mit jeweils irgendeiner, jedoch für Jahrhunderte festgeschriebenen Lösung versehen. Jener Verstand, der uns die Werte von Glück, Zweck und Lebenserfolg vereinbaren läßt. Über die Art unserer Vernunft Es zählt zu den Merkwürdigkeiten unserer Existenz, daß die spekulativen Kräfte des Menschen nicht ausreichen, um seine Vernunft zu begründen. Alles Wissen, behaupten die Empiristen, kann nur aus der Erfahrung stammen. Und, offen gesagt, woher sollte es sonst kommen? U m Erfahrung überhaupt machen zu können, behaupten aber die Rationalisten, bedarf es in jedem Falle schon eines Vorauswissens, eines Wissens a priori, einer Vernunft. Tatsächlich kann kein Experiment die Existenz auch nur von Raum, Zeit oder Kausalität beweisen. A l l das ist in der Welt vorauszusetzen, um sie zu verstehen, selbst um sich in ihr nur bewegen zu können. Was aber kann dieses Wissen a priori begründen, von welchem unsere Erfahrung a posteriori abhängen muß? Oder, wie sollte "Erfahrung" vor jeder Erfahrung zu gewinnen sein? A n dieses Dilemma der Vernunft schließen dann weitere Ungereimtheiten: Muß man ein uns vorgegebenes Vorwissen anerkennen, dann sind es wohl geistige Dinge, behaupten die Idealisten (eigentlich Ideeisten), also Ideen. Sie sind uns, wie der Welt vorgegeben. Und wäre etwa das Dreieck mit seinen Gesetzen erst mit seiner materiellen Realisation gegeben? Es ist wohl vor derselben da. Wenn hingegen jegliche Erfahrung nur Vorerfahrung voraussetzt, dann kommt alles Wissen über höchst materielle Sinne, behaupten die Materialisten, und zwar aus einer ebenso höchst materiellen Welt. U n d wäre dann Immaterielles in einer so offensichtlich materiellen Welt denkbar? Keineswegs, behaupten die (materialistischen) Monisten: alles ist materiell. U n d sollten wir nicht meinen, diese Welt wäre eine Einheit? Keineswegs, nur eine aus Materialien, behaupten die Dualisten; eine Idee ist unzerstörbar. U n d kann unser Geist nicht Distanzen wie Dinge überwinden, ohne sich materiell zu verbrauchen? Aus diesem Dilemma ist die Biologie ausgebrochen, genauer gesagt, sie hat sich zunächst gar nicht darauf eingelassen. Sie betrachtet Leben, ja den

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ganzen Vorgang der Evolution, als einen kenntnisgewinnenden Prozeß. M a n denke nur, wie der genetische Kenntnisgewinn unserer Vorfahren (wohl zurück bis zu den Urfischen) alle für unser Sehen relevanten Gesetze dieser Welt entnommen und nach Aufbau- und Betriebsanleitung unserem Auge eingebaut hat. So wird Konrad Lorenz' Deutung richtig sein, daß die uns angeborenen Formen, diese Welt anzuschauen, aus demselben Grund in diese Welt passen, aus welchem auch die Flosse des Fisches ins Wasser paßt, noch bevor er aus dem E i geschlüpft ist. Die a priori-Bedingungen der Vernunft des Individuums werden a posteriori-Lernprodukte aus der genetischen Erfahrung seines Stammes sein. Recht haben beide: Die Empiristen, daß alles Wissen nur aus der Erfahrung stammt, die Rationalisten, daß es vor jeder individuellen Erfahrung ein Vorwissen geben muß. Aber freilich irren die Rationalisten, wenn sie weiter behaupten, das individuelle Vorwissen könne keiner Erfahrung entstammen. So wie die Empiristen mit der Behauptung irren, daß es vor der individuellen Erfahrung keinen anderen Wissensgewinn gäbe. Wir Evolutionisten reden darum von einem dem individuellen Wissensgewinn vorgegebenen ratiomorphen (vernunftähnlichen) Apparat, der zur Meisterung der Lebensprobleme unserem Verstände vorgegeben ist. Wir verstehen sein Zustandekommen, ebenso wie seine Übereinstimmung mit der Welt, als ein Produkt der Anpassung. Aber aus welchen Zeiten stammt der ratiomorphe Apparat? U n d welches waren die Lebensprobleme, an deren Meisterung er adaptiert wurde? Das ist nun eine Frage anderer Art. Sie setzt die Richtigkeit der Lorenzschen Einsicht voraus, wendet sich aber nun kritisch (oder skeptisch) zwar nicht gegen die Theorie von der adaptiven Entstehung der Vorbedingungen unseres Verstandes, jedoch gegen die Vorstellung von unserer zureichenden Angepaßtheit. Können wir unsere Vernunft übersteigen? Für die Generation von Konrad Lorenz, die noch für die Anerkennung der Theorie Darwins einzutreten hatte, also für die Theorie einer schrittweisen Adaptierung aller Kreaturen an diese Welt, war die Adaptierung unserer angeborenen Anschauungsformen die entscheidende Lösimg. Dies wird auch die entscheidende Lösung bleiben. Denn sie läßt uns die Herkunft unserer Vernunft verstehen. Die Frage, die ich in meinen Studien angeschlossen habe, entspricht dagegen einer Skepsis, die meiner Generation quasi in die Wiege gelegt wurde: Wem können wir trauen? Vielleicht nicht einmal unseren angeborenen Formen der Anschauung, jener erblichen Ausstattung unserer Vernunft. Das ist natürlich noch immer eine Frage im Rahmen der "evolutionären Erkenntnistheorie". Aber sie schließt weitere Erwartungen ein:

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Zunächst wird behauptet, unsere Anschauungsformen lassen sich kritisch betrachten, und zwar durch die Möglichkeiten unseres Verstandes korrigieren (übersteigen; transzendieren, wie die Philosophen sagen würden). E i n Münchhausen-Abenteuer? Das wäre es gewiß, wollten wir mit Hilfe unseres Verstandes unseren Verstand überwinden. Mein Anliegen aber ist bescheidener. Ich erwarte, daß wir mit Hilfe der uns möglichen Erfahrung die Formen der Anschauung zu übersteigen vermögen, indem wir darauf achten, in welcher Weise sie an den von ihnen dirigierten Prognosen regelmäßig scheitern. Etwa analog der Weise, in der uns Albert Einstein zeigte, daß diese Welt nicht in die voneinander unabhängig erscheinenden Qualitäten eines dreidimensionalen Raumes und einer eindimensionalen Zeit zerfällt. Daß wir in Wahrheit in einem vierdimensionalen Raum-Zeit-Kontinuum leben, das wir zwar aus der Erfahrung nachweisen, uns aber nicht anschaulich machen können. Denn dazu sind die Kräfte unserer Anschauungsformen nicht gemacht. Wobei es uns nicht beunruhigt hat, daß wir uns weder den Beginn der Zeit, noch das Ende des Raumes vorzustellen vermögen, was man nach unserem euklidischen Raumkonzept hätte erwarten müssen. Für mich als Biologen besteht darum die große Leistung Einsteins darin, daß er im Konflikt zwischen der ihm angeborenen Anschauung und der möglichen Erfahrung, sich der Erfahrung gebeugt hat. Dieser Kritik liegt also eine weitere Erwartung zugrunde, daß nämlich diese Anschauungsformen unserer Welt nur annähernd adaptiert wären. Wie sollte das möglich sein? Nun hinkt zwar die Adaptierung den Anforderungen immer nach, denn je näher sie diesen kommt, umso mehr reduziert sich der Selektionsdruck, welcher die Adaptierung durchsetzt. Das ist zwar richtig, aber dieses Phänomen ist für mein Argument noch zu schwach. Wir müssen vielmehr drei weitere Gegebenheiten in Beziehung setzen: Erstens ist genetische Adaptierung ein langsamer Prozeß. Für den Einbau etwa neuer (struktureller) Artmerkmale bedarf es bei höheren Wirbeltieren wenigstens einer Jahrmillion, meist aber noch länger. Für die Etablierung unserer ratiomorphen Ausstattung muß mit ähnlichen Zeitspannen gerechnet werden. So kennt man die Einrichtung für eine dreidimensionale Raumorientierung schon von den Haien; und diese haben sich vor mehr als vierhundert Millionen Jahren von den Formen unserer Stamm-Linie getrennt. U n d die jüngste unserer Anschauungsformen, die Erwartung von Zwecken, muß man schon den Vormenschen zurechnen, die ein bis zwei Jahrmillionen zurückliegen. Zweitens adaptieren sich alle Kreaturen nicht an irgendwelche Weltprobleme, sondern an die meist viel einfacheren Lebensprobleme ihrer unmittelbaren Umwelt. Nicht anhand kommender Lebensproblematik kann antizipiert werden. Nur den unmittelbaren Lebensanforderungen wird, mit zufälligen und manchmal erfolgreichen Mutationen, allmählich entsprochen.

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Freilich ist das Maß erblicher Vorkenntnisse gewaltig. Alle unsere körperlichen Strukturen, Funktionen und Regulative sind solcherart Vorkenntnisse. Aber ein Wachstumsproblem gab es auch in der Welt der Vormenschen noch nicht. Es gab auch kein Problem der sozialen Umverteilung, der Indoktrination durch die Industrie oder des "overkill". U n d damit sind wir beim dritten Phänomen. M i t der Herausbildung des Bewußtseins, mit der Sprache und der Tradierung von Kultur entsteht eine zweite Evolution. Sie gewinnt Wissen nicht in Jahrtausenden, sondern - mit Glück und Geschick - in Stunden. Sie speichert es nicht mehr in den Genen, sondern im Gedächtnis. U n d wo sich früher ein neuer Versuch, der Erfolg einer Mutante, erst langsam im Genom einer Population durchsetzen mußte, verbreitet sich nun eine Erfindung wie ein Lauffeuer. Die erste Evolution, zwar in allem die Grundlage der zweiten, wird von der zweiten überrannt. A u f die Weiterentwicklung der ersten ist nicht mehr zu hoffen. Die zweite aber schuf mit Arbeitsteilung, Staaten, Industrie und Kapital eine neue, ungleich kompliziertere Welt. Für diese neuen Lebensprobleme aber, so behaupte ich nun, sind unsere alten Anschauungsformen, jene Entscheidungshilfen unserer Vernunft, nicht geschaffen. U n d wo die Prognostik regelmäßig an der Erfahrung scheitert, dort sollten wir sie übersteigen. Ja, wir werden sie korrigieren müssen, weil sie Lebensprobleme betreffen, die Existenzprobleme einschließen. Wohl ist es wieder nicht mehr als ein weiterer Adaptierungsschritt, den uns die Evolution abverlangt - nunmehr eine Adaptierung unzureichend adaptierter Anschauungsformen, die genetisch zwar nicht mehr änderbar sein werden, aber korrigierbar durch Erfahrungen. Für die Evolution mag das wieder nur ein kleiner Schritt sein; wo immer aber diese Lebensprobleme Existenzprobleme berühren, mag der kleine Schritt für unsere Species ein Überlebensproblem betreffen. Über die Extrapolation unserer Adaptierungsmängel Unsere Unfähigkeit, uns Raum-Zeit-Kontinua vorstellen zu können, bildet gewiß kein Problem unserer Tage. Wir müßten ja auch mit annähernder Lichtgeschwindigkeit durch Dimensionen intergalaktischer Räume reisen, um die Irrtümer unserer angeborenen Raum- und Zeit-Verrechnung sinnlich wahrzunehmen: daß wir uns mit der Geschwindigkeit verformten, oder daß sich mit der Dehnung des Raumes die Zeit änderte. Wir sind eben nicht an den Makrokosmos angepaßt worden (und auch nicht an den Mikrokosmos der Quantengesetze). Wir sind, wie Hans Mohr sagt, an den Mesokosmos unserer Lebenswelt adaptiert. U n d jene kosmischen Fehldeutungen plagen uns in dieser nicht. Das ist aber bei einer Reihe von Anschauungsformen anders. Diese betreffen Phänomene, die di-

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mensionslos ihre Wirkung tun; und diese plagen uns auch in unserer Mesowelt. Von diesen soll die Rede sein. Freilich werden wir im Rahmen der evolutionären Theorie bleiben. Aber wir werden der adaptionistischen Lösung eine relativistische anschließen, das heißt, daß wir die Lösungen, die uns die angeborenen Anschauungsformen aufdrängen, in zweierlei Richtung relativieren werden: einmal in Bezug auf unsere Erfahrung mit den Strukturen der außersubjektiven Wirklichkeit, ein andermal mit den Erfahrungen an den Formen unserer rationalen (bewußten) Extrapolation. 1. Das Problem von Wahrheit und Wahrscheinlichkeit Unsere ratiomorphe Ausstattung läßt erwarten, daß mit der Bestätigung einer Prognose die Wahrscheinlichkeit der Bestätigung der Folgeprognose zunehmen wird. Dieses Prinzip hält durch, von den niedersten Formen assoziativen Kenntnisgewinns, vom bedingten Reflex, bis zu unserer experimentellen Forschung. Die Isomorphie, d.h. die Übereinstimmung von Programm- und WeltStruktur, beruht darauf, daß die meisten Koinzidenzen von Merkmalen nicht von zufälliger A r t sind, daß also unter gleichen Umständen zumeist mit der Wiederkehr gleicher Zustände oder Ereignisse gerechnet werden kann. Dies wiederum setzt eine hohe Redundanz unserer Weltstruktur voraus; d.h., daß sich die Gegenstände und Vorgänge in ihr zahlreich wiederholen (die Ziegeln eines Daches, die Fichten eines Forstes, die Nadeln einer Fichte, die Proteinmoleküle des Lebendigen, die Quanten im Kosmos; ebenso wie die Takte einer Sonate, die Schläge eines Herzens, die Wogen eines Meeres, die Abstrahlung von Photonen). U n d daß wir vieles selbst wiederholen können; vom Nehmen und Lassen des Bällchens bis zum wissenschaftlichen Experiment. Wo immer nun unsere Prognostik lückenlos bestätigt wird, nähern wir uns einer Deutung, die in unserer Redeweise "die Wahrheit" genannt wird. U n d da die Reflexion zeigt, daß auf solche A r t absolute Gewißheit nicht zu erreichen ist, der Lebenserfolg aber mit dem Gewißheitsgrad der Prognosen steigen kann, wird nun in rationaler Weise die Möglichkeit von Gewißheit konstruiert. Wir denken uns beispielsweise sehr ähnliche Dinge als identische Dinge und kommen zu dem bekannten (gesäuberten) Schluß, daß wenn A gleich Β und Β gleich C ist, nun logischerweise auch C gleich A sein müsse. In der "schmutzigen" Wirklichkeit aber ist A nie ganz gleich Β und so fort. So wird C noch weniger gleich A sein. Diese Syllogismen, die logischen Schlüsse, sind aber eine Eigentümlichkeit unseres europäischen Denkens und eine Folge der griechischen Grammatik, somit auf der Grundlage einer definitorischen Begrifflichkeit. Andererseits aber enthält die Welt Einheiten typo-

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logischer Art, mit prototypischer Mitte und unspezifischen Rändern. Das chinesische Denken entspricht dieser Einsicht viel eher. Aber nicht nur die rationale Extrapolation ist Ursache dieser Abweichung. Auch unsere ratiomorphe Ausstattung, mit ihrer Tendenz zum "Gleichmachen", führt dazu. Unbedenklich reden wir davon, daß "alle Mörder", "alle Männer", ja daß "alle Menschen" gleich wären. Unsere Kultur bemerkt zwar, daß die Logik wie die Mathematik auf unbeweisbaren Axiomen oder Grundannahmen aufbauen muß. Dennoch weisen wir der Beherrschung dieser Disziplinen einen besonders hohen Rang zu, so als ob mit ihnen die Lösung unserer Lebensprobleme am verläßlichsten zu meistern wäre. 2. Das Problem der Quantität und Qualität Unsere ratiomorphe Ausstattung leitet uns zum Weglassen und Hinzufügen an. Wir verhalten uns so, als ob man im Gleichen das Ungleiche weglassen, sowie das vermeintlich Bekannte dem Wahrgenommenen hinzufügen dürfe. So lassen wir bei der Wahrnehmung eines (vermutlichen) Apfels die Unterschiede von Farbe und Größe ebenso unbedenklich weg, wie wir die Erwartung seiner Saftigkeit und Kerne hinzufügen. Wieder beruht der Selektionserfolg des Programms auf der Isomorphie mit einer Welt zumeist nicht beliebiger Kombinierbarkeit ihrer Merkmale. Eine Auflösung solcher Kombinationen deutet Hieronymus Bosch an: völlige Auflösung bezeichnen wir als "unbeschreiblich". Tatsächlich vermöchte kein Organismus ohne ein solches Programm zu überleben - ein Mensch nur unter Hospitalisierung. So trefflich aber das Programm der Welt entspricht, die Anleitung zum Weglassen und Hinzufügen in der rationalen Extrapolation zur Unterscheidung von Quantität und Qualität folglich zu zwei Schwierigkeiten, die bei der Wahrnehmung des Auftretens neuer Qualitäten und bei der Vorstellung, daß auch rein quantitative Änderungen das Auftreten neuer Qualitäten zur Folge haben müssen, entstehen. Schon die klassische Frage "Wieviele Körner machen einen Haufen?" erscheint uns darum nicht sehr sinnvoll. Nicht, weil wir nicht wüßten, daß K ö r n e r rollen, ein Haufen aber fließt, vielmehr deshalb, weil das (schleichende) Auftreten neuer Qualitäten in unserer definitorischen Sprech- und Denkweise keinen Anker findet. Ein Großkonzern oder Finanzminister geht mit Zahlen von zehn Milliarden ( 1 0 l o ) u m ; und sollte sich sein Umsatz verdoppeln, so sieht das wie jede andere Verdoppelung aus, etwa wie die bloße Verdoppelung des Taschengeldes. Denken wir uns aber unseren Körper um dieselben zehn Größenordnungen vergrößert, dann reichten wir bis zur Sonne. Dehnten wir

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unsere Materie in diesem Ausmaß aus, dann wären wir ein kosmisches Gas von kaum mehr nachweisbarer Verdünnung. Vermehrten wir aber für die Abmessung die Zahl der Moleküle um 1 0 1 2 , dann wären wir ein "schwarzes Loch" im Kosmos. Wir wären nicht einmal mehr Materie. Die Masse wäre so gewaltig, daß sie die Gravitationskräfte in sich zusammenstürzen ließe. Daß quantitative Änderungen notwendig die Qualitäten wandeln, ist schon eine Konsequenz der so verschiedenen Reichweite der vier Grundkräfte der Materie. Dafür aber fehlt uns die Anschauung. Wir haben Schwierigkeiten, uns vorzustellen, wie das Bewußtsein entstand, das Denken, das Leben, und ab wann eine befruchtete Eizelle des Menschen wirklich ein Mensch sei. Entsprechend teilen wir die wissenschaftlichen Disziplinen nach den Qualitätsstufen ihrer Komplexität in Physik, Chemie, Molekularbiologie, Zytologie, Histologie, Systematik, Psychologie und Soziologie und haben entweder Schwierigkeiten mit ihren Zusammenhängen oder wir ignorieren dieselben. Wir verdoppeln den Verkehr, die Produkte, die Abschreckung und finden überrascht, daß wir in Staus und Blechlawinen ersticken, daß wir Wälder und Flüsse ruinieren, und daß niemand mehr einen Ausweg aus der "overkiir-Kapazität zu wissen scheint. Nicht anders, wie wir die jährliche Verdoppelung der Seerosen in einem See bewundern, ohne Gefühl dafür, daß innerhalb eines einzigen Jahres der See endgültig ruiniert sein wird. Wir lassen unsere Zivilisation exponentiell wachsen und fürchten uns nicht. 3. Das Problem der Ursachen Ratiomorph erwarten wir, daß gleiche Zustände oder Ereignisse dieselben Ursachen haben werden. Allerdings mit der einschränkenden Vorstellung versehen, daß diese Ursachen einen definitiven Anfang hätten, ein endgültiges Ende fänden, und daß die Bahn zwischen den beiden einen distinkten (kanalisierten) Verlauf nähme. Daher reden wir ohne Zögern von Impetus und Wirkung, sowie von einer Ursachenkette, die wir uns meist in Form von Antrieben (Kraftübertragungen) versinnbildlichen, welche jedenfalls mit Zwecken nichts zu tun haben. Die Isomorphie hängt mit dem Umstand zusammen, daß auch die Abfolgen von Zuständen und Ereignissen in unserer Mesowelt überwiegend von nicht zufälliger Natur sind. Das ist allerdings schon alles. Die Einschränkungen betreffen nachgerade irreführende Vereinfachungen. Erstens werden Material-Ursachen übersehen, zweitens Form- und Selektions-Ursachen als Finalität für Gegensätze der Kausalität gehalten. Drittens hat keine Ursachenkette definitive Anfänge und Enden; und viertens sind die Zusammenhänge in Wahrheit in einem Maße vernetzt, daß letztlich jede Wirkimg auf ihre eigenen Ursachen zurückwirkt.

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Man denke sich ein Raum-Netz von Zusammenhängen und beschränke dann die Perspektive auf einen einzigen Faden einer Masche. Diese entspricht etwa unserem unreflektierten Bild von der Ursachenkette. Und unser eigenes Handeln verstärkt die Suggestion eines Anfangs (etwa ein Steinwurf) und eines Endes (der kaputten Fensterscheibe), weil einfach an beiden Enden unser Interesse endet. Ganz so, wie es uns beim Wurf auf der Kegelbahn nicht interessiert, was uns dort hingebracht hat, oder was die Folge unseres Kommens und Kegelns sein wird. Wir fokusieren den Anstoß, das Purzeln der Kegeln und die kanalisierenden Bauten. So organisieren wir auch die Technik. Schon im Schokoladenautomaten wird die Kette vom Einwurf der Münze über ihre Messung und Wägung bis zur Ausgabe der Ware kanalisiert. U n d alle Akribie des Konstrukteurs zielt darauf ab, den Ablauf nicht umkehren zu können; für die Entnahme von Schokolade nicht noch Geld ausgeworfen zu bekommen. Außerhalb des Kastens aber wirkt die Ausgabe der Ware sehr wohl und in einer noch gar nicht ganz durchschauten Weise auf den Einwurf zurück. Was daran zu ersehen ist, daß wir über die Jahre für den Erhalt derselben Ware immer größere Münzen einzuwerfen haben. So aber, wie der Ingenieur des Automaten, handelt auch unsere Wirtschaft und sucht dann eine Entscheidung zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit; ohne Lösung, weil sie diese in Wachstumsraten verschiebt, die selber das Gegenteil einer Lösung sind. Man betrachte z.B. nur die Katastrophen, die die Entwicklungshilfe fortgesetzt anrichtet, und die von wirklichen Kennern wie Brigitte Erler entsetzt als "tödliche Hilfe" bezeichnet wird. Selbst wenn über Abrüstung zu verhandeln ist, erhält man die Mehrheit der Wähler, wenn man aus "einer Position der Stärke" verhandelt, und ist dann ebenso entsetzt, daß es immer nur Aufrüstungsverhandlungen wurden. I m Ursachen-Konnex extrapolieren wir eine Auslegung, die noch für den Raubaffen eine lebenserhaltende Anleitung bot, in eine Komplexität hinein, in deren Vernetzung sie sich schon längst gegen die Chancen unserer Lebenserhaltung gewendet hat. Nun fürchten wir uns zwar schon, aber wir wissen im Grunde nicht wovor. 4. Das Problem der Zwecke oder der Finalität löst unsere ratiomorphe Erwartung mit der Annahme, daß gleiche Zustände oder Ereignisse demselben Zweck dienten. Allerdings wieder mit einer gröblichen Vereinfachimg, so als ob Ziele und Zwecke den Dingen oder Handlungen vorgegeben wären, als ob sie aus einer Zukunft in unser Dasein wirkten, und als ob ihre Setzung jeweils außerhalb der jeweiligen Dinge und Handlungen ihre independente Etablierung hätte.

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Die Isomorphie und damit der Selektionserfolg dieses Programms beruht darauf, daß das, was wir als Zweck (Funktion oder Sinn) einer Sache erleben, tatsächlich vom jeweiligen Obersystem bestimmt wird; und daß (im Gegenlauf zu den A n t r i e b e n u n d M a t e r i a l d i s p o s i t i o n e n aus den Untersystemen) auch aus den Obersystemen gesehen, die Kombinationen der Erhaltungsbedingungen überwiegend nicht von zufälliger A r t sind. Aber wieder ist dies die Grenze der Isomorphie. Erstens entstehen alle Zwecke aus Auswahlbedingungen, also erst mit den Systemen. U n d zweitens hängt die Form einer Erhaltungschance nicht minder von der Disposition der verfügbaren Materialien ab, man denke an eine Brücke aus Seilen versus einer solchen aus behauenen Blöcken. U n d drittens wirken Zwecke nie aus der Zukunft. Auch das Haus, das wir in die Zukunft planen, wirkt aus unserem gestrigen Entschluß auf unsere Handlungen heute. Ergo sind Ziele und Zwecke nie independent von den Systemen, deren Zwecke sie beeinflussen. Das alles ist uns aber nicht so recht klar. Zwar haben wir noch deutlich vor Augen, daß der Zweck von Handlungen z.B. im Hausbau liegen kann, und der Hausbau dem Zweck einer Meliorisierung unserer Lebensfunktionen entspricht. Aber welchen Zweck wir nun als Individuum in unserer Gesellschaft und diese in der Menschheit hätte, oder gar welchen Zweck die Menschheit selber haben könnte, das wird uns immer dunkler. Wir neigen dann eher dazu anzunehmen, daß dem Ganzen irgendwelche "letzte Zwekke" vorgegeben wären, schließen uns den widersprüchlichsten Heilslehren an, lassen uns dazu verführen, für diese die unglaublichsten (unmenschlichsten) Opfer zu bringen und sind schließlich darüber entsetzt, in welche schier unentrinnbare Gefahren wir uns gerade damit manövriert haben. Freilich schreckt uns dies noch mehr, und mit gutem Grund. Nur die wahre Ursache bildet sich in unserer Anschauung wieder nicht ab. 5. Kombinierte Problematiken daraus sind die Folge. Denn freilich wirken die erwähnten vier Probleme, die Welt anzuschauen, ineinander. Folglich werden die Beispiele der Einzelproblematiken einigermaßen (vielleicht sogar höchst) abstrakt erschienen sein. Doch mußte es mir darauf ankommen, zu zeigen, daß diese ganz konkret existieren. Viel lebensnäher sind dagegen ihre kombinierten Wirkungen. Ganz allgemein gehört hierher die Erfahrung, daß wir besonders schlecht gerüstet sind, die Wirkungszusammenhänge vernetzter Systeme zu begreifen. Eine Schwierigkeit, die zu alledem noch durch die lineare Struktur unserer Sprache verstärkt wird. Aber freilich ist diese aus der Linearität unseres bereits vorsprachlichen Denkens entstanden, wie sie nicht minder auf unser Begriffsvermögen zurückwirkt. Wir können zwar sagen, daß ein vernetztes System schon dadurch gekennzeichnet ist, daß es gleichermaßen in-

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adäquat ist, wo auch immer unsere Beschreibung desselben beginnt. Das Diagramm ist unser (sprachloser) Ausweg; denn zu allem, was von einer Vernetzung gesagt werden kann, muß alles übrige im Netzzusammenhang gleichzeitig vorausgesetzt werden. Ein typischer Fall ist unser Delegieren von Verantwortung. Sicherheit, sagen böse Zungen, suchten junge Mädchen in der Ehe und junge Männer im Bankkonto, in ihrer Versicherung, im Parteibuch und der Pragmatisierung. Woher aber nehmen die Versicherung und die Bank, und gar die Partei oder die Staatsstelle ihre Sicherheit. Erstere, so vermutet man, im Bankenverband, letztere im Staat. Die Sicherheit des Staates wieder, vermeint man in seinen politischen Verträgen zu finden, und deren Sicherheit wieder in der der Machtblöcke. U n d der Machtblöcke Sicherheit, so versichern manche, läge in ihrem Gerüstetsein. Sollen nun jene Jungvermählten glauben, daß ihre Sicherheit letztlich auf der Atombewaffnung der Mächtigen beruht? Dennoch haben wir keine rechte Anschauung dafür, daß alle Sicherheit auf uns selbst rekurriert. Was wäre ein Vertrag unverläßlicher Staaten, was ein Staat unverläßlicher Banken, was wäre eine Bank, der niemand vertraut. Nichts als eine eulenbewohnte Ruine. Sie existiert, wie alles andere, von unserer Verläßlichkeit, von unserem Fleiß und unserer Wertschöpfung. Dennoch delegieren wir Verantwortimg und möchten jene für eine Bank, eine Partei oder gar für einen Staat gar nicht tragen. Das, so sagt man, sollen andere machen. Aber selbst im festgeschriebenen Recht ist das nicht grundsätzlich anders. I m weit verbreiteten Rechtspositivismus, namentlich in der "reinen Rechtslehre" von Hans Kelsen, kam man zu dem Ergebnis, daß der Gesetzgeber jeden beliebigen Inhalt als Recht setzen könne (was, wie es die Älteren von uns noch erlebt haben, zur Pervertierung des Rechts verleitet). So ist das Hauptgeschäft der Juristen (und der juridischen Ausbildung) die Rechtsfindung; worunter man allerdings nicht die Frage verstehen darf, wie der Souverän wohl fände, daß etwas ein Recht sein könne, vielmehr das Gegenteil: wie nämlich der Jurist im Gesetzbuch seinen Fall findet. V o n der Frage aber, wie man dazu käme, ein Recht zu etablieren, von der Rechtsetzung also, ist wenig die Rede. Man verhält sich so, als wüßte dies der Gesetzgeber dank seiner Eingebung, oder als stünde ihm zu, auch ohne Eingebung zu "rechten". Was das Volk als Recht empfindet, meint man seiner Entscheidung in politischen Wahlen zu überlassen, überläßt es aber in Wahrheit seinem kollektiven Aufbegehren, Initiativen, Streiks, Ausschreitungen und Revolutionen. Den natürlichen Wechselbezug im Systemzusammenhang auch des Rechts beherrschen wir ebenfalls noch lange nicht. Ist das Problem zu lösen? I m Prinzip ja; im Prinzip ist jeder Anpassungsmangel unserer ratiomorphen Ausstattung und jede irrige Extrapolation zu korrigieren. Wir müssen

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lediglich, wie ja schon festgestellt, darauf achten, woran wir regelmäßig mit unseren Prognosen scheitern. So einfach ist dies im Prinzip. Wie schwer ist dies aber in der Praxis? Die Schwierigkeit, die es uns bereitet, wahrzunehmen und falls wahrgenommen auch anzuerkennen, daß wir mit unseren Prognosen an der Erfahrung scheitern, hat mehrere Gründe. Zum ersten spielt dabei die persönliche Unsicherheit eine Rolle (man redet auch vom Mangel an Zivilcourage), zum zweiten die Gewöhnung. Es ist erstaunlich, wie sehr wir es akzeptieren, mit Unverstandenem und Widersprüchlichem zu leben. Offenbar sind wir schon von frühester Kindheit an daran gewöhnt, von dem vielen Gehörten nur wenig zu verstehen. Wir leben in den Widersprüchen von Natur- und Geisteswissenschaft, von Glaube und Wissen, von verschiedensten Philosophen und ideologischen Doktrinen. U n d zum dritten sind es Abhängigkeiten, die dazu beitragen, daß wir im Falle des Scheiterns zwar wahr-nehmen, dieses Scheitern dann doch nicht wahr-haben können (man redet hier von Zugzwängen). Belehrt ein guter Witz, ein guter Prediger oder ein guter philosophischer Augenblick über die Absurdität seines eigenen Tuns, so wird kurz gelacht, vielleicht geweint oder gar gegrübelt, um nur umso selbstverständlicher in jene absurde Welt zurückzukehren, die wir (absurderweise) "die Realität" nennen (den "Ernst des Lebens"). Kurz: in einem Sinne sind wir gar nicht rationale Wesen, sondern rationalisierende, deren Gesellschaft fortgesetzt irgendetwas widerfährt. U n d die, ist es geschehen, die Experten berufen, um festzustellen, wie das geschehen konnte. I n diesem Sinne hat Friedrich von Hayek gewiß recht, wenn er meint, daß uns unsere Zivilisation nur passiert ist. Wir sind in sie hineingestolpert. Niemand war gescheit genug, ihren Gang zu überblicken. Offenbar hat auch niemand, der Geschichte machen wollte und Geschichte gemacht hat, wissen können, welche Geschichte er gemacht haben wird. Wie also kann man in einer solchen Lage vorgehen, um seine Mängel zu übersteigen? Zumal wir uns in jeder Situation der Verunsicherung auf eben diese scheinbaren Gewißheiten unserer Anschauungsformen zurückverwiesen finden, und die kleinen Mängel, die sie enthalten, unbedenklich ins Große extrapolieren. Vielleicht kann man wenigstens die Möglichkeit ihrer Überwindung zu einigen Problemen andeuten, die ich vereinfacht in drei Schichten unserer Lebenswelt verlegen werde. 1. A u f der Ebene des Individualismus offenbart sich zunächst, was ich das "Trilemma der Wahrheit" nennen will. Das Erlebnis der Unentscheidbarkeit zwischen einer empirischen, einer rationalen und einer "sozialen" Wahrheit. Die Ratio mag uns z.B. erwarten lassen, daß ein Mehr des Guten (etwa des Umsatzes) zum Besseren (des Gewinnes) führen müsse. Die Empirie dagegen kann zeigen, daß das

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Gegenteil der Fall ist (ohne daß wir die Zusammenhänge verstünden). U n d auf die soziale Wahrheit wird zurückgegriffen, wenn man überhaupt nichts wissen kann. Irgendjemand, so lautet die Annahme, müsse ja etwas wissen. Denn was konnte der Einzelne von der Belebung durch seinen Eiswein wissen, von der Schmierleistung des Bleis in seinem Superbenzin oder vom Grund seiner hohen Stromrechnung aus der Sommer-Überproduktion. U n d zudem leitet uns die Kombination rationaler plus empirischer Unsicherheit zu einer phantastischen Lösung. Für den (übrigens ebenso häufigen) Fall nämlich, daß niemand etwas wissen kann, verlassen wir uns in gewohnter Weise auf das Urteil aller. Wahrheit und Gewißheit, vor allem in Bereichen, die wir die "relevanten" zu nennen pflegen, beruht überwiegend auf einer sozialen Konvention. Dies hat ein "Soziologe der Wahrheit", nämlich Thomas Kuhn, einem "Moralisten der Wahrheit", Sir Karl Popper, entgegengehalten. So ist nicht nur die Konvention unserer Sprache (letztlich die Eigentümlichkeit der griechischen Grammatik) gleichermaßen eine Indoktrination des Denkens wie die Voraussetzung unserer Verständigung. Auch jedes wissenschaftliche Paradigma hat diese Doppelfunktion. Was also geschieht nun, wenn ein Individuum das Scheitern eines Paradigmas (einer Weltansicht) wahr-nimmt und auch für diese Wahrheit eintritt? Es geschieht zweierlei: Die hochrangigen Repräsentanten des Paradigmas bilden Koalitionen (selbst gegen besseres Wissen) und halten wie Pech und Schwefel zusammen. (Übrigens ein Verfahren der Rangverteidigung, die wir von unsere früheren Vorfahren kennen. Dieses Verfahren bleibt wirksam, selbst wenn den Alten schon die Zähne ausgefallen sind). Der Abweichler dagegen wird nicht als Entdecker gefeiert. Vielmehr wird er, wenn nicht überhaupt übergangen, wie jener Tischler behandelt, der seinen schlechten Tisch mit dem schlechten Werkzeug entschuldigt. Denn, wird er belehrt, hättest du unser Werkzeug benutzt, kein Scheitern hätte nachweislich werden können. Jegliche Innovation ist darum eine Chance und mehr noch ein Risiko, zunächst der einzelnen Kreatur (der kulturellen Mutante) und dann erst einer Minorität. Wie Minoritäten üblicherweise traktiert werden, ist bekannt. Die Sache mit der Zivilcourage hat also etwas auf sich. 2. A u f der Ebene von Wirtschaft und Industrie ist das Problem von anderer Art. Hier dominiert die Verfilzung der Zugzwänge; und in der Regel das Naturgesetz, daß die Großen die Kleinen fressen. Was aber im zwischenartlichen Räuber-Beute-Verhältnis zu einer Balancierung der Natur führt, dasselbe Gesetz führt in der innerartlichen Auseinandersetzung (im Beschädigungskampf) zur Bedrohung der Art. A n sich ist das wieder sehr einfach.

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Nun ist aber das, was wir als die Freiheit der Marktwirtschaft erleben, über den (wirtschaftlichen) Beschädigungskampf noch kaum (und wo es ernst wird, nirgends) hinausgekommen. Und so fressen die Verbundgesellschaften die kleinen Stromproduzenten, die Supermärkte den kleinen "Kaufmann an der Ecke", die Hotelketten die "bürgerlichen Häuser", die multinationalen Industrien die nationalen, die Ölkonzerne ganze Märkte und die Drift des Kapitals die Ökonomie ganzer Länder. U n d die Bedingungen der Ökonomie fressen die Ökologie; und schon sind wir wieder in einer Welt, die wir nicht haben wollten, die an ihrer Heilsprognose gescheitert ist. Industriekapitäne, um Bedacht in dieser Sache gebeten, geben zu bedenken, daß sie eben diese Gegebenheiten zwingen, zum Überleben der ihnen anvertrauten Stätte, einen selbstmörderischen Kurs zu steuern. Diese treffende Formulierung verdanke ich einem von ihnen (Chemie Linz A G ; ich darf seine Anonymität wahren). Nun ist derlei nicht von ungefähr. Denn Überleben bedeutet ja hier gleichzeitig das Überleben von tausenden Familien, deren Väter wir das Recht auf Arbeit (auf Wertschöpfung) zugesichert, deren Familien wir eine Besserung von Milieu- und Bildungschancen versprochen haben. Also müssen Dinge produziert werden, die niemand braucht (bis der Markt entsprechend bearbeitet ist), oder die wir sogar in hoffnungsloser Wirtschaftslage (oder gerade in dieser) subventionieren müssen. Wobei dann alle für jenen Schaden zur Kasse gebeten werden, den sie verpflichtet werden, sich selbst zuzufügen. Noch dazu durch einen Selbstmordkandidaten. Die Lösungsvorschläge, die ich zur Pointierung nennen werde, gehören in die Welt der "Real-Utopien". So läge eine vorzügliche Lösung in der Abkoppelung der Industrie von der Wirtschaft. Real ist dabei der Wert einer Produktion des Notwendigen, ab vom Dirigismus der Wirtschaftszwänge; sowie jene Garantie, die wir dem Individuum für sein Recht auf Wertschöpfung gegeben haben. Eine parallele Realutopie läge in der Kleingliederung nach menschlichen Maßen, im "small is beautiful" nach Kohr und Schuhmacher (also: einer Theorie der Ökonomie als ob es auf die Leut' ankäm'). Denn auf wen sonst sollte es ankommen, frage ich, als auf die Leute? I m Hintergrund solcher Realutopien aber steht eine "Humanitäts-Utopie", nämlich die Erwartung, die negative Korrelation zwischen dem Verantwortungsgefühl des Menschen und dem Umfang (der Anonymität) der Verantwortlichkeit ließe sich wieder umkehren. Folgendes Beispiel: Die absichtsvolle Schädigung des Nachbarn gilt im Familienkreis als Katastrophe, nämlich als moralische Katastrophe. Schädigt ein Kaufmann Hunderte, dann kann dies nur mehr als Fahrlässigkeit ausgelegt werden. Schädigt eine fallierende Bank viele Tausende, dann ist von keiner Schuld mehr die Rede. Alle haben dafür aufzukommen. Das ist alles. Rüstet aber

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ein ganzer Staat zur (offenbar absichtsvollen) Schädigung seines Nachbarn, dann geben wir dieser (möglichen) Absicht bereits einen Ehrentitel aus den Gärten unserer Vernunft: wir nennen das Staatsraison. Aber hier sind wir schon bei den allgemeinen Abmessungen, beim Maß des Menschen und bei jenem der kranken Riesen (Leopold Kohr). Gehen wir also gleich weiter zur 3. Ebene der Politik und Gesellschaft. Winston Churchill soll gesagt haben: die Demokratie ist die miserabelste Regierungsform, mit der alleinigen Ausnahme aller übrigen Regierungsformen. Ich glaube, daß das richtig ist. Wenn meine - wenn sie so wollen "Heilslehre" nun behauptete, es käme darauf an, das Scheitern an seinen Prognosen wahrzunehmen, dann wäre zu fragen, wie Einrichtungen einer Demokratie an ihren Prognosen scheitern könnten. Erliegen wir nicht einem Widerspruch? Ist die fortgesetzte demokratische Auseinandersetzung schlechthin nicht selbst fortgesetzte Kontrolle der schlechteren durch die bessere Prognose; eine gesellschaftliche Fortsetzung jenes allein erfolgreichen Evolutionsprinzips? Wiederum: I m Prinzip "Ja". Daher kann sie im Prinzip wohl auch nur dort scheitern, wo sie sich von der Unmittelbarkeit ihres Prinzips (in Richtung auf zuwenig Demokratie) entfernt. Das aber geschieht ihr auch fortgesetzt und in verschieden weitreichendem Maße. In den westlichen Demokratien, von welchen ich reden will, ist z.B. die Wechselbeziehung von Verfassung, Rechtsgütern und Volkswillen ein Ort möglicher Pervertierung. U n d zwar in dem Sinne, als in der repräsentativen Demokratie das Volk nur bei der Schaffung der Verfassung ganz frei ist, die politischen Sachentscheidungen aber ganz dem Parlament zu überlassen hat. Was nun zum Wohle von Ordnung und Kontinuität geschaffen wurde, kann jedoch zu einer (nach Legislaturperioden) wechselhaften Diktatur bürokratischer Oligarchien pervertiert werden. Denn wie gelangt etwa der Wertewandel in den Rechtsgütern (der der Rechtsordnung) rechtzeitig in die Pflichten der Sachentscheidungen der Parlamente? Die Lösung von Problemen solcher A r t heißt gewöhnlich: mehr "Demokratie". Das aber ist ebenso richtig wie schwierig und somit zuletzt eine Frage von Reife und Bildung. Ein anderer Problemkreis, in dem sich das Scheitern ihrer Einrichtung im Unwillen des Volkes ausdrücken kann, gehört in das Kapitel ihrer "vornehmen Pflichten". Die Vornehmheit solcher Pflichten beruht dabei darauf, daß die Demokratie, die zur Wahrnehmung dieser Pflichten schlecht ausgestattet ist, diese letztlich der Vornehmheit ihrer Bürger anvertrauen muß. Ein bekannter Fall ist der Schutz der Minderheiten und deren Interessen. I m Grunde wurzelt dieses Problem in den Widersprüchen unserer

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aufgeklärten Ideale. Denn in "Freiheit und Brüderlichkeit" ist nur die Brüderlichkeit für jedermann eindeutig; was dagegen wäre das für eine Freiheit, wenn sie nicht die Freiheit zur individuellen Ungleichheit einschließen würde. Wie nun fördert die Demokratie die moralische Vornehmheit der Bürger, also wieder deren Reife und Bildung? Nun sei aber zuletzt ein dritter Problemkreis nicht unterschlagen, in dem sich (gefährlicherweise) das Scheitern an der Prognose nicht sogleich im Unwillen des Volkes auffällig machen muß. Er liegt im Grenzgebiet zwischen politischer und sachlicher Entscheidung. Es ist typisch für systemtheoretische Fragen, für welche wir eben schlecht gerüstet sind und darum meinen, die Lösung sei nur aus einer erfahrungs-jenseitigen (ideologischen) Weltordnung deduzierbar. Beispiel: Die Umverteilung. Wer von uns weiß, wieviel den Erfolgreichen genommen werden soll, bevor man damit beginnt, auch den Erfolglosen zu schaden? Oder, nachdem schon zweimal von Bildung die Rede war: U m wievieles können die Begabten schlechter gebildet werden, bevor man damit auch den Unbegabten, somit wieder uns allen Schaden zufügt? U n d wem dies als akademische Querelen erscheinen mag, den darf ich daran erinnern, daß wir noch ganz andere Systemzusammenhänge dieser A r t nicht begreifen; was wir ja vorläufig mit unseren Ausstattungsmängeln und unbedachter Extrapolation entschuldigen wollen. Die Frage beispielweise, ob die Gesellschaft auf Kosten des Individuums oder das Individuum auf Kosten der Gesellschaft gefördert werden soll. Tatsächlich steht diese Frage offen hinter den uns heute gefährdenden Ideologien. U n d selbst unsere mittleren "sozial-kapitalistischen" Erfolgsgesellschaften sind sich nicht klar darüber, welche den Einzelnen gerechterweise abverlangt werden darf und wieviel an Macht (Einfluß oder Kapital) dagegen demselben Einzelnen zustünde. Die Rederei von "alle für einen und einer für alle" hat uns nur den Faschismus gebracht. In Wahrheit verstehen wir die Sache noch nicht. Da aber enden die akademischen Querelen. Vielmehr, aber das sagte ich schon, mag ein Übersteigen unserer Anpassungsmängel durch das Wahrnehmen des Scheiterns an unseren Prognosen, wo immer es unsere Lebensfragen betrifft, eben zu einer Frage unseres Überlebens werden (wiewohl für die Evolution nur ein kleiner, möglicher Schritt).

Krise: Gefahr und gute Gelegenheit1 Von Leonhard Bauer, Wien 1· Die beiden Aspekte des Denkens Zuerst ein Zitat, mit dem Foucault "Die Ordnung der Dinge" einleitet. Er bezieht sich auf "eine gewisse Enzyklopädie", eine chinesische, "in der es heißt, daß die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppe gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, 1) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen! Bei dem Erstaunen über diese Taxonomie erreicht man mit einem Sprung, was in dieser Aufzählung uns als der exotische Zauber eines anderen Denkens bezeichnet wird - die Grenze unseres Denkens: Die schiere Unmöglichkeit, das zu denken". 2 Dieses Zitat macht einprägsam deutlich, was Toulmin 3 und in anderer A r t und Weise Sorokin* zu zeigen versuchten: Es besteht ein äußerst wichtiger Zusammenhang zwischen "wie man denkt" resp. der Vorstellung davon, wie man denkt und dem "was man denkt", spricht und sieht. Das heißt: die Vorstellung über und Prägungen unserer Denkstrukturen bestimmen das, was man sieht. Allerdings auch vice versa. Zumeist mit entsprechenden Verzögerungen. In zwei Phasen unserer Entwicklung - folgt man den Überlegungen Toulmins und Sorokins - wurde beiden Aspekten große Aufmerksamkeit geschenkt. Sowohl das "Wie man denkt" als auch das "Was" wurden gleichzeitig intensiv überdacht, erforscht und neu gefaßt. Diese Neuformung und Neuformulierung begleiteten die großen Sprünge oder Phasen unserer Entwicklung. Die eine bezieht sich - wie fast immer in unserer Historie auf die alten Griechen etwa im 5. und 4. vorchristlichen Jahrhundert, die andere auf die Renaissance und den Beginn der Neuzeit.

1

2 3 4

Vgl. Capra, Wendezeit, 1983, S. 21. Grundstruktur und Teile des hier vorliegenden Artikels sind entnommen: L. Bauer, Towards new Concepts of Thought in Economics, in: CISEP (Hrsg.): The Behaviours of Economic Agents and the Reorientation of Economic Policy in Portugal, Lissabon 1986 Borges, Analytische Sprache, 1966, S. 212; Foucault, Ordnung der Dinge, 1971, S. 17 Toulmin, Kritik, 1973 Sorokin, Cultural Dynamics, 1952

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Es kann gezeigt werden, daß die heute noch gültigen Regelungen des wie ,f wir uns vorstellen, daß wir denken, im wesentlichen bestimmt werden von den Vorstellungen in Einzelbereichen; wir könnten heute versuchen, sie mit Einzelwissenschaften des 17. und 18. Jahrhundert zu umschreiben. Freilich ist es unmodern geworden, über Erkenntnis in den Wirtschaftswissenschaften zu reden. Die überläßt man - zumeist nicht sehr geachtet Gruppen von Spezialisten. Man selber betreibt höchstens Wissenschaftstheorie. Die Basis dieser zumeist für die alte, mechanistische Physik als Leitbild entwickelte Wissenschaftstheorie ist aber dennoch - und darum kommt man trotz allen Verschweigens, Negierens nicht herum - eine Erkenntnistheorie. Dieser liegen drei "verständliche" Annahmen zugrunde. M

-

Die Naturordnung ist gegeben und der Mensch erkennt sie, lernt sie erkennen, nach allgemein gültigen, gegebenen Gesetzmäßigkeiten. Geist und Materie sind strikt geschieden. Der Ausgangspunkt der aus sich selbst motivierten Tätigkeit ist der Geist, das Bewußtsein. Das geometrische Wissen ist der Maßstab unverrückbarer Gewißheit. A n ihr ist alles Wissen zu messen.5

Gleichzeitig hat die permanente (und auch notwendigerweise modifizierte Verwendung dieses "Wie" dazu geführt, daß das "Was" nicht mehr die - wie es uns heute scheint - doch zu kühnen Schlußfolgerungen der "Modernen" 6 deckt und ergänzt. Denn die Zweckmäßigkeit einer Definition des "Wie" ist nicht überwältigend. Setzt doch eine solche Definition voraus, "daß sie den Kern der definierten Sache, das 'Wesen' ihres Gegenstandes trifft." 7 Somit müßte der Gegenstand bereits gegeben sein, d.h. eine solche Regelung müßte das Ergebnis, nicht aber die Anleitung für die folgenden Untersuchungen sein. Die einstigen "wahren" Annahmen und Beschreibungen der "Fachdisziplinen", die in ihrer Sicherheit und Akzeptanz den "Wie"-Vorstellungen Plausibilität verleihen, sind Relikte längst vergangener Jahrhunderte. Auch die Modifikationen, wie die Ersetzung des geometrischen Wissens als Maßstab durch ein mathematisches, schaffen es nicht mehr, die "selbstverständlichen" Annahmen an das Plausibilität liefernde aktuale Wissen heranzuführen. Akzeptiert man die neuzeitlich dominierte Vorstellung der Wissenschaften als Problemlösungsmittel, so bleibt als Problem die Beziehung zwischen Erkenntnisinteresse der Gesellschaft einerseits und den Wissenschaften andererseits. Für die Naturwissenschaften, so J. Habermas, 8 - aber auch für den traditionellen und vorherrschenden Bereich der Wirtschaftswissenschaften - erweist sich das Produktionswissen als domi5 6 7 8

Toulmin, Kritik, 1973 Jones, Ancients and Modems, 1965 Kromphardt u.a., Methoden, 1979 Habermas, Erkenntnis, 1973, S. 68 f.

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nierend. Dieses Wissen ist für die Warenproduktion entwickelt und nutzbar gemacht, u.a. unter dem leitenden Gesichtspunkt der Gewinnerzielung: Forschungsfinanzierung und Verinnerlichung von Praxiserfordernissen der Warenproduktion unter Gewinnerzielungsnotwendigkeiten bestimmten die Frage und das Ausmaß des "Fortschrittes". Bedenkt man den Einfluß des "Handelskapitals" für die frühe Neuzeit, sowie die Dominanz des industriellen Kapitals heute, so macht dies die Diskrepanz nur deutlicher. Ein Blick auf einige dieser Vorstellungen, die als prägend, vorbildhaft findie A r t und Weise des Denkens angesehen wurden, bestätigt dies. 1.1 Das Gesetz Der Gesetzesbegriff mit seiner Unwandelbarkeit erscheint verständlich und vorstellbar in einer Zeit, in der man das Alter der von Gott geschaffenen Welt mit etwa 5500 Jahren schätzte. Bis in die Mitte des 18. Jahrhunderts 9 kam man mit diesen nicht einmal 200 Generationen aus. Heute verlegt man den "big bang", mit dem man die Evolution beginnen läßt - ich bitte um Entschuldigung, wenn ich die neuesten Entwicklungen der Physik nicht genügend berücksichtige - um rund 17 Mrd. Jahre zurück. Allein diese Vorstellung, diese Dimension, macht die Unwandelbarkeit der Ordnung, der Gesetze, weniger plausibel. Auch schiebt sich eine andere Gewichtung in der Analyse, eine andere Fragestellung, in den Vordergrund: Es wird nicht nach den ewigen Gesetzen gefragt, die jenseits von Raum und Zeit angesiedelt sind, und damit eine A r t Quasi-Gott, auch Ersatz-Gott bilden; sondern danach, wie es zur Entstehung und Entwicklung in der Zeit kommt. Die Bedingtheit wird viel stärker gesehen. Diesbezüglich soll noch in Betracht gezogen werden, daß der Gesetzesbegriff in unserem Sinn eine ausgesprochen neuzeitliche Entwicklung ist. Er ist mit der Durchsetzung des neuzeitlichen Zentralstaates entstanden. Vor dieser Durchsetzung bezeichneten die frühen Naturwissenschaftler denken wir an Galilei - das, was Newton später zumeist als Gesetz bezeichnete, als Relation. Erst aufgrund der gesellschaftlichen Regelung im Rahmen des sich organisierenden Zentralstaates und des die verschiedenen Schichten und Lebensformen zerbrechenden und die Gesellschaft neu strukturierenden Handelskapitals wird dieser Gesetzesbegriff faßbar. Dem einzelnen wird zumeist mit Gewalt eingeprägt, daß es Gesetze gibt, die erbarmungslos, unbedingt und unwandelbar durchgesetzt werden. 1 0 9 10

Lepenies, Ende der Naturgeschichte, 1976, S. 43 Vgl. auch die darauf fußende ganz andere Einbettung der neuzeitlichen "Wunder"-Interpretation im Vergleich zu der ohne Referenz auf "Naturgesetze" verfaßte "WundenVorstellung der Antike.

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U n d nicht nur Gesetze - auch moderne Wissenschaften und deren Rationalität (Die korrekte Rangordnung dürfte sein: Moderne Realität und deren Wissenschaft). So M . Weber: "(Es bedarf) ... unserer modernen Wissenschaft unter unseren modernen Bedingungen der Garantie der Verfügungsgewalt durch Rechtszwang des Staates. Also: Durch Androhung eventueller Gewaltsamkeit für die Erhaltung und Durchführung der Garantie formell "rechtmäßiger" Verfügungsgewalten ,.." 1 1 Daraus folgt nach M . Weber, daß in einem solchen System entwickelte Rationalität die implizite Durchsetzung einer ganz bestimmten Form von Herrschaft bedeutet. U n d J. Habermas 1 2 hält fest: "Deshalb ist die 'Rationalisierung' von Lebensverhältnissen nach Maßgabe dieser Rationalität (... die sich auf die richtige Wahl zwischen Strategien, die angemessene Verwendung von Technologien und die zweckmäßige Einrichtung von Systemen - bei gesetzten Zielen in gegebener Situation - erstrebt...) gleichbedeutend mit der Institutionalisierung einer Herrschaft, die politisch unkenntlich wird: die technische Vernunft eines gesellschaftlichen Systems zweckrationalen Handelns gibt ihren Inhalt (Herrschaft, d. Verf.) nicht preis." Wie wenig in einem solchen System preisgegeben wird, soll die folgende manchen ketzerisch erscheinende - Überlegung zeigen. I n unserem - oder auch: aufgrund unseres - Ausbildungssystem sind wir nur allzu geneigt, den Naturwissenschaften eine beispielgebende, eine Vorbildfunktion einzuräumen. Wobei, wie mir als Laien scheint, viele dazu neigen (d.h. Sozialwissenschaftler, die hinsichtlich der Naturwissenschaften und Naturwissenschaftler, die hinsichtlich des Sozialen Laien sind), beruhigend und unkritisch eine Gleichsetzimg von Descates-Newton'scher Naturwissenschaft mit Naturwissenschaft (an sich) vorzunehmen. Wenn man schon auf solchen reduktionistischen Autobahnen dahinbraust, ist es nur mehr eine Kleinigkeit, Naturwissenschaft mit Wissenschaft (überhaupt) gleichzusetzen. I m Gegensatz zu dieser Gepflogenheit deuten historische Untersuchungen auf ein anderes Vorbilds- oder Prägeverhältnis: die wesentlichen Denkstrukturen werden aufgrund des Verhaltens im gesellschaftlichen Bereich entwickelt und erst später in den Bereich übernommen, der dann als Naturwissenschaft benannt wird. Einige Hinweise: Bevor die moderne Physik auf kompakten Elementen, autonomen Elementen und -teilen etc. arbeitete (Galilei), finden wir bei Machiavelli im Bereich des Sozialen die Reduktion auf ein autonomes, letztes Element, genannt Individuum, genannt "Der Fürst". Primär beschäftigt sich der Florentiner mit dem Fürsten, der aus der - postulierten und zum Teil gegebenen - gesellschaftlichen Einbindung und Verpflichtung entlassen wird. (Das Individuum - der Fürst - wird nur für sich verantwortlich, 11 12

Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 1964, S. 44 Habermas, Technik und Wissenschaft, 1974, S. 50

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Tätigkeiten und Leistungen nur ihm zurechenbar.) Der Mensch tritt aus dem gesellschaftlichen Verband heraus, oder der Mensch der Unterschichten wird daraus verstoßen. Das Individuum steht diesem indifferent bis feindlich gegenüber: 13 Es wird autonom. Ähnlich scheint die Evolutionstheorie konzipiert bei A . Smith, Turgot und auch Rousseau Mitte des 18. Jahrhunderts. Darwin und Wallace folgen wesentlich später, etwa ein Jahrhundert. Abgesehen davon, daß Prioritätsstreitereien eher sinnlos erscheinen, will ich auch keine vom Zaun brechen. Worum es mir geht, ist darauf zu verweisen, daß die Denkstrukturen, die die Menschen entwickeln, aus dem kommen, wodurch sie selber zu dem werden, was sie sind: "aus dem praktischen Leben". Parallel zu diesen Überlegungen gehen die Erkenntnisse der modernen Entwicklungspsychologie, die untrennbar mit dem Namen Piaget verbunden sind. 1 * 12 Die Materie und der Geist Das beste Beispiel für das Weiterwirken der Vorstellung von der Trennung von Materie und Geist ist die des unbeteiligten, des neutralen Beobachters. A u f der einen Seite der beobachtende Intellekt, auf der anderen das zu beobachtende Objekt. M i t dieser Vorstellung verknüpft sich eine andere, nämlich die: Materie ist "dull", unbeweglich, passiv; der Geist ist das Bewegende, daher kommt ihm auch ein Herrschaftsanspruch z u . 1 5 Diese Trennung von Subjekt und Objekt kann heute gemäß der Entwicklungspsychologie à la Piaget kaum aufrecht erhalten werden. (In diesem Zusammenhang sei auf die historische Durchsetzung der "Warenproduktion" verwiesen und daran erinnert, welche Bedeutung Marx dem Fetischcharakter für das Denken beimißt. 1 6 ) Geht man von der Trennung der bei13 14 15

16

Vgl. Borkenau, Übergang, 1934 u.a. Piaget, Gesammelte Werke, 1975. Eine kurze, ausgezeichnete Einführung in das Werk Piaget gibt Furth, Intelligenz, 1976 Vgl. das Zurückdrängen der Vorstellung, daß der Mensch neben einem Selbsterhaltungs- auch einen Sozialtrieb habe und die Begründung der Vertragstheorien im Verstand der einzelnen (17. Jahrhundert). Die Nähe von Geist und Gewalt bzw. Herrschaft ist unübersehbar. "Das Geheimnis der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis des Menschen selbst, welches hier für sie die pantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt." Marx, Das Kapital, 1. Bd. M(aix) E(ngels) W(erke), Bd. 23, S. 86; vgl. Lukäcs,

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den aus, so drängt sich die Frage auf: Wie kommt es zu dem, was man Intellekt nennt? Entweder muß er an und für sich gegeben sein, oder er muß sich entwickeln. Entwickelt er sich, so ist die Separation nur dann gewährleistet, wenn er sich autonom, nach einem angeborenen Muster entfaltet. Aber alles deutet darauf hin, daß sich die Strukturen unseres Denkens im wesentlichen aus der Interaktion mit unserer Umwelt b i l d e n . 1 7 Aus der zunehmenden Verselbständigung sensomotorischer Abläufe werden innere Strukturen gebildet. In den so gebildeten inneren Strukturen assimiliert der Mensch seine Umwelt. Er wendet sie auch wieder an. Er projiziert diese Strukturen (Akkomodation) in die Umwelt und verknüpft gemäß ihrer Brauchbarkeit ... Die Dichtomisierung ist offenkundig nicht aufrechtzuerhalten. Was war die Vorstellung, die man etwa im 17. Jahrhundert über den Ablauf des Denkens hatte und die die Trennung von Geist und Materie unterstützte? Es wurde angenommen, daß ein von außen kommender Impuls eine im Inneren des Menschen verlaufende Tetraederkette (Nervenbahn) anstößt. Hiedurch fallen die aneinander gelehnten Tetraeder um. A u f diese Weise erfolgt die Informationsweitergabe bis ins Hirn. U n d dort befindet sieht das "centrum sensorium", wo der Umschlag der mechanischen Informationsweitergabe in die geistige Informationsverarbeitung erfolgt. Wie dieser Umschlag von Materie in Geist erfolgt, wurde nicht zu erklären versucht. Es war einfach so. Vergleichen wir die für die Trennimg Materie/Geist konstituierende Annahme mit den Bruchstücken an Wissen, die heute ein Laie über Informationsweitergabe und -Verarbeitung hat, so wissen wir, daß diese mindestens in drei Medien erfolgen: chemisch, elektromagnetisch und unter Berücksichtigung biologischer Dimensionen. (Das Problem der gesellschaftlichen Dimension sei in diesem Raster nicht aufgeführt.) Ergänzen wir dies mit dem Hinweis darauf, daß die Neuronenstruktur des Menschen nicht angeboren ist, sondern - zwar ziemlich früh (in den ersten Monaten) - entsteht. Dies erfolgt unter dem Einfluß der Umwelt. Die Aufhellung dieser historisch (aufgrund der jeweiligen Situation und damit des jeweiligen Wissens) bedingten Zerfällung macht die üblicherweise implizite, nicht mehr reflektierte Annahme der Trennung von Geist und Materie obsolet.

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Geschichte, 1923, S. 96 f. Vgl. Holzkamp-Osterkamp, Grundlagen, 1977, S. 112 ff.

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13. Euklidische Geometrie: Korrespondenztheorie Die Vorbildfunktion der Geometrie, resp. der Mathematik beginnt ab der Neuzeit, vor allem ab dem 17. Jahrhundert immer deutlicher zu werden. Galt bis dahin das Erlernen von Sprachen als das probateste Mittel zur Förderung des Geistes, so übernimmt ab dieser Zeit Geometrie/Mathematik diese Funktion. Auch die Zurückdrängung des diskursiven Elements gegenüber einem disziplinierenden Aspekt in der Organisation des Unterrichtswesens, die Betonung des Beweises gegenüber der Bedeutung von Argumenten, die Verdrängung, Überlagerung und /oder Zerschlagung ständischer Organisationen und damit auch des Miteinanders durch die zentralisierte Organisation des modernen Staates sind Phänomene verschiedener kausaler Gewichtigkeit dieser Zeit. Dies korrespondiert damit, daß immer mehr Wissenschaftler dem Reiz des analytischen Syllogismus erlagen und diesen sowohl zum Ausgangspunkt als auch zum Ziel ihrer Überlegungen machten. Der analytische Syllogismus in seiner Geschlossenheit, Einfachheit, Eindeutigkeit und Vollständigkeit machte alle übrigen Vorstellungen, wie zu Ergebnissen zu kommen sei, zu nichtadäquaten Methoden. Keine Frage, daß darunter auch die Differenziertheit der Argumente l i t t . 1 3 U n d in diese Situation und Tendenz paßt die Vorbildsfunktion der euklidischen Geometrie (später der Mathematik) bestens. Insbesondere waren mit ihr zwei Vorstellungen verbunden, nämlich die, daß die Realität ihr entspräche und daß so zu denken, notwendig wäre. Diese Idealisierung und die damit bewirkte Selbstsicherheit, die nicht zu selten in Arroganz ausartete, wurde erstmals durch die Entwicklung einer hyperbolischen, nicht-euklidischen Geometrie durch Gauß, Lobatschevsky und Bolyai problematisiert. Damit war der in diesem Denken einlösbar gedachte Anspruch auf "absolute Wahrheit" dahin. Dennoch glaubten selbst Gauß und auch R i e m a n n 1 9 noch, daß aufgrund von Experimenten der Entscheid zwischen den differenten Geometrien möglich sei. Diese Verunsicherung machte sich in den Spitzen der mathematischen Wissenschaft Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts langsam bemerkbar. U m die Mitte des 19. Jahrhunderts erfuhr die intuitive, anschauliche Abbildungsfähigkeit der Mathematik eine weitere Erschütterung: Dem Beispiel einer stetigen Funktion, die für bestimmte Variablenwerte keine Ableitung zuläßt, durch Riemann folgten bald ähnliche "paradoxe" Funktionen durch Weierstraß, Kuhn, Buhl et al. Bourbaki erfaßte diese die Selbstsicherheit erschütternde Veränderung klar: "Mit Riemanns Forschung über die Integration und mehr noch mit den Beispielen von Kurven 18 19

Toulmin, Gebrauch von Argumenten, 1975, S. 91 ff. Bourbaki, Eléments d'histoire, 1960, S. 26

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ohne Tangenten, die von Bolzano und Weierstraß konstruiert wurden, fängt die ganze Pathologie der Mathematik a n . " 2 0 Denn, für solche Kurven wird jeder Punkt zu einem Knickpunkt und dieser sagt nichts über vorhergehende und folgende Punkte aus ... Nur mehr die Verknüpfung von Punkt zu Punkt kann postuliert werden, nicht aber eine Gesamttätigkeit. Dies torpediert das, was man unter "normalen, gesundem Menschenverstand" noch heute versteht. Es macht den Inhalt von Erfahrung und Bedeutung höchst unsicher. Es ist verständlich, daß diese Grundlagenkrise der Mathematik ihr Selbstverständnis erschüttert. - Nicht zu verwundern, daß sich schließlich um 1900 die Logik nicht mehr als Lehre des Denkens verstand, sondern als die der "wahren Aussageformen", um schließlich sich mit elaborierten Regeln der Wahrheitsübertragung zu beschäftigen. 21 - Offenkundig wurde dies durch die formale Strukturen propagierenden Ökonomen nicht rezipiert. Die Nichtableitbarkeit einer stetigen Funktion, welch außergewöhnliche Eigenschaften in einem Denksystem und von welcher Gleichgültigkeit außerhalb, führte zur Infragestellung des Begriffes der Gegenwart'- 22 selber. M i t der Entwicklung stetiger, aber nicht differenzierbarer Funktionen ist auch die Abbildbarkeit, die Vorstellung, alles darstellen zu können und somit die Korrespondenzannahme von Denken und Realität weiter erschüttert. Schließlich traten in der von Cantor begründeten Mengenlehre - gegen Ende des 19. Jahrhunderts - Antinomien auf, die mit dem Begriff der Unendlichkeit zusammenhingen. A m bekanntesten dürfte die von Rüssel entdeckte Antinomie sein, die entsteht, wenn versucht wird, die Menge aller Mengen zu bilden, die sich selbst nicht als Element enthalten. Sie kann weder zu ihrer eigenen Klasse gehören, noch gemäß Definition zur Klasse der Menge, die sich selbst als Element enthält. Diese beiden Klassen bilden eine vollständige Disjunktion: ein logisches Paradoxon. Solche Antinomien führen die Mathematik neuerlich in eine Grundlagenkrise. Der Nimbus der absoluten Unanfechtbarkeit und Exaktheit war dahin. Hilbert versuchte die klassische Mathematik axiomatisch zu rekonstruieren. Vollständig formalisiert soll sie auf ein reines Kalkül zurückgeführt werden. Diese kalkülisierte Mathematik soll durch Metamathematik begründet werden... Dieses metamathematische Programm hat seinerseits beachtliche Tükken, wie Gödel im "Unvollständigkeitssatz" seiner Arbeit "Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme" 23 20 21 22 23

ebd., S. 27 f. Frege, Begriffschrift, 1971; Russel/Whitehead, Principia, 1910-1913; Popper, Logik der Forschung, 1935 Goux, Freud, Mane, Ökonomie und Symbolik, 1975, S. 160 in: Monatshefte für Mathematik und Physik 38,1931, S. 173 ff.

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aufwies. Er bemühte sich dabei, Aussagen, die in einer Metasprache M über die Objektsprache S formuliert werden, in die Objektsprache zu überführen. Es ergeben sich zwei Theoreme: 1) Ist das System S widerspruchsfrei, tritt notwendigerweise ein Satz auf, der nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden kann (unentscheidbar). 2) Ist das System S widerspruchsfrei, so ist dies in S nicht beweisbar. Die Konsequenz: Für formale Systeme bestimmter Differenziertheit (z.B. bereits die Prädikatenlogik erster Stufe) gibt es keine Entscheidungsverfahren: "limitation of mathematizing power of Homo Sapiens". 24 - Die Differenz von Sprache und Metasprache führt zu Paradoxien vom Typ wie sie bereits Epimenides anhand des lügenden Kreters zeigte. U m dies zu vermeiden, muß zwischen Objekt- und Metasprache strikt getrennt werden. Dies führt zur Einsicht, daß die Bestimmung ob wahr oder falsch, nicht in der Objektsprache, sondern nur in der Metasprache möglich ist. Wendet man diese Überlegung auf die Metasprache an, so ist der unendliche Regreß nicht vermeidbar! Wie weit entfernt sind diese Zweifel erweckenden Überlegungen von Descartes Behauptungen "Alle Wissenschaft ist sicheres evidentes Wissen..." oder gar von Galileis Ausspruch, daß die Sprache die Mathematik und die Schriftzeichen Dreiecke, Kreise und andere geometrische Figuren seien. Dennoch haben wir die Vorstellungen, die im 17. und 18. Jahrhundert entstanden sind, relativ konstant bis heute herübergerettet. Ihre Plausibilität - siehe oben - hat mehr als gelitten. Betrachten wir nun die "Was"-Regelungen. Behalten wir jedoch die Frage im Auge, ob es von Vorteil ist und war, die veränderte Basis, die veränderte Plausibilität für die "Wie"-Vorstellungen nicht zu berücksichtigen. 2. Bedeutung und Funktion der "WieM-Regelung Wenn jemand Wirtschaftswissenschaften zu erlernen wünscht, oder irgendeine ihrer oder auch eine andere Fachdisziplin, muß er wie in jeder Sprache damit beginnen, Vokabel zu lernen und aufzunehmen, wie diese Begriffe miteinander verbunden werden, welche Verknüpfungsregeln in einer Sprache gelten. Dabei passiert folgendes: Durch die Verwendung einer Sprache wird eine ganz bestimmte Realität erzeugt. Nicht nur das! Wer immer eine Sprache benutzt, bewegt sich in ihr, versucht Schwierigkeiten (Probleme), die sich ergeben, genau mit Hilfe dieser Sprache und des damit verbundenen Blickwinkels zu lösen. Nach dem Motto, wer nur den Hammer als Werkzeug kennt, dem wird jedes Problem zu dem eines Ham-

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Hermes, Aufeählbarkeit, 1971, S. VI

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mers. Die Gegenstands- oder Realitätsschaffung impliziert - was zumeist vergessen wird, und was wir uns kaum einmal bewußt machen -, daß dadurch eine Herrschaftsstruktur akzeptiert wird. Denn, warum denkt man in einem Muster und nicht in einem anderen? Warum verwendet man diese Elemente und Verknüpfungsregeln und nicht jene? Die Frage rührt an etwas, was uns in der Historie ohne Umschweife sehr deutlich gemacht wird: Wesentliche Begriffsformen sind historisch erklärbar aus dem je nach Zeit dominierenden Interesse bestimmter Schichten. 25 3. Wesentliche Elemente und VerknQpfungsregeln des ökonomischen Denkens M . Blaug, 2 0 ein u.a. sehr angesehener Methodologe und Dogmenhistoriker (dessen Konservativität ihn zu einem Zeugen macht, dem man - welche Ausgewogenheit im Urteil eines Ökonomen! - wohl nicht vorwerfen kann, daß er vorurteilshaft, unglaubwürdig sei), konstatierte: "Es ist vollständig klar, daß das jahrhundertealte Paradigma des ökonomischen Gleichgewichts durch den Marktmechanismus, das angeblich von Keynes abgelöst worden war, tatsächlich ein Netz miteinander verknüpfter Sub-Paradigmen ist; kurz, es kann am besten als ein Lakatosianisches wissenschaftliches Forschungsprogramm betrachtet werden. Es ist vor allem aufgebaut auf dem Prinzip der Maximierung unter Randbedingungen, Smith's Postulat des maximierenden Individuums in einem verhältnismäßig freien Markt, oder was Friedman kurz Maximierung-der-Gewinn-Hypothese nennt. Der Grundsatz des maximierenden Verhaltens unter Randbedingungen wird dann mit der Vorstellung eines allgemeinen Gleichgewichts auf sich selbst regulierenden Wettbewerbsmärkten verbunden um daraus die komparativstatische Methode zu entwickeln..." Nach der generell akzeptierten Meinung der Z u n f t 2 7 der Ökonomen beginnt dieses Paradigma mit der Klassik, mit A . Smith. Wobei A . Smith selber maßgeblich für diese Betrachtungsweise ist, da er im IV. Buch seiner "Wealth of Nations" (1776) die Merkantilisten scharf verurteilte; diese Verurteilung hat sich als nicht stichhaltig erwiesen. 28 Sie nutzte aber insofern, als es den Nachfahren der Klassik erlaubte, sich auf die Klassiker zu berufen und zwar insofern diese merkantilistische Denkstrukturen verwendeten, während das, was von den Klassikern als Neues eingebracht wurde, nämlich die Betonung der Arbeit und der Produktion, die Behandlung von

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Foucault, Archäologie des Wissens, 1973; Bauer, Theoretische Fiktion, in: iwk Mitteilungen des Instituts für Wissenschaft und Kunst 1982/1, S. 2 ff. Blaug, Kuhn versus Lakatos, in: Latsis (Hrsg.), Method, 1976, S. 161 Thurow, Dangerous Currents, 1983 Cuningham, Adam Smith, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft 40,1884

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Klassen sowie die der Entwicklung verdrängt wurde. Deutlich schreibt C. Menger: "Ich hatte mir zur Aufgabe gesetzt, die von mir als irrtümlich erkannten Theorien des A . Smith zu widerlegen und an ihrer Stelle neue zu setzen." Wie u.a. Routh, Ward und B a u e r 2 9 deutlich machten, sind die tradierten Elemente Smith'scher Überlegungen, das Neue oder zumindest die Basis des Neuen bei Menger, bereits im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt worden. Es seien nur Mandeville, Locke, Petty, Cantillon erwähnt. 3.1 Das autonome, egozentrische Individuum Die wesentlichen Annahmen sind genau die, die auch der Blaug'schen Beschreibung ihre Charakteristik geben: Das autonome (autos - selber, nomos - Gesetz, zuerst in der Staatstheorie verwendet) Individuum, das über vorgegebene Bedürfnisskalen verfügt. Dies entspricht vorstellungsmäßig homöostatischen Maschinen, die sich nach bestimmten Regeln verhalten, nämlich denen der Gewinnmaximierung. (Diese Auffassung des Menschen als Maschine ist ein königlicher, absolutistischer Tagtraum: Figuren, "belebt" durch eine Uhr, schaffen die Voraussetzung für bedingungslosen Gehorsam, permanente Kontrolle). Restringiert wird dieses Gewinnmaximierungsstreben nur durch das nämliche Bemühen der anderen. Diese angebliche "Was"-Beschreibung ist problematisch, um es vorsichtig auszudrücken. Abgesehen von dem, was sich in den Naturwissenschaften tut, wo man die einst als im wesentlichen konstant angenommenen Grundelemente heute als vielfach zerlegbar erfährt, zeigte S. Freud, daß die Annahme des autonomen, rational denkenden Individuums kaum aufrecht zu erhalten ist. Ich erinnere an seinen Hinweis, 3 0 daß der Mensch drei große Kränkungen erfahren hat. Die erste bei der Entdeckung Kopernikus', daß der Mensch nicht das Zentrum des Universums ist. Die zweite mit Darwin, daß er nicht eine spezielle Instanz in der Entwicklung, sondern ein Glied derselben ist. Die Dritte wird mit seiner Entdeckung assoziiert, daß der Mensch möglicherweise nicht einmal Herr im eigenen Haus ist. Damit rekuriert er auf die sogenannte psychische Struktur, sei es nun in der Fassung Über-Ich, Ich oder Es oder in der des Vorbewußten, Unbewußten oder Bewußten. Wenngleich nicht ausformuliert, lassen sich die Freudschen Kategorien "Über-Ich", "Ich" und "Es", in der Smithschen Konzeption des "impartial spectator" und des "impartial spectator within the breast" sowie den Trieben und Leidenschaften skizziert, als vorausgenommen erachten. 3 1 Das 29

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Ward, Wirtschaftswissenschaften, 1976; Routh,-Origins of Economic Ideas, 1977; Bauer, Entwicklung des "homo oeconomicus", in: Matis (Hrsg.), Von der Glückseligkeit des Staates, 1981 Freud, Psychoanalyse, in: Gesammelte Werke, Bd. XII, 1972, S. 3 ff. Vgl. Kittsteiner, Ethik und Teleologie, in: Kaufmann/Küsselberg (Hrsg.), Markt, Staat

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Handeln der Menschen wird demnach durch das Prinzip der Billigung, dem inneren moralischen Gefühl in uns, geleitet. Das betrachtende A u g e 3 2 wird internalisiert und vor diesem inneren Gerichtshof hat man sich zu verantworten. A u f Grund der Affektkonstitution des Menschen, seinem Wunsche, ein (abgeleitetes) Gefühl für die Situation des anderen zu bekommen und dieses mit seinen eigenen Gefühlen zu vergleichen und so zu einem U r t e i l zu gelangen, wird etwas Individuelles zu etwas Gesellschaftlichen entwickelt. Freilich, unter der bei Smith und auch Hume immer gemachten Grundannahme, daß der Mensch seiner Natur nach ein soziales Wesen sei.33 Ergänzen wir diese Überlegungen (wenn Freud, was ja in diesem seinem Heimatland durchaus möglich ist, auf Ablehnung stößt. "Heimat bis du großer Söhne" ... klingt gut, aber es gibt in Österreich keine Dienstposten eines Professors für Psychoanalyse, denn der einzige, den es gab, wurde umgewidmet ...): Auch die Entwicklungspsychologie à la Piaget zeigt, daß eine autonome Entwicklung des Menschen nicht möglich ist, da ein Mensch in Gesellschaft aufwächst und diese auch zu seiner "Menschwerdung" benötigt. Seine Denkstrukturen werden aufgrund der Interaktion von Mensch zu Umwelt - und dazu gehört nicht nur die unbelebte, sondern auch die belebte Natur, der Mensch, der "reife" Mensch - gebildet. 3 * Eine weitere Ergänzung liefern uns die Untersuchungen Devereux' 3 5 über die Angst, die unsere innere Struktur (mit)gestaltet. Angst ist sicher etwas, was von außen kommt, etwas, das nicht angeboren ist, sondern sich aus der Auseinandersetzung entwickelt... Diese Hinweise dürften genügen, um die Unhaltbarkeit einer der zentralsten Vorstellungen des ökonomischen Denkens zu zeigen, die des autonomen, egozentrischen Einzelwesens. Eine Ausführung bietet sich zur Egozentrik dieses autonomen Wesens an: Egozentrik ist ein Charakteristikum frühkindlicher Entwicklung. Sowohl Freud als auch Piaget zeigen, daß nur das frühe Kind aufgrund der Dependenz diese Egozentrik des Denkens aufweist. Reiferes Denken, das aufgrund der Interaktion mit anderen, dem Handeln in Gruppen entsteht, muß hingegen eine Dezentrierung und Reversibilität annehmen. Egozentrik kann bei Erwachsenen, reifen Menschen auftreten - allerdings als

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und Solidarität, 1984, S. 43 Vgl. die Vorstellung des Denkens in seiner Korrespondenz mit dem des Sehens; Lindberg, Auge und Licht, 1987; Rorty, Spiegel der Natur, 1984 Vgl. Smith, Theory of moral Sentiments, 1976, III.2.6; ders., Wealth of Nations, 1979; L.ii.3; Bauer/Matis, Geburt der Neuzeit, 1988, S. 481 ff. Furth, Intelligenz und Erkennen, 1976 Devereux, Angst und Methode, 1976

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Rückfall, als Regression, als Verlust dessen, was konstitutiv dafür ist, was wir üblicherweise als Denken bezeichnen. Pointiert gesagt, postuliert man somit in der Ökonomie eine Verhaltensweise, die biographisch dem frühen Kind, historisch hingegen dem frühen 17. Jahrhundert zuzuordnen ist. Jene Zeit der Dependenz des entstehenden Bürgers von der Zentralmacht, ist vergleichbar der Situation des frühen Kindes gegenüber seinen Eltern. Situationsbedingt entstehen gleiches oder ähnliches Verhalten bzw. Denkstrukturen. 3 0 Man gestatte mir, an eine Freud'sche Reaktionsbildung zu denken, wenn dieses Menschenbild als das eines reifen, freien und unabhängigen oder wie immer man dies bezeichnet, Wesens herangezogen wird. Was die Realität dieses freien etc. Menschen betrifft, lassen wir den Organisationstheoretiker M c G r e g o r 3 7 zu Wort kommen. Er bezieht sich auf Argyris, der feststellte, daß in der Produktion Millionen erwachsener Menschen gezwungen sind, 40 Stunden pro Woche ihr Denkvermögen zu unterdrücken und auf dem Niveau einer infantilen Lebenseinstellung zu verharren, und stellt dann fest: "... in seiner Grundauffassung von den im Menschen verborgenen Kräften scheint das Management davon auszugehen, daß der Durchschnittsmensch in seiner Entwicklung ständig im frühen Jünglingsalter steckengeblieben ist." - Kein Wunder, daß zur Hebung und Entwicklung dieser Kräfte die moderne Praxis und Theorie der Organisation eine ganz andere Idee des Menschen vertritt. 32 Gewinn- und Nutzenmaximierung Bereits die entwicklungspsychologischen Untersuchungen haben gezeigt, daß auch die Verknüpfungsregel, die der Gewinn- oder Nutzenmaximierung zugrundehegt, äußerst kritikanfällig ist. Dazu kommt, daß das System, in dem man maximiert, vollständig definiert sein muß. Dies schließt Wahrscheinlichkeiten nicht aus, wohl aber grundsätzliche Unsicherheit. Unter Unsicherheit zu agieren ist eine Erfahrung, die der Mensch wohl immer macht, weil er weder Gott noch ein - in seinen Tagträumen befindlicher absoluter König ist. Auch darin finden wir ein Residuum der Vorstellungen einer Zentralmacht, die alles wissen wollte, deren Organisationsprinzipien und Pläne darauf abstellten, alles zu wissen. U n d diese Vorstellung hat man übernommen. Dieser hemmungslos überzogene Anspruch des Staates wird als Eigenschaft dann dem Individuinn zugeschrieben. (Vgl. dazu die Etymologie des Wortes "autonom").

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Bauer, Kritik ökonomischer Denkformen, 1984 McGregor, Mensch im Unternehmen, 1971, S. 57

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Das heißt, die hier gemachte zentrale Annahme der Ökonomie ist im Lichte elementarer sozialwissenschaftlicher Erfahrung nicht haltbar. Möglicherweise liefert auch die Naturwissenschaft einiges, was das Rekurieren auf sie als unwandelbares Vorbild seltsam erscheinen läßt. Damit wollen wir uns einem weitere Problem zuwenden, das auch in der Dichotomie von Materie und Geist ("Wie"-Regelung) seinen Ursprung hat. 3 3 Wertfreiheit Besonders interessant sind die Ergebnisse in der Quantenphysik. Diese zeigen heute deutlicher denn je, daß wir in einer seltsamen Quantenwelt leben, die sich einer einfachen, dem "gesunden" Menschenverstand einleuchtenden Interpretation entzieht: Der Quantenzustand gibt Auskunft über alle Größen eines physikalischen Systems, soweit dies überhaupt möglich ist. Dies ist wichtig, denn gemäß der Quantenmechanik weisen nicht alle Größen eines Systems gleichzeitig definierte Werte auf. Wahrscheinlich am bekanntesten ist die Heisenbergsche Unschärferelation: Ort und Impuls eines Teilchens können nicht gleichzeitig bestimmt sein. Allmählich scheint es, daß wir als Tatsachen anerkennen müssen, was mit der klassischen Physik nicht in Einklang gebracht werden kann: Zwei, nicht mittels irgendeines Mechanismus verbundene, viele Meter voneinander entfernte mikroskopische Systeme können dennoch miteinander in Beziehung stehen, z.B.: Messungen an einem System beeinflussen uno momento das Meßergebnis am anderen System. Oder ob ein Photon Welle oder Teilchen ist, wird erst durch die Versuchsanordnung bestimmt. Aber diese Unbestimmtheit beschränkt sich nicht nur auf den atomaren und subatomaren bereich. Unter bestimmten Bedingungen weisen auch makroskopische Observable keinen bestimmten Wert auf. 3® Vereinfacht und vielleicht nicht ganz korrekt: Es ist unmöglich, auseinander zuhalten, was durch die Beobachtung bewirkt wird und dem, was diesen Prozeß als solchen ausmacht. Lassen wir ähnliches auch für den Menschen zu! Plausibler wirkt dies, weil bereits bei der Entwicklung der Denkstrukturen gesagt wurde, daß diese ja nicht angeboren sind, sondern etwas sind, das aus der Interaktion mit der Umwelt entwickelt wird. Gesellschaftliche Erfahrungen und Prägungen spielen darin eine große Rolle. Die Annahme der Wertfreiheit schillert bereits äußerst willkürlich. Denn offenkundig muß ich, ob ich will oder nicht, aufgrund der Denkstrukturen, die in meinem Leben sich entwickeln, Bewertungen mit einfließen lassen bzw. gleichzeitig vornehmen. Darunter auch die, die dem ganzen Modell zugrundeliegt, nämlich die 38

Vgl. Shimony, Realität der Quantenwelt, in: Spektrum der Wissenschaft 3/1988, S. 78 ff.

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Trennung von Subjekt und Objekt. Wenn heute das Postulat der Wertfreiheit kaum mehr angesprochen wird, eingeräumt wird, daß es eigentlich unmöglich ist, dann ist dies ja nur als Verschleierungsstrategie anzusprechen. Es sei denn, ich trage auch den Ursachen dieser Unmöglichkeit in der Struktur im Aufbau etc. einer Theorie Rechnung. Auch die Etymologie der beiden Vokabel Subjekt und Objekt demaskiert in ihrer Historie, was sonst mühsam verdrängt wird. Die Wurzel des Begriffes Subjekt ist subjacere und bedeutet unterwerfen, darunterstellen. O b jekt" stammt von objacere, entgegenschleudern. Offenkundig verbergen sich in den Sprachwurzeln eine Menge entstehungsgeschichtlicher, realer Zusammenhänge - die im Interesse des Bestehenden, der aktualen Herrschaft, verdrängt werden. Wie könnte es gerne gesehen sein, daß Objekt nicht etwas Unwandelbares, von Natur aus gegebenes, sondern etwas Aufgezwungenes ist? U n d gar das autonome Subjekt, um das sich Mythen und Theorien ranken; es soll etwas Gemachtes, gesellschaftlich, ja herrschaftlich Erzeugtes sein? 3 9 Bleiben wir noch bei dem, was Sprache uns üblicherweise verschweigt, jedoch zeigt, wenn man ihr nachgeht. Für unseren Wissenschaftsbetrieb ist noch immer die Charakterisierung der Sozialwissenschaften als wertfrei wichtig; vor allem für die Verdeckung der Interessen. Die herrschenden Schichten brauchen sich nicht selber in die Auseinandersetzung mit sich artikulierenden anderen Interessen begeben, wenn von Institutionen "wertfrei" das, was in Konflikten aus dominierenden Interessensverfolgungen entstand, als "Sachzwänge" o.ä. gekennzeichnet wird. Betrachten wir - trotz dieser Nützlichkeit - den Terminus Wertfreiheit: Dieser bedeutet frei von Wert. Bösartig könnte frei von Wert als wertlos bezeichnet werden. Es ist zuzugeben, daß es sich hiebei um eine Wortspielerei handelt. Aber ist sie nicht überlegenswert? Soziales Leben geht ohne Werte nicht ab. Sinnzuweisungen sind unabdingbar und entscheidend. Wenn solche vorgeschlagen, über solche ohne Wert- oder Sinnsetzung befunden und entschieden werden soll, hegt nicht die Vorstellung dahinter, daß Materie und Geist getrennt sind? Die Materie, gemäß einer Maschine eingeordnet, wird vom König, der natürlich nicht zur Maschine zählt, beherrscht. Seine Sinngebung, seine Wertsetzung ist nicht hinterfragbar, nicht zu diskutieren. Sie ist von ganz anderer, übergeordneter Qualität als die Sinn- und Wertsetzung der (anderen) Menschen! Wahrscheinlich hegt in diesem Entzug der Bewertungsmöglichkeit, diesem Absprechen und Verweigern die entscheidende Wurzel der Wert39

Vgl.: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstractum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse." Marx, Thesen, No. 6, in: MEW, Bd. 3, S. 6

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freiheit. Wie schon beim Wort autonom und der Vorstellung, alles zu wissen, erscheint die Übertragung von der Sphäre des Staates in die des Bürgers leicht vonstatten zugehen: Somit beherrscht der einzelne als Souverän die Welt (inklusive andere Menschen) ... "Politik (im neuzeitlichen Verständnis, 4 0 d. Verf.) ist die Kunst, mit allen geeigneten Mitteln stets den eigenen Interessen gemäß zu handeln" ... (Man) "muß" taub gegen das sein, was die Öffentlichkeit sagt, und ihr nichtiges Urteil verachten. 4 1 Die Entwürfe zu den Gründungen der Akademien, die von den absoluten Königen des 17. Jahrhunderts finanziert oder gefördert wurden, sowie die im frühen 18. Jahrhundert einsetzende Welle von Errichtungen von Lehrstühlen für Ökonomie an den Universitäten unterstützt unsere Bedenk e n : 4 2 So heißt es, nachdem die prospektiven Mitglieder der A k a d e m i e 4 3 als die gelehrtesten Personen in "den wahren Wissenschaften wie Geometrie, Mechanik, Optik, Astronomie, Geographie etc. in Physik, Medizin, Chemie, Anatomie etc. oder in der Kunstpraxis, wie Architektur, Festungsbau, Bildhauerei, Malerei... Metallurgie, Agrikultur, Navigation etc...." angegeben wurden, daß jedoch "in den Versammlungen ..., nie die Mysterien der Religion oder die Angelegenheit des Staates besprochen werden; und sollte einmal ein Gespräch über Metaphysik, Moral, Geschichte oder Grammatik stattfinden, dann nur 'en passant' und in Beziehung zur Physik oder als Plauderei unter Männern." Der Zugriff der Zentralmacht war wenige Jahrzehnte später jedoch so stark, daß über Bestellung von Merkantilisten zu Professoren, über den Staat (Finanzwesen), über die Religion, der bis dahin weitgehend das Ausbildungswesen unterstand (Arbeits-, Armenhäuser mit "training on the job"), über die Moral der Untertanen (Arbeitseifer etc.) "wertfrei" gesprochen werden mußtel "Wertfrei", wenn es im Interesse der Gewaltinstanz formuliert wurde!

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Vgl. auch die Entstehung des Wortes Polizei aus der burgundischen Hofsprache, unter Verwendung des ursprünglich für gemeinschaftliches Handeln (von sozialen, resp. politischen Wesen) reservierten Terminus "Politiké". Friedrich der Große, Politisches Testament, 1974, S. 39 und 50 "... die Universitäten waren grundsätzlich eine Institution der Kirche ..." "Die verschiedenen Universitätsreformen, die man gegen Ende des Mittelalters kennt, haben als Zweck weniger die Modernisierung der Ausbildung ... als stärker die Autorität des Staates innerhalb der Universitäten spürbar zu machen und die Eliminierung der zu demonstrativen Praktiken und Institutionen ..." "(Diese) Bewertung der Gelehrtenkultur als Mittel der Regierung, als Garantie der Kompetenz und die Geeignetheit für den öffentlichen Dienst, veranlaßt die Fürsten und Städte... sich an das existierende Universitätsmodell zu halten..." "... Viele der Universitäten akzeptieren es, einen Teil ihrer aller Autonomie im Austausch gegen Dotationen der Fürsten, Eröffnung von Karrieremöglichkeiten am Hof und in der Administration zu opfern" Verger, Université et Communauté au moyen age, in: Université et cité, 1983, S. 20,39,40 und 42 Huygens, Oeuvres Complets, 1880-1950, Bd. IV, zit. in: Hahn, Anatomy of Scientific Institution, 1971, S. 1

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Zumindest mir kam nie eine - unbeabsichtigtere - höchst charakteristische Zusammenfassimg dieser seltsam-ambivalenten Situation der (ökonomischen) Wissenschaften, die "wertfrei" betrieben werden sollen, unter, als die durch viele Zitate abgestützte von E. D i t t r i c h 4 4 gegebene Darstellung des Herman Conring, der wegen seines Wissens "das Wunder des Jahrhunderts" genannt wurde.* 5 "... Als Braunschweiger Rat und in seinen politischen Schriften agierte er für Ludwig X I V . von Frankreich und erhielt von diesem dafür in den Jahren 1664 bis 1673 Jahresgelder von insgesamt 9600 Livres. Comings Tätigkeit scheint immer auf den jeweiligen Auftraggeber oder Machthaber abgestimmt gewesen zu sein. S.V. Pufendorf sagt von ihm, "daß er aus Rücksicht auf hochgestellte Persönlichkeiten oder um das Geschrei der törichten Mengen zu vermeiden, seine wahren Gedanken unterdrückt habe". Conring wird von W. Roscher als einer der ersten geschätzt, denen "ein würdig umfassendes Ideal der Volkswirtslehre vor Augen schwebt 3.4 Markt In der Analyse des Forschungsprogrammes der Wirtschaftswissenschaften fehlt noch der Markt, der sich weitgehend selbstregulierende Markt. Nicht beschäftigen soll uns hier, ob die Produktion überhaupt in einem Tauschmechanismus erfaßt werden k a n n , 4 7 ob die dem Markt zugeschriebenen "optimalen" Eigenschaften wie Eindeutigkeit, Stabilität nicht nur bei Erfüllung besonderer Bedingungen 4 0 gegeben sind, ob die neoklassischen Konkurrenzmärkte eigentlich nicht Märkte ohne Konkurrenz s i n d 4 9 und ob die für ein allgemeines Marktgleichgewicht notwendigen speziellen Annahmen nicht doch gar heroisch s i n d . 5 0 Sicher ist das Konstrukt des vollkommenen Marktes, dem man so erstrebenswerte Eigenschaften zuschreibt, der klassischen Mechanik verpflichtet. Gegen unendlich gehende Anzahl der Anbieter und Nachfrager, unendliche große Reaktionsgeschwindigkeit, freier Zutritt zum Markt, keine Präferenzen, Homogenität der Güter, vollkommene Information, sind Annahmen, die in einer Gesellschaft auch nicht annäherungsweise realisiert, nicht einmal plausibel zu machen sind. Nicht zufällig sind jene Methoden, mit denen Ökonomen ihre Probleme angehen, im 17. und 18. Jahrhundert entwickelt worden (Differentialrechnung). Auch nicht zufällig wird eine der 44 45 46 47 48 49

Dittrich, Kameralisten, 1974, S. 50 f. Roscher, Geschichte der Nationalökonomie, Neuere Zeit 14,1924, S. 254 Dittrich, Kamerlisten, 1974, S. 15 Walsch/Gram, Theories of General Equilibrium, 1980 Arrow/Hahn, Competitive Analyses, 1971 Herdzina, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Wettbewerbstheorie, 1975 S. 25

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zentralen Annahmen, die Entlohnung nach dem Grenzprodukt, nach einem berühmten Mathematiker als Euler-Theorem bezeichnet. Dieser beschäftigte sich im 18. Jahrhundert mit allen möglichen Anwendungen der Mathematik auf die Mechanik, die Optik, die Hydrodynamik, den Bau von Windmühlen und Schiffen, auf Ebbe und Flut, die Bewegung der Himmelskörper. Diese Entlohnung nach dem Grenzprodukt ist vorstellbar in einer Mechanik. I n einer Gesellschaft von Menschen, die interagieren, die aufeinander angewiesen sind, die sich darin verändern, wohl nicht. Es sei denn, ich akzeptiere eine autonome Instanz, die die Bewertungen vornimmt, eine willkürliche Instanz. U n d selbst dieser gelingt nur die willkürliche Verknüpfung von Produktion (Tätigkeit) und Entlohnung. Erinnert nicht auch dies an die (herrschaftlich-mechanistische) Denkweise einer ganz bestimmten Zeit? Das Prägende dieser Denkweise äußert sich auch in verständlichen, uns ein nachsichtiges Lächeln hervorrufenden Assoziationen. A. Smith, dem die Dimension des Sozialen durchaus bekannt war, redet davon, daß Newton das Vorbild für jegliche Wissenschaft sei und man so wie dieser auf eine Ursache - bei ihm der Eigennutz 5 1 - zurückgreifen müsse. Gossen, der verkannte große Vorläufer der Neoklassik, bezeichnet sich als Kopernikus der Sozialwissenschaften. U n d Walras geht noch einen Schritt weiter. I n der Einführung zu seinem "Element d'économie politique pure ou théorie de la richesse sociale" hofft er dereinst als ein Newton der Sozialwissenschaften in die Geschichte einzugehen. Diese Liste ist ziemlich beliebig ergänzbar. Wie weit diese "Vorbildsfunktion" wirkt, entgeht unserer Aufmerksamkeit, wenn wir mit den nämlichen Instrumentarien gemäß diesem Vorbild (Begriff, Verknüpfungsregeln) darangehen, ein Problem zu lösen. Vergessen ist dann, daß man dabei auch eine Realität schafft und eine Herrschaft akzeptiert. Was wunderschön mit Subjekt und Objekt verdrängt wird. Zur Abrundung noch eine problematisierende Pointe: Die Vorstellung des vollkommenen Marktes, des Wettbewerbsmodells (ohne Wettbewerb), entspricht frühkindlichen Verhaltensweisen. Den Großteil der Zeit verbringen kleine Kinder mit Selbstgesprächen, sie reden nebeneinander - "als 50 51

Hahn, Reflections, in: Lloyds Bank Review, April 1982 Daß dies nicht das bedeutet, was seine Epigonen gerne daraus machten, sei durch folgende Hinweise angedeutet: "Als die Natur den Menschen für die Gesellschaft bildete, da gab sie ihm zur Aussteuer ein ursprüngliches Verlangen mit, seinen Brüdern zu gefallen, und eine ebenso ursprüngliche Abneigung, ihnen weh zu tun." A. Smith war auch der Ansicht, daß "die Natur (den Menschen) nicht nur mit dem Verlangen begabt (hat), gelobt und gebilligt zu werden, sondern auch mit dem Verlangen, so zu sein, daß er gelobt werden wollte, so zu sein, wie er selbst es an anderen Menschen billigt". Verständlich, daß A. Smith das Nutzenkalkül als nicht geeignet für die Erklärung menschlichen Verhaltens erachtete. Vgl. Theory of Moral Sentiments, 1976, S. 116 f.

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würden sie mit sich selbst sprechen". 52 Es gibt noch nicht einen echten Gedankenaustausch. Dieses Verhalten korrespondiert mit dem Spielverhalten. Kinder spielen eher nebeneinander als kooperativ. Die kollektive Symbolik, Voraussetzung kooperativer Spiele, wird erst im intuitiven Stadium (4 bis 7 Jahre) entwickelt. I n diesem Alter kommt es zur Differenzierung der Rollen, die sich ergänzen. Bis dahin spielen Kinder natürlich ebenfalls gern zu zweit oder zu mehreren. Es gibt aber kaum nennenswerte Umformungen in der Struktur der Symbolik. Daher laufen die Spiele als Einzelveranstaltungen nebeneinander ab. Beide, der "kollektive" Monolog und auch das nicht-kooperative Spiel, das bis vier Jahre dominiert, haben beachtliche Ähnlichkeit mit dem Marktspiel der vollkommenen Konkurrenz: Jeder spielt für sich, ist autonom. Die kindlichen Allmachtsvorstellungen aufgrund von Egozentrik wirken sowohl in der Annahme der vollkommenen Information als auch in der Maximierung weiter. Der Neueintritt eines Spielers ändert bei vollkommener Konkurrenz - könnte so etwas, selbst nur annäherungsweise, außerhalb von Buchdeckeln und Hörsälen auftreten - kaum etwas (in der Theorie eben gar nichts) am Spiel; das nicht-kooperative Spiel der Kinder bis vier Jahre wird nicht durch das Hinzukommen eines weiteren betroffen: letztlich spielt jedes Kind für sich allein. Damit sind die Korrespondenzen von Marktvorstellungen mit der präoperativen Phase (2 bis 7 Jahre) noch nicht erschöpft. Kinder dieses Alters weisen ein mythisch-phänomenologisches Denken auf, was auf die Egozentrik zurückzuführen ist. Typisch für mythisches Denken ist die Nicht-Unterscheidung von Ursache und W i r k u n g . 5 3 Dies entspricht der Lösung simultaner Gleichungssysteme, der grundsätzlichen Augenblickssitutation ökonomischer Strukturen und der fast ausschließlichen Verwendung statischer und komparativ-statischer Modelle. Sogenannte dynamische Theorien müssen untersucht werden, ob sie tatsächlich dynamische Prozesse erfassen. Was die Untersuchungen von Elias und Piaget eben als unwahrscheinlich erscheinen lassen. 4. Organisation und der Mensch als soziales Wesen Bedenken wir, was alles für die "Wie"- und "Was"-Regelungen an Plausibilität verloren ging - durch die Ergebnisse der Einzelwissenschaften, wobei ich mich im großen und ganzen auf einige wenige historisch-sozialwissenschaftliche Hinweise beschränkte -, so erscheinen nicht nur Details, sondern die gesamte Konzeptualisierung der Wirtschaftswissenschaften 52 53

Pularski, Piaget, 1978, S. 48 Die Antike kennt vier Ursachen: causa efficiens, causa materialis, causa formalis, causa finalis, also nicht eine Einheit der Ursachen. Vgl. Riedl, Biologie, 1980, S. 118 ff.

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problematisch. Die Wirtschaftswissenschaften und manch andere Bereiche der Sozialwissenschaften - resp. die, die sich als Repräsentanten, als hohe Priester dieser "Fächer" geben - wollen aber dies nicht zur Kenntnis nehmen, indem solche Annahmen ganz einfach sakrosankt gehalten werden. Wohl ist Kritik in offiziellen, prestigeträchtigen Reden und aus der Routine fallenden Vorträgen öfter geübt worden, während ihr im üblichen Lehr- und Forschungsbetrieb - womit die Trennung von der inneren Strukturen (Wissen) erzeugenden Praxis auch sprachlich deutlich gemacht wird keine (kaum eine) Bedeutimg zukommt. So scheint dies kaum mehr als eine Gewissensberuhigung zu sein ("Man ist ja immer wieder kritisch"). Joan Robinson berichtet, daß "in den höheren Regionen der Profession die hohen Priester - sie nennt sie Auguren - . . . ihre Nasen (zwar) hinter dem A l tar zusammenstecken und sich zugestehen, daß ihr Evangelium eigentlich so ernst nicht genommen werden dürfte,... (während) gleichzeitig vor dem Altar - um im Bilde zu bleiben - die Zöglinge die Messe zelebrieren." 54 Dies führt uns mitten in die Frage nach der Ursache, der Bedeutung von Organisation, nach dem Verhalten von Menschen in Organisationen, wenn wir die grundsätzlichen Axiome über das autonome, nutzenmaximierende Individuum und den Markt nicht als so ganz stimmig mit unserer "Realität" erachten. 5 5 Denn, wozu bedarf es der Koordinationsfunktion des Marktes, als auch des Unternehmers in einem anderen Kontext? 5 6 Was in den letzten Jahrzehnten auf dem Gebiet der Organisation versucht und geschrieben wurde, läßt die der Ökonomie zugrundeliegende Vorstellung des "Phomme machine" 5 7 als eher absurde Fiktion erscheinen. Für uns sollen nur zwei der entscheidenden Aspekte herausgegriffen werden. Der erste ist der, daß das, was Menschen motiviert, nicht eine Kraft ist, die uns treibt (Eigennutz), wie es in "Anlehnung" an die Schwerkraft heißt. Was Menschen motiviert, scheint nach den Untersuchungen von Hertzberg/Mausner/Snyderman und den Vermutungen oder Einsichten der "Moralphilosophen" A . Smith und D . Hume zu einem überwältigenden Umfang im Bereich "sozialer Akzeptanz" angesiedelt zu sein: Mittun, etwas tun dürfen, Anerkennimg zu bekommen. 5 8 Dies im Gegensatz zu dem, was die für die Wirtschaftswissenschaften konstitutive, subjektive Nutzentheorie sagt. Einkommen, Arbeitsplatzausstattung etc., sind sogenannte Hygienefaktoren. Sie können nicht motivieren; wenn sie nicht erfüllt sind, wirken

54 55 56 57 58

Vogt (Hrsg.), Seminar: Politische Ökonomie, 1973, S. 9 Vgl. Puttermann, Economic Nature, in: The Economic Nature of the Firm, 1986 Coase, Nature of the Firm, Economica 4,1937, S. 386 ff. La Mettrie, L'homme machine, 1981 Hertzberg/Mausner/Snyderman, Motivations to Work, 1967

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sie demotivierend. Sie liefern Zufriedenheit, wenn erfüllt, aber keine Motivation ... Der zweite Aspekt ist der, daß Entwicklungen, Neuerungen, ja sogar hohe Produktivitäten, im wesentlichen am besten in relativ egalitären Organisationen gemacht werden. Kreativität und Engagement werden gefördert, wenn Menschen ohne (mit möglichst wenig) Hierarchie miteinander kommunizieren, miteinander tätig sein können. Der Abbau von Zwangselementen hierarchischer Organisationen führt dazu, daß Menschen ihre Möglichkeiten entfalten und diese ihre Fähigkeiten gemeinsam in Denk- und Arbeitsprozesse einbringen können. 5 0 Ein ganz einfaches, triviales Beispiel soll dies verdeutlichen: Ist der Chef einer Werbeagentur beispielsweise eingeschossen auf rothaarige Modelle, so werden "Mitarbeiter" (auch eine Freudsche Reaktionsbildung!) ihm sicher nie mehr - nach den ersten vergeblichen Versuchen - eine Werbekampagne mit einem blonden oder schwarzhaarigen Modell offerieren. Sie werden gar nicht mehr auf die Idee kommen, ihm so etwas zu präsentieren. Sie filtern andere Vorstellungen als die, die die übergeordnete Instanz schätzt, einfach aus. Was in diesem extrem simplen, fast lächerlichen Beispiel zum Ausdruck kommt, gilt bei komplexen Denk- und Gefühlsstrukturen noch viel mehr. U n d wie erst bei der Bündelung und Entwicklung von Denk- und Gefühlsstrukturen vieler in Organisationen und Institutionen. Bedenken wir das, dann erkennen wir aus den Beispielen vieler Einzelwissenschaften und -erfahrungen, daß in dem, was wir Wirtschaftswissenschaften nennen, Änderungen gesetzt und neue Wege gegangen werden müssen. Wir müssen die Veränderung, die Anpassung und die Neuschaffung unserer Lebensräume in den Mittelpunkt unserer Überlegungen stellen: Die Evolution (neben der des Denkens, Fühlens und Handelns des Menschen) der sich immer stärker als gesellschaftlich (gemeinschaftlich) erweisenden Produktion von Waren und Umwelt. Es ist notwendig die "Wie"- und "Was"-Regelungen dem Rechnung tragen zu lassen. A . Smith mit seinem Vierphasenschema, aber auch Turgot und Rousseau, haben die Entwicklung, die Veränderung und das daraus entstehende Neue aufblitzen lassen; mit der Einbindung in den Nationalstaat, der Annahme der Unwandelbarkeit des Menschencharakters (von Natur aus) mit dem Verschwinden und Unterordnen der Tätigkeit vieler unter der Vorstellung des Einzelunternehmers und der Rechtfertigung und Begründung des Denkens im Newtonschen System erstarrte dieser Ansatz in einer mechanistischen Erklärung. Gerade heute ist diese Revision des Denkens und Handelns, wo in der "Realität" der National-

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Bauer, Bewertung von Tätigkeiten, Jahrbuch für Sozialwissenschaft, 1984/1

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Staat, 6 0 dieses Produkt des 17. und 18. Jahrhunderts, unter dem Druck transnationaler Unternehmungen, transnationaler Regelungen und alternativer Basisbewegungen zunehmend an Handlungsspielraum verliert, absolut notwendig. Dem zynischen Ausspruch, daß die Wirtschaftspolitik eines Nationalstaates (vor allem mittlerer und kleinerer) darin bestehe, die Fiktion derselben aufrechtzuerhalten, kommt immer mehr bitterer Wahrheitsgehalt zu. Darin manifestiert sich aber auch die zunehmende Fiktivität der für das Konstrukt bestimmenden Elemente (Begriffe, Verknüpfungsregeln, Realitätsschaffung und Herrschaft).

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"Ich glaube, es ist beachtenswert im Vergleich zur Physik, daß die grundsätzliche Beobachtungsweise der Welt eines Ökonomen seit dem 18. Jahrhundert sich nicht verändert hat." Gordon, Role of History, in: AER, Vol. LV, May 1965, S. 119

Systemansatz und Evolutionsgedanke als Paradigmen in der (historischen) Sozialwissenschaft Von Herbert Matis, Wien Jeder Versuch einer Deutung des strukturellen Wandels und der langfristigen Entwicklung von Gesellschaft (und Ökonomie) 1 sieht sich mit dem Problem konfrontiert, nach welchen theoretischen Ansätzen, Erklärungsmustern, Interpretationskonzepten, bzw. - in der Diktion von Thomas S. Kuhn - Paradigmen, Darstellung und Analyse organisiert werden sollen. Dabei geht es epistemologisch darum, das Ganze und seine Teile in ihrem Zusammenhang, in ihrer zeitlichen Veränderung und in Konfrontation mit der Umwelt zu berücksichtigen. Es ist ein generelles Problem jeglicher Sozialwissenschaft, daß die Erfassung von "Totalität", und sei es nur innerhalb der "klassischen Trias" von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, weder durch die Flucht in eine A r t von "Enzyklopädismus"; noch durch diskursive Erfassung geschlossener Systeme von interdependenten (historischen) Phänomenen oder Entwicklungsprozessen" 2 in der Praxis einzulösen ist; ja, dieser Anspruch ist letztlich, worauf u.a. Jürgen Habermas 3 hingewiesen hat, schon vom Ansatz her illegitim und führt nur zu einem unendlichen Regreß. Es ergibt sich dies schon aus der Natur der "Hermeneutik", wonach das Ganze nur zu verstehen ist, wenn man seine Einzelteile versteht, und diese wiederum nur dann zu verstehen sind, wenn man das Ganze versteht. I m vorherrschenden Paradigma der heutigen Wissenschaft wird dieses Problem der Erkenntnisorientierung allerdings nicht holistisch, sondern durch reduktionistische Zerlegungen in Einzelphänomene um den Preis eines Verzichts auf die Analyse von Gesamtzusammenhängen zu lösen versucht. Es handelt sich dabei jedoch um eine A r t von "Wissen", welches auf tradierten Annahmen beruht, die auch im Lichte der einzelwissenschaftlichen Entwicklung bereits vielfach als obsolet angesehen werden müssen. 4 1

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Die folgenden Ausführungen greifen z.T. auf Überlegungen zurück, die vom Autor im Zusammenhang mit einer größeren Arbeit über historische Transformationsprozesse entwickelt wurden (vgl. Bauer/Matis, Geburt der Neuzeit, 1988). Messerschmidt, Funktion der Geschichte, 1975, S. 263. So ist etwa auch der in der Soziologie bei Parsons zugrundegelegte Systembegriff ausgesprochen ahistorisch und in sich geschlossen, vergleichbar mit der Gleichgewichtsvorstellung in der neoklassischen ökonomischen Theorie. Vgl. Habermas, Logik der Sozialwissenschaften, 1980, S. 306 Stellvertretend für die Erkenntnis der Unzulänglichkeit, alles über das reduktionistischmechanistische Weltbild erklären zu wollen, seien angeführt: Werner Heisenbergs Unschärferelation, Kurt Gödels Nachweis der Indeterminiertheit axiomatischer Systeme

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Das Zusammenfügen einzelner Teilerkenntnisse darf nicht additiv erfolgen, sondern es ist auf Interdependenz zu achten, denn es handelt sich stets um komplexe Strukturen und vielfach vernetzte Systeme, für deren Erfassung das uns prägende analytische, zergliedernde, lineare und reduktionistische Ursache-Wirkungs-Denken, welches im cartesianisch-newtonschen Paradigma fußt, nicht mehr genügen kann. Es geht aber heute verstärkt nicht nur um eine Verknüpfung und zugleich Weiterführung verschiedener Einzelaspekte, sondern um ein differenziertes Paradigma, welches die relevanten ökonomischen, politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen miteinbezieht und sich gleichzeitig an einem theoretischen Modell der langfristigen Entwicklung orientiert. Theoretische Konstrukte, welche den Anspruch erheben, diesen Forderungen zu entsprechen, demaskieren sich jedoch bei näherer Betrachtung zumeist als Gemisch von Sein und Sollen, von Sachanalysen und normativen Postulaten. Sie präsentieren sich auf diese Weise als Kernstück einer Ideologie, die den Anspruch erhebt, sowohl als Modell für alle wissenschaftliche Erforschung von Gesellschaften aller Zeiten und Räume dienen zu können, als auch, die behauptete Dichotomie von Theorie und Praxis aufheben zu können. 5 Unser Verdacht geht jedoch dahin, daß dieser "ideologische" Gehalt umso größer ist, je älter und damit "verehrungswürdiger" solche "Theorien" sind, die dann als "Gesetzmäßigkeiten" postuliert werden. Bereits Aristoteles meinte, daß nur das Unwandelbare als "Theorie" zu fassen ist, während für alles Wandelbare nur die Praxis entscheidend ist. Da nun soziale Gebilde etwas durchaus Wandelbares darstellen, kann einer Theorie, so gesehen, nur eine die Praxis unterstützende Funktion im Handlungsbereich zukommen. Theorien haben ihre Brauchbarkeit dann im Sinne einer Kritik des praktischen Handelns zu erweisen, indem sie sich über die Lösung konkreter Probleme, d.h. über A k t i o n ständig unter Beweis stellen. Viele Sozialwissenschafter meinten, grundsätzlich in der an die Evolutionslehre des 18. Jahrhunderts anknüpfenden "Modernisierungstheorie", insbesondere wenn man diese sehr weit auslegt und etwa als eine allgemeine Theorie sozioökonomischen Wandels auffaßt, einen tragfähigen, noch entwicklungsfähigen Ansatz und Theoriekomplex gefunden zu haben oder zumindest eine Hypothese, welche die Genesis der "modernen Welt" recht gut erklärt. Nun zeigt jedoch bereits eine erste kritische Betrachtung die immanenten Schwächen dieses theoretischen Rasters, wie sie sich beim derzeitigen Stand der wissenschaftlichen Diskussion darstellen. Die Modernisierungsforschung schloß, wissenschaftshistorisch betrachtet, an die

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sowie die Arbeiten von Ilya Prigogine über "offene Systeme" in der Chemie. Vgl. auch Gierer, Physik, 1985 Vgl. Elias, Prozeß der Zivilisation, 1,1977, S. XLI.

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seit der Wende vom 17. und 18. Jahrhundert entwickelten evolutionstheoretischen Traditionen an und nahm zunächst verschiedene Theorien aus der Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaft (womit ja nur einzelne Bereiche menschlicher Tätigkeit umschrieben werden) in der Absicht auf, diese zu einer Art "Globalkonzeption" integrieren zu können. Diese theoretischen Konstrukte, wie sie von den großen sozialwissenschaftlichen Denkern des 19. Jahrhunderts,von Auguste Comte, Karl Marx, Emile Durkheim, Herbert Spencer, Leonard Trelawney Hobhouse, Ferdinand Tönnies, Henry Maine bis hin zu den Vertretern der modernen Modernisierungstheorien entwickelt wurden, waren jedoch stets auch von weltanschaulichen Idealen bestimmt 6 und zeigten damit (egal ob linear oder dialektisch gerichtet) eine deutliche Befangenheit in der Gedankenwelt der Fortschrittsideologie und in durch und durch neuzeitlichen Denksystemen. Die ideologische Dogmatisierung derartiger Theorien führte dazu, daß sie sich der Falsifikationsmöglichkeit entziehen und damit (zumindest nach Popperschen Kriterien) wissenschaftlich unhaltbar werden. 7 A u f diese Weise entstand mit je nach Autor verschiedenartiger Schwerpunktbildung und Akzentuierung der Idealtyp eines Modernisierungsprozesses, der aus der "traditionalen" in die gegenwärtige "moderne" Welt führt.® Es läßt sich jedoch schon aus dem historischen Befund ableiten, daß aber offenkundig verschiedene Entwicklungspfade zur "Modernität" existieren, was immer dies bedeuten mag, wenn nur nicht das nämliche darunter verstanden wird, d.h. es gibt eine differenzierte Entwicklung aber auch partielle Entwicklungsumkehr und Rückfälle in Form von Atavismen. Auch rapides wirtschaftliches Wachstum wird daher nicht mehr unbedingt als funktionaler Beitrag zur Systemstabilisierung angesehen werden können, ja im Gegenteil, aus dem Auseinanderklaffen, aus der mangelnden Synchronisation von wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Veränderung erwachsen unter Umständen systemsprengende Tendenzen. 0

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Vgl. Wehler Modernisierungstheorie, 1975, S. 14; Eisenstadt, Tradition, 1979 Vgl. Popper, Logik der Forschung, 1935 Häufig wurde dieser Prozeß als das Ergebnis des Zusammenwirkens mehrerer Entwicklungstrends verstanden, zu denen in erster Linie das industriewirtschaftliche Wachstum auf der Grundlage wissenschaftlich-technischer Innovationen, die Ausbildung bestimmter Muster der sozialen Stratifikation und Differenzierung, der Wandel des Werte- und Normensystems, die Mobilisierung der Bevölkerung und der Ressourcen, der Kampf um politische Partizipations- und Gleichheitsrechte sowie die Institutionalisierung von Konflikten gezählt wurden (vgl. Wehler, Modernisierungstheorie, 1975, S. 16 f.; vgl. auch Foucault, Archäologie des Wissens, 1973, S. 9 f.) Vgl. Olson, Wachstum als Destabilisierungsfaktor, 1973, S. 207 ff.

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Der Haupteinwand gegen derartige Konzeptionen ist jedoch prinzipieller Natur: Es kann nicht darum gehen, soziale und ökonomische Prozesse und Strukturen ausschließlich nach den Begriffen der Fortschrittlichkeit oder Rückständigkeit zu messen, sondern man muß sich bewußt sein, daß Transformationsprozesse sowohl Progreß als auch gleichzeitig Zerstörung traditioneller Strukturen beinhalten - der Verlust an alternativen Möglichkeiten, der als Folge einer Neuerung eintritt, ist ein sich permanent ergebendes Phänomen. 1 0 I m Unterschied zu den Vertretern der alten gesellschaftlichen Evolutions- und heutigen Modernisierungstheorien kann daher nicht von der Vorstellung einer linearen zielgerichteten Evolution ausgegangen werden - ein Ansatz, der in der Biologie ohnedies seit Darwin nicht mehr möglich ist -, sondern es müssen auch die wechselnden Veränderungsgeschwindigkeiten einer Gesellschaft insgesamt, aber auch der einzelnen Seinsebenen, d.h. die "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" in verschiedenen historischen Perioden mit einbezogen werden. 1 1 Es ist einsichtig, daß sich Strukturen und Prozesse nicht einfach mit Hilfe von dichotomen Begriffspaaren (z.B. Fortschritt - Rückschritt) einfangen lassen, welche die Analyse letztlich auf zwei entgegengesetzte Zustände begrenzen möchten. Dies ist auch ein Haupteinwand gegen die gegenwärtigen Modernisierungstheorien; erst die "strukturierte Abfolge eines kontinuierlichen Wandels (diente hier) als Bezugsrahmen für die Erforschung von Zuständen, die sich auf einen bestimmten Zeitpunkt fixieren lassen." 12 Es erscheint daher nicht sehr sinnvoll, den Begriff "Modernisierung" auch nur als Kürzel für ein Bündel interdependenter, vielfach verflochtener Evolutionsprozesse, für einen an sich widerspruchsvollen Prozeß voller Konflikte, mit Rückschlägen und Fortschritten, Vorzügen und Nachteilen zu verwenden. Überdies offenbart sich hier durchaus das "Janusgesicht der Evolution", daß nämlich (entwicklungsgeschichtlich gesehen) Entwicklungsimpulse mit ursprünglich vorteilhaften Anlagen auch den Keim der Zerstörung in sich tragen; oder - konkret auf den heutigen Menschen übertragen - es zeigt sich hier das Phänomen, welches man als die "Dialektik der Aufklärung" (Horkheimer/Adorno) bezeichnet bzw. als die prinzipielle Ambivalenz der Weberschen "Rationalisierung" interpretiert hat. Aber auch eine derartige Sicht ist letztlich eine Konsequenz dessen, daß für den gesellschaftlichen Prozeß eine relativ geradlinige Entwicklung postuliert wird, die quasi als metahistorisches Prinzip die Evolution im Sinne 10

11 12

Schon Herder, ein Anhänger des Evolutionsprinzips,erkennt diese Ambivalenz des Fortschritts:" Die Cultur rückt fort, sie wird aber damit nicht vollkommener, an neuem Ort werden neue Fähigkeiten entwickelt, die des alten Ortes gingen unwiederbringlich unter" (Herder, Gesammelte Werke, Bd. 14 (1909); vgl. auch Bd. 5 (1981) S. 591). Vgl. Koselleck, Fortschritt, 1975, S. 392 ff. Elias, Prozeß der Zivilisation, 1,1977, S. XXI

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einer Vervollkommnung der Menschheit (oder auch ihres apokalyptischen Endes) forttreibt, das Wirken einer nicht beeinflußbaren Macht, gleichsam eine Wiederauflage der Hegeischen "List der Vernunft", also im Grunde eine teleologische Vorstellung, ein historischer Determinismus. Wenn heute der noch im 19. Jahrhundert so dominierende Fortschrittsgedanke von verschiedener Seite her massiv in Frage gestellt wird, so ist dies nicht nur dadurch bedingt, daß ein auf permanentem Wandel beruhendes System prinzipiell auf Unsicherheit basiert, ja basieren muß, sondern es ist dies nicht zuletzt eine Konsequenz dieses einseitig linearen Fortschrittsdenkens, wie es auch der Modernisierungstheorie zugrunde liegt, und der damit empfundenen Diskrepanz zwischen weit vorgeprellter materiell-technischer Entwicklung und den demgegenüber aus unserer Sicht retardierten geistigen, moralischen und politischen Standards. Derartige Verzerrungen als Resultat der schon angesprochenen "Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen" können naturgemäß nur als Bedrohung der Existenz empfunden werden. Sie erzeugen kognitive Dissonanzen, 13 lösen Ängste oder Massenpsychosen aus, und verhelfen damit denjenigen zu großem Zulauf, die scheinbar fertige Ideologien und auf Finalisierung hin orientierte Patentlösungen anzubieten haben. Beim Versuch, gesellschaftliche Evolution zu verstehen, kann - schon wegen der ungeheuren Resonanz seiner Schriften - die Marxsche Erklärungsvariante nicht übergangen werden. I n der Tat hat Karl Marx dazu Grundsätzliches ausgesagt: 1 * Nach Marx stellt die Produktionsweise die reale Basis einer Gesellschaft dar, der ein juristischer und politischer "Überbau" sowie bestimmte Bewußtseinsformen (Denk- und Verhaltensweisen) entsprechen. Wenn nun die Produktivkräfte 1 5 auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung in Widerspruch mit den Produktionsverhältnissen 10 geraten, tritt eine Epoche sozialer Revolution ein: "Mit der Veränderung der ökonomischen Grundlage wälzt sich (auch) der ganz ungeheure Überbau ... u m " . 1 7 Die Dynamik dieser gesellschaftlichen Entwicklung - und dies muß hier betont werden, weil es oft falsch gesehen wird - spielt sich jedoch nicht unabhängig vom Bewußtsein der Menschen ab. Was Marx hervorhebt, ist, daß man gesellschaftliche Entwicklungen nicht aus dem Bewußtsein der Menschen erklären kann, sondern daß "vielmehr dies Bewußtsein aus den Widersprüchen des materiellen Lebens, aus dem vorhandenen Konflikt 13 14 15 16

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Im Sinne Piagets ein Ansatz zur Akkomodation, die dann jedoch nicht stattfindet. Vgl. MEW13, S. 8 f. Produktivkräfte bezeichnen die jeweiligen Möglichkeiten zur Produktion gesellschaftlichen Reichtums. Unter Produktionsverhältnissen versteht Marx spezielle soziale Beziehungen, deren Form von der jeweiligen Stellung der Personen im gesellschaftlichen Produktionsprozeß bestimmt ist. ebd., S. 9

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zwischen gesellschaftlichen Produktivkräften und Produktionsverhältniss e n " 1 8 erklärt werden muß. Bestimmte - wenn auch aus den Marxschen Schriften nicht immer eindeutig hervorgehende - Fortschrittsvorstellungen prägen jedenfalls die Marxsche Sichtweise, wenn er beispielsweise davon spricht, daß die bürgerlichen Produktionsverhältnisse die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses sind, daß mit der bürgerlichen Gesellschaft "die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft" abschließt. Ein solcher prozessualer Ansatz mündet häufig in einen historischen Determinismus. Die Geschichte der Marx-Interpretation bietet dafür genügend Belege. Die verschiedenen historischen Stufentheorien,aber auch die rezenten Modernisierungstheorien sind ebenfalls nicht frei davon. Das andere Extrem stellt die Sichtweise einer ahistorisch angelegten Gleichgewichtstheorie und die des Voluntarismus dar. Der weitgehende Verlust der historischen Dimension, die Eliminierung des Parameters "Zeit" in den zeitgenössischen Sozialwissenschaften führte nicht nur zu einer Verkürzung der Betrachtungsweise - die Momentaufnahme wird für das Ganze genomm e n , 1 9 so daß heute etwa nach Parsons' Auffassung es "Aufgabe jeder wissenschaftlichen Theorie sei, alles Wandelbare begrifflich auf Unwandelbares zu reduzieren" 2 0 - sondern auch dazu, daß der Begriff der gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklung aus der zeitgenössischen sozialwissenschaftlichen Theorie so gut wie verschwunden ist. Beruht etwa die neoklassische ökonomische Theorie auf dem Gleichgewichtsmodell, so geht die "klassische" soziologische Systemtheorie von der Vorstellung aus, daß der gesellschaftliche Wandel "im Sinne eines Strukturwandels als Störung eines normalerweise stabilen gesellschaftlichen Gleichgewichts" zu verstehen i s t . 2 1 Z u Recht wurde gegen derartige statische Gleichgewichts-Systeme eingewendet,daß es sich um Theorien handle, deren hoher Formalisierungsgrad und logische Konsistenz über ihre abnehmende Realitätsnähe nicht hinwegtäuschen k ö n n e . 2 2 Dabei soll gar nicht geleugnet werden, (worauf 18 19

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ebd., S. 9 In der Biologie entspricht diesem Ansatz die "Funktionsbiologie", die ebenfalls den Zeitparameter ausklammert und der Frage nachgeht, wie ein biologisches System zur Zeit funktioniert; sie entziffert das gegebene Informationsprogramm, womit ein bestimmter Phänotypus aufrechterhalten wird, also etwa den täglichen Energiehaushalt zur Aufrechterhaltung des funktionsfähigen Phänotypus eines biologischen Individuums. Parsons, Social Structure, 1963, S. 258 f. Z.B. Parsons/Smelser, Economy and Society, 1957, S. 247 f.; dazu kritisch: Elias, Prozeß der Zivilisation, 1,1977, S. 302; Schmid, Zeit, 1986, S. 259 ff.; sowie Dopfer, Histonomic Approach, 1986 Vgl. Rose, Klassische Theorie, 1978, S. 21

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schon Joseph A . Schumpeter hingewiesen hat), daß derartige Konstrukte etwa in der ökonomischen Theorie unentbehrlich sein mögen, "als ein Standard, mit dem der gegebene Zustand des Wirtschaftsorganismus untersucht, und wenn möglich beurteilt w i r d " . 2 3 Wer jedoch versucht, Bewegung, Dynamik und Wandel als eine "Störung des Gleichgewichts" oder auch als Zustand "relativ instabilen Gleichgewichts" zu interpretieren, wird für prozessuale Abläufe, Konflikte, Transformation etc. nicht hinreichend sensibilisiert sein. 2 * Das Problem liegt heute darin, daß das Denken in geschlossenen statischen Systemen und invarianten Strukturen, wie es auch den älteren Strukturalismus, insbesondere die älteren funktionalistischen Ansätze z.B. von Malinowski, Radcliffe-Brown usw. charakterisierte, abgelöst werden müßte durch ein Denken in Prozessen, oder wie Edward H . Carr es ausdrückt, statt die "Gesellschaft im Ruhezustand (die es in Wirklichkeit gar nicht gibt) zu betrachten, gilt es, den Wandel der sozioökonomischen Verhältnisse und die Entwicklung ins Auge zu fassen". 25 Es erscheint nichts absurder in einer Welt permanenter Veränderungen, von miteinander verknüpften, auf mehreren Ebenen ablaufenden Wandlungsprozessen, als vom Stillstand zu reden, an die Vorstellung eines herstellbaren Gleichgewichts zu glauben. Prinzipiell sind gesellschaftliche Prozesse immer offen nach verschiedenen Richtungen, sie haben also keine vorgegebene Zielsetzung oder Zweckbestimmung. Das bedeutet aber nicht, daß sie vom blinden Zufall bestimmt wären, da das vorher Dagewesene ja immer nur ein bestimmtes Ensemble von Entwicklungsmöglichkeiten zuläßt. Aufgrund spezifischer Figurationen ergeben sich nur ganz bestimmte Entwicklungschancen, entstehen eigenständige Prozesse und entsprechende, den Prozeß reflektierende Kategorien des Denkens. Jede auf langfristige Entwicklung abgestellte Analyse steht unter dem Postulat, die sozioökonomische Wirklichkeit als ein System, welches eine bestimmte Struktur aufweist, aufzufassen. Dabei sind sowohl strukturelle als auch genetisch-dynamische Aspekte mit einzubeziehen - letztere im Gegensatz zum traditionellen Strukturalismus, der von invarianten Strukturen ausgeht. Es handelt sich darum, neben den (koexistenziellen)Strukturen auch die Prozesse in die Analyse mit aufzunehmen. Es geht um die "Untersuchung der in diesem System auftretenden strukturellen Gesetze bei gleichzeitiger Berücksichtigimg ihres komplementären Charakters zur Analyse von Prozessen." 20 23 24

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Schumpeter, Konjunkturzyklen, 1,1961, S. 10 Zur Analyse dynamischer Prozesse existieren mittlerweile entsprechende Verfahren und Formalismen (vgl. etwa: Boulding, Evolutionary Economics, 1981; Martens, Differentialgleichungen, 1984). Carr, Was ist Geschichte? 1963, S. 64 f. Schaff, Strukturalismus und Marxismus, 1974, S. 218

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Nun könnte in der Theorie offener Systeme ein pragmatischer Lösungsansatz gefunden werden, um "historische Totalitäten" von einer - wie es die Annales-Schule nennen würde - longue durée unter diesem Aspekt analysieren zu können. Die Systemtheorie, wie sie Ludwig von Bertalanffy in den 1950er-Jahren begründet hat, verzichtet keineswegs auf die analytische Betrachtungsweise, jedoch führt sie die Analyse unter anderen Bedingungen durch. Wie Gilbert Probst anschaulich schildert, arbeitet der Systemtheoretiker "gewissermaßen in zwei Richtungen, indem er Schicht für Schicht, gleich einem Anatomen sich in dem System hinabarbeitet oder Schicht für Schicht hinaufarbeitet, aber immer im Bewußtsein der Ganzheiten und der Möglichkeit, zum System als Ganzes zurückzukehren". 27 Systeme sind aus vielfach vernetzten Teilen bestehende Ganzheiten, die erst in der Auseinandersetzung von System und Umwelt, durch "Selbstreferenz", indem das System in der Konstitution seiner Elemente und seiner elementaren Operationen auf sich selbst Bezug nimmt, autopoietisch entstehen. 2 8 So liefert das System selbstreferentiell eine Beschreibung seiner selbst, wobei die Umwelt dazu ein notwendiges Korrelat darstellt; denn erst die Differenz von Umwelt und System erlaubt dessen Identifikation und dient somit als Prinzip der Erzeugung von Information und systeminterner Orientierung: "Selbstreferentielle Geschlossenheit korreliert mit Offenheit für Umweltkomplexität". 2 9 Jedes System stellt für sich eine Ganzheit dar, welche mehrere Subsysteme niedrigerer Ordnimg in sich schließt. Es ist seinerseits aber wiederum Teil eines umfassenderen Ganzen. Aus der Sicht offener Systeme ergibt sich somit die "metahierarchische" Perspektive einer aus Systemen niedrigerer und höherer Ordnung aufgebauten Wirklichkeit. Der Beobachter ist dabei selbst Teil des Systems; eine strikte Subjekt-Objekttrennung erscheint somit obsolet. 3 0 Die Systemtheorie schaltet dabei den Zeitparameter nicht aus, weil Systeme als evolutionäre Ganzheiten verstanden werden. In diesem Zusammenhang verweist die Evolutionstheorie darauf, daß solche Systeme autopoietisch, "von selbst" entstehen, wenn aus welchen Gründen auch immer vorher unverbundene Elemente neu miteinander in Verbindung treten. Ein 27

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Probst, Regeln des systemischen Denkens, 1985, S. 7; vgl. auch von Bertalanffy, General System Theoiy, 1951, S. 302 ff. Die Suche nach Ganzheiten innerhalb eines Ganzen ist etwa den Biologen durchaus geläufig, sie spielt aber auch in der Managementkybernetik eine Rolle (vgl. dazu das Modell von Beer, 1972 und 1975). Für den systemtheoretischen Ansatz stellt sich immer auch die Frage nach den Subsystemen oder TeilGanzheiten bei der Analyse eines Systems (vgl. Probst, Regeln des systemischen Denkens, 1985; Riedl, Ordnung des Lebendigen, 1975; Lorenz, Rückseite des Spiegels, 1975; Wuketits, Biologische Erkenntnis, 1983). Foerster, Systems and their Environment,1960, S. 31 ff. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 28 ff. Vgl. Yovits/Cameron, Self Organizing Systems, 1960

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derartiges System weist Verhaltensweisen und Eigenschaften auf, die nicht aus denen der vorher unverbundenen Teilelemente ableitbar sind; vielmehr entsteht ständig eine neue, vorher nicht existierende Ganzheit. 3 1 Als zentrale Erkenntnisdimensionen innerhalb der sozialökonomischen Entwicklung sind dabei die Kategorien "System" und "Struktur" anzusehen. Unter "System" verstehen wir ein strukturiertes Ganzes, das aus einzelnen miteinander vernetzten Elementen besteht, die in einem inneren Zusammenhang stehen. Es liegt hier ein interdependetes Beziehungsgeflecht innerhalb des Systems vor, wobei die Veränderung eines seiner Elemente stets auch eine Veränderung der anderen nach sich zieht. Unter "Struktur" wiederum sei die A r t und Weise verstanden, wie diese einzelnen Elemente miteinander i m Rahmen des gegebenen Systems verbunden sind, also die "Gesamtheit der Relationen" zwischen den Elementen des Systems bzw. die "innere Organisation" eines Systems. Dabei existiert ein organischer Zusammenhang zwischen einem System und seiner Struktur. 3 2 Gesellschaftliche Prozesse und das Phänomen des Übergangs von einem Gesellschaftssystem zu einem anderen können damit aus einem anderen, sowohl evolutionär-dynamisch als auch systemtheoretisch begründeten Erklärungsmodell heraus interpretiert werden. 3 3 Es kann davon ausgegangen werden, daß das anhand der Geschichte der Naturwissenschaften von Thomas Kuhn, Paul Feyerabend, Imre Lakatos und anderen, z.T. auch erst wiederentdeckten Autoren wie Ludwig Fleck, entwickelte Konzept des Übergangs zu einem neuen wissenschaftlichen Paradigma ein beträchtliches allgemeines Erklärungspotential enthält. Wenn die Übertragbarkeit dieses Konzeptes auf soziale, ökonomische und politische Systemelemente vorausgesetzt werden kann, so bedeutet dies, daß diese ein für sie jeweils spezifisches Ensemble von Steuerungsmitteln und Integrationskapazitäten aufweisen, mit denen sie neue Erfahrungen und Probleme, ja selbst strukturelle Veränderungen zunächst zu bewältigen versuchen. Gelingt das nicht mehr, erweisen sich die neu andrängenden Kräfte

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Vgl. Lorenz, Rückseite des Spiegels, 1975; Maturana/Varela, Autopoiesis and Cognition, 1980 Vgl. Schaff, Strukturalismus und Marxismus, 1974. Robert Rosen schlägt daher vor, bei einer Systembeschreibung die Unterscheidung dreier Ebenen zu berücksichtigen: 1. die Ebene der Systemelemente als Träger der die Dynamik des Systems leitenden Energie, 2. die (strukturelle) Ebene der Beziehungen zwischen den benannten Elementen, sowie deren Reproduktion und Selektion, 3. die Ebene der Systemparameter, d.h. die im System nicht lokalisierbaren Faktoren, unter deren selektivem Einfluß die Reproduktions-(Retentions-) und Selektionsprozesse der zweiten Ebene stehen; dazu zählen insbesondere reproduktionsnotwendige Ressourcen; Rosen, Morphogenesis, 1979, S. 91 ff.; Schmid, Dynamik und Selbsterhaltung, 1987, S. 6 u. 28 Vgl. Habermas, Rekonstruktion des Historischen Materialismus, 1976

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als zu stark oder die Steuerungsmittel und Integrationskapazitäten als zu schwach, kommt es zur Krise des Systems: Nichtreproduktionsfähigkeit der politischen, ideologischen und ökonomischen Voraussetzungen eines Gesellschaftssystems ist, so gesehen, das Ergebnis einer bestimmten "Verknüpfungs-Kausalität", die bereits in den Entstehungsbedingungen angelegt, jedoch keineswegs als teleologische Realisierung eines "inneren Prinzips" oder "Wesens" eines Gesellschaftsformation zu verstehen i s t . 3 4 Jedes System weist dabei nicht nur eine bestimmte innere Struktur auf, sondern funktioniert auch nach bestimmten Regeln. Dies resultiert schon daraus, daß Individuum und Gesellschaft nicht als unabhängig voneinander existierende Dimensionen zu verstehen sind. Man kann davon ausgehen, daß innerhalb spezifischer gesellschaftlicher Produktionsbedingungen zwischen Menschen zunächst Übereinstimmung über die notwendigen Regeln, Erwartungen und Wertvorstellungen existiert: "Jedwedes Produktionssystem strukturiert Erwartungshaltungen entlang der Linien geringsten Widerstandes, d.h. in Konformität zu seinen Regeln". 3 3 Selbst sog. "rationales" Verhalten kann daher nicht absolut, sondern immer nur in einem bestimmten sozioökonomischen Kontext gesehen werden. Die jeweils erfolgende Internalisierung von als "rational" anerkannten Verhaltensweisen bedingt aber, dessen muß man sich bewußt sein, ein "Abblocken" gegenüber dem Neuen (und verhindert damit auf längere Sicht die notwendige Revitalisierung eines Systems). Je stärker sich die Lebensbedingungen durch ökonomische, technische usw. Neuerungen verändern, desto schwieriger wird die gesellschaftlich-institutionelle und kognitive Anpassung an veränderte Realsituationen. Unser rein wissenschaftlich-technisches Wissen, das wir auch als Prämisse unseres gesellschafthch-politisch-wirtschaftlichen Handelns benützen, richtet sich auf spezifische, kontrollierbare, unmittelbare Ziele; was ein solches Wissen aber nicht kontrollieren und prognostizieren kann, sind die vielfältigen, interdependenten und komplexen Konsequenzen, die damit verbunden sind. Es scheint aber so, als ob jedes sozioökonomische System schon aufgrund der Bedingungen seiner Genese auch den Keim zur Krise, d.h. zugleich auch seine Grenzen vorgezeichnet hat. Die Anordnung der Bedingungsfaktoren bei seiner Entstehung, der zugrundegelegte Regelungsmechanismus legt dabei zugleich auch die Grenzen fest, dann nämlich, wenn die Grundlagen des Systems nicht länger reproduktionsfähig sind. Ein Widerstand gegen das System ist am ehesten von jenen gesellschaftlichen Gruppen zu erwarten, die nicht voll integriert werden können, die also das System auf der Legitimationsebene nicht mehr mittragen und von denen auch kognitive 34 35

Vgl. dazu auch Thom, Structural Stability, 1975; Woodcock/Davis, Catastrophe Theoiy, 1980; Renfrew/Cooke (Hg.), Transformations, 1979, S. 494 ff. Thompson, Plebejische Kultur, 1980, S. 317

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Dissonanz zu erwarten ist. Sie können dann zur Auflösung des System entscheidend beitragen, wenn sie etwa aufgrund ökonomischer oder politischer Gegenmacht Destabilisierungseffekte auslösen können. 3 6 Dabei gilt, daß die folgenden Generationen von den - im weitesten Sinne - Erfahrungen (Institutionen, Organisationen, Innovationen usw.) der jeweils vorhergegangenen Generationen geprägt sind; Tradition und Erfahrung sind jeweils Orientierungsnormen und Bedingungen gesellschaftlichen Handelns. Gesellschaftliche Prozesse - und auch hier ergibt sich eine Parallele zur biologischen Evolution - sind jedoch prinzipiell nicht wiederholbar; trotz Indeterminiertheit der Prozesse sind aber die aus den Ausgangssituationen resultierenden Zwänge von maßgeblicher Bedeutung. Die Wahl einer neuen Handlungsweise, auch einer neuen "Präferenz" oder "Theorie" ist gleichbedeutend mit der Eröffnung eines neuen, jedoch wenn einmal beschritten, irreversiblen Entwicklungspfades (denn nichts geschieht zweimal in der Geschichte, oder wie es Karl Marx einmal ausdrückte, wenn schon "zweimal", dann "das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce" 3 7 ). Prinzipiell ist also die Entwicklung offen nach verschiedenen Richtungen. Dies bedeutet aber keine Willkür des Zufalls, denn aus dem Katalog von grundsätzlich unendlich vielen Möglichkeiten ergibt sich schon aufgrund des "historischen Erbes", daß das "vorher Dagewesene" nur ein bestimmtes Ensemble von Entwicklungsmöglichkeiten zuläßt. Aus bestimmten historischen Situationen entstehen daher eigenständige Prozesse und die den Prozeß reflektierenden Kategorien des Denkens, die dann nur mehr Entwicklungen innerhalb von Bandbreiten zulassen. Die Dynamik dieser Prozesse hängt von der Stabilität der Gesellschaftssysteme ab. Jedes Gesellschaftssystem produziert also aus sich heraus Widerstände und Konflikte, welche destabilisierend und verändernd wirken. Diese können zunächst individuell als Konflikte zwischen Lebensformen und -Inhalten und den Normen der herrschenden "äußeren" Gesellschaft erfahren werden. Geschichtswirksam wird dies aber erst, wenn individuelle Phänomene zu gesellschaftlichen werden und somit indirekt oder direkt auf die Lebensformen und -inhalte sowie die gesellschaftlichen Normen Einfluß nehmen. Nun gibt es offenbar verschiedene Mechanismen, durch die nicht nur gesellschaftliche Prozesse in bestimmter Richtung "präformiert" werden, sondern die letztlich auch darüber entscheiden, welche historischen Kräfte sich durchsetzen: Veränderungen erfolgen zumeist als Reaktion auf äußeren (Bedrohung, Konkurrenz) oder inneren (etwa Wandel der Präferenzen, wodurch auch immer hervorgerufen) Druck. Kleine Veränderungen (Abweichungen, Alternativen, Innovationen) werden zumeist vom Sy-

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Vgl. Münch, Theorie sozialer Systeme, 1976, S. 117 ff. MEW 8, S. 115

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stem "assimiliert" und diesem angepaßt. Hingegen werden radikale Veränderungen in der Regel wieder "eliminiert", oder sie provozieren u.U. auch atavistische Reaktionen, welche nur über eine A r t von dialektischem Prozeß wiederum in eine neue gesellschaftliche Qualität münden können; oder aber das System gerät in eine existentielle K r i s e . 3 8 Über die "Stabilität" eines Systems entscheidet auf lange Sicht vor allem seine Fähigkeit, Neuerungen zu adaptieren und sein Konfliktlösungspotential zu mobilisieren. Dies gelingt zumeist auch, denn in der Regel erfolgen Veränderungen in Form von kleinen Schritten. Gleichzeitig ändert sich durch derartige Adaptionen auch das System selbst, so daß hier durchaus eine akkomodative Anpassungsdynamik gegeben ist. "Stabilität" ist also etwas sehr Relatives. 3 0 Soziale Systeme sind prinzipiell dadurch charakterisiert, daß sie eine konsensfähige Wertstruktur besitzen, die "symbolisch die besondere Struktur der Interaktion und Schichtung der Mitglieder eines sozialen Systems" legitimiert, d.h. sie moralisch akzeptabel macht. In konkreten sozialen Systemen gibt es eine Vielzahl divergenter Wertstrukturen. Freilich ist ein gewisses Maß an Übereinstimmung erforderlich, wenn die soziale Integration gewährleistet sein soll. Ob diese Übereinstimmung quasi eine hinreichend große Schnittmenge von Werten (oder Normen) sein muß oder eine "Familienähnlichkeit" (im Sinne von Ludwig Wittgenstein), ist allerdings fraglich. Eine Gesellschaft erhält von ihren Mitgliedern und von der Außenwelt ständig Anstöße, die sie veranlassen, Anpassungen in ihrer Arbeitsteilung und ihrer Wertstruktur vorzunehmen. Solange sie ihre Werte und ihre Umwelt in Synchronisation hält, kann sie unbegrenzt solche Anstöße empfangen (z.B. innovative Neuerungen, Sozialkritik, Geschmackswandel, kulturelle Einflüsse usw.). Die genetische Erkenntnistheorie Piagets verhilft uns nicht nur zu einer neuen Einsicht in die Entwicklung von Individuen, sondern auch von ganzen Gesellschaftssystemen. Nach Jean Piaget bezeichnet Intelligenz die Gesamtheit der Koordinationen von Verhalten auf bestimmten (Entwicklungsstufen. Faßt man Intelligenz im allgemeinen zusammen (unter Berücksichtigung der fließenden Vorformen etc.), so entspricht sie einem "biologischen Organ", das den Austausch von Verhalten eines Organismus mit seiner Umwelt reguliert. Das Verhalten eines Organismus (Systems)

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Manchmal jedoch geschieht es, daß soziale Systeme in eine Krise geraten: Dies ist vor allem dann der Fall, wenn das System seine materiellen und immateriellen Grundlagen nicht mehr reproduzieren kann, denn jedes System hat in sich zunächst die Tendenz, seine eigene Komplexität zu reduplizieren, d.h., mehr oder weniger gute Kopien seiner selbst herzustellen (vgl. Bresch, Evolution, 1983, S. 31). Ausführlich dazu vgl. Jänicke, Herrschaft und Krise, 1973

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gegenüber seiner Umwelt ist seine besondere Funktionsweise; geht man von der inneren Organisation (auch inneren Struktur, Form) aus, die in der Auseinandersetzung mit dem "Außen" ins "Innere" entwickelt wurde, so schlägt sich im Verhalten die Anpassung des Organismus nieder. Eine Anpassung kann grundsätzlich auf zwei verschiedene Arten vorgenommen werden: Inkorporiert ein Organismus Umweltdaten in seine interne Organisation, so bezeichnet Jean Piaget diese konservierende, bewahrende Tätigkeit als Assimilation. Paßt hingegen ein Organismus seine innere Organisation an die speziellen Gegebenheiten der Umwelt an, adaptiert er also, so bezeichnet Piaget diesen Prozeß als Akkomodation, was eine verändernde Tätigkeit charakterisiert, in der u.a. neue Begriffe, neue Operationen möglich werden. 4 0 I n der Phase der "Assimilation" sind die Handlungsschemata hinsichtlich der durch sie erfaßbaren Objekterfahrungen ziemlich konstant. Objekte werden eben durch vorhandene Begriffe, Handlungen und Diskurspraktiken erfaßt und gebildet. Beispiele dafür sind etwa mechanistische Modelle der Hydraulik, aber auch die Übernahme des Differentialkalkulus, somit der ihm zugrundeliegenden Mechanik in die ökonomische Theorie. Andererseits werden in der Phase der "Akkomodation" als Resultat diverser Lernprozesse (etwa über Klassifikation, logische Operationalisierung) die Handlungsmuster der Akteure geändert. Inhalt dieser Tätigkeit ist die Überprüfimg des intellektuellen Instrumentariums auf seine Tauglichkeit anhand der Realität. I n der Entwicklung ist aufgrund der Neuerung, der Umgestaltung, der Neuerschließung besonderes Augenmerk auf die Akkomodation des Erkenntnissubjektes zu legen. Der diese Umgestaltung begründende A k t wird als "formale, reflexive Abstraktion" bezeichnet. Nach Jean Piaget entwickelt sich empirisches Wissen nicht additiv, durch Hinzufügen, sondern in Richtung einer zunehmenden konstruktiven Rationalität. Gepaart mit der Erweiterung der konstruktiven Rationalität ist eine zunehmende Dezentrierung des Subjektes in der Realität. Die Wegbewegung von einer egozentrischen und die Hinbewegung zu einer dezentrierten Betrachtungsweise haben beide die Erfahrung, die Assimilation zur Voraussetzung. Die dabei auftretenden Probleme, die sich aus den Schwierigkeiten der Objekterfassung mittels der bereits entwickelten inneren Strukturen ergeben, können aber erst auf einer neuen Ebene, welche die Akkomodationen infolge formaler, reflexiver Abstraktionen entwickeln, gelöst werden. Zwei Betrachtungsweisen bieten sich dabei an: 1. I m Bereich Assimilation verbleiben die folgenden Überlegungen: Je dynamischer ein Gesellschaftssystem ist, je stärker sich etwa Lebensbedin40

Vgl. Piaget, Origins of Intelligence, 1952; Furth, Intelligenz und Erkennen, 1976, S. 32 f.

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gungen durch ökonomische, technische usw. Neuerungen verändern, desto schwieriger wird die gesellschaftlich-institutionelle und kognitive Anpassung an veränderte Realsituationen. Sehr oft ergibt sich dann ein "time-lag", ein zeitliches Zurückbleiben der notwendigen Anpassung der zentralen Normen und Werte, der institutionellen wie kulturellen Regulierungsmittel gegenüber den veränderten materiellen und immateriellen Lebensbeding u n g e n . 4 1 Solche Situationen sind dann jeweils eine gravierende Bedrohung für den Fortbestand von gesellschaftlichen Systemen. So ist etwa die Situation erhöhten sozialen Drucks eine Folge derartiger "multipler Dysfunktionen": Gibt die Herrschaftselite dem Wandlungsdruck jedoch nicht nach und führt damit kein Nachlassen der sozialen Spannungen herbei, selbst wenn sie ihre eigene Position dadurch verschlechtert, so ist sie genötigt, ständig mehr und stärkere Machtmittel einzusetzen, um ihre Machtposition zu erhalten. Es entsteht eine A r t von "Machtdeflation". Chalmers Johnson 4 2 charakterisiert dies folgendermaßen: "Wenn sich die Führungsschicht in dieser Situation weiters als unfähig erweist, mit ihrer Politik das Vertrauen nicht abweichender Handelnder zum System und dessen Tätigkeit zur Resynchronisierung lebendig zu erhalten, kommt es zu einem Autoritätsverlust. Das bedeutet, daß Gewaltanwendung seitens der Eliteschicht nicht mehr als legitim angesehen wird". Wenn zu Machtdeflation und Autoritätsverlust noch bestimmte andere, begünstigende Faktoren hinzutreten, können revolutionäre Umwälzungen mit weitreichenden Folgen entstehen. 43 2. Unter Berücksichtigung der Akkomodation gilt jedoch: Je komplexer Systeme sind, desto reichere Möglichkeiten der Adaption von Neuerungen können entwickelt werden. Zunehmende Komplexität bedeutet nicht zwangsläufig erhöhte Krisenanfälligkeit. Letzten Endes entscheidet die Fähigkeit des Systems zur Adaption, d.h. neue Dimensionen mitzudenken und zu bewerten, über seine weitere Entwicklung. Wenn es jedoch zu derartigen "transitorischen Krisen" kommt, so kann weder von einer notwendigen Reihenfolge solcher Krisen, noch von einem allgemeinen Muster des Übergangs von einem System auf das andere gesprochen werden. Über die Zielrichtung solcher gesellschaftlicher Veränderungsprozesse kann generell nichts ausgesagt werden, d.h. es besteht darüber prinzipielle Unsicherheit. Gesellschaftliche Prozesse lassen sich sinnvoll auch nicht mit Kriterien wie "fortschrittlich" oder "rückschrittlich" usw. messen. Auch ein Urteil darüber, ob ein Lebensstil, eine Lebensform, eine Gesellschaftsformation besser als eine andere ist, kann daher aus dieser Sicht nicht abgegeben werden. Dies darf allerdings nicht mit dem relativistischen Standpunkt 41 42 43

Vgl. Ogburn, Kultur und sozialer Wandel, 1969, S. 32 Johnson, Revolutionstheorie, 1971, S. 16 f., 108 ff. Vgl. Jänicke, Theorie sozialer Systeme, 1976, S. 117 ff.

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des Historismus verwechselt werden, z.B. wie es Leopold von Ranke in der Sprache des 19. Jahrhunderts ausdrückt, wonach jede Zeit "unmittelbar zu Gott" sei. Andererseits ist gerade die neuere kritische Theorie durch das emphatische Bemühen charakterisiert, Maßstäbe auszuarbeiten, um Lebensformen, Gesellschaftsformationen etc. sehr wohl beurteilen zu könn e n . 4 4 Gesellschaftliche Evolution ist eben nicht einfach ein neutraler und unausweichlicher Prozeß des technologischen Wandels und Fortschritts, sondern zugleich auch der "Entfremdimg" und "Ausbeutung" sowie des Widerstandes dagegen. Es zeigt sich, daß man durchaus "damit Werte sowohl verlieren wie gewinnen k a n n . 4 5 Es kann eine Verbindung zwischen den klassischen Ansätzen der Systemtheorie und des Strukturalismus sowie evolutionär-prozessualen Entwicklungstheorien hergestellt werden, indem solcherart Systeme nicht als etwas Statisches, sich gleichsam im homöostatischen Gleichgewicht Befindliches, sondern als etwas Dynamisches, sich andauernd Veränderndes aufgefaßt werden, eben als "offene Systeme" geprägt von Anpassung und Widerstand, von "Assimilation" und "Akkomodation" 4 0 gegenüber Anstößen von innen und außen. Wenn wir die gesellschaftliche Eingebundenheit von Wissenschaft akzeptieren, so ist zu beachten, daß auch ein soziales System nicht als etwas a priori Bestehendes, als gegebenes Objekt aufzufassen ist, sondern erst durch intensive Auseinandersetzung mit Problemen oder den vorliegenden Strukturen, d.h. als Ergebnis eines Diskurses als System konstruiert wird: "Je nachdem, aus welchem Gesichtspunkt wir ein System definieren, bzw. abhängig von den Prämissen, von denen wir ausgehen, wird eine andere Systemabgrenzung vorgenommen, und werden die aus der Analyse des Systems resultierenden Handlungsempfehlungen anderer A r t sein". 4 7 Wie

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Vgl. neben Habermas, passim: Wellmer, Moderne und Postmoderne, 1985. Derartige Bewertungen sind sehr wohl innerhalb eines Systems sinnvoll, denn sie ergeben sich aufgrund der Relation der sozialen Beziehungen, d.h. jedes Gesellschaftssystem trägt die Bewertungsmaßstäbe in sich selbst. Thompson, Plebejische Kultur, 1980, S. 62 Assimilation: Der inkorporierende Prozeß eines operativen Aktes. Ein In-sich Aufnehmen von Umweltdaten, nicht in einem kausalen, mechanistischen Sinne, sondern als Funktion einer internen Struktur, die kraft ihrer eigenen Natur - eben durch Assimilation potentiellen Materials aus der Umwelt - nach Bestätigung strebt. Akkomodation: Der nach außen gerichtete Prozeß eines operativen Aktes, der sich auf einen besonderen Realitätszustand bezieht. Die Akkomodation wendet eine allgemeine Struktur auf eine besondere Situation an; als solche enthält sie immer ein Element von Neuheit. In einem eingeschränkten Sinne führt die Akkomodation an eine neue Situation zur Differenzierung einer schon ausgebildeten Struktur und somit zum Auftreten neuer Strukturen (vgl. Furth, Intelligenz und Erkennen, 1976, S. 362). Probst, Regeln des systemischen Denkens, 1985, S. 3

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verschiedentlich*® gezeigt wurde, sind wir durchaus fähig, verschiedene Wirklichkeiten zu konstruieren. Die Stellung des Beobachters ist dabei zentral; die Systemabgrenzung wird durch den Standpunkt, den Bezugsrahmen, das Vorauswissen, die Prämissen, Erwartungen, Werthaltungen usw. bestimmt. Daraus folgt, zumindest für den sozialwissenschaftlichen Bereich, daß wissenschaftliche Theorien stets auch von implizit oder explizit vorhandenen Werturteilen und einer bestimmten A r t der Verknüpfung mitbestimmt sind. Man kann also durchaus nicht im Sinne eines naiven positivistischen Objektivismus "voraussetzungslos" an die Dinge herangehen, im Sinne Leopold von Rankes etwa, wonach es Aufgabe der Geschichte sei, "darzustellen, wie es eigentlich gewesen ist". Der Mensch als empirisch erkennendes Subjekt und sein Erkenntnisprozeß selbst sind vielmehr in jedem Fall Teil der von ihm erfahrenen Wirklichkeit, wobei auch die Ebene dieses Diskurses und die jeweilige "Ordnung der D i n g e " 4 0 ihrerseits historische Variablen darstellen, die einem Wandel unterliegen. Das, was wir fühlen, denken und erkennen, und somit die "Wissenproduktion", ist durchaus gesellschaftlichen Bedingungen unterworfen; wir können nach Wahrheit streben, aber niemals absolute Gewißheit erlangen. 5 0 Unter den genannten Aspekten stellt sich natürlich auch die sog. wissenschaftliche Objektivität als sehr relativiert dar. Indem auch der Mensch nicht als gleichsam "anthropologische Konstante" anzusehen ist, ja erst das Wissen um seine Geschichtlichkeit und seine Eingebundenheit in Gemeinschaft sein Menschsein ausmacht, unterscheidet er sich etwa von jener "glücklichen Viehherde", die Friedrich Nietzsche an den Beginn seiner Betrachtungen "Vom Nutzen und Nachteil der Historie" stellt. Es sind also weniger die Realphänomene, die sich verändern, als unsere Sichtweise, unsere Erkenntnisformen, aber auch die Ordnung, die wir ihnen zugrunde legen, die A r t der Selektion im Erkenntnisprozeß und damit auch die Interpretation der Welt. Auch in diesem Falle sind "Individuum"

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Vgl. z.B. Watzlawik, Erfundene Wirklichkeit, 1981 Vgl. Foulcault, Ordnung der Dinge, 1971. "Ordnung der Dinge" bedeutet sowohl eine strukturierte soziale Wirklichkeit, impliziert aber auch die Strukturierung der Wirklichkeit im Denken. Wahrnehmung beruht eben nicht auf der Feststellung feststehender Konstanten, sondern von Relationen und Differenz. Es bedarf einer "perzeptuellen Exploration", um Information zu gewinnen: dies erfolgt aber nicht über Zufallsprozesse, sondern auf der Grundlage von Orientierungsschemata und den darin enthaltenen Erwartungen. Auf diese Weise erfolgt eine Selektion aus der potentiellen Komplexität. Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit ist reduzierte Komplexität, also immer auf einen Ausschnitt der "absoluten" Wirklichkeit bezogen. Eine über die kommunikative Interaktion eines Diskurses geschaffene derartige Wirklichkeit ist eine "sinnvolle" Ordnung (Bateson, Mind and Nature, 1979, S. 104 ff.; Neisser, Cognition and Reality, 1976, S. 20 ff. u. 113 ff.).

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lind "Gesellschaft" zwei nicht voneinander zu trennende Dimensionen; 5 1 beide unterliegen aber ebenfalls einem Wandel, denn das Werden von Persönlichkeits- und Gesellschaftsstrukturen vollzieht sich in unlösbarem Zusammenhang beider. Gleichzeitig ändert sich dabei aber auch die jeweilige Symbol- und Sinnwelt und damit der Maßstab, nach dem wir die Dinge beurteilen, "sinnvoll" auswählen, verknüpfen und für wichtig erachten. Dies kann vom entwicklungspsychologischen Ansatz Piagets abgeleitet werden. Dieser setzt zwar auf der individuellen Ebene an, er enthält jedoch genügend Erklärungspotential auch im Zusammenhang mit sozialen Systemen: Die Erkenntnisstrukturen, mit denen Piaget sich beschäftigt, gehören ebenso dem Individuum in der Gesellschaft oder der Gesellschaft von Individuen an wie dem Individuum allein. Der Mensch ist eine lebende Organisation, die trotz oder besser aufgrund ihrer immanenten Struktur und Selbstregulation keineswegs autark ist. Die Umwelt ist kein zusätzlicher Luxus oder kein für eine im wesentlichen autonome Struktur entbehrliches Element. Die biologische Umwelt ist die unbedingt notwendige Welt, in der und durch die eine biologische Organisation lebt und mit der sie in Wechselwirkung steht. Wenn - wie es beim Menschen der Fall ist - soziale und kulturelle Einflüsse einen Teil der normalen Umwelt bilden, dann kann sich das Erkennen bei den Menschen ohne die soziale und kulturelle Umwelt niemals menschlich entwickeln.

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Diese Position wird nur deutlicher, wenn explizit davon ausgegangen wird, daß der Mensch ein "gesellschaftliches Wesen" ist (vgl. Holzkamp-Osterkamp, Grundlagen, I, 1977).

Ökonomie als lebendes System Von Kurt Dopfer, St. Gallen Alfred Marshall hat in seiner Abneigung gegen die Ungeschichtlichkeit der herrschenden Ökonomie gefordert, daß die Biologie und nicht die Mechanik das Mekka der Ökonomie sein sollte. Das war ein beherzter, aber bis jetzt uneingelöst gebliebener Aufruf zu einer Neuorientierung des ökonomischen Forschungsprogramms. Der paradigmatische Rückgriff auf die Disziplin der Biologie birgt aber die Gefahr, daß weiterhin mit bloßen Analogien operiert wird und nun die Ökonomie nicht mehr, wie früher, auf klassisch-physikalische, sondern auf biologische Gesetze reduziert wird. Dies wäre nun ein neuer Reduktionismus, wenn auch auf höherer Ebene. Der adäquate Weg scheint mir zu sein, die Grundprinzipien lebender Systeme, von denen sowohl biologische als auch ökonomische Systeme besondere Typen sind, zu erforschen, d.h. auf eine analytisch allgemeinere und in diesem Sinne fundamentalere Basis vorzustoßen, um von ihr aus die besonderen Systeme der verschiedenen Einzeldisziplinen zu rekonstruieren. E i n paradigmatisches Konzept lebender Systeme kann von allen Einzeldisziplinen her entwickelt werden und ist in diesem Sinne ein multi-disziplinärer Forschungsgegenstand par excellence. Einen wesentlichen Erkenntnisfortschritt erzielte die Biologie, als sie lebende Systeme als offene begriff und von den geschlossenen der Mechanik konzeptuell unterschied. 1 Im Gegensatz zu geschlossenen Systemen können sich offene - wie der Begriff andeutet - nur im Austausch mit der Umwelt erhalten und entwickeln. Sie nehmen - in thermodynamischer Sicht von der Umwelt Energie auf, transformieren sie und geben die transformierte Energie wieder an die Umwelt ab. Das lebende System entzieht also der Umwelt Energie, nicht indem es Energie verbraucht, denn gemäß dem ersten thermodynamischen Lehrsatz ist die Energie der Welt konstant, sondern indem es ein verfügbares höheres Temperaturniveau in ein tieferes überführt. Ludwig Boltzmann hat Energie als probabilistische Molekularbewegung verstanden und diesen energetischen Übergangsprozeß, den Clausius als "Entropie" bezeichnete, als einen Übergang von einem unwahrscheinlichen zu einem wahrscheinlichen Zustand begriffen. 2 Da Entropie 1

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Vgl. insbesondere Bertalanffys Arbeit über die allgemeine Systemtheorie, wo die Unterscheidung zwischen offenen und geschlossenen Systemen als roter Faden durch die Analyse läuft und der besondere Charakter von lebenden Systemen als offene herausgearbeitet wird. Hierzu die Darstellung von Erwin Schrödinger sowie die neuere Diskussion bei Prigogine/Stengers, 1980; aus ökonomischer Sicht: René Passet, "L'économie et le vivant", 1979

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nur in die Richtung einer energetischen Degradierung laufen kann - der Übergang von energetischer Ordnung zu Unordnung also irreversibel ist enthalten thermodynamische Prozesse eine Zeitrichtung. 3 Die Symmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft, wie sie für die klassische Physik charakteristisch ist, wird gebrochen und an ihre Stelle tritt eine für geschichtliche Prozesse typische Zeit-Asymmetrie* Eine erste wesentliche Leistung eines lebenden Systems besteht im Aufsaugen "negativer Entropie" aus der Umwelt. 5 In ökonomischer Interpretation entspricht die Fähigkeit des Aufsaugens von negativer Entropie aus der Umwelt einer Generierung von Surplus auf Kosten der Umwelt. Damit sich ein lebendes System, ökonomisch interpretiert, erhalten kann, muß es von seiner Umwelt dauernd einen Surplus extrahieren, d.h. es muß sich jenseits des thermodynamischen Gleichgewichts, bei dem die Surplusrate gleich Null wäre, erhalten. 6 Lebende Systeme sind daher in diesem fundamentalen Sinne Ungleichgewichtssysteme und die Idee der ökonomischen Gleichgewichtstheorie, wo unter idealen Bedingungen die Surplusrate gleich Null ist, widerspricht diametral einem konstitutiven Merkmal lebender Systeme. In der ökonomischen Theorie wurde der Idee der energetischen Surplusextraktion Rechnung getragen, indem die Abhängigkeit des ökonomischen Systems von seiner natürlichen Umwelt theoretisch betont wurde. Autoren wie Georgescu-Roegen 7 und Herman Daly® haben hier Pionierarbeit geleistet. Es stellt sich die Frage, wie lebende Systeme in der Lage sind, sich auf Kosten der Umwelt einen Energiesurplus anzueigenen und was sie sodann mit diesem Surplus tun. Eine Antwort kann bereits aus den knapp skizzierten Überlegungen hergeleitet werden: Der Fähigkeit zur Ordnungsdegradierung muß ein überlegenes Ordnungsprinzip, das jenem in seinen morphogenetischen Konsequenzen entgegengerichtet ist, gegenüberstehen. Lebende Systeme erhalten sich durch ihre Fähigkeit, Unordnung in Ordnung zu verwandeln, und sie entwickeln sich proportional zur Rate eines selbstgenerierten Ordnungssur plus. 9 3

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Die Relevanz thermodynamischer Irreversibilität für die Ökonomie hat insbesondere Georgescu-Roegen 1971 in seinem "The Entropy Law and the Economic Process" herausgearbeitet. Vgl. zum Phänomen der Asymmetrie und zum Begriff der histonomischen Analyse Dopfer, Histonomic Approach, 1986 Schrödinger, Was ist Leben?, 1942,99 ff. Vgl. insbesondere Prigogine's Dissipative Strukturen Georgescu-Roegen, beispielsweise im zit. Werk Daly, Steady-State Economics, 1977 Es gibt verschiedene theoretische Möglichkeiten, ein "Gegenprinzip" zum zweiten thermodynamischen Lehrsatz zu formulieren. Ein allgemein-theoretischer und bereits stark

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Dieser Ordnungsbildungsprozeß kann nicht mehr mit dem klassischen Kausalitätsprinzip, der Gravitation oder anderer Kraftfelder, erklärt werden, sondern muß sich auf ein Prinzip stützen, das etwas mit Kreativität im Sinne eins konstruktiven Außauens zu tun hat. Die Frage ist, wie sich Leben selbst aufbaut, also den der Umwelt entzogenen Surplus in Ordnimg verwandelt, um sich damit selbst zu erhalten und zu entfalten. Ein grundsätzliches Verständnis für dieses Phänomen kann gewonnen werden, wenn wir Leben als ein Ganzes, das sich aus Teilen konstituiert, betrachten. Der Mensch beispielsweise setzt sich aus lebenden Zellen zusammen, die ihrerseits wieder lebende Systeme einer tieferen Ordnung sind. Eine einem Menschen entnommene Zellkultur kann noch weiterleben, auch wenn dieser Mensch schon seit Jahren tot ist. Aber als Teile der Ganzheit Mensch haben diese Zellen ihre Funktion verloren. Der Mensch konstituiert sich nach einem höheren Ordnungsprinzip zu einem Ganzen, von dem her die Teile, wie etwa die Zellen teleologisch und funktional festgelegt sind: Er ist also mehr als die Summe seiner Zellteile. Diese Leistung zur Ganzheitskonstruierung wird durch eine Organisation erbracht. Ich möchte daher Organisation definieren als die Neigung der Teile, sich zu einem Ganzen zusammenzuschließen. Natrium- und Chlor-Atome haben beispielsweise die Neigung, sich unter bestimmten Umweltbedingungen zu Kochsalz zusammenzuschließen. Whitehead führt in seinem 'Function of Reason' aus, daß sich die Vernunft des Lebens in seinem immanenten Verlangen manifestiert, erstens zu leben, zweitens gut zu leben und drittens besser zu leben. 1 0 Kreativität schafft Vernunft, und diese begründet als inhärente - potentiell sinnkonstituierende - Zielsetzung das Gestaltungsprinzip. Von dieser Zielsetzung des Lebens her darf angenommen werden, daß sich die Teile nur zusammenschließen werden, wenn sie dadurch ihr Leben erhalten und/oder verbessern können. Die gewählte Definition der Organisation legt die Autonomie der Teile, d.h. ihr Wollen, theoretisch nicht fest. Eine völlige Autonomie der Teile wird zu "spontanen Ordnungen" führen, wie sie in der österreichischen Ökonomie von Carl Menger und in jüngerer Zeit von Friedrich August von Hayek beschrieben w u r d e n . 1 1 Eine soziale Ordnung wird dann weder ge-

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formalisierter Ansatz ist verfügbar in Hermann Haken's Arbeiten über die Synergie; z.B. Haken, Synergetics, 1978 Whitehead, Funktion der Vernunft, 1974 Vgl. beispielsweise Menger, Grundsätze, 1971, und v. Hayek, Studies in Philosophy, 1967. Beide Bücher sind nicht nur Klassiker, sondern geben auch eine gute Einführung in diesen Problembereich für den mit der ökonomischen Theorie bereits vertrauten Leser.

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wollt, noch kann sie vorhergesagt werden; sie entsteht spontan aus der Neigung der Wirtschaftssubjekte, miteinander in Interaktion zu treten. Diese Autonomiedispersion darf nicht mit Selbstorganisation verwechselt werden, denn alles Leben muß sich immer als Ganzes selbst organisieren, weil es keine äußere Instanz gibt, welche diese Organisationsleistung erbrächte. Dem dezentralistischen Typ der Selbstorganisation ist also ein zentralistischer gegenüberzustellen, bei dem einzelnen Teilen eine überlegene Ordnungsfunktion zukommt, wie beispielsweise dem Gehirn beim Menschen. Frank Knight hat im Zusammenhang mit der Zentralisierung von Unternehmensentscheidungen, wie sie unter bestimmten Umweltbedingungen erforderlich sein können, von einer "Zephalisierung der Untemehmensorganisation" gesprochen. 12 A u f der Grundlage dieser Überlegungen ist die Formulierung eines Ordnungsbegriffes möglich. Als Ordnung können wir einen Zustand bezeichnen, bei dem spezifische Elemente oder Teile ihrer Neigung, sich zusammenzuschließen, nachkommen und diese Teile sich als ein Ganzes erhalten. Demgegenüber besteht Chaos, wenn die Teile sich nicht zu einem Ganzen organisieren, sondern bezogen, unkonstruiert, also amorph im Hinblick auf ein höheres Ganzes nebeneinander stehen. 1 3 Eine schlechte Organisation besteht darin, die kreative Chance eines potentiellen Aufeianderbezogenseins der Teile ungenützt, d.h. chaotisch zu lassen und damit nur suboptimale Lebensziele zu erreichen. E i n lebendes System kann auf drei analytische Grundkomponenten zurückgeführt werden, deren theoretische Explizierung meines Erachtens Wesentliches über den spezifischen Charakter auch eines konkreten ökonomischen Systems aussagt. Diese Komponenten sind: Erstens die Systemorganisation, welche unserer Definition folgend, die Neigung der Teile, sich zu einem Ganzen zusammenzuschließen, spezifiziert. Die Organisation ist objektiv im Sinne eines holistischen Gestaltungsprinzips, denn die Aktivitäten der Teile sind theoretisch nur insofern relevant, als sie durch ein solches Prinzip auf das Ganze hin festgelegt sind. Konformität mit diesem Prinzip schafft Ordnung, Abweichungen der Teile dagegen Chaos. Eine weitere Komponente ist die Struktur, die aufzeigt, wie sich die Materie (einschließlich Energie) eines lebenden Systems in Raum und Zeit anordnet oder verteilt. Die herkömmliche Ökonomie stellt im wesentlichen auf die Analyse von Materie, d.h. Ressourcenstrukturen ab, was ihr erlaubt, ihre Aussagen ausschließlich mit dem klassischen Kausalitätsprinzip zu begründen. Wird indessen das ökonomische System als ein lebendes betrachtet, so 12 13

Vgl. Knight, Risk, 1971 Der Begriff des "Chaos" wird in dieser Arbeit als Gegenposition zum Ordnungsbegriff verwendet. Das bedeutet, daß das Kriterium der Indeterminiertheit notwendig, aber nicht hinreichend für den Inhalt des Begriffes Chaos ist.

Ökonomie als lebendes System

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strukturiert sich die Materie raum-zeitlich nicht mehr (allein) nach dem Kausalitätsprinzip, sondern nach der in der Organisation eines Systems niedergelegten Funktionalität der Teile. Der Ordnungsgewinn in Raum und Zeit ist nicht kausal, sondern teleologisch-final begründet. Durch diese Interpretation raum-zeitlich verteilter Materie wird die Symmetrie zwischen Vergangenheit und Zukunft gebrochen und es gelangt ein zweites Mal Geschichtlichkeit in den ökonomischen Prozeß: der entropische Zeitpfeil der Selbstorganisation des Lebens durch einen Ordnungsgewinn. Die klassische Physik hat auf die Frage, "wo" die potentielle Energie, wie das Quantum-, Gravitations- und elektrische Potential aufbewahrt sind, das Konzept des Feldes vorgeschlagen. In der Biologie begegnet man analog dem Konzept eines morphogenetischen Feldes.Für die Ökonomie stellen sich im Lichte dieser Ausführen Probleme, wie sich Ressourcen in Raum und Zeit geschichtlich strukturieren, was die spezifische ökonomische morphische Entwicklungsdynamik ist und wo diese sich durch ihre eigene Organisation selbst beschränkt oder ihr durch Umweltbedingungen Beschränkungen auferlegt werden. Die dritte Komponente der für alle lebenden Systeme gültigen analytischen Grundeinheit ist das Bewußtsein. Dieses steht den beiden objektiven Komponenten - der Organisation und der Struktur - als eine A r t subjektive gegenüber. Bewußtsein sei hier definiert ah Autonomie eines Ganzen, sich über die dieses Ganze konstituierenden Teile hinwegzusetzen. I n seiner höchsten Form des Selbstbewußtseins beim Menschen transzendiert dieses das Bewußtsein und kann Autonomie erlangen; es ist in diesem Sinne subjektiv und kann als zentrale Steuerungsinstanz das Gesamtverhalten des Systems auf wesentliche Weise bestimmen. Für die ökonomische Theorie ist die Anerkennung eines autonomen Bewußtseins wesentlich, da eine Theorie ökonomischer Entscheidungen ohne Freiheit zu solchen Entscheidungen unsinnig wäre. Die theoretische Nahtstelle zwischen Mikro- und Makro-Theorie war in der Volkswirtschaftslehre immer ein faszinierendes Forschungsgebiet, und die zentralen ungelösten Fragen sind in ihr angesiedelt. E i n Forschungsprogramm für die moderne Ökonomie sollte von allen analytischen Kategorien, die sich uns aus einem Verständnis lebender Systeme eröffnen, Gebrauch machen. Dies trifft insbesondere auf den makroskopischen Evolutionsgedanken zu. Ungleichgewichte als Motor der Wirtschaft setzen ihre Störung voraus, und solange diese theoretisch nicht erklärt wird, bleibt die gesamte Wirtschaftsdynamik ohne Erklärung. Eine Erklärung ökonomischer Mutationen muß meiner Auffassung nach das Herzstück einer modernen ökonomischen Theorie sein. Das Schumpeter'sche Forschungspro14

Vgl. dazu Sheldrake, New Science of Life, 1981

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gramm, das vom Unternehmer als einem schöpferischen Zerstörer ausgeht, ist in der herrschenden Ökonomie noch wenig populär, obwohl in den letzten Jahren vielversprechende Entwicklungen in Gang gekommen sind. Theoretisch völlig offen ist noch die Frage, ob Unternehmer von selbst mutieren, ob also die Analyse der Selbstorganisation für die Erklärung von Mutationsphänomenen geeignet ist, oder ob Mutationen primär von außen unter dem Konkurrenzdruck an die Unternehmungen herangetragen werden. Die volkswirtschaftlichen Ansätze stützen sich bei der Mutationserklärung vor allem auf das Selektionsprinzip und befinden sich damit in einer zweihundertjährigen Tradition dieser Disziplin. Erne endogene Mutationserklärung, wie sie von den Vertretern der Autopoiesis versucht wird, steckt noch völlig in den Kinderschuhen, denn ein Großteil des analytischen Aufwands wurde auf den Beweis verwendet, daß autopoietische Selbstorganisation das Darwinsche Selektionsprinzip ersetzt. Ein erster Schritt für die Volkswirtschaftstheorie wäre getan, wenn auf der Ebene der Mikrotheorie die analytische Unterscheidung zwischen einem kreativen und einem nicht-kreativen Wirtschaftsmenschen akzeptiert würde und Anstrengungen im Hinblick auf eine analytische Darstellung des kreativen Typs des Wirtschaftsmenschen unternommen würden. Interdisziplinäre Brücken zu den Verhaltenswissenschaften, zur Psychologie und Neurophysiologie könnten das theoretische Vorhaben entscheidend erleichtern. Insbesondere würde man auch einen Beitrag von der Betriebswirtschaftslehre erwarten, wo sich ähnlich wie in der Volkswirtschaftslehre das Bild eines neuen homo oeconomicus als schöpferischer Unternehmer analytisch noch nicht in letzter Schärfe abgezeichnet hat. Eine verbesserte analytische Skizzierung des kreativen Wirtschaftsmenschen würde schließlich aber auch den "methodischen Subjektivismus", der z.B. in der österreichischen Schule eine einzigartige Tradition hat, auf modernen Umwegen wieder ins theoretische Spiel bringen. Damit könnte aber ein weiterer Beitrag zur Versöhnung von Theorie und Geschichte geleistet werden: Das Subjekt wäre nicht geschichtlicher Störenfried einer idealen Theorie, z.B. der Gleichgewichtstheorie, sondern selbst theoretische Erklärungsvariable einer realistischeren Theorie.

Kontingenz und Diffusion als methodische Leitbegriffe Von Ekkehard Häberle, Heidelberg Eine der Hauptfragen der Wirtschaftswissenschaften ist die nach dem Gleichgewicht, speziell die nach dem Marktgleichgewicht zwischen Verkäufern und Käufern. Daraus leitet sich bis zur Gegenwart eine Hauptfrage der Wirtschaftspolitiker ab, wie man diesen Störfaktoren begegnen kann, schließlich wie man das offenkundige Dilemma zwischen Gleichgewicht und Entwicklung lösen kann. Eine gewisse Irritation erfuhr dieses Gleichgewichtsdenken durch die Problemstellung der volkswirtschaftlichen Wachstumstheorie, denn trotz goldener Pfade und ähnlicher Lösungen zeichnete sich mit der Ausbreitung der nach-keynesianischen Wachstumstheorie ab, daß volkswirtschaftliches Wachstum und mit ihm die allgemeine gesellschaftlich-wirtschaftliche Entwicklung nicht ohne Abweichungen von Gleichgewichtslagen zu erzielen war. Immerhin enthält diese Diskussion die Grundprämisse, daß nämlich eine Volkswirtschaft, wenn sie als solche begriffen wird, mit sich selbst in Zusammenhang bleibt, d.h. kontingent ist. Den höchsten Ausdruck an Kontingenz 1 freilich hat sie in ihrer Gleichgewichtslage. 2 Die Idee einer gesellschaftlichen Kontingenz wurde insbesondere von der betriebswirtschaftlichen Organisationsforschung aufgegriffen, nachdem diese intensive Anleihen bei der soziologischen'Systemtheorie genommen hatte. 3 Ein System ist zugleich kontingent mit sich selbst als auch mit seiner U m w e l t ; ersteres beschreibt seine innere Identität, letzteres seine Beziehungs- und Aktivitätsgrundlagen mit seiner Umwelt. Aktives Handeln ist nur im Rahmen dieser doppelten Kontingenz möglich - so etwa ließe sich die Botschaft des weit verbreiteten Lehrbuches von Kieser und Kubicek kondensieren. 4 Die Diskussion dieses Ansatzes hat sich insbesondere auf die Grenzziehung zwischen System und Umwelt konzentriert, weil, wenn äußere Situation und innere Kontingenz nicht differenzierbar sind, letztlich ein handelndes Subjekt in einer gesondert ausgewiesenen Umwelt nicht mehr definierbar ist. Der abstrakte Begriff der Kontingenz würde unversehens die erforderlichen Grenzen durchdringen, ohne die jedoch handelnde Subjekte nicht mehr auszumachen sind. 3 Letztlich jedoch stimmt 1

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Angemerkt sei, daß der Ausdruck "Kontingenz" in der philosophischen Tradition einen anderen Bedeutungsgehalt hat, vgl. z.B. Luhmanns Verwendung des Kontingenzbegriffes in "soziologische Aufklärung"! Vgl. König, Wachstum, 1970, bes. S. 125 ff. und 376 ff. Vgl. Münch, Struktur der Moderne, 1984; Luhmann, Soziologische Aufklärung III, 1981 Kieser/Kubicek, Organisation, 1983 Vgl. die Kritik am Situationsansatz im Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften:

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dieser Ansatz offensichtlich mit dem traditionellen mikroökonomischen Ansatz überein, soweit dieser ein Sozialmodell mit Subjekt und Objekt Differenzierung unterstellen muß, damit handelnde Firma (oder handelnder Haushalt) und ökonomische Umwelt klar voneinander abgrenzbar sind; die überstarken sozialökonomischen Vereinfachungen dieses Modells sind nach den intensiven Diskussionen seit Paul Samuelsons Lehrbuch über "Economics" 6 nun allgemein bewußt geworden, obwohl nicht recht klar ist, welche Konsequenzen diese Einsicht in der Entwicklung des Faches haben soll. 7 Es scheint, daß die Wiedereinbeziehung historischen Reflektierens in den Wirtschaftswissenschaften eine mögliche lösende Erweiterung sein kann. 8 Die moderne Betriebswirtschaftslehre beschäftigt sich demgegenüber mehr und mehr mit Diffusionsprozessen, die auch als partielle Wachstumsprozesse einzelner Produkte bzw. einzelner Sortimente oder gar als Ausarbeitungs- und Wachstumsprozesse von Verfahrensweisen und Forschungs- und Entwicklungsansätzen (F&E-Ansätze) begriffen werden können. 0 Nicht mehr die Innovation alleine, wie sie der älteren wachstumstheoretischen Fragestellung entspricht, sondern die Diffusion vorhandener Innovationen, darüberhinaus aber auch die Inzidenzwirkungen von Konting e n z 1 0 und Diffusion 1 1 auf die Evolution von Innovationen geraten in das Zentrum der Fragestellungen. Die alte Perspektive gleichgewichtigen Wachstums gerät dabei völlig in Mißkredit, denn es ist unübersehbar, daß Diffusionsprozesse Störfaktoren für Gleichgewichtslagen klassischer A r t sind. Diffusion wird im Kern verstanden als die Ausbreitung kreativer und innovativer Aktivitäten, deren Qualität lediglich insoweit noch nicht differenzierend geklärt ist, als Diffusionen ja entweder auf Imitationen vorgegebener Verfahren und Objekte beruhen können (die Industrialisierung Japans wird hierfür gewöhnlich als Beispiel genannt), andererseits jedoch Auslöser originärer Innovation und Kreativität sein können. Ein solcher Swap-Effekt von Diffusion konnte aber noch nicht einer weiterführenden, intensiven Diskussion zugänglich gemacht werden, eben weil er methodisch kaum in Betracht gezogen w u r d e . 1 2 Kontingenz und Diffusion aufeinander

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Witte, Unternehmensführung, 1980, S. 143; auch Schreyögg, Umwelt, 1978 Samuelson, Economics, 1951 Vgl. Ward, Idealwelten, 1981 Vgl. bei Matenaar, Organisationskultur, 1983, S. 105; Anm. 8, der zustimmend Malik, Managementlehre, 1979, zitiert, demnach unvollständige Abbilder von Realität u.a. durch unhistorisches Argumentieren entstehen. Rogers, Diffusion of Innovations, 1983 Vgl. Matenaar, Organisationskultur, 1983, S. 101 f. Vgl. Krampe, Früherkennungssystem, 1985; Kaas, Diffusion, 1973; Robertson, Innovative Behavior, 1971 Vgl. Walter, Technischer Fortschritt, 1977; Kaas, Diffusion, 1973

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zu beziehen, ist schließlich bis dato in der Literatur noch kaum zu erkennen, sodaß hier lediglich einige propädeutische Überlegungen über Effekte zwischen Diffusion und Kontingenz und die Möglichkeiten zur Freisetzung innovatorischer Kreativität durch Diffusionen angesprochen werden können. Haben Diffusionen, insbesondere im F&E-Bereich einen solchen induzierenden Effekt, haben sie zugleich einen kontingezstiftenden Effekt oder ist ihr Effekt auf Kontingenz, damit letztlich auf den Verfahrens- und Verhaltenszusammenhang einer Volkswirtschaft stabilisierend, oder stellen sich zunächst kontingenz-störende Effekte ein, die aufzuholen dann Aufgabe der Wirtschaftspolitiker ist, und von denen man vermuten kann, daß sie mit einer solchen Aufgabe überfordert sein würden? Die weltwirtschaftliche Perspektive, insbesondere die wirtschaftsgeschichtliche Kenntnis über Welthandelsgeschichte legt zumindest nahe, auch dies ist eine klassische These der liberalen Nationalökonomen, daß Diffusionen im Welthandel den Zusammenhang der Weltwirtschaft nicht nur erzeugen, sondern auch verstärken. Warum also sollten solche grundlegenden Einsichten der Wirtschaftswissenschaften nicht auch für Detailprozesse binnenwirtschaftlicher Dimension und sogar innerorganisatorische Prozesse nutzbar zu machen sein? Die Überlegungen hierzu seien in 10 knappen Thesen zusammengefaßt. 1. Die Volkswirtschaft insgesamt muß kontingent sein, d.h. es darf keine fremden Inseln in der Wirtschaft geben, die sich nicht nach den allgemeinen Regeln verhalten, nicht mit den übrigen Systemteilen kooperieren, oder die überhaupt nicht mit den anderen Systemteilen in Kontingenz sind. A m deutlichsten wurden solche Forderungen in Deutschland durch die ordo-liberale Schule der Wirtschaftswissenschaften formuliert und postuliert, wobei diese Denkrichtung der Wirtschaftswissenschaften, gerade im Gegensatz zur klassischen englischen Nationalökonomie, sich eher von einer Grundskepsis hinsichtlich der individuellen Anpassungs- und Einordnungsfähigkeit der Wirtschaftsindividuen leiten ließ. Das Credo der OrdoLiberalen war, daß die erforderliche Kontingenz sich nur über einen ausdrücklichen und möglichst auch schriftlichen und nachlesbaren Ordnungsrahmen herbeiführen ließ. Den "unsichtbaren Marktkräften" haben jedenfalls weder Walter E u c k e n 1 3 noch Alfred Müller-Armack eine solche Leistungsfähigkeit zugetraut. 1 4 Die volkswirtschaftlichen Theorien angloamerikanischer Provenienz seit A d a m Smith unterstellen zunächst, daß eine Volkswirtschaft holistisch ist, d.h. daß es eben keine solchen fremden Inseln gibt, daß prinzipiell alle und alles an den wirtschaftlichen Prozessen 13 14

Eucken, Grunsätze der Wirtschaftspolitik, 1968; Die älteren Ordo-Liberalen sind bekannt, sodaß sich weitere Belege erübrigen. Die neueren Ordo-Liberalen scheinen sich wieder der älteren Manchester-Liberalen Position anzunähern. Vgl. die aktuelle Diskussion um "New Wave Capitalism".

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teilnimmt, daß alle denkbaren Bezüge möglich sind und praktiziert werden können, daß keine Personen und keine Institutionen in anderen W i r t schaftsformen oder eben aus anderen historischen Zeiten ihr Eigenleben zu führen versuchen. Insbesondere auch wirtschaftsgeschichtliche Darstellungen wollen meistens zeigen, gelegentlich auch nachweisen, daß eine befragte Region und eine befragte Zeit im Zusammenhang ist, auch wenn, selbst bei Darstellung des paradigmatischen Beispiels industrieller Wirtschaftsgeschichte, nämlich der Industriellen Revolution in England, Widersprüche der wirtschaftlichen Entwicklung nur zu offensichtlich sind, die vermutete Holistik und Einheit der historischen Entwicklung deshalb im methodischen Ansatz der Historiker, nicht aber in den Ereignissen selbst begründet i s t . 1 5 Der Begriff der Kontingenz in seiner inhaltlichen Substanz wahrscheinlich auf Max Weber zurückgehend, wird sei Talcott Parsons in der soziologischen und betriebswirtschaftlichen Organisationstheorie verwendet, 1 6 jedoch in der neueren auf Wandel und Evolution angelegten Literatur eher übergangen oder mit einem geringschätzenden Unterton angesprochen. 17 I n der neuesten Entwicklung der betriebswirtschaftlichen Literatur zur Organisationskultur wird die Kontingenztheorie nicht direkt als methodischer Ansatz verwendet, jedoch in eher realhypostasierender Verfahrensweise als existent vorausgesetzt. 1® Schließlich wird das Problem der Diffusion von Verhaltensweisen und ethischen Prinzipien bei einigen neueren Vertretern der Unternehmenskultur-Diskussion entweder gar nicht gesehen 10 oder aber nicht mit besonderer Fragestellungen bedacht. 2 0 M a t e n a a r 2 1 wählt stattdessen den situationstheoretischen Begriff des "Kontextes", 22 der nicht nur in der Theorie der Unternehmenskultur bislang unspezifiziert geblieben ist, sondern z.B. auch in der deutschen Politikwissenschaft, wo er in einer Fachminderheit diskutiert wird, letztlich reichlich nebulos geblieben i s t . 2 3 Den Kritikern des Begriffes folgend, ist Kontingenz nicht nur ein statischer Begriff, sondern er beschreibt auch einen stationären Zustand. Deshalb sei 15 16 17 18 19 20 21 22 23

Vgl. z.B. Hobsbawm, Industrie und Empire, 1969; Deane, Industrial Revolution, 1969 Vgl. bes. den ersten Beitrag in Parsons, Beiträge, 1964; auch Greven, Institutionalisierung, 1987 Vgl. die schon oben genannte Kritik im HdWW, 1980 Matenaar, Organisationskultur, 1983; Heinen, Unternehmenskultur, 1986; ders., Unternehmenskultur, 1987 Vgl. z.B. Guth, Verantwortung, 1986 Heinen, Unternehmenskultur, 1986; vgl. hierzu umfassend Jonas, Prinzip Verantwortung, 1984 Matenaar, Organisationskultur, 1983 Matenaar, Organisationskultur, 1983, S. 63 ff.; Kieser/Kubicek, Organisation, 1983, S. 420 ff. Arndt, Die Besiegten, 1978, Kritik dazu v. Krockow, Politologie, 1979, zustimmend Möhler, Rezension, 1979

Kontingenz und Diffusion

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es fraglich, ob der Kontingenzbegriff sinnvoll bei Fragestellungen nach dem Wandel von Organisationen noch verwendet werden könne. Freilich wurde solche Kritik des Gehalts und Einbeziehung z.B. des Diffusions-Ansatzes vorgetragen, ja es scheint so, als ob die synthetische Sicht von Kontingenz und Diffusion generell unberücksichtigt geblieben ist, sowohl bei den Kritikern als auch bei den Befürwortern dieses Ansatzes. Die soziologischen Einfach-Modelle, insbesondere der Mikro-Ökonomie, besonders auch der betriebswirtschaftlichen Kostentheorie reduzieren die Komplexität der Situationen gewöhnlich derartig, daß einfach komparativstatische V e r f a h r e n m ö g l i c h werden. Z i e l der Erkenntnis ist die Anpassungs- und Wandlungsfähigkeit innerhalb der Organisation, gelegentlich sogar nur der Organisation als ganzes realhypostasiertes Subjekt, auf partielle isolierte Änderungen von Situationspartikeln, wie z.B. einzelne Außenpreise oder holistische Preisniveaus. Diese Verfahrensweisen sind den Ökonomen vertraut, und es soll auch nicht bestritten werden, daß sie ihren heuristischen und gelegentlich auch praktischen Sinn haben. Die Wirklichkeit wechselseitiger Wandlungs- und Wirkungsprozesse ist eigentlich so jedoch nicht beschreibbar, weil bei dieser Verfahrensweise der übliche Fehler reduktionistisch-partialer Erkenntnisverfahren in der K a r l Popper-Tradition schlechterdings nicht vermeidbar ist: Experimentelle Ergebnisse unter reduktionistischen Isolationsbedingungen stimmen mit den Ergebnissen empirischer Feldforschung nicht mehr überein, damit jedoch fallen sie letztlich als Beweisstück zugunsten der in der Empirie verlassenen Wirtschaftspolitik a u s . 2 4 Folgerichtig ist die konkrete Rolle des Umweltwandels bei der Evolution der Organisationen letztlich ziemlich unordentlich und vor allem in keinerlei Hinsicht in methodischer Übereinstimmung e r k l ä r t . 2 5 Interessant ist, daß diese Diskussion ja auch unter dem Stichwort "Theorie der Institutionen" in der Politischen Wissenschaft geführt wird, und dort eine sehr lange Tradition hat, die bis auf Hobbes zurückreicht und die wenigstens ein Minimum an Übereinstimmung der Fragestellungen und damit gegenseitiger Verständigung der Forscher erbracht h a t . 2 6 Kieser und Kubicek haben unter den Betriebswirten noch am ehesten auf diese äußerst breite Literatur reflektiert. 2 7 Institutionen haben mit Kontingenz zu tun, ihre Funktion ist zufolge der politikwissenschaftlichen 24 25 26 27

Vgl. bes. Albert, Modell-Platonismus,1965 Vgl. Kirsch/Esser/Gabele, Management, 1979; Greiner, Evolution and Revolution, 1972; paradigmatisch war Fiedler, Theory of Leadership, 1967 Vgl. neuerdings den Tagungsband von Göhler, Grundfragen, 1987 Münch, Struktur der Moderne, 1984; Strukturalistische und systemtheoretische Argumente finden neuerdings über den sogenannten Transaktionskostenansatz Eingang in die Betriebswirtschaftslehre, auch wenn diese Argumente zunächst ablehnend rezipiert werden. Vgl. Schneider, Betriebswirtschaftslehre, 1985; vgl. dagegen als Beispiel positiver Rezeption Gümbel, Handel, 1985

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Literatur die Beschaffung von Sicherheit und Handlungsfähigkeit, die Einflüsse der Umwelt auf das Individuum sollen durch Institutionen, damit jedoch durch Kontingenz abgeschwächt, selektiert und kanalisiert werden, und ebenso sollen umgekehrt die Handlungsmöglichkeiten der Individuen auf die Umwelt gerichtet durch Institutionen kanalisiert, typisiert und damit in ihrer Wirkung verstärkt werden. 2 0 Die marktwirtschaftliche Grundidee setzt dagegen das Individuum in die Lage und setzt diese Lage auch voraus, daß der einzelne Mensch in der Marktwirtschaft handeln kann, daß, liegt nur genügend Wettbewerb vor, der einzelne Mensch auch solche schützende Institutionen nicht braucht. Kontingenz stellt sich ja alleine durch das marktwirtschaftliche System ein, braucht institutionell nicht vermittelt zu werden. Die moderne Theorie des funktionsfähigen Wettbewerbs ist aus dieser Sicht die fähige Korrektur der klassischen Irrtümer, denn sie beschreibt sehr deutlich, wie marktwirtschaftliche Kontingenz beim Vorhandensein großer Firmen, d.h. großer selbstkontingenter Institutionen, noch denkbar und funktionsfähig ist. 2S> Kann man das Ergebnis der alten marktwirtschaftlichen Philosophie zugleich als planmäßig wie auch zufällig sich einstellende Kontingenz einer Wirtschaftsgesellschaft begreifen, womit man letztlich der klassischen Ökonomie ein grundlegende Paradoxie unterschiebt, so reduziert sich das Kontingenzproblem mit zunehmender Diffusion von wirtschaftlichen Institutionen hinreichender Größe, d.h. eben großer Firmen, auf das Problem nur noch planmäßigen Wandels. 3 0 Evolutionärer Wandel hingegen setzt immer noch auf Inzidenz und die damit verbundene Chance auf unerwartete, dafür aber umso wirkungsvollere Innovationen und deren Diffusion, die dann ohne Innovationsverluste planmäßig gesteuert werden kann, obwohl letztlich, und darauf hatte früher schon Dahrendorf hingewiesen, 31 die Ergebnisse von Plan und Markt hinsichtlich ihrer Rationalität gleichwertig sind. Heute scheinen sich die Erwartungen jedoch weithin eher auf die ungeplanten Evolutionen zu r i c h t e n , 3 2 und wirtschaftshistorische Studien zu diesem Thema heben vielfach die positiven Entwicklungsergebnisse aus ungesteuerten, rein marktmäßigen Evolutionsschritten hervor. 3 3 Die mikroökonomisch marktwirtschaftliche, zudem regelmäßig optimistische Sicht 28 29 30 31 32 33

So schon Meade, Geist, 1968 Vgl. die ausführliche Diskussion in Cox, u.a., Handbuch des Wettbewerbs, 1981 Vgl. die inzwischen breit diffundierten Strategiediskussionen in der Betriebswirtschaftslehre, ausgehend von Chandler, Strategy and Structure, 1962; ders., Visible Hand, 1977 Dahrendorf, Markt und Plan, 1966; vgl. auch Vanberg, Markt und Organisation, 1982 Riedl, Kultur, 1987 Besonders Hicks, Theoiy, 1969; vgl. auch North/Thomas, Rise of the Western World, 1973; abwägend und hinsichtlich einer Überbewertung marktwirtschaftlicher Vorteile gegenüber organisatorischen Lösungen nicht a priori befürwortend: Opp, Entstehung sozialer Normen, 1983

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von der möglichen wirtschaftlichen Evolution, wie sie insbesondere bei John H i c k s 3 * zum Ausdruck kommt, wird jedoch durch eine soziologische Betrachtungsweise zum Teil erheblich eingeschränkt, derzufolge die Freiheitsgrade für die unabhängigen Variablen in der Entwicklung aus historischen Gründen erheblich eingeschränkt sind und intensive zeitliche Wirkungszusammenhänge vorliegen: Kontingenz ist somit nicht nur ein strukturelles, sondern eben und gerade auch ein historisch-evolutorisches Problem. Im Zentrum dieser Überlegungen steht der von dem Historiker David Landes ebenfalls schon in den Mittelpunkt der Analyse gestellte Technische Fortschritt: 3 5 "... mit dem technischen Fortschritt ändern sich die produktivitätssteigernden Möglichkeiten der Organisation betrieblicher Produktionsprozesse ... mit dem Wandel sozio-ökonomischer und politischökonomischer Bedingungen des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (...) wandeln sich die manifesten Erwartungen, in denen sich gesellschaftliche Bedürfnisse ausdrücken und die institutionell gegebenen Chancen ihrer Befriedigung: eng zusammenhängend mit diesen Prozessen verschieben sich die Machtverhältnisse innerhalb herrschender Gruppen ... Alle diese Prozesse wirken sich als Veränderungszwang für das betriebliche Herrschaftssystem aus. Es ist eine Existenzfrage kapitalistischer Unternehmen, innerbetriebliche und überbetriebliche Strategien zu entwickeln, um unter veränderten sozio-ökonomischen und politisch-ökonomischen Konstellationen die historisch-spezifische Zweckrationalität der Organisation kapitalistischer Industriebetriebe zu stabilisieren , . . " 3 6 Damit wird jedoch nichts anderes gesagt, als die A r t und Weise der spezifischen Erzeugung einer auf kapitalistische Wirtschaftsbedingungen ausgerichtete innerbetriebliche wie auch zwischenbetriebliche Kontingenz und ihre Entwicklung bei sich ändernden Situationen, die zudem zu erheblichen Teilen von den fraglichen Unternehmen selbst ausgelöst werden. Schreyögg's Feststellung: "In der engeren Version behaupten die Kontingenztheoretiker eine strenge Determinierung der Organisationsstruktur durch die Umwelt oder die Technologie", wie bei Altmann/Bechtle immerhin wechselseitig, also auch in entgegengesetzter Richtung für möglich und wahrscheinlich eingeschätzt: 37 "... über die notwendige Anpassung des innerbetrieblichen Herrschaftssystems an die mit der Entfaltung der Produktivkräfte verändernden Bedingungen produktivitätssteigernder Organisation von Arbeit hinaus muß ein kapitalistisches Unternehmen nach außen, auf gesellschaftliche Produktionsbedingungen bezogene Strategien verfolgen, um die erzielbare Produktivität im Sinne maximaler Befriedigung sei34 35 36 37

Hicks, Theory, 1969 Landes, Unbound Prometheus, 1969 Altmann/Bechtle, Betriebliche Herrschaftsstruktur, 1971, S. 14 Schreyögg, Umwelt, 1978, S. 221

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ner Privatinteressen zu verwerten. Solche Strategien zielen darauf ab, unabhängig zu werden von Leistungen, über die das betriebliche Herrschaftssystem nicht frei verfügen kann, ohne dabei die Basis seiner Interessendurchsetzung, d.h. die Produktivitätssteigerung der Arbeit und die gesellschaftlichen Machtverhältnisse zu gefährden." 38 Das Zitat zeigt dreierlei: Es widerspricht zunächst der üblichen Annahme der meisten Ökonomen, wie sie in voller Eindeutigkeit erst durch den Soziologen Niklas Luhmann expliziert wurde, nämlich daß externe Effekte nicht beherrschbar seien. 3 9 Zum zweiten wird deutlich, daß reflektierte soziologische Forschung wesentlich früher als das Gros der Betriebswirtschaftslehre sich Gedanken gemacht hatte über Probleme der Strategie und die Notwendigkeit strategischer Planung, wenn überhaupt ein Effekt von der Entwicklung der Firma selbst auf ihre Umwelt ausgehen sollte. Zum dritten jedoch wird deutlich, daß Kontingenz- und damit wohl auch Diffusionsprobleme keine abstrakten Ansätze der Wirklichkeitsbetrachtung sind, sondern daß die Absicht, den Situationsbezug einer Institution darzustellen letztlich die Absichten und Interessenseinbindungen dieser Institution in ihrer Umwelt mit im Blick haben muß, weil sonst in der Tat ein Kontingenzansatz noch hinter eine pure statistische Messung zurückfiele. 2. I n den Geschichtswissenschaften wird schon seit längerer Zeit die Frage diskutiert, ob es nicht denkbar ist, daß im gleichen Raum-Zeit-Bezug Dinge sich ereignen, die nichts miteinander zu tun haben, deren scheinbare Kontingenz nur daraus folgt, daß sie eben dem gleichen Raum-Zeit-Bezug unterworfen wurden, während ihre je eigene historische Zeit eine verschiedene ist. Hier stellt sich allerdings die ganz grundsätzliche Frage, ob Raum-Zeit-Systeme realhistorisch zu begreifen sind, oder ob sie letztlich doch nur einen methodischen Kunstgriff darstellen mit dem Ziel, historische Ursachen, damit aber eben gesellschaftlich-wirtschaftliche Zusammenhänge behaupten zu können, die eine konkrete Verantwortimg sowohl im Erfolgs- als auch im Mißerfolgsfalle feststellbar machen. Klar, im Erfolgsfalle bedeutet dies, daß damit auch die zugehörigen Belohnungen legitimiert sind, im Mißerfolgsfalle jedoch die notwendigen Kausalhypothesen zur Schuldzuweisung scheinbar empirisch begründet sind. Für beides Beispiele zu nennen ist wohl nicht schwierig, das auffallendste Beispiel jedoch für die Mißerfolgsfälle sind die den europäischen Juden immer wieder angelasteten V e r a n t w o r t l i c h k e i t e n . 4 0 Wir sind allerdings gewohnt, den 38 39

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Altmann/Bechtle, Betriebliche Herrschaftsstruktur, 1971, S. 15 Vgl. z.B. Luhmann, Systemtheoretische Argumentationen, 1971, S. 373 f.; die zeitlichen externen Effekte im ökonomischen Fortschritt verlieren sich aus der unmittelbaren Beherrschbarkeit mit der Auflösung oder Abschwächung des konjunkturell-evolutorischen Phasenzusammenhanges. Besonders auffällig die traditionellen Behauptungen über Brunnenvergiftungen, die man auch als symbolisch-bildhafte Behauptung über die angelastete Aufkündigung ei-

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Raum-Zeit-Bezug unseres Lebens als a priori-Wahrheit zu glauben, ist jedoch die andere Hypothese richtig oder wenigstens brauchbarer, dann ist der Raum-Zeit-Bezug nur ein mechanisches System, und die darin eingefangenen Sachverhalte gehören nicht unbedingt aus sich selbst heraus zusammen. 4 1 Eine Konsequenz der Vorstellung von raum-zeitloser Beurteilung geschichtlicher Ereignisse wäre die Vermutung, daß es Ereignisse unterschiedlicher Geschichtszusammenhänge gibt, auch wenn sie auf das gleiche Datum moderner Zeitrechnung fixiert werden. Das würde jedoch bedeuten, daß ihr Zusammenhang, ihre Kontingenz, oder wie Alfred Whitehead es ausgedrückt hat, ihr Nexus 4 2 nicht unmittelbar wahrnehmbar wäre, er wäre nicht einmal im Sinne einer empirischen Hypothese formulierbar. Es wäre eine Theorie des Nexus, eine allgemeine Theorie der horizontalen und vertikalen Kontingenz der Geschichte zu formulieren, deren A n spruchsniveau jedoch über das empirisch sinnvolle Maß weit hinausreichen müßte, und, so ist vielleicht Whitehead zu verstehen, nicht die konkrete Gestaltung historischer Zustände zum Ziel hat, sondern eine Kontingenz als allgemeine natürlich-humane Menschlichkeit, der es nicht auf gesellschaftliche, wirtschaftliche oder gar technische Einzelheiten ankommen kann. Theoretische Kontingenzmodelle wären ohnehin modernen Methoden der Überprüfung zu unterwerfen, und das würde bedeuten, daß sie gleichermaßen für experimentelle als auch empirische Tests zur Verfügung stehen müßten, aus deren Übereinstimmung erst ihre praktische Zuverlässigkeit sich ergeben könnte. Derartige Testverfahren sind jedoch für entwicklungsgeschichtliche Fragestellungen schwer anwendbar, weil im Vergangenheitsteil solcher Fragestellungen die Experimente als Überprüfungsteil ausfielen. I m Zukunftsteil jedoch die empirische Prüfungsmöglichkeit ausfällt. 4 3 Die schon erwähnten Autoren Kieser und Kubicek gehen hin-

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ner minimalen Gemeinsamkeit = Kontingenz interpretieren kann. Zur bildhaften symbolistischen Verständigung in herstellender Absicht zwischen zusammenlebenden Menschen unterschiedlicher Kulturen, vgl. z.B. Jung, u.a., Mensch, 1968 Vgl. Whitehead, Prozeß und Realität, 1984, S. 37. Whitehead spricht von der unwillkürlichen Zusammenhanglosigkeit zwischen den (empirische Erfahrung ermöglichenden) Grundprinzipien, der Inkohärenz. Er fährt fort: "Andererseits jedoch scheinen die Tatsachen einen Zusammenhang zu bilden." und S. 46: "Es gibt keine selbständigen Tatsachen, die im Nichts treiben." Zum Begriff des Nexus bei Whitehead, Prozeß und Realität, 1984, S. 67 Über empirisch-experimentelle Tests vgl. z.B. bei Opp, Methodologie, 1970; Ziegler, Theorie und Modell, 1972; Albert, Theorie und Realität, 1972, dort besonders den Beitrag von J.S. Duesenbeny, S. 221 ff. Die in der Naturwissenschaft eigentlich gebräuchliche Idee, eine nicht überwindbare Differenz zwischen experimenteller Erfahrung und (empirischer) Wirklichkeit zu sehen, ist in den Sozialwissenschaften noch wenig verbreitet, am wenigsten in den Wirtschaftswissenschaften. Die Idee, die Wahrheit von Theorie dadurch zu prüfen, daß sie vergleichende Tests experimenteller und empirischfeldforschungsmäßiger Art unterworfen werden, ist offenbar in der Psychologie bereits verbreitet, nicht jedoch in den Wirtschaftswissenschaften. Vgl. z.B. McClelland, Macht

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sichtlich ihres Situations-Kontingenz-Ansatzes dagegen offenbar von einer Platonisch-Max Weberianischen Position aus, indem sie Situationen von Organisationen und Umwelt als originär beschreibbar darstellen, es gewissermaßen für möglich halten, die Umwelt von ihren inneren Teilen abzulösen und ihr dann immer noch einen empirischen Gehalt zuschreiben zu können.** Eine solche Reduktion in ungewohnter Richtungsumkehr widerspricht offensichtlich wenigstens der Nexus-Theorie von Alfred Whitehead, deren Sinn es offenbar ist, daß konkrete Inhaltsvorstellungen der Subjekte/Objekte nur erfahrbar sind, solange Subjekte/Objekte im Zusammenhang sind, d.h. solange die Kontingenz besteht. Die Auflösung der Kontingenz läßt Subjekte und Objekte gleichermaßen als nicht länger diskriminierbar zerfallen. Übrig bleibt somit eine methodisch bedingte Gleichzeitigkeit, jedoch keine inhaltlich a priori bestimmbare Kontingenz. Oder anders gesagt, die eindeutige Bestimmung historischer Subjekte und Objekte ist erst über die Definition ihrer Kontingenz möglich, daraus jedoch lassen sich erst weitere Überlegungen zu ihrer Entwicklung nachfolgern. Philosophisch orientierte Historiker haben dieses Problem längst aufgegriffen unter der Überschrift: Die Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen und die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. 45 3. Die beiden Grenzfälle sind also: a) b)

die Grundannahme allgegenwärtiger Kontingenz, und die Annahme der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, also der nicht-kontingenten Sachverhalte.

Gibt es Bewegung zwischen diesen Grenzfällen und welche Form können diese Bewegungen haben? Ausgehend von John M . Keynes' Allgemeiner Theorie hat die volkswirtschaftliche Wirtschaftswissenschaft diese Frage bisher mit Wachstums- und

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als Motiv, 1978. Die in den Wirtschaftswissenschaften an Bedeutung noch gewinnenden Simulationsansätze können nach diesem Verständnis als der experimentelle Teil der Theorieprüfung verstanden werden. Allerdings erscheinen die Verbindungen der Simulationsforschung zur empirischen Feldforschung noch nicht sehr weit entwickelt zu sein. Vgl. als Beispiel einer derartigen Forschungsperspektive z.B. Feichtiger, et al., Price Image, 1985, obwohl hier die nur mathematische Rechnung von Alternativen nicht eigentlich als Experiment verstanden wird. Kieser/Kubicek, Organisation, 1983, S. 243 ff. Offenbar folgen beide Autoren dem gewohnten neoklassischen Paradigma der isolierenden reduktionistischen Partialanalyse, was besonders bei ihrer Untersuchung der "Einflüsse der wichtigsten Situationsdimensionen auf die Organisationsstruktur" zum Vorschein kommt. Ein unübersehbarer Widerspruch zu Whiteheads Konzeption des Nexus entsteht. Koselleck, Vergangene Zukunft, 1984, bes.S. 130 ff.; siehe auch Braudel, Écrits, 1969, Abschn. I: Les Temps de l'Histoire.

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Entwicklungsmodellen zu beantworten versucht, die, wählt man z.B. Joseph Schumpeter und Roy Harrod als Exponenten, ziemlich unerklärlich weit auseinander liegende Ansätze aufweisen. Vergleicht man hiermit noch betriebswirtschaftliche Wachstums- und Diffusionsmodelle, so muß ein Betrachter der Wirtschaftswissenschaften notwendig zu dem Schluß kommen, daß es hier eine erhebliche Konfusion zwischen logisch-formalen und konkret-phänomenologischen Betrachtungsweisen gibt, die eine klare Aussage über Bewegungsmöglichkeiten zwischen den Grenzen hoher Kontingenz und niedriger Kontingenz einer Volkswirtschaft eigentlich unmöglich machen. Auffallend ist jedoch, daß derartige Ansätze zu Wachstums- und Entwicklungsproblemen, besonders aber die kapital-theoretischen und die nach-keynesianischen Wachstumsmodelle vollständige Kontingenz regelmäßig voraussetzen und auch während des Fortganges des Analyse nicht beeinträchtigen,jüngere Nachfolger des Schumpeter'schen Ansatzes sind hiervon vielleicht ausnehmbar, 4 7 wobei auffällt, daß solche Ansätze mit deutlichem historischem Bezug argumentieren. Neoklassische Wachstumsmodelle in der Nachfolge von John Hicks entsprechen üblicherweise einer logistischen Funktion, wenigstens einem Teilabschnitt einer solchen Funktion. 4 ® Jedoch sollte immer in Erinnerung zu bringen sein, daß im ursprünglichen Modell mit einer Wachstumsidee, dem keynesianischen Multiplikator-Modell, sich bei nur einmaliger Investition regelmäßig ein auf das Ausgangsniveau zurückfallender Prozeß ergibt: Eine Niveauanhebung auf Dauer ist nur zu erzielen, wenn die prozeßinduzierte Investition (Aktivität) ebenfalls auf Dauer erbracht wird. Das aber bedeutet, daß ein Entwicklungsansatz auf der Grundlage des Multiplikator-Modells eine Niveauänderung eines Prozesses dadurch erklärt, daß er eine Niveauänderung für sich selbst einfach voraussetzt. Eine nur allzu offenbar tautologische Vorgehensweise, die einem kritischen experimentellen-empirischen Test nicht standhält. Die neueste Wirtschaftswissenschaft sucht diesem Dilemma zu entkommen, indem sie bereitwillig das immer verfügbare Konzept intuitiver Kreativität in Anspruch nimmt und der makroökonomischen und neoklassischen Lehre das B i l d des schöpferisch kreativen Unternehmers, allgemein des kreativen Menschen als Quelle jeglicher Entwicklung entgegenstellt. 49 A u f die Fragestellung hier übertragen 46 47 48 49

Vgl. bei König, Wachstum, 1970, Einleitung Bes. Lewis, Theorie, 1955; Kontingenzüberlegungen ähnlich bei Meyer, Koordination, 1959 Vgl. v. Weizsäcker, Optimales Wachstum, 1970, S. 383, vgl. dessen graphische Darstellung Besonders Schneider (vgl. Scheider, Betriebswirtschaftslehre, 1985) setzt sich für diese Perspektive der Wirtschaftswissenschaften ein (S. 539 ff.), während er den eher strukturalistisch-unpersönlichen Ansatz der von der MikroÖkonomie herkommenden Transaktionskostenökonomie vehement ablehnt (vgl. Schneider, Unhaltbarkeit, 1985)

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bedeutet das, daß sowohl die aus methodischen Gründen erforderliche Vorwegnahme vollständiger Kontingenz als auch die Methodik in der Darstellung der anschließenden Diffusion, d.h. Entwicklung, fragwürdig bleiben muß. Ökonomen haben nicht weiter darüber nachgedacht, was das eigentlich bedeutet. Der allzuschnelle Rückgriff auf Kreativität, auf die zu hoffen ist, die aber ohne methodische Begründung trügerisch sein könnte, lenkt eher von den gestellten Fragen ab, als daß wirklich eine Erklärung oder gar Begründung gegeben worden wäre. M i t der biedermeierlichen Genügsamkeit frühindustriellen bürgerlichen Lebens war es jedenfalls nach Einsetzen der nationalen industriellen Take-offs bald vorbei. Der industriell orientierter Mensch lebt tatsächlich auf einem Niveau von Aktivität und Betriebsamkeit, auch Betriebs-Unterworfenheit, das offensichtlich inzwischen die Grenzen der physisch-psychischen Lebensmöglichkeiten der Menschheit erreicht hat. Noch mehr Aktivität im Sinne Etzionis, 5 0 noch mehr Kontingenz im Sinne einer formal-faktischen Einbindung der einzelnen Menschen in systematische Regelhaftigkeit von Institutionen 5 1 würde zumindest der neuesten Idee der anti-neoklassischen Wirtschaftstheorie vom kreativen Unternehmer als Kernzelle jeglicher Entwicklungsprozesse widersprechen. Denn unerklärlich wäre jetzt, warum ausgerechnet der kreative Unternehmer (abgesehen von der Frage, wer eigentlich die kreativen Unternehmer auswählt?) aus der allgemeinen Kontingenz systemischer Qualität ausgenommen bleibe, damit er seine Kreativität entfalten könne? Die Alternative einer sich auf die Persönlichkeit von Unternehmern konzentrierenden Betriebswirtschaftslehre ist die sich primär mit Entwicklungsfragen beschäftigende Diffusionsforschung, obwohl letztere die Fragestellungen der ersteren nicht einfach ersetzen kann, noch weniger erübrigen kann. Denn offensichtlich kann die einfache Diffusionsforschung noch nicht erklären, wie Kreativität sich ausbreitet, weil das Diffusionssubjekt sich im Ausbreitungsprozeß allenfalls zufällig verändert. Die oben schon angesprochene SwapMöglichkeit, daß nämlich Diffusionen neue Aktivität auslösen, und nicht einfach vorhandene wiederholen, ist systematisch noch kaum geklärt. 5 2 Erst neue Ansätze der Diffusionstheorie wenden sich den F&E-Diffusionen z u , 5 3 womit die Möglichkeit einer systematischen Erklärung von Innovationen näher rückt.

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Etzioni, Active Society, 1968; ähnlich auch Lipset, Political Man, 1981 Greven, Institutionalisierung, 1987 Dagegen Schmookler, Invention, 1966. Walter, Technischer Fortschritt, 1977, regt ausgehend von Schmookler an, eine Theorie des nachfrageinduzierten Fortschritts zu entwickeln, d.h. in unserer Sprache eine Theorie einer innovativen (und eben nicht nur imitativen) Diffusion zu entwickeln. Siehe Krampe, Früherkennungssystem, 1985

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Diffusionsmodelle basieren wie der Keynes'sche Investitionsmultiplikator auf einer logischen Funktion, 5 4 die prinzipiell einen streng systematischen Verlauf hat. Bildet man eine solche Funktion mit einer Normalverteilung ab, dann ist die Hälfte der Gesamtzahl aller möglichen Elemente im Maximum der Funktion erreicht. Diffusionsfunktionen sind jedoch nicht symmetrisch, sodaß selbst diese Aussage zweifelhaft wird. In volkswirtschaftlicher Sicht liegt im Maximum einer solchen Funktion das höchste Konjunkturniveau, in betriebswirtschaftlicher Sicht handelt es sich um den Zeitpunkt des momentan intensivsten Absatzes. Beides ist unschwer als eine Situation der Kontingenz zu erkennen, die offensichtlich in diesen Maximumpunkten ihre höchste Intensität erreicht, um danach wieder abzufallen und gegen ein Null-Ausgangsniveau zu tendieren. M i t historischem Interpretationsinteresse werden solche Diffusionsfunktionen als strukturelle Trendlinien bezeichn e t , 5 5 wobei sich hier die Interpretation als Trend von und zu einem Kontingenzniveau aufdrängt. Eine interessante Evolutionsthese hat Günter Hesse aufgestellt, die sich diesen abstrakten Überlegungen als Beispiel unterlegen l ä ß t : 5 6 Wirtschaftliche Entwicklung, insbesondere industrielle Entwicklung nach englisch-europäischem Muster, sieht Hesse als abhängige Anpassung an langfristige kontinentale klimatische Bedingungen. Hierbei werden zwei kontingenztheoretische Tatbestände angesprochen: a) klimabezogene Kontingenz einer Volkswirtschaft (oder besser: einer Wirtschaftsweise im Sinne von Bechtel, 5 7 b) Kontingenz der klimabezogenen wirtschaftlichen Evolution als spezifische Diffusion. D.h., die Diffusionen industrieller Wirtschaftsweisen sind nicht willkürlich, sind noch nicht einmal anbindbar an individuelle oder klassenmäßige wirtschaftliche Interessen, sondern sie sind selbst als Prozeß kontingent, und werden auf der Grundlage dieser Kontingenzvoraussetzung ausgelöst durch Anpassungen an großstrukturelle Klimabedingungen. Freilich können solche Anpassungen nur erfolgen, wenn außerhalb des fraglichen Prozesses ein Kriterium zur Verfügimg steht, das den Beteiligten mitteilt, wann ein Kontingenzniveau durch Klimaänderungen verschoben wird. Autostatische Regelungen kommen nicht ohne wenigstens zeitweilig feste Parameter aus, an denen sich Aktivitäten entfalten können. Außerdem entsteht die Frage, wie weit die Varianz solcher Entwicklungsdiffusionen reichen kann, ohne ein hinreichendes Maß an Kontingenz des Systems zu zerstören. Solche Fragen sind freilich schon früher von F.A. von Hayek angesprochen worden, hat dieser

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Krampe, Früherkennungssystem, 1985, S. 358 Krampe, Früherkennungssystem, 1985, S. 358 Hesse, Entstehung, 1982, vertritt eine außergewöhnliche Evolutionstheorie, die allerdings für Länder des tropischen und subtropischen Weltgürtels keine günstigen Evolutions-Aussichten eröffnet. Bechtel, Wirtschaftsgeschichte, 1951-1956

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doch zuerst konjunkturelle Probleme unter dem Aspekt einer weitest möglichen Evolution gesehen. 50 Ein anderes Beispiel für solche Diffusionsprozesse als Ausbreitung von Kontingenz sind Prozesse der Internationalisierung von Unternehmen. 5 9 Ganze Organisationen diffundieren über die Grenzen einer Volkswirtschaft hinaus und erzeugen vollkommen neue Kontingenz, wobei nicht übersehen werden soll, daß solche Diffusion von Unternehmungen als Ganzes zuvor bestehende Kontingenz über das marktwirtschaftlich-weltwirtschaftliche System ersetzt. Der internationale strukturelle Zusammenhang der Volkswirtschaften wird verändert, das System der Vernetzung insgesamt wird geändert. Welche Effekte im Hinblick auf weitere Entwicklung hieraus resultieren, ist strittig, und die auf den kreativen Unternehmer setzenden Betriebswirte müssen sich fragen lassen, ob ihr Konzept noch sinnvoll ist, wenn die gleichen Betriebswirte zumeist auch wenig kritische Befürworter solcher Internationalisierungsprozesse s i n d . 6 0 Z u diesem ganzen Fragenkreis gibt es jedenfalls auch eine politisch-soziologische Diskussion, die in die entwicklungstheoretische Literatur hinüberreicht. Innerhalb dieser Literatur gibt es eine entwicklungskritische Theorie des peripheren Kapitalismus, die mit der betriebswirtschaftlichen Internationalisierungsthese nicht übereinstimmt: Direktinvestitionen als Diffusionsgrundlage ganzer Organisationen von Firmen aus hochentwickelten Volkswirtschaften in Ländern niedriger Entwicklungsstufen erhöhen die Kontingenz der industriellen Institutionen zwischen den beteiligten Volkswirtschaften, verringern aber das Kontingenzniveau der weniger entwickelten Volkswirtschaften innerhalb ihrer eigenen Grenzen. Die weniger entwickelte Volkswirtschaft wird sozusagen entgrenzt zugunsten einer neuen Kontingenzrichtung, bei welcher der traditionale Zusammenhang des Entwicklungslandes abstirbt. Die Chancen für weitere Diffusionsprozesse zugunsten der hochindustrialisierten Institutionen werden weiter verbessert, während die Diffusionschancen für die altkulturellen Institutionen des Entwicklungslandes infolge eines relativen, meistens aber auch absoluten Kapitalentzuges drastisch verschlechtert werden. 6 1 Nur zu offensichtlich ist, daß damit auch kreative Kapazität für die Menschheit als Ganzes verloren geht, womit ebenfalls langfristig und global weitere Entwicklungschancen frühzeitig verschüttet werden.

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Hayek, Geldtheorie, 1929 Vgl. Lück/Trommsdorf, Internationalisierung, 1983; vgl. auch Nagel/Numrich, Außenwirtschaft, 1984 Vgl. den Überblick von Macharzina, Unternehmertätigkeit, 1983, S. 111 ff. Senghaas, Peripherer Kapitalismus, 1977. Wilhelm Krelle hat anläßlich eines Vortrages vor der Alfred-Weber-Gesellschaft in Heidelberg am 1. Juli 1987 auf der Grundlage ökonometrischer Simulationsstudien die gleiche Skepsis hinsichtlich der Chancen der Entwicklungsländer geäußert.

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4. Offenbar gibt es zwei Niveau-Grenzen in diesem Bewegungsbild, zwischen denen grundsätzlich drei Bewegungsabläufe ( = Prozesse) denkbar sind. Zunächst muß angemerkt werden, daß es zwischen den Grenzen auch eine Mitte gibt, ein mittleres Niveau, das sich in einer Normalverteilungskurve konstruieren läßt, weil ja die Halbierung der Gesamtmenge der Elemente nicht nur vertikal, sondern auch horizontal möglich ist. Dann lassen sich drei Bewegungstypen unterscheiden: a) b)

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Chaotische Bewegung zwischen den Grenzen mit unterschiedlichen und unregelmäßigen Bewegungsausdehnungen, Bewegungen von außen zur Mitte hin. Diese sind unschwer als die Grundparadigmen der ökonomischen Gleichgewichtslehren erkennbar, und Bewegungen von der Mitte weg zu den Grenzen hin, wobei dann natürlich zu klären ist, welches genau die Niveau-Lage der Grenzen ist.

Letzterer Fall ist unschwer als die europäisch-christliche Grundangst zu erkennen, nämlich die Angst vor einer Bewegung von der (geordneten) M i t t e weg zu den (ungeordneten) Grenzen h i n . 6 2 Dieser Bewegungstyp wird auch in den Konjunkturtheorien als das Hauptübel moderner Wirtschaftsweise, vielleicht sogar freier Marktwirtschaft generell höchster oder gar vollständiger Kontingenz auf der einen Seite und mangelhafter Kontingenz oder gar vollständiger Zusammenhanglosigkeit auf der anderen Seite als bedrohlich empfunden. Die wirtschafts- und konjunkturpolitische Diskussion der Gegenwart scheint dies zu bestätigen. Widersprüchlich daran ist, daß die Null-Niveau-Linie für eine Ausgangs-Gleichgewichts-Lage in Anspruch genommen wird, die dann offenbar vollständige Nicht-Kontingenz anzeigen soll, während hier vermutet wurde, daß ein System immer kontingent ist, wenn auch nicht vollständig, daß es jedoch viele mögliche Niveaulagen für diese Systeme gibt, zwischen denen Bewegungen ablaufen. Streng genommen handelt es sich um infinitesimale Prozesse, deren Konsequenz es ist, daß nicht-kontingente Zustände sozusagen gar nicht feststellbar sind, dennoch sich jedoch unterschiedliche Niveaulinien darstellen lassen. Derartige Überlegungen folgen in jedem Falle dem euklidisch-pythagoräischen Paradigma, das uns in geometrischer Abbildung eindeutig von Grenzen, Mitten und Gleichgewichten sprechen läßt. Folgen wir einem ra62

Vgl. das seinerzeit paradigmatische Buch des Kunsthistorikers Hans Sedlmayr, Verlust der Mitte, 1958; vgl. auch ders., Tod des Lichtes, 1964. Adalbert Stifters Erzählung "Der Tod des Lichts" scheint in der Gegenwart eine grausig dauerhafte Realitätschance gewonnen zu haben: Wie anders sollten Mutmaßungen über nukleare Winter sonst interpretierbar sein? Zu dieser Argumentation siehe auch Weidlé, Sterblichkeit, 1958

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dikalen Nominalismus, dann sind auch solche Denkmodelle mit Mitten, Grenzen und Gleichgewichten, d.h. mit gültigen und ungültigen Normen als Grundlage für die Bestimmung von Gleichgewichten, hinfällig. Ein grenzenloses und damit notwendigerweise Mitte-loses Modell ist uns schwer verständlich, scheint aber heute die Grundlage der neuesten Physik zu sein. Eine einfache logische Konsequenz wäre, daß jeder gegebene historische Zustand kontingent ist und gleiche Legitimität beanspruchen kann; es gibt kein Mehr-oder-Weniger - Gleichgewicht. Damit aber sind unterschiedliche Niveaulagen einer Volkswirtschaft, z.B. gemessen an ihrem Bruttosozialprodukt oder an ihrer Wachstumsrate kein geeigneter Indikator für Kontingenz, für Zusammenhang dieser Volkswirtschaft, worauf eigentlich erst die auf entwicklungspolitische Probleme bezogene Wirtschaftswissenschaft aufmerksam gemacht hat. Fraglich wird dann auch, ob mit Kontingenz-Kriterien, d.h. eben auch einfachen Wachstumskriterien Aussagen über Entwicklung im anspruchsvollen Sinne von Evolution gemacht werden können. Kritiker von Evolutionsansätzen können daher auch derartige Thesen damit leicht kritisieren, daß sich merkwürdigerweise regelmäßig herausstellt, daß die Lebenslage des Evolutionstheoretikers offenbar zufällig mit dem jeweils letzten Evolutionsstadium übereinstimmt. Darüberhinausgehende Perspektiven einer Evolution in die Zukunft werden ohnehin immer Spekulation bleiben. 6 3 5. Die chaotischen Bewegungen sind sicher die erwartbar unübersichtlichsten, obwohl zu vermuten ist, daß es sich hierbei um die wirklichen historischen Vorgänge handelt. Jedoch sind die methodischen Schwierigkeiten für ihre konkrete Ausarbeitung und Darstellung derartig groß, daß kaum ein Historiker den Versuch gewagt hat, sich Geschichte als historischen Prozeß im Sinne eines "netto-richtungslosen Chaos" vorzustellen. Wirtschaftswissenschafter sind dagegen beinahe ausnahmslos dem Wirtschaftlichkeitsprinzip als Grundmaxime ihrer Analysen verpflichtet, woraus implizit ein Bias zugunsten einer systematisch-rationalen (wenigstens rational darstellbaren) Regelmäßigkeit mit all ihren Konsequenzen hinsichtlich der Grenzen, der M i t t e n und der Gleichgewichte ergibt. Ein Autor, der sich Geschichte derartig richtungslos vorgestellt hat, ist der Historiker und Philosoph Theodor Lessing. 6 4 Üblicherweise jedoch verpflichten sich die H i s t o r i k e r analog zum R a t i o n a l - A p r i o r i der Ökonomen der linearmechanischen Historik Droysens, auch wenn sie Gleich- und Ungleichzeitigkeitsprobleme sehen und diskutieren. U n d in der Tat, die Gesetze der Statistik scheinen für sie zu sprechen: Sind die Zeitreihen der Ereignisse und Tatsachen nur lange genug, dann läßt sich allemal ein linearer Trend 63 64

Es gibt inzwischen Literatur zum Thema "Geschichte der Zukunft". Vgl. Schwendter, Geschichte der Zukunft, 1982; Koselleck, Vergangene Zukunft, 1984 Lessing, Sinngebung des Sinnlosen, 1962

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formulieren, aus dem sich dann nach Belieben Zwangsläufigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten herauslesen lassen. Geschichte ist in diesem Sinne immer Entwicklung, und geschichtliche Prozesse sind schon theoretisch immer auf das angelegt, was - der Idee der Staatsräson folgend - zum guten Staat hinführt, heute jedoch, eher sozial- und alltagsgeschichtlich angepaßt, - der Idee der Evolution folgend - Entwicklung ohne Umkehr ist. Prinzipiell weichen auch die dialektischen Entwicklungshypothesen von diesem Schema nicht ab, auch wenn sie vor das erreichbare Ziel des guten historischen Zustandes den Zusammenbruch der vorausgehenden schlechten Episode einfügen. 65 Lessings Perspektive war dagegen eher die wenig mutmachende von Schopenhauer oder Nietzsche, nämlich sich Geschichte als unentrinnbaren Kampf sich widerstrebender Energien vorzustellen, und er findet damit in der modernen Sozialwissenschaft immerhin einige empirische Belege, mit welchen die Rolle von Macht in sozialen Prozessen operationalisiert w u r d e . 6 6 Merkwürdigerweise paßt das zentrale Credo evolutionstheoretischer Überlegungen in ein solches allgemeines Macht-Chaos am besten: Survival of the Fittest? 6. Der zweite Fall, nämlich die Bewegung von außen zur Mitte hin, ist das liebgewordene Kind der säkularisierten Philosophie, nämlich der Ökonomie. Die Welt wird als im Gleichgewicht begriffen, und es ist für einen neoklassischen Ökonomen unvorstellbar, daß es überhaupt jemanden geben könnte, der sich diesem Paradies entziehen wollte. Obwohl spätestens Karl Marx gezeigt hat, daß eben doch nicht jeder anpassungsfähig genug ist, ja daß es sogar direkte Bestrebungen gibt, Dritte von der Anpassungsfähigkeit abzuhalten, so haben doch die Gleichgewichtshedonisten zwei Lösungen angeboten: a. eine pessimistisch-sarkastische Lösimg, und b. eine optimistisch-wohlfahrtsstaatliche Lösung. Erstere Lösung ist jene von Thomas Robert Malthus mitten in der Frühgeschichte der Industrialisierung Englands. Die Anpassungsunfähigen werden aus der Kontingenz ausgenommen, sie werden faktisch zur Ungleichzeitigkeit gezwungen. Als Reaktion auf Malthus und seine offenbar deterministische und skeptische Einschätzung einer Wohlfahrtsevolution hat die neuere, sozialpolitisch eingestimmte Gemeinschaft der Wohlfahrtstheoretiker immerhin die Lösung der sozialen Ausgleichszahlungen entgegen Malthus' Vorschlag angeboten, dann nämlich, wenn die sogenannten Pareto-optimalen Zustände nur zu alternativ-unerschwinglichen Kosten erreichbar 65 66

Siehe z.B. Faber, Theorie, 1971; dagegen Huizinga, Weg zur Geschichte, 1947; Delp, Geschichte, 1986 Siehe besonders die psychologisch-empirische Schrift von McClelland, Macht als Motiv, 1978. Im übrigen ist dieses Thema eines der klassischen politikwissenschaftlichen Themen.

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wären, oder dann, wenn Anpassungen von der falschen Seite verlangt wären, nämlich Verzichts-Anpassungen von dem begünstigten Teil der Wirtschaftsgesellschaft . Daß letzterer Vorbehalt durchaus praktische Relevanz hat, zeigt die gegenwärtige Sozial- und Wirtschaftspolitik in Teilbereichen einiger westlicher Volkswirtschaften hoher industrieller Entwicklung, von niedrig entwickelten Ländern ganz zu schweigen. 67 Üblicherweise wird Malthus heute äußerst negativ interpretiert, ja es wird ihm eine weithin schicksalhafte Bedeutung für die europäische Denkentwicklung über soziapolitische Fragen zugesprochen. Einige Autoren zeigen, daß selbst die evolutionstheoretische Perspektive wesentlich durch Malthus' Gedanken beeinflußt w a r , 6 8 seine angeblich menschenverachtende Sicht der sozialökonomischen Entwicklungsaussichten für die Menschen des industriellen Proletariats seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in England. Die Thesen von Malthus ließen sich jedoch heute auch als eine "paradoxe Intervention" 6 9 verstehen: Indem alle Konsequenzen einer sich selbst überlassenen sozialökonomischen Entwicklung dargestellt werden, werden erst die erforderlichen Aktivitäten hervorgerufen, um genau diese Konsequenzen zu vermeiden. Eine derartige Verfahrensweise hat den Vorteil, daß unfruchtbare Streitereien über willkürliche Zielfunktionen entfallen können. Damit läßt sich eben aus Malthus Werk nicht nur ein radikaler Sozial-Darwinismus ableiten, sondern alternativ auch eine aktive Sozialpolitik. Ahnlich ließen sich auch andere Schriften mit apokalyptischem zusammenhangsauflösendem Gehalt paradox verstehen. So z.B. Machiavellis "Der Fürst" als Induktion einer gesellschaftlich machtregulierenden Politik, weil ansonsten zur Vermeidung eines Kontingenz-Verlustes nur die radikale Machtpolitik eines Einzelnen übrigbleibt. 7 0 Die wohlfahrtsstaatliche Lösung ist jedoch nicht erst als Reaktion auf Malthusianische Skepsis zu verstehen, vielmehr war sie die weithin praktizierte Wirklichkeit während des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Sie war ein zentrales Instrument zur Erhaltung der gesellschaftlichen Kontingenz, weil nur allzu offensichtlich nur mentale Bemühungen hierzu über die Kirchen nicht ausreichten. Die Kirchen hatten ja letztlich beide Aktivitäten

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Während sich in den USA die Ökonomen über die Alternative von Supply-Economics und New Wave-Economics streiten, hatte ein scharfsinnig beobachtender Ökonom längst die Wirklichkeit diagnostiziert: Myrdal, American Dilemma, 1972 Vgl. Birg, Angst vor der Zukunft, 1987 Siehe z.B. Watzlawick, Anleitung, 1986 "... wie überhaupt alle eigenmächtigen Energien, Wissenschaften, Kenntnisse, Fertigkeiten und Tugenden des Renaissance-Menschen, die sich zu dem Begriff virtù verbinden, von jener Welt der fortuna überschattet werden, die (u.a.) als Ausgeliefertsein an das chaotische Ungefähr und im Zweifel am Lebens- und Geschichtssinn erfahren wird." Faul, Machiavellismus, 1961, S. 75

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der Kontingenzerzeugung praktiziert. Die "Ungleichzeitigen" wurden durch Almosen und soziale Unterstützung ernährt, womit ihre hinreichende Loyalität zum Gesamtsystem gesichert w a r . 7 1 Ansonsten konzentrierte man sich jedoch im Rahmen der Diskussion auf die eigentliche Aufgabe, nämlich die Mitte zu definieren und die Prozesse, d.h. die Entwicklungen auf die Mitte hin zu dirigieren. Das selbstverständliche Problem hierbei ist unschwer zu erkennen, obwohl es doch in der praktischen Geschichte immer wieder verleugnet wurde: Wer nämlich definiert und wer dirigiert? Die Ökonomen haben die Lösung des Problems regelmäßig darin gesucht, eine Gleichgewichtslage auf schiefer Ebene mithilfe gleichgewichtiger Wachstumsmodelle zu formulieren, obwohl kein Entwurf unbestritten geblieben ist und noch kein Entwurf eine praktische Bestätigung erfahren h a t . 7 2 Bisher hat sich noch in jedem dieser Modelle eine versteckte Ceteris-paribusAnnahme entdecken lassen. Insbesondere Benjamin W a r d 7 3 hat schön gezeigt, wie sehr sich die Hauptlehren der Ökonomie um Wunschbilder streiten, und wie wenig die Wirtschaftswissenschaften bisher zur Wahrnehmung von Wirklichkeit beigetragen haben. 7 4 Eine andere Lösung ist die hier plausiblere: Joseph A . Schumpeter hat zuerst darauf verwiesen, daß die wirtschaftenden Menschen bewußt nach Ungleichgewichten suchen, daß sie selbst die Ungleichgewichte herstellen, weil sie sich hieraus relative Vorteile gegenüber ihren Mitmenschen versprechen können. Solche relativen Vorteile aber, das zeigt die mikroökonomische Theorie selbst, sind nichts anderes als partielle Ungleichgewicht e . 7 5 Es reicht dabei offenbar immer eine sehr viel kleinere Anzahl von Personen und/oder Institutionen aus, welche das Gleichgewicht stören können, gegenüber der übrgroßen Anzahl der sich vermeintlich dauerhaft einrichtenden Gleichgewichts-Interessenten. Offensichtlich ist, daß die Störung von Gleichgewichtslagen einem Aufbrechen stabiler Kontingenzen gleichkommt. W i r können einen derartigen Versuch gegenwärtig in der Sowjetunion und dem dort sich anbahnenden Reformbemühungen beobachten. Das Aufbrechen erfolgt in der Form partieller Wachstumsprozesse, eben in Diffusionsprozessen, die marktwirtschaftlich als Diffusion von Pro-

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Lütge, Wirtschaftsgeschichte, 1966 Vgl. die Kritik von Phelps, Goldene Regel, 1970. Heute werden sich die Ökonomen der hochindustrialisierten Volkswirtschaften wohl oder übel mit Problemen einer Wachstumsreduktion beschäftigen müssen, während für die jetzt noch so bezeichneten Entwicklungsländer ein gänzlich neues Wachstumsmodell, das nicht einfach die europäischamerikanische Wirtschaftsgeschichte kopieren will, erst zu entwickeln ist. Ward, Idealwelten, 1981 Watzlawick, Wirklichkeit, 1978 Vgl. Walter Eucken's Idee von der monopolistischen Tendenz im Menschen. Eucken, Grundsätze der Wirtschaftspolitik, 1968, S. 31

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dukten, als Diffusion von F & E , oder in großer Erweiterung als Diffusion von Sozialstruktur gesehen werden können. 7. Die dritte Bewegungsmöglichkeit, die Bewegimg von der Mitte weg zu den Grenzen hin, allgemein Bewegungen von gegebenen Situationen in beliebigen Richtungen zu neuen zunächst unbekannten Situationen, findet zwar täglich statt, und sie ist auch das regelmäßige Arbeitsfeld der Wirtschaftshistoriker und der empirischen Wirtschaftsforscher, dennoch wird zumindest und überwiegend mit Gleichgewichtsansätzen alter oder neoklassischer A r t gearbeitet. Für beide ist die Frage, wie die Qualität der ersten Mitte ohne normative Prämissen zu definieren sei, außer man begibt sich auf das fragwürdige Gebiet extensiver Trendextrapolationen und leitet aus solchen Mittelwerte ab. Daraus ergäbe sich ein methodisches Dilemma: Eine enge zeitliche Streuung der Daten wäre zwar Ausdruck hoher Kontingenz, jedoch wäre das erwartbare Zuverlässigkeitsniveau entsprechend niedrig. Eine weite gedehnte zeitliche Varianz wäre zugleich Ausdruck nachlassender Kontingenz, jedoch wäre entsprechend ein Ansteigen der Signifikanz zu erwarten. Offensichtlich jedoch ist die Festlegung der Zeitgrenzen und der Länge der Extrapolation willkürlich, sodaß unerfindlich bleibt, wie sich bei solcher Verfahrensweise die (im Gleichgewicht befindliche) gültige - das ist begründete - Mitte finden ließe. Das Ergebnis wären Ungleichgewichtslagen mit ständiger Neigung zu weiteren Folge-Diffusionen. Wenn einmal zufällig Gleichgewichte erreicht werden, dann ist ihre wahre Kontingenz nicht erkennbar, weil keine Möglichkeit zur Abgrenzung des gesamten System besteht. Partielle Gleichgewichte aber, darüber sind sich die Ökonomen einig, ermöglichen keine Aussage über das Gesamtmaß der Kontingenz, damit aber auch nicht über das Ausmaß der ansonsten bestehenden Ungleichgewichte. Hier soll also gesagt sein, daß die Wirtschaftswissenschaften und ihnen folgend sowohl die Wirtschaftspolitiker als auch traditionellerweise die Unternehmensführer, primär auf der Suche nach Wegen zum Gleichgewicht hin sind. Derjenige von ihnen, der gegenüber seiner Legitimationspopulation belegen kann, daß er sich auf einem solche Weg befindet, hat die besten Aussichten, in seinem A m t bestätigt zu werden. Daß ein Dilemma zwischen Gleichgewichtsdenken und Entwicklungsdenken besteht, wird z.B. mit der derzeitigen Wirtschaftspolitik der (deutschen) Bundesregierung sichtbar, insbesondere betreffend die Diskussion und - man muß wohl sagen Ratlosigkeit - über das Projekt einer großen Steuerreform. Letztlich ist ein Ausweg aus dem Dilemma zwischen versprochenen Staatshaushaltsgleichgewichten und wirtschaftlicher Entwicklung, insbesondere betreffend die Überwindung der anhaltenden Beschäftigungskrise, nicht absehbar. (Die frühere Lösung, Restarbeitslosigkeit einfach als strukturell und notwendig zu definieren, ist bei einer anhaltenden Arbeitslosigkeitsrate um 10% offensichtlich nicht mehr glaubwürdig). Die neuesten Lösungsangebote, nämlich große Steuerreform bei ungedeckten Staatsausgaben, bedeutet

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ja wohl den Verzicht auf das Gleichgewichtspostulat im Staatshaushalt, damit jedoch letztlich auch für die Volkswirtschaft insgesamt, obwohl damit nur perspektivisch eingestanden wird, was praktisch längst übüch ist. Dem beinahe nur noch propagandistischen Anhängen an Gleichgewichtspostulaten als praktische Norm, weniger dem durchaus sinnvollen heuristischen Prinzip, steht die Konsequenz aus dem hier vorgetragenen Ansatz, nämlich die synthetische Analyse von Kontingenz eines Systems und Störung der Kontingenz über partielle Diffusion (partielles Wachstum), mit einer negativen Korrelation gegenüber. Das Kernproblem einer industriellwirtschaftlichen Institution, gleichgültig ob Volkswirtschaft als ganze oder nur eine einzelne Unternehmung, ist nicht die Suche nach dem Weg zum Gleichgewicht hin, die Suche nach dem universal gültigen Paradies, sondern folgt aus der Hypothese, daß die Wirtschaftssubjekte eine gewisse Neigung zum Verharren haben, zum Festhalten an einem Zustand, den sie dann, um sich zu rechtfertigen, allenfalls als Gleichgewicht definieren, gelegentlich übrigens mit erheblichem intellektuellen Aufwand. Ihr Lebensproblem jedoch ist genau der gegenteilige Prozeß, nämlich wie kann es gelingen, von einer derartigen Lage loszukommen, nämlich einer sich nicht entwickelnden Lage. Ein Lösungsangebot ist die betriebswirtschaftliche Diffusionstheorie. Ich möchte nun diese These zuerst mit einem nicht-ökonomischen Beispiel verdeutlichen und damit auf die Frage nach der wirtschaftlichen Evolution zurückkommen: Danach ist ein ökonomisches Beispiel darzustellen, das einen vernünftigen Zusammenhang von Diffusion und Kontingenz darstellt. 8. Drei Thesen ergaben sich bisher: a. b. c.

Gleichgewichte zeichnen sich zunächst durch die Kontingenz allen dessen aus, was im Gleichgewicht ist. Es findet eine Bewegung statt, die eine Bewegung weg vom AnfangsGleichgewicht ist, d.h. Diffusion ist. Da generell willensautonome Individuen als Mitglieder von Gesellschaften unterstellt werden, ist weiterhin anzunehmen, daß diese Individuen sich hinsichtlich der Bewegungsrichtung entscheiden müssen: Bewegung zum Gleichgewicht und damit zur vollständigen Kontingenz hin, oder Bewegung in Diffusion.

Der Fall (c) enthält nun erhebliche Komplikationswahrscheinlichkeiten. Weil das Ergebnis von Diffusionen unbekannt ist, mithin ein Risiko darstellt, sich solchen auszusetzen oder sich gar durch Mitwirkung an ihnen für sie verantwortlich zu machen, weil andererseits die Menschen ein historisches Bewußtsein haben, das in der Regel die vergangene Zeit als die gute Zeit, die zukünftige jedoch als die durch Gegenwartsinteressen beein-

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flußbare, damit jedoch erwartbar schlechte Zeit - nämlich dann, wenn überwiegend nicht die eigenen Interessen zum Zuge kommen - versteht, werden eben diese Menschen sich für die vergangene Zeit als Leitbild und als Praxis entscheiden: Sie werden konservativ. Indem sie konservativ werden, sind ihre Interessen nicht in Diffusionen eingebracht, werden damit in der Praxis der Zukunft zur Minderheit, und folglich werden die - mehrheitlich - konservativen Menschen Zukunft als schlecht begreifen, damit aber auch jene Menschen - die Minderheit - die an der Gestaltung der Zukunft durch zukunftsgeleitete Interessen mitarbeiten, kritisieren oder - wenn historisch extreme Lagen entstehen - verbannen. 76 Ein Engagement für Diffusion birgt darüberhinaus insoweit ein Risiko, als damit zumindest zeitweilig ein Verzicht auf Gleichgewicht verbunden ist, der Betreffende damit zumindest zeitweilig die Zustimmung seiner auf Gleichgewichte und am Leitbild von Gleichgewichten bedachten Legitimationsbevölkerung verliert. 7 7 Psychologisch gesehen sind beide Grenzfälle schwer vorstellbar, weil niemand sie leben kann, abgesehen davon, daß der Zustand vollständiger Diffusion gar nicht einschätzbar ist. Jedoch wäre ein Zustand vollständiger Kontingenz für ein willensautonomes Individuum unakzeptabel, was kurz zu skizzieren ist. Wenn wir annahmen, daß jedes Individuum zunächst in einen Zustand hoher Kontingenz hineingeboren wird, dann wird es Bewegungsaktivitäten mit Diffusionen entfalten, entwickeln und aufrechterhalten. 78 Individuen, 76

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Es läßt sich unschwer einsehen, daß sich an diesem Modell der Geschichte die Geschichte der Deutschen im Nationalsozialismus darstellen läßt. Juden war dabei die Rolle der Zukunftsinteressenten zugewiesen, was paradoxerweise durch deren historisch feststellbares Sonderverhalten - nämlich nicht konservativ zu sein - belegbar ist. Immer dann, wenn die Landesfürsten und mit ihnen die neu entstandene Verwaltungsbürokratie Innovationsprojekte realisieren wollten, waren sie auf die Mitwirkung von Juden angewiesen, nicht nur, weil diese frei waren von traditionsgebundenen Ordnungen, sondern weil die den europäischen Juden sehr viel eigentümlichere unverbrüchliche Traditionsbindung eine ausreichende Menge innovatorischer Elemente enthielt, die den meisten christlichen Ordnungsvorstellungen ermangelte. Vgl. z.B. Schnee, Hoffinanz, 1963; vgl. aber auch die Lebensgeschichte des schon genannten Historikers und Philosophen Theodor Lessing: Marwedel, Theodor Lessing, 1987 Greven, Institutionalisierung, 1987, S. 98 ff. Zweck der Institutionen und Zweck des Festhaltens an Institutionen ist u.a. Sicherheit. Insbesondere konservative Autoren folgen hierin der Hobbes'schen Idee: Willms, Kritik, 1987 Vgl. zur allgemeinen Entwicklungspsychologie Oerter, Entwicklungspsychologie, 1968. "Auf jeden Fall könnte es ohne gesellschaftliche Institutionen der einen oder anderen Art, ohne die organisierten gesellschaftlichen Haltungen und Tätigkeiten, durch welche gesellschaftliche Institutionen geschaffen werden, überhaupt keine wirklich reife Identität oder Persönlichkeit geben. Die in den allgemeinen gesellschaftlichen Lebensprozeß eingeschalteten Individuen, deren organisierte Manifestationen die gesellschaftlichen Institutionen sind, können nämlich nur insoweit eine wirklich ausgereifte Persönlichkeit entwickeln oder besitzen, als jedes von ihnen in seiner individuellen Erfahrung die or-

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die dies nicht tun, gelten als krank oder als gestört. Erst im weiteren Lebensverlauf, nach Kennenlernen seiner Geschichte, bemerkt es, daß es ein Mindestmaß an Kontingenz zu seiner ursprünglichen Lebensumwelt und Lebensvorwelt für seine eigene Lebenserhaltung braucht, d.h. daß es zusätzliche Aktivitäten in Richtung auf Kontingenzerhaltung entfalten muß. Es erreicht als optimalen Zustand eine Lebenslage, die sowohl Diffusionsaktivitäten als auch Kontingenzaktivitäten enthält, und die ich hier "Schwebelage" nenne. A u f die Wirtschaft bzw. auf Unternehmungen übertragen bedeutet das, daß die genaue Bestimmung einer solchen Schwebelage eine Aufgabe für Unternehmensforscher (Operations Research) ist, jedenfalls ist es eine ungeheuer komplexe Optimierungsaufgabe. Gerade weil OR-Fachleute diese Aufgabe bisher nicht lösen können, braucht es Unternehmer, die solche Aufgaben und deren Entscheidung auch ohne exakte Ergebnisprognosen zu verantworten bereit sind. Andererseits ist klar, daß dieses Bild von unternehmerischer Tätigkeit nicht das Bild Joseph Schumpeters ist, der den eigentlich zu belohnenden Unternehmer nur als Pionierunternehmer, d.h. nur als Diffusionsaktivisten sehen wollte, während es hier auf eine Balance der Aktivitäten in der Person der Unternehmers ankommt. Zweites Beispiel: Die Entwicklung von Human Capital in einer Volkswirtschaft läßt sich als Diffusion von Bildung begreifen. Hierbei ist theoretisches Ziel ein Zustand homogener Kontingenz in der Gesellschaft, d.h. alle erwachsenen Menschen haben ein gleiches Niveau von Bildung, wenn auch nicht gleicher Inhalte. Dieses theoretische Ziel jedenfalls muß erfüllt sein, bevor überhaupt das - ebenfalls theoretische - Ziel einer Gesellschaft in vollständiger Konkurrenz formulierbar ist. Die Diffusion von Bildung in einer Gesellschaft ist andererseits ein Prozeß zur Verbesserung der Kontingenz der Gesellschaft, denn die Kommunikation der Gesellschaft mit sich selbst als Ausdruck ihrer Kontingenz, damit jedoch auch ihrer friedlichen Lebensmömöglichkeit, gründet auf einem hinreichenden Maß der Bildung ihrer Mitglieder. Voraussetzung eines solchen Bildungskonzeptes ist ganisierten gesellschaftlichen Haltungen oder Tätigkeiten spiegelt oder erfaßt, die die gesellschaftlichen Institutionen verkörpern oder repräsentieren." (Meade, Geist, 1968, S. 309). Das Zitat ließe sich weiterführen, weil in dieser Textstelle die evolutorischen Aspekte der individuell-menschlichen Entwicklungsmöglichkeiten zur Sprache kommen. Der mögliche Umkehrschluß stimmt skeptisch: welche Entwicklungschancen bestehen für den je einzelnen Menschen, wenn es um die ihn umgebenden Institutionen "unordentlich" bestellt ist? Oder direkter gefragt, was ist aus den Menschen geworden, die in der chaotischen Institutionenwelt des deutschen Nationalsozialismus aufgewachsen sind? Meade geht im übrigen auch auf die oben angesprochene These von der angeblich Sicherheit stiftenden Funktion von Institutionen ein. (S. 308). Institutionen sind eben nicht einfach Sicherheit stiftende abstrakt isolierte Subjekte, vielmehr sind Institutionen "eine gemeinsame Reaktion seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft auf eine bestimmte Situation".

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Aufklärung und Strategie, Ergebnis dieses Prozesses ist Kontingenz und Diffusion einer friedlichen Gesellschaft. Nämlich zugleich ihrer empirischen Fähigkeit, im Zusammenhang zu sein, und dennoch Neuentwicklungen zu ermöglichen, ja zu fördern. 7 0 "Bildung fügt also der prognostischen Kraft der Theorie (über naturwüchsige Entwicklungen) die reformerische Kraft der Aufklärung (über die kulturellen Zusammenhänge zwischen Handlungsstruktur und Handlungsraum) hinzu. Durch Aufklärung werden kritisch rekonstruierte Normen zu Maximen . . . " s o Problematisch sind jedoch gerade die Neuerungen, weil sie ähnlich wie bei Schumpeters Pionierunternehmer dem zuerst Gebildeten einen Vorteil, nämlich einen Einkommensvorteil verschaffen, den dieser wiederum für die Erweiterung seines Bildungsvorsprunges verwenden kann, bzw. dafür verwenden kann, allen weiteren Mitgliedern der Gesellschaft gegenüber Bildungsbarrieren aufzubauen. Insbesondere letzteres wäre für eine Entwicklungsperspektive der Gesellschaft problematisch, ersteres Problem jedoch ist möglicherweise gar nicht so gravierend, weil sich möglicherweise auch beim Erwerb von Bildung Degressionen einstellen, sodaß den Nachzüglern eine natürliche Chance zum Aufholen gegeben ist. Die Barrieren werden dann allerdings umsomehr das Interesse des Vorläufers als mögliche Strategie für einen Vorteilserhalt auf sich ziehen. Geht man davon aus, daß auch bei unterschiedlichen konkreten Wissensinhalten (Bildungsgehalt) dennoch immer auch der kommunikationsverbessernde Effekt über den allgemeinen kognitiven Gehalt von Bildung zustande kommt, dann erfüllt eine positive Strategie zur Erzeugung von Bildungsprozessen und Anhebung des allgemeinen Bildungsniveaus immer beide Apsekte zugleich: Sowohl die Chance auf konkrete Kontingenz der Gesellschaft wird verbessert, als auch die Chance auf Erweiterung von Diffusionsmöglichkeiten und konkretem Diffusionsprozeß. Insbesondere die wissenschaftliche Bildungsprozesse als die für die industrielle Gesellschaft maßgeblichen haben die Eigenart, mit ihrer Ausbreitung, mit ihrer Verallgemeinerung und mit ihrer Befreiung von persönlicher Anbindimg an nur persönliche Interesse, nicht nur partielle Produktivitäten und partielle Einkommenschancenzu verbessern , sondern sie verbessern auch und gerade die Möglichkeiten nicht-konfligierender Kommunikation. Sie verbessern damit die Möglichkeit synergetischer Effekte in einer Wirtschaftsgesellschaft. Dabei werden die bei rein wirtschaftlichen Dif-

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Die frühere Diskussion zwischen Habermas und Luhmann über Gesellschaft oder System haben beide Autoren nun abgelöst durch die Diskussion über Kommunikation in der Gesellschaft, die (so Habermas) als offener Diskurs unverzichtbar bleibt für eine der Aufklärung verpflichtete Gesellschaft, die aber (so Luhmann) längst im System vereinnahmt ist durch die System-vorgegebene Rationalität, diese aber ist technisch bestimmt. Dem Streit entgeht man, indem man erklärt, die Aufklärung sei längst zu Ende gegangen, nur scheinbar. Braun, Evolution, 1981, S. 72

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fusionen auftretenden gleichgewichtsstörenden Effekte gar nicht auftreten, mithin entfallen auch die oben beschriebenen Legitimationsrisiken, die die Mehrzahl der Menschen eher zu konservativen Verhaltensweisen veranlassen. Gerade Bildungsprozesse implizieren diese Schwierigkeit nicht, sodaß die verbleibende Schwierigkeit eine Differenz zwischen Theorie und Empirie der Bildungsprozesse ist: Warum sind die empirischen Bildungsprozesse in industriellen Gesellschaften entgegen den vorgetragenen Mutmaßungen dennoch eher die konservativeren Prozesse? Die Suche nach Antworten könnte in Gleichzeitigkeiten von Ungleichzeitigem ansetzen, nämlich bei der Frage, ob Bildungsprozesse zu erheblichem Anteil von Institutionen geführt oder angeleitet werden, deren historischer Ort noch nicht die moderne Industriegesellschaft ist? U n d das würde dann bedeuten, daß hier eine wesentliche Kontingenz moderner Gesellschaften noch ausfällt, vielmehr erst mit einem dann allerdings konfliktorischen Diffusionsprozeß in Gang zu bringen ist. 9. Kontingenz und Diffusion als methodische Ansätze einer evolutorischen Erklärung von Entwicklung, insbesondere wirtschaftlicher Entwicklung implizierte, soviel wurde deutlich, wiederum einen Gleichgewichtsbegriff. Impliziert war eine Balance zwischen im gegebenen Zusammenhang verharrenden und verbundenen Aktivitäten als auch den auf Veränderung gerichteten Diffusionen und deren spezifischen Aktivitäten. Jedoch es handelt sich nicht um das übliche volkswirtschaftliche Gleichgewicht zwischen Marktparteien, es ist auch nicht das betriebliche Finanzierungsgleichgewicht, nach welchem Betriebswirte üblicherweise fragen, gemeint. Vielmehr handelt es sich um einen Aktivitätsausgleich, der notwendigerweise schon dadurch hinter ihr ursprüngliches Kontingenz-Ausgangsniveau zurückfällt. Die Balance findet sich dann als mittlere Lage in einem System vieler partieller Diffusionsfunktionen, die sich zusammen kumulieren, sodaß für die Verbindungslinie aller mittleren Punkte sich eine ansteigende Funktion ergibt. 8 1 Es sind aber genau jene partiellen Diffusionsfunktionen, die sich in Form von Sinus-/Cosinusfunktionen, allenfalls mit Verzögerungen im degressiven Teil, darstellen, d.h. in unsymmetrischer Form, und es waren eben auch die Keynes'schen Multiplikatorfunktionen solche. Vollständige Kontingenz dagegen findet sich nur an den Ereignisgrenzen, nämlich als Nullniveau und als gedachte Niveaulinie aller Maximalpunkte der Diffusionsfunktionen. Jedoch hatte Keynes schon dargelegt, und die betriebswirtschaftliche Diffusionstheorie folgt ihm hierin (offenbar gänzlich unbewußt), daß diese Maximalpunkte flüchtig sind, jedenfalls im Sinne einer Gleichgewichtstheorie nicht stabil sind. A u f dem Nullniveau nehmen 81

Vgl. Greiner, Evolution and Revolution, 1972, der mit seinem Aufsatz eine gewisse, breitere Rezeption in der Betriebswirtschaftslehre gefunden hat. Vgl. auch meine Kritik dazu, Häberle, Kommentar, 1987

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wir Ereignisse sozusagen überhaupt nicht war, sodaß das, was wirtschaftspolitisch interessant bleibt, der Ablauf der Diffusion, damit aber die Bewegung von und zu den Kontingenzen ist. Im Sinne der Diffusionstheorie sind diese Bewegungen jedoch keine unumkehrbaren Prozesse, vielmehr zeichnen sie sich gerade dadurch aus, daß sie eine Umkehrbewegung nicht nur zulassen, sondern zwingend haben. Sie kehren je einzeln unausweichlich zum alten Kontingenzniveau zurück.

10. Die Frage zum Schluß ist, wo hier eine Perspektive für Evolution im Sinne einer nicht umkehrbaren und einzigartigen Entwicklung gegeben ist. Denn offensichtlich handelt es sich um eine immer - und vielleicht mit Regelmäßigkeit - wiederkehrende Erscheinung, nämlich genau jene Aktivitäten zwischen den vollständig kontingenten Grenzlagen. Die Formen der Aktivitäten mögen sich ändern - die reine Ästhetik der Phänomene ist nicht im geringsten stabil -, jedoch ist zweifelhaft, ob dies schon im Wechsel weniger G e n e r a t i o n e n m ö g l i c h ist, auch, ob das Prinzip der NichtUmkehrbarkeit in der einfachen Erscheinung von Ereignissen gültig ist. Die Quantität der Aktivitäten jedoch hat sich in der Tat erheblich ausgeweitet, was A m i t a i Etzioni zu seiner Begriffsfindung der aktiven Gesellschaft veranlaßt h a t . 8 2 Das würde jedoch bedeuten, daß die Menge der Diffusionsfunktionen erheblich im wirtschaftsgeschichtlichen Zeitablauf zu82

Etzioni, Active Society, 1968, S. 5 f.

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genommen hat. Damit hätte aber auch die Menge der unternehmerischen Aktivitäten zugenommen, wodurch die schiefe Lage der Entwicklungslinie der Wachstumsrate der Entwicklung - erklärt ist. Die Menge derjenigen Aktivitäten, deren Ziel es ist, aus vorgefundenen wirklichen oder auch nur angeblichen Gleichgewichtslagen auszubrechen, nimmt offenbar zu. E i n Beispiel aus der Entwicklungsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland soll das Gemeinte verdeutlichen:® 3 Es gibt offenbar immer eine genügende Anzahl an Interessenten einer gegebenen politisch-ökonomischen Lage, weil diese glauben, ihre Interessen seien dadurch am besten bedient, daß sie sich Status-quo-erhaltend verhalten. Eine solche Haltung zeigt sich z.B. auf höchster politischer Ebene und offenbar auf die GesamtLage der Gesellschaft gerichtet, in der Behauptung des deutschen Bundeskanzlers aus den Jahren 1985/86, die gegenwärtige deutsche Gesellschaft sei die freieste, die es (in alternativen deutschen Gesellschaften?) jemals gegeben habe. Es ist unschwer vorstellbar, daß mit einer solchen Behauptung der Versuch gemacht wird, andersmeinende Behauptungen wenigsten vorübergehend und mittelfristig von weiteren Bemühungen um die Durchsetzung weiterer Freiheiten abzuhalten, ihnen auch und vor allem die vernünftige Legitimation zu entziehen. Denn es wäre dann offensichtlich unvernünftig, mit Vehemenz weitere Freiheiten zu fordern, wenn man sich ohnehin schon hinsichtlich der vorhandenen Freiheiten auf dem höchsten Evolutionsniveau befindet. Das aber bedeutet in der hier verwendeten Terminologie, daß die Gegenwart als kontingent begriffen wird. Weitere Diffusionsprozesse werden ausgeschlossen, weil ein anderes, eventuell sogar besseres Kontingenzniveau in absehbarer Zeit für unerreichbar gehalten wird. Eine gleich restriktive Verfahrensweise auf betriebliche Entscheidungen angewendet, darüber sind sich wohl Unternehmer wie auch wissenschaftliche Betriebswirte einig, ist für eine Unternehmung in marktwirtschaftlichen und darüberhinaus auch noch international-wirtschaftlichen Umwelten, undenkbar. Gerade Prozesse der Internationalisierung verlangen ein eher beschleunigtes, zugleich aber auch methodisch besseres Anpassungsverhalten, also gerade kein Festhalten am Status-quo. Erstere Ansicht scheint zu glauben, die Umwelt den eigenen Bedürfnissen unterwerfen zu können, sich selbst evolutionsfrei halten zu können, während die andere Ansicht eine solche Haltung für verfehlt halten muß. Insbesondere die spezifische Umwelt kapitalistisch-marktwirtschaftlicher Art, deren eigentliche Besonderheit gerade die schnellen Anpassungsprozesse der Subsysteme sind, läßt letztlich eine derart gedachte stationäre Kontingenz nicht zu. Kontingenz alias Gleichgewicht - wird so zu einem Maß, mit dessen Hilfe Bewegungen meßbar bzw. abbildbar werden, auch wenn eine solche Verfahrensweise immer noch auf das methodische Grundkonzept mechanistischer Modell83

Vgl. hierzu Greiffenhagen/Greiffenhagen, Schwieriges Vaterland, 1979, bes. S. 65 ff.

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bildungen angewiesen bleibt. Die Rede ist vom Augenblick, der eben nicht verweilt. Zustände sind heuristische Ideen zum Gebrauch der Ökonomen, in der Wirtschaft gibt es sie nicht. Immer noch fehlt ein plausibles Argument, mit welchen erklärt werden könnte, wie die Niveaugrenzen für Kontingenz sich verschieben oder auch nur andere Neigungen erhalten. Daran könnte offenbar Evolution erkennbar werden, wenn, worauf Etzioni's Analysen hinweisen, zugleich eine dauerhafte Anhebung des gesellschaftlichwirtschaftlichen Aktivitätsniveaus möglich wird, d.h. wenn zugleich die Menge der Diffusionsprozesse zunimmt und das Niveau von gesellschaftlich-wirtschaftlicher Kontingenz ansteigt. Jedoch die skeptisch-abwendende Frage bleibt laut vernehmlich: "Was soll uns denn das ewige Schaffen?", demgegenüber der immer am Anfang sich aufschwingende Optimismus, das Vertrauen auf die "ewig rege, die heilsam schaffende Gewalt" unverbrüchlich scheint. Das dem Ökonomen vertraute Dilemma bleibt jedenfalls auch hier ungebrochen, nämlich die Frage, warum jeweils überhaupt weitere Diffusionsprozesse in Gang kommen sollen, wenn eine akzeptable Kontingenz doch schon errichtet ist. Eine hohe Kontingenz, so scheint es, erübrigt weitere Diffusionen. Der Evolutionsprozeß liefert sich selbst den Grund für seine Beendigung. Das Problem aller evolutorisch-theoretischen Ansätze ist offenbar, daß sie primär auf Kausalitätstheoremen in der Geschichte gründen. Evolutionsthesen müssen eine vertikale Kontingenz voraussetzen, weil sonst der Begriff mangels irgendeinen Zusammenhang sinnlos wäre. 8 * Es muß dann voraussetzend hypostasiert werden, daß es eine Energie bzw. ein Interesse gibt, das Diffusionen immer aus vorgegebenen Kontingenzen folgen läßt. Dieses Interesse scheint in den evolutorischen Ansätzen der externe Faktor zu sein, der theoretisch nicht beherrschbar ist, unerklärt bleibt, und statt dessen mit Kreativität, Intuition, unternehmerischer Energie - oder etwas kritischer - mit der monopolitischen Tendenz im Menschen (Walter Eucken) erklärt wird. Demgegenüber bietet die betriebswirtschaftliche Diffusionstheorie ähnlich wie schon John M . Keynes eine theoretisch einfache und darüberhinaus experimentell nachvollziehbare Erklärung an: Diffusionsprozesse im wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Bereich haben Zerfallszeiten kürzerer, allenfalls mittlerer Zeitdauer, wobei die "Halbwertszeiten" regelmäßig relativ früh erreicht werden, d.h. die Zerfallszeiten sind insgesamt nicht normalverteilt. Darin jedoch liegt die mögliche Quelle für das Aufbringen neuer innovatorischer Energie, die sich im gesamten System evolutorisch niederschlägt. Freilich muß auch hier wieder axiomatisch vorausgesetzt werden, was in der neoklassischen Ökonomie ebenso notwendig war, daß niemand eine Verschlechterung seiner Lebenslage geschehen läßt, solange er noch Möglichkeiten sieht, dies zu vermeiden. Läßt man im Sinne des 84

Hierauf hat Rupert Riedl in seinem Artikel deutlich hingewiesen.

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klassisch-liberalen Denkens jedermann entsprechend agieren, dann muß sich Evolution als Ganzes ergeben, sofern man die nur unvollständig bekannten Bedingungen für die praktische Gültigkeit der klassisch-liberalen Wirtschaftsweise einhält. Die praktische Gültigkeit aber waren genau jene Möglichkeiten, die es dem Einzelnen erlauben, nach eigener Wertschätzung das Schlechtere zu vermeiden.

Elemente einer Theorie des Managements sozialer Systeme Von Fredmund Malik, St. Gallen Systemorientierte Managementlehre I n der Betriebswirtschaftslehre scheinen einige wichtige Annahmen empirischer Natur zu dominieren, die sich bei näherer Untersuchung als sehr fragwürdig erweisen, und von denen ein Teil auch als falsch erkannt werden kann. Unter der Bezeichnung "Betriebswirtschaftslehre" kann nun allerdings sehr Verschiedenartiges verstanden werden. Es würde zu weit führen, die ganze Spannweite der betriebswirtschaftlichen Richtungen und ihre je sehr unterschiedlichen Perspektiven zu diskutieren. Hier steht im Vordergrund jene Form der Betriebswirtschaftslehre, die sich als Managementlehre versteht. Dabei soll nicht weiter untersucht werden, ob es, wie soeben impliziert, richtig oder zweckmäßig ist, die Managementlehre als Variante der Betriebswirtschaftslehre aufzufassen. Vieles spricht dafür, die Managementlehre als eigenständig und als etwas völlig anderes zu verstehen, als zumindest die dominierende deutschsprachige Betriebswirtschaftslehre darstellt, die sich zu einem großen Teil noch immer als im wesentlichen wirtschaftswissenschaftliche Schwesterdisziplin der Ökonomie darbietet. Es kann festgestellt werden, daß in der Wirtschaftspraxis betriebswirtschaftliche Probleme und ihre Lösungen nicht isoliert vorkommen, sondern immer i m Verbund mit Problemen der Unternehmensführung. Damit taucht aber sofort die Frage auf, was unter "Unternehmensführung" zu verstehen ist, denn die gerade aufgestellte Behauptung stimmt natürlich nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen, das heißt, nur auf der Basis einer ganz bestimmten Vorstellung von Unternehmungsführung. I m folgenden sollen daher die Basisannahmen dieser Vorstellung herausgearbeitet werden, um eben jene semantische Falle zu umgehen, die in der Bezeichnung unterschiedlicher Dinge mit dem selben Namen besteht. Einige historische Bemerkungen zur Entwicklung der Managementlehre, wie sie hier zunächst noch ohne weitere Umschreibung gemeint ist, mögen dem Verständnis dienlich sein. Vor dem Hintergrund einer Reform des betriebswirtschaftlichen Studiums an der Hochschule St. Gallen erschien 1968 Ulrichs Buch "Die Unternehmung als produktives soziales System". Die darin vorgelegte, in ihren Grundzügen von einer größeren Gruppe von Dozenten mitgestaltete Betriebswirtschaftslehre ist - wie der Untertitel zum Ausdruck bringt - als allgemeine Untemehmungslehre konzipiert, die explizit auf die allgemeine Systemtheorie und Kybernetik als Grundlagenwissenschaften abstellt, und die die Unternehmung als vieldimensionale Ganzheit

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versteht. Die Betriebswirtschaftslehre wurde bereits hier als Lehre von der "Gestaltung und Führung von Systemen" verstanden. 1 Der sogenannte "Systemansatz" wurde in den darauffolgenden Jahren von Doktoranden, wissenschaftlichen Mitarbeitern und Habiiitanten weiter auszubauen, zu begründen und schließlich auch praktisch anwendbar zu machen versucht. Ulrich ging davon aus, daß die Betriebswirtschaftslehre in ihrem damaligen Verständnis als Schwesterdisziplin der Volkswirtschaftslehre für die Lösung von praktischen Problemen nur sehr eingeschränkt Hilfe leisten konnte. Insbesondere Fragen der Unternehmens/wA/img blieben weitgehend ausgeklammert, primär durch die Beschränkung der Probleme auf ihre rein wirtschaftliche Dimension. Unternehmungsführung war aber im Verständnis Ulrichs das zentrale Problem überhaupt, und er beurteilte die Leistungsfähigkeit der Betriebswirtschaftslehre im wesentlichen nach ihrem Beitrag zur Lösung von Unternehmensführungsproblemen. Für Ulrich war Unternehmungsführung schon damals keineswegs reduzierbar auf Fragen der Menschenführung; vielmehr ging es ihm um die umfassende, der praktischen Wirksamkeit verpflichtete Gestaltung und Lenkimg der Unternehmung. Somit handelte es sich hier um ein vieldimensionales Problem, das aus einer ökonomischen Perspektive allein nicht zu lösen war, und demzufolge mußte auch die Ausbildung von Führungskräften über die Betriebswirtschaftslehre hinausgehende Aspekte umfassen. Unternehmungen (in der weiteren Folge dann aber beliebige soziale Institutionen) als komplexe, vieldimensionale, offene und dynamische Systeme zu begreifen, schien ein fruchtbarer Ansatz zu sein, der eine Reihe von neuen Perspektiven eröffnete, neue Probleme aufwarf und trotz seiner sehr abstrakten Grundlagen doch wesentlich näher an die reale Problemsituation von Führungskräften in der Praxis heranzuführen schien als die rein ökonomistisch ausgerichtete Betriebswirtschaftslehre. Durch diesen Ansatz schien die Betriebswirtschaftslehre an sozialer Relevanz zu gewinnen, ohne zu einer rein pragmatischen Kunstlehre zu degenerieren; im Gegenteil war zu vermuten, daß auch der Versuch der wissenschaftlich-theoretischen Fundierung zu interessanten Ergebnissen führen würde. Dadurch, daß das Problem der Unternehmungs/wA/w/zg im Sinne der umfassenden, ganzheitlichen Gestaltung und Lenkung der Unternehmung in den Mittelpunkt gestellt wurde, ergaben sich, wie erwähnt, neue Fragestellungen. Z u m ersten schloß diese Problemstellung selbstverständlich auch die Einbettung und Positionierung der Unternehmung in der für sie relevanten Umwelt (Märkte, politische und soziale Umwelt usw.) mit ein, die

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Ulrich, Unternehmung, 1971, S. 45

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natürlich nicht als a priori bekannt vorausgesetzt werden konnte, sondern herauszufinden war. Zum zweiten war von Anfang an klar, daß die Unternehmung nur als Teil eines viel größeren Netzwerkes von Institutionen, das in sich wiederum einen Schichtenbau aufwies, begriffen werden konnte, und daß die Reduktion dieses Netzwerkes auf nur die Unternehmung selbst eine unzulässige Vereinfachung bzw. einen fundamentalen Fehler in der Systemabgrenzung darstellte. Zum dritten aber wurde durch die weitere Ausarbeitung dieses Ansatzes deutlich, daß sich die Problemsituation der in und für eine Unternehmung handelnden Menschen zum Teil wesentlich anders darstellen mußte, als dies von der klassischen Betriebswirtschaftslehre angenommen wurde. Insbesondere dann, wenn man wesentliche Eigenschaften von Unternehmungen, nämlich ihre Komplexität und Dynamik, ernst nahm und nicht durch reduktionistische Annahmen und die ceteris paribus-Klausél künstlich eliminierte, wurde deutlich, daß viele, im Zentrum der klassischen, ökonomistischen Betriebswirtschaftslehre stehenden Fragen im Grunde von recht untergeordneter Bedeutung waren oder doch recht selten vorkommende Sozialfälle darstellten. Weiters zeigte sich, daß zahlreiche Probleme von größter Relevanz bis dahin nur wenig oder gar keine Beachtung fanden. Die Beispiele sind zahlreich: Es beginnt mit grundlegenden Problemen, wie etwa, ob Unternehmungsführung aus der Perspektive der Gewinnmaximierung oder -Optimierung überhaupt richtig verstanden werden konnte; ob das Problem der Faktorkombination sich für die Unternehmung in der von der Betriebswirtschaftslehre behandelten Weise stellt; ob die etwa im Bereich der Absatzwirtschaft behandelten Preisbildungsmodelle und -hypothesen praktische Relevanz besitzen; ob Investitionen wirklich nach den Gesichtspunkten der Invesititionstheorie beurteilt werden usw. Wesentliches Element der klassischen Ansätze ist ja das Problem der Optimierung unter bestimmten Bedingungen, oder auch der optimalen Entscheidungsfindung, wobei aber in der Regel die Verwendung ökonomischer und damit quantifizierbarer Parameter dominiert. Sind die unterstellten Voraussetzungen aber auch wirklich erfüllt? Genügt es, ökonomisch-quantitative Einflußgrößen allein zu berücksichtigen? Viele Beobachtungen zeigen, daß für die praktische Unternehmensführung viele andere Dinge eine wesentlich wichtigere Rolle spielen und es nur selten um Optimierungsfragen geht, sondern man vielfach schon dann zufrieden sein muß, wenn man die Ereignisse überhaupt unter einer gewissen Kontrolle hat. Management - und dies wurde von einigen angloamerikanischen Autoren, vor allem von Peter Drucker, schon recht früh erkannt - hat weniger mit Optimieren als mit Balancieren zu tun, zwar auch mit Analyse, vor allem aber mit Integration und Synthese sehr verschiedenartiger Faktoren, weniger mit der Konstruktion widerspruchsloser Zielsysteme als mit der täglich sich neu stellenden Problematik der Harmonisierung unvermeidlich widersprüchlicher Absichten und Erwartungen. Management kann man mögli-

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cherweise - so die Vermutung - viel besser verstehen als das ständige Bemühen, ein sehr komplexes System unter Kontrolle zu bringen und zu halten, das durch ein hohes Maß an Probabilismus gekennzeichnet ist, dessen Elemente sich ständig verändern, sowohl bezüglich ihrer Zustände als auch, grundlegender bezüglich ihrer A r t und Zahl, und dessen Eigendynamik bewirkt, daß es nur schwer und häufig mit unerwünschten Nebenwirkungen beeinflußt werden kann. Es geht also wesentlich darum, ein System zu lenken, und die Aufgabe stellt sich je nach der Struktur und den Wirkungsmechanismen des Systems unterschiedlich dar. Die Lenkbarkeit von Systemen zu ermöglichen oder zu verbessern ist wiederum eine der wichtigen Gestaltungsaufgaben von Managern. Gestaltung und Lenkung von komplexen, dynamischen Systemen ist somit die Perspektive der systemorientierten Managementlehre. Mehr und mehr wurde aber klar, daß der Schritt von einer wirtschaftswissenschaftlich ausgerichteten Betriebswirtschaftslehre zu einer systemorientierten Managementlehre weit größere Konsequenzen haben könnte, als dies möglicherweise selbst die Väter des neuen Ansatzes vermutet haben dürften. U m den anspruchsvollen Forderungen einer ganzheitlichen und vieldimensionalen Unternehmungslehre und Unteraehmungsführungslehre genügen zu können, war und ist es erforderlich, immer mehr Gebiete einzubeziehen, die bis dahin nicht einmal im entferntesten etwas mit Betriebswirtschaftslehre zu tun hatten, ja nicht einmal in den Bereich der Wirtschafts- und Sozialwissenschaften im allgemeinen eingeordnet werden konnten. Die Verwendung des weitgehend formalen, jedenfalls aber sehr weiten Systembegriffes, und der Versuch, eine derartig verstandene Betriebswirtschaftslehre systemtheoretisch zu fundieren, waren seither ebensosehr Vorteil wie Hindernis. Vorteil deshalb, weil durch die Orientierung an der Allgemeinen Systemtheorie eine ungewöhnliche Öffnung der Perspektive erfolgte, was dazu führte, daß bis dahin gänzlich ausgeklammerte Wissenschaften auf ihre mögliche Relevanz für die Lösung betriebswirtschaftlicher Probleme untersucht wurden. In einer Reihe von Arbeiten, die seither zur Systemorientierten Betriebswirtschaftslehre im weitesten Sinne in St. Gallen, aber auch andernorts, geschrieben wurden, findet man daher zahlreiche Beispiele dafür, daß sich die Autoren mit aus der Sicht der klassischen Betriebswirtschaftslehre recht exotisch erscheinenden Wissenschaften auseinandersetzten. Dominierendes Beispiel ist hier die Kybernetik bis zu den Forschungen über künstliche Intelligenz, Linguistik und Evolutionstheorie.

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Die Hindernisse bestanden und bestehen darin, daß durch die Beschäftigung mit derartigen Gebieten auch viele Mißverständnisse entstehen. Der Versuch, Denkweisen, Theorien, Ergebnise usw. aus gänzlich anderen Disziplinen in die Betriebswirtschaftslehre aufzunehmen, ist mit zahlreichen Schwierigkeiten verbunden, die nicht nur die Relevanz dieser Gebiete für die in Entstehung begriffene Systemorientierte Betriebswirtschaftslehre betrafen, sondern von vornherein auch die Frage berührten, ob man die neuen bzw. andersartigen Wissenschaften überhaupt richtig verstanden hatte. Ich möchte die Natur der sich im Zusammenhang mit der Integration sehr verschiedener Wissensgebiete und ihrer Nutzung als Fundament einer Systemorientierten Betriebswirtschafts- bzw. Managementlehre anhand einer kurzen Rekapitulation eines in den Jahren 1972 bis 1974 am Institut für Betriebswirtschaft an der Hochschule St. Gallen durchgeführten Forschungsprojektes zur Entwicklung einer sogenannten "System-Methodik" veranschaulichen. 2 Diese Rekapitulation erscheint aber auch deshalb als gerechtfertigt, weil ich immer noch der Auffassung bin, daß diese Wissensgebiete relevant sind und eine Theorie des Managements sozialer Systeme nicht ohne sie auskommt. Zweck dieser "System-Methodik" sollte es sein, aufbauend auf dem damaligen Entwicklungsstand der Systemorientierten Managementlehre für die Gestaltung und Lenkung von komplexen Systemen konkret anwendbare methodische Hilfsmittel im Sinne einer generellen Vorgehensweise sowie Regeln, Grundsätze und Techniken zu entwickeln. Allgemein gesprochen kann man sagen, daß die Grundidee darin bestand, eine Methodik für den Umgang mit komplexen Systemen zu schaffen, dabei bewußt die Tatsache einbeziehend, daß das Umgehen mit derartigen Systemen in der Realität, gemessen am Standard klassischer Rationalitätsvorstellungen, immer erhebliche Unvollkommenheiten aufweisen mußte, oft weit entfernt vom theoretischen Optimum zu operieren hatte, und das Erfolgskriterium oft nur darin bestehen konnte, das System so zu beeinflussen, daß ein einigermaßen zufriedenstellender Output resultiert und dabei wichtige Systemeigenschaften, wie etwa die Anpassungsfähigkeit des Systems, erhalten bleiben. Das Resultat dieses Projektes stützte sich auf meinen, im ersten Band des zitierten Buches dargestellten, möglicherweise etwas kühnen und in vielen Belangen durchaus Kritik provozierenden Versuch, mehrere sehr verschiedene Gebiete menschlichen Wissens miteinander zu vereinen, die prima vista nicht oder nicht viel miteinander zu tun hatten, bei deren näherer Analyse sich aber doch vermuten ließ, daß sie einen Beitrag zur Lösung des gestellten Problems leisten könnten. 2

Gomez/Malik/Öller, Systemmethodik, 1975

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Eine der wesentlichen Bestandteile war Poppers "Theorie des Wissens" (Theory of Knowledge) auf ihrem Stand von 1972, also unter Einschluß u n d Berücksichtigung seines damals gerade erschienenen Buches "Objective Knowledge", weil, wie ich in Teil A des zitierten Buches begründet zu haben glaube, Poppers Erkenntnistheorie, die er selbst im wesentlichen als Problemlösungsmethodik versteht, gerade auch für die Lösung von Problemen, die im Zusammenhang mit der Gestaltung und Lenkimg komplexer Systeme auftreten, von grundlegender Relevanz ist. Ich bin immer noch der Auffassung, daß die richtig verstandene Philosophie und Erkenntnistheorie Poppers für das praktische Management sozialer Institutionen eine unverzichtbare Grundlage darstellt. I n dieser Auffassung wurde ich in der Folge durch das Studium des wissenschaftlichen Werkes von Friedrich von Hayek bestärkt, dem ich die für die vorliegende Arbeit wohl wichtigste Einsicht in das Funktionieren komplexer Systeme und in die Problematik, welchen Anforderungen eine Theorie komplexer Systeme zu entsprechen hat, verdanke. 3 Weitere Bestandteile waren bestimmte Richtungen der Kybernetik, insbesondere die Arbeiten von Staffort Beer, Gordon Pask, Ross Ashby und Heinz von Foerster, die deshalb wesentlich erschienen, weil sie weit über das im deutschsprachigen Raum übliche Verständnis der Kybernetik als Regelungstheorie bzw. -technik hinausgingen und insbesondere in jenen Bereich vorstießen, der durch hohe Komplexität gekennzeichnet ist. Basis für die hier zugrundeliegende Auffassung über Kybernetik waren drei, bereits im Jahr 1958 erschienene Artikel von Gordon Pask einerseits mit dem Titel "Organic control and the cybernetic method" sowie ein Aufsatz von Heinz von Foerster "Some Aspects in the Design of Biological Computers".* Eines der grundlegenden Studienobjekte dieser A r t von Kybernetik ist der frei lebende Organismus in seiner natürlichen Umgebung und seine Fähigkeit, sich ständig wechselnden Umständen anzupassen, zu lernen, zu evolvieren - allgemein vielleicht: erfolgreich zu leben. Von besonderer Bedeutung war in diesem Zusammenhang auch die Arbeit von Ashby "Design for a Brain", in deren erstem Kapitel er das Problem wie folgt formuliert: "Our problem is, first, to identify the nature of the change which shows us learning, and secondly, to find why such changes should tend to cause better adaption for the whole organism". 5 3

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Eine meines Erachtens überzeugende Darstellung der Relevanz der Methodologie Poppers für eine rationale Praxis findet sich auch in dem Buch von Hans Albert, Traktat über rationale Praxis, 1978; wichtige Argumente sind schließlich auch in dem 1980 veröffentlichen Nachwort HDer Kritizismus und seine Kritiker" in Alberts Traktat über kritische Vernunft enthalten. Pask, Organic Control, 1958; Beer, Irrelevance, 1958; von Foerster, Biological Computers, 1960 Ashby, Brain, 1952, S. 12

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Diese, damals noch rudimentären, ersten Versuche wurde von den genannten Autoren in bemerkenswerter und für eine systemische Managementtheorie höchst bedeutsamer Weise weiter entwickelt. Aus Pasks damaliger Auffassung entstand eine umfassende Theorie lernender Systeme, deren Basismodell ein sich frei entfaltender Konversationsprozeß ist. 6 Beers Denken kulminiert vorläufig in seinem Modell lebensfähiger Systeme, einem explizit auf das Problem der Komplexitätsbeherrschung gerichteten Strukturmodell. 7 Heinz von Foerster muß als einer der ganz großen Pioniere systemtheoretischen und kybernetischen Denkens angesehen werden. Seine Arbeiten sind äußerst vielseitig und facettenreich und können nicht in ein paar Worten zusammengefaßt werden. Ein für diese Arbeit wichtiges Ergebnis ist seine kybernetische Epistemologie für beobachtende (im Gegensatz zu beobachtete) Systeme,8 die darauf hinausläuft, daß das erkennende Subjekt und sein Erkenntnisapparat in die Erklärung des Erkenntnisprozesses miteinbezogen werden muß, um diesen und seine Ergebnisse und das darauf beruhende Verhalten überhaupt verstehen zu können. Diese Denkrichtung trifft sich mit einer neuesten Entwicklung aus der Biologie, nämlich der evolutionären Erkenntnistheorie und der Theorie autopoietischer Systeme, die versuchen, Leben als sich selbst produzierenden (nicht reproduzierenden) Erkenntnisvorgang bzw. Ordnungsprozeß zu begreifen. 9 Ich erwähne diese, von den genannten ursprünglichen Ansätzen ausgehende Entwicklung deshalb, weil eben noch viel zu oft die Allgemeine Systemtheorie nur als spezieller Zweig der Mathematik (was sie sicher auch ist), gesehen wird, und die Kybernetik mit der Regelungstheorie, insbesondere jener von Systemen mit bekannten oder identifizierbaren Transferfunktionen (was sie natürlich auch umfaßt) gleichgesetzt wird. Für komplexe soziale Systeme sind aber jene kybernetischen Denkweisen, die eben um das Phänomen der organischen Kontrolle entstanden sind, viel wichtiger. Von Bedeutung für das System-Methodik-Projekt erwiesen sich ferner die Arbeiten von Jean Piaget zur genetischen Psychologie, dessen Denken meiner damaligen Auffassung nach eine nicht zu übersehende Verwandtschaft mit den Ansätzen der organischen Kybernetik hat, was übrigens erst in jüngster Zeit in einem hochinteressanten Artikel von Heinz von Foerster bestätigt w i r d . 1 0

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Pask, Human Learning, 1975; ders., Conversation, 1974 Beer, Heart, 1979 von Foerster, Objects, Bd. VIII, S. 91 ff. Vgl. Riedl, Systembedingungen, 1978; ders., Erkenntnis, 1980; ferner Maturana /Varela, Autopoiesis, 1980 von Foerster, Objects, Bd. VIII, S. 91 ff.

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Die Arbeiten von Piaget sind meines Erachtens auch eine wesentliche Ergänzung empirischer A r t zur Erkenntnistheorie Poppers und stellen einen wichtigen Schritt auf dem Wege zu einer empirischen Epistemologie dar, wie sie etwa Warren McCulloch vertritt, ein weiterer großer Pionier der Kybernetik, der schon in den 40er-Jahren eine empirische und experimentelle Epistemologie in dem Sinne fordert, als die Auffassungen der Philosophie letztlich durch Erkenntnisse über Anatomie und Funktion der den Organismen zur Verfügung stehenden Erkenntnisapparate, also über Gehirn und Zentralnervensystem gestützt werden müsse. 1 1 Diese Forderung findet auch eine eindrückliche Erfüllung durch die Untersuchungen von Eccles und natürlich auch durch die evolutionäre bzw. biologische Erkenntnistheorie. 12 Weiters habe ich dort das ΤΟΤΕ-Konzept und die damit verbundene Theorie kognitiver Prozesse von Miller/Galanter/Pribram verwendet, deren Konnex sowohl zur Kybernetik wie zur Erkenntnistheorie nicht zu übersehen ist und schließlich die Theorie der Personal Constructs von George Kelley, die einen interessanten Versuch darstellt, Erkenntnis- und Lernprozeß als die Bildung eines Systems zu verstehen. Ergebnis dieser Integrationsversuche war eine Problemlösungs-Methodik in Gestalt einer Schrittfolge, die als Ausgangspunkt die Konstatierung eines Problems im Sinne Poppers hat, wobei aber die A r t des Problems eingegrenzt wurde auf eine bestimmte Kategorie, nämlich die Klasse der Lenkungsprobleme (control problems). Die wie schon erwähnt, in letzter Konsequenz immer vor der Frage stehen, wie sie den Bereich oder das System, für das sie zuständig und verantwortlich sind, unter Kontrolle bringen und unter Kontrolle halten. Daß es sich hierbei um ein ganz bestimmtes Verständnis des Wortes "Kontrolle" handelt, wurde im Rahmen jener Forschungen deutlich gemacht. Hier sei nur sehr verkürzt und bildhaft gesagt, daß etwa die Formulierungen "ein Orchester unter Kontrolle haben", "eine Sportart oder Fremdsprache beherrschen" jene Bedeutung von "Kontrolle" zum Ausdruck bringen, die in diesem Zusammenhang gemeint ist. Wenn als Grundproblem die in diesem Sinne verstandene Beherrschung oder Kontrolle eines System angenommen wurde, so ergab sich die nächste Hauptkomponente der Methodik auf natürliche Weise: die Frage, ob und in welchem Ausmaß man ein System unter Kontrolle haben kann, hängt ganz wesentlich von den Eigenschaften der beteiligten Systeme ab: des Sy-

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12

Vgl. seine bis ins Jahr 1943 zurückreichende Aufsatzsammlung Embodiments of Mind, 1965, insbesondere auch die Einführung zu diesem Buch von Seymour Papert, der ebenfalls die Beziehungen zur Theorie von Piaget klar herausarbeitet. Vgl. Eccles, Psyche 1980; ders., Mystery, 1980; ders., Reality, 1970; Popper/Eccles, Seif and its Brain, 1977

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stems, das unter Kontrolle gebracht werden soll und desjenigen Systems, dem sich diese Aufgabe stellt. Manche Systeme lassen sich, z.B. weil sie sehr einfach und unkompliziert sind, sehr leicht beherrschen; andere entziehen sich, möglicherweise grundsätzlich, jeder Form menschlicher Kontrolle. Das Problem scheint wesentlich von der Komplexität der fraglichen Systeme bestimmt zu sein und von der Frage, welche Voraussetzungen überhaupt eine Chance mit sich bringen, ein System unter Kontrolle zu bringen. Dies führte im Rahmen des damaligen Forschungsprojektes zu einer intensiven Beschäftigung mit typischen Charakteristika von Systemen, etwas unscharf ausgedrückt, mit der Natur von Systemen, und mit typischen Formen der Lenkung, sogenannten Control-Modellen. Als nächstes Hauptelement der Methodik waren schließlich Maßnahmen zur Beeinflussung eines Systems vorgesehen, die in Kenntnis der Natur des Systems und seiner Lenkungsmechanismen Aussicht auf Wirksamkeit boten, wobei ganz im Sinne des für die Kybernetik typischen Kreislaufdenkens die dadurch erzielten Effekte bzw. bereits die bezüglich der angenommenen Effekte gebildeten Erwartungen wiederum zum Ausgangspunkt weiterer Beeinflussungen wurden. Die für die Entwicklung dieser Systemmethodik vorherrschende Vorstellung des Grundproblems läßt sich vielleicht veranschaulichen durch folgende Beispiele: 1. Hüten einer Herde: Je nachdem, um welche Tiere es sich handelt, wird es in Abhängigkeit vom Gelände, den Witterungseinflüssen, der Bedrohung durch Gefahren usw. unterschiedlich schwierig sein, dieses Problem im Detail zu lösen; eine Herde halbwilder Pferde beisammenzuhalten, erfordert andere Methoden und Hilfsmittel, als eine Herde Schafe zu hüten. Das Grundproblem, die Herde unter Kontrolle zu halten, ist aber deutlich sichtbar. 2. Dressur einer gemischten Raubtiergruppe: A u c h hier hängt die Gesamtstrategie und der Einsatz verschiedener Verhaltensweisen, Techniken und Tricks wesentlich von der Natur des Systems bzw. der einzelnen Elemente ab. Die Kontrolle muß ständig unter größter Konzentration und physischer wie psychischer Präsenz aufrecht erhalten werden. Der Dompteur muß auf die unterschiedlichsten Einflüsse und Störungen in richtiger Weise reagieren mit dem Ziel, einerseits die Nummer in vorgesehener Weise abzuwickeln und andererseits gleichzeitig Leben und Gesundheit zu bewahren und die Tiere nicht zu verderben.

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3. Ökologisches Gleichgewicht: Die Interaktion verschiedenartiger Tiere und Pflanzenarten führt in der Natur zu Gleichgewichtszuständen, die charakteristisch für das Ökotop sind. Hier liegt allerdings insofern eine wichtige Besonderheit vor, als kein persönlicher Lenker im Sinne eines Hirten oder Dompteurs gegeben ist, sondern vielmehr eine A r t systemimmanenter Kontrolle, resultierend aus der A r t und Weise der faktischen Interaktion. Diese Form von Kontrolle ist für die vorliegende Arbeit von besonderem Interesse. Sie wird im zweiten Teil speziell ausführlich diskutiert. 4. Schaffung und Bewahrung einer glücklichen Familie: Zusammenhalt und "Klima" einer Familie hängen von vielen Einflüssen ab, und es ist eine sich unter den Einflüssen und Ereignissen im Laufe des Lebens der Familienmitglieder immer wieder neu stellende Aufgabe, in der aber das Grundmuster der allgemeinen Problemstellung unschwer zu erkennen ist. 5. Unternehmensführung: Wie schon einleitend im Zusammenhang mit der Skizzierung der Entwicklung des Systemansatzes in der Betriebswirtschaftslehre angedeutet, weist auch das Problem der Unternehmungsführung die selben Züge auf wie die anderen Spielarten des Problems. Natürlich steht außer Diskussion, daß die konkret relevanten Variablen und Einflußfaktoren gänzlich anderer A r t sind als in den anderen Beispielen. Abstrahiert man aber von den Besonderheiten der konkreten Umstände, so ist deutlich zu erkennen, daß das Grundmuster der kybernetischen Problemstellung auch hier wiederkehrt. Die Schwierigkeiten der weiteren Entwicklung der systemorientierten Managementlehre mit ihren recht ambitiösen Zielsetzungen liegen aber nicht nur in der Notwendigkeit, derart verschiedene Gebiete menschlichen Wissens, wie sie soeben diskutiert wurden, zu integrieren. Im Laufe der Zeit wurde ebenso deutlich, daß der Entwicklung und Verbreitung einer Systemorientierten Managementlehre noch andere Hindernisse entgegenstanden. Man mußte zuerst lernen, die Welt der Praxis richtig zu verstehen, im Rahmen der Wissenschaft zu verarbeiten und schließlich nach vielfältigen und im einzelnen möglicherweise gar nicht rekonstruierbaren Transformationsprozessen in einer wiederum für die Praxis relevanten Weise einen Beitrag zur Lösung von Praxisproblemen zu leisten. Dabei war natürlich immer klar, daß es nicht nur um die jeweils gerade vorherrschende Sicht der Praxis, oder gar einer ganz bestimmten A r t der Praxis gehen konnte, sondern daß der Rahmen wesentlich weiter zu spannen war. Obwohl der Wert des Alltagsverständnisses keineswegs gering geschätzt wurde, sondern man im Gegenteil davon ausging, daß diesem größte Bedeutung beizumessen war, so war doch auch klar, daß sich eine Wissenschaft von der Gestaltung und Lenkung produktiver sozialer Systeme auch die Aufgabe

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stellen mußte, die Praxis zu transzendieren, zu hinterfragen, Lösungen anzubieten, wo man noch gar keine Probleme sah und Probleme zu entdecken, wo man schon Lösungen zu besitzen glaubte. Kriterium war und ist aber immer der Praxisbezug oder der Anwendungszusammenhang. U n d gerade dies brachte erhebliche Schwierigkeiten mit sich, denn es zeigte sich, daß die ganz maßgeblich von Systemtheorie und Kybernetik beeinflußte Sicht- und Denkweise des systemorientierten Ansatzes in der Betriebswirtschaftslehre zunächst von der Praxis gar nicht verstanden wurde. Es ging daher nicht nur um die Entwicklung der Systemorientierten Betriebswirtschaftslehre, sondern es mußte auch darum gehen, die Transferierungsmechanismen eines neuen Ansatzes in die Praxis verstehen zu lernen. Es stellten sich also Fragen, wie etwa: Wie sieht die Praxis die Wissenschaft? Was erwartet sie von ihr? Wie versteht sich die Praxis selbst? A u f welche Weise werden Wissen, Denkweisen, Verhaltensweisen, ja ganze Paradigmen in der Praxis aufgenommen und verarbeitet?, usw. I m Laufe der Auseinandersetzung mit derartigen Fragen zeigte sich nun sehr schnell, daß in der Praxis wie in der Wissenschaft ganz spezielle Annahmen und Überzeugungen vorherrschten und daß diese Annahmen primär von der Wirtschaftslage der 50er-, 60er- und frühen 70er-Jahre geprägt waren. Es war tief verwurzelt, vom Erfolg der stabilen Jahrzehnte geprägte Annahmen über die grundsätzlichen Möglichkeiten des Wirtschaftens zugrundezulegen, über die Voraussetzungen erfolgreichen Managements und über die "richtigen" Methoden und Prinzipien der Unternehmungsführung, die mit Basisannahmen der Systemorientierten Managementlehre oft in Widerspruch standen und deren Verbreitung erschwerten, in der von den stabilen Jahrzehnten geprägten Weise zu räsonieren. Dem Charakter einer Wissenschaft entsprechend, versuchte die Systemorientierte Managementlehre den allgemeinen Fall zu behandeln, während in der Praxis der spezielle Fall der gerade vorherrschenden Wirtschaftslage dominierte. Weil diese Wirtschaftslage in ihrer Grundstruktur den Zeitraum einer ganzen Generation überspannte, konnte die Illusion entstehen, daß der spezielle Fall der allgemeine sei, und daß Methoden und Prinzipien, die sich im speziellen Kontext der Hochkonjunkturlage der Nachkriegszeit bewährten, allgemeingültige Lösungen für allgemeingültige Probleme seien. Diese Entwicklung in der Praxis hatte aber ihre Parallele in der Wissenschaft. Hier begannen Denkmotive die Oberhand zu gewinnen, die, wie zu zeigen sein wird, ebenfalls auf ganz speziellen Annahmen aufgebaut sind. I m Kontext stabiler Wirtschaftsverhältnisse mögen diese Denkmotive zwar ihre Berechtigung haben; sie sind aber gefährlich irreführend, wenn die ihnen zugrundeliegenden Annahmen nicht mehr zutreffen.

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Inzwischen sind diese UrÜberzeugungen, die Jahr für Jahr durch die sichtbaren Erfolge gestärkt wurden, ins Schwanken geraten. Die Erkenntnis, daß wir in einer Zeit der strukturellen Umbrüche und der grundlegenden Trendwende leben, beginnt sich durchzusetzen 13 - noch nicht überall auf der kognitiven Ebene wohl aber in Form der Auswirkungen der Umbrüche in den Bilanzen der Unternehmungen und in den Insolvenzstatistiken der Staaten. Die Einsicht, daß als unerschütterlich angesehene Fundamente von Wirtschaft und Gesellschaft sich binnen kürzester Zeit vollkommen verändern können, und damit die Voraussetzungen für eine ganz bestimmte A r t der Unternehmungsführung weggefallen sind, bringt zum ersten M a l seit Beginn des großen Wirtschaftsaufschwunges auf breiter Basis die Chance einer Besinnung auf die Natur jener sozialen Funktion, die wir Management nennen. So zeigt die Literatur der letzten zehn Jahre zu Fragen des Managements sehr deutlich, daß ganz bestimmte Denkkonfigurationen im Sinne der zu Beginn besprochenen Prämissensysteme oder Bezugsrahmen nach wie vor dominierend sind und aufgrund der ihnen immanenten Perpetuierungstendenzen der Gefängnischarakter derart konstruierter Realitäten nicht einmal bemerkt werden kann. Vor allem muß festgestellt werden, daß ein zentrales Phänomen, das für eine Theorie des Managements sozialer Systeme von grundlegender Bedeutung ist, konsequent ausgeklammert wird: Das Problem der Komplexität. Je nachdem, ob man von komplexen oder von einfachen Verhältnissen ausgeht, stellen sich Managementprobleme gänzlich anders dar, und sind selbstverständlich auch die Merkmale ihrer Lösung fundamental verschieden. Je nach der A r t und Weise, wie das Problem der Komplexität behandelt wird, ergeben sich zwei völlig verschiedene Arten von Management-Theorien, die ich im folgenden in geraffter Form darstellen möchte. Die eine A r t dieser Management-Theorien ist zwar noch immer faktisch dominierend; ich betrachte sie jedoch in ihrem Ansatz als überholt und letztendlich gefährlich, und ich vermute, daß sie ein erhebliches Maß an Mitschuld an den gegenwärtigen Schwierigkeiten in Wirtschaft und Gesellschaft trägt. Die zweite A r t der hier besprochenen Managementtheorien scheint mir wenigstens den Keim der Chance in sich zu tragen, aufgrund einer tieferen Einsicht in gerade das wirklich Soziale des Menschen und der Gesellschaft, einen besseren Beitrag zur Lösung der Probleme unserer Zeit zu leisten, als dies jener Typ von Managementtheorie je tut, der sich zwar auch sehr Verhaltens- und sozialwissenschaftlich gibt, jedoch aufgrund von einseitigen oder gar falsch verstandenen Wissenschaftlichkeitskriterien auf jene For-

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men der Sozialwissenschaft zurückgreift, die durch sklavische Nachahmung von Denkweisen und Methoden der Naturwissenschaften zutiefst antisozial und in den Folgen ihrer faktischen Anwendimg nicht selten asozial geworden sind. Die erste Art von Management-Theorie ist ein Resultat jener von Friedrich von Hayek so treffend bezeichneten und charakterisierten Anpassung der Vernunft, 1 4 der kurzschlüssigen Illusion des Menschen, mit genügend Aufwand alles in beliebigem Detail unter Kontrolle bringen zu können und des Aberglaubens an die im Prinzip unbeschränkte Machbarkeit aller Dinge und Lösbarkeit aller Probleme. So lange diese Illusion durch die Erfolge einer Epoche genährt wurde, die auf einer singulären Konstellation günstiger Faktoren beruhte, und die Folgewirkungen eines Tuns noch nicht sichtbar waren, das systemische Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten nicht berücksichtigte, war es so gut wie hoffnungslos, für die zweite A r t der Management-Theorie Gehör und Interesse zu finden. Die Voraussetzungen dafür, daß der Mensch lernt, durch Einsicht in die Grenzen seines Wissens, seiner Vernunft und seiner Macht eben diese Instrumente weiser und damit letztlich auch erfolgversprechender einzusetzen, sind inzwischen etwas günstiger geworden. Wir beginnen gerade zu begreifen, daß es außer einem, durch ein selbst nicht lernfähiges Bildungssystem vermittelten Modell der Welt und ihres Funktionierens noch ganz andere Realitäten gibt; wir beginnen den systemischen Netzwerkcharakter alles Geschehens langsam zu verstehen, es wird mehr und mehr klar, daß die sich am wissenschaftlichsten gebärdenden Denkweisen und Methoden am wenigsten geeignet sind, zu unserem Verständnis der Welt beizutragen, sondern daß sie Pseudo-Erkenntnisse schaffen, die ihrem Status nach nicht besser sind als die Mythologien der Geschichte.

13 14

Kneschaurek, Unternehmer, 1980 Vgl. Hayek, Errors, 1978; ders., Pretence, 1978

Soziale Institutionen als selbstorganisierende, entwicklungsfähige Systeme Von Gilbert IB. Probst, Genf 1. Über Ziel und Hintergrund des Beitrages Ziel dieses Beitrages ist es die 1. Charakteristika selbstorganisierender Systeme darzulegen und 2. auf einige Konsequenzen im Umgang mit selbstorganisierenden Systemen hinzuweisen. Natürlich ist in der Managementund Organisationslehre seit langem bekannt, daß in sozialen Institutionen Ordnung auch ohne Vorschriften, Organigramme, Stellenbeschreibungen usw. entsteht. Aber dies ist hier nicht der wesentliche Punkt, denn es geht vielmehr um ein Konzept des ganzheitlichen Verstehens von sozialen Systemen. Ordnung in sozialen Systemen kann im Lichte rationaler Gestaltungsentscheide, der absoluten Organisierbarkeit und Machbarkeit, einer Einheit von Zwecken und Zielen usw. betrachtet werden. Ordnung ist Konsequenz von Organisation. Verstehen wir als Organisation aber alles, was für die Ordnung eines Ganzen verantwortlich zeichnet, so kann Organisation nicht auf einzelne Organisationen, eine Organisationsabteilung, formale Regelungen, einzelne Führungsentscheide etc. beschränkt werden. 1 Die Ordnimg sozialer Systeme ist in einer ganzheitlichen Sichtweise das Resultat "autonomer M, interaktiver, auf sich selbst bezogener und reich vernetzter Operationen oder Handlungen. Dabei ist das Organisieren durch Mitglieder des Systems durchaus wesentlicher Teil der Ordnungsbildung. Jedoch können wir Ordnung letztlich nur aus einer ganzheitlichen, selbstorganisierenden Perspektive verstehen und konzeptualisieren. Die Erforschung der Selbstorganisationsphänomene ist in den letzten Jahren wieder aktuell geworden. 2 Die Wurzeln dieses Forschungszweiges liegen fast ausschließlich im systemischen und kybernetischen Bereich. I n den folgenden Abschnitten sollen der Ordnungsbegriff und die Charakteristika selbstorganisierender Systeme kurz diskutiert werden. Anschließend wird aufgezeigt, daß selbstorganisierende soziale Systeme sich entwickeln können, was nicht einfach mit Anpassung oder einem evolutionären Versuch-Irrtums-Prozeß gleichzusetzen ist. Entwicklung ist eine qualitative Eigenschaft humaner sozialer Systeme. Entwicklung ist jedoch etwas, das gemacht, eingeführt oder 1 2

Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Dress et al., Selbstorganisation, 1978; Foerster, Erkenntnistheorie, 1984; Hayek, Freiburger Studien, 1969; Ulrich/Probst, Self-Organization, 1984, Luhmann, Soziale Systeme, 1984; Touraine, Self-Production, 1977; Morgan, Images, 1986; Probst, Selbstorganisation, 1987

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befohlen werden kann. Entwicklung ist das Resultat selbstorganisierender Prozesse. 2. Ordnung in sozialen Systemen 2.L Was heißt Ordnung? Ordnung bedeutet hier nicht einfach Struktur. Ordnung bedeutet vielmehr Regelhaftigkeit, die einem Beobachter erlaubt, Fehlendes in einem System zu ergänzen oder Fehlerhaftes zu erkennen, Teile zusammenzufügen, Verhalten abzustimmen usw. Ordnung ist selbst etwas Fließendes, denn sie ist das Resultat von Struktur und Verhalten eines relativ geschlossenen Netzwerkes. Natürlich schränken Strukturen die Freiheiten und damit die Verhaltensmöglichkeiten ein. Gleichzeitig ist jede Struktur aber wieder Konsequenz von Verhalten und verändert sich auch aufgrund von Verhaltensweisen. Ordnung ist also nicht etwas Einmaliges oder gar Statisches; sie ist etwas Fließendes, Bewegtes und Dynamisches. 3 2.2 Wie und warum bildet sich Ordnung? I n physikalischen Systemen beobachten wir eine Tendenz permanent zunehmender Unordnung. Das physikalische Geschehen läuft in Richtung maximaler Entropie oder höchster Unordnung. Dies besagt zumindest der zweite Hauptsatz der Thermodynamik, der nicht nur die Physik, sondern auch die Forschungen in vielen anderen Wissenschaften prägte. 4 In offensichtlichem Widerspruch dazu halten sich lebende biologische Systeme und soziale Systeme auf einem hohen Ordnungsniveau. Sie streben geradezu nach Zuständen höherer Ordnung, im Sinne einer Weiter- und Höherentwicklung. 5 Dies scheint dadurch möglich zu werden, daß diese Systeme relativ offen gegenüber bestimmten Faktoren sind. Sie entnehmen ihrer Umwelt Informationen oder Nachrichten und Energie, verarbeiten diese und werden dadurch zur Leistung befähigt, Ordnung zu schaffen und zu erhalten. Die Bildung von Ordnung ist ein Phänomen, das - wie Evolution und Phylogenese der Lebewesen und der menschlichen Gemeinschaften - durchaus nicht an lokalisierbaren Geist und Handlung gebunden ist. Ord-

3 4 5

Vgl. Bertalanffy, Biophysik, 1953; Bresch, Zwischenstufe Leben, 1978; Riedl, Biologie der Erkenntnis, 1980; Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Rifkin, Entropie, 1982; Goldsmith, Thermodynamics, 1981; Vester, Systemmanagement, 1985, Ben-Eli/Probst, The way you can look, 1986 Vgl. Bresch, Zwischenstufe Leben 1978, Riedl, Biologie der Erkenntis 1980; ders., Begriff und Welt, 1987; Maturana/Varela, Autopoiesis, 1980; dies., Baum der Erkenntnis,1987

Soziale Institutionen

nungsbildung muß vielmehr unabhängig vom individuellen Denken und Handeln verstanden werden.

147 menschlichen

In unserem traditionellen Denken und Verständnis gehen wir hingegen meist bewußt oder unbewußt davon aus, daß Ordnung einzig durch ein absichtsgeleitetes menschliches Handeln entstehen kann. 6 Damit wird sie auf das Individuum reduzierbar: den Organisator, den Planer, die Führungskraft. Dabei ist leicht zu erkennen, daß viele der heutigen Ordnungen im gesellschaftlichen, politischen, ökonomischen oder ökologischen Bereich und die damit verbundenen Probleme keineswegs den ursprünglichen Absichten der Organisatoren oder der Planer einer solchen Ordnung entsprechen. Die Absurdität dieses Gedankens liegt gerade darin, daß die Organisatoren oder Planer nicht eruiert werden können, da die Gestaltung und Lenkung in unseren komplexen sozialen Systemen nicht an einem zentralen Ort oder bei einzelnen Personen lokalisiert werden kann, sondern diffus über das gesamte System verteilt wahrgenommen wird. Wie bereits ausführlicher beschrieben worden ist, kann die Gestaltung und Lenkung sozialer Systeme gar nicht anders geschehen.7 Einerseits ist die Informationskapazität menschlicher Gehirne beschränkt, andererseits ist die Informationstechnologie - wie leistungsfähig sie in Zukunft auch noch werden mag nicht fähig, Entscheidungen zu treffen, die des menschlichen Wertens und Hinterfragens bedürfen (ganz abgesehen von der generell bestehenden Grenze der Informationsverarbeitung im Sinne des "Bremerman'schen L i mits"). Ordnungsbildung in sozialen Systemen ist folglich nur komplementär verstehbar: aus den organisierenden Handlungen der einzelnen Menschen und dem interaktiven Ganzen. Dabei ist es keine Frage, ob Ordnung durch Gestaltung oder spontan entsteht. 2.3. Ordnung als Resultat von Selbst-Organisation Soziale Systeme werden von Menschen für menschliche Zwecke geschaffen, gestaltet und geformt. Sie sind jedoch selbstorganisierende Systeme, die nicht wie Maschinen entworfen, geplant und konstruiert werden können. Ordnung ist das Resultat von Selbst-Organisation, die in humanen sozialen Systemen die bewußte Gestaltung von Strukturen einschließt. Eine Ordnung kann sehr verschiedenartig Zustandekommen und es können aus derselben Konstellation auch sehr verschiedenartige Ordnungsmuster entstehen. M i t denselben Strukturen und Prozessen lassen sich verschiedene

6 7

Vgl. Hayek, Studies, 1967; ders., Freiburger Studien, 1969 Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987; Ulrich/Probst, Self-Organization, 1984; Ashby, Requisite Variety, 1958, ders., Einführung, 1974

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Ordnungen und dieselbe Ordnung läßt sich mit verschiedenen Strukturen und Prozessen erreichen. 8 Organisieren als menschliche Gestaltungshandlung ist "natürlicher" Teil der Prozesse der Ordnungsentstehung, -aufrechterhaltung und -entwicklung, wie alle übrigen interaktiven Beziehungen eines Netzwerkes, die nicht als gestaltende Handlungen isoliert werden können. Wenngleich wir auch auf Erkenntnisse über Selbstorganisation in physikalischen und biologischen Systemen zurückgegriffen habe, um ein besseres Verständnis für das Phänomen zu gewinnen, so geht es hier nicht um eine Reduktion sozialer Systeme auf eine organismische oder physikalische Ebene. Die qualitativen Unterschiede humaner sozialer Systeme sind zu berücksichtigen. 9 Selbstorganisationprozesse erlauben die Erhaltung und Erhöhung des Anpassungsund Entwicklungspotentials eines Systems. Sie garantieren somit für die Anpassungsfähigkeit, die Evolution und die Entwicklung der Ordnung. Humane soziale Systeme sind zu evolutionären Änderungen der Organisation in beliebiger Richtung fähig, jedoch ist damit immer ein Wählen einer Konstellation von Struktur, Funktion und Umwelt verbunden. Zweckvolle soziale Systeme mit zweckvollen "Elementen" enthalten die Fähigkeit, willentlich zu handeln und bewußt oder unbewußt zu wählen. Jeder Mitarbeiter und jede Formale oder informale Gruppe ist fähig, zweckvoll zu handeln oder nicht zweckvoll zu handeln. Was immer getan wird oder geschieht, kann i m Resultat letztlich nicht präzise vorausgesagt werden. Aber jede Gestaltungsmaßnahme, auch wenn sie von einem Beobachter aus nicht erfolgreich ist, beeinflußt das System und hinterläßt ein verändertes System. 2A Die Charakteristika

selbstorganisierender

Systeme

Organisation in sozialen Systemen führt zu einer Ordnungsentstehung oder -zunähme oder zu eieiner "verbesserten Ordnung" (aus der Sicht des Beobachters). Phänomene der Ordnung, die nicht einfach als Resultat eines gestaltenden Teils verstanden werden können, sondern nur synthetisch, aus den Interaktionen aller Teile im System als Ganzes entstehen, sind zwar in den unterschiedlichsten physikalischen, biologischen oder sozialen Systemen festzustellen. Die Erkenntnisse aus diesen unterschiedlichen Systemen sind jedoch nicht durch Analogien einfach übertragbar. Selbstorganisation manifestiert sich in jeweils anderen Formen und Mechanismen. Jedoch sind m.E. wesentliche allgemeine Charakteristiken selbstorganisierender Systeme zu nennen, 1 0 auf die hier äußerst kurz hingewiesen werden soll:

8 9 10

Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Ackoff, Corporate Future, 1981; Gharajedaghi/Ackoff, Soziale Systeme, 1985 Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987

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Soziale Institutionen

-

Komplexität Selbstreferenz Redundanz Autonomie

a) Komplexität Selbstorganisierende soziale Systeme sind komplex, weil das Resultat Ordnung" eine Konsequenz integrierender Teile ist. Diese Aussage ist keineswegs trivial. Dafür lohnt sich ein kurzer Exkurs in die Darstellung trivialer und nicht-trivialer M a s c h i n e n . 1 1 Eine triviale Maschine (vgl. Bild 1) kann ganz einfach als Input-Funktion-Output-Operation dargestellt werden.

Triviales System

Nicht triviales System

Falls die Beziehung f zwischen χ und y invariabel ist, so erhalten wir für ein bestimmtes χ immer dasselbe y. Eine triviale Maschine ist daher -

im Verhalten vorhersagbar von der Geschichte unabhängig synthetisch deterministisch analytisch determinierbar.

In einer nicht-trivialen Maschine (vgl. Bild 2) wird - einfach gesagt - die Funktion durch den internen Zustand beeinflußt. Bei trivialen Maschinen erfolgt die Transformation eines Inputs in einen Output so, daß bei Kenntnis dieser beiden durch Ausprobieren die Transformationsprozesse rekonstruiert werden können. Bei nicht-trivialen Maschinen kann, trotz enormen Experimentieraufwandes mit verschiedenen In- und Output-Größen, nicht eindeutig auf die Transformationsprozesse geschlossen werden. Dies tritt 11

Vgl. v. Foerster, Principles, 1984; ders., Observing Systems, 1981

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Gilbert J.B. Probst

allein schon dadurch ein, daß sehr simple interne Transformationsstufen voneinander abhängig sind. Die vermeintliche Einfachheit der internen Transformationsprozesse trivialer Maschinen verleitet aber dazu, sie falscherweise als trivial zu behandeln. Es läßt sich zusammenfassend sagen: Nicht-triviale Maschinen sind in ihrem Verhalten -

synthetisch deterministisch von der Vergangenheit abhängig analytisch unbestimmbar analytisch nicht vorhersagbar.

Kurz gesagt weist eine nicht-triviale Maschine nicht einfach dieselben Antworten oder Outputs auf dieselben Stimuli zu einem späteren Zeitpunkt auf. Durch das Verhalten oder Handeln verändert die Maschine ihren internen Zustand. M i t der analytischen Unbestimmbarkeit gehen notwendigerweise Unvollständigkeit (i.S. von K. Gödel), Unsicherheit (i.S. von W. Heisenberg) und Unbestimmtheit (i.S. von A . Gill) einher. 1 2 Es ist kein Wunder, daß wir gerne trivialisieren und immer wieder in die Falle der Trivialisierung fallen. Triviale Maschinen sind einfach zu handhaben, zu manipulieren, zu verändern oder im Gleichgewicht zu halten. Aber triviale Maschinen sind nicht trivialisierbar oder verlieren gerade ihre Eigenschaften durch eine Trivialisierung. Wir dürfen das Verhalten sozialer Systeme nicht auf einige Organisationsbestimmungen reduzieren. Wir können auch nicht die Systeme öffnen und analysieren; ja meist ist nicht einmal klar, wo die Grenzen sind. I m Rahmen selbstorganisierender sozialer Systeme ist die Nichtreduzierbarkeit der Komplexität anzuerkennen. b) Selbstreferenz Selbstorganisierende Systeme sind operationeil geschlossen. Jedes Verhalten des Systems wirkt auf sich selbst zurück und wird zum Ausgangspunkt für weiteres Verhalten. Solche Systeme produzieren Eigenwerte oder Eigenverhalten. Die Aktivitäten solcher Systeme sind das Resultat innerer Kohärenzen, nicht aber oder einfach Reaktionen auf Einflüsse aus der Umwelt.13

12 13

Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Maturana/Varela, Autopoiesis, 1980; dies., Baum der Erkenntnis, 1987; Varela, Principles, 1979

Soziale Institutionen

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Damit ist eine vollkommen andere Erkenntnistheorie verbunden. Die Organisationsprozesse in sozialen Systemen sind selbstreferentiell, weil die Organisatoren" Teil des Systems sind, auf das sich die Handlungen, Maßnahmen, Regelungen usw. beziehen. Wir tun jedoch häufig so, als ob die Organisation vom zu gestaltenden System zu trennen sei. Damit ist die obengenannte Trivialisierung eng verbunden, denn wenn es ein vom Organisator zu trennendes System gibt, so ist ethisch die Verantwortung für die Gestaltung viel leichter wegzuschieben. c) Redundanz Im selbstorganisierenden sozialen System ist jeder Beteiligte ein Gestalter oder potentieller Gestalter. Damit entfällt eine Orientierung am Hierarchieprinzip (nicht Hierarchie an sich!) und Heterarchie wird zum Ordnungsprinzip. Es handelt sich um eine flexiblere, prozeßhafte und ganzheitliche Sichtweise. Damit gelangen automatisch alle Gestaltungsmaßnahmen zur Diskussion und nicht nur das formale Organisieren. Soziale Strukturen müssen Sinn machen, d.h. sinnvoll eingeordnet oder wahrgenommen werden können. Ich unterschiede daher zwei Dimensionen der Ordnungsbildung: eine materielle und eine symbolische. Diese sind zirkulär verknüpft und produzieren sich gegenseitig. 14 Die Gestaltungspotentiale sind über das System verteilt. Prinzipiell handeln im selbstorganisierenden System jene Elemente, die (am meisten) Information haben. I n der Gehirnforschung ist dieses Prinzip als "Principle of Redundancy of Potential Command" bekannt geworden. Redundanz ist Eigenschaft und Voraussetzung der Selbstorganisation. Hier wird das Potential geschaffen, daß aus den Teilen und Beziehungen heraus ein System sich selbst organisieren kann. Es ist deshalb durchaus von einem holonomischen Prinzip zu sprechen, indem möglichst viele Funktionen (des Gestaltens und Lenkens), das Ganze und die Teile organisiert werden. Ich spreche deshalb von einer Redundanz der T e i l e . 1 5 Mit der Schaffung eines solchen Potentials entsteht die Grundlage für Flexibilität, ein höheres Verhaltensrepertoire oder schlicht gesagt (potentielle) Varietät. Diese Charakteristik steht klar im Konflikt mit traditionellen Organisationsauffassungen , in denen etwa der Vorgesetzte als Quelle des Wissens angesehen wird. Die Ausrichtung konzentriert sich gegen oben, in der Entscheidungsfindung, Information, Kommunikation, Gestaltungserwartung usw. Redundanz ist hingegen hier so zu verstehen, daß mehrere Teile dasselbe tun können und damit mehr vorhanden ist als notwendig. Das Potential der Gestaltung oder Ordnungsproduktion ist über das System verteilt, nicht lokalisierbar, nicht eindeutig identifizierbar.

14 15

Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Trist, Evolution, 1981; ders., Perspective, 1981

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d) Autonomie Selbstorganisierende Systeme sind autonom. Autonomie liegt vor, wenn die Beziehungen und Interaktionen, die das System als Einheit definieren, nur das System selbst involvieren und keine anderen Systeme. 16 Dies bedeutet nicht gleichzeitig eine vollständige Unabhängigkeit. Susman (1976) hat im Rahmen seiner Untersuchungen über die Autonomie sozialer Systeme drei Klassen von Entscheidungen unterschieden, die folgende Faktoren betreffen: a) Unabhängigkeit, b) Selbstgestaltung und -Steuerung, c) Selbstregulierung. Der hier diskutierte Begriff der Autonomie im Rahmen der Selbstorganisation betrifft die letzten beiden Entscheidungsprozesse (b + c). Kein System, welches Teil eines umfassenderen, "ökologischen" Systems ist, kann vollkommen autonom i.S. einer Unabhängigkeit sein. Die Autonomie bezieht sich auf gewisse Kriterien. Gleichzeitig kann das System starken Einflüssen von außen ausgesetzt sein (Ressourcen, Absatzmarkt, Technologie, Wertstrukturen usw.). I m Mittelpunkt der Betrachtung selbstorganisierender Systeme hegt daher nicht Reaktion auf Umweltveränderungen, die Abhängigkeit von der Umwelt und eine entsprechende Interpretation des Varitätsgesetzes. I m Mittelpunkt stehen allgemein gesagt vernetzte Prozesse oder Interaktionen, die bestimmen, warum das System tut, was es tut (abhängig vom Interaktionsmuster, der Geschichte des Systems, den selbstinitiierten Operationen usw.). Selbstorganisierende Systeme sind komplex aufgrund ihrer dynamischen Vernetzung. Sie sind selbstreferentiell, weil die Interaktionen sich auf das System selbst beziehen und als relativ geschlossenes Netzwerk sich selbst gestalten, erhalten und entwickeln. Selbstorganisierende Systeme sind redundant, weil in allen Teilen viele Funktionen potentiell vorhanden sind und diese von vielen erfüllt werden (können). Sie sind autonom, weil sie letztlich nicht von außen gestaltet und gelenkt werden, sondern aus sich selbst heraus. Die Gestaltung und Lenkimg von Ordnungsprozessen ist das Resultat des Systems selbst. 2.5 Struktur,

Verhalten und Ordnung in sozialen Systemen

I n sozialen Systemen leben Menschen miteinander zusammen, deren Verhalten sowohl von unbewußten als auch bewußten Regeln, Zielen, Wünschen oder Einstellungen gelenkt wird. Jedes einzelne Individuum verfügt über ein immenses Verhaltensrepertoir. Wenn nun viele Individuen miteinander interagieren steigt die Zahl der möglichen resultierenden Verhaltensweisen des Ganzen ins Astronomische. Ganz abgesehen von der 16

Vgl. v. Foerster Self-organizing Systems, 1960; ders. Principles, 1984; ders., Erkenntistheorie, 1984; Varela, Principles, 1979

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Fragwürdigkeit dessen, daß die Möglichkeiten und Wünsche der Einzelnen durch "Fremdanordnungen" stark eingeschränkt werden müßten, impliziert die Idee einer "zentral" oder individuell gestalteten und gelenkten Ordnung, daß das dazu notwendige Wissen auch zentralisiert gesammelt und verarbeitet werden kann. Daß dem nicht so ist und nicht so sein kann, zeigen bereits bekannte einfachere Beispiele: 1 7 Wenn Ordnungsbildung als ein über das soziale System verteilter Prozeß verstanden wird, der nicht einzelnen Personen, Stellen oder Abteilungen zugesprochen werden kann, dann resultiert die "Konstruktion" eines komplexen Netzwerkes von zwischenmenschlichen Beziehungen aus einer großen Anzahl von Informations-, Kommunikations- und Handlungsströmen, die das Verhalten kanalisieren. Die begrenzte Verhaltensfreiheit ermöglicht ihrerseits eine strukturelle Weiterentwicklung der dem System inhärenten Ordnung. Struktur und Verhalten stehen in einer untrennbaren Wechselbeziehung miteinander. Verhalten wird als notwendige Folge der Systemstruktur betrachtet, die Struktur - und dies gilt für soziale Systeme in besonders offensichtlichem Maße - geht aus dem Geschehen und den Ereignissen hervor, die untereinander verbunden sind und auf sich selbst kreisförmig zurückwirken.Strukturen werden deshalb in einem viel weiteren Sinne verstanden, als dies in der betriebswirtschaftlichen Organisationslehre üblich i s t . 1 8 Die aus einer historischen Entwicklung heraus gewachsenen Ordnung kann nur mit Blick einerseits auf die momentan herrschende "statische" Struktur und die gleichzeitig fortlaufende Verhaltensdynamik verstanden werden. Eine Trennung dieses Struktur-Verhaltens-Zirkels kommt einer Paralyse durch Analyse gleich. 2.6 Dimensionen der Ordnungsbildung in sozialen Systemen Gestaltende Handlungen in zweckorientierten sozialen Systemen bedingen, daß Ordnung nicht nur auf einer materiellen Ebene entsteht und sich erhält, sondern diese auch geistig nachvollzogen interpretiert, "erklärt" und begründet werden kann. Ordnung wird damit verstanden. Den zu gestaltenden Strukturen soll also ein Sinn abgewonnen werden können. 1 9 Es sind daher zwei Dimensionen der Ordnungsbildung in sozialen Systemen zu beachten: -

17 18 19

Substantielles Gestalten/Handeln umfaßt alle Strukturierungsmaßnahmen auf einer materiellen Ebene. Darauf hat sich die Organisationslehre traditionsgemäß konzentriert. Mittels organisatorischer Hilfsmittel Vgl. Ashby, Requisite Variety, 1958; ders., Einführung, 1974 Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987 Vgl. Weick, Social Psychology, 1979

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und Verfahren soll ein strukturelles Muster die Handlungen in einem System auf die anzustrebenden Ergebnisse und die Erfüllung des Zwecks ausrichten, Fehlleistungen verhindern, Doppelspurigkeiten und unerwünschte (meist unökonomische) Verhaltensweisen ausschließen. -

Symbolisches Gestalten/Handeln dient hingegen auf einer geistig-sinnhaften Ebene der sinnvollen Interpretation substantieller Gestaltungsmaßnahmen. Diese letzteren können sich ohne eine orientierende und legitimierende Wirkung geistig-sinnhafter Strukturen nicht wirklich entfalten. Beide können sich hingegen wechselseitig verstärken und beeinflussen. Es muß dafür gesorgt werden, daß gemeinsame Interpretationen und Verständnis aus unendlich vielen Wirklichkeiten erwachsen können. Damit sprechen wir etwas für humane soziale Systeme Spezifisches an. Hierbei entsteht Kultur, die möglichst vielen Mitgliedern der Institution erlaubt, sich einzuordnen und zurechtzufinden. Die symbolische Struktur stellt als Orientierungshilfe eine höchst abstrakte und wirksame Ordnung dar, die sich in Artefakten, in der Sprache und im Handeln einer sozialen Institution manifestiert.

Beide Dimensionen - die materielle und die geistig-sinnhafte - müssen aufeinander abgestimmt und miteinander gekoppelt sein. 2 0 Nur allzuoft ist die Diskrepanz zwischen "expliziter" und "impliziter" Ordnung Ursache für institutionelle Mißerfolge, Unverständnis usw. 3. Was bewirkt Ordnung in sozialen Systemen? Ein soziales System erscheint uns als komplex, wenn wir es in seinen Verhaltensmöglichkeiten nicht mehr richtig im Griff haben. Wir verstehen das Verhalten nicht mehr ganz und wir können die Verhaltensweisen und Ergebnisse nicht sicher voraussagen. Wenn nun aber alle Systeme oder Teilsysteme alle potentiellen Verhaltensmögüchkeiten "ausspiele" würden, dann würden wir uns in der Welt gar nicht mehr zurecht finden. Dem ist nicht so. Die effektiven Verhaltensweisen sind bedeutend geringer, so daß wir unsere Um-Welt meist doch bewältigen können von wahrscheinlichen Zuständen und Prozessen ausgehen usw. So kann man üblicherweise erwarten, daß ein Vorgesetzter keine Ohrfeigen austeilt, wenn etwas schief läuft, auch wenn er potentiell diese Verhaltensmöglichkeiten hätte. Wir wissen auch, daß mit großer Wahrscheinlichkeit ein guter Geschäftsabschluß mit Befriedigung aufgenommen wird und vermutlich zu einer Belohnung führt. Wir können das Geschehen also ein-ordnen. Es "paßt" meist in ein erwartetes Ordnungs-Muster. Damit können wir auch hoffen, die Umwelt bewälti20

Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987

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gen zu können. Das heißt nicht, daß wir sie beherrschen, aber doch, daß wir Verständnis erreichen und eventuell Einfluß nehmen oder Vorsorge treffen können. Ordnung bewältigt Komplexität. Es ist daher eine wesentliche Aufgabe in sozialen Systemen, gestaltend Ordnung zu schaffen und lenkend Ordnung aufrecht zu erhalten. Dies geschieht nun einerseits auf einer materiellen Ebene durch das Entwerfen. Evaluieren und Implementieren von Organisationsmitteln, wie Organigrammen, Stellenbeschreibungen, Vorschriften usw. Ordnung ist jedoch komplementär auch auf der symbolischen oder geistig-sinnhaften Ebene gestaltend und lenkend zu schaffen und unter Kontrolle zu halten. Die Instrumente, die Ziele, das Geschehen, die Maßnahmen, die Einstellungen usw. müssen sinn-voll eingeordnet werden können. Nur dann gewährleisten sie eine effektive und effiziente Wirkung und führen zu Eigendynamik, Unterstützung und Verstärkung, die für das Funktionieren und das Verstehen sozialer Systeme notwendig sind. Ordnungsmuster, die wir wahrnehmen, übertragen Information. Es ist der Unterschied zwischen der Unordnung und dem Muster, der für uns eine Information darstellt. 2 1 U n d wo kein Ordnungsmuster ist, da ist auch keine Information, die Komplexität reduziert. V o n einem Ordnungsmuster gehen ganz bestimmte, für dieses Muster charakteristische Wirkungen aus. Aufgrund eines Musters können wir überhaupt Schlüsse ziehen (was nicht mit Prognosen zu verwechseln ist). Die Bildung von Ordnungsmustern ist aber auch das Grundphänomen für Anpassung, Evolution und Entwicklung. Wir gehen von bestehenden Mustern (Erwartungen, Organisationsformen usw.) aus, wenn wir von Veränderung oder "Verbesserung" sprechen. 4. Entwicklung als Phänomen selbstorganisierender sozialer Systeme 4.1. Der Begriff der Entwicklung Soziale Systeme erfüllen für ihre Umwelt einen Zweck. Sie geben an die Umwelt ein Produkt ab und versuchen auch gestaltend auf ihre Umwelt einzuwirken. Gleichzeitig nehmen sie aus der Umwelt Ressourcen auf und reagieren auf Umweltveränderungen oder -Störungen. Trotz dieser engen Wechselwirkung zwischen Umwelt und System läßt sich ein relativ geschlossenes Netzwerk herauskristallisieren, das relativ autonom sich selbst gestaltet, regelt und entwickelt. Soziale Systeme bleiben nicht immer gleich. Sie kehren häufig auch nicht einfach zu einem bestimmten Zustand oder Pfad zurück, sondern sie verändern sich grundsätzlich. Soziale Systeme können sich selbst so verändern 21

Vgl. Bateson, Ökologie, 1981

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z.B. in der Organisation, der Führung, usw., - daß sie ihre Funktionen und Werte besser oder neue wünschbare Funktionen und Werte erfüllen können: Sie sind entwicklungsfähig! Bei der Entwicklung geht es nicht einfach um die Auswahl von Verhaltensmöglichkeiten aus einem bestehenden Verhaltensrepertoire. Entwicklung umfaßt ein bewußtes oder unbewußtes Erweitern des Verhaltenspotentials und eine Neugestaltung oder Wahl von Zielen und Zwecken. Die eigenen Möglichkeiten können aus einem freien Willen heraus erweitert und verbessert werden. 2 2 E i n Thermostat, als ein Beispiel für ein technisches System, kann sich zwar an Störungen anpassen, indem er je nach Abweichung vom Z i e l (Temperatur) aus seinem bestehenden Repertoire ein Verhalten ableitet: Einschalten oder Ausschalten des Brenners. Aber er kann sich nicht grundsätzlich aus sich selbst heraus verändern und entwickeln. Biologische Systeme können zwar ihre Umwelt in beschränktem Maße beeinflussen oder wählen. Ein Tier kann sich seine Nische suchen oder die Umwelt so gestalten (z.B. Futtervorsorge, A r t des Nestbaus usw.), daß es überlebt oder leichter überlebt. Das Ziel bleibt aber gleich, nämlich überleben. Entwicklung bedeutet hier nicht einfach einen evolutionären Prozeß an sich. Vielmehr wird das Ergebnis eines solchen Prozesses einen qualitativen Unterschied darstellen. Dieser qualitative Unterschied bezieht sich auf die Erweiterung oder Erhöhung der Verhaltensmöglichkeiten an sich, wie auch deren sinnvolle, verständnisvolle und wünschbare Komponente. 2 3 Entwicklung und Wachstum sind damit nicht dasselbe. Wachstum ist eine größenmäßige oder zahlenmäßige Zunahme. Wachstum erfolgt in den meisten biologischen Systemen auf natürliche Weise und ohne Wahlmöglichkeiten. Bei den Menschen und deren sozialen Systemen kann die freie Wahl jedoch Wachstum hemmen oder fördern. Wachstum ist weder notwendig noch hinreichend für Entwicklung. Entwicklung hat weniger damit zu tun, wieviel wir haben, sondern vielmehr, was wir aus dem machen (können), was wir haben. Entwicklung hat mit der Fähigkeit zu tun, sich neues Wissen und Können anzueignen, neue Möglichkeiten absichtsgeleitet zu nutzen, neue Wünsche und Bedürfnisse zu entdecken und aufzugreifen, Ressourcenverbrauch zu mindern und das Angebot an Ressourcen sinnvoll auf neue Arten zu nutzen. Entwicklung bedeutet auch, daß noch nicht dagewesene Eigenschaften, Fähigkeiten und Beziehungen entstehen, geschaffen oder integriert werden. Entwicklung schließt in unserer Definition sinnstiftende ästhetische, moralische und/oder ethische Aspekte ein. M i t dem evolutionären Prozeß 22 23

Vgl. Ackoff, Corporate Future, 1981; Gharajedaghi/Ackoff, Soziale Systeme, 1985 Vgl. u.a. Probst, Selbstorganisation, 1987

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wird automatisch die Frage nach den Bindungen des Fortschritt gestellt. Welche Bedürfnisse werden in der Umwelt befriedigt bzw. welche Werte werden bei den betroffenen Mitgliedern in System und Umwelt realisiert. I n sozialen Systemen können wir wählen, was wir wollen und was wir tun. Deshalb ist Entwicklung auch nicht einfach zielorientierte Veränderung! Obwohl ein System vielleicht das Ziel erreicht, sprechen wir dennoch möglicherweise von einem Mißerfolg, weil wir wünschten, es wäre nicht geschehen oder das System wäre besser gar nicht erst ins Leben gerufen worden. Durch das Anlegen von Tiefwasserbrunnen, durch die Versprühung von Insektiziden usw., erreichen wir in einem Entwicklungsgebiet vielleicht ein Ziel (z.B. bessere Wasserversorgung, mehr Nahrungsmittel usw.), jedoch wünschten wir (später), diese Hilfemaßnahmen wären gar nicht erst in dieser Weise vorgenommen worden, wenn das System fast vollkommen zusammenbricht. 2 4 Entwicklung hängt deshalb eng mit Reflexion, Hinterfragen, Selbstthematisierung, Werten oder einfach mit "Lernen" zusammen. Die Grundstrukturen zu verändern und neue Fähigkeiten zu erfinden, heißt Lernen. U n d immer schneller neue Potentiale schaffen und sich anpassen oder verändern zu können, kann mit Lernen zu lernen gleichgesetzt werden. Entwicklung ist etwas, das nicht von jemand anderen als dem System selbst gemacht oder realisiert werden kann. Entwicklung ist Resultat und Phänomen des Systems selbst. Entwicklung kommt nur im selbstorganisierenden System vor. Maschinen werden demgegenüber weitgehend von außen gestaltet und geregelt, und bei ihnen kann nur in einem sehr beschränkten Rahmen von Lernen gesprochen werden. Biologische Systeme dagegen passen sich selbsttätig an und evolvieren. Soziale Systeme sind hingegen mehrstufige selbstorganisierende Systeme und in höchstem Maße entwicklungsfähig. Sie lernen nicht nur, weniger verletzlich zu werden, sondern finden häufig immer schneller neuartige sinnvolle Wege und Lösungen, stellen ihre Handlungen und Funktionen in Frage usw. 42 Entwicklung durch Lernen und Verlernen, oder: die Voraussetzungßr Entwicklung Entwicklung erfordert nicht einfach einen Veränderungsprozeß im Sinne eines Versuch-Irrtums-Prozesses. Entwicklung ist, wie oben beschrieben mit einem qualitativen Aspekt der Erweiterung und/oder Vertiefung verbunden. Systeme können lernen, wenn entsprechende Kontexte vorhanden sind. Dafür müssen viele Wirklichkeiten geschaffen werden können. Es muß Offenheit bestehen, Reflexion gefördert werden. Konflikte und Expe-

24

Vgl. die Beispiele bei Vester, Neuland, 1980; ders., Systemmanagement, 1985

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rimente müssen erlaubt und ausgetragen werden, Informationen müssen diffundieren, Innovation unterstützt werden usw. Bevor oder damit gelernt werden kann, muß aber auch die Fähigkeit vorhanden sein, zu verlernen. Systeme dürfen also nicht für immer starr bleiben und am Bestehenden festhalten, sondern sie müssen bereit sein, auch zu verlernen. Bestand und Veränderung sind komplementäre Voraussetzung für Lebensfähigkeit und Entwicklung eines sozialen Systems. 25 Häufig wird in sozialen Kontexten aber genau das Gegenteil hervorgekehrt und sehr einseitig reagiert. Gerade in turbulenten Zeiten werden dann etwa Konflikte unterdrückt, Innovationen ausgeschlossen, Veränderungen verhindert, Wahlmöglichkeiten vermindert, Probleme negiert oder verniedlicht u s w . 2 0 Damit wird Entwicklung verhindert. Beispiele finden wir in den empirischen Sozialwissenschaften viele. Negativ ausgedrückt, fehlt in sozialen Institutionen die Entwicklungsfähigkeit, wenn -

sehr eingeengte, eindimensionale Wahrnehmungen vorherrschen (Ideologien, Zielsetzungen, Wertstruktur) positive Wechselwirkungen zu einer unabwendbaren Aufschaukelung oder einem "Einfrieren" führen ("Mehr - desselben" als Lösungsansatz) Risiken vermieden, Konflikte unterdrückt, Probleme verschwiegen werden Probleme außerhalb des System lokalisiert werden (z.B. Markt- oder Strukturproblem als Ausrede; "Sündenbocktheorie") Wahlmöglichkeiten ausgeschlossen, Veränderungen vermieden werden usw.

I n solchen Fällen meint man dann etwa, daß noch mehr Wachstum die Lösung aller Probleme sei, die Handlungsmöglichkeiten (Freiheiten) nicht nur für Krisenzeiten stark zu reduzieren seien, Investitionen und Innovationen zurückgestellt werden usw. Für die Entwicklung und die Förderung der Entwicklungsfähigkeit müssen soziale Institutionen also lernen und lernen zu lernen. 2 7 Lernen umfaßt alle interaktiven Prozesse, die a)

E i n System innerhalb seiner gegebenen Regelsysteme möglichst schnell auf einen gewünschten Zustand zurück- oder hinführen bzw.

25

Vgl. Argyris/Schön, Organizational Learining, 1978; Argyris, Usable Knowledge, 1983; Hedberg, How Organizations Learn and Unlearn, 1981; Jelinek, Innovation, 1979 Vgl. Nystrom/Starbuck, Avoid Organizational Crisis, 1984; Starbuck, Congealing Oil, 1982 Vgl. Probst, Selbstorganisation, 1987

26 27

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durch eine Erhöhung der Verhaltensmöglichkeiten ein passendes Potential der Anpassung schaffen; b)

ein System dazu führen, die Normen, Werte, Regeln usw. zu verändern, um neue innovative Muster zu bilden oder das Potential für derartige Veränderungen zu vergrößern.

"Lernen zu lernen" beschreibt den Prozeß, daß ganz allgemein eine Verbesserung im Lernen, Verlernen, kritischen Reflektieren usw. erfolgen kann. Es stellt sich ja häufig nicht einfach die Frage, ob ein System überhaupt lernen kann, sondern ob es schnell genug lernt. Nun ist Lernen nicht übertragbar oder machbar. Jeder muß selbst lernen und damit sich selbst entwickeln. Wie schon Galileo Galilei sagte: "Man kann einen Menschen nicht lehren. Man kann ihn nur helfen, es in sich selbst zu entdecken". Es ist klar, daß sich Individuen entwickeln können. Aber können dies auch Institutionen? U n d ist Lernen von Institutionen nicht einfach auf die Summe dessen zu beschränken, was die Mitglieder des Systems gelernt haben? Es sind doch immer Individuen, die lernen. Auch Institutionen lernen oder lernen gerade n i c h t . 2 8 U n d dieses Lernen ist etwas anderes als die Summe ihrer Teile. Dabei geht es keineswegs darum, daß Institutionen mehr gelernt haben, mehr Wissen speichern können usw. Institutionen wissen oft auch weniger als die individuellen Beteiligten im System. Manchmal scheint es, als ob Institutionen das nicht lernen, was jedes Mitglied weiß. Wenn Lernen nicht gemacht werden kann, dann stellt sich die Frage, wie w i r als Gestalter und Lenker i n sozialen Systemen einen Kontext (mit)schaffen können, der Entwicklung erlaubt und fördert. Dazu gehört sicher in grundlegender Weise ein ganzheitliches Denken 2 0 Z u den Faktoren eines positiven Feldes für die Entwicklung gehören: -

28 29

eine Vielfalt an Perspektiven oder Wahrnehmungsstandpunkten Offenheit des Systems Förderimg von Interaktionen in quantitativer und qualitativer Hinsicht Erkennen und Denken in Chancen und Möglichkeiten kontinuierliches Reflektieren über die materiellen und geistigen Strukturen und Funktionen.

Vgl. die Literaturangaben von Argyris/Schön, 1978; Jelinke, 1979; Starbuck, 1982; Hedberg, 1981; Nystrom/Starbuck, 1984 Vgl. Ulrich/Probst, Self-Organization, 1984

Entstehung und Wandel von Organisationen. Ein evolutionstheoretisches Konzept Von Alfred Kieser, Mannheim 1. Konstruktion und Evolution als alternative Erklärungskonzepte "Es gibt zwei Arten, das Muster menschlicher Aktivitäten zu betrachten ... Die erste Ansicht behauptet, daß menschliche Institutionen menschlichen Zwecken nur dienen können, wenn sie absichtlich für diese Zwecke entworfen worden sind, oft auch, daß die Tatsache, daß eine Institution existiert, Beweis dafür ist, daß sie für einen Zweck geschaffen worden ist; und immer, daß wir die Gesellschaft und ihre Institution so umformen sollten, daß alle unsere Handlungen gänzlich von erkannten Zwecken geleitet werden. Den meisten Menschen erscheinen diese Behauptungen beinahe selbstverständlich und eine Haltung auszumachen, die allein eines denkenden Wesens würdig ist... Die andere Ansicht, die sich seit der Antike langsam und allmählich entwickelt hat, aber eine gewisse Zeit lang beinahe völlig von der berückenderen konstruktivistischen Ansicht unterdrückt worden ist, war, daß jene Geordnetheit der Gesellschaft, die die Wirksamkeit der individuellen Handlung erheblich verstärkte, nicht allein Institutionen und Praktiken zuzuschreiben war, die zu diesem Zweck erfunden oder entworfen worden waren, sondern einem Prozeß zuzuschreiben war, der zunächst als ein 'Wachstum', später als 'Evolution' beschrieben wurde, einem Prozeß, in dem Praktiken, die zunächst aus anderen Gründen oder sogar rein zufällig angenommen wurden, erhalten blieben, weil sie die Gruppe, in der sie entstanden waren, befähigten, sich gegenüber anderen durchzusetzen." 1 Auch für eine Darstellung der Geschichte der Entwicklung von Organisationen bieten sich diese beiden Erklärungsmuster an. Sie könnte zum einen geschrieben werden als eine Geschichte, die vor allem von ingeniösen Erfindern oder Organisationsgestaltern wie Jakob Fugger, Werner von Siemens, Fayol, Krupp oder Sloan bestimmt wurde. Sie könnte aber auch geschrieben werden als eine Geschichte, in der vor allem Zufall, Versuch und Irrtum sowie das Lernen aus Erfahrung die Entwicklung bestimmten. Da wir den folgenden Ausführungen Hayeks zu den Grenzen rationaler Gestaltung komplexer sozialer Systeme zustimmen, tendieren wir eher zur zweiten Auffassung: "Vollständige Rationalität der Handlung im cartesischen Sinne verlangt vollständige Kenntnis aller relevanten Tatsachen. Ein 1

Hayek, Verfassung, 1971, S. 23 f.

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Planer oder Ingenieur benötigt alle Daten und volle Macht, sie zu kontrollieren oder zu manipulieren, wenn er die materiellen Objekte so organisieren soll, daß sie das beabsichtigte Resultat hervorbringen. Aber der Erfolg des Handelns in der Gesellschaft hängt von mehr besonderen Tatsachen ab als irgendjemand möglicherweise kennen kann. U n d infolgedessen beruht unsere ganze Zivilisation darauf- und muß darauf beruhen -, daß wir vieles glauben, von dem wir nicht wissen können, ob es im cartesischen Sinne wahr ist". 2 Insbesondere halten wir einen evolutionstheoretischen Ansatz für angemessen. Der Vorteil einer evolutionstheoretischen Interpretation der historischen Entwicklung von Organisationen besteht vor allem darin, daß sie auf rationale Organisationsgestalter nicht angewiesen ist. Für das Zustandekommen evolutionärer Prozesse ist zunächst lediglich erforderlich, daß es überhaupt zu Variationen organisatorischer Strukturen und Verfahren kommt. Solche Variationen können beispielsweise als "Kopierfehler" auftreten: Organisationsgestalter versuchen, Verfahren oder Strukturen anderer Organisationen zu kopieren, schaffen es aber nicht, diese fehlerfrei zu übertragen. Zufällige Variationen sind oft auch das Ergebnis geplanten Wandels: Da die Gestalter die Konsequenzen geplanter Änderungen nicht vollständig absehen können, ergeben sich oft ganz andere als die geplanten Effekte: Aus gezielten werden zufällige Variationen. I m Prozeß der Selektion, der ebenfalls nicht auf rationale Organisationsgestalter angewiesen ist, erhalten dann solche organisatorischen Verfahren und/oder Strukturen, die eine überlegene Problemlösungsfähigkeit besitzen, einen höheren Reproduktionswert - sie verbreiten sich schneller als weniger effektive; die "besseren" Verfahren verdrängen die "schlechteren": Organisationen, die leistungsfähigere Verfahren einsetzen - wie auch immer diese zustandegekommen sind, ob durch Zufall oder bewußte Gestaltung -, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit erfolgreich er als Organisationen, die nicht über solche Verfahren verfügen. Sie haben eine größere Überlebenschance. Hinzu kommt, daß ihre Strukturen und Verfahren bevorzugt von weniger erfolgreichen Organisationen kopiert werden - beispielsweise indem ihre Mitarbeiter abgeworben werden und die erfolgreichen Verfahren auf die abwerbende Organisation transferieren. Nicht daß Organisationsgestaltern und ihrem Wissen überhaupt kein Platz in einem evolutorischen Konzept organisatorischen Wandels zukäme: Sie können zur Erhöhung der Evolutionsgeschwindigkeit von Organisationen beitragen. Ihr Wissen über die Gestaltung von Organisationen kann zum einen bewirken, daß die Wahrscheinlichkeit des Auftretens von Variationen mit einer überlegenen Problemlösungskraft erhöht wird. Zum ande2

Hayek, Verfassung, 1971, S. 27

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ren kann es die Wahrscheinlichkeit erhöhen, daß leistungsfähigere Verfahren bei anderen Organisationen identifiziert, und ohne größere Fehler kopiert werden. Aber auch der informierteste Organisationsgestalter kennt nicht alle Faktoren, die den Erfolg von Organisationen determinieren. Dessen eingedenk wird er nie Organisationen, etwa eine Unternehmung, völlig neu - d.h. völlig anders als bestehende Unternehmungen - gestalten. Er wird immer auch bewährte Strukturen und Verfahren übernehmen, ohne begründen zu wollen und zu können, daß es keine effektiveren Alternativen gibt. Wann immer Organisationsgestalter am Werke waren, haben sie nie alle Elemente der Organisation einer rationalen Überprüfung und Gestaltung unterziehen können; immer mußten sie sich in einem großen Umfang auf überlieferte Strukturen und Verfahren verlassen. Ihre Verbesserungsversuche galten immer nur einzelnen Elementen der Organisation. Bei ihren Versuchen, Strukturen und Verfahren effektiver zu gestalten, konnten sie auch nie sicher sein, nicht auch ungewollte Effekte auszulösen. Der Zufall spielte immer eine gewisse Rolle. Aus diesen Gründen erscheint eine evolutionstheoretische Interpretation des Wandels von Organisationen eher angemessen als eine konstruktivistische. 2. Kurze Entwicklungsgeschichte einer Theorie der kulturellen Evolution vor Darwin "Darwinistische" Konzepte gab es in den Gesellschaftswissenschaften schon lange Zeit vor dem Erscheinen von Darwins "The Origin of Species" (1879). 3 Sieht man von ersten evolutionären Denkfiguren ab, wie sie sich in den Schriften von Aristoteles, Augustinus und einiger mittelalterlicher Scholastiker nachweisen lassen, so stehen am Beginn dieser Tradition die Moralphilosophen Mandeville (1670-1733) und Hume (1711-1766).* In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wurde das sozial-evolutionäre Denken vor allem von A d a m Smith und A d a m Ferguson weitergeführt. 5 Darwin wurde von diesen Ansätzen angeregt. So weist er in seinem Hauptwerk darauf hin, daß er "die Lehre von Malthus auf das gesamte Tier- und Pflanzenreich anwendet". 6 Der Erfolg der biologischen Evolutionstheorie gab dann aber wiederum sozialwissenschaftlichen Evolutionskonzepten einen mächtigen Auftrieb: "Darwin (hatte) als Naturwissenschaftler den unschätzbaren Vorteil ..., (einzig) exakte Realititätserfassung für sich beanspruchen zu können. Alle, die eine gesellschaftliche Entwicklungslehre ver3 4 5 6

Neudruck: Cambridge, Mass. 1967, deutsche Ausgabe: Stuttgart 1967 Bock, Darwin and social science, 1955, S. 123-144; Hayek, Verfassung, 1971, 38 ff; Wie land, Entwicklung, 1975, S. 199-228 Vgl. Lehmann, Adam Ferguson, 1960 Vgl. Lehmann, Adam Ferguson, (deutsche Ausgabe), 1960, S. 27

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traten, wollten sich im Dunstkreis dieser wissenschaftlichen Reputation ansiedeln". 7 I m Verlauf des 20. Jahrhunderts bildeten sich verschiedene sozialwissenschaftliche Ansätze der Evolution heraus. Der klassische Sozialdarwinismus eines Herbert Spencer nahm in der Entwicklung zu einer Lehre der Rassenhygiene eine fatale Wende.® Sie lieferte die "wissenschaftliche" Grundlage für die Rassenpolitik des Dritten Reiches. Eine oft anzutreffende emotionale Zurückweisung evolutionstheoretischer Argumentation in der Scientific Community der Sozialwissenschafter dürfte auf diese Entwicklung zurückzuführen sein. 3. Das Grundmodell evolutionärer Prozesse Der Irrtum der Sozialdarwinisten bestand darin, soziale Prozesse in direkter Analope zum Prozeß der biologischen Evolution erklären zu wollen. Manche moderne Ansätze erliegen dieser Irrtum noch immer. Angemessener ist es jedoch, die logische Struktur des darwinistischen Entwicklungsmodells herauszuschälen, ein synthetisches Grundmodell evolutionärer Prozesse zu entwerfen, und dieses Modell dann in einem zweiten Schritt auf die spezifischen Bedingungen sozialer Systeme anzuwenden. Es sind in diesem zweiten Schritt die sozialen Mechanismen der Variation, Selektion und Reproduktion zu identifizieren. Diese können im Prinzip ganz andere als die biologischen sein. 0 Die elementaren Begriffe und Thesen des synthetischen evolutionstheoretischen Modells sind die folgenden: 1 0 1) Gegenstand einer evolutionstheoretischen Analyse bilden Individuen (Einheiten), die einer Population angehören und sich in einer bestimmten Umwelt befinden. Die Angehörigen einer Population sind dadurch gekennzeichnet, daß sie in der Auseinandersetzung mit ihrer Umwelt die gleichen Probleme zu lösen haben. Ein Umweltproblem von Schmetterlingen ist beispielsweise, daß sie von Eidechsen gefressen werden. 2) Individuen einer Population haben A n t e i l an einem gemeinsamen "Genpool". Der Genpool umfaßt alle Eigenschaften, mit denen die Individuen in ihrer Auseinandersetzung mit der Umwelt bestimmte Problemlösungen finden oder konstruieren. Er bestimmt die "genetischen" Merkmale der Individuen. Die biologischen Gene der Schmetterlinge

7 8 9 10

Hettlage, Variationen, 1982, S. 109-125,113 Vgl. Zmarzlik, Sozialdarwinismus, 1963, S. 246-273 Lau, Gesellschaftliche Evolution, 1981, S. 44; Childe, Soziale Evolution, 1975, S. 180; Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 105 ff. Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 55 ff.

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legen u.a. auch die Musterung der Flügel fest, die der Tarnung dient. Jedes Individuum weist einen Teil, niemals aber alle Merkmale des Genpools auf. Diese Auswahl von Merkmalen - der Genotyp - legt den Spielraum seiner Problemlösungen und seiner sichtbaren Eigenschaften - des Phänotyps - fest. Der Genotyp bildet sozusagen den Konstruktionsplan des Individuums. Phänotypische Merkmale des einzelnen Schmetterlings sind neben der Musterung der Flügel beispielsweise auch die Fähigkeit, Bedrohungen zu erkennen, und die einprogrammierten Verhaltensroutinen. 3) Evolutionäre Prozesse können nur auftreten, wenn die Individuen die Fähigkeit zur Selbstreplikation oder Reproduktion besitzen. I m Prozeß der Selbstreplikation wird vom Genotyp eines Individuums eine Kopie gefertigt, die zur Grundlage eines neuen Individuums wird. Meistens werden Kopien der Genotypen mehrerer Individuen rekombiniert, so daß der Genotyp des neuen Individuums keine exakte Kopie eines anderen Individuums darstellt. Diese Rekombination führt zu Variationen. 4) Variationen kommen aber nicht nur durch Rekombinationen zustande, es können auch durch Mutationen oder durch Innovationen zufällig neue genetische Eigenschaften auftauchen oder alte Eigenschaften verschwinden. Die Variationen, die durch Rekombinationen oder durch Mutationen ausgelöst werden, können sich auf die Fähigkeit der Individuen auswirken, ihre Umweltprobleme erfolgreich zu meistern, ihre adaptiven Ziele zu erreichen. Ein Schmetterling, der eine bessere Tarnung hat, wird sein adaptives Ziel "Überleben" besser erreichen als weniger gut getarnte Artgenossen. Die adaptiv erfolgreichsten Populationsmitglieder besitzen die besten Reproduktionschancen und nehmen dadurch auch stärker Einfluß auf die Eigenschaften des Genpools und in weiterer Folge auf die phänotypische Gestalt der Population. Eine Erklärung des Wandels von Populationsmerkmalen besteht aus mehreren Schritten: "Ausgangspunkt sind die genetischen Merkmale der Populationsmitglieder, die durch eine Konstruktionshypothese mit phänotypischen Merkmalen, d.h. ihrem faktischen Problemlösungsverhalten, in Verbindung gesetzt werden. I n einem weiteren Schritt muß durch eine allgemeine Selektionstheorie der unterschiedliche Problemlösungserfolg der individuell verschiedenen Phänotypen, d.h. ihr adaptiver Erfolg oder ihr Selektionswert in einer gegebenen Umwelt bestimmt werden. I n einem dritten Schritt kann dann aus diesem unterschiedlichen Selektionswert - eine entsprechende Reproduktionsquote und gleichbleibende Umwelt-Bedingungen vorausgesetzt - auf den erklärungsbedürftigen Sachverhalt, die

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faktische Verbreitung eines bestimmten Merkmals, d.h. den Reproduktionserfolg dieses Merkmals in der Population, geschlossen werden." 1 1 4. Die Evolution des Handelns Die Evolution von Organismen ist an die biologische Reproduktion gekoppelt. Dies bedeutet, daß die Anpassungsgeschwindigkeit von Populationen durch den Rhythmus des Generationenwechsels begrenzt ist. M i t der Ausbildung des bewußten Handelns konnte das Tempo der Evolution von Verhaltensweisen beträchtlich gesteigert werden. Die Basismechanismen der Evolution des Handelns sollen an einem Beispiel aufgezeigt werden: Stellen wir uns vor, ein "Wilder" würde versehentlich oder aufgrund eines genialen Einfalls eine Keule bei der Jagd einsetzen, während seine Stammesgenossen noch die bloßen Hände oder Steine benutzen. Diese Innovation verbessert seine Nahrungssituation und damit seine Überlebenschancen. Stammesgenossen sehen, daß die neue Technik vorteilhaft ist, und kopieren sie. Sobald ein solches Kopieren von Handlungen - ein Lernen - stattfindet, hängt Evolution des Handelns nicht mehr unmittelbar von der Verbesserung der biologischen Reproduktionschancen von Individuen ab. Regeln, Normen, Vorschriften, die der Erzeugung von Handlungen dienen, können nun relativ unabhängig von der Reproduktion von Individuen selbst einer Selektion unterworfen werdend 2 Handlungen, die sich in bestimmten Situationen als erfolgreich erweisen, werden in diesen Situationen mit höherer Wahrscheinlichkeit wiederholt und von anderen Individuen kopiert. Das gilt nicht nur für Jagdverfahren in "primitiven" Gesellschaften. Ein Unternehmer, der seine Preise permanent zu niedrig kalkuliert, wird über kurz oder lang pleite gehen. Unternehmer werden eher solche Kalkulationsverfahren übernehmen, die sich als erfolgreich erweisen. Die Selektionsfaktoren für Handeln sind als Normen oder in Institutionen in der Gesellschaft verankert. Sie sind ebenfalls Ergebnisse von evolutorischen Prozessen. U m beispielsweise erfolgreiche Jagdtechniken identifizieren zu können, muß die Norm: "Ein Jäger sollte eine möglichst hohe Jagdbeute erzielen" allgemein akzeptiert sein. Nur mit Hilfe einer solchen Norm oder eines solchen Kriteriums können die Stammesangehörigen unseres Beispiels erfolgreiche Jagdtechniken identifizieren und gezielt kopieren. Wenn jedes Individuum erst für sich Erfahrung mit verschieden Jagdtechniken machen müßte, um herauszufinden, welche in welcher Weise erfolgreich sind, würde sich in diesem Bereich Handeln mit einem höheren Problemlösungspotential nur sehr langsam verbreiten. Der Unternehmer unse11 12

Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 58 Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 61 ff.; Lau, Gesellschaftliche Evolution, 1981, S. 51 ff.; Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 135 ff.

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res anderen Beispiels scheitert mit seinem mangelhaften Kalkulationsverfahren letztlich an der Konkurrenz des marktwirtschaftlichen Systems, einem ebenfalls gesellschaftlich institutionalisierten Selektionsmechanismus. Was passiert nun aber, wenn sich in Gesellschaften widersprüchliche Normen herausbilden? Nehmen wir einmal an, die Jäger unseres Beispiels ernähren sich nicht nur von ihrer Jagdbeute, sondern auch von Früchten und W u r z e l n . 1 3 Selektionskriterium für diese Tätigkeit könnte die Norm sein: "Ein Sammler sollte möglichst viele Früchte und Wurzeln sammeln." Beide Normen oder Selektionskriterien können nun nicht unabhängig voneinander verfolgt werden: So bedeutet die Maximierung der Jagdbeute, daß keine Zeit und Energie mehr für die Sammlertätigkeit übrig bleibt, und umgekehrt. Es ist also anzunehmen, daß irgendein Kompromiß dieses Zielkonflikts institutionalisiert wird. Man kann sich beispielsweise vorstellen, daß die Stammesmitglieder zu bestimmten Zeiten auf die Jagd gehen und zu anderen Zeiten sammeln. Eine andere Möglichkeit besteht darin, daß Männer das Jagen für sich reservieren und die Frauen mit Sammeln beschäftigen. Wie auch immer: Hat sich eine Differenzierung von Selektionskriterien herausgebildet, so bedarf es weiterer Selektionskriterien höherer Ordnung die die ausdifferenzierten Handlungs- bzw. Wissensbereiche und die sie kontrollierenden Selektionskriterien erster Ordnung integrieren und legitimieren. Nehmen wir an, in unserem Beispiel habe sich die Regelung herausgebildet, daß die Männer auf die Jagd gehen und die Frauen sich vorwiegend dem Sammeln widmen. Nehmen wir weiter an, daß Jagen von den Gesellschaftsmitgliedern aus bestimmten Gründen bevorzugt wird. Wie kann sichergestellt werden, daß die institutionalisierte Arbeitsteilung stabil bleibt? Es könnte das Problem auftreten, daß die Frauen beständig versuchen, ebenfalls zu jagen, weil diese Tätigkeit höher bewertet wird. Sie auf die "Sammlerrolle" zu verweisen, wird schwierig, wenn man (Mann) nicht gute Gründe dafür hat. Weltbilder, Mythen, allgemeine gesellschaftliche Werte usw. stellen solche guten Gründe zur Verfügung. I n unserem Beispiel könnte man sich etwa vorstellen, daß zur Legitimation der Arbeitsteilung nach Geschlechtern ein Mythos herangezogen wird, der erklärt, daß die männlichen Gesellschaftsmitglieder Götter erzürnen, wenn sie Früchte sammeln, und daß Frauen wiederum andere Götter erzürnen, wenn sie jagen. Weltbilder - Interpretationen der Welt - stellen Regeln und Theorien über die Umwelt zur Verfügung mit deren Hilfe Individuen bestimmte Antworten auf von der Umwelt ausgehende Fragen oder Probleme konstruieren, die sich aus der subjektiven Unsicherheit des Individuums über die materielle oder soziale 13

Dieses Beispiel stammt aus Lau, Gesellschaftliche Evolution, 1981, S. 61 f.

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Welt ergeben.** I n unserem Beispiel entstünde Unsicherheit, wenn die Frauen und Männer immer neu entscheiden müßten, wer jagen und wer Früchte sammeln soll. Die Götter befreien die Individuen von dieser Unsicherheit. Heute sind Mythen in weiten Lebensbereichen durch Wissenschaft ersetzt worden. Beispielsweise wird Unsicherheit über die "richtige" Form der Arbeitsteilung vermieden, indem Organisationsprinzipien oder Organisationstheorien eingesetzt werden. I n unserem evolutorischen Konzept haben wir bislang vier Ebenen unterschieden: Handlungen; Wissen, das unmittelbar zur Erzeugung von Handlungswissen dient (Rezeptwissen); Wissen, das zur Bewertung von Handlungswissen dient (institutionalisierte Selektionskriterien) und Wissen, das die Selektionskriterien integriert und legitimiert (Weltbilder, Theorien) (Abb.l).

Weltbilder, Theorien

Selektionskriterien

Handlungswissen (Rezeptwissen)

Handlungen

Abb. 1: Ebenen sozialer Evolution

Wie ist nun die Evolution des Handelns unter Berücksichtigung der verschiedenen Ebenen zu erklären? Änderungen im Handeln werden einmal durch Änderungen der Umwelt ausgelöst. Wenn sich in unserem Jägerund Sammlerbeispiel die Klimabedingungen ändern, so führt dies zu Änderungen des Handlungswissens. Beispielsweise werden sich die Techniken des Hausbaus ändern. Genauer: bisherige Techniken des Hausbaus verlieren ihre Problemlösungskraft, neue Techniken, seien sie zufällig oder geplant zustandegekommen, erhalten einen höheren Selektionswert im Hin-

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Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 68

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blick auf relevante Selektionskriterien wie beispielsweise "Schutz vor Nässe". Wenn neuartige Probleme auftreten, so werden sich auch die institutionalisierten Selektionskriterien ändern - tradierte Selektionskriterien sind u.U. nicht mehr anwendbar; neue Selektionskriterien werden sich herausbilden. Naht beispielsweise eine Eiszeit, wird "Schutz vor Kälte" ein Problem. Wenn es zu Widersprüchen zwischen Selektionskriterien kommt, muß sich auch das Weltbild ändern, um die Anpassung an die neue Umwelt zu stabilisieren. Der Variationsspielraum für Handlungswissen wird ganz entscheidend in den Weltbildern und dem allgemeinen Wissen - den Theorien - bestimmt. Ist das Weltbild beispielsweise ein magisches, dann schrecken Menschen vor dem Ausprobieren neuer Techniken und Handlungsweisen zurück, weil sie fürchten müssen, die Naturgötter zu erzürnen. Sind die Götter in einem Himmel angesiedelt - ist die Natur "entzaubert" -, nimmt der Handlungsspielraum der Individuen erheblich zu. Die Beherrschung der Natur kann auf der Basis eines Weltbilds, das gestaltende Eingriffe in die Natur auf der Basis bewährter Regeln, beispielsweise Regeln zur Bewässerung und zur Tierzucht, zuläßt, gesteigert werden. Verfügen Individuen über bewährte naturwissenschaftliche Theorien, so können sie mit noch größerer Treffsicherheit Antworten auf von der Umwelt ausgehenden Probleme generieren. Sie können beispielsweise durch wissenschaftliche Züchtungsmethoden und durch wissenschaftliche Düngeverfahren die Nahrungsmittelproduktion noch weiter steigern. I n diesem Sinne bestimmen Weltbilder das Lernpotential von Gesellschaften. 15 Wie aber ist nun die Veränderung von Weltbildern zu erklären, die in unserem Konzept die allgemeinsten Selektionskriterien abgeben, für die es also keine Selektionskriterien höherer Ordnung gibt? Zunächst können wir davon ausgehen, daß in Gesellschaften meist mehrere Weltbilder nebeneinander existieren. Eines davon wird in der Regel das dominierende sein. Eine Veränderung im Handlungswissen kann nun dazu führen, daß der Selektionswert eines bestimmten, nicht dominierenden Weltbildes verbessert wird, daß sich dieses Weltbild auf Kosten des dominierenden stärker verbreitet. Nehmen wir an, das dominierende Weltbild einer Gesellschaft tabuisiere die Verwendung von M e t a l l . 1 6 Ein kluger und mutiger Mensch habe nun in dieser Gesellschaft eine Metall-Jagdwaffe hergestellt, deren Überlegenheit offensichtlich ist. Die Mitglieder der Gesellschaft, die einem alternativen, Metall nicht tabuisierenden Weltbild anhängen, können sich dieser Waffe bedienen; u.U. erreichen sie dank ihrer überlegenen Waffentechnik eine führende Stellung und damit setzt sich auch ihr Weltbild durch. E i n anderes Beispiel: Das dominierende Weltbild porträtiere die 15 16

Vgl. Lau, Gesellschaftliche Evolution, 1981, S. 69 Auch dieses Beispiel stammt aus Lau, Gesellschaftliche Evolution, 1981, S. 104

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Welt als runde Fläche. Eine Minderheit teile ein Weltbild, in dem die Welt als Kugel erscheint. Wenn letztere Gruppe ihr Weltbild mit erfolgreichem Handeln stützen kann, indem beispielsweise einige ihrer Mitglieder in die "falsche Richtung" nach Indien absegeln und doch ankommen, so sind damit die Voraussetzungen geschaffen, daß dieses Weltbild sich auf Kosten des dominierenden verbreiten kann. Der Selektionswert von Varianten auf der Ebene der Weltbilder wird also auch von Konstellationen auf der Ebene des Handlungswissens beeinflußt. Generell gilt: Jede Ebene enthält Selektionskriterien für die jeweils benachbarten Ebenen: Die Ebenen des Handelns, der Institutionen und der Weltbilder ko-evulieren. 1 7 Selektionskriterien von Weltbildern kommt jedoch generell das "evolutionäre Primat", eine "Schrittmacherfunktion" zu: Neue Handlungsmuster und Institutionen können sich nur dann in einer Gesellschaft durchsetzen, wenn zu ihrer selektiven Bewertung ein Kriterium oder Bewertungsschema zur Verfügung steht. Ohne den Glauben an ein entsprechendes Weltbild würde wohl niemand in die "falsche Richtung" segeln. Profitorientierte Organisationen können sich wohl kaum halten, wenn sie nicht vom herrschenden Weltbild legitimiert sind. U.U. werden jedoch in Weltbildern Selektionskriterien in Form von Utopien, Ideologien oder Glaubenssystemen zur Verfügung gehalten und reproduziert, die keinen Bezug zum faktischen Handeln haben. Allgemein verbindliche Wirkimg, normative Kraft, erhalten sie jedoch erst dann, wenn mit ihnen korrespondierende "erfolgreiche" Handlungsmuster aufgrund von Variationsprozessen entstanden sind. Bisher haben wir lediglich betrachtet, wie nicht dominierende Weltbilder zu dominierenden werden können. Wie kommt es aber zu Variationen von Weltbildern? Auch auf der Ebene der Weltbilder wird überschüssiges Wissen produziert und reproduziert. "Denker" entwerfen Deutungsschemata, Prinzipien wissenschaftlichen Arbeitens, Utopien. Solche Entwürfe schaffen aber nur dann den "Durchbruch", werden nur dann von größeren Gruppen der Gesellschaft aufgegriffen, wenn sie auf der Ebene des Handlungswissens Veränderungen ermöglichen und/oder legitimieren, die gegenüber traditionellen Handlungsweisen ein höheres Problemlösungspotential versprechen. 5. Die Entstehung von Organisationen M i t der obigen Analyse der Evolution des Handelns wurden die Grundlagen zu einer Untersuchung der Entstehung und des Wandels von Organisationen gelegt. Die Basishypothese, auf der diese Untersuchung basiert, 17

Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 72

Entstehung und Wandel von Organisation

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lautet: Organisationen haben sich in evolutionären Prozessen herausgebildet, weil sie den Gesellschaften eine größere Anpassungs- und Problemlösungsfähigkeit verliehen. Nachdem sich die Institution Organisation herausgebildet hatte, läßt sich ihr weiterer Wandel als ein Wandel hin zu größerer Anpassungsfähigkeit und Flexibilität interpretieren: Denjenigen Organisationsstrukturen, die eine höhere Anpassungsfähigkeit ermöglichen, kommt aus diesem Grund ein höherer Reproduktionswert z u . 1 8 5.1 Primitive

organisationslose Gesellschaften

Organisationen sind Institutionen, die sich erst in einem gewissen Stadium der Evolution von Gesellschaften herausbildeten. In "primitiven" oder archaischen Gesellschaften gibt es noch keine Organisationen. 19 So besteht kaum Arbeitsteilung - jedes einzelne Mitglied beherrscht weitgehend alle notwendigen produktiven Tätigkeiten - und deshalb ist auch Tausch nicht erforderlich. Wenn überhaupt eine Arbeitsteilung realisiert ist, folgt sie den biologischen Variablen Alter und Geschlecht. Die jungen Männer beispielsweise jagen und stellen Jagdwaffen her, die Frauen sammeln Früchte, weben, holen Wasser. Art und Menge der produzierten Güter erlauben auch keine weitgehenden Eigentumsrechte, wenn nicht das biologische Überleben der Gesellschaft bedroht und damit der biologische Reproduktionsprozeß in Gefahr gebracht werden soll. Lediglich die persönliche Kleidung oder einzelne Werkzeuge stellen persönliches Eigentum dar - u.U. auch Frauen mit ihrer Arbeitskraft. Primitive Gesellschaften sind klein; selten umfassen sie mehr als wenige hundert Individuen. Ihre Angelegenheiten können sie deshalb noch vorwiegend in direkten Interaktionen regeln. Abstrakte Institutionen der unpersönlichen Kontrolle wie Gesetze oder der Markt spielen noch kaum eine Rolle. Die wichtigste Institution ist die Verwandtschaft. Rangunterschiede und damit Herrschaftsbeziehungen sind vorwiegend innerhalb der Familie ausgeprägt. Die Aufteilung der Jagdbeute oder des Ernteertrags wird ebenfalls vor allem entlang verwandtschaftlicher Linien vorgenommen. Die Kooperation der einzelnen Individuen - beispielsweise bei der Jagd entsteht vorwiegend als freiwilliger und relativ ungeordneter Zusammenschluß von Arbeitsanstrengungen. In primitiven Gesellschaften besitzt die Evolution von Handlungen eine relativ geringe Autonomie gegenüber der biologischen Evolution: Erfolg18 19

Zur Fortschritts- und Anpassungsfähigkeit als generelles Selektionskriterium und zum Fortschritt von Gesellschaften siehe Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 75 Vgl. Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975, S. 13 ff.; Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 130 ff.

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reiches Handeln verbreitet sich vorwiegend dadurch, daß Individuen, die über das entsprechende Wissen verfügen, bessere Reproduktionschancen besitzen und dieses Wissen an ihre Nachkommen weitergeben können. Das Weltbild primitiver Gesellschaften ist ein magisches. Die Dinge der äußeren Natur werden nicht als unbeseelte Gegenstände betrachtet, sondern als geistige Wesen, die Macht über Menschen ausüben. 5.2. Soziale Monopole in traditionalen Gesellschaften als Vorläufer von Organisationen Der Übergang von primitiven zu traditionalen Gesellschaften ist zunächst durch technische Innovationen gekennzeichnet: Verbesserte Methoden des Ackerbaus und der Viehhaltung führen zu einer gewissen Unabhängigkeit der Menschen von der ökologischen Situation. Die Viehhaltung ermöglicht eine Vorratshaltung an lebendigem Fleisch; Gesellschaften können Reichtum an solchen Vorräten anhäufen. Domestizierte Tiere können auch als Zugtiere eingesetzt werden. I n Verbindung mit dem Pflug führt der Einsatz von Zugtieren zu einer enormen Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität. Die Bedeutung dieser Innovationen kann schwerlich überschätzt werden. Der Pflug ermöglicht nicht nur die Nutzung tierischer Energie bei der Nahrungsmittelproduktion, sondern auch die Erschließung tiefer fruchtbarer Bodenschichten, die der Grabstock nicht erreichte, und ersetzt das mühsame Jäten von Unkraut. Schließlich wird Fruchtbarkeit des Bodens durch Bewässerungstechniken deutlich e r h ö h t . 2 0 Diese agrartechnischen Neuerungen steigern die von einer Person produzierbaren Nahrungsmenge dramatisch. Für die Gesellschaft hat das wichtige Konsequenzen: Sie wird seßhaft und ihre Größe nimmt beträchtlich zu. Ein Teil der Bevölkerung kann von der Nahrungsmittelproduktion freigestellt werden. Innovationen in der Metallverarbeitung sind ebenfalls von großer Bedeutung für die Entwicklung der Gesellschaft: Durch Metallwerkzeuge wie Pflug, Messer, Äxte und Sägen aus Kupfer, Bronze oder Eisen werden viele Tätigkeiten effektiver. Manche Tätigkeiten werden überhaupt erst möglich: Erst mit Metallwerkzeugen können beispielsweise Bäume gefällt und Räder hergestellt werden. Auch für die Wehrtechnik hat die Kenntnis der Metallbearbeitung weitreichende Folgen: Gesellschaften, die metallene Pfeilspitzen, Streitäxte und Panzerungen kennen, erlangen deutliche Vorteile gegenüber Gesellschaften, die nur Steinwaffen verwenden. Diese Waffentechnik und die gesteigerte Produktivität des Ackerbaus erlauben es den Eroberern, von den Erträgen der Besiegten zu leben, ohne daß diese ver-

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hungern müssen. Eroberung und Ausbeutung von Nachbargesellschaften wird möglich. I n primitiven Gesellschaften bestimmten, wie wir gesehen haben, vor allem Verwandtschaftsbeziehungen und biologische Unterschiede Arbeitsteilung und Koordination. Organisationen sind nicht auszumachen. Die Dringlichkeit des Nahrungsproblems verhinderte die Betrauung von einzelnen Personen mit spezialisierten Tätigkeiten. Traditionale Gesellschaften können sich solche Spezialisierungen leisten. Die Institutionalisierung spezialisierter Rollen erfolgt aber noch nicht in Form von Organisationen, sondern in Form sozialer Monopole: Angehörige bestimmter Gruppen werden mit bestimmten Aufgaben betraut: mit der Produktion bestimmter Güter, mit der Kriegsführung, mit priesterlicher Lehrverkündung, mit Handel. Diese Aufgaben wurden komplizierter, setzten eine intensivere Ausbildung voraus und verlangten mehr und mehr eine kontinuierliche Beschäftigung. Beispielsweise machte die Herstellung von Metallgegenständen die spezialisierte Tätigkeit eines Schmieds erforderlich. In traditionalen Gesellschaften ist der Zugang zu diesen Funktionen jedoch streng geregelt. Er steht nur bestimmten Personenkreisen offen. Die Eigentums- und Kontrollrechte, die mit diesen spezialisierten Positionen verbunden sind, können nicht veräußert werden. E i n solches Spezialistentum setzt Tausch voraus: Der Produzent von technischem Gerät etwa muß in der Lage sein, seine Produkte gegen andere Produkte - Nahrungsmittel, Kleidung usw. - tauschen zu können. Tausch beruht aber wiederum auf der Existenz von individuellen Eigentumsrechten. Solange Tauschakte nur gelegentlich vorkommen, wird das Verhältnis, in dem die Güter getauscht werden - etwa ein Pflug gegen Weizen - weitgehend von den akuten Bedürfnissen der Tauschpartner bestimmt; feste Tauschrelationen bilden sich unter solchen Bedingungen kaum heraus. Entsteht jedoch ein regelmäßiger Tausch, etwa auf lokalen Märkten, oder haben sich Individuen auf die Abwicklung von Tauschakten spezialisiert, ohne an den getauschten Gütern ein persönliches Interesse zu haben - haben sich die spezialisierten Rollen der Händler herausgebildet - so werden Vergleiche zwischen den einzelnen Tauschakten angestellt, die schließlich zu einer Standardisierung von Tauschgeschäften führen. Tauschgeschäfte werden weiter erleichtert, wenn ein allgemeiner Vergleichsmaßstab zur Verfügung steht, durch den der Wert eines Gutes ausgedrückt werden kann und der als ein allgemein akzeptiertes Tauschmittel gegen alle anderen Güter eingetauscht werden kann. Ursprünglich waren Nahrungsmittel solche allgemein anerkannten Tauschmittel. Sie brachten allerdings Probleme des Transports und der Vorratshaltung mit sich und machten dadurch Tauschgeschäfte recht beschwerlich. Deshalb traten bald begehrte

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Schmuckgegenstände oder seltene Metalle wie Silber oder Gold an die Seite der Grundnahrungsmittel als allgemein akzeptierte Tauschmittel und ersetzten sie schließlich ganz. Indem Größe und Wert dieser Tauschmittel standardisiert wurden, entstand Geld 21 Dies ist eine sehr geraffte und vereinfachende Darstellung der Entstehung von Geld und Märkten. Eine ausführlichere Analyse müßte auch auf Tauschakte eingehen, die auf den Prinzipien der Reziprozität und Redistribution beruhen und die sich in verschiedenen Gesellschaften lange Zeit hielten, auch nachdem diese schon über Märkte und Geld verfügten. 2 2 Auch wurde das Prinzip der Autarkie, das etwa die Struktur des Herrenhofs bestimmte, 2 3 nicht ohne weiteres vom Marktprinzip verdrängt. Die Vorstellung, daß sich Märkte verbreiteten, weil sie die Anpassungsfähigkeit von Gesellschaften erhöhten, ist im übrigen nicht unumstritten. 2 * Tausche, insbesondere der durch Geld vereinfachte Tausch, beschleunigen das Tempo der Evolution des Handelns: Bei jedem Tauschakt erfährt der einzelne eine Bewertung seines Handelns. Erzielt er einen hohen Preis, hat er gut gearbeitet. Durch Tauschakte kann der einzelne seine Rechte und Ansprüche und damit seine Handlungsmöglichkeiten verändern und erweitern. In primitiven Gesellschaften dagegen war eine Veränderung der Handlungsmöglichkeiten nur durch Wandel der verwandtschaftlichen Position, etwa durch Heirat, möglich. 2 5 Letztlich führt Tausch zur Etablierung von sozialen Monopolen und Klassen: "Gelingt es nun einem Individuum, durch Gewalt, durch Arbeit oder überlegenes Tauschgeschick mehr dieser Produktionsmittel (Vieh, Boden, technische Werkzeuge, d. Verf.) herzustellen oder zu erwerben, als er selbst oder seine Familie bei der Arbeit benutzen kann, ergeben sich mehrere Möglichkeiten: Er kann die Nutzungsrechte einem anderen Individuum für eine begrenzte Zeit gegen Entgelt überlassen; er kann das Nutzungsrecht an der Arbeitskraft anderer gegen Entgelt erwerben; oder er kann andere zwingen, für ihn zu arbeiten. Im ersten Fall handelt es sich um Pachtsysteme, im zweiten um Lohnarbeit und im dritten um Zwangsarbeit. I n jedem Fall aber tritt mit der Trennung zwischen dem Eigentumsrecht über die Produktionsmittel und der Arbeit mit den Produktionsmitteln auch eine Differenzierungsstruktur auf, es entstehen ökonomische Klassen". 20

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Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 160 Vgl. Polanyi, Great Transformation, 1978, S. 94 Vgl. Kieser, Ursprünge, 1987 Polanyi, Great Transformation, 1978, S.99 ff., führt die Ausbreitung von Märkten in erster Linie auf staatliche Interventionen zurück, die nicht unbedingt durch die ökonomische Vorteilhaftigkeit der Institution Markt motiviert waren. Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 60 f. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 60 f.

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Für die Differenzierung der Gesellschaft in Klassen bietet unser evolutionstheoretisches Konzept die folgende Erklärung an: Als sich primitive Gesellschaften über eine gewisse Größe hinaus entwickelten, entstanden unweigerlich Koordinationsprobleme: Eine direkte Interaktion zwischen allen Mitgliedern wurde immer schwieriger und Verwandtschaftsbeziehungen wurden so komplex, daß sie keine eindeutigen Herrschaftsstrukturen mehr begründen konnten. In diesem Entwicklungsstadium bot die soziale Schichtung ein einfaches, aber doch sehr wirksames alternatives Instrument zur Koordination individueller Aktivitäten: "Durch die Klassengrenzen vermindern sich die Anzahl der möglichen Interaktionspartner und der Umfang der Regel- und Normenkenntnisse, die ein Individuum beherrschen muß, um in alltäglichen Interaktionskontakten Erwartungssicherheit gewinnen zu können." 2 7 Wenige hatten viele Ressourcen, ausgeprägte Rechte, einen großen Reichtum und entsprechend viel Macht. Der Rest der Bevölkerung verfügte über keine oder nur sehr geringe individuellen Eigentumsrechte, lebte in Armut und mußte sich gezwungenermaßen an den Imperativen des biologischen Überlebens orientieren, hatte also eine außerordentlich geringe Handlungsautonomie. Die Mitglieder letzterer Klasse ließen sich unter diesen Bedingungen relativ einfach koordinieren. Eine solche Entwicklung zu Schichten extremer Ungleichheit läßt sich in der Entwicklung aller Gesellschaften konstatieren, wenn auch mit gewissen Unterschieden in den jeweiligen Ausgestaltungen.2® Für den deutschen Raum kennzeichnete zunächst die Entwicklung zum Herrenhof die Schichtenbildung, an deren Ende 90% der Bevölkerung zu den unteren Schichten - Sklaven und hörige Bauern gehörten. Ein Wechsel des Standes, etwa durch Heirat oder durch Erwerb einer höheren Qualifikation, war so gut wie ausgeschlossen. Allerdings war diese Schichtenbildung noch überlagert von einer A r t "Familienstruktur": Die abhängigen Bauern und Sklaven gehörten zur familia des Grundherrn und jede familia bildete eine ökonomisch in sich geschlossene Einheit - eine geschlossene Hauswirtschaft -, was den gesellschaftlichen Koordinationsbedarf weiter reduzierte. I m Laufe der weiteren Evolution von Gesellschaften bildete sich, wie wir gesehen haben, noch eine weitere, die Koordination individueller Aktivitäten in außerordentlich wirksamer Weise unterstützende Institution heraus: der Markt. Da Märkte zu Beginn ihrer Institutionalisierung jedoch noch mit vielen Unsicherheiten belastet waren - der Wert des Geldes war zunächst höchst ungewiß, eine Gerichtsbarkeit zur Lösung von Konflikten aus Marktgeschäften war noch nicht etabliert, die Rechenkünste der Marktbe-

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Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 157 Lenski, Macht und Privileg, 1977

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teiligten waren noch sehr kümmerlich entwickelt usw. -, wurden zunächst nur wenige unkomplizierte Güter über den Markt gehandelt: die Endprodukte der landwirtschaftlichen und gewerblichen Produktion. Märkte für Investitionsgüter, Arbeitskraft und Eigentumsrechte bildeten sich erst später heraus. Die Märkte gestatteten jedoch eine weitergehende soziale Differenzierung: Neben die Schichten der Bauern und Herren trat die Schicht der spezialisierten Handwerker. Unter den Bedingungen schlecht funktionierender Märkte war es funktional, daß sich die Marktteilnehmer durch Monopolisierung gegen die vom Markt ausgehende Existenzbedrohung schützten: Die beruflichen Monopole entlasteten die Monopolisten vom Selektionsdruck des Marktes, ermöglichten langfristige Vorausberechnungen und schufen dadurch Erwartungssicherheit. 2 0 Aus einer funktional-evolutionstheoretischen Sicht der kulturellen Entwicklung stellt die Herausbildung von hochgradig gegeneinander abgeschütteten sozialen Ständen einen notwendigen Evolutionsprozeß im Übergang von der im wesentlichen durch Verwandtschaftsbeziehungen strukturierten primitiven Gesellschaft und der komplexen modernen Gesellschaft dar, in der Koordination vor allem über Märkte und formale Hierarchien geleistet wird. Die Handwerker des Mittelalters, mit deren Institutionalisierung in Form von Zünften wir uns im folgenden etwas eingehender beschäftigen wollen, weil sie einen wichtigen Evolutionsschritt hin zu modernen Organisationen darstellt, bildeten also einen eigenen Stand, eine Gesellschaft in der Gesellschaft, der neben die Stände des Adels, der Bauern und der Geistlichkeit trat. Jeder dieser Stände hatte seine eigene Sprache, sein eigenes Recht, seine eigene Kleidung, seine eigene Musik - eine eigene, bis ins kleinste Detail geregelte Lebensform -, die von Mitgliedern anderer Stände kaum verstanden w u r d e . 3 0 Vor allem die folgenden institutionellen Eigenschaften unterschieden die Zünfte von modernen Organisationen: 31 1) Die Zünfte erfüllten für ihre Mitglieder zugleich mehrere Funktionen: Sie boten ihnen sozialen Schutz, sicherten die ökonomische Basis, entschieden Rechtsstreitigkeiten, waren religiöse Gemeinschaften und übernahmen im Rahmen der Stadtverwaltung politische und militärische Aufgaben. Moderne Organisationen dagegen verfolgen vorwiegend nur einen bestimmten Zweck. 29 30 31

Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980 Vgl. Borst, Alltagsleben, 1983 Vgl. ausführlicher Kieser, Kartell der Ehrbarkeit, 1987

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2) Die Aufnahme in die Zunft war (wie die in andere Klassen oder Stände) an angeborene Eigenschaften gebunden: Nur Angehörige ganz bestimmter Gruppen der Gesellschaft konnten Mitglied werden. Hin freiwilliger Austritt oder auch nur ein Wechsel der Zunft waren so gut wie ausgeschlossen. Nur derjenige, der einer Zunft angehörte, durfte das betreffende Handwerk ausüben. Der zwangsweise Ausschluß aus der Zunft war gleichbedeutend mit einem tiefen sozialen Abstieg. I n modernen Organisationen dagegen sind Ein- und Austritte formaljuristische Akte; Aufnahmekriterium ist in erster Linie die berufliche Qualifikation, die im Prinzip jeder erwerben kann. 3) Die Satzungen der Zunft reglementierten die Aktivitäten der Mitglieder in allen Lebensbereichen umfassend und detailliert. Die Zunft umfaßte somit ihre Mitglieder in toto. In modernen Organisationen hingegen bringen Individuen stets nur einige ihrer Ressourcen e i n . 3 2 Meist halten heutige Individuen Ressourcen in verschiedenen Organisationen: Sie sind beispielsweise Arbeitnehmer in einem Unternehmen, Aktionäre in einem anderen, gehören einer Gewerkschaft, einer Kirche, einem Sportverein usw. an. Für die mittelalterliche Gesellschaft waren solche multiplen Mitgliedschaften undenkbar. 4) Zünfte zeichneten sich durch eine ausgeprägte Standardisierung von Verfahren und durch eine ausgesprochene Innovationsfeindlichkeit aus. Gewinnstreben war ebenso geächtet wie jede Abweichung von den genauestens vorgegebenen Produktions- und Vertriebsverfahren. Alle Mitglieder sollten unter denselben Voraussetzungen wirtschaften. Moderne Organisationen akzeptieren dagegen die Notwendigkeit von Innovationen als Instrumente des Wettbewerbs und als Voraussetzung der Anpassung an sich ändernde Umweltbedingungen und für ökonomische Organisationen ist der Gewinn dabei ein außerordentlich hilfreiches Orientierungskriterium. 53 Die Entstehung von Organisationen und die Entstehung modemer Gesellschaften Die Entstehimg moderner Gesellschaften ist eng mit der Entstehung und Weiterentwicklung von Organisationen verbunden. Organisationen bildeten sich vor allem als Ergebnis zweier voneinander abhängiger Prozesse heraus: 33

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Vgl. Coleman, Power, 1974 Eine detailliertere Analyse der Verdrängung der Zunft durch die Organisationen Verlag und Manufaktur findet sich in Kieser, Kartell der Ehrbarkeit, 1987

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1) Die Differenzierung nach Klassen wich mehr und mehr einer Differenzierung von Institutionen nach Funktionen. Während beispielsweise die Zunft eine bestimmte Klasse konstituierte - die der freien Handwerker und innerhalb dieses sozialen Monopols gleichzeitig ökonomische, religiöse und sozialpolitische Aufgaben erfüllt wurden, gibt es in modernen Gesellschaften spezialisierte Organisationen für militärische, ökonomische, religiöse und sozialpolitische Aufgaben. 2) Die sozialen Monopole wurden entmonopolisiert. Der an die Geburt geknüpfte Zugang zu sozialen Gebilden, die der Produktion dienten, wurde mehr und mehr über Märkte geregelt. A m Ende dieses Prozesses konnten nicht nur die Angehörigen einer bestimmten Schicht Unternehmer werden, sondern im Prinzip jedes Gesellschaftsmitglied - nur das erforderliche Kapital mußte es besitzen. Auch die Arbeitskraft wurde zunehmend über Märkte gesteuert: Arbeitsvertrag und Lohn ersetzten die Hörigkeit beziehungsweise das Treueverhältnis des Gesellen zum Meister. Von Organisationen als von der Gesellschaft abgehobenen sozialen Gebilden können wir erst nach einer gewissen funktionalen Differenzierung und Entmonopolisierung der ursprünglichen sozialen Monopole sprechen. Soziale Monopole traditionalèr Gesellschaften sind nicht eindeutig von der Gesellschaft zu trennen. Gesellschaftliche Normen determinieren weitgehend ihre Handlungssysteme. So können die Zünfte beispielsweise ihre ökonomischen Zwecke - das, was sie produzieren - kaum variieren. Religiöse Vorschriften und gesellschaftliche Normen stehen dagegen. Goldschmiede können nicht einmal in Silber "hineindiversifizieren", und eine interne Arbeitsteilung dürfen sie auch nicht betreiben. Die sozialen Monopole sind "direkt abhängig von den gesellschaftsstrukturellen Bedingungen, die sie ermöglichen". 34 So ist beispielsweise nicht zu klären, welche Aktivitäten des Meisters der Gemeinde, der Zunft oder seinem Handwerksbetrieb zuzurechnen sind. Weil wir organisatorische Merkmale wie die Hierarchie und Einsatz formaler Verfahren - etwa Zunftordnungen - auch in sozialen Monopolen vorfinden, sind wir geneigt, sie als Organisationen zu sehen. Aber: Hierarchien und Verfahren sozialer Monopole werden nicht nach Kriterien der Zweckmäßigkeit oder Effizienz gestaltet, sondern vorwiegend nach Maßgabe religiöser und gesellschaftlicher Normen. Es handelt sich um gesellschaftliche Hierarchien und Verfahren und nicht um organisatorische. Die Ausdifferenzierung sozialer Systeme und ihre Entmonopolisierung - die Möglichkeit, Eigentum an Produktionsmitteln und Arbeitskraft auf Märk34

Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975, S. 42

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ten zu transferieren steigern die Evolutionsgeschwindigkeit des Handelns in Gesellschaften beträchtlich. "Differenzierung dient, evolutorisch gesehen, der strukturellen Verankerung der Mechanismen der Variation; sie ermöglicht Systemveränderung dadurch, daß sie die Teilsysteme voneinander trennt, so daß nicht jede Änderung eines Teilsystems Änderungen und Neubalancierungen in allen anderen Bereichen erfordert". 3 5 A u f soziale Systeme, die mehrere Funktionen gleichzeitig erfüllen müssen, wirken immer mehrere Selektionsfaktoren ein. Durch Differenzierung werden die relevanten Selektionsfaktoren eines Systems reduziert: Die Zünfte beispielsweise mußten zugleich religiösen, ökonomischen und politischen Anforderungen gerecht werden. Ersann ein zünftiger Meister ein effizienteres Produktionsverfahren, so war die Wahrscheinlichkeit groß, daß dieses religiöse oder soziale Bewertungskriterien verletzte. Der höhere Selektionswert im Hinblick auf die ökonomischen Anforderungen wurde durch einen geringen Selektionswert gegenüber anderen Anforderungen kompensiert. U n d so war es funktional, daß die Zünfte Innovationen unterbanden. Sobald es Organisationen gibt, die sich vorwiegend oder ausschließlich der Produktion widmen, wirkt vor allem das Selektionskriterium des Marktes auf die Verfahren: Ökonomisch effizientere Verfahren erhalten eindeutig einen höheren Selektionswert. Die Entmonopolisierung - die zunehmende Marktfähigkeit von Eigentumsund Kontrollrechten einerseits sowie von Arbeitskraft andererseits - trägt ebenfalls zur Erhöhung der Evolutionsgeschwindigkeit bei: Ein größerer Kreis von Gesellschaftsmitgliedern erhält die Chance, Unternehmer zu werden, und damit die Chance, mit neuen Verfahren sein Glück zu versuchen. Dadurch wird die Variation ökonomischer Verfahren gesteigert. Der über den A r beitsmarkt gesteuerte Wechsel von Arbeitskräften zwischen Organisationen beschleunigt die Diffusion neuen produktionsrelevanten Wissens: Bei jedem Wechsel transferiert die betreffende Person Wissen von einer Organisation zu einer anderen. Wissen aus verschiedenen Organisationen wird so rekombiniert, es entstehen neue Verfahren. Sind die neuen Verfahren effizienter als die bisherigen, so steigert das den Erfolg, der sie einsetzenden Organisationen. Ihre Verfahren werden bevorzugt kopiert, ihre Mitglieder bevorzugt abgeworben. Effizientere Verfahren verbreiten sich so rascher als weniger erfolgreiche. Die Entmonopolisierung von sozialen Monopolen, die zunehmende Marktfähigkeit von Eigentums- und Kontrollrechten sowie von Arbeitskraft war verbunden mit einer Entkopplung der Organisationszwecke von den Motiven der Mitglieder? 6 Eine Änderung von Handlungen in der Zunft bedurf35 36

Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975, S. 62 Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975, S. 12

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te der Zustimmung aller Mitglieder und wurde dabei an moralischen Kriterien gemessen. Neue Verfahren oder neue Zwecke lassen sich unter solchen Umständen nur schwer realisieren. I n den meisten modernen Organisationen dagegen ist die Mitgliedschaft i m Prinzip nur an die Anerkennung von bestimmten Bedingungen geknüpft: Organisationsmitglieder erhalten Geld und andere Anreize und erklären sich dafür bereit, die Zwecke und Regeln der Organisation zu akzeptieren. Diese Entkopplung von Zwecken der Organisation und individuellen Motiven führt zu einer wesentlichen Steigerung der Variationsmöglichkeiten für organisatorische Zwecke und Verfahren. Es ist nicht mehr erforderlich, die Zustimmung der Betroffenen zu den Regelungen im einzelnen einzuholen. Man muß nur noch ein akzeptierbares Gleichgewicht zwischen der Attraktivität der Anreize und den Verhaltensanforderungen sicherstellen. Solange die Mitglieder nicht mit Austritt reagieren, kann man sie mit "hochgradig künstlichen" - also nicht unmittelbar ihren Bedürfnissen entsprechenden - Verhaltensanforderungen konfrontieren, kann man neue Verfahren ausprobieren: 37 "Die Motivlage wird über Mitgliedschaft generalisiert: Die Soldaten marschieren, die Schreiber protokollieren, die Minister regieren - ob es ihnen in der Situation gefällt oder nicht. I n der Form von Mitgliedschaftsregeln können differenzierte Ämterstrukturen und Kommunikationsschranken, Rechte auf Mittelgebrauch und Verantwortlichkeiten, Weisungsketten und Kontrollmechanismen eingerichtet werden, zu deren Pauschalanerkennung der Eintretende verpflichtet wird. U n d er kann sogar noch verpflichtet werden, sich Regeln der Änderungen dieser Mitgliedschaftsbedingungen zu unterwerfen. Der Organisationsmechanismus ermöglicht nicht nur sachliche, sondern auch zeitliche Generalisierung; nicht nur höchst verschiedenartiges Handeln zugleich, sondern auch hohe Flexibilität und Anpassungsfähigkeit an veränderte Umstände - alles freilich unter der Generalbedingung, daß die Mitgliedschaft vorteilhafter bleibt als die Nichtmitgliedschaft". 30 Ein Verfahren - beispielsweise ein Verfahren der Buchhaltung - kann so zur Anwendung gelangen, ohne daß die Individuen, die es einsetzen, einen direkten persönlichen Nutzen für sich ableiten. Ihr Nutzen ergibt sich daraus, daß sie durch korrekte Anwendung des Verfahrens u.U. ihre Chancen auf Erhalt des Arbeitsplatzes, auf ein höheres Gehalt oder auf eine Karriere verbessern.

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Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975 Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975, S. 12 f.; siehe auch Luhmann, Funktionen, 1972

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6. Die Evolution von Organisationen 6.1 Die Umwelt von Organisationen In dem Maße, in dem sich soziale Monopole durch funktionale Differenzierung durch Ausweitung des Tauschs von Kontroll- und Eigentumsrechten und durch die Herausbildung von Arbeitsmärkten zu Organisationen wandelten, gewann die Evolution dieser sozialen Systeme Unabhängigkeit von der Evolution der Gesellschaft. Zunftregeln waren noch gleichzeitig gesellschaftliche Normen - Normen, die für eine gesellschaftliche Schicht gültig waren -, die Verfahren heutiger Unternehmen - beispielsweise Produktionsverfahren oder Verfahren der Buchhaltung - sind dagegen eindeutig der Organisation zuzuordnen. Die Mitarbeiter von Organisationen fragen sich kaum mehr, ob sie den Verfahren inhaltlich zustimmen können, sondern vor allem, ob Entlohnung und die anderen von der Unternehmung gebotenen Anreize einen gerechten Ausgleich für die aufgewendete Mühe darstellen. Konsequenterweise werden in evolutorischen Ansätzen die Mitglieder von Organisationen als Umwelt der organisatorischen Verfahren in Ansatz gebracht: "Aktuelle ebenso wie potentielle (rekrutierbare) Mitglieder gehören in ihrer personalen Kognitions- und Motivationsstruktur zur Umwelt des sozialen Systems. Die sind nur bedingt bereit, systemadäquat zu handeln. Sie können auch anders, sind also für das System eine kontingente Größe". 3 9 Zur Umwelt einer Organisation zählen weiterhin andere Organisationen - Lieferanten oder Abnehmer -, Individuen als Bezieher der Leistung von Organisationen und der Staat, der durch Gesetze, Schaffung und Unterhalt von Ausbildungsinstitutionen, von Infrastrukturen usw. wichtige Bedingungen für die Evolution von Organisationen setzt. Das adaptive Ziel der Organisationen gegenüber ihrer Umwelt besteht darin, Ressourcen in ausreichendem Maße zu sichern. U m Überleben zu können, sind Organisationen darauf angewiesen, bestimmte Ressourcen aus ihrer Umwelt zu importieren (Fremdkapital, Arbeitskraft, Hilfs-, Rohund Betriebsstoffe usw.) und eigene Leistungen ins Umweltsystem zu exportieren.* 0 6.2 Comps als Gene der Organisation Dem Verhalten von Organisationen hegen Informationen - Programme, Steuerungssignale - zugrunde, für die sich die Bezeichnung "comps" (von 39 40

Luhmann, Soziologische Aufklärung, II, 1975 S. 40; siehe auch Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 189 f. Vgl. Pfeffer/Salancik, External control, 1978

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competence) durchzusetzen beginnt.* 1 Comps sind die organisatorischen Regeln, die das problemlösende Verhalten der Organisation hervorbringen. Verschiedene Arten von Comps lassen sich unterscheiden: Von einzelnen Organisationsmitgliedern gehaltene oder in unpersönlicher Form, etwa in Verfahrensrichtlinien, Zeichnungen, Akten, Handbüchern gespeicherte. Alle Comps einer Organisation zusammen bilden die individuelle Organisationsform, - den Genotyp der Organisation. Dazu gehören etwa die Rechtsform, die Produkt- und Produktionstechnik (Baupläne, Patente, Verfahren der Herstellung und die Fertigungssteuerung), die Dispositionsstruktur (Koordinationsinstrumente, A r t der Arbeitsteilung, Delegation, Konfiguration) und das betriebsspezifische Wissen der Mitarbeiter, etwa die Markt- und Kundenkenntnisse der Verkäufer und die Produktionskenntnisse der Ingenieure. Comps unterliegen evolutorischen Prozessen: Sie werden bewertet, reproduziert, eliminiert, variiert und selektiert.* 2 6.3 Reproduktion Evolutorische Prozesse setzen die Fähigkeit zur Reproduktion - zur Speicherung und Reproduktion genetischer Information - voraus. Für Comps ist diese Voraussetzung gegeben: Organisationsrelevantes Wissen kann im Wege der organisational Sozialisation von einer Person an eine andere weitergegeben werden. Die Institution der Lehre, wie auch andere Ausbildungsinstitutionen bis hin zur Universität tragen beispielsweise dafür Sorge, daß organisationsrelevantes Wissen zuverlässig weitergegeben wird. M i t dem so erworbenen Wissen können Individuen neue Organisationen gründen - Kopien von bestehenden Organisationen herstellen. Schriftliche Aufzeichnungen organisationsrelevanten Wissens in Form von Akten, Stellenbeschreibungen, Verfahrensrichtlinien, Organisationshandbüchern, Konstruktionszeichnungen usw. steigern die Reproduktionsgeschwindigkeit: Organisationsrelevantes Wissen kann auf ihrer Basis schneller verbreitet werden; auch wird durch sie die Vermittlung des Wissens in spezifischen Ausbildungsinstitutionen effektiver. "Documents and files are the material embodiment of past practices and are handy references for persons seeking appropriate procedures to follow".* 3 Schließlich materialisiert sich organisationsrelevantes Wissen auch in der Technik. I n Werkzeugen, Maschinen, Software, Produktionsanlagen und Gebäuden ist spezifisches Wissen "einprogrammiert". M i t dem Transfer und Einsatz von Technik wird gleichzeitig Wissen transferiert.** 41 42 43

Vgl. Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 205 ff.; McKelvey/Aldrich, Populations, 1983, S. 101 McKelvey, Organizational systematics, 1982; Nelson/Winter, Evolutionary theoiy, 1982 Aldrich, Organizations, 1979

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6.4 Variation Variationen von Comps können das Ergebnis von Kopierfehlern sein: Bei dem Versuch, organisatorisches Wissen auf andere Bedingungen zu übertragen, können Abweichungen auftreten: "Innovation need not be a consciously planned strategy and may be a result of imperfect attempts to imitate other organizations perceived successful. Prevailing beliefs in most Western societies discourage people form interpreting the advantages that come their way as products of 'luck' or 'chance', and attempts to do so are often taken as a subtle form of boasting". 45 Zufällige zu setzen.

Variationen

reichen hin, um einen evolutorischen Prozeß in Gang

Die Evolutionsgeschwindigkeit wird gesteigert, wenn leistungsfähige Verfahren zur Erzeugung von Innovationen zur Lösung bestimmter Umweltprobleme vorliegen. Je größer die Wahrscheinlichkeit, mit der diese Verfahren effektive problemlösende Comps produzieren, desto höher die Evolutionsgeschwindigkeit. Das Handeln der Zunft war auf die Konservierung der von der Tradition geheiligten Verfahren gerichtet. Später, in den Manufakturen des Merkantilismus, traten Projektemacher oder Erfinder auf den Plan, die mit neuen Formen der Arbeitsteilung und mit neuen Techniken den Gewinn von Organisationen zu steigern versuchten. Allerdings war die Treffsicherheit der Verfahren dieser Projektemacher noch sehr gering. Die "Methode" ihres Experimentierens entsprach der von Alchimisten. Tatsächlich waren Alchimisten oft auch zugleich Organisatoren. Immerhin: Veränderungen mit der Zielsetzung, die Effizienz von Organisationen zu steigern, waren im Gegensatz zur Zunft legitim und schon dies allein steigerte die Anzahl von Variationen und damit die Anpassungsgeschwindigkeit. Nachdem sich Organisationen herausgebildet hatten, war ihre weitere Evolution durch eine Steigerung der Effektivität von Verfahren zur Variation und internen Selektion von Comps - durch eine Evolution der Evolutionsmechanismen - gekennzeichnet. 40 So wurden beispielsweise bei der Entwicklung von Produkten und Produktionstechniken zunehmend naturwissenschaftliche Methoden eingesetzt. Allgemeine Prinzipien zur Gestaltung der Organisationsstruktur bildeten sich heraus, beispielsweise die, daß eine weitgehende Arbeitsteilung und Standardisierung von Aufgaben die Anlernzeiten und damit die Abhängigkeit von qualifizierten Arbeitern verringert. Später - durch das Scientific Management - wurde die Methode des

44 45 46

Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 244; Aldrich, Organizations, 1979, S. 47 Aldrich, Organizations, 1979, S. 39 Vgl. Kieser, Darwin und die Folgen, 1988

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naturwissenschaftlichen Experiments auch auf die Gestaltung von Arbeitsabläufen und auf die Auswahl der Arbeitskräfte übertragen. Organisatorische Mechanismen zur Variation und Selektion von Comps wurden zunehmend am analytisch-wissenschaftlichen Weltbild ausgerichtet. Waren die Regeln der Zunft noch durch die Religion legitimiert, so sind die Verfahren moderner Organisationen Gegenstand wissenschaftlicher Diskurse und empirischer Überprüfungen. Die Tauglichkeit von Managementtechniken wird durch argumentative Verhandlung und empirische Überprüfungen auf eine marktähnliche Weise ermittelt.* 7 Es entwickelte sich - gefördert von den ökonomisch orientierten Organisationen - eine Wissenschaft der Wirtschaft und der Betriebsßhrung. Zunächst sind einzelne Spezialisten, später technische Hochschulen und Universitäten Träger dieser Wissenschaft. Durch diese Ausdifferenzierung von Mechanismen der Variation wurde die Evolutionsgeschwindigkeit von Comps enorm gesteigert: Diejenigen, die Änderungen von Comps vorschlagen - die Wissenschaftler -, müssen dafür nicht bewährte Verfahren aufgeben, was etwa Unternehmer tun müssen, wenn sie neue Verfahren ausprobieren. Sie müssen aber Argumente zur Begründimg ihrer Vorschläge vorbringen. Sie sind auch darauf angewiesen, Verfahren zur Evaluierung und Realisierung ihrer Vorschläge zu entwickeln, die von Anwendern nachvollzogen werden können. 6.5 Selektion Organisationen, die ihre adaptiven Ziele nicht erreichen, werden u.U. als Ganzes eliminiert: Unternehmen, die keine konkurrenzfähigen Produkte herstellen oder die mangels aussagefähiger Kostenrechnungssysteme ihre Preise zu niedrig ansetzen, gehen pleite; Gesangsvereine, die ihren Mitgliedern nicht mehr genug Frohsinn bieten, lösen sich wegen Mitgliederschwunds auf. Effizientere Organisationen - Organisationen, die über besseres Problemlösungswissen verfügen - überleben, sie erhalten so die Chance, Tochterunternehmen zu gründen; ihre Verfahren können schon allein wegen der längeren Lebensdauer öfter kopiert werden. A u f diese Weise kommt es langfristig zur Elimination derjenigen Comps aus dem Compspool der Organisationspopulation, die für den Untergang von Organisationen ursächlich sind, auch wenn es nicht möglich ist, diese Comps genau zu identifizieren.

47

Vgl. Giesen, Makrosoziologie, 1980, S. 206, diese Analogie stellt beispielsweise der Population Ecology-Ansatz her, zur Kritik siehe Kieser, Darwin und die Folgen, 1988

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Die Evolution von Organisationen ist jedoch nicht auf die totale Elimination von Organisationen angewiesen. Es ist nicht erforderlich, eine Analogie zum Tod von Lebewesen zu konstruieren, die in der Evolution biologischer Systeme die einzige Form der Selektion darstellt. 4 ® Die Evolution von Organisationen ist vor allem durch die Erhöhung der Reproduktionschancen von einzelnen Comps mit überlegener Problemlösungskraft charakterisiert. Voraussetzung für eine solche Selektion ist zunächst, daß erfolgreiche Organisationen identifiziert werden können. Ist eine Organisation als erfolgreich ausgewiesen, dann werden ihre Verfahren bevorzugt von anderen Organisationen kopiert; ihre Mitarbeiter werden bevorzugt abgeworben und übertragen Verfahren von der erfolgreichen Organisation auf die abwerbende Organisation; Berater und Wissenschaftler vermitteln bevorzugt Praktiken erfolgreicher Organisationen. Kurz: Die Reproduktionschancen von Comps erfolgreicher Organisationen sind höher. Es kann so zur Elimination von Comps geringer Problemlösungskraft kommen, ohne daß ganze Organisationen eliminiert werden. Allerdings: Solange nur der Erfolg gesamter Organisationen als Leitgröße für das Kopieren vom Comps dient, kann der Prozeß der Verdrängung ineffizientere Comps durch effizientere aus dem Compspool der Population sehr lange dauern: Es besteht für die kopierende Organisation Ungewißheit, ob gerade diejenigen Comps kopiert werden, die den Erfolg der Organisation ausmachen. In dem Maße, in dem es gelingt, überlegene Comps präziser zu lokalisieren, wird der Evolutionsprozeß beschleunigt. Eine wichtige Voraussetzimg dazu wird zunächst durch eine interne Differenzierung von Organisationen in Subsysteme geschaffen. Moderne Unternehmungen sind beispielsweise in die Bereiche Produktion, Verkauf, Einkauf, Forschung und Entwicklung und Verwaltung gegliedert. Diese Bereiche weisen eine gewisse Autonomie auf; sie sind nur lose aneinander gekoppelt: in einem gewissen Umfang ist es möglich, Veränderungen in einem Bereich vorzunehmen, ohne daß in anderen Bereichen etwas geändert werden m u ß . 4 0 Eine solche interne Ausdifferenzierung, die selbst das Ergebnis evolutorischer Prozesse ist, erleichtert die Behebimg von Problemen: Umstellungen bleiben auf den problematischen Bereich beschränkt. Komplexe Formen können sich aus einfachen heraus schneller entwickeln, wenn Anpassungen an die Umwelt nicht einer völligen Restrukturierung des gesamten Systems bedürfen. Erfolgreiche Anpassungen in einem Teilsystem können bewahrt werden, während andere Teilsysteme sich an bestimmte Umweltveränderungen anpassen. 50 Simon illustriert diesen evolutorischen Vorteil der internen Differenzierung am Beispiel der beiden Uhrmacher Hora und Tempus: 5 1 Horas Modell 48 49 50

Vgl. Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 142 Thompson, Organizations in action, 1967 Vgl. Aldrich, Organizations, 1979, S. 81 ff.

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besteht aus 100 zusammensteckbaren Modulen mit jeweils 10 Teilen, während das Modell von Tempus aus 1000 Einzelteilen gefertigt wird, die nicht auf verschiedene Module aufgeteilt sind. Hora und Tempus nehmen Uhrenbestellungen über Telefon entgegen. Jedesmal, wenn das Telefon klingelt, müssen sie die Uhr, an der sie gerade arbeiten, beziehungsweise das Modul, aus der Hand legen, wobei die Einzelteile auseinanderfallen. Die Anrufe kommen häufig und in nicht prognostizierbaren Intervallen. Hora ist wesentlich besser dran als Tempus. Er hat eine viel größere Chance, zwischen zwei Telefonanrufen ein stabiles Modul und aus fertigen Modulen eine Uhr zusammenbauen zu können als Tempus eine ganze Uhr. I n einer bestimmten Zeitspanne kann Hora wesentlich mehr Uhren fertigstellen als Tempus. Sind Unternehmen intern differenziert, dann können Organisationen Comps anderer Organisationen zielgerichteter kopieren. Es ist nicht allzu schwer festzustellen, was den Konkurrenzvorteil eines Unternehmens ausmacht: Die Qualität der Produktion, das effektivere Marketing oder die Fähigkeit zur Innovation. Somit können Wettbewerber Comps aus den Bereichen kopieren, die sie als effizient identifizieren; sie können gezielt Verkäufer, Konstrukteure oder Produktionsmeister abwerben; Berater oder Wissenschaftler können ebenfalls mit größerer Sicherheit überlegene Comps ausfindig machen und in ihrer Beratung beziehungsweise in Forschung und Lehre verbreiten. Es ist nicht erforderlich, daß Erfolg absolut richtig zu einzelnen Bereichen zugeordnet wird. Wenn nur die Wahrscheinlichkeit der Identifikation erfolgreicher Comps gesteigert wird, erhöht sich die Geschwindigkeit, mit der sich überlegene Comps in einer Population von Organisationen verbreiten. Zur Erhöhung der Evolutionsgeschwindigkeit von Organisationen trägt auch bei, daß die Selektion durch die Umwelt zunehmend durch eine interne Selektion ersetzt w i r d : 5 2 Die vorhandenen Comps werden internen Evaluationen unterzogen. Es wird geprüft, beispielsweise in Form von KostenNutzen Analysen, Investitionsrechnungen oder Testmärkten, ob alternative Comps, seien es solche anderer Organisationen, von Beratern oder Wissenschaftlern angebotene oder intern entworfene, eine bessere Problemlösung bieten. Die Umweltselektion wird sozusagen intern simuliert. Je höher die Präzision solcher Evaluationsverfahren ist, desto höher die Geschwindigkeit organisatorischer Evloutionen. Evaluationsverfahren unterliegen selbst wieder evolutorischen Prozessen: Erfolgreiche Evaluationsverfahren erhalten höhere Reproduktionschancen. 53 51 52 53

Simon, Architecture, S. 467-482 Vgl. Aldrich, Organizations, 1979, S. 45 f.; Segler, Evolution von Organisationen, 1985, S. 217 ff. Vgl. dazu Bigelow, Evolution in organizations, 1978; Dyllick-Brenzinger, Gesellschaftli-

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Daß organisatorische Evaluationsverfahren vom Weltbild und vom allgemeinen Wissen geprägt sind, wurde bereits bei der Diskussion der Variationen angemerkt. 6.6 Evolution zu höherer Anpassungsfähigkeit und Effizienz? Generell kann eine gerichtete Evolution nur dann auftreten, wenn die auf eine Organisation einwirkenden Selektionsfaktoren nicht sehr unterschiedlich sind. Es wurde gezeigt, daß für die Zunft vor allem deshalb kein gerichteter Wandel auszumachen ist, weil auf sie sehr unterschiedliche Selektionsfaktoren - religiöse, militärische, soziale und ökonomische - einwirkten. Auch wurde deutlich gemacht, daß durch eine funktionale Differenzierung von Organisationen, die Zahl der auf eine Art von Organisationen einwirkenden Selektionsfaktoren reduziert und dadurch ein gerichteter Wandel möglich wurde. Den weiteren Ausführungen lag dann die Annahme zugrunde, daß Organisationen einem gerichteten Evolutionsprozeß unterliegen: Comps, die die Effizienz beziehungsweise die Anpassungsfähigkeit der Organisation erhöhen, verbreiten sich auf Kosten weniger effektiver Comps schneller im organisatorischen Compspool. I n der langfristigen historischen Betrachtung konnte diese Annahme gestützt werden. Über kürzere Zeiträume ist jedoch nicht auszuschließen, daß bestimmte Arten von Organisationen oder bestimmte organisatorische Subsysteme auch Evolutionsprozesse durchmachen, die zu einer Reduzierung der Effizienz oder Anpassungsfähigkeit führen. Dies soll in diesem Abschnitt gezeigt werden. Ebenso wie Individuen sind auch Organisationen auf die Herstellung von Erwartungssicherheit angewiesen: M i t Organisationen, die sich imberechenbar verhalten, können andere Organisationen oder Individuen nicht interagieren. Alternative Betriebe oder Unternehmen, die von Sekten unterhalten werden, haben Probleme dieser Art: Banken geben ihnen ungern Kredite, nur eine sehr begrenzte Zahl von Arbeitnehmern ist bereit, dort eine Stelle anzutreten, und viele potentielle Abnehmer stehen den Leistungen solcher Organisationen mißtrauisch gegenüber. Organisationen schaffen Erwartungssicherheit, indem sie sich an Normen halten. Sie realisieren legitimierte Praktiken, die sie nur in Grenzen variieren. Die Art, wie sich Organisationen in Abteilungen gliedern, wie sich Vorgesetzte gegenüber ihren Mitarbeitern verhalten, die Kostenrechnungen, die sie einsetzen usw. folgen gewissen Grundmustern oder Normen. Wenn Organisationen diese Grundmuster, die "Normen guter Praxis" einhalten, schaffen sie Vertrauen - ihre Verfahren erscheinen legitim - und dieses Vertrauen trägt zur Sicherung von Ressourcen bei - sie haben es leichter, Kredite zu beschaffen, che Instabilität, 1982; Zammuto, Assessing organizational effectiveness, 1982

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Mitarbeiter zu rekrutieren und Geschäftspartner zu gewinnen. 3 * Auch alternative Betriebe wirken auf die Etablierung von Normen hin. Nur so können sie sich einen Kreis von Interaktionspartnern - andere Organisationen, Kunden, potentielle Mitarbeiter - schaffen. So bilden sich innerhalb der Population alternativer Betriebe ebenfalls akzeptierte, legitimierte Praktiken heraus: Entscheidungen werden gemeinsam getroffen, Entlohnimg erfolgt nicht nach Leistung, sondern nach Bedürfnissen, es werden nur umweltfreundliche Materialien verarbeitet, man trägt keine Krawatten, nur Handgewirktes usw. Gäbe es keine Normen zu Geschäftspraktiken, könnten sich Organisationen nicht entwickeln, weil der Reproduktionszusammenhang zwischen Organisationen zusammenbräche: Organisationen könnten Comps anderer Organisationen nicht mehr in ihre Struktur einpassen. Z u starre Normen verhindern andererseits Variationen. Normen zu Geschäftspraktiken können jedoch die Evolution zu adaptiveren und effizienteren Organisationsformen verhindern. Normen zum Konkurrenzgebaren - etwa die Etablierung einer Preisführerschaft - reduzieren beispielsweise den Selektionsdruck des Marktes; Normen zur Organisationsstruktur verhindern u. U. die Herausbildung effizienterer Organisationsstrukturen. Nun, Normen werden bisweilen verletzt - gewollt oder ungewollt - und diese Normverletzungen resultieren in organisatorischen Variationen. Wird dann letztlich nicht doch der Markt als Selektionsfaktor wirksam? Kommt es nicht doch trotz Normen zu evolutorischen Prozessen, die einen gerichteten Wandel hin zu höherer Effizienz sicherstellen? Das Auftreten solcher gerichteter evolutorischer Prozesse ist zwar nicht auszuschließen, gleichzeitig werden aber immer neue Normen produziert und durch Rückgriff auf Weltbilder und allgemeines Wissen abgesichert, die einer Evolution zu höherer Effizienz entgegenstehen können. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen oder Organisationen sind an der Produktion von solchen Normen interessiert, weil sie durch sie ihren Einfluß und ihren gesellschaftlichen Status absichern und verbessern können. Die Einführung von komplexen Tests oder von Assessment-Centern zur Personalauswahl festigt beispielsweise die Stellung der Personalabteilung in der Unternehmung: Sie steuert Expertenwissen bei, das von anderen Berufsgruppen nur schwer zu erbringen ist. Ihr Einfluß in der Unternehmung steigt in dem Maße, in dem sie solche Verfahren als wichtig für den Erfolg der Unternehmung darstellen kann. Erhöhter Einfluß kann sich in mehr Stellen, höherer hierarchischer Position oder höheren Gehältern niederschlagen. Personalbera54

Vgl. Meyer/Rowan, Institutionalized organizations, 1983, S. 340-363

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tungsunternehmen, die Personalauswahltests ebenfalls anbieten, Universitätsinstitute, die Tests entwickeln und deren Prestige ebenfalls mit dem Angebot an "erfolgsfördernden" Verfahren steigt, Berufsvereinigungen von Psychologen, Personalmanagern, Unternehmensberatern - alle diese Organisationen sind daran interessiert, aufwendige Tests als "gute Praktiken" zu etablieren, ihre Anwendung zur Norm zu machen. Indem sie diese Tests als dem wissenschaftlichen Weltbild entsprechend darstellen - Tests entsprechen ihm eher als graphologische Gutachten oder "laienhafte" Auswahlgespräche von Abteilungsleitern - wird dieser Norm Legitimität verliehen. Unternehmen, die diese Praxis anwenden, gelten schließlich allgemein als gut geführt und erfreuen sich steigender gesellschaftlicher Wertschätzung und Unterstützung. Unabhängig von ihrem Beitrag zur internen Effizienz können solche Praktiken einen erhöhten Reproduktionswert gewinnen. M i t diesen Ausführungen soll nicht die Behauptung aufgestellt werden, Auswahltests und Assessment-Center seien ineffiziente Praktiken. Vorhandene empirische Befunde reichen nicht hin, ein solches Verdikt zu fällen. (Allerdings auch nicht, um das Gegenteil als unumstößliche Wahrheit zu etablieren). Es sollte an diesem Beispiel lediglich aufgezeigt werden, daß nicht unbedingt von einer gerichteten Evolution hin zu höherer ökonomischer Effizienz ausgegangen werden kann. Ein weiteres Beispiel: Krankenhäuser werden nicht nach ihren Heilungserfolgen beurteilt - eine solche Beurteilung ist einerseits problematisch und zum anderen haben die Experten auch kein Interesse, eine solche Beurteilung zu propagieren -, sondern nach der Professionalität der eingesetzten Verfahren. Krankenhäuser, die renommierte Mediziner beschäftigen oder deren technische Einrichtung sich auf einem hohen Stand befindet, erfreuen sich einer hohen Wertschätzung, die sich letztlich auf die Ressourcensicherung auswirkt. Bei der Definition von "guten" medizinischen Verfahren ist die Gesellschaft von den Experten - den Medizinern - abhängig, die solche Verfahren praktizieren. Schlagen Außenseiter neue Verfahren vor, so werden diese mit dem Hinweis abgewehrt, sie seien noch keinen strengen wissenschaftlichen Tests unterzogen worden. Ob solche Tests aber durchgeführt oder zur Kenntnis genommen werden, hegt weitgehend im Ermessen der gesellschaftlich legitimierten Experten. Je monopolistischer diese organisiert sind, desto schwieriger ist es, evolutorische Prozesse der Variation und Selektion von Verfahren in Gang zu setzen: Die monopolistische Organisation erschwert Variation und macht gleichzeitig die Selektion vom Konsens der organisierten Experten abhängig. I n England gibt es das Sprichwort: "Never ask a hairdresser whether you need a haircut". Wenn Experten die einzigen sind - beziehungsweise sich dazu gemacht haben -, an die Fragen nach den Bedürfnissen und der A r t und Weise ihrer Erfül-

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lung legitimerweise gerichtet werden können, ist die Realisierung dieser Empfehlung schwierig. Je schwieriger die intersubjektive Beurteilung von Organisationen ist und je stärker sie sich einer Selektion durch den Markt entziehen, desto mehr Raum besteht für die Produktion von Normen, die anstelle ökonomischer andere Selektionskriterien setzen. Solche Organisationen und die mit ihnen liierten Experten verfolgen oft eine Politik der Etablierung von Normen, die eine intersubjektive Bewertung erschweren. George Bernard Shaw faßte diesen Sachverhalt in die folgenden Worte: "Every profession is a conspiracy against the laity".

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Personenregister Adorno, Theodor 80 Altmann, Norbert 107 Argyris, Chris 67 Aristoteles 78,163 Ashby, Ross 136 Augustinus 163 Bauer, Leonhard 8 Bechtel, Heinrich 113 Bechtle, Guenter 107 Beer, Stafford 13,14,84,136,137 Berger, Peter 19 Bertalanffy, Ludwig von 84,95 Blaug, Marc 64,65 Boltzmann, Ludwig 95 Bolyai, Jänos 61 Bolzano, Bernhard 62 Bosch, Hieronymus 45 Bourbaki, Nicolas 61 Bremerman 147 Buhl, Georges 61 Cantillon, Richard 65 Cantor, Georg 62 Carnap, Rudolf 10,11 Carr, Edward 83 Cajal, Ramon y 17 Churchill, Winston Spencer 53 Clausius, Rudolf 95 Comte, Auguste 79 Conring, Hermann 71 Dahrendorf, Ralph 106 Daly, Herman 96 Darwin, Charles 5,12,20,21,41,59,65, 80, 163 Dawkins, Richard 20 Descartes, René 5,58,63,78 Dittrich, E. 71 Dopfer, Kurt 8,9 Droysen, Johann Gustav 116 Drucker, Peter 133 Durkheim, Emile 79 Eccles, John 138 Einstein, Albert 42 Elias, Norbert 73 Epimenides 63 Erler, Brigitte 47

Etzioni, Amitai 112,126 Eucken, Walter 103,128 Euklid 42,61,115 Fayol, Henri 161 Ferguson, Adam 163 Feyerabend, Paul 85 Fleck, Ludwig 85 Foerster, Heinz von 136,137 Freud, Sigmund 65,66,75 Friedman, Milton 64 Fugger, Jakob 161 Galanter, 138 Galilei, Galileo 8,57,58,63,159 Gauß, Karl Friedrich 61 Georgescu-Roegen, Nicholas 96 Gill, A. 150 Gödel, Kurt 62,77,150 Gossen, Hermann Heinrich 72 Habermas, Jürgen 56,58,77,124 Haken, Hermann 96 Harrod, Roy 111 Hayek, Friedrich August von 7,12, 50, 97, 113,136,143,161 Hegel, Friedrich 81 Heisenberg, Werner 68,77,150 Herder, Johann Gottfried 80 Hertzberg, Frederick 74 Hesse, Günter 113 Hicks, John 107,111 Hilbert, David 62 Hobbes, Thomas 105,122 Hobhouse, Leonard 79 Horkheimer, Max 80 Hume, David 6,66,74,163 Johnson, Chalmers 90 Kelley, George 138 Kelsen, Hans 49 Keynes, John Maynard 64, 110, 111, 112, 125,128 Kieser, Alfred 21,105,109 Knight, Frank 98 Kopernikus, Nikolaus 65 Kohr, Leopold 52,53 Krelle, Wilhelm 114 Krupp, Arthur 161

210

Personenregister

Kubicek, Herbert 105,109 Kuhn, Thomas 5,8,9,14,22,51,61,77,85 Lakatos, Imre 64 Landes, David 107 Laplace, Pierre 16 Lessing, Theodor 116,117 Lewin, Kurt 12 Lobatschevsky, Nikolai 61 Locke, John 65 Lorenz, Konrad 13,14,42 Luckmann, Thomas 19 Luhmann, Niklas 101,108,124 Ludwig XIV. 71 Mach, Ernst 12 Machiavelli, Niccolo 5,58,118 Maine, Henry 79 Malinowski, Bronislaw 83 Malthus, Thomas Robert 5, 12, 117, 118, 163 Mandeville, Bernard de 65,163 Marshall, Alfred 8,95 Marx, Karl 59,79,81,82,87,117 Matenaar, Dieter 104 Matis, Herbert 8 Maturana, Humberto 31,32 Mausner, Bernard 74 McCulloch, Warren 138 McGregor, Donald 67 Meade, James E. 123 Mendel, Gregor 17 Menger, Carl 65,97 Miller, Eric 138 Mohr, Hans 14,43 Müller-Armack, Alfred 103 Münchhausen, Hieronymus Freiherr von 42 Newton, Isaac 5,7,11,14,16,57,58,75,78 Nietzsche, Friedrich 92,117

Pribram, Alfred Francisl38 Prigogine, Iliya 7,78 Probst, Gilbert 84 Pufendorf, Samuel 71 Pythagoras 115 Radcliffe-Brown, Alfred 83 Ranke, Leopold von 90,92 Riedl, Rupert 13,14 Riemann, Bernhard 61 Robinson, Joan 74 Roscher, Wilhelm 71 Rousseau, Jean Jacques 59,75 Routh, Guy 65 Rüssel, Bertrand 62 Samuelson, Paul 102 Schopenhauer, Arthur 117 Schreyögg, Georg 107 Schrödinger, Erwin 95 Schumacher, Ernst F. 52 Schumpeter, Joseph 82,99,111,119,124 Segler, Tilman 20 Seiteiberger, Franz 17 Shaw, George Bernard 190 Sherrington, Charles 17 Siemens, Werner von 161 Sloan, Alfred 161 Smith, Adam 5, 6, 8,11, 59, 64, 65, 66, 72, 74,75,103,163 Snyderman, Barbara 74 Sorokin, Pitorim 55 Spencer, Herbert 21,79,164 Stifter, Adalbert 115 Tönnies, Ferdinand 79 Toulmin, Stephen 55 Turgot, Anne-Robert 59,75 Ulrich, Hans 131,132 Vollmer, Gerd 14

Oppenheimer, Paul 12 Parson, Talcott 77,82,104 Pask, Gordon 136 Petty, William 65 Piaget, Jean 59, 66, 73, 81, 88, 89, 93, 137, 138 Piaton 110 Popper, Karl Sir 51,79,105,136,137,138

Walras, Léon 11,72 Wallace, Alfred Rüssel 59 Ward, Benjamin 65,119 Weber, Max 58,104,110 Weierstraß, Karl 61,62 Whitehead, Alfred 97,109,110 Wittgenstein, Ludwig 88

Stichwortverzeichnis Adaptierungsmängel 43 Akademien 70 Akkomodation 60,89,90,91 Analogie 13 Arbeitsteilung 167,168,171,173 Assimilation 89,90,91 Atavismus 79,87 Aufklärung 125 Autarkiemodell 174 Autonomie 33,99,151 Autopoiesis 31,84 Betriebswirtschaftslehre 108 Bildung 54,124,125 Biologie 12,40 Chaosforschung 115,116 Comps 20,21,181-187 Darwinismus 163,174 Delegation 49 Entropie 95,96,146 Entspezialisierung 29,30 Entwicklungspsychologie 88,93,137 Enzephalisation 27 Erkenntnistheorie 14,42,136,138 Evolutionstheorie 7, 12, 14, 16, 18, 20, 21, 22, 25, 26, 27, 29, 35, 41, 53, 59, 80, 87, 104,106,113,116,117,126,128,146,148, 155,161-168,171 Experiment 109 Fortschrittsgedanke 57,80,81,90,107 Funktionalismus 83 Gesellschaftsschichtung 175-178 Gesetzesbegriff 57,58 Gleichgewichtstheorie 11, 77, 82, 83, 96, 100,101,115,116,117,119,120,121,125, 127,140 Großhirn 27,28,33,34,60 Hermeneutik 77 Homologie 13 Humankapital 123 Ideologie 37,78,158,169,170,172,188

Individuum 17,18,19,21,42,50,54,65,66, 67,74,106,122,152,166,167,171,181 Information 20, 25, 26, 30, 31, 33, 35, 59, 151 Innovation 51, 87, 88, 102, 106, 157,165, 172,179,183 Institutionalismus 105 Internationalisierung 116,127 Isomorphie 44,46,48 Kausalität 40,78,98,128 Kommunikation 18,19,25 Komplexität 7, 17, 21, 22, 139, 142, 148, 149,154,155 Konflikt 87,88 Kontrolle 138,139 Kooperationsphänomene 17,18,21 Kultur 43 Kybernetik 136,137,138,140 Lenkung 134,138,139,151 Lernen 16,30,35,61,157,158,159 Management 35, 36, 37,131-135,137, MOMS, 185 Marktmodell 11, 52, 71, 72, 73, 103, 106, 115,173-176,188 Materialismus 40,60,81,99 Mathematik 61,62,63 Metaphysik 32,39 Modernisierung 78,79,80 Monopole 179 Moralphilosophie 74 Multiplikatorwirkung 111,125 Mutation 165 Naturordnung 56 Nervensystem 25-30 Neuronentheorie 17 Normalwissenschaft 5 Objektivität 31,88,92 Operations Research 123 Ordoliberalismus 103 Organisationstheorie 20, 22, 97, 98, 101, 105,107,110,145,147-158,161,162,163, 170,177,178,180,181,183,184,186,187 Overkill 39,46

212

Stichwortverzeichnis

Paradigmenwechsel 5-10,14,22,64,77,85 Physik(alismus) 12,15,16,56,58,68,116 Praxisrelevanz 78,140,141

Systemtheorie 6, 7, 8,14,15, 36,48, 83-86, 91, 95, 98, 101, 132, 134, 135, 138, 139, 140,143,145,147-158

Ratiomorphie 44-47,50 Rationalität 5,86 Rechtspositivismus 49 Reduktionismus 77,95,105 Regelungstechnik 113 Reproduktion 182,185,189

Thermodynamik 95,146 Tradition 35

Selbstorganisation 16,22 Selbstreferenz 150 Selektion 20, 21, 42, 45, 48, 92, 100, 162, 166,167,169,183,189,190 Sinnstiftung 69,153,156 Soziobiologie 20 Spezialisierung 30 Spracherwerb 28,32,34 Stabilität 79,88,121 Subjekt-Objekt-Beziehung 19,69,100,102, 110 Synergetik 14,124

Umwelt 19, 26, 31, 36, 39, 77, 88, 89,101, 110,132,154,155,181 Unternehmensführung 16 Unternehmenskultur 104 Unternehmer 99,100,111,112 Vernetzung 47,48,152 Wachstum 15 -theorie 110,111 Wertfreiheitspostulat 68,69 Wertstruktur 88 Wohlfahrtsstaat 118 Zentralstaat 57,67,70,75 Zünfte 176,177,178