Ethik in Szene setzen: Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis 9783787339754, 9783787339747

Mario Ziegler entwickelt in seinem Band zur Nikomachischen Ethik als Lehrstück ein eigenes Konzept, das vorsieht, Schüle

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German Pages 246 [247] Year 2021

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Ethik in Szene setzen: Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis
 9783787339754, 9783787339747

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ETHIK IN SZENE SETZEN – DIE NIKOMACHISCHE ETHIK ALS LEHRSTÜCK IN DER UNTERRICHTSPRAXIS – Mario Ziegler

MAR IO ZIEGLER

Ethik in Szene setzen Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis

Meiner

Zu diesem Buch gibt es Arbeitsmaterialien, die kostenlos heruntergeladen werden können unter: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen ­Nationalbibliographie; detaillierte bi­­­blio­gra­phi­sche Daten sind im Internet ­ abrufbar über ‹https://portal.dnb.de›. ISBN 978-3-7873-3974-7 · ISBN eBook 978-3-7873-3975-4

www.meiner.de © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 2021. Alle Rechte vor­­behalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikro­ver­fil­mungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 UrhG ausdrücklich gestatten. Umschlaggestaltung: Andrea Pieper, Hamburg. Layout, Satz: Jens-Sören Mann. Gesamtherstellung: Stückle, Ettenheim. Gedruckt auf Papier aus 100 % chlorfrei gebleichtem Zell­s toff. Printed in G ­ ermany.

I NH A LT 1. Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Vorbemerkungen und Hinweise zur Gliederung des Buches . . . . . . . . . . . . . 13 1.2 Das Konzept des Lehrstücks . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 1.3 Die aristotelische Lehrkunst als methodisches Prinzip der ­Lehrstückdidaktik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3.1 Epagoge: das methodische Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 1.3.2 Die epagoge als grundrissartige Typenlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27 1.3.3 Das exemplarische Verfahren als didaktische Methode . . . . . . . . . . . . . 30 1.3.4 Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns im Ethikunterricht: das ethische Urteil im sozialen Kontext . . . . . . . . . . 42 1.3.5 Mimesis als nachahmende Darstellung: Darstellung von typisch ­menschlichen Handlungen, Situationen und Lebensweisen . . . . . . . . . . 46 1.3.6 Ästhetische Kritik unter einer ethikdidaktischen Perspektive: Die wesentliche Rolle des Kunstwerks und der unterrichtlichen ­Darstellungsformen für eine kritische Betrachtung und Reflexion der ethischen Urteile der Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51

2.

Systematische Beschreibung des Lehrstücks . . . . . . . . . . . . . 57

2.1 Erste Unterrichtseinheit: Die Empfänglichkeit für Bewunderung und die undurchsichtige Macht des Ansehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.1.1 Didaktischer Kommentar zur ersten Unterrichtseinheit: Die Funktion der szenischen Vergegenwärtigung, das Prinzip des ­E xemplarischen im Ethikunterricht und der innere Monolog als ­Darstellungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 2.2 Zweite Unterrichtseinheit: Die Bestimmung des Menschen als zōon politikon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 2.2.1 Didaktischer Kommentar zur zweiten Unterrichtseinheit: Aufmerksamkeitslenkung und die Arbeit am Wort-Werk: die Funktionen der Tafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 2.3 Dritte Unterrichtseinheit: Der Blick auf die artspezifischen Möglichkeiten von Kühen, Tigern und Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76

6 Inhalt

2.3.1 Die artspezifischen Möglichkeiten von Kühen und Tigern . . . . . . . . . . . 76 2.3.2 Ein Tiger mit Holzbein und ein lahmender Hirsch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 2.3.3 Der wesentliche Unterschied zwischen der tierischen und der ­menschlichen Lebensform: eine vergleichende Betrachtung . . . . . . . . 86 2.4 Vierte Unterrichtseinheit: Die Anstrengungen bei der Entwicklung der ethischen Tüchtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 2.4.1 Didaktischer Kommentar zur vierten Unterrichtseinheit: »Bei der Sache bleiben !« – die genetische Methode im Ethikunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 2.5 Fünfte Unterrichtseinheit: Von der Pferdezucht, Elefanten im ­ Porzellanladen und klugen Steuermännern. Die begriffliche ­Unterscheidung von natürlicher und eigentlicher Tugend . . . . . . . . . . 122 2.5.1 Didaktischer Kommentar zur fünften Unterrichtseinheit: Die beiden Hauptformen des sokratischen Gesprächs . . . . . . . . . . . . . . 134 2.6

Sechste Unterrichtseinheit: Die Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen. Charakterstudien im Kasperletheater . . . . . . . . . . . . . . 141

2.7 Siebte Unterrichtseinheit: Die Bestimmung der Eigenart des Menschen vor dem Hintergrund seiner reizenden Schwächen. Ein Held der Komödie betritt die Bühne: John Falstaff . . . . . . . . . . . . . . 153 2.7.1  Die Metanoia des John Falstaff oder warum es enorm anstrengend ist, ­einen lobenswerten Charakter auszubilden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 2.7.2 Didaktischer Kommentar zur siebten Unterrichtseinheit: Die Lehrstückdramaturgie und die dramatische Lehrweise – darstellerische Maßnahmen, die auf die eigenständige Urteilsbildung zielen. Die vier Grundsätze der Lehrstückdidaktik . . . . . . . . . . 165 2.8 Achte Unterrichtseinheit: Die personifizierte Norm: der Gute. Eine Argumentation, die sich schnell im Kreis dreht . . . . . . . . . . . . . . . . 180 Exkurs: Das Definitionsproblem. Eine Methodenreflexion, die klarmacht, warum Aristoteles eine phänomenologische Ethik vertritt . . . . . . . . . . 185 2.8.1 Der Typus des phronimos: klug und maßvoll. Die Inszenierung eines Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 2.9 Neunte Unterrichtseinheit. Epilog: Falstaff – Glocken um Mitternacht . . 195 2.9.1 Szene I: Im Wirtshaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 2.9.2 Szene II: Spiel im Spiel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198 2.9.3 Szene III: Die Krönung des neuen Königs Heinrich V. . . . . . . . . . . . . . . . 203 2.9.4 Szene IV: Das Ende des Films. Falstaffs schwerer Sarg . . . . . . . . . . . . . . 207

Inhalt 7

3. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die Lehrstückdidaktik als szenische Didaktik und ihre Bedeutung für den Ethikunterricht

4. Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.1

Texte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225

4.1.1 Philippa Foot: Autonome Bewertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 4.1.2 Aristoteles: Die Bestimmung des menschlichen Glücks im Hinblick auf sein artspezifisches ergon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.1.3 Aristoteles: Glück und Freude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 4.1.4 Aristoteles: Der Entstehungsprozess der Tugenden . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 4.1.6 Aristoteles: Die Tugendlehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 4.1.7 Aristoteles: Die mesotes-Lehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 4.1.8 Aristoteles: Die Anforderungen an einen guten Charakter . . . . . . . . . . . 232 4.1.9 Aristoteles: Die Festlegung der Norm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232 4.1.10 Aristoteles: Der Typus des phronimos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 4.2

Arbeitsblätter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 236

Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 239

Für Otto und Martha •

Die beste Methode dürfte hier wie bei anderen Problemen sein, daß man die Dinge in ihrem fortschreitenden Wachstum ins Auge faßt. Aristoteles: Politik I, 2, 1252a 25

Wofür verdient ein Philosoph Respekt ? Dafür nämlich, dass er im Rückgriff auf den Schatz seiner eigenen Erfahrungen souverän urteilt und mit seinen eigenen Worten mitzuteilen versucht, was er findet. Alles daran setzend, sich für denjenigen verständlich auszudrücken, der sich ebenfalls auf seine eigenen Einsichten verlässt und nicht daran denkt, sich nach den von anderen vorgegeben Maßstäben zu richten. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer

Der Sache gerecht werden, ist die erste Forderung bei Anwendung einer Methode; von allen Sachen ist aber die gerechte, die gute Sache die höchste. Dienen wir darum überall der Sache, um zuhöchst die gute Sache zu fördern. Otto Willmann: Aus Hörsaal und Schulstube. Gesammelte kleinere Schriften zur Erziehungs- und Unterrichtslehre Die Philosophien, die heute in den Schulklassen gelehrt werden, aus denen die Lektionen der Dinge verschwunden sind, und die das Subjekt in die Sprache stellen, nur damit die Schwadroneure einen vornehmen Status erlangen, bleiben bei dieser Rückkehr zu den Objekten der Welt furchtsam auf halbem Wege stehen, weil die Sprache in uns wohnt, in Mund, Kehle und Körpergesten, und außerhalb von uns, in den Bibliotheken und Semaphoren, Tonspuren und Radioempfängern: ­i nnen und außen, künstlich und natürlich, unentscheidbar. Michel Serres: Elemente einer Geschichte der Wissenschaften

Danksagungen  Unter dem Label der Lehrstückdidaktik sehen wir – eine philosophisch inspirierte Gruppe, die Freude an der Entwicklung und Durchführung von Lehrstücken hat – es als unsere Aufgabe an, über die unterrichtspraktische Erprobung von beispielhaften Lehrstücken einen Beitrag zur Verbesserung des Ethik- und Philosophieunterrichts zu leisten.1 Das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles soll ein solcher Beitrag sein, weil es zeigt, wie spannend und faszinierend der Ethik- und Philosophieunterricht sein kann, wenn man die Schüler dazu bringt, ausgehend von exemplarischen Situationen menschlichen Handelns die Maßstäbe aufzudecken und kritisch zu reflektieren, die sie selbst bei der Bewertung dieser Handlungen anlegen. Der sogenannte Lebensweltbezug ist im Lehrstückunterricht also keine bloße Floskel, sondern die unumstößliche Grundlage des didaktischen und methodischen Vorgehens. Weil die Qualität des Lehrstücks auch davon abhängt, ob es sich in der Praxis bewährt hat, ist die experimentelle Erprobung eine notwendige Vo­ rausetzung für die Sicherung eines unterrichtlichen Standards. Daher wurde das Lehrstück zur aristotelischen Ethik mehrfach mit Schülern, Studenten und auch Lehrern erprobt. Bei allen, die bei diesen Durchführungen ›mitgespielt‹ und mir damit auf ganz unterschiedliche Weise eine Rückmeldung gegeben haben, möchte ich mich an dieser Stelle bedanken; ganz besonders bei den Studenten, die mir ihre Protokolle, Texte, Fotos, Bilder und andere Darstellungen durch ihre Einverständniserklärung2 zur Verfügung gestellt und es mir so ermöglicht haben, die einzelnen Unterrichtseinheiten des Lehrstücks sehr konkret, anschaulich und überaus facettenreich zu beschreiben. Anna Pickhan, Lisa Wander, Lisa Schroeter, Alhifatou Bourai-Toure, Joe Bornträger, Peter Starke und Daniel Löffelmann haben mich nicht nur bei der typographischen und technischen Fertigstellung des Manuskripts unterstützt, sondern sie alle haben mich auch immer wieder dazu aufgefordert, weiter zu machen und dieses Buch zu Ende zu schreiben. Dafür habe ich zu danken. Im Jahr 2000 bin ich als Student Johannes Hachmöller erstmals begegnet. Seitdem philosophieren wir gemeinsam – musikalisch ausgedrückt vielleicht mitunter in unterschiedlichen Ton- und Taktarten und auf verschiedenen Klangebenen, aber am Ende komponieren wir gemeinsam ein Stück. Dabei bin ich gedanklich immer wieder neu in Schwingung geraten und auf diesem Weg zu Einsichten gelangt, hin

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Vgl. Jenaer Schule der Didaktik: jenaerschule.de (Stand: 01.09.2020). Die Studenten haben durch ihre Unterschrift unter die Einverständniserklärung dokumentiert, dass ich alle Beiträge (Protokolle, Texte, Fotos, Bilder und andere Darstellungen), die sie im Rahmen der von mir durchgeführten Seminare geleistet haben, für Publikationen nutzen und verwenden kann. Das schließt insbesondere ein, die Protokolle, Texte, Fotos, Bilder und andere Darstellungen zu bearbeiten, zu vervielfältigen, zu verbreiten und öffentlich zugänglich zu machen. Ebenso können diese Rechte zum Zwecke der Publikation, einschließlich der öffentlichen Zugänglichmachung auf Dritte übertragen werden. Immer dann, wenn ich auf Beiträge der Studenten zurückgreife, kennzeichne ich das durch den Beleg in einer Fußnote.

12 Danksagungen

ter die ich nicht mehr zurückgehen kann und die zugleich nötig waren, damit ich dieses Buch schreiben konnte. Zu guter Letzt möchte ich mich bei meiner Frau Luise bedanken, die meine Freude an der Entwicklung und Durchführung von Lehrstücken so sehr teilt, dass man mittlerweile davon sprechen kann, dass sich diese überaus vergnügliche Tätigkeit zu einer gemeinsamen Lebensaufgabe entwickelt hat.

1. E I NLE I T UNG 1.1 Vorbemerkungen und Hinweise zur Gliederung des Buches In diesem Buch soll ein Lehrstück 3 zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles vorgestellt werden, dessen Ziel es ist, zentrale Aspekte der aristotelischen Ethik einführend zu behandeln. Das didaktische Vorgehen im Unterricht wird sich dabei an dem von mir konzipierten Lehrstück orientieren – und nicht umgekehrt ! Im Mittelpunkt stehen also zunächst die Inhalte und Themen der Nikomachischen Ethik und nicht die Didaktik und Methodik des Lehrstückunterrichts. Auf diese Weise wird sich das didaktische Konzept mit den entsprechenden Begriffen aus der Unterrichtsbeschreibung selbst herauslesen lassen – und zwar im besten Fall so, dass der Leser bei der didaktischen Kommentierung die unterrichtlichen Szenen so vor Augen hat, dass er den Kommentar darauf beziehen kann. Der erste Schritt besteht daher stets in einer idealtypischen Skizzierung des Konzepts der einzelnen Lehrstücke sowie ihrer inhaltlichen Zielsetzung. An die Beschreibung der einzelnen Unterrichtseinheiten schließen sich jeweils Kommentare an, in denen nacheinander die wichtigsten Aspekte der Lehrstückdidaktik erläutert werden. Im Anhang befinden sich die Texte 4 und Arbeitsblätter5 . Ein tabellarischer Verlaufsplan des gesamten Lehrstücks zur Nikomachischen Ethik ist online verfügbar. 6 Diese Übersicht macht die einzelnen Unterrichtseinheiten des Lehrstücks mit allen Lernaufgaben und den zu gewinnenden Klarheiten überschaubar und soll die Planungsarbeit des Lehrers7 erleichtern. Damit deutlich wird, was in den einzelnen Unterrichtseinheiten erreicht werden soll, werde ich jeweils eine Reihe von Thesen zusammenstellen, mit denen umrissen ist, was den Schülern klarwerden soll. Anders als üblich verzichte ich auf die Auflistung von Lernzielen, da in solchen Listen

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Theodor Schulze definiert ein Lehrstück wie folgt: »Ein Lehrstück ist eine dramaturgisch gestaltete Vorlage für eine begrenzte, in sich zusammenhängende und selbständige Unterrichtseinheit mit einer besonderen, konzept- und bereichserschließenden Thematik. Die Unterrichtseinheit, auf die sich die Lehrstückvorlage bezieht, ist zeitlich begrenzt. Sie hat in der Regel einen Umfang von 10 bis 20 Unterrichtsstunden.« (Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel und Berlin 1995, S. 361–420, hier S. 361.) Das Konzept des Lehrstücks wird im Folgenden noch genauer bestimmt werden (vgl. unten, 1.2 und 1.3). Siehe Anhang 4.1. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien. Siehe Anhang 4.2. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_materialien. Siehe »Tabellarischer Verlaufsplan des Lehrstücks. Übersicht über die Unterrichtseinheiten und die darin angestrebten Klarheiten«. Download: https://meiner.de/ethik-in-szene-setzen_ materialien. Der Terminus »Lehrer« bezieht sich hier und im Folgenden auf alle Geschlechter. Er wird aufgrund der besseren Lesbarkeit gewählt und beinhaltet selbstverständlich keine Wertung. Das Gleiche gilt auch für die Verwendung der Wörter »Schüler«, »Leser«, »Student« und »Fachdidaktiker« usw.

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Kapitel 1

»gewöhnlich formale Ziele des Unterrichts« festgelegt werden, die auch »die sogenannten Kompetenzen umfassen. Klarheiten hingegen meinen inhaltliche Gedankenschritte.« 8 Diese Klarheiten sollen die Schüler im Lehrstückunterricht selbstständig gewinnen, wofür entscheidend ist, dass es sich dabei um beherrschbare Klarheiten handelt. Es geht nicht darum, den Schülern durch die Übermittlung von Erklärungen den entsprechenden Unterrichtsstoff zu vermitteln, sondern um den Denkprozess der Schüler. Mit den Sätzen, die die Ergebnisse ihrer Urteilsbildung festhalten, werden Einsichten formuliert, die sehr einfach und sehr naheliegend zu sein scheinen, die aber gleichwohl das Ergebnis einer anspruchsvollen Gedankenarbeit sind. Deshalb werden die angestrebten Klarheiten in der Übersicht in Sätzen präsentiert, von denen anzunehmen ist, dass sie in einer vergleichbaren Form im Unterricht von den Schülern formuliert werden können. Der Lehrstückunterricht zielt mithin auf den Gewinn inhaltlicher Klarheiten – und nicht auf die Ausbildung von Kompetenzen (vgl. unten, 2.7.2). Jürgen Kaube hat die Leerheit des Kompetenzbegriffs zuletzt in seinem Buch »Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder ?« problematisiert: Es ist noch freundlich, wenn dazu angemerkt wird, es handele sich bei »Kompetenz« offenbar um einen Megacontainerbegriff, in dem dann weitere Minikartons voller Kompetenzteildimensionen gestapelt sind. Man könnte etwas unfreundlicher von bloßen Redensarten sprechen, die voneinander nicht abgrenzbare »Fähigkeiten« (Wissen, Verstehen, Können, Erfahrung, Motivation, Handeln) in Katalogform bringen, um nicht konkret darüber sprechen zu müssen, wie sie voneinander abhängen und wie unterrichtet werden soll.9

Verantwortlich für den ›Kompetenzboom‹ und für die inflationäre Verwendung des Kompetenzbegriffs in der Lehrerbildung sind nach dem Urteil Kaubes nicht zuletzt die empirischen Bildungsforscher, die die wichtige Frage nach den anzustrebenden Erkenntnissen ausblenden: [D]ie Bildungsforscher [müssten] sich dann ja entscheiden, was sie inhaltlich für wichtig halten. Wobei Inhalte ihrer tiefen Überzeugung nach doch schon deshalb zweitrangig sind, weil das Lernen selbst und nicht etwas davon Unterschiedenes gelernt werden soll. Wie aber sollen Schüler »kompetent« werden, wenn sie nicht wissen, worum es sich bei der Sache, die sie kompetent bearbeiten sollen, überhaupt handelt ?10

Diese Unfähigkeit, sich auf bestimmte Fachinhalte festzulegen, führe auf dramatische Weise dazu, »den Unterricht zu verblöden«11 – vor allem auch durch die tech

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10

Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Würzburg 2014, S. 144 (Fußnote 43). Hervorhebungen von M. Z. Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder ? Berlin 2019, S. 90. Ebd., S. 92. Ebd., S. 93.

Einleitung

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nische Maßgabe (und den erkenntnistheoretischen Irrglauben), dass man – wie etwa im Methodentraining bei Klippert12 – »das »Lernen des Lernens« direkt«13 ansteuern könne. Das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik darf deshalb – auch in seiner Konzeption als Lehrbuch – als ein unzeitgemäßer Gegenentwurf verstanden werden, weil hier die Sache und somit die Inhaltserschließung im Zentrum steht. Des Weiteren lässt sich das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik in verschiedenen Klassenstufen einsetzen, wenngleich es sich thematisch am besten in der Sekundarstufe II bzw. für die Oberstufe eignet, z. B. unter den beiden kantischen Fragen: »Was soll ich tun ?« oder »Was ist der Mensch ?«14 . Allerdings ist es auch möglich, einige der Unterrichtseinheiten aus dem Lehrstück in der Sekundarstufe I bzw. in den Klassenstufen 9 und 10 durchzuspielen: zum Beispiel die erste oder auch die vierte Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.1 und 2.4).15 Das Lehrstück umfasst viele Themenfelder der Ethik, weshalb es auch auf die Interessen und die Kreativität des Lehrers ankommt, die thematischen Bezüge zu den unterschiedlichen Fragen der Ethik selbst herzustellen – und das Lehrstück bzw. die einzelnen Unterrichtseinheiten- und sequenzen so abzuwandeln, dass sie sich für die Erschließung des jeweiligen Themas eignen. Das bedeutet auch, dass das Lehrstück nicht zwangsläufig vollständig im Ethikunterricht durchgespielt werden muss, sondern dass jeder Lehrer frei darüber entscheiden kann, welche Lehrstückeinheit er für welches Thema einsetzen und wieviel Zeit er sich dafür nehmen möchte. Nur eins sollte klar sein: Jedes kleine Lehrstück in diesem Buch steht aufgrund seines exemplarischen Charakters und aufgrund der Nachdenklichkeit, die es den Schülern abverlangt, für eine andere Bemessung des Zeitaufwands als die, die die Lehrplanverfasser für die Bewältigung der einzelnen »Unterrichtsstoffe« vorgesehen haben. Der Lehrstück

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Heinz Klippert: Methoden-Training. Übungsbausteine für den Unterricht. Weinheim und Basel 2005 [15. Auflage]. Vgl. Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder ? S. 93. Vgl. beispielsweise Thüringer Lehrplan für den Erwerb der allgemeinen Hochschulreife: Ethik (2012). Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur, S. 28 ff. und S. 32 ff., unter: www.schulportal-thueringen.de/media/detail ?tspi=2838 (Stand: 03.09.2020). Der Thüringer Lehrplan ist, wie viele andere Lehrpläne auch, kompetenzorientiert, die Lehrstückdidaktik wie gesagt inhaltszentriert. Die von mir gewählte thematische Zuordnung folgt also nicht – wie viele Lehrpläne – der Logik der Kompetenzentwicklung, sondern darf eher als Versuch verstanden werden, dem Lehrplan die nötige inhaltliche Tiefe zu verleihen. Dabei lassen sich die Themen des Lehrstücks besonders gut dem Bereich der Anthropologie zuordnen: »An einem beispielhaften Schwerpunkt lernt der Schüler, wie sich der Mensch in verschiedenen Erfahrungshorizonten und Lebenswelten verstanden hat und versteht. […] In der Auseinandersetzung mit der Wesensbestimmung des Menschen in ihrer historischen und kulturellen Bedingtheit gewinnt der Schüler Hilfe für seine eigene Orientierung. Dabei befragt er auf der Grundlage ausgewählter philosophischer Positionen Argumente auf ihre Gültigkeit, prüft offen gebliebene Fragen und bezieht aktuelle Diskussionen ein.« (Ebd., S. 32). Vgl. beispielsweise ebd., S. 21, unter: s. Anm. 12. Zum Beispiel im Themenfeld: »Der Schüler in sozialen Beziehungen – Ich und Wir. In der Auseinandersetzung mit verschiedenen Menschenbildern und ethischen Grundpositionen reflektiert der Schüler seine eigene Position und entwickelt Vorstellungen von einem gelungenen persönlichen und gesellschaftlichen Leben.« (Ebd.)

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Kapitel 1

ansatz steht demnach auch quer zu den Beschleunigungsinitiativen der heutigen Lernindustrie und vielmehr für das ruhige Verweilen bei einer Sache, die sich dem Lernenden nur dann sinnvoll erschließt, wenn er sich dafür auch während des Unterrichts hinreichend viel Zeit nimmt. Außerdem hat das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik eine eindeutige fachliche Ausrichtung: Es gehört in das Fach Ethik und Philosophie. Gleichwohl macht die Sache – schon gar nicht die Ethik – nicht vor einzelnen Fächergrenzen halt, weshalb Streifzüge in andere Disziplinen und Fächer legitim und inhaltlich häufig wünschenswert sind. Ein solcher Streifzug wird beispielsweise in der sechsten Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.6) unternommen, die nicht nur als Einführung in die aristotelische Mesoteslehre, sondern darüber hinaus als Einstieg in die Komödientheorie verwendet werden kann. Die Lehrstückdidaktik ist eine aristotelisch geschulte Didaktik, und damit eng verbunden ist ein bestimmtes Verständnis von ethischem Lernen und von ethischer Bildung, das ich im Einleitungskapitel ›Die aristotelische Lehrkunst als methodisches Prinzip der Lehrstückdidaktik‹ und im ›Fazit‹ genauer darstellen werde (vgl. unten, 1.3 und 3). Dieses Verständnis setzt eine Wissensform voraus, die Wolfram Hogrebe als »szenische Wissensform«16 bezeichnet und die in den aktuellen fachdidaktischen Diskussionen keine Rolle spielt.17 Aus der Anerkennung des »Szenischen als Wissensform«18 resultiert mithin ein ungewöhnliches Bildungsverständnis, das eine Neubestimmung der methodischen Gestaltung des Ethikunterrichts ermöglicht und verlangt. Die Lehrstückdidaktik darf daher als ein Versuch eingestuft werden, das aristotelische Konzept einer ethischen Bildung wieder stark zu machen. Ein wesentliches Merkmal der Lehrstückdidaktik ist die mimetische Darstellungskunst, die mit Aristoteles als ein Prinzip des Erkennens und Lernens verstanden wird (vgl. unten, 1.3.5). Diese Darstellungsarbeit, die das Kerngeschäft im Lehrstückunterricht bildet, fußt auf dem »Szenischen als Wissensform«19 und davon ausgehend auf dem epistemologischen Verständnis, dass das ethische Lernen hauptsächlich eine Imaginationsleistung ist (vgl. unten, 1.3.6). Die Schulung der Phantasie und Einbildungskraft muss folglich im Ethikunterricht unbedingt vorrangig angestrebt werden, weil sie einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung der moralischen Reife leistet. Aus dieser aristotelischen Theorie des Wissens ist das lehrstückdidaktische Darstellungsgebot abgeleitet (vgl. unten, 2.7.2). Es baut darauf, dass die Schüler aufgrund ihrer Lebenserfahrungen bereits so gut mit dem Schauspiel menschlichen

Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen. Berlin 2009, S. 11. 17 Etwas holzschnittartig darf man wohl sagen, dass die meisten der ethikdidaktischen Konzepte eine Wissensform implizieren, die sich hauptsächlich an der Logik und der Mathematik orientiert. Daher werden auch vor allem das logische Argumentieren und die Fähigkeit, begriffliche Unterscheidungen treffen zu können, als rationalitätssichernde Kompetenzen angesehen. Vgl. unten, 2.7.2 und 3. 18 Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 11. 19 Ebd. 16

Einleitung

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Handelns vertraut sind, dass sie die exemplarischen Situationen und Szenen, mit denen sie im Unterricht konfrontiert werden, selbstständig deuten und ihr Verständnis in der Auseinandersetzung mit anderen Erklärungen vertiefen und weiterentwickeln können (vgl. unten, 1.3.3 und 2.1.1). Sämtliche Äußerungen der Schüler, die infolge der szenischen Vergegenwärtigung artikuliert werden, stehen daher epistemologisch und didaktisch betrachtet niemals in einem unbestimmten oder zufälligen Situationszusammenhang. 20 Erst vor diesem Hintergrund wird das dramaturgische und ästhetische Moment der Lehrstückdidaktik verständlich (vgl. unten, 1.3.4, 1.3.6 und 2.7.2), denn es wird sich zeigen, dass die verschiedenen Darstellungsformen im Unterricht so eingesetzt werden, dass die Wahrnehmungen, Gefühle, Imaginationen und sprachlichen Verlautbarungen der Schüler – sprich ihre Äußerungen – stets »in eine Folge von Lernsituationen und Lernaufgaben [eingebettet sind]« 21, die vom Lehrer als eine Handlungseinheit entwickelt und als eine szenische Abfolge konzipiert worden sind. Durch den vom Lehrer gewählten inhaltlichen Zusammenhang der Inszenierungen und durch das von ihm gewählte Beispiel schafft er die Rahmenbedingungen, die benötigt werden, um die Aufmerksamkeit der Schüler so zu leiten, dass sie sich Schritt für Schritt den Aspekten des menschlichen Handelns zuwenden, die für den gewünschten Lernprozess entscheidend sind. Man kann daher nach dem Vorbild des Theaters von einer »Dramaturgie des Unterrichts« 22 sprechen, da die Abfolge der Inszenierungen so angelegt ist, dass sich das Lehrstück als eine Handlungseinheit präsentiert. Nach diesem Plan soll das Verständnis systematisch erweitert und vertieft werden, weil sich in der Auseinandersetzung mit der Sache eine dramatische Spannung aufbaut, 23 die sich auflöst, wenn die Schüler die Rätsel, auf die sie gemeinsam stoßen, selbstständig lösen – und wenn das Lehrstück damit seinen Höhe­ punkt erreicht. In diesem Zusammenhang sei eine Bemerkung zur Lage der Ethik- und Philosophiedidaktik und zur Stoßrichtung dieses Buches gestattet: In der zeitgenössischen Didaktikforschung dominieren vor allem die problem- und kompetenzorientierten Lernansätze, die auch in den Lehrplänen der Fächer Philosophie und Ethik präferiert werden. 24 Besonders die starke Fokussierung auf einen kompetenzorientierten Ethik- und Philosophieunterricht führt dazu, dass die fachlichen Inhalte zunehmend in den Hintergrund rücken und somit auch die Auseinandersetzung mit der



Vgl. Hans Christoph Berg/Ueli Aeschlimann/Astrid Eichenberger: Lehrstückunterricht. Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch. In: Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Weinheim und Basel 2002, S. 111. 21 Ebd., S. 111 f. 22 Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Heidelberg 1959. 23 Der Unterschied zwischen »dramaturgisch« und »dramatisch« ist begrifflich so zu verstehen, dass ersteres die Inszenierungspraxis des Lehrers meint, letzteres dagegen das Erleben der Schüler. 24 Vgl. Kirsten Meyer: Kompetenzorientierung. In: Julian Nida-Rümelin, Irina Spiegel, Markus Tiede­mann (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2017 [2. Auflage], S. 104–113, hier S. 104. 20

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Sache. 25 Die Lehrstückdidaktik versucht hier einen anderen Weg zu gehen – beispielhaft auch das Lehrstück zur aristotelischen Ethik in diesem Buch. Einen Weg, dessen vorrangiges Ziel es nicht ist, z. B. die Argumentationskompetenz, Handlungskompetenz und Problemlösefähigkeit der Schüler auszubilden, sondern auf dem sie beispielsweise lernen, warum »Paula«, wenn sie sich zuhause allein vor dem Spiegel schön macht, die undurchsichtige Macht des Ansehens zu spüren bekommt (vgl. unten, 2.1). Anhand von beispielhaften Szenen und Situationen menschlichen Handelns sollen die Schüler ins Nachdenken kommen; bei der Betrachtung von Szenen, die für sie nicht auf den ersten Blick durchsichtig sind und die sich demnach auch nicht so leicht verstehen lassen und sie gerade deshalb zum Denken animieren. ›Denken‹ sollte man daher »als einen objektnahen Vorgang begreifen«26 , und die Unterrichtsgegenstände sind demzufolge »in dem Maße geeignet, in dem sie zum Nachdenken führen. Fast möchte man sagen: Man kann viel weniger unterrichten, solange es sich nur um einprägsame, weil das Denken ansprechende Unterrichtsstoffe handelt, um Tatsachen, die sich als Quell von Fragen erweisen.« 27 Vor den philosophischen Problemen und den zu entwickelnden Kompetenzen stehen im Lehrstückunterricht also die exemplarischen Themen, die für die Schüler erfahrbar sein müssen, damit sie sie durchdenken und als relevante Probleme überhaupt erkennen können. Das setzt ein Verständnis von Erfahrung und Lernen voraus, das auf die Lerntheorie des Aristoteles zurückgeht (vgl. Kapitel 1.3). Diesem Verständnis liegt auch ein ganz bestimmter Begriff von Rationalität zugrunde, der für das Konzept der Lehrstückdidaktik und für ihre Sichtweise auf eine ethische und philosophische Bildung prägend ist. Die Lehrstückdidaktik steht hier offensichtlich in einer anderen Tradition als viele der anderen fachdidaktischen Konzepte, die vor allem die Ausbildung der logisch-argumentativen Kompetenz als wichtigstes Bildungsziel bestimmen (vgl. unten, 2.7.2). Demgegenüber ist in der Lehrstückdidaktik die Schulung der Phantasie und der Einbildungskraft das Zentrum der Bildung, weil der Schatz, der in der Erfahrung liegt, nur auf diesem Wege zugänglich gemacht werden kann. Dabei spielen die Darstellungen des Schauspiels menschlichen Handelns, die den Schülern im Unterricht vorgeführt werden, eine maßgebliche Rolle für die erfahrungsgeleitete Einsichtsgewinnung und die Verständniserweiterung. Besonders dann, wenn sie bei



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Der damit verbundene »Inhaltsverlust« ist ein fächerübergreifendes Problem, das auch einen bildungspolitischen Hintergrund hat, den Gruschka sehr klar herausstellt: »[D]ie altehrwürdige Debatte über die Ziele und Inhalte schulischer Erziehung und Bildung gilt in den Augen der Reformer als überwunden mit dem nunmehr weltweit geltenden Konzept einer auf »Literacy« ausgerichteten Kompetenzentwicklung. Das Konzept teilt mit den »Wissensdomänen« im muttersprachlichen, fremdsprachlichen, mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich mit, was man mindestens können muss, um in die fortgeschrittene Wirtschaftsgesellschaft integriert werden zu können.« (Andreas Gruschka: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011, S. 10.) Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder ? S. 99. Ebd., S. 103.

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den Schülern für Irritationen sorgen, sodass ihr konventioneller Blick auf die vertrauten Schauspiele nicht wenig verwirrt wird. Diese Erschütterung soll angestrebt werden, weil mit ihr neue Perspektiven auf das menschliche Tun und Treiben eröffnet werden. In Gesprächen mit Hellmut Becker macht sich Adorno darüber Gedanken, wie eine »Erziehung zur Mündigkeit« aussehen könnte. In diesem Zusammenhang kommt er darauf zu sprechen, dass das Denken, wenn es denn auf eine rein formale Form gebracht wird, dazu neigt, erfahrungsarm und inhaltslos zu werden: Ich glaube, das hängt sehr tief mit dem Begriff der Rationalität oder des Bewußtseins überhaupt zusammen. Man hat davon im allgemeinen einen viel zu engen Begriff, nämlich den der formalen Denkfähigkeit. Sie ist aber selber bereits eine Verengung der Intelligenz, ein Spezialfall der Intelligenz, dessen es gewiß bedarf. Das aber, was eigentlich Bewußtsein ausmacht, ist Denken in bezug auf Realität, auf Inhalt: die Beziehung zwischen den Denkformen und -strukturen des Subjekts und dem, was es nicht selber ist. Dieser tiefere Sinn von Bewußtsein oder Denkfähigkeit ist nicht einfach der formallogische Ablauf, sondern er stimmt wörtlich mit der Fähigkeit, Erfahrungen zu machen, überein. Denken und geistige Erfahrungen machen, würde ich sagen, ist ein und dasselbe. Insofern sind Erziehung zur Erfahrung und Erziehung zur Mündigkeit, so, wie wir versucht haben, es auszuführen, miteinander identisch. 28

Die Lehrstückdidaktik nimmt im Rahmen der fachdidaktischen Konzepte eine kritische Vermittlungsposition ein – vor allem deshalb, weil sie die Didaktik der Fächer Philosophie und Ethik von den zu erschließenden Inhalten und vom Unterricht her denkt. Das Problem, das Martens bereits 1983 diagnostizierte, scheint also in einer gewissen Hinsicht nach wie vor fortzubestehen: Ein »Defizit liegt darin, dass bei aller notwendigen Arbeit auf der Ebene der Didaktik-Praxis bisher umfassendere Theoriebildungen fehlen oder eher abgehoben von der Didaktik-Praxis in der ›reinen‹ Philosophie verbleiben, zudem sind sie meist abgeschnitten vom interdisziplinären Kontext der Erziehungswissenschaft und ihrer Hilfsdisziplinen.« 29 Die Lehrstückdidaktik macht es sich zur Aufgabe, dieses Defizit zu beheben, weil hier die Theoriebildung nicht abgehoben von der Unterrichtspraxis stattfindet, sondern stattdessen beispielhafte Lehrstücke zum Ausgangspunkt der didaktischen und methodischen Überlegungen gemacht werden. 30 Damit ist ein Hauptanliegen Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1971, S. 116. 29 Ekkehard Martens: Einführung in die Didaktik der Philosophie. Darmstadt 1983, S. 8. 30 Das Vorgehen in diesem Buch hat daher auch eine Ähnlichkeit mit dem Konzept der »situativen Didaktik«, und zwar deshalb, weil hier von der ›konkreten Lehrpraxis‹ ausgegangen wird. Analog zur »situativen Didaktik« werden im Lehrstückunterricht Szenen und Situationen »in exemplarischer Bedeutung [verwendet]: Implizit wenden Schülerinnen und Schüler Denkschemata an, indem sie sich eine konkrete Situation vorstellen. Solche Denkschemata können in der reflexiven Betrachtung von Situationen entdeckt werden. Situationen dienen also der Aufklärung über 28

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dieses Lehrstücks zur aristotelischen Ethik klar bestimmt. Soll eine Didaktik nach diesem Prinzip institutionell etabliert werden, muss die experimentelle Erprobung innovativer Formen der Unterrichtsgestaltung und die Entwicklung von paradigmatischen Lehrstücken angestrebt werden, die sich in der Praxis bewähren. 31 Dabei darf weder die Theoriebildung noch der interdisziplinäre Kontext ausgeblendet werden, weil es sich bei der Lehrstückdidaktik um ein allgemeindidaktisches Konzept handelt und weil die Fächergrenzen im Philosophie- und Ethikunterricht zwar respektiert, aber dennoch überschritten werden (müssen). Ein Haupteinwand gegen die Lehrstückdidaktik besteht nun aber darin, dass hier eine umfassende Theoriebildung fehlt. Bonati kritisiert die Lehrstückdidaktik teilweise zu Recht, indem er deutlich macht, dass sie nicht über eine ›Theorie‹ des Lernens verfüge, die aufzeigt, wie der Wissenserwerb zu denken sei. Infolgedessen bleibe auch unklar, in welcher Weise sich das Lernkonzept der Lehrstückdidaktik von anderen Konzepten unterscheide. Vielmehr handele es dabei lediglich um ein »Gefüge von Grundsätzen (das Genetische, das Sokratische, das Exemplarische, das Dramaturgische).« 32 Dieses sei zwar »grundsätzlich konsistent«, aber es fehle eben eine »eindeutige Begrifflichkeit.« 33 Auch wenn Wagenscheins Ansatz eines ursprünglichen Verstehens ganz sicher nicht ›theoriefrei‹ ist, 34 ist die grundsätzliche Stoßrichtung der Kritik doch verständlich; vor allem deshalb, weil die damit zugrunde gelegte Theorie des Lernens von Wagenschein nicht aufgedeckt und auch nicht hinreichend erklärt wird. Bereits Berg und Schulze reagieren auf dieses Theo­ riedefizit der Lehrstückdidaktik, indem sie selbst den Versuch unternehmen, die



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zugrunde liegende Denkmodelle.« (Michael Fröhlich/Klaus Langebeck/Eberhard Ritz: Philosophieunterricht. Eine situative Didaktik. Göttingen 2014, S. 23.) Im Gegensatz zur »situativen Didaktik« werden die beispielhaften Situationen hier allein dafür verwendet, dass die Schüler ein bestimmtes philosophisches Denkmodell, nämlich das aristotelische, verstehen und zugleich kritisch beurteilen können. (Vgl. ebd., S. 23.) Der Lehrstückunterricht ist deshalb auch ein vorgedachter Unterricht: »Der nachdenkliche Unterricht ist ein vorgedachter, einer, in den zuvor Gedanken investiert worden sind. Nicht nur in die Unterrichtsfragen selbst und die Art zu begründen, warum es sinnvoll ist, sich mit einem bestimmten Stoff zu beschäftigen, sondern auch in der Frage, was typische Antworten, Schwierigkeiten, Beiträge der Schüler sein könnten.« (Jürgen Kaube: Ist die Schule zu blöd für unsere Kinder ?, S. 106.) Peter Bonati: Lehrkunstdidaktik und Lehrstücke – ihr Beitrag zu Didaktik und Unterrichtsentwicklung. In: Beiträge zur Lehrerbildung 21 (2003), S. 93–107, hier S. 100. Vgl. https://www.­ pedocs.de/volltexte/2017/13516/pdf/BZL_2003_1_93_107.pdf (Stand: 01.09.2020). Für den Hinweis auf den Artikel möchte ich mich bei Anne Gnielka bedanken, die in ihrer Examensarbeit auf die Kritik Bonatis an der Lehrstückdidaktik noch ausführlicher eingeht. Anne Gnielka: »Das Drama des Verliebens – Ein Unterrichtsbeispiel für Klasse 10 (S. 3 ff.).« Vgl. http://jenaerschule. de/wp-content/uploads/2018/06/Anne-Gnielka_Das-Drama-des-Verliebens.pdf (Stand: 01.09.2020). Die oben genannten »Grundsätze« der Lehrstückdidaktik werden in den einzelnen didaktischen Kommentaren genauer erläutert. Vgl. unten, 2.1.1, 2.4.1, 2.5.1 und 2.7.2. Peter Bonati: Lehrkunstdidaktik und Lehrstücke – ihr Beitrag zu Didaktik und Unterrichtsentwicklung, S. 100. Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren. Genetisch – Sokratisch – Exemplarisch. Weinheim und Basel 1999. Vgl. Martin Wagenschein: Ursprüngliches Verstehen und exaktes Denken I. Stuttgart 1970.

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beiden Begriffe des Genetischen und des Dramaturgischen genauer zu bestimmen. 35 Doch auch bei ihnen bleibt die Theoriebildung auf halbem Wege stehen, weil sie insgesamt noch zu wenig den erkenntnis- und lerntheoretischen Unterbau der Lehrstückdidaktik in den Blick nehmen – und weil sie vielleicht auch zu wenig das philosophische Problem reflektieren, das in dieser Lerntheorie steckt. Deshalb beginnt dieses Buch mit einer Art philosophischen Vorrede, in der die Lerntheorie des Aristoteles – ausgehend von seinem Konzept der epagoge – dargestellt wird (vgl. unten, 1.3). Auf der Grundlage dieser Lerntheorie sollen dann in den einzelnen didaktischen Kommentaren die oben genannten Grundsätze der Lehrstückdidaktik (vgl. unten, 2.1.1, 2.4.1, 2.5.1 und 2.7.2) genauer begründet werden. Dabei liegt der Fokus bei der philosophischen Begründung auf dem ethischen Lernen, was aber nicht heißt, dass sich die aristotelische Lehrkunst als allgemeindidaktisches Konzept nicht auch auf andere Phänomene und Disziplinen übertragen lässt.

1.2 Das Konzept des Lehrstücks Zum großen Schauspiel der Erscheinungen, das wir wahrnehmen, gehört auch das Schauspiel menschlichen Handelns mit seinen unzähligen Szenen, die sich häufig ähneln und wiederholen und die wir daher auch bei unzähligen Gelegenheiten in den Blick nehmen können. Dies tun wir im Laufe unseres Lebens so oft, dass wir nicht Weniges von dem erfassen, was sich in ihnen zeigt. Offensichtlich sind wir fähig, uns das einzuprägen, was uns auf diese Weise deutlich wird, und es lebenslang zu behalten. Denn anders ist nicht zu erklären, dass wir bei der Wahrnehmung der meisten menschlichen Handlungen sogleich feststellen, welche Beweggründe und Ziele sie haben. Somit erweist sich, dass wir in dieser Hinsicht ein Urteilsvermögen besitzen, auf das wir zurückgreifen, wenn wir sie einordnen und bewerten – oder wenn wir das, was sich in unserer Sicht zeigt, unseren Mitmenschen mitzuteilen versuchen. Unter dieser Voraussetzung steht außer Zweifel, dass auch die Schüler jeden Alters ein Auffassungsvermögen haben und über ein Urteilspotential verfügen, das sich manifestiert, wenn sie eine Handlung wahrnehmen und diese interpretierend bewerten. Dazu sind sie, wie sich erweist, auch im Unterricht bereit, was sie dazu bewegen kann, zusammen mit ihren Mitschülern eine Szene in den Blick zu nehmen. In einem Unterricht, der darauf ausgerichtet ist, muss der Lehrer folglich in der Kunst geübt sein, als erstes dafür zu sorgen, dass allen Beteiligten eine solche Szene präsent ist. Ist dies der Fall, haben die Schüler eine Gelegenheit, den Vorgang eingehender zu beobachten – jeder von ihnen mit dem Verständnis, das ihm zu

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Vgl. Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: ders./Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik. Neuwied, Kriftel und Berlin 1995, S. 349–360. Vgl. Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 361– 420.

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eigen ist. Was sich dabei zeigt, kann und soll exemplarisch 36 und somit in vielerlei Hinsicht bemerkenswert, beeindruckend, vielleicht auch irritierend und unter möglichst vielen relevanten Gesichtspunkten aufschlussreich sein und ihr Interesse wecken. So sehr, dass es ihnen entgegenkommt, wenn man sie dazu auffordert, das, was sie jeweils erkennen und was sie dabei besonders bewegt, auch den anwesenden Mitbetrachtern deutlich zu machen. Um dies zu erreichen, müssen sie sich darum bemühen, das, was sie entdecken, darzustellen und für die Beteiligten zugänglich zu machen – entweder mit den sprachlichen Ausdrucksmitteln, über die sie verfügen, oder indem sie eine andere Darstellungsform wählen. Dies zu tun, erfordert nach aller Erfahrung einiges Selbstbewusstsein und nicht wenig Mut. Deshalb müssen sie möglichst geschickt dazu ermuntert werden, ihre Hemmungen zu überwinden und das aufzudecken, was sie selbst bemerkenswert finden und was sie – aus welchem Grund auch immer – zu Erklärungen und Bewertungen herausfordert. Zögern und Zurückhaltung sind meist vergessen, sobald sich einige Schüler vorwagen und ihre Einschätzungen präsentieren. Denn mit dieser Präsentation treten sie – zumeist ohne sich dessen bewusst zu sein – in einer Rolle auf: in der Rolle eines Darstellers, der sich mit seiner Darstellung auch selbst vorstellt. Dies geschieht natürlich auch dann, wenn sie sichtlich bestrebt sind, das zu verbergen, was sie tatsächlich umtreibt. Treten sie so auf, machen sie ihre Mitschüler zu Zuschauern, die in dieser Rolle das, was ihnen gezeigt wird, aus mehreren Gründen nicht unbewegt hinnehmen. Vor allem deshalb nicht, weil sie mit dem, was ihre Darstellung deutlich macht, auch etwas von ihrer Sichtweise offenbaren. Dadurch setzen sich die Zuschauer durchaus nicht unvoreingenommen mit der präsentierten Deutung und Bewertung der Szene auseinander. Lassen sie sich nämlich auf die Interpretation ein, dann sehen sie auch den Interpreten, der sich darin zu erkennen gibt, und zwar als eine Person, zu der sie ein in vielerlei Hinsicht vorgeprägtes persönliches Verhältnis haben. Weil sich alle mehr oder minder gut kennen und sich bei ihren Präsentationen besser kennenlernen, rechnen sie folglich damit, dass sie auch selbst zuerst als Personen betrachtet werden, die ihre Einstellungen, Wertvorstellungen und ihre Gefühle aufdecken, wenn sie sich mit Hinweisen auf die Stimmigkeit und Angemessenheit der präsentierten Einschätzung hervortun. Somit ist für alle durchsichtig, dass sie mit ihren Argumenten nicht allein diese vortragen, sondern sich zugleich damit auch selbst zeigen – und somit das Risiko eingehen, auch danach eingeschätzt und bewertet zu werden. Weil diese Dimension nicht ausgeblendet werden darf, muss klar sein, dass mit dem Vortreten der ersten Darsteller und mit der Präsentation der ersten Deutun-



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Die Inhalte, die im Lehrstückunterricht vermittelt werden, sollten einen exemplarischen Charakter haben. Das heißt, dass das einzelne Beispiel, welches vom Lehrer ausgewählt wird, nach Ansicht von Martin Wagenschein ein »Spiegel des Ganzen« sein soll. (Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 32.) Das exemplarische Phänomen hat einerseits die Aufgabe, die Aufmerksamkeit der Schüler auf sich zu ziehen. Andererseits dient es als Vergegenwärtigung einer in gewissem Sinne bereits vertrauten Erscheinung, die eine Fülle von Entdeckungen ermöglicht.

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gen und Bewertungen die Exposition eines lehrreichen Dramas 37 vorgezeichnet ist, das nur dann zum Ziel führt, wenn der Unterricht als ein Drama gestaltet und von einem Regisseur geleitet wird, der es sinnvoll und vorausschauend inszeniert. Kunstgerecht und erfolgreich ist diese Inszenierung dann, wenn sie dazu führt, dass die Mitspieler sich gegenseitig auf das aufmerksam machen, was sie im Hinblick auf die gemeinsam betrachtete Szene mit ihren Mitteln hervorzuheben und deutlich zu machen versuchen. Geschieht dies, kann und soll es dazu kommen, dass die Akteure in der Auseinandersetzung mit den vorgetragenen Auffassungen ihr eigenes Verständnis weiterentwickeln. Denn damit haben sie einen Grund, die vorgeführte Handlung noch eingehender und unter neuen Gesichtspunkten zu betrachten. Gewinnen sie dabei neue Einsichten und somit auch neue Einordnungsmöglichkeiten, vollbringen sie – als genetisch 38 Lernende – Leistungen, die ihnen niemand abnehmen kann und die daher deutlich von den Leistungen anderer Art abzugrenzen sind, zum Beispiel von denen, die sie erbringen, wenn sie eine Formulierung oder eine vorgegebene Darstellungsform übernehmen. Finden sie, so unterstützt und angeleitet, einen Weg zur Erweiterung und zu einer weiteren Klärung ihres ersten Verständnisses, können sie einsehen, dass es möglich und nötig ist, das Entdeckte genauer und differenzierter darzustellen, als es zuvor geschehen ist. Damit stehen sie vor einer Aufgabe, die ihnen viel abverlangt, weil es für sie natürlich keineswegs leicht ist, das von ihnen Erfasste so darzulegen, dass es auch für Mitspieler im Lerndrama fassbar wird. Obwohl diese Bemühung selbstverständlich mehr oder minder erfolgreich sein kann, muss sie allen Beteiligten unbedingt zugemutet werden, weil sich anders nicht erweisen kann, wie groß und von welcher Art ihre Lernfortschritte sind. Die Darstellungsaufträge sollen ihnen somit etwas Anderes abverlangen als den Nachweis der Fähigkeit, möglichst viel von dem, was im Verlauf des Unterrichts gut präsentiert und vorgetragen worden ist, noch einmal in angemessener Form wohlgeordnet und vollständig vorzutragen. Diese Aufträge müssen vielmehr so konzipiert sein, dass die Bearbeiter nicht umhinkönnen, den eigenen Weg zur Vertiefung ihres Verständnisses nachzuzeichnen und einsichtig zu machen: nämlich den Weg, auf dem sie selbst in der Auseinandersetzung mit den präsentierten Erklärungen, Modellen und Darbietungen zu den Erkenntnissen geführt worden sind, die nach ihrer eigenen Einschätzung entscheidend sind. Auch wenn verschiedene Darstellungsformen im Lehrstückunterricht ihre Berechtigung haben, nimmt die Schulung des sprachlichen Ausdrucksvermögens dennoch eine besondere Rolle ein. Jeder Schüler soll das, was er bei der sorgfältigen Vgl. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 120. Der Vergleich des Lernvorgangs mit den Wirkungen des dramatischen Kunstwerks ist in der Lehrstückdidaktik nicht unüblich. Hausmann geht sogar so weit, »die Bildung als Drama zu verstehen.« (Ebd.) 38 Der Lehrstückunterricht erfordert einen genetischen Lehrgang. Dieser zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass die Kenntnisse nicht durch den Lehrer vermittelt werden, sondern dass der Schüler durch die Auseinandersetzung mit einem besonderen Beispiel das Wesentliche der Sache selbst entdeckt. Daher muss im genetischen Lehrgang auch die »Sache reden« – und nicht (so viel) der Lehrer. (Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 81.) 37

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Betrachtung und Interpretation der Szenen entdeckt, mit seinen Worten so gut erklären, dass es auch seinen Mitschülern klar wird. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die er unbedingt möglichst gut bewältigen sollte. Denn mit der Ausschöpfung seiner sprachlichen Mittel, die ihm große Anstrengungen abverlangt, entwickelt und erweitert er sein eigenes sprachliches Ausdrucksvermögen, und diese Erweiterung ist die Voraussetzung für die angestrebte Klärung und Vertiefung seines Verständnisses und seines Urteilsvermögens. Geht ihm auf, dass beides untrennbar miteinander zusammenhängt, wird ihm klar, wie wichtig und mühsam eine sorgfältige Wortwahl ist und wie sehr es auf genaue und treffende Formulierungen ankommt. Aber er plagt sich nicht mit Begriffsdefinitionen oder dem Versuch, die Bedeutung eines einzelnen Wortes für sich genommen und für alle Fälle zu bestimmen und festzulegen. Darum sollen die Schüler im Lehrstückunterricht dazu angeleitet werden, an einem dialogischen Drama und an dem in ihm stattfindenden Spiel mit Sprache und Worten teilzunehmen. Als Spieler, die im Spiel nicht nur begreifen, wie wichtig eine klare und verständliche Sprache ist, sondern die auch die Erfahrung machen, dass sie bei der hermeneutischen Erschließung der Szenen menschlichen Handelns nicht selten die Grenzen der sprachlichen Bestimmungsmöglichkeiten erreichen. Im Lehrstückunterricht soll demnach das Denken geübt und die Urteilsfähigkeit weiterentwickelt werden.

1.3 Die aristotelische Lehrkunst als methodisches Prinzip der Lehrstückdidaktik 1.3.1 Epagoge: das methodische Prinzip »Das Lernen [ist] als philosophisches Problem immer mehr in Vergessenheit geraten.« 39 Tonangebend sind in den Erziehungswissenschaften vor allem Lerntheo­ rien, die davon ausgehen, dass der Lerner seinen Lernprozess nur selbst steuern kann und dass ihm deshalb geeignete Lernumgebungen angeboten werden müssen, damit er selbst aktiv werden könne. 40 Als autonomer Lerner und kreativer Selbstgestalter bringt sich der Lerner also den Wissensstoff quasi von allein bei: Er kümmert sich selbstkompetent um seine Kompetenzentwicklung. Der Lehrer ist allenfalls noch sein ›Coach‹ oder auch ein Moderator, der den Prozess des selbstgesteuerten Lernens begleitet. 41 Den Lernerfolg kann er dadurch anstreben, dass er sich auf eine möglichst vielseitige Methodenwahl besinnt, und durch die Inanspruchnahme von kooperativen Lernformen, in denen sich die Lerner gegenseitig bei ihren Lernprozessen helfen sollen.

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Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Darmstadt 1989, S. 29. Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens. München 2012, S. 133. Vgl. ebd.

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Im Gegensatz dazu geht die Lerntheorie des Aristoteles von einem passiven Lerner aus. Als Wahrnehmender ›erleidet‹ der Mensch das Weltgeschehen. Erst nachträglich kann er auf das achten, was ihm dabei zugestoßen ist, und aufdecken, zu welchen Kenntnissen er auf diesem Weg gekommen ist. 42 Aufgrund seiner Wahrnehmung kann der denkende Mensch also gar nicht so aktiv und autonom sein, wie es beispielsweise die von Maturana und Varela biologisch begründete Erkenntnistheorie voraussetzt 43 – und ihr folgend vor allem auch die konstruktivistische Lerntheorie. 44 Für Aristoteles ist der Einzelne vielmehr so unentrinnbar in die Natur und in die gesellschaftlichen Ordnungen eingebunden, dass er das, was ihn bewegt, erst im Nachhinein verstehen und dass er sich somit erst in der ›indirekten Nachschau‹ auf das Prinzip und die Gesetzmäßigkeiten seines Handelns besinnen kann. 45 Die aristotelische epagoge macht diesen passiven Weltzugang zum Ausgangspunkt des Lernens und berücksichtigt die Tatsache, dass wir als Menschen immer schon mit den Gegebenheiten der Welt konfrontiert sind – und somit den Befund, dass wir mit ihnen bekannt und vertraut sind, bevor wir sie zu verstehen beginnen. Doch damit wissen wir auch schon immer etwas. Wir fangen also nicht bei null an, sondern besitzen bereits ein Vorwissen, auf das wir zurückgreifen, wenn wir die darin stattfindenden Zusammenhänge noch besser begreifen wollen. Worauf es Aristoteles ankommt, ist, dass das Bekannte stets der Ausgangspunkt all unserer Betrachtungen und somit allen Lernens und Lehrens ist. Mehr noch: Es ist zugleich der Ausgangspunkt und auch der Zielpunkt des genetischen Aufstiegs des Wissens, Vgl. ebd., S. 149. Meyer Drawe stellt mit Blick auf die heutigen Debatten des Lernens völlig zu Recht fest: »Diese Art passiver Intellektualität repräsentiert eine komplexe Struktur, die uns zu denken heute schwerfällt.« (Ebd.) 43 Humberto R. Maturana/Francisco J. Varela: Der Baum der Erkenntnis. Die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. Bern und München 1987. 44 Edmund Kösel: Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur Subjektiven Didaktik. ElztalDallau 1995 [2. Auflage]. 45 Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 71 ff. und S. 148 ff. In meinem Buch geht es vor allem um die didaktische Funktion der indirekt-dialogischen Nachschau, und zwar im Besonderen mit Blick auf die Aufdeckung des moralischen Wissens des Schülers. Dabei erläutere ich auch das Prinzip des Indirekten: Indirekt ist dieser methodische Zugriff insofern, als die Schüler nicht gezwungen sind, über sich selbst zu sprechen, sondern sich als moralisch Urteilende auf eine dargestellte Situation beziehen. Demnach setzen sie sich auch nicht der Gefahr der Bloßstellung aus. Indirekt ist dieser methodische Zugriff aber auch insofern, als er voraussetzt, dass die komplexe Vielfalt der Kriterien, die jeder Schüler hat, eben nicht als eine Reihe fertiger Grundsätze bereitsteht, die nur zur Sprache gebracht werden müssen. Vielmehr vollzieht sich die Reflexion der eigenen Überzeugungen, sprich: das moralische Lernen, nicht in der direkten Konfrontation, sondern durch die Vergegenwärtigung einer dargestellten Situation – also: in einer Nachschau – und die Deutungsanstrengungen des Betrachters. Erst auf diese indirekte Weise nehmen die eigenen Wertmaßstäbe des Betrachters Gestalt an und werden so auch erst begreifbar. Vgl. hierzu auch Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer, Würzburg 2015, § 121, S. 222 ff. Johannes Hachmöller setzt in seinem Buch zu Platons Theaitetos viel grundsätzlicher an; ihn interessieren vor allem die erkenntnistheoretischen und ontologischen Voraussetzungen dieser Art des Wissenserwerbs sowie die Rolle der unterschiedlichen Darstellungsformen beim Hervorholen der Kenntnisse, die jeder Mensch bereits besitzt. 42

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sprich der epagoge. 46 Der Zielpunkt kann nur die gezielte Ausleuchtung und Analyse des bereits Bekannten sein, weil es bei dieser Art des Wissenserwerbs und der Wissenserschließung nur darum gehen kann, mit dem für uns Bekannten noch bekannter zu werden und damit die fragliche Sache richtig zu erfassen. Das methodische Bekenntnis des Aristoteles lautet demzufolge so: »Man muss nämlich von dem Bekannten (gnōrimon) ausgehen.« 47 Dieser methodische Zugriff hängt auch mit dem Gegenstand der Ethik zusammen. Denn die Ethik kann für Aristoteles niemals den Grad an Genauigkeit erreichen, der in den exakten Wissenschaften, wie etwa in der Mathematik, möglich ist. Ihr Gegenstand sind die ›moralischen Phänomene‹, genauer gesagt: das konkrete Handeln der Menschen. Das konkrete Handeln ist nicht abstrakt bestimmbar oder aus einem obersten Prinzip formal ableitbar, sondern es ist »stofflich« und ist somit auch wahrnehmbar. 48 Ethische Einsichten sind ergo nur durch die genaue Beobachtung und Beurteilung des Schauspiels menschlichen Handelns zu gewinnen. Demnach kann die Ethik auch keine so strenge Wissenschaft wie die Mathematik sein. 49 Wer eine Klarheit in ethischen Angelegenheiten gewinnen möchte, ist darauf angewiesen, die moralischen Phänomene genau zu beobachten. Darüber hinaus gibt Aristoteles noch einen zweiten methodischen Hinweis: Dieser bezieht sich auf die Urteile, die die Menschen mit Blick auf das Schauspiel menschlichen Handelns Aristoteles verwendet den Ausdruck der Epagoge im Kontext seiner Schriften an ganz unterschiedlichen Stellen: Vgl. Aristoteles: Rhetorik. Übersetzt und erläutert von Christof Rapp. Erster und zweiter Halbband. Berlin 2002, Rhet. I, 2, 1357a 15 und II, 20, 1393a 26. S. 25 und S. 106. Aris­ toteles: Analytica Posteriora. Übersetzt und erläutert von Wolfgang Detel. Erster Halbband. Berlin 1993, An. Post. I, 1, 71a 1ff. S. 17. Aristoteles: Metaphysik. Nach der Übersetzung von Hermann Bonitz, bearbeitet von Horst Seidl. In: Philosophische Schriften in sechs Bänden, Bd. 5. Hamburg 1995, Met. II, 3, 995a 6ff. S. 39f. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Übersetzt und he­ rausgegeben von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg 2015, NE, I, 2, 1095a 32ff. S. 47. und 1139b 25ff. S. 197. Er unterscheidet zwei Wege des Lernens: den epagogischen und den deduktiven. Das epagogische Lernen steht genetisch betrachtet am Anfang. Es hat also auch Vorrang vor dem deduktiven Weg, weil das philosophische Wissen so ursprünglich entstanden ist. Außerdem muss das beweisende Verfahren von Ausgangspunkten ausgehen, die selbst nicht durch dieses Verfahren zu gewinnen sind, sondern allein durch Induktion (epagoge). (Vgl. NE, 1139b 27. S. 197.) Es bleibt noch zu erwähnen, dass der Ausdruck der Epagoge an keiner Stelle begrifflich festgelegt ist. Er steht vielmehr in einem weiten Sinne für den induktiven Lernweg, also für die Hinführung zu einem Allgemeineren, für das Lernen anhand von Beispielen und überhaupt für die didaktische Kunst, eine Sache besser zu verstehen. (Vgl. dazu auch Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33.) 47 Aristoteles: NE, I, 2, 1095b 1. S. 47. In den Zweiten Analytiken formuliert Aristoteles den lerntheoretischen und methodischen Grundsatz so: »Jede Unterweisung und jedes verständige Erwerben von Wissen entsteht aus bereits vorhandener Erkenntnis.« Aristoteles: Anal. post. I, 1, 71a 1. S. 17. Buck zieht daraus den richtigen Schluss, dass der epagogische Weg für Aristoteles den »eigentlichen Weg des Lernens« darstelle und dass der deduktive und syllogistische Weg diesem nachgeordnet sei. (Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 34.) 48 Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles. Berlin 1996, S. 104. 49 Vgl. ebd. Für Aristoteles steht fest, dass sich die Methode nach dem Gegenstand zu richten hat, der damit untersucht werden soll. Es gibt also nicht ›eine‹ Methode, die gleichermaßen auf alle Gegenstände angewendet werden kann. 46

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fällen. Eine Untersuchung der Urteile ist für ihn vor allem aus zwei Gründen von Interesse: erstens deshalb, weil sie sich auf das konkrete Handeln der Menschen und somit auf bestimmte moralisch relevante Situationen beziehen. Und zweitens deshalb, weil sich mit Blick auf die situativen Urteile zunächst vor allem eines zeigt: nämlich »die Uneinigkeit der Menschen über das rechte Handeln.« 50 Die Feststellung der Uneinigkeit in den Ansichten mit Blick auf eine konkrete Situation ist ein erster notwendiger Schritt im Rahmen der aristotelischen Lehrkunst. Dabei stellen die Beteiligten häufig nicht nur fest, dass sich ihre Ansichten widersprechen, sondern sie bemerken auch, dass sie recht allgemein und pauschal über die Situation reden und das Handeln der Menschen beurteilen. Bemerken sie das, können sie auch dafür sensibel werden, dass die Dinge nicht so klar bestimmbar sind, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint. Damit – und nur auf diesem Weg – wird die Fragwürdigkeit des eigenen Urteils und der eigenen Sichtweise sichtbar. Das ist auch der Grund, weshalb die gemeinsame Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns und die damit verbundene Analyse der Urteile den Ausgangspunkt der ethischen Reflexion darstellen muss. Nur so können die Differenzen in den Ansichten hervortreten und nur so ist eine erste kritische Betrachtung der eigenen Urteile möglich.

1.3.2 Die epagoge als grundrissartige Typenlehre Die aristotelische epagoge ist eingebettet in eine Wahrnehmungstheorie. Dies zeigt sich auch an der Verwendung des Ausdrucks »Typos« (τύπος). Als Wahrnehmende können wir im Laufe unseres Lebens viele Entdeckungen machen. Das, was uns dabei auffällt, können wir als Menschen uns einprägen, weil wir ein Gedächtnis besitzen. Damit halten wir fest, was wir wahrgenommen haben und auf diese Weise können wir auch das Schauspiel menschlichen Handelns beobachten und dabei ebenfalls viele Entdeckungen machen. Zum Beispiel ist es uns möglich, festzustellen, dass es Menschen gibt, die einfach nicht bereit sind, sich anzustrengen und das Beste aus ihren Möglichkeiten zu machen. Solche Figuren oder ›Typen‹ von Menschen gibt es auch im Theater, beispielsweise in Shakespeares Stücken, wenn er den Schürzenjäger und Trunkenbold Falstaff kunstgerecht auftreten lässt. 51 In seinen ethischen Abhandlungen nutzt Aristoteles wie ein Dichter die Möglichkeit, durch die Darstellung der Denk- und Lebensweise eines bestimmten Typus die Dimensio­

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Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 107. Vgl. William Shakespeare: Die lustigen Weiber von Windsor. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 1. Komödien. Berlin und Weimar 1989, S. 463–552. William Shakespeare: König Heinrich IV. Erster Teil und Zweiter Teil und König Heinrich V. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 3. Historien. Berlin und Weimar 1989, S. 179–491. Falstaff spielt auf ganz unterschiedliche Weise und an ganz verschiedenen Stellen im Lehrstück eine zentrale Rolle: Vgl. unten, 2.7, 2.7.1. Außerdem tritt er als Kontrastfigur zu dem aristotelischen Helden des phronimos dann auf, wenn die Schüler die Normsetzung durch den phronimos kritisch reflektieren sollen. Vgl. unten, Epilog 2.9.

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nen menschlichen Handelns erkennbar zu machen, auf die er aufmerksam machen will. So lässt er zum Beispiel bei verschiedenen Gelegenheiten den phronimos auftreten, 52 um zu demonstrieren, dass der Mensch durchaus die Möglichkeit hat, eine Situation klug einzuschätzen und sie besonnen zu bewältigen. Aristoteles geht davon aus, dass wir mit solchen ›Typen‹ von Menschen bestens vertraut sind, weil wir ihnen im Leben auf eine irgendeine Art bereits begegnet sind. Nur erscheint das Typische an einem Menschen nirgendwo im Sichtbaren, sondern diese Muster begleiten uns in unserer Wahrnehmung solcher Menschen, ohne dass wir uns bewusst sind, wie wir zu diesem Wissen gelangt sind. Das heißt: Wir haben es zwar, aber es ist uns dennoch nicht bekannt; schon gar nicht in der Form von fertigen Sätzen und allgemeinen Regeln, mit denen es verfügbar und definiert ist. Weil dieses Wissen in unserer Seele vielmehr oft so tief versteckt ist, ist eine Methode nötig, mit der es gelingt, dieses Wissen aufzudecken, zu vertiefen und zur Klarheit zu bringen. Mit anderen Worten: Das für uns Bekannte soll auf diesem epagogischen Weg erkannt werden. Dieses ursprüngliche Verständnis des Wortes »Typos« ist auch für Aristoteles maßgebend, wie Höffe herausstellt: Ursprünglich bezeichnet »Typos« eine plastisch geformte sinnliche Gestalt: die Form als Instrument oder Produkt eines Prägens. Später entwickelt sich neben der konkreten eine fortlaufend abstraktere Bedeutung, bis das Wort jenen Umriss bezeichnet, der nur das Wesentliche seines Vorbildes wiedergibt: die Skizze […]. Bei Aristoteles geht die konkrete Bedeutung des Typos als einer plastischen Form nicht ver­ loren. 53

Der »Typos« steht also bei Aristoteles für die vielen umrisshaften und skizzenhaften Abziehbilder, die das Wesentliche eines Vorbildes wiedergeben und die jeder Mensch als einen Wissensfundus in seiner Seele besitzt. Das Wort »Typos« (τύπος) wird sogar als »der methodische Schlüsselbegriff seiner Ethik« 54 angesehen. Als Ethiklehrer kann man sich diesen methodischen Zugriff auf das Vorwissen zu Nutze machen – und zwar dadurch, dass man die Schüler dazu bringt, die konkrete Handlungsweise eines Menschen in moralisch relevanten Situationen zu erklären und nach eigenen Maßstäben zu beurteilen. Das gelingt dem Lehrer dann am besten, wenn er durch eine skizzenhafte Darstellung an der Tafel oder durch die Schilderung einer typischen Szene dafür sorgt, dass die entsprechenden Muster und Gestalten sich daraufhin als Imaginationen in ihrer Phantasie manifestieren. Wenn der Lehrer beispielsweise die für Falstaff typische Lebensweise skizziert und dazu eine für ihn typische Geste als Karikatur an die Tafel zeichnet, darf er da-



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Aristoteles: NE, II, 6, 1107a 2. S. 85. VI, 5, 1140a 25. S. 199. VII, 3, 1145b 17. S. 219. VII, 13, 1153a 27. S. 245. Der Typus des phronimos kommt im Lehrstück ebenfalls an unterschiedlichen Stellen und Zusammenhängen vor. Vgl. unten, 2.8 und 2.8.1. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 112. Ebd., S. 111 und 157.

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mit rechnen, dass die Schüler eine Phantombühne vor Augen haben, auf der ein Held von dieser Art auftritt und in einer Reihe von typischen Szenen vorführt, was in ihm steckt. Auf diese Weise greifen sie auf ihr primäres Wissen zurück, dass sie eigenständig bei der Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns gewonnen und das sie demnach nicht von anderen Menschen übernommen haben. 55 Bei der Nachschau auf das bereits Bekannte, die in der Regel im Rahmen einer gemeinsamen Betrachtung und Besprechung stattfindet, spüren die Schüler ihr Vorwissen auf. Und damit haben sie die Möglichkeit, auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck zu bringen, was sie dabei vor Augen haben und was sie zur Sprache bringen oder mit anderen Mitteln verständlich machen wollen. Der methodische Zugriff auf das Vorwissen erwächst aus einem bestimmten Verständnis des Wissenserwerbs und somit aus einer bestimmten Art des Lernens, die Aristoteles als epagoge bezeichnet. 56 Wer als Ethiklehrer seinen Unterricht nach dieser Methode gestaltet, betreibt das Fach Ethik »grundrißartig« 57 – und zwar in dem Sinne, dass er gemeinsam mit seinen Schülern das Schauspiel menschlichen Handelns beobachtet, die Urteile darüber reflektiert und analysiert und auf diesem Weg zu grundrissartigen Einsichten in das menschliche Tun und Treiben kommt, die ihnen im Leben – sprich: außerhalb der Schule – als praktische Profile eine Hilfe sein können. Mehr kann der Ethikunterricht auch gar nicht erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt ist auch der methodische Einleitungsteil im ersten Buch der Nikomachischen Ethik (7. Abschnitt) sehr aufschlussreich – insbesondere dann, wenn man sich klarmacht, dass die Blickschulung im Ethikunterricht nur so aussehen kann, dass wir als Lehrer den Schülern Einsichten in die Grundrisse und Typen des menschlichen Handelns ermöglichen. Wir entwickeln mit ihnen also ge

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Auf den Unterschied zwischen einer epistemisch primären und sekundären Wissensform bin ich im Rahmen meiner Dissertation näher eingegangen. (Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 56 ff.) »Aristoteles nennt den aufsteigenden Weg »Hinführung«, ἐπαγωγή. Der Ausdruck, der von Aris­ toteles nicht in terminologisch fixierter Weise verwendet wird, meint nicht nur das Verfahren der Prinzipienforschung, sondern überhaupt jede Gewinnung eines Allgemeineren; und er meint auch nicht nur den einsamen Erkenntniserwerb, sondern ebenso die Verständigung, die einen anderen zu einem besseren Wissen hinführt […], überhaupt die rhetorische und didaktische Kunst der Überzeugung und Verdeutlichung mit Hilfe sinnfällig bekannter Beispiele.« (Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33.) Höffe spricht in diesem Zusammenhang von der Ethik als einer »Grundriß-Wissenschaft«: »die Prinzipienforschung des Ethikers [ist] grundrißartig. Der Begriff einer Grundriß-Wissenschaft mag neu sein; befremden darf er nicht. Denn jede wissenschaftliche Erkenntnis setzt nach Aris­ toteles eine Bildung voraus, die befähigt, Genauigkeit nur so weit zu suchen, wie es die Natur des Gegenstandes gestattet.« Dieses Bildungsziel ist selbstverständlich auch für den Ethikunterricht grundlegend. Das bedeutet aber auch, dass die Schulung der Urteilsfähigkeit im Ethikunterricht nur auf einem epagogischen Weg ablaufen kann. Denn nur so können die Schüler Einsichten in die typischen Konstellationen menschlichen Handelns gewinnen, die sie befähigen, auch das konkrete Handeln zu beurteilen: »Aristoteles erklärt die Bildung als die Fähigkeit, auch neue Sachen zu beurteilen […]. Bildung ist kein Vorrat konkreter Kenntnisse, sondern der Besitz allgemeiner Gesichtspunkte, mit dem man auch zutreffend urteilt, wenn der konkrete Fall bislang unbekannt war.« (Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 115.)

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meinsam grundrissartige Orientierungsschemata 58 , mit deren Hilfe sie das moralische Handeln der Menschen genauer beurteilen und auch kritisch reflektieren können. Den Rest, der mit Blick auf das konkrete Handeln fehlt, können sie nämlich nur selbst hinzufügen. Das kann ihnen also auch niemand abnehmen. Allerdings darf man nach Ansicht von Aristoteles davon ausgehen, dass sie dazu in der Lage sind, wenn sie methodisch auf diese Weise geschult sind: Auf diese Weise soll das Gut skizziert sein. Denn man muss wohl zuerst skizzieren und dann später die Details ausfüllen. Man sollte annehmen, dass jeder in der Lage ist, das fortzuführen und im Detail auseinander zu legen, was einmal gut skizziert ist, und dass die Zeit hierbei ein guter Entdecker oder Mitarbeiter ist […]; denn jeder kann hinzufügen, was fehlt. 59

1.3.3 Das exemplarische Verfahren als didaktische Methode Den Ausgangspunkt einer aristotelisch geschulten Didaktik bilden, wie sich bereits gezeigt hat, »sinnfällig bekannte Beispiele« 60 , weil die Schüler allein auf diesem Weg ihr moralisches Verständnis aufdecken und zur Sprache bringen können. Das bedeutet, dass die Schüler ihr moralisches Verständnis nur dann vertiefen können, wenn sie dazu herausgefordert werden, ihr intuitives Wissen zu explizieren und zu reflektieren. Dieser notwendige Reflexionsschritt darf im Unterricht auf keinen Fall übergangen werden, vor allem deshalb nicht, weil es sonst – im schlimmsten Fall – zur blinden Übernahme von moralischen Urteilen und Überzeugungen kommt und somit ganz sicher nicht zur Entwicklung eines eigenständigen Urteilsvermögens. Dabei beginnt die Entdeckung des eigenen Vorwissens mit der ersten unbefangenen Erschließung der moralisch relevanten Aspekte einer Beispielsituation. Werden die Schüler dazu ermuntert, darzustellen, wie sie die Situation sehen und verstehen, werden sie dazu bewegt, ihr ungewusstes und in vielerlei Hinsicht unklares Wissen zu explizieren. Auf diese Weise können sie nachträglich – in der Nachschau – den moralischen Kern der beispielhaften Situation entdecken. Aristoteles geht, was die epagogische Funktion des Beispiels betrifft, sogar so weit, zu sagen, dass »das Beispiel die Struktur der Epagoge [hat] (ὁμοιον γάρ ἐπαγωγή τὸ παράδειγμα).« 61 Es ist also vor allem deshalb die ursprüngliche Art des Lernens, weil wir uns nur auf einem induktiven Weg das Allgemeine, das wir implizit schon kennen, bewusst machen können. Das Beispiel ist hier genau genommen nicht ein bloßes Instruktionsmittel, etwa in dem Sinne, dass es einen allgemeinen



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Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 178 ff. Nach Höffe sucht die praktische Philosophie nach »Orientierungsschemata für das sittliche Handeln.« (Ebd., S. 178.) Aristoteles: NE, I, 7, 1098a 20–25. S. 57. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 33. Ebd., S. 38. Vgl. auch Aristoteles: Rhet. II, 20, 1393a 26. S. 106.

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Begriff zur Darstellung brächte, 62 sondern das Beispiel ist »eine ἀρχή, ein Anfang und erster Grund, von dem aus Wissen und Überzeugung (πίστίς) zustande kommen.« 63 Mit anderen Worten: Alles Lernen hat seinen Anfang im Beispiel, weil wir nur darüber auf unser Vorwissen, also auf die typischen Muster menschlichen Handelns, zurückgreifen können, die wir selbst bei der Betrachtung des Schauspiels menschlichen Handelns gewonnen haben. Die Methode der ›beispielhaften Darstellung‹ oder Demonstration ist demzufolge auch eine Methode der Entdeckung, bei der der Schüler das aufdeckt und sich verständlich macht, was er mit Blick auf solche Situationen bisher ›irgendwie‹ und recht allgemein gewusst hat. Das eigene Erleben mit seinen prägenden Erfahrungen ist somit die Grundlage des epagogischen Lernens. Aristoteles geht tatsächlich davon aus, dass die Schüler auf die eigenen Erfahrungen und Erlebnisse zurückgreifen können und dass sie sich an beispielhaften Situationen die Erfahrungsgehalte des eigenen Vorwissens auch verständlich machen können, und zwar in dem Sinne, dass sie durch die exemplarische Auseinandersetzung ein ›praktisches Profil‹ (practically related profile)64 eines bestimmten moralischen Situationstyps zeichnen können. Lernen ist unter diesem Gesichtspunkt immer schon ein Lernen am Beispiel: Von eben diesem impliziten Wissen macht das Beispiel Gebrauch. Es stellt ein Besonderes mit der Aufforderung vor Augen, es unter dem Blickwinkel des Allgemeinen zu betrachten. Es gibt dieses Allgemeine nicht geradezu, sondern es bringt einen darauf, indem es auf ein im Kennen der Beispielsmaterie wirksames Vorwissen anspielt, das man nur selbst explizieren kann […]. Lernen und am Beispiel lernen sind deshalb beinahe identische Ausdrücke. 65



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In der Regel hat für Kant das »Beispiel-geben« nur die Funktion, einen allgemeinen Begriff darzustellen oder zur Anschauung zu bringen. So schreibt er etwa in der Metaphysik der Sitten: »[E]in Beispiel ist nur das Besondere (concretum) als unter dem Allgemeinen nach Begriffen (abstractum) enthalten vorgestellt, und bloß theoretische Darstellung eines Begriffs.« (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Neu herausgegeben und eingeleitet von Bernd Ludwig. Hamburg 2017 [3. Auflage], S. 130, § 52.) Allein bei der Bestimmung der ästhetischen Urteilskraft überwindet er diese einseitige Verwendungsweise. Hier macht er nämlich deutlich, dass sich durch das Beispiel auch etwas Allgemeines vermitteln lässt, das nicht im Begriff bereits enthalten ist bzw. das sich auch nicht allein durch den Begriff explizieren lässt. (vgl. Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. Herausgegeben von Heiner F. Klemme. Hamburg 2009, S. 94.) Das Beispiel geht also mit Blick auf die ästhetischen Urteile nicht in der Funktion auf, einen Begriff bloß verständlich zu machen. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 97. Jonathan Dancy: Moral Reasons. Cambridge/Mass. 1993, S. 112. Der Begriff der »praktischen Profile« stammt nicht von Aristoteles, sondern von Jonathan Dancy. Ich denke dennoch, dass er sich in diesem Zusammenhang sinnvoll verwenden lässt, weil er zum einen den Erfahrungsbezug beim Wissenserwerb betont. Zum anderen steht dieser Begriff im Kontext von Dancys wahrnehmungstheoretischen Überlegungen, die zeigen, wie der Prozess der Musterbildung abläuft und wie es möglich ist, dass wir im Laufe der Zeit ein »praktisches Profil« eines bestimmten Situationstyps entwickeln können. Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 64 ff. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 98.

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Aristoteles unterstellt dem Menschen eine sich fast aufzwingende Wahrheits­ suche. 66 Es gibt gewissermaßen eine Aufforderung der Dinge, sie unter der Per­ spektive des Allgemeinen zu betrachten, und zugleich sucht der Mensch das Allgemeine bei der Betrachtung und Vergegenwärtigung der einzelnen Beispiele, denn er hat es bereits ›im Blick‹ und strebt nun nur noch danach, dieses Wissen aus sich herauszusetzen. Das Streben nach Erkenntnis hat demzufolge eine leitende Funktion. Es ist offensichtlich so tief im Menschen verwurzelt, dass er das Bedürfnis hat, in der Nachschau auf das von ihm Wahrgenommene herauszufinden, was daran das Gemeinsame ist und was das Verbindende. Die Suche nach den entsprechenden Wahrnehmungsmustern (τύποι) kann als Lernen verstanden werden, und zwar in dem Sinne, dass wir unserer eigenen Wahrnehmung und das, was darin bereits enthalten ist, auf den Grund gehen. Wahrnehmen ist hier aber nicht gleichzusetzen mit Erkennen und Lernen.67 Lernen ist vielmehr das Ergebnis der Beobachtung vieler bemerkenswerter Einzelheiten in der Wahrnehmung, die wir festhalten und die wir uns bewusst machen – so deutlich, dass wir damit eine Erfahrung machen und etwas lernen. Auf diese Erfahrung können wir indes nicht einfach zurückgreifen wie auf einen vorfindlichen Gegenstand, denn sie ist in der Aktualität unseres Wahrnehmens und Erlebens nicht einfach greifbar. Aber wir können darüber verfügen, wenn wir unsere Aufmerksamkeit mit der nötigen Anstrengung gezielt darauf zurücklenken.68 Auch für Kant ist die Erfahrung eine der beiden Quellen des menschlichen Wissens und damit die Grundlage aller Erkenntnis. Aber weil er die Wahrnehmung nach dem sensualistischen Modell erklärt, kann er nicht unkritisch voraussetzen, dass in ihr alles unmittelbar und vollständig erscheint. Darum kann er nicht annehmen, dass wir Erkenntnisse gewinnen und etwas lernen, wenn wir das, was sich in der Wahrnehmung zeigt, erfassen und näher bestimmen, und zwar nach Kategorien, die wir ihrerseits aus der Erfahrung abgeleitet haben. In dieser Hinsicht denkt Kant ganz anders als Aristoteles, der – wie Buck völlig zu Recht feststellt – ein sehr viel unbefangeneres Verständnis der Wahrnehmung und der daraus resultierenden Erfahrung hat: Erfahrung ist hier Anfang nicht nur insofern, als das Lernen »mit« ihr anfängt, sondern insofern, als dieses Anfangen mit … in einem bestimmten Sinn zugleich ein

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Aristoteles: Met. I, 1a, 980a 21. S. 1. I, 3e, 984b 11. S. 11. Vgl. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. § 84 und 85, S. 157 f. Hier wird die These des Theaitetos diskutiert, »ob das Wahrnehmen dasselbe wie das Erkennen ist«, wie es Theaitetos behauptet, »oder ob es etwas anderes ist.« (Ebd., S. 157.) Es stellt sich im Laufe des Gesprächs zwischen Sokrates und Theaitetos heraus, dass Theaitetos mit seiner These falsch liegt. (Vgl. ebd., § 105, S. 189 f.) Aristoteles geht also davon aus, dass wir als Wahrnehmende immer schon irgendetwas wissen; aber das, was wir da wissen, ist uns eben zumeist noch nicht klar: »Aber nichts, so glaube ich, hindert daran, wovon jemand Wissen erwirbt, auf eine Weise zu wissen, auf eine andere Weise jedoch nicht zu wissen. Absurd nämlich ist es nicht, wenn jemand in gewisser Weise weiß, wovon er Wissen erwirbt, sondern wenn auf diese bestimmte Weise, das heißt inwiefern er Wissen erwirbt und wie.« (Aristoteles: An. Post. II, 1, 71b 7–9. S. 18.)

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Anfangen auf Grund von … ist. Erfahrung ist hier ἀρχή in diesem doppelten Sinn; keineswegs ist sie nur Anfang im psychologischen Sinn wie bei Kant. Sie ist Grund des Lernens, weil in ihr als dem für uns früheren Wissen dasjenige Wissen, dem das Lernen zustrebt, (das Wissen des schlechthin Früheren), implizit schon enthalten ist. Nur weil die Erfahrung schon mit den Prinzipien arbeitet, kann es einen Weg von der Erfahrung zum expliziten Wissen der Prinzipien geben. Aber weil die Beziehung auf die Prinzipien zunächst nur undeutlich und unausdrücklich in der Form der Erfahrung gegeben ist, gibt es einen Weg zu den Prinzipien, einen Weg des immer deutlicheren und ausdrücklicheren Wissens des Allgemeinen. 69

Es soll an dieser Stelle nicht verschwiegen werden, dass aus dem erfahrungsgeleiteten Lernansatz der epagoge auch ein Problem erwachsen kann. Wer das Konzept der ›intuitiven Induktion‹ nämlich so versteht, dass »wir über die Betrachtung eines einzigen Beispiels mit einem Schlag, also ohne Zwischenschritte zum Allgemeinen oder gar zu untrüglichen Wahrheiten gelangen«, missversteht den entscheidenden Punkt.70 So schreibt Aristoteles in den Analytica Posteriora: Es ist also klar, dass uns die ursprünglichen Dinge notwendig durch Induktion bekannt werden; in der Tat nämlich bringt die Wahrnehmung auf diese Weise darin das Allgemeine zustande.71

Und an anderer Stelle wird er noch deutlicher: Aus Wahrnehmung also entsteht Erinnerung wie wir sagen; und aus Erinnerung desselben Dinges, wenn sie oft zustandekommt, Erfahrung – denn viele Erinnerungen sind eine einzige Erfahrung – und aus Erfahrung, oder aus jedem Allgemeinen, das zur Ruhe gekommen ist in der Seele – das eine neben den vielen, was in allen jenen Dingen als eines dasselbe ist […].72

Diesem Zitat kann man die These entnehmen, die αἴσθησις sei eine Sinnlichkeit, die uns befähigt, das Prinzipielle im Erscheinenden unmittelbar zu erkennen. Wer einen solchen außergewöhnlichen Sinn besäße, benötigte tatsächlich auch nur ein einziges Beispiel, um darüber eine unmittelbare Einsicht in die allgemeinen Zusammenhänge zu gewinnen. Danach wäre die Epagoge ein Verfahren, dass uns die Möglich

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Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 42. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 59. Hier kritisiere ich eine solche Auffassung. Für Aristoteles und auch für Ross spielen die Erfahrungen ja vor allem deshalb eine so große Rolle, weil sie damit deutlich machen wollen, dass es sich bei der Einsicht in die allgemeinen Zusammenhänge gerade nicht um eine unmittelbare Einsicht handelt. Eine solche unmittelbare Erkenntnis der Prinzipien zeichnet sich gerade dadurch aus, dass sie als erfahrungsunabhängig angesehen werden muss. Das Konzept der intuitiven Induktion fußt aber auf der Erfahrung. Aristoteles: An. Post. II, 19, 100b 3–5. S. 84. Ebd., 19, 100a 5–8. S. 83.

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keit böte, mit absoluter Sicherheit zu untrüglichen Wahrheiten vorzustoßen.73 Nach dieser Interpretation dürfte man Aristoteles in der Tat den Vorwurf machen, er gerate mit seinem Plädoyer für die epagoge auf einen gefährlichen Irrweg. Wäre die intuitive Induktion nämlich eine Erkenntnisform, in der eine Wahrheit unmittelbar erscheint, wäre ein Irrtum strenggenommen ausgeschlossen. Dies würde im Hinblick auf die Bewertung und Beurteilung des menschlichen Handelns und auch in der Frage nach der Geltung der moralischen Urteile zu einem Dogmatismus führen, den niemand wirklich wollen kann, weil damit einer kritischen Reflexion des Geltungsanspruchs der Prinzipien der Boden entzogen wäre.74 Darum muss unbedingt klar sein, dass die Aussage »die Wahrnehmung schaffe die Prinzipien« für Aristoteles keineswegs ein Grund ist, eine Form der Wahrnehmung zu postulieren, in der das Allgemeine sinnlich gegenwärtig ist. Denn er hat ja für die Möglichkeit, dass uns etwas deutlich wird, wenn wir etwas bemerken oder eben wahrnehmen, eine ganz andere Erklärung. Insofern nämlich, als er veranschlagen kann, dass dabei mit den τύποι, die wir uns zuvor bei unzähligen Wahrnehmungsgelegenheiten eingeprägt haben, das Grundrissartige ins Spiel kommt, das unsere Sichtweise bestimmt. Aber unsere Sichtweise kann sich ändern und ist demnach keineswegs endgültig festgelegt, weil das Mustergültige in verschiedenen Versionen zu Geltung kommen und überdies nach der Maßgabe neuer Ent­ deckungen transformiert werden kann.75 Das bedeutet auch, dass sich nach der Ansicht von Aristoteles das sittliche Handeln stets in einem Kontext bewegt und dass wir es in der Ethik mit »praktischen (dynamischen) Begriffen« 76 zu tun haben, die den Handlungsspielraum des Einzelnen nicht ein für alle Mal festlegen, sondern ihn in seiner Freiheit herausfordern. Der erfahrene Blick ist in dieser Hinsicht gerade deshalb erfahren, weil unterschiedliche Wahrnehmungsmuster in ihn eingehen und weil diese Grundrisse bei der Beobachtung konkreter Handlungen umgezeichnet werden können: Die Orientierungsschemata, die dem sittlich Handelnden gegeben werden, bestehen aus Strukturgittern des sittlichen Handelns, die den Verhältnischarakter, die Relation eines Faktums zum Sollen, explizieren und das historisch und individuell Besondere (das veränderliche Ethos, die je anderen Lebensverhältnisse und Umstände) freige-



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Vgl. Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, Stuttgart-Bad Cannstatt 2004, S. 88 ff. Man kann das aristotelische Konzept der intuitiven Induktion auch deshalb als dogmatisch ansehen, weil es mit einer Wesensbestimmung des Menschen verbunden ist, die schwierige meta­ physische Voraussetzungen mit sich führt: »[D]ie aristotelische ›intuitive Induktion‹ [kann] ohne die entsprechende teleologische Ontologie nicht vollzogen werden, die dogmatische Setzung eines umfassenden menschlichen Telos.« (Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche, S. 94.) Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 115. Diese Auslegung wäre auch deshalb sinnvoll, weil auf diese Weise die Rede davon, dass »die Prinzipienforschung des Ethikers grundrissartig« sei, sehr viel verständlicher wird. (Ebd.) Ebd., S. 180.

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ben […]. Die Begriffe sind also so gefaßt, daß sie die Freiheit des Handelnden fordern und herausfordern.77

Dies ändert nichts daran, dass wir trotz der Erfahrungsbezogenheit unserer moralischen Urteile von unserer Sprache zu vorschnellen Verallgemeinerungen verführt werden können. Das ist der Ursprung für einen Dogmatismus, der sich über die Erfahrung hinwegsetzt und stattdessen mit übernommenen Grundsätzen Allgemeinheit vorgibt. Wenn wir als Ethiklehrer exemplarische Situationen menschlichen Handelns präsentieren, müssen wir folglich damit rechnen, dass die Schüler bei ihrer Besprechung zu unbedachten Verallgemeinerungen neigen. Verständlicherweise, weil ihnen dazu sogleich die Sätze und die Redeweisen in den Sinn kommen, die in ihrer Umgebung in solchen Fällen üblich sind und von denen sie meinen, dass es sich um ihre eigenen Urteile handelt. Der Lehrer, der zu einer epagoge anleiten will, muss deshalb damit rechnen, dass seine Schüler zunächst nur Belege für die Richtigkeit ihrer Ansichten finden werden, wenn sie mit einer Situation konfrontiert werden, die sie dazu veranlassen soll, sehr viel genauer hinzuschauen, als sie es gewohnt sind: Die Tendenz zur vorzeitigen Verallgemeinerung wird gefördert durch die positive Funktion der Antizipation, sofern sich der Erfahrungserwerb ja in der Tat im allgemeinen so vollzieht, daß ein Zusammenspiel von Antizipation und Bestätigung durch nachfolgende Erfahrung stattfindet oder zumindest ein natürlicher Hang besteht, bestätigende Erfahrung eher zu behalten, als der Antizipation widerstreitende. So kann die Belehrung, die durch bestätigende Erfahrung beigesteuert wird, dem Lernen geradezu im Weg stehen, weil sie die Gewohnheit fördert, unsere Meinungen von den Dingen für die Erfahrung der Dinge selbst zu halten.78

Der Ethiklehrer muss sich dieser Gefahr bewusst sein und durch seine Inszenierungen sehr gezielt darauf hinwirken, dass die Schüler die Konventionalität ihrer Bewertungen selbst entdecken und sich so für eine konstruktive und kritische Reflexion öffnen können. Erst wenn die gewohnten Sicht- und Denkweisen aufgebrochen worden sind, kommt das eigentliche Potential der aristotelischen epagoge zur vollen Entfaltung: Erst dann kann sie als eine »methodische Selbstreflexion der Ethik« 79 verstanden werden. Das erklärt auch, warum die epagoge kein methodisch gesicherter Weg sein kann, der zwingend und zwangsläufig zu den allgemeinen Prinzipien hinführt – schon deshalb nicht, weil dieser Lernprozess keine Beweisstruktur hat, sondern auf Erfahrungen basiert, die bei genauerer Betrachtung eben nicht wie fertige Sätze und Grundsätze vorliegen. Vielmehr müssen die Erfahrungen anhand von exem­ plarischen Situationen menschlichen Handelns schrittweise aufgedeckt und vor Ebd. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 49. 79 Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 110. 77 78

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sichtig reflektiert werden. Dabei kommt es immer wieder zu Irritationen, zu Rückfällen in sprachlich gewohnte Denkmuster und somit zu vorschnellen Verallgemeinerungen. Aber die Schüler können im erfahrungsgeleiteten Lernprozess immerhin dazu bewegt werden, ihre eigenen Ansichten so zur Sprache zu bringen und so verständlich darzustellen, dass sie sich zusammen mit den Mitbetrachtern mit ihnen beschäftigen und zu der Einsicht kommen können, dass es sich um Stereotype und Vorurteile handelt. Entscheidend für den Dialog im Rahmen der aristotelischen Didaktik ist also tatsächlich die gezielte Auseinandersetzung mit den Ansichten und Urteilen, die im Hinblick auf die exemplarische Situation geäußert werden. Die Begriffsbildung darf das erfahrungsgeleitete Sprechen über die entsprechende Situation niemals versäumen. Es geht auch hier – im Sinne der aristotelischen epagoge – um die Entwicklung einer zunehmend differenzierten Betrachtungsweise und damit zugleich um eine gezielte Schulung des sprachlichen Ausdrucksvermögens. Denn die gemeinsame Besprechung einer Szene verlangt eine möglichst vollständige und adäquate Klärung aller wichtigen Aspekte der Handlung und somit das beständige Ringen aller Beteiligten um eine Ausdrucksweise, die diesem Anspruch gerecht wird. Es ist daher kein Zufall, dass Aristoteles bei der Bestimmung der Funktion der Sprache im epagogischen Lernen gerade den Spracherwerb der Kinder im Blick hat: Dieses Vorwissen zeigt sich vorzüglich im erfahrungsmäßigen Sprechen über die Dinge, und Aristoteles nützt in der Prinzipienforschung diese von der natürlichen Sprache vorgeleistete Begriffsbildung und führt sie in der Weise der Ausdrücklichmachung des darin unausdrücklich Mitgemeinten fort. So ist es nicht nur ein beiläufiges Illustrationsmittel, wenn Aristoteles bei Gelegenheit der Erörterung der Epagoge in der Einleitung der Physik den Spracherwerb der Kinder heranzieht. 80

Der epagogische Unterricht setzt demnach eine Offenheit voraus, die in den zeitgenössischen Didaktiktheorien kaum mehr zu finden ist, weil ihr Fokus entweder allein auf der allgemeinen und weitgehend inhaltslosen Kompetenzentwicklung der Schüler oder vorrangig auf der sprachlichen Klärung von Sätzen liegt. 81 Beide Konzepte sind verbunden mit der Vorstellung, das Lernen sei ein formal bestimmbarer, zielorientierter, verlässlich-planbarer und sprachlich-reibungsloser Prozess. Im Gegensatz dazu ist das epagogische Lernen darauf angelegt, dass die Schüler in der Auseinandersetzung mit exemplarischen Situationen selbst ihren Irrtümern auf die Spur kommen und dabei die wichtige Erfahrung machen, dass sie selbst einen Weg suchen und finden können, auf dem sie vermieden werden. Die Verstörung und die irritierende Unruhe bei der Feststellung der eigenen sprachlichen Unklarheit ist hier schon deshalb Teil des erfahrungsgeleiteten Lernprozesses, weil nur so die Fragwürdigkeit des eigenen Sprechens und des eigenen Vorwissens hervortreten und für die Beteiligten auffällig werden kann.

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Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 48 f. Vgl. unten, 2.7.2.

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Das Beispiel muss daher vom Lehrer so gewählt sein, dass sich darin etwas zeigen kann, das die Schüler aus ihren Denkgewohnheiten herausreißt und ihnen die Weiterentwicklung ihrer sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten zumutet. Stellen sie sich dieser Herausforderung, besteht die Möglichkeit eines Umlernens, das aus einem tieferen Verständnis der Sache erwächst. Aber das Gelingen ist im epagogischen Unterricht niemals vollständig planbar, weil es beim erfahrungsgeleiteten Lernen ein Moment der ›Unverfügbarkeit‹ gibt, dass sich einer strengen Verfahrenslogik entzieht. 82 Dennoch bietet das exemplarische Vorgehen den Schülern den Raum, auch die vorsprachlichen Dimensionen des eigenen Denkens und Urteilens in den Blick zu nehmen – und zwar vor allem deshalb, weil die Schüler die ausgewählten Szenen in der Nachschau sehr viel genauer und auch mit der nötigen Offenheit betrachten können. Und weil der Zugang zu den entsprechenden Situationen auf diese Weise indirekt geschieht, können die Schüler auf den zweiten Blick etwas entdecken und auch zur Sprache bringen, das ihnen bei der ersten Beobachtung und in der vorurteilsbehafteten Redeweise über solche Situationen bisher noch entgangen ist. 83 Bei der erneuten Reflexion des Bekannten können für den Schüler die vertrauten Zusammenhänge unvertraut werden. Dabei dürfen die vom Lehrer ausgewählten Situationen menschlichen Handelns durchaus etwas Zweifelhaftes und Irritierendes an sich haben, denn nur so kann der konventionelle Blick der Schüler etwas verstört und aus seinen gewohnten Bahnen gebracht werden. Erfüllt die exemplarische Situation diese Bedingung, kann es passieren, dass die Schüler auf etwas aufmerksam werden, das ihren Blick auf die Situation verändert: »Das bloße Bekanntsein, die Geläufigkeit, wird storniert und gerade dadurch der Weg zu einem erneuten Hinsehen und Hinhören, Erkennen, Begreifen und Tun geöffnet.« 84 Der epagogische Unterricht zielt darauf, dass die Schüler bei der erneuten Reflexion von bekannten Situationen ihren eigenen Irrtümern und Vorurteilen auf die Spur kommen. Die Möglichkeit eines solchen Umlernens vergrößert sich noch, weil die Schüler im gemeinsamen Dialog über die Situation ihren Blick gegenseitig auf die wesentlichen Merkmale lenken und sich so gegenseitig auf die eigenen Irrtümer und einseitigen Perspektiven aufmerksam machen können. Das bedeutet: In der gemeinsamen Nachschau können sie sich am besten darauf besinnen, was sie in Bezug auf die jeweilige Situation implizit schon wissen und sich auf diesem Weg zugleich das Allgemeine klar und verständlich machen: »Das bloße Auskennen

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Vgl. Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 46 f. Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 73 f. Auf die didaktische Funktion des Indirekten im Rahmen der ethischen Urteilsbildung gehe ich an einer anderen Stelle des Buches genauer ein: Vgl. ebd., S. 132 ff. Käte Meyer-Drawe betont ebenfalls die zentrale Bedeutung des Indirekten mit Blick auf das erfahrungsgeleitete Lernen. Denn die große Schwierigkeit besteht hier ja gerade darin, die eigenen – vorsprachlichen – Erfahrungen in der Reflexion zur Sprache zu bringen: »Vorsprachliche Dimensionen kommen nur indirekt, lateral in den Blick. Der direkte Zugriff zerstört sie.« (Käte MeyerDrawe: Diskurse des Lernens, S. 206.) Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 15.

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schlägt in Erkennen um, sobald es zum Gegenstand einer Reflexion wird und damit aus seiner verlässlichen Vertrautheit gerissen wird, die als solche nicht zu ergreifen ist.« 85 Die Reflexion bekommt hier also die Rolle zugewiesen, die sie verdient, weil allein durch sie die allzu vertrauten Sicht- und Denkweisen einer kritischen Prüfung unterzogen werden können. Mehr noch: Allein in der Nachschau auf das Handeln können wir uns die stereotypen Muster, die unseren Blick prägen, bewusst machen. So erhalten wir überhaupt erst die Chance, die Urteile über die Handlungen und die Bewertungen, die in den sprachlichen Äußerungen darüber getroffen werden, unter ethischen Gesichtspunkten zu analysieren. Diese kritische Reflexion ist nur möglich, wenn die Schüler ihre Überzeugungen im Ethikunterricht nicht preisgeben, sondern diese zum Ausgangs- und Mittelpunkt einer reflexiven Nachschau machen können. Der epagogische Unterricht eröffnet den Schülern mithin im besten Fall den Weg zu Erfahrungen, die dann neu sind, wenn das Grundrissartige in ihrer Wahrnehmung im genetischen Gang des Lernens »umstrukturiert« wird: Lernen in dem hier diskutierten Sinne fußt nicht lediglich auf Erfahrung, sondern ist Erfahrung. Als solche ist es uns zugänglich, wenn auch weder vollständig noch unmittelbar, sondern gleichsam in einer obliquen Schau […]. Lernen meint unter diesem Aspekt kein Kontinuum und keine Anhäufung. Es ist eine Gratwanderung zwischen Konvention und Aufbruch. 86

Das epagogische Lernen muss eine solche »Gratwanderung« sein, weil die Orientierungsschemata für die ethische Beurteilung des menschlichen Handelns nicht anders zu gewinnen sind:87 Diese bilden somit nur den normativen Rahmen für die ethische Beurteilung der Handlungen. Was der Einzelne in seinen Lebensverhältnissen und in der Gesellschaft, in der er lebt, daraus macht, ist ihm freigestellt. Es obliegt demnach dem Einzelnen, sich in aller Freiheit zu fragen, wie er gemäß der normativen Richtlinien sein Leben gestalten will. 88 Dabei kann es auch zu einer kri

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Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 206. Ebd., S. 214. Meyer-Drawe geht es hier nicht allein um ethisches Lernen, sondern es handelt sich um eine »phänomenologische Theorie des Lernens«, in deren Zentrum die Erfahrung steht. (Ebd.) Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 180. Ob Aristoteles im Rahmen seiner Ethik einen Begriff von Willensfreiheit besitzt, ist sehr umstritten; denn »für die Tugend bzw. ›das Gute‹ kann sich der Handelnde gar nicht entscheiden – weder in einem prinzipiellen Akt noch nach Maßgabe von traditionellen Werten. Vielmehr ist er in seinem Entscheiden durch eine Art ›wesentlichen Strebens‹ (ὄρεξις) prinzipiell auf ›das Gute‹ gerichtet.« (Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche, S. 120.) Aber der Handelnde ist gleichwohl insofern souverän, als er den »Freiraum« und auch den »Handlungsspielraum« besitzt, sich im Rahmen dieser von der Natur vorgegebenen Festlegung zu den gesellschaftlichen Maßstäben zu verhalten, und sie gegebenenfalls auch zu kritisieren. Dass Aristoteles diese Dimension der Freiheit in der Tat nur wenigen Menschen – wie dem phronimos – zuschreibt, ist wahrlich ein Problem. (Vgl. Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, S. 126.) Aber dass der Mensch aufgrund seiner Naturanlage diesen Freiheitsspielraum grund-

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tischen Auseinandersetzung mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen kommen; nämlich dann, wenn unsere Lebenswelt so in Konventionen gefangen ist, dass mit der Besinnung auf die Orientierungsschemata schon der erste wichtige Schritt zu ihrer kritischen Reflexion getan ist. Man kann sogar noch weitergehen und behaupten: So wie die Erfahrungen sind auch die Orientierungsschemata als praktische Begriffe ›dynamisch‹. Achten wir auf uns selbst, zeigt sich sehr deutlich, dass wir immer wieder neue Erfahrungen machen, die uns zwingen, die alten Sicht- und Denkweisen zu überprüfen. Erfahrungen, die durchaus sehr schmerzhaft sein können, weil sie uns sehr heftig aus der Sicherheit unserer Überzeugungen herausreißen; auch dann, wenn wir meinen, etwas im Prinzip richtig verstanden zu haben: »Sie [die Erfahrung, hinzugefügt von M. Z.] ist in sich selbst dynamisch, auch und gerade dann, wenn sie bei einem Allgemeinen angekommen ist.« 89 Weil die Epagoge ein erfahrungsgeleitetes Lernen ist, können auch die allgemeinen Prinzipien und Orientierungsschemata, die auf diesem Weg gewonnen werden, nicht völlig losgelöst von diesem Erfahrungsgeschehen betrachtet werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass die allgemeinen Prinzipien keinen generellen Geltungscharakter besitzen. Selbstverständlich stehen sie uns als moralische Urteilskriterien zur Verfügung und fordern uns dazu heraus, unser eigenes Handeln an Maßstäben auszurichten, die wir nicht nach unserem Gutdünken ändern und neu festsetzen können und die somit allgemeingültig sind.90 Nur ändert das nichts daran, dass diese Art des Wissens aus Erfahrung entsprungen ist und dass es demnach auch wieder durch neue Erfahrungen erweitert und verändert werden kann. Das gilt auch und vielleicht ganz besonders für die praktischen Begriffe: Auch in dieser Hinsicht ist die Erfahrung ein Lernen, und Aristoteles spricht deshalb gelegentlich, wenn er den Induktionsprozeß beschreibt, einfach von der Erfahrung (vgl. Met. A 1, 981 a2f., 5 ff.). Unter diesem Aspekt wäre es also auch ein Mißverständnis, anzunehmen, der Satz des Aristoteles, dass alles Lernen aus einem vorgängigen Wissen geschehe, beziehe sich nur auf das Lernen der Prinzipien, so daß der Gang der Epagoge in jedem Fall aus dem Erfahrungsgeschehen heraustrete. In Wirklichkeit sätzlich zur Verfügung hat, steht für Aristoteles außer Zweifel. Er benötigt keinen weltlosen Begriff von Autonomie, um vorsichtig über die Bereiche des Lebens sprechen zu können, »wo der Mensch […] von sich aus Ursprung von Handlungen sein kann.« (Arbogast Schmitt: Selbstständigkeit und Abhängigkeit menschlichen Handelns bei Homer. Hermeneutische Untersuchungen zur Psychologie Homers. Akademie der Wissenschaften und der Literatur. Abhandlungen der Geistes- und Sozialwissenschaftlichen Klasse 1990, Nr. 5. Mainz und Stuttgart 1990, S. 68.) 89 Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 45. 90 Ross hat im Rahmen seiner intuitionistischen Ethik gezeigt, dass die Offenheit eines solchen Lernprozesses den Anspruch der auf diesem Wege aufdeckbaren Moralprinzipien auf Allgemeingültigkeit keineswegs ausschließt. Die Offenheit seiner Ethik wird beispielsweise daran deutlich, dass der von ihm aufgestellte Katalog von Moralprinzipien – oder prima-facie-Pflichten – keinesfalls endgültig abgeschlossen ist; auch nicht der Bildungsprozess, in dem sie deutlich werden. (Vgl. David Ross: The Right and the Good. Oxford 2002, S. 20.)

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geschieht nicht nur dasjenige Lernen, das in eine begriffliche, auf Prinzipien beruhende Erkenntnis übergeht, aus einem Vorverständnis, sondern auch das in der Empirie verharrende Kennenlernen.91

Weil nicht nur unsere Erfahrungen einem Wandel unterzogen sind, sondern auch die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen wir leben, sind die auf diesem Weg gewonnenen Orientierungsschemata als kritische Reflexionsmuster niemals völlig unzeitgemäß. Aber weil die Zeiten sich ändern und somit neue Erfahrungen ermöglichen, ist es gegebenenfalls auch nötig, die Orientierungsschemata kritisch zu prüfen und neu zu konkretisieren. Das heißt: Die praktischen Begriffe stehen dabei selbst auf dem Prüfstand, und eine Erneuerung dieser Begriffe wäre grundsätz­ licher Art. Aber sie ist für Aristoteles denkbar, weil er die praktischen Begriffe als dynamische Begriffe begreift. Weil er erkannt hat, dass der Mensch immer schon in der Welt verankert und somit auch in die gesellschaftlichen Verhältnisse verwickelt ist, so dass die Erfahrungen und die allgemeinen Einsichten, die er dabei macht, nie vollständig oder zu Ende gedacht sind. Vielmehr verlangen sie eine Offenheit, die der Erfahrung grundsätzlich eigen ist, die aber auch das Nachdenken über die Erfahrung nie vollends loslässt.92 Ethisches Lernen kann unter diesem Verständnis als ein ›Erfahrungslernen‹ verstanden werden. Mit der aristotelischen Epagoge ist folglich ein Bildungsprozess verbunden, der den ganzen Menschen und nicht nur die Entwicklung seiner Wertvorstellungen und seiner moralischen Urteilsfähigkeit umfasst. Für den epagogischen Unterricht bedeutet das, dass die Schüler hier im besten Fall eine neue Erfahrung machen, die so grundlegend ist, dass sie nachher nicht nur die bekannten Situationen aus einem neuen Blickwinkel betrachten können, sondern dass sie bei der erneuten Reflexion des Schauspiels menschlichen Handelns und ihres eigenen Erlebens sich auch selbst verändern können. Denn sie erfahren bei dieser reflexiven Auseinandersetzung mit den exemplarischen Situationen nicht nur mehr über die Verfasstheit der moralischen Wirklichkeit und ihrer unbestreitbaren Abgründe; vielmehr betrachten sie sich in der indirekten Nachschau immer auch selbst93: Sie erfahren etwas über sich selbst, das sie anders nicht erfahren können. Der epagogische Weg des Lernens stellt damit auch einen Weg zur moralischen Selbsterkenntnis der Schüler dar – vor allem deshalb, weil sie im Rahmen des Lehrstückunter

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Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 45. Wieland hat sehr klar deutlich gemacht, dass es für Aristoteles keinen grundsätzlichen Gegensatz zwischen der Erfahrung und dem Denken gibt: »Es bedeutet aber auch, daß der Gegensatz zwischen Erfahrung und Denken, den man von neuzeitlichen Voraussetzungen aus zu machen gewohnt ist, in der aristotelischen Philosophie gar nicht zu finden ist. Nur aus einer solchen Erfahrung der Dinge ist Denken möglich, und das Denken selbst ist bei Aristoteles nichts anderes als die vollendete Erfahrung der von ihm gedachten Gegenstände.« (Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles. Göttingen 1962 [3. Auflage 1992], S. 38.) Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 148 ff.

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richts immer wieder durch die unterschiedlichen Darstellungsaufträge dazu aufgefordert und herausgefordert werden, ihr eigenes Verständnis zur Darstellung zu bringen und somit sich selbst und ihren Mitschülern einsichtig zu machen, was nach ihrer eigenen Einschätzung mit Blick auf die exemplarische Situation entscheidend ist. Es ist demnach auch nicht zu leugnen, dass der epagogische Unterricht das Potential zu einer solchen Form des Umlernens und der Selbstbesinnung besitzt: Umlernen aber, das ist nicht nur die Korrektur dieser oder jener Vorstellungen, die man sich über etwas gemacht hat; es bedeutet auch einen Wandel der »Einstellung«, d. h. des ganzen Horizonts der Erfahrung. Wer umlernt, wird mit sich selbst konfrontiert; er kommt zur Besinnung. Nicht nur gewisse Vorstellungen wandeln sich hier, sondern der Lernende selbst wandelt sich.94

Allerdings kann ein solcher Wandel der Einstellung beim Schüler niemals direkt angestrebt werden, sondern ist nur auf eine indirekte Weise anzubahnen: in der Vergegenwärtigung von exemplarischen Situationen, in denen die eigenen Maßstäbe des Schülers Gestalt annehmen, für ihn begreifbar werden und gegebenenfalls in einem freien Akt der Selbstbesinnung einer kritischen Revision unterzogen werden. Entscheidend dabei ist, dass diese kritische Selbstbetrachtung der Freiheit und Autonomie des Schülers überlassen bleibt und auch bleiben muss; denn zu einer Einsicht kann man niemanden zwingen und auch nicht zum Wandel seiner Einstellung und seines Handelns. Andernfalls wird der Ethikunterricht zu einer Theatervorstellung und zu einem Maskenspiel, bei dem die Schüler sich nicht – schon gar nicht in moralischer Hinsicht – selbst besser kennen lernen, sondern stattdessen lernen, als Schauspieler den vermeintlich eigenen moralischen »Charakter« so vor sich selbst und vor den Mitschülern darzustellen, dass gerade dadurch eine moralische Selbsterkenntnis ausgeschlossen wird. Ein solcher Schauspiel-Unterricht führt sehr schnell zu einer »Dressur« und zur Einübung einer moralisch korrekten Redeweise oder er verstärkt gar die Gefahr von Selbsttäuschungen, die ohne­hin vielen Gesprächen über Moral innewohnt.95



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Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 47. Buck geht es in diesem Zusammenhang vor allem um die »Kraft« der negativen Erfahrung für das Lernen. Da es im epagogischen Unterricht immer wieder verstörende Momente gibt, die auch intendiert sind, in denen die Schüler ihre eigenen Irrtümer bemerken und aus ihnen lernen, darf man vorsichtig davon sprechen, dass auch hier in einer gewissen Weise die Negativität nicht prinzipiell aufgehoben oder gar aus dem Unterricht verbannt wird, sondern dass der »ganze Horizont der Erfahrung« der Schüler mit in den Blick kommt. Kant bezeichnet solche Gespräche, in der die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen der Teilnehmer im Mittelpunkt steht und die vermeintlich guten Absichten nur vorgeschoben werden, um selbst »gut« dazustehen, zutreffend als »Afterreden«. (Immanuel Kant: Metaphysische Anfangsgründe der Tugendlehre. Metaphysik der Sitten. Zweiter Teil. Neu herausgegeben und eingeleitet von Bernd Ludwig [3. Auflage]. Hamburg 2017, S. 114, § 43.)

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1.3.4 Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns im Ethikunterricht: das ethische Urteil im sozialen Kontext Für Aristoteles ist das ethische Urteilen eine wichtige Konstituente des gesellschaftlichen Lebens. Die Individuen, die ihrer menschlichen Natur gemäß in einer Gesellschaft leben, schätzen und bewerten die Handlungen und die sehr vielfältigen Leistungen ihrer Mitmenschen unaufhörlich nach ihren Maßstäben – häufig ohne darauf zu achten, dass es die in ihrer Gesellschaft geltenden allgemeinen Maßstäbe sind. Die gegenseitige Hochschätzung und Geringschätzung, Bewunderung, Missachtung, Lob und Tadel spielen auch dann eine entscheidende Rolle, wenn sie gar nicht geäußert werden: Nun scheint alles, was gelobt wird, deswegen gelobt zu werden, weil es von einer bestimmten Art ist oder weil es sich auf bestimmte Weise zu etwas anderem (pros ti) verhält; denn wir loben den Gerechten, den Tapferen und allgemein den Guten und die Gutheit aufgrund der Handlungen (praxis) und Werke (ergon), und wir loben den Starken, den Läufer usw., weil er von einer bestimmten Art ist und sich auf bestimmte Weise zu etwas Gutem (agathos) und Hervorragendem (spoudaios) verhält […]. Wenn nun das Lob solche Dinge zum Gegenstand hat, dann ist klar, dass es für das Beste kein Lob gibt, sondern etwas Größeres und Besseres.96

Mit einem Lob wird demnach festgestellt, dass das, was der Gelobte tut und schafft, seinem Glück dient: dem menschlichen Glück,97 das er nur findet, wenn er mit dem, was er verwirklicht, das vollbringt, was nur dem Menschen möglich und wozu er aufgerufen ist. Weil wir Menschen die große Leidenschaft haben, das Handeln von anderen Menschen überall und immerzu zu bewerten, findet dieses Schauspiel der gegenseitigen Beurteilung auch überall dort statt, wo Menschen zusammenkommen: auf dem Sportplatz, im Theater oder bei der Bewältigung einer politischen Aufgabe. Und da nahezu alle Menschen in politischen Gemeinschaften leben, sind ihnen die Wertmaßstäbe, die in diesem sozialen Rahmen gelten, auch bestens vertraut – so vertraut, dass sie ihr Leben und ihr Handeln danach ausrichten. Für Aristoteles steht mithin außer Zweifel, dass jeder Mensch den herrschenden Wertmaßstäben der Gemeinschaft unterworfen ist.98 Auch wenn wir heutzutage dem einzelnen Menschen eine viel größere Freiheit und Souveränität beim Urteilen und Handeln zusprechen würden, untersteht dieser doch immer noch Gruppen­ erwartungen und kennt auch den sozialen Druck, der aus solchen Erwartungen erwächst. Der wohlwollende oder abschätzige Blick der anderen begleitet uns nicht nur bei unseren Handlungen, sondern er beeinflusst auch maßgeblich unsere Ent-

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Aristoteles: NE, I, 12, 1101b 12–22. S. 68. Vgl. ebd., 12, 1101b 25. S. 68. Das zeigt sich vor allem daran, dass die meisten Menschen nach gutem Ansehen bzw. nach Ehre streben und gerade darin das Ziel eines guten und gelingenden Lebens sehen. Vgl. Aristoteles: Rhet. I, 5, 1361a 25–27. S. 33. NE, I, 3, 1095b 23–30. S. 48 f.

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scheidungen. Kurzum: Die ethischen Urteile normieren unser Handeln und legen unser Handeln auf etwas Bestimmtes und allgemein Bestimmbares fest: Wer eine Handlung lobt oder tadelt, behauptet, sie habe das Verhältnis zum Glück getroffen oder verfehlt, der spricht ein konkretes sittliches Urteil aus. Dieses Urteil wird aber nicht vom Handelnden selbst ausgesprochen, sondern von seiner Umwelt, etwa in der Volksversammlung oder vor Gericht, im Theater, Kriegslager oder im täglichen Umgang. Lob und Tadel sind das soziale Echo, das ein Handeln begleitet und zustimmend oder ablehnend beurteilt. Solche Urteile scheinen nur nachträglich zu sein. Da der Handelnde aber auf diese Urteile gefaßt sein muß, gehen sie in Form von Gruppenerwartungen in seine Überlegungen ein und bestimmen die dem Handeln vorangehende Entscheidung.99

Die hochgeschätzten Tugenden – besonders die sozialen wie die Gerechtigkeit und die Freundschaft – sind für Aristoteles der Ausdruck einer gesellschaftlichen Haltung, die vom einzelnen Bürger auch erwartet wird. Mit Hilfe der Kategorien von Lob und Tadel wird ihm deutlich gemacht, ob sein Handeln den gesellschaftlichen Erwartungen und Maßstäben entspricht oder ob es verbesserungswürdig ist. Wer beispielsweise die Tugend der Freundschaft und der Gerechtigkeit angemessen ausgebildet hat, weiß um die verschiedenen Verpflichtungsverhältnisse, die er gegenüber seinen Familienangehörigen, seinen Gefährten und seinen Mitbürgern hat, und hält sich auch daran.100 Daraus folgt, dass Tugenden wie Freundschaft und Gerechtigkeit einen wesentlichen Einfluss auf das Zusammenleben in der Polis haben, und die Mitglieder der Gemeinschaft, die sich darin in besonderem Maße auszeichnen, erhalten verdientermaßen ein Lob, während die Mitglieder, die sich als wenig freigiebig oder als sehr eigensinnig erweisen, auch wenig Wertschätzung erfahren. Nach Jaeger gelten deshalb auch Lob und Tadel »als die grundlegende soziale Tatsache, in der die Existenz objektiver Wertmaßstäbe im Gemeinschafts­ leben der Menschen zur Erscheinung kommt.«101 Auch wenn die geltenden Wertmaßstäbe in modernen Gesellschaften nicht mehr so eindeutig als verbindlich angesehen werden, wie es noch für Aristoteles der Fall gewesen ist,102 haben sie auch für uns eine große Bedeutung. Denn die Urteile, die wir über uns selbst und über andere Menschen fällen, sind maßgeblich von der sozialen Gemeinschaft geprägt: »Ich urteile als Mitglied dieser Gemeinschaft […].«103 101 99

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Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 135. Vgl. Aristoteles: NE, VIII, 11, 1160a 1 ff. S. 268. Werner Jaeger: »Adel und Arete«, in: Paideia. Die Formung des griechischen Menschen. Erster Band. Berlin und Leipzig 1934, S. 32. Vgl. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 138. »Den relativ konstanten Rahmen setzt Aristoteles als Faktum an.« Hannah Arendt: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu »Vom Leben des Geistes«. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. München 2017 [1985], S. 106.

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Für den Ethiklehrer ist die Erkenntnis, dass das ethische Urteil eine soziale Dimension hat, außerordentlich wichtig. Lässt er sich nämlich von ihr leiten, kann er bei der Inszenierung des Unterrichts berücksichtigen, dass die Schüler, auch wenn sie nicht selten vom Gegenteil überzeugt sind, keineswegs autonom sind, sondern als Mitglieder der Gesellschaft urteilen und handeln, und zwar unter den Bedingungen, die ihnen damit vorgegeben sind, und von den Maßstäben abhängig, die sie übernommen haben, bevor sie sich kritisch mit ihnen auseinandersetzen können. Es geht hier nicht darum, ihnen diese Selbstbestimmung abzuerkennen, sondern vielmehr darum, sie in der Reflexion von exemplarischen Situationen menschlichen Handelns dafür sensibel zu machen, dass diese Unabhängigkeit im Urteilen und Handeln keine Selbstverständlichkeit, sondern stets das Ergebnis des Ringens um Selbstständigkeit ist. Die aristotelische Methode setzt genau an dieser Stelle an. Sie zeichnet sich vor allem deshalb als didaktische Methode aus, weil es auf diesem Weg überhaupt erst möglich ist, den Schülern ihre eigenen Abhängigkeiten, die starken Beeinflussungen durch die soziale Gemeinschaft und auch die soziale Dimension ihrer ethischen Urteile bewusst zu machen. Im Rahmen des Lehrstücks geschieht das immer wieder, z. B. bei der Beurteilung des Handelns von Fred und Frieda104 im Sportunterricht oder auch des trunkenen Schürzenjägers John Falstaff.105 Es wird ein Spiel inszeniert, in dem die Schüler dazu ermuntert werden, selbstständig Urteile mit Blick auf eine exemplarische Situation oder Figur zu fällen. Die dafür verwendeten Darstellungen – die unterschiedlichen Inszenierungen, die Gedankenexperimente und Filmausschnitte – haben also die Funktion, ihre eigenen ethischen Urteile hervorzulocken und sie damit für eine Reflexion zugänglich zu machen. Das moralische Nachdenken bewegt sich auf diese Weise in einem ästhetischen Feld, das, wie schon Herbart wusste, eine ethische Forderung für uns bereithält, die uns auch selbst betrifft und die wir noch leichter an andere stellen, zumal dieser Andere im Lehrstück stets eine fiktive Gestalt ist: »So urtheilen wir über Andre, nur noch leichter als über uns selbst; und die Forderung gilt – sollte wenigstens dem Andern gelten; und wir muthen ihm an, es selbst so zu finden.«106 Die ästhetische Darstellung hat hier also den Zweck, den Schülern den Freiraum für die moralische Entwicklung ihres Urteilsvermögens zu geben. Herbart fordert also im Grunde ebenfalls eine indirekte Betrachtung des Schauspiels menschlichen Handelns ein. Er muss es fordern, weil er mit dem Tiefblick des großartigen Pädagogen entdeckt hat, dass sich die Autonomie nur aus einer ästhetischen Blickschulung heraus entwickeln lässt. Das ist für ihn das »Hauptgeschäft der Erziehung.«107 106 104 105



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Vgl. unten, 2.4. Vgl. unten, 2.7 und 2.9. Johann Friedrich Herbart: »Über die ästhetische Darstellung der Welt, als Hauptgeschäft der Erziehung«, in: Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Friedrich Bartholomäi, Erster Band, Zweite Auflage. Langensalza 1877, S. 196. Ebd., S. 199. Damit verbindet sich eine Kritik an der Ethik Kants. Herbart zweifelt als Pädagoge einfach daran, dass man das praktische Vernunftgesetz so lernen kann, wie Kant sich das vorstellt. Die Gewissensbildung ist für ihn vielmehr das Ergebnis einer ästhetischen Blickschulung:

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Die ästhetische Darstellung der Welt dient hier also vornehmlich der Gewissensbildung. Im Lehrstück zur aristotelischen Ethik soll das Nachdenken über Moral allerdings zunächst an einer anderen Stelle beginnen. Der Lehrer bedient sich hier ebenfalls des Mittels der ästhetischen Darstellung von exemplarischen Situationen und Figuren – aber zunächst mit dem Ziel, die Schüler dazu zu ermuntern, selbstständig ein ethisches Urteil zu fällen. Im ersten Schritt geht es hier also (noch) nicht darum, dass die Schüler sich der eigenen Autonomie versichern, sondern vielmehr darum, dass sie die soziale Dimension ihres eigenen Urteils erkennen. Das gilt es, ihnen mittels eines Kunstgriffs vor Augen zu führen: Anders als im Theaterstück, das mit den ethischen Überzeugungen des Zuschauers spielt, werden die Schüler im Lehrstückunterricht ermutigt, sich selbst auf die Unterrichtsbühne vorzuwagen, und mit dem Vortrag ihrer Einschätzungen und Deutungen treten sie selbst als Darsteller in einer Rolle auf. Wenn sie das tun, können sie bemerken, dass ihre Urteile gar nicht so subjektiv sind, wie sie das vorher leichtgläubig angenommen haben. Denn sie stellen recht schnell fest, dass ihre Wertmaßstäbe mit Blick auf die Beurteilung der exemplarischen Situationen und Figuren gar nicht so unterschiedlich sind. Dies ist für sie häufig eine verstörende Erkenntnis, da sie gemeinsam – im Dialog miteinander – die Erfahrung machen können, dass ihr eigenes ethisches Urteil tatsächlich eine soziale Dimension hat; z. B. dann, wenn ihnen klar wird, dass sie bei der Bewertung des Handelns von Fred und Frieda selbst nach den geläufigen Kategorien ein Lob oder einen Tadel aussprechen.108 Oder auch dann, wenn ihnen mit einiger Verblüffung aufgeht, dass ihre eigenen Kriterien für die Beurteilung eines Charakters sich in vielerlei Hinsicht mit den aristotelischen Kriterien decken.109 Dieser erste Reflexionsschritt ist im Rahmen einer aristotelisch begründeten Ethikdidaktik außerordentlich wichtig und unerlässlich, weil die Schüler, wenn sie als Darsteller mit ihren Darstellungen in der Wahrnehmung ihrer Mitspieler erscheinen, erleben, dass auch sie sich in einem sozialen und von ihrer Zeit geprägten Rahmen bewegen – und dass sich auch in ihren eigenen ethischen Urteilen diese soziale Prägung zeigt. Durch die spielerisch angelegten Inszenierungen ist es den Schülern möglich, die Zeitbedingtheit und die soziale Bedingtheit ihrer Maßstäbe besser zu verstehen.



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»Findend eine ursprünglich - praktische, also ästhetische, - Notwendigkeit: biegt der Sittliche sein Verlangen, um ihr zu gehorchen. Das Verlangen also war Glied eines ästhetischen Verhältnisses.« (Ebd., S. 195.) Deshalb soll der Erzieher ruhig den Mut und das Vertrauen haben, die weltlichen und menschlichen Zusammenhänge auf eine ästhetische Weise darzustellen: »Er könne, wenn er es recht anfange, jene Auffassung durch ästhetische Darstellung der Welt früh und stark genug determinieren, damit die freie Haltung des Gemüths nicht von der Weltklugheit, sondern von der reinen praktischen Überlegung das Gesetz empfange.« (Ebd., S. 199.) Vgl. unten, 2.4. Vgl. unten, 2.7.1.

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1.3.5 Mimesis als nachahmende Darstellung: Darstellung von typisch menschlichen Handlungen, Situationen und Lebensweisen110 Nach Aristoteles gehört es wesentlich zu »unserer Natur, ›eine Fähigkeit zum‹ Nachahmen […] zu haben.«111 Jeder Mensch hat Freude an Nachbildungen und beim Nachbilden und Darstellen – das ist bereits bei Kindern gut zu beobachten, denn sie erwerben ihre ersten Kenntnisse durch Nachahmen.112 Diese Freude an Darstellungen ist also eine typisch menschliche Freude – und zwar vor allem deshalb, weil sie mit der Erkenntnisfreude eng verbunden ist: »Sie [die Menschen, hinzugefügt von M. Z.] empfinden nämlich Freude beim Anschauen von Bildern, weil sie beim Betrachten zugleich erkennen und erschließen, was das jeweils Dargestellte ist, etwa dass es sich bei dem Dargestellten um diesen und jenen handelt.«113 Lernen anhand von Darstellungen ist eine uns Vergnügen bereitende Tätigkeit. Wenn sich uns ein Bild oder eine Szene im Theater erschließt, empfinden wir dabei Freude. Sichtbar wird dieses vergnügliche Erkenntnisinteresse etwa bei Kindern, die die Welt zunächst vor allem durch Darstellungen – z. B. in Büchern – kennenlernen. Doch nicht nur das Betrachten von Darstellungen bereitet den Menschen Freude, sondern auch die möglichst kunstvoll ausgeübte Tätigkeit des Darstellens selbst. Dieses zweite Vergnügen, das wir beim eigenen Nachbilden und Darstellen selbst empfinden, ist ebenfalls mit einem Erkenntnisinteresse verknüpft. Allerdings geht es hier vor allem um die Art und Weise der Darstellung, also um die Frage, wie etwas, z. B. eine bestimmte menschliche Handlungsweise, zur Darstellung gebracht worden ist. Diese Darstellung können wir dann als gelungen oder auch als nicht gelungen wahrnehmen. Worauf es ankommt, ist, dass auch die damit verbundene ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude ist. Beide Arten der Erkenntnisfreude spielen im Rahmen der Lehrstückdidaktik eine zentrale Rolle. Wolfgang Welsch charakterisiert sie im Sinne des Aristoteles so: Die erste bezieht sich […] auf die Erkenntnis des Dargestellten – auf das Herausfinden des dargestellten Gegenstands. Die zweite Art hingegen bezieht sich nicht auf den Gegenstand, sondern auf die Weise der Darstellung […]. Diese darstellungsbezogene ist die genuin ästhetische Freude, und sie ist immer mit im Spiel. Wir können uns an



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Teile dieses und des nächsten Abschnittes habe ich bereits in meinem Aufsatz »Die Kunst der Darstellung. Mimetische Lehrstückdidaktik nach Aristoteles« verwendet. In dem Band »Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung. Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik«, den ich gemeinsam mit Daniel Löffelmann im Jahr 2020 beim Verlag Karl Alber herausgegeben habe. Vgl. Daniel Löffelmann/Mario Ziegler: Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung. Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik. Freiburg/München 2020. S. 92–106. Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, 1448b 20. S. 6. Im Folgenden greife ich auf die Übersetzung von Arbogast Schmitt zurück. Vgl. ebd., 1448b 6 ff. S. 6. Ebd., 1448b 15–17. S. 6.

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der ästhetischen Gelungenheit der Darstellung erfreuen – was immer der Gegenstand sein mag.114

Auch die ästhetische Freude, die die Schüler beim Darstellen und Nachbilden – beispielsweise bei einer theatralen Darstellung – empfinden können, ist somit ein wesentlicher Teil des Lernens; vor allem deshalb, weil die Schüler beim (künstlerischen) Darstellen etwas Bestimmtes – im Ethikunterricht: zumeist eine menschliche Handlung – interpretieren und dabei zuallererst das, was für sie selbst zu erkennen ist, auch selbst darstellen und somit sich und anderen verständlich machen. Wenn der Unterricht selbst als ein Drama gestaltet wird, ist dieses produktive Moment – der konkrete Vollzug – beim Nachbilden und Darstellen von ganz entscheidender Bedeutung. Ein Teil des inhaltlichen Lernens besteht in diesem Mitvollzug der Handlung. Die Verwendung des Wortes »Handlung« ist in diesem Fall doppeldeutig: Einmal meint es den Nachvollzug einer menschlichen Handlung, ohne die eine Interpretation nicht möglich wäre. Zum anderen ist es aber auch die Handlung selbst, die die Schüler im Unterricht vollziehen. Auf diesen zweiten Aspekt hebt Schulze ab, wenn er den Lehrstückunterricht mit dem Drama vergleicht und dabei betont, dass hier Inhaltserschließung und Handlung eng verknüpft sind: »Der Inhalt wird im Mitvollzug der Handlung erfahren, und nur was man im Mitvollzug der Handlung erfährt, ist der Inhalt […]. Die Handlungen im Unterricht, wie sie die Lehrkunst intendiert, sind in erster Linie Erkenntnis- oder Produktionshandlungen.«115 Auch in diesem Zusammenhang kann man sich auf Aristoteles und seine mimetische Erkenntnislehre und Didaktik berufen. Denn indem die Schüler im Lehr­s tück­ unterricht dazu ermuntert werden, eine bestimmte Handlung zur Darstellung zu bringen, werden sie nicht nur dazu angespornt, diese bloß nachahmend wiederzugeben, sondern sie bringen mit der gewählten Darstellungsweise auch das für sie Typische der Handlung zum Vorschein.116 Dabei eignen sie sich, wie bereits deutlich wurde, eigentlich erst an, was sie darüber bisher noch recht ungenau wissen, und

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Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles. München 2012, S. 363. Welsch stellt völlig zu Recht fest, dass für Aristoteles die genuin ästhetische Freude ebenfalls eine Erkenntnisfreude darstellt: »Für Aristoteles ist auch die Freude an ästhetischer Gelungenheit, obwohl sie keine Freude des Wiedererkennens ist, eine Erkenntnisfreude. Denn auch das ästhetische Gelungensein will ja erst einmal erforscht und erfasst, will erkannt sein.« (Ebd., S. 364.) Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 375 und 376 f. In diesem Buch wird der Versuch gemacht, ausgehend von der aristotelischen Lehre einen Vorschlag für die methodische Gestaltung des Ethik- und Philosophieunterrichts zu entwickeln. Es soll gezeigt werden, wie die Fächer Ethik und Philosophie im Sinne einer aristotelisch geschulten Lehrstückdidaktik unterrichtet werden können. Daher kann man das Vorgehen zu Recht mit dem Etikett ›immanente Philosophiedidaktik‹ versehen, denn es handelt sich um ein fachdidaktisches Lehrkonzept, das die aristotelische Erkenntnislehre zur Grundlage hat und das davon ausgehend einen methodischen Weg aufzeigt, wie die Schüler zu philosophischen Einsichten geführt werden können. Vgl. Falk Bornmüller und Laura Martena: »Teachable Moments ? Über das Lehren der Philosophie an der Universität.« In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie (2020). Band 68. Heft 5. S. 793–801, hier S. 800. www. degruyter.com/document/

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greifen zugleich auf ihr primäres Wissen zurück. Entscheidend ist mithin, dass die damit verbundene Darstellungsleistung der Schüler genau genommen bereits eine Erkenntnisleistung darstellt. Denn die Darstellung der Situation oder der Handlung übersteigt ihre bloße Wiedergabe, weil damit das Wesentliche als »Typos« (τύπος) erfasst und fassbar gemacht wird. In einer aristotelisch geschulten mimetischen Didaktik steht diese Darstellungsarbeit im Mittelpunkt. Und auch die Beurteilung der von den Schülern hervorgebrachten Darstellungen erfolgt im Lehrstückunterricht auf eine zweifache Weise; zum einen wird die Darstellung selbst beurteilt, ob sie das Typische der Situation trifft bzw. der Sache nach angemessen ist. Zum anderen kann die Darstellung auch unter einem ästhetischen Gesichtspunkt in den Blick genommen werden; z. B. dann, wenn die Schüler zu beurteilen haben, ob ihre Standbilder zum phronimos gelungen oder misslungen sind.117 Beide Perspektiven können mit Blick auf die Beurteilung der Darstellungen von den Schülern eingenommen werden und beide Perspektiven sind mit einem Erkenntnisanspruch verbunden: »Mίmēsis ist mehr als bloße Wiedergabe, sie ist Darstellung. Ihr Entscheidendes ist nicht der Gegenstand, sondern die Darstellungsweise. Und wir beurteilen sie in beiden Aspekten – sowohl hinsichtlich der Darstellungsweise wie des Dargestellten – erkennend.«118 Bei der Inszenierung eines Lehrstücks greift der Lehrer auf die mimetische Darstellungskunst zurück. Er wendet also die aristotelische Typos-Lehre und die Mimesis als nachahmende Darstellungskunst unter didaktischen Gesichtspunkten an. Dabei ist seine Aufgabe als Lehrstückentwickler in vielerlei Hinsicht analog zu der des Dichters. Für Aristoteles bildet die Dichtung eine mimetische Kunstform, bei der es vornehmlich darum geht, »handelnde Menschen«119 darzustellen; allerdings nicht so, wie sich ihr Handeln in der alltäglichen Wahrnehmung abspielt. Der Dichter soll das Geschehen vielmehr derart darstellen, wie die Dinge so geworden sind oder wie es zu einer bestimmten Handlung, Situation oder Lebensweise gekommen ist. Sein Fokus bei der Betrachtung und Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns liegt auf den Entstehungsbedingungen und auf den typischen Merkmalen der Handlungen. Es geht ihm also nicht darum, jedes historische oder tatsächlich aufgetretene Detail einer Handlung festzuhalten und zu thematisieren, sondern vielmehr darum, die Handlungen in ihrer »typisierten Form« vor Augen zu führen.120 Die Dichtung als mimetische Darstellungskunst stellt demzufolge »exemplarische Möglichkeiten« menschlichen Handelns dar,121 und zwar entweder gute oder schlechte menschliche Lebensweisen.122 Denn sie zeigt die typische – sprich: die allgemeine – Form eines bestimmten Handlungsverlaufs: doi/10.1515/dzph-2020–0054/html (Stand: 09.03.2021). Vgl. auch Philipp Richter (Hrsg.): Professionell Ethik und Philosophie unterrichten. Ein Arbeitsbuch. Stuttgart 2016, S. 10. 117 Vgl. unten, 2.8.1. 118 Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 364. 119 Aristoteles: Poetik, 1448a 1. S. 4. 120 Vgl. Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 365. 121 Ebd. 122 Aristoteles: Poetik, 1148a 16–18. S. 5. »Genau hier liegt der Unterschied zwischen Tragödie und

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Aufgrund des Gesagten ist auch klar, dass nicht dies, die geschichtliche Wirklichkeit ›einfach‹ wiederzugeben, die Aufgabe eines Dichters ist, sondern etwas so ›darzustellen‹, wie es gemäß ›innerer‹ Wahrscheinlichkeit oder Notwendigkeit geschehen würde, d. h., was ›als eine Handlung eines bestimmten Charakters‹ möglich ist.123

Auch im Lehrstückunterricht geht es nicht um die Darstellung von Individuen oder einzelnen Handlungen, sondern vielmehr um die Darstellung von typischen menschlichen Handlungen und Lebensweisen, also um exemplarische Situationen menschlichen Handelns, an denen sich etwas ethisch Relevantes zeigen lässt. Dabei greifen die Lehrstückentwickler gern auf literarische oder filmische Darstellungsformen zurück, so wie am Beispiel von Falstaff.124 Er spielt im Rahmen des Lehrstücks eine ganz entscheidende Rolle; vor allem deshalb, weil er aufgrund seiner komödienhaften Gestalt und seines auffallend schwachen Charakters eine typisch menschliche Lebensweise verkörpert, die zugleich eine mögliche Existenzform des Menschen repräsentiert. An ihm lässt sich demnach etwas allgemein Menschliches zeigen, das die Schüler bereits von sich selbst kennen, das sie aber durch die Darstellung auf der Unterrichtsbühne und durch ihre eigenen Darstellungen noch besser kennen lernen sollen. Die charakteristischen Handlungsweisen von Falstaff werden ihnen im Lehrstück so vor Augen geführt, dass sie daran das Typische dieser menschlichen Lebensweise erkennen können. Die Darstellung im Lehrstückunterricht zielt also wie die Dichtkunst auf das Exemplarische eines bestimmten und somit bestimmbaren Lebenstypus. Deshalb muss die beispielhafte Darstellung auch besser sein als die Wirklichkeit, sie muss das faktische Handeln von Menschen stets in irgendeiner Hinsicht übertreffen.125 Denn erst dann kann das Besondere dieses Typs von Menschen zur Erscheinung kommen. Shakespeare hat Falstaff zu einem Helden der Komödie gemacht. Das Charakteristische an dieser Figur hat er mit literarischen Mitteln so dargestellt, dass die Besonderheit seines schwachen Charakters für die Zuschauer im Theater sinnfällig und verständlich wird. Dabei hat er sich immer wieder des Stilmittels der

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Komödie: Die eine nämlich will Charaktere nachahmen, die dem heutigen Durchschnitt unterlegen, die andere aber solche, die ihm überlegen sind.« Wichtig ist noch zu erwähnen, dass die Komödie keinen bösen oder grundsätzlich schlechten Menschen darstellt, sondern nur lächerliche Charaktere, die auf eine bestimmte Weise ihr angestrebtes Handlungsziel verfehlen: »Die Komödie aber ist […] Nachahmung von zwar schlechteren Menschen – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern ›nur‹ zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung des ›Handlungszieles‹ und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist.« (1449a 32–36. S. 8.) Ebd., 1451a 36-b 1. S. 13. Vgl. unten, 2.7 und 2.9. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1461b 11–13. S. 39. »Im Blick auf das, was für die Dichtung wesentlich ist, ist nämlich etwas Unmögliches, das überzeugt, dem Möglichen, das keinen Glauben findet, vorzuziehen. Denn es ist vielleicht unmöglich, dass es so schöne Menschen gibt, wie Zeuxis sie zu malen pflegte – aber es ist das bessere Verfahren: denn das Beispielhafte muss besser sein.«

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Übertreibung bedient, um die Falsstaff’sche Art zu leben – das skizzenhafte Bild dieses Lebenstypus – dem Zuschauer deutlich vor Augen zu führen.126 Falstaff entspricht im aristotelischen Sinne sicher nicht dem Idealbild eines vortrefflichen Menschen, denn er verkörpert ja geradezu paradigmatisch die Lebensweise eines Menschen, der nichts oder jedenfalls nicht das Beste aus seinen Möglichkeiten macht. Er ist ein »Tunichtgut« und ein »Taugenichts« par excellence. Im Lehrstück eignet er sich gerade deshalb als Negativbild oder als Kontrastfigur zum phronimos, also zu der Figur, die nach Ansicht von Aristoteles den Idealtypus einer ethisch vortrefflichen Lebensweise darstellt.127 Und Falstaff eignet sich im Rahmen des Lehrstücks auch deshalb als treffendes Beispiel besonders gut, weil an ihm – ausgehend von seinen reizenden Schwächen – sehr klar der aristotelische Blick auf die menschlichen Fähigkeiten und Möglichkeiten hervortreten kann. Die anthropologischen Voraussetzungen der aristotelischen Ethik werden an seinem negativen Beispiel besonders eindrucksvoll deutlich. Der Grundriss der Ethik des Aristoteles – sein Strukturgitter zur ethischen Beurteilung menschlichen Handelns – kann somit von den Schülern anhand der beispielhaften Darstellung seines schwächlichen Charakters durchschaut werden. Darüber hinaus stellt das exemplarische Verfahren hier die geeignete Methode im Lehrstück dar, weil diese Einsicht in die aristotelische Denkweise nicht nur anhand des Beispiels, sondern vielmehr auch mit Hilfe der Darstellungen der Schüler, mit denen sie ihren eigenen Erfahrungs- und Urteilshorizont fassbar machen, gewonnen wird.128 Die Lehrstückdidaktik ist somit eine mimetische Didaktik, weil sie die Darstellungskunst zum grundlegenden Prinzip im Ethikunterricht erklärt. Lernen bedeutet hier, etwas zur Darstellung bringen – entweder geschieht dies durch den Lehrer, der den Schülern eine typische menschliche Handlungs- oder Lebensweise szenenhaft vor Augen führt, oder die Schüler sind selbst aufgefordert, das, was sie in einer Szene menschlichen Handelns erkennen, auch selbst darzustellen und verständlich zu machen. Weil der Lehrstückunterricht wie die Dichtung darauf abzielt, einen bestimmten Lebenstypus exemplarisch darzustellen, verfolgt er auch ein allgemeines Erkenntnisinteresse. Daher ist der Lehrstückunterricht auch ein philosophischer Unterricht, denn in der Philosophie geht es wie in der Dichtkunst darum, den allgemeinen Typus einer Situation oder einer Handlungs- und Lebensweise zur Darstellung zu bringen. Doch auch ein wesentlicher Unterschied zur Dichtung – genauer gesagt zur Tragödie – muss noch festgehalten werden. Die griechische Tra-



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Das Stilmittel der Übertreibung ist für Aristoteles schon deshalb erwünscht, weil uns das Staunen offensichtlich Vergnügen bereitet. Beobachten kann man das schon beim alltäglichen Geschichtenerzählen: »Das aber, was Staunen erregt, ist angenehm. Das kann man daran sehen, dass alle beim Geschichtenerzählen übertreiben, weil sie Gefallen finden wollen.« (Aristoteles: Poetik, 1460a 18. S. 35.) Vgl. Fußnote 52. Zum Beispiel dadurch, dass die Schüler selbst eine Drehbuchszene schreiben sollen, in der der charakterliche Wandel Falstaffs zum Besseren so dargestellt werden muss, dass die Zuschauer im Theater dazu ermuntert werden, ihm ein Lob auszusprechen. Vgl. unten, 2.7.1.

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gödie will nicht didaktisch sein.129 Demgegenüber werden die verschiedenen Darstellungsformen im Lehrstückunterricht ausdrücklich zu diesem Zweck eingesetzt.

1.3.6 Ästhetische Kritik unter einer ethikdidaktischen Perspektive: Die wesentliche Rolle des Kunstwerks und der unterrichtlichen Darstellungsformen für eine kritische Betrachtung und Reflexion der ethischen Urteile der Schüler Wer klug ist, beschäftigt sich nach der Ansicht des Aristoteles mit guten, werthaften und schönen Dingen.130 Er strebt darüber hinaus auch danach, schöne und gute Handlungen auszuführen, weil sie ihm Freude bereiten.131 Demnach hat für Aristoteles das schöne Handeln einen »sittlichen Sinn.«132 Im Theater ist das auch daran zu beobachten, dass die Zuschauer sich an schönen und guten Handlungen erfreuen und diese auch so beurteilen. Die ästhetische Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns besitzt folglich die Kraft, unseren ethischen Blick zu schulen. Diese Möglichkeit nutzt der Lehrstückunterricht, weil die Schüler hier aufgefordert sind, sich klarzumachen, warum sie diese oder jene Handlung und Lebensweise als schön, gut oder wertvoll beurteilen. Nach den Gründen ihrer ethischen Urteile können sie aber nur deshalb suchen, weil sie das Schauspiel menschlichen Handelns bei vielen Gelegenheiten beobachtet und dabei auffällige Regelmäßigkeiten bemerkt haben. Das heißt: Die Schüler besitzen bereits ein ethisches Urteilsvermögen, auf das sie zurückgreifen können, wenn der Lehrer ihnen exemplarische Situationen menschlichen Handelns vor Augen führt, die sie bewerten sollen. Die ästhetischen Darstellungen im Lehrstückunterricht haben zunächst die Funktion, dass die Schüler ihr eigenes Wissen, das sie hinsichtlich dieser exemplarischen Situation besitzen, auch äußern können. Damit können sie indirekt auf die Muster und Gestalten aufmerksam werden, die ihnen dabei auf der Bühne ihrer Imagination erscheinen. Hier wird ihr ethischer Blick gebildet, und zwar schon dadurch, dass sie auf diese Weise zuallererst die Gebilde und Gestalten, die ihnen bei der Betrachtung der dargestellten Situation in den Sinn kommen, bemerken und von ihnen Notiz nehmen. Die ethische Blickschulung beginnt mit einer Aufmerksamkeitsverlagerung auf die Gebilde und Imaginationen, die ihnen beim Blick auf die Figuren und Konstella

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Schadewaldt stellt deutlich heraus, dass für Aristoteles die griechische Tragödie und auch die anderen Kunstformen keine didaktische oder pädagogische Funktion hatten. Das schließt aber für ihn nicht aus, dass die Kunst eine moralische Kraft besitzen kann; nur ist es eben nicht ihr eigentliches Ziel, die Menschen moralisch zu bessern. (Vgl. Wolfgang Schadewaldt: Die griechische Tragödie. Tübinger Vorlesungen, Band 4. Unter Mitwirkung von Maria Schadewaldt, herausgegeben von Ingeborg Schudoma. Frankfurt am Main 1991, S. 33 f.) Vgl. Aristoteles: NE, VI, 13, 1143b 21–23. S. 212. Vgl. Aristoteles: NE, IV, 2, 1120a 30f. S. 131. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 106.

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tionen der exemplarischen Situation vorschweben. Diese imaginären Gebilde und Gestalten lassen sich von den Schülern in der Imagination noch deutlicher bestimmen.133 Zudem lassen sich die Einbildungen ganz nach Belieben verändern, bearbeiten und neu figurieren. Der Lehrer kann allerdings durch die Abwandlungen der dargestellten Situation und dadurch, dass er von den Schülern eigene Darstellungsleistungen abverlangt, ihren Blick immer wieder auf neue Aspekte lenken – solange, bis das Gebilde ihnen derart deutlich und klar vor Augen steht, dass sie es auch sprachlich angemessen zur Darstellung bringen können. In der Imagination wird somit ihr ethischer Blick gebildet. Darauf verweist Herbart in seinem Aufsatz zum »ABC der Anschauung« mit der folgenden Pointe: »Es ist Aufmerksamkeit auf die Gestalt, wozu vorzugsweise das Sehen gebildet werden muß.«134 Die imaginationsgeleitete Darstellungsarbeit, die den Schülern abverlangt wird, hat demnach die Funktion, den ethischen Blick zu schulen. Dabei sind sie nicht allein; machen sie sich nämlich gegenseitig auf das aufmerksam, was ihnen jeweils auffällt, kommt es zu einem Dialog, in dem sich die Unterschiedlichkeit ihrer Ansichten zeigt und in dem sie ihre Differenzen wiederum mit eigenen Mitteln darstellen können. So wird für sie greifbar, was sie hinsichtlich dieser dargestellten Handlung, Lebensweise und Situation wirklich denken. Sie versichern sich in der Imagination der Situation der Gestalt, die ihren Blick auf die Situation maßgeblich prägt. Diese Blickschulung kann so lange dauern, bis alle Beteiligten gemeinsam das Muster der Situation klar vor Augen haben und durchschauen, warum sie selbst jeweils so und nicht anders darüber denken. Entscheidend ist dabei, dass die Verständniserweiterung nur vor dem Hintergrund der gemeinsamen Betrachtung der dargestellten Situation im Unterricht gelingen kann. Sie ist die Bühne, auf der die Schüler solange mit ihrem Blick aufmerksam herumwandern können, bis sie in der gemeinsamen Imagination den Typos der Situation – die maßgebende Form oder den Grundriss der Handlungssituation – erkannt und bestimmt haben. Erst dann besitzen die Schüler nach Herbart eine ›reife‹ Anschauung der Dinge:



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Genau darauf macht uns auch Goethe aufmerksam, wenn er in »Shakespeare und kein Ende« dessen Dichtkunst näher zu bestimmen versucht: »Shakespeare nun spricht durchaus an unsern innern Sinn; durch diesen belebt sich zugleich die Bilderwelt der Einbildungskraft, und so entspringt eine vollständige Wirkung, von der wir uns keine Rechenschaft zu geben wissen; denn hier liegt eben der Grund von jener Täuschung, als begebe sich alles vor unsern Augen. Betrachtet man aber die Shakespeareschen Stücke genau, so enthalten sie viel weniger sinnliche Tat als geistiges Wort. Er läßt geschehen, was sich leicht imaginieren läßt, ja was besser imaginiert als gesehen wird. Hamlets Geist, Macbeths Hexen, manche Grausamkeiten erhalten ihren Wert erst durch die Einbildungskraft, und die vielfältigen kleinen Zwischenszenen sind bloß auf sie berechnet.« (Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Literatur: Shakespeare und kein Ende. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XII. Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hamburg 1967. S. 287–298, hier S. 288.) Johann Friedrich Herbart: »Pestalozziʼs Idee eines ABC der Anschauung«. In: Pädagogische Schriften. Herausgegeben von Friedrich Bartholomäi, Erster Band, Zweite Auflage. Langensalza 1877, S. 83.

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Auch läßt wirklich der aufmerksame Blick nicht eher ab, als bis er sich der Imagination versichert hat. – Man sehe ein Tier, einen Menschen, – oder noch besser, eine Landkarte an, (bei welcher die Schwierigkeiten, wegen der unregelmäßigen Formen, fühlbarer werden). Man wende den Blick wieder ab, und versuche sich das Gesehene vorzustellen. Man schaue wieder hin: und man wird empfinden, wie das schon vorgezogene Bild der Imagination von der erneuten Anschauung corrigiert wird. Wiederholt man dies einigemal, so hört endlich die Anschauung auf, das Bild zu berichtigen; nun ist sie reif.135

Herbart teilt mit Aristoteles die Auffassung, dass das (ethische) Lernen hauptsächlich in der Imagination stattfindet. Bei allen epistemologischen Differenzen, die zwischen ihnen bestehen,136 sind beide Verfechter einer Schulung der Phantasie oder der Einbildungskraft. Und beide haben auch die große Bedeutung der ästhetischen Darstellungsformen für das imaginative Lernen erkannt. Denn sie sind sich darin einig, dass man die Schüler epagogisch leiten und ihnen folglich etwas vor Augen führen muss, wenn man sie dazu bringen will, die Gestalten und Muster der typischen Situationen menschlichen Handelns zu studieren und ihr Verständnis schrittweise in der reflexiven Auseinandersetzung mit den dargestellten Situationen zu präzisieren. Gelingt die gezielte Ausforschung ihrer Imaginationen, entdecken sie dabei – im besten Fall – die typischen Grundrisse und Grundmuster ethischen Handelns. Dann ist es nachher für die Schüler auch leicht, die typischen Konstellationen und Figurationen menschlichen Handelns in der aktuellen Wahrnehmung wiederzuerkennen, weil sie beim Aufstöbern und Untersuchen ihrer Phantasiegebilde gelernt haben, worauf sie achten müssen: »Der Sinn findet leicht, wenn der Geist zu suchen versteht; – man faßt Unterschiede scharf und von selbst, wo man zuvor wußte, was zu unterscheiden sei.«137 Dabei dürfen oder sollten die im Unterricht zur Anwendung kommenden ästhetischen Darstellungsformen und Kunstwerke durchaus einen negativen oder ambivalenten Charakter haben. Falstaff ist gerade deshalb als exemplarische Figur geeignet, weil er – wie im Film von Welles138 – aufgrund seines ambivalenten Charakters das Potential dazu hat, die moralischen Ansichten der Schüler zu verstören, und zwar bestenfalls so sehr, dass sie darüber zu einer kritischen Betrachtung ihrer eigenen Überzeugungen und ihrer eigenen Lebenswirklichkeit bewegt werden können. Betrachten sie zum Beispiel eine Filmszene, dann können sie das Handeln der Filmfiguren schließlich erst einmal völlig selbstvergessen deuten und bewerten, denn obwohl ihnen dabei ihre eigenen Maßstäbe klarwerden, müssen sie diese

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Ebd., S. 87. Der größte Unterschied besteht sicherlich darin, dass für Herbart die Begriffe eine andere Bedeutung haben. Für ihn als Kantianer ist die Rolle der Begriffe beim Lehren klar bestimmt. (Vgl. Johann Friedrich Herbart: »Pestalozziʼs Idee eines ABC der Anschauung«, S. 88. Vgl. auch Günther Buck: Lernen und Erfahrung – Epagogik, S. 12 ff.) Johann Friedrich Herbart: »Pestalozziʼs Idee eines ABC der Anschauung«, S. 88. Orson Welles (Regie): Falstaff – Glocken um Mitternacht, Spanien 1965 (2013 Zweitausendeins). Vgl. unten, 2.9.

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nicht direkt auf ihr eigenes Handeln und auf ihre eigene Lebensweise anwenden. Sie machen vielmehr in Ruhe und ohne irgendeinen Selbstrechtfertigungsdruck Entdeckungen, die ihren Blick auf die Welt und auf die moralischen und sozialen Verhältnisse verändern.139 Durch die Art und Weise, wie die moralischen Verhältnisse beispielsweise in Orson Welles’ Film »Falstaff – Glocken um Mitternacht« dargestellt werden, können die Schüler gleichwohl zu einer kritischen Auseinandersetzung mit den geltenden Maßstäben bewegt werden – auch zu einer Kritik an den normativen Maßstäben der aristotelischen Ethik. Das bedeutet, die normativen Kriterien der Moraltheorien können mit Hilfe der ästhetischen Darstellung exemplarischer Situationen nicht nur verdeutlicht und geklärt, sondern durchaus auch kritisiert werden. Diese Form der kritischen Reflexion ist oft nachhaltiger als das Ergebnis einer diskursiven Auseinandersetzung, »weil die normative Dimension in den dargestellten Situationen selbst zum Vorschein kommt.«140 Welles hat die Handlungen der Protagonisten im Film ja nicht zufällig so dargestellt, sondern er hat die Filmszenen derart gestaltet, dass die Gründe und Motive der handelnden Figuren darin auch sichtbar werden.141 Welles nutzt die Möglichkeit der filmischen Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns zu einer ästhetischen Kritik an der moralischen Ideologie der Gesellschaft, in der er selbst lebt. Er baut darauf, dass sich dem Zuschauer in der Distanz und durch die kunstgerechte Inszenierung der dargestellten Ereignisse die moralische Relevanz des Gezeigten indirekt erschließt. Dabei können die Schüler selbstverständlich auch auf ihre Wirklichkeit aufmerksam werden. Aber es bleibt für sie der unbedingt nötige Spielraum des »eigenen Reagierenkönnens«142 offen, was im besten Fall dazu führt, dass die Einsicht in die Möglichkeit ganz unterschiedlicher Reaktionen nicht wieder ausgeblendet werden kann. Dieser Spielraum ermöglicht es ihnen darüber hinaus, verschiedene Lebensweisen zu schätzen und vielleicht auch Regeln anzuerkennen, die gewöhnlich nicht anerkannt werden. Das Prinzip der moraldidaktischen Umsetzung und Konkretisierung der ästhetischen Kritik ist selbstverständlich auf alle Kunst- und Darstellungsformen anwendbar, sofern denn jeweils das formspezifische Potential berücksichtigt wird. Ein Film funktioniert anders und kann etwas anderes als etwa die Literatur oder die Malerei. Auch wenn Aristoteles mit der moraldidaktischen Absicht der ästhetischen Darstellung menschlichen Handelns sicher ein Problem gehabt hätte, ist das darin verborgene Potential von einigen Nachfolgern seiner Tragödientheorie deutlich gesehen und zu diesem Zweck auch in Anspruch genommen worden.143 Bei Herbart wird die

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Vgl. Gernot Böhme: Aisthetik. Vorlesungen über Ästhetik als allgemeine Wahrnehmungslehre. München 2001, S. 187 f. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 154. Vgl. ebd. Martin Seel: Ästhetik des Erscheinens. München 2003, S. 302. Seel verdeutlicht diesen »Spielraum des Reagierenkönnens« für den Betrachter am Beispiel von Gewaltdarstellungen in der Kunst. Im Achtundsiebzigsten Stück seiner Hamburger Dramaturgie stellt Lessing Folgendes fest:

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ästhetische Darstellung in moralischer Hinsicht vollends didaktisiert; sie ist das eigentliche Instrument der Gewissensbildung. Deshalb sieht er es sogar als eine Pflicht des Erziehers an, dass er dem Kind die Welt und das menschliche Handeln mit ästhetischen Mitteln zur Darstellung bringe – durchaus mit all ihren Eigenheiten, also auch die menschlichen Schwächen und Schlechtigkeiten: Aber das Gemälde, was er (der Erzieher, hinzugefügt M. Z.) aufstellen soll, hat keinen Rahmen; es ist offen und weit, wie die Welt. Daher fallen hier alle Eigenheiten, wodurch sich die Gattungen der Poesie unterscheiden; und nackt und bloß steht jedes Schwache und jedes Schlechte, was sich sonst mit der Absicht des Kunstwerks entschuldigt. Das Gewissen geht mit in die Oper ! wie sehr immer der Dichter protestiere. Ihn bannt der Erzieher aus seiner Sphäre, gestützt auf Plato’s Ansehen, – wo nicht die Wahrheit, die Deutlichkeit des Schlechten zur Läuterung des Besseren, zur Erhöhung des Guten dienen kann und dienen will.144

Herbart vertraut noch ganz auf die Wahrheit, die sich in den ästhetischen Darstellungsformen und in der Kunst zeigt und die uns zu besseren Menschen machen soll. Vielleicht ist dieser moraldidaktische Anspruch an die Kunst überzogen und nicht mehr zeitgemäß. Vielleicht liegt das Potential einer ästhetischen Darstellung des Schauspiels menschlichen Handelns heute gerade darin, dass die Schüler die Ambi­valenz des menschlichen Lebens und der menschlichen Entscheidungen auszuhalten lernen. Dann wäre bereits das Aushalten-Können von Differenz ein Zeichen für moralische Reife, verkörpert in einer Persönlichkeit, die aus Erfahrung weiß, dass es viele berechtigte Standpunkte gibt, und die gelernt hat, die moralische Qualität dieser Standpunkte anzuerkennen. Eine solche persönlichkeitsbildende Lernerfahrung ist möglich, wenn der Schüler die eigene Souveränität in moralischen Fragen nicht einsam, sondern in der gemeinsamen Auseinandersetzung mit exemplarischen Situationen menschlichen Handelns entwickelt hat. Weil die Lehrstückdidaktik voraussetzt, dass das ethische Lernen nichts anderes sein kann als eine gemeinsame Schulung der Phantasie und Einbildungskraft, darf sie damit rechnen, dass die Konfrontation mit der Darstellung dieser Handlungen in einer ästhetischen Form die Entwicklung zur moralischen Reife nicht unerheblich fördern kann.145 In diese Tradition ordnet sich Hannah Arendt ein, wenn sie diesen Gedanken so präzisiert:



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»[S]o muß die Tragödie, wenn sie unser Mitleid in Tugend verwandeln soll, uns von beiden Extremis des Mitleids zu reinigen vermögend sein; welches auch von der Furcht zu verstehen.« (Lessings Werke in fünf Bänden. Hamburgische Dramaturgie (Bd. 4). Karl Balser und Thomas Höhle (Hrsg.). Berlin 1988 [10. Auflage], S. 380.) Der moralische Zweck der Tragödie besteht für ihn also darin, ›unsere‹ Affekte so zu regulieren, dass wir weder zu viel noch zu wenig Mitleid oder Furcht empfinden. Johann Friedrich Herbart: »Ueber die ästhetische Darstellung der Welt, als das Hauptgeschäft der Erziehung«, S. 203. Goethe hat diesen Gedanken ganz wunderbar in seinen »Maximen und Reflexionen« zum Ausdruck gebracht: »Echt ästhetisch-didaktisch könnte man sein, wenn man mit seinen Schülern

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Vielmehr gilt es, mit Hilfe der Einbildungskraft, aber ohne die eigene Identität aufzugeben, einen Standort in der Welt einzunehmen, der nicht der meinige ist, und mir nun von diesem Standort aus eine eigene Meinung zu bilden. Je mehr solche Standorte ich in meinen Überlegungen in Rechnung stellen kann und je besser ich mir vorstellen kann, was ich denken und fühlen würde, wenn ich an der Stelle derer wäre, die dort stehen, desto besser ausgebildet ist dieses Vermögen der Einsicht – das die Griechen φρόνησις (phronesis), die Lateiner »prudentia« und das Deutsch des 18. Jahrhunderts den Gemeinsinn nannten – und desto qualifizierter wird schließlich das Ergebnis meiner Überlegungen, meine Meinung sein.146

Der Lehrstückunterricht nach dem Prinzip der aristotelischen Epagoge will einen Beitrag zur Entwicklung der prudentia leisten. Diesen Anspruch kann er geltend machen, weil er die exemplarische Betrachtung und die gemeinsame Interpretation des Schauspiels menschlichen Handelns in den Mittelpunkt stellt und weil der epa­ gogische Unterricht nach diesem Konzept als ein Drama gestaltet wird, in dem die Schüler auftreten und das darstellen können, was sie dabei entdecken.



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an allem Empfindungswerten vorüberginge oder es ihnen zubrächte im Moment, wo es kulminiert und sie höchst empfänglich sind. Da aber diese Forderung nicht zu erfüllen ist, so müßte der höchste Stolz des Kathederlehrers sein, die Begriffe so vieler Manifestationen in seinen Schülern dergestalt zum Leben zu bringen, daß sie für alles Gute, Schöne, Große, Wahre empfänglich würden, um es mit Freuden aufzufassen, wo es ihnen zur rechten Stunde begegnete. Ohne daß sie es merkten und wüßten, wäre somit die Grundidee, woraus alles hervorgeht, in ihnen lebendig geworden.« (Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflexionen: Erkenntnis und Wissenschaft, 441. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XII. Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. Hamburg 1967. S. 418– 467, hier S. 426.) Hannah Arendt: »Wahrheit und Politik.« In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 327–370, hier S. 342. An anderer Stelle betont Arendt ebenfalls die Ausbildung der Einbildungskraft zur Schulung des Einsichtsvermögens; hier legt sie den Fokus allerdings noch mehr auf das Verstehen, das mit Hilfe der Einbildungskraft gefördert werden soll. (Vgl. Hannah Arendt: »Verstehen und Politik.« In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994, S. 110–127, hier S. 126 f.)

2 . S YS T E M AT I S CHE B E S CHR E I BUNG DE S LE HR S T ÜCK S 2.1 Erste Unterrichtseinheit: Die Empfänglichkeit für Bewunderung und die undurchsichtige Macht des Ansehens Der Einstieg in die erste Unterrichtseinheit erfolgt über die Inszenierung eines Gedankenexperimentes. Dafür zeichnet der Lehrer (oder ein Schüler, den er darum bittet) ein Wasserglas an die Tafel, in dem ein Goldfisch schwimmt. Außerdem ist an der Tafel ein Mensch zu sehen, der den wundervoll rotglänzenden Goldfisch bewundernd betrachtet. Den Schülern wird dazu die folgende erste Frage gestellt:

 Reagiert der Goldfisch auf die Bewunderung des Betrachters ? Beantworten Sie die Frage bitte kurz schriftlich. Die Schüler schreiben ihre Antworten an die Tafel. Dabei gehen ihre Antworten in der Regel zunächst weit auseinander. Nicht selten finden sich einige Skeptiker unter den Schülern, die die Position vertreten, dass man darüber keine Aussage treffen könne, weil man nicht wisse, was in dem Goldfisch vorgehe. Andere Schüler neigen eher zu einer vorsichtigeren Einschätzung und erklären, der Goldfisch springe nicht auf die Bewunderung an, aber reagiere vielleicht doch, weil er den Betrachter ja wahrnehmen könne. Wiederum andere vertreten ganz entschieden den Standpunkt, dass ihn die Bewunderung des Betrachters kalt lässt, weil er als Goldfisch nicht für die menschliche Bewunderung empfänglich ist. Um die Diskussion zuzuspitzen, kann der Lehrer dann die Frage stellen, ob sich denn durch die Bewunderung des Betrachters etwas an dem Verhalten des Goldfisches verändere. Wenn man als Lehrer an dieser Stelle behutsam vorgeht, tritt in der Regel eine erste Unterscheidung in den Blick, die für den weiteren Fortgang des Lehrstücks und für die genetische Gedankenentwicklung von zentraler Bedeutung ist. Denn es betrifft die anthropologischen Voraussetzungen der aristotelischen Ethik; die Prämisse nämlich, dass der Mensch für Bewunderung empfänglich ist und nach Anerkennung strebt und dass dies eine spezifisch menschliche Fähigkeit ist. Es ist an dieser Stelle nicht nötig, sich noch tiefgründiger mit der Unterscheidung zwischen Tier und Mensch zu befassen, weil dies im weiteren Verlauf des Lehrstücks geschehen soll. Als erste Klarheit soll herauskommen, dass der Goldfisch natürlich kein Sensorium für Bewunderung besitzt. Als Erweiterung des Ausgangsbeispiels wird den Schülern nun eine neue Szene präsentiert. Im Mittelpunkt stehen die beiden Jugendlichen Paul und Paula, die sich unverhofft und zufällig in einer Disco begegnen. Die Schüler bekommen jetzt den Auftrag, sich vorzustellen, dass die beiden Protagonisten sich auf der Tanzfläche

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Kapitel 2

zum ersten Mal sehen und dabei feststellen, dass sie sich gegenseitig attraktiv finden. Dazu wird ihnen die folgende Aufgabe gestellt:

 Beschreiben Sie, was in Paula beim Angeblickt-Werden von Paul vor sich geht !147 Es ist zunächst davon auszugehen, dass die Schüler zu der Feststellung gelangen, dass Paula auf den Blick von Paul reagiert. Sogar wenn Paula selbst kein Interesse an Paul hat, reagiert sie auf seinen Blick. Paula ist also in jedem Fall für die Bewunderung von Paul empfänglich. Darüber hinaus ist es jetzt schon möglich, dass die Schüler zu dem Urteil kommen, dass Paula sich daraufhin selbst mit den Augen Pauls betrachtet, und zwar deshalb, weil sie nicht nur bemerkt, dass sie gesehen wird, sondern die Maßstäbe erspürt und erkennt, die Paul im Blick hat, wenn er sie wahrnimmt. Dass ihr dieser Blick nicht gleichgültig ist, kann sich zum Beispiel darin zeigen, dass sie sich darüber Gedanken macht, ob ihre Frisur richtig sitzt oder ob sie coole Klamotten trägt etc. Um die Gesamtkonstellation der Discoszene noch deutlicher hervortreten zu lassen, kann der Lehrer die Protagonisten als Strichmännchen an die Tafel zeichnen und daran die unterschiedlichen Beschreibungen und Deutungen der Szene für alle sichtbar festhalten. Damit eröffnet sich ein Spielraum für unterschiedlich akzentuierte Deutungen. Denn oft werden die Schüler dazu inspiriert, sich neue Nuancierungen für die Inszenierung der Szene auszudenken und die Innenwelt der beiden Protagonisten auf diese Weise äußerst facettenreich auszuleuchten. Dabei hat der Lehrer die Aufgabe, möglichst viel von dem Reichtum der relevanten Interpretationen aufzugreifen und dafür zu sorgen, dass diese so dargestellt werden, dass sich alle Beteiligten mit ihnen auseinandersetzen können. Falls nötig, kann er durch Nachfragen wie »Reagiert Paula auf die Bewunderung von Paul ?« und »Was bedeutet der Blick von Paul für Paula ?« diesen Ausleuchtungsprozess der Szene gezielt vorantreiben. Zur Vorbereitung der nächsten Aufgabe werden die Schüler gebeten, sich vorzustellen, dass Paula vor dem nächsten Discobesuch zuhause allein vor einem großen Spiegel steht und darüber nachdenkt, was sie anziehen soll. Sie will sich unbedingt für Paul schön machen – sie haben sich beim letzten Discobesuch schon etwas kennengelernt und wollen sich nun wiedersehen. Die Schüler erhalten dazu den folgenden Auftrag:

 Was geht in Paula vor, während sie in den Spiegel schaut ? Malen Sie sich die Situation vor dem Spiegel möglichst plastisch aus und schreiben Sie aus Sicht von Paula einen inneren Monolog !

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Was die geschlechtliche Zuordnung der beiden Protagonisten in der Szene betrifft, so kann man die zugewiesenen »Rollen« selbstverständlich tauschen und statt Paula einfach Pauls Empfindungen beim Angeblickt-Werden beschreiben lassen. Oder man gibt den Schülern eine Aufgabe, die ihnen alle Optionen offenlässt; z. B.: »Beschreiben Sie, was in Paul – oder Paula, Ihre Wahl ! – vor sich geht, wenn sie durch die andere oder den anderen auf der Tanzfläche interessiert angeblickt werden.« In dieser Weise kann der Lehrer auch die folgenden Aufgaben, z. B. für die anschließende Spiegelszene, formulieren.



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Anschließend werden einige Schüler vom Lehrer gebeten, ihre Monologe vorzutragen, und zwar möglichst so, dass deutlich wird, wie sich Paula in dieser Situation fühlt. Sie kommt den meisten Schülern nur allzu bekannt vor. Dies führt dazu, dass sich die Schüler sehr gut in die Situation von Paula hineinversetzen können und ihnen ihre Lage lebhaft gegenwärtig ist. In der Regel wird schnell deutlich, dass Paula Paul gefallen will, weil seine Bewunderung ihr guttut.148 Um das zu erreichen, versucht Paula, sich durch Pauls Augen zu sehen. Manchmal rückt nicht Paula, sondern Paul in den Mittelpunkt des Interesses der Schüler. Es drängt sich ihnen dann die verstörende Frage auf, was Paul in dieser Situation eigentlich verkörpert. Denn erstens kennt Paula Paul überhaupt noch nicht richtig, sodass sie gar nicht genau wissen kann, was er schön findet. Und zweitens ist Paul in der Situation vor dem Spiegel ja gar nicht anwesend, was die Schüler nicht selten noch mehr verstört, weil ihnen so deutlich wird, dass es in der Spiegelsituation gar nicht um die Person Paul und seine Individualität geht, weil er in Wahrheit lediglich die Maßstäbe verkörpert, von denen Paula annimmt, dass sie von allen daran gemessen wird. Wenn die Schüler ihre Abhängigkeit von den gesellschaftlichen und somit allgemeinen Maßstäben sprichwörtlich spüren können, dann entsteht zumeist eine lebhafte Diskussion, die die Ambivalenz des menschlichen Bewunderungsstrebens hervortreten lässt und zu der zentralen aristotelischen Einsicht hinführt, dass der Mensch als geselliges Wesen unentrinnbar den Wertmaßstäben der Gesellschaft unterworfen ist, in der er lebt.149 Paula befindet sich in einer ambivalenten Situation. Das wird auch den Schülern deutlich. Einerseits ist sie dem gesellschaftlichen Blick ausgeliefert und von ihm abhängig, wenn sie Paul gefallen will. Dies wird von den Schülern mitunter auch als Angriff auf ihre Willensfreiheit empfunden. Andererseits bemerken die Schüler, dass die natürliche Abhängigkeit von ›Pauls‹ Blick für Paula auch ein Potential in sich birgt, denn dieser Blick spornt sie an, sich selbst und ihre eigenen Potentiale – in diesem Fall ihr Aussehen – bestmöglich zum Vorschein zu bringen und zu entfalten. Der Lehrer sollte nicht verblüfft oder gar verstört sein, wenn die Schüler dem Philosophen in diesem Punkt nicht folgen, sondern seine zentrale These heftig kritisieren. Denn damit sehen sie ihr eigenes Selbstverständnis nicht selten grund­ legend infrage gestellt. Wenn sie die ganze Macht und Härte von Pauls Blick erkannt haben, können sie das Leben in der Gesellschaft als eine ›unerträgliche Hölle‹ auffassen und diese Einstufung mit eigenen Erlebnissen verbinden. So kann es sein, dass die Schüler in der Auseinandersetzung mit der Szene zu dem Ergebnis kommen, dass sie durchaus die Möglichkeit haben, sich der ›Macht des Ansehens‹ zu entziehen.

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Es muss hier nicht unbedingt das Wort ›Bewunderung‹ fallen. Viele andere Wörter können von den Schülern zur Beschreibung von Paulas Innenleben ins Spiel gebracht werden. Zum Beispiel: dass sie auf ihn ›anziehend‹ oder ›attraktiv‹ wirken möchte. Und diese Unterwerfung unter die anerkannten Wertmaßstäbe ist das Ergebnis des Bewunderungsstrebens, das die meisten Menschen aufweisen: »Gutes Ansehen besteht darin, von allen als tugendhaft angesehen zu werden oder etwas Derartiges zu haben, wonach alle streben oder die meisten oder die Guten oder die Vernünftigen.« (Aristoteles: Rhetorik, I, 5, 1361a 25–27. S. 33.)

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Auf diese Kritik muss sich der Lehrer unbedingt einlassen – vor allem deshalb, weil er sich niemals über die Ansichten und Überzeugungen der Schüler hinwegsetzen darf. Außerdem haben die Schüler, die sich mit dieser Position konfrontiert sehen, eine gute Chance, selbst zu entdecken, dass Paula ihr Selbstbewusstsein nicht verliert, sondern gewinnt und entwickelt, wenn sie begreift, dass sie für die Bewunderung ihrer Mitmenschen empfänglich ist. Weil sie bei alledem entdecken, wie radikal ihr eigenes Selbstverständnis oder das ihrer Mitschüler damit infrage gestellt wird, gewinnen sie auf jeden Fall das erste Verständnis, das für eine ernsthafte und fruchtbare Auseinandersetzung – zum Beispiel mit den Argumenten der kynischen Ethik – nötig ist.150 Die ausgewählte Szene wird nun erneut abgewandelt und an der Tafel zur Darstellung gebracht. Bei der Betrachtung der neuen Szene kommt für die Schüler eine bisher noch nicht berücksichtigte Dimension der aristotelischen Ethik in den Blick. Paul und Paula befinden sich jetzt auf einem Fußballplatz. Als weitere Person tritt Fritz hinzu. Mit ihm und ein paar Freunden tritt Paul in einem Fußballspiel auf. Paula sitzt als Zuschauerin am Rand des Fußballfeldes und achtet mit besonderem Interesse auf Fritz und Paul, die beide zu ihrem Bekanntenkreis zählen. Die Schüler bekommen zu dieser Szene zwei Fragen gestellt, die sie in Einzelarbeit kurz schriftlich beantworten sollen:  ie verändert sich Pauls Verhalten beim Fußballspielen, wenn er feststellt,  1. W dass P ­ aula ihn dabei beobachtet ? 2. F  ritz entgeht nicht, dass Paula die Technik und Spielkunst Pauls bewundert. Was bewirkt diese Beobachtung ?



In der Regel kommt es im anschließenden Unterrichtsgespräch über die Szene wiederum zu einer lebhaften Diskussion, in der die Szene aus den drei unterschiedlichen Perspektiven, aus Pauls, Fritz’ und Paulas Sicht, ausgeleuchtet und weitergesponnen wird. Der Lehrer tut gut daran, wenn er hier Schritt für Schritt vorgeht. Das bedeutet, dass er jede einzelne Perspektive gemeinsam mit den Schülern bespricht. Zunächst sollte er mit der ersten Frage den Fokus auf Paul richten. Jeder Schüler kennt den bewundernden Blick von anderen und weiß, was passiert, wenn er ihn beim Ausführen einer geliebten Tätigkeit spürt. Deshalb erreicht der Lehrer mühelos sein Ziel, wenn er den Schülern ein Kreidestück oder einen Stift in die Hand legt und sie ermuntert, ihre Antworten für alle sichtbar an die Tafel zu schreiben. Diese können sehr unterschiedlich ausfallen. Fast alle werden feststellen, dass Paulas Blick den Ehrgeiz Pauls wecken und ihn dazu bewegen wird, sich noch mehr anzustrengen und mit seiner Spielkunst in ihren Augen zu glänzen.151 Vielleicht wer-



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Eine solche Auseinandersetzung mit den Argumenten der Kyniker könnte an einer späteren Stelle des Lehrstücks oder direkt im Anschluss an das Lehrstück zur Nikomachischen Ethik erfolgen. Im Rahmen dieses Lehrstücks spielt die kynische Ethik keine Rolle. »Außerdem scheint man die Ehre zu verfolgen, um sich zu überzeugen, dass man selbst gut ist. Jedenfalls will man von den Klugen (phronimos) geehrt werden und von denen, denen man be-



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den einige wenige Schüler aber auch die Schattenseiten von Paulas Blick hervorheben. Sie erinnern die anderen Schüler daran, dass Paul in seinem Stolz schnell zum Angeber wird. Er stellt seine eigenen Fähigkeiten zur Schau und vergisst dabei, dass das Fußballspiel ein Teamsport ist. Außerdem wissen sie aus eigener Erfahrung, dass der Blick Paulas dazu führen kann, dass Paul nicht besser, sondern ganz im Gegenteil schlechter Fußball spielt. Er setzt sich dadurch selbst unter Druck und kann aus diesem Grunde seine fußballerischen Fähigkeiten gerade nicht entfalten. Danach kann der Lehrer die Aufmerksamkeit der Schüler auf Fritz lenken. Auch hier gibt es mehrere Interpretationsmöglichkeiten, die die Schüler bei der näheren Betrachtung der Szene ins Gedankenspiel einbringen können. Oft wird von den Schülern angemerkt, dass Fritz auf Paul eifersüchtig sein wird, weil er ebenso wie Paul bewundert werden möchte. Deshalb strenge auch er sich an, seine fußballerischen Fähigkeiten bestmöglich zur Schau zu stellen. Damit könne dann der Fall eintreten, dass es zu einer Konkurrenzsituation zwischen den beiden komme. Diese Deutung der Situation wird auch oft weiter ausgedeutet, etwa mit dem Hinweis, dass die Konkurrenzsituation zu einem unfairen Spiel führen könnte, in dem der eine den anderen foult, weil er merkt, dass er hinsichtlich des fußballerischen Könnens nicht mithalten kann. Außerdem könne auf diese Weise bei Fritz ein Minderwertigkeitsgefühl auftreten. Wesentlich für die weitere Gedankenentwicklung ist der folgende Gesichtspunkt, der sich aus einer Vielzahl von Interpretationen herausschälen lässt: Sobald Fritz bemerkt, dass Paula den guten Fußballer Paul für seine sportlichen Fähigkeiten bewundert, erkennt er die Wertmaßstäbe ihres Ansehens und ist als Wesen, das nach Bewunderung strebt, normalerweise ebenso darum bemüht, diesen gerecht zu werden. Anschießend bekommen die Schüler vom Lehrer eine weiterführende schriftliche Aufgabe gestellt:

 Erklären Sie möglichst genau, welche Rolle Paula in der Szene spielt. Formulieren Sie dazu eine These mit einer prägnanten Begründung. Damit werden die Schüler dazu angeleitet, die Rolle Paulas genauer zu untersuchen. Es bietet sich an, die Thesen und die Begründungen im Tafelbild direkt unter dem Namen »Paula« anschreiben zu lassen. Zudem kann man ihre Rolle in dem Geschehen auch graphisch stärker hervorheben, indem man neben dem Fußballplatz eine Skala einzeichnet: An das obere Ende kommt das Wort ›Lob‹ und an das untere Ende das Wort ›Tadel‹. Diese graphische Darstellung veranschaulicht die Spannweite der anerkannten Wertmaßstäbe. Auch hinsichtlich der Rolle von Paula sind selbstverständlich unterschiedliche Interpretationen möglich. In der Regel kristallisiert sich schrittweise heraus, dass man Paula ohne größere Schwierigkeiten durch jedes andere Mädchen ersetzen

kannt ist, und das aufgrund der eigenen Gutheit (aretē).« (Aristoteles: NE, I, 3, 1095b 26–28. S. 48.)

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könnte.152 Dies kann man zur Freude der Schüler auch noch weiter durchspielen, indem man für Paula unterschiedliche Mädchennamen aus der Klasse einsetzt und dann die Schüler befragt, was passieren würde. Auf diese indirekte Weise stellt sich den Schülern die grundsätzliche Frage, wofür »Paula« in der Szene eigentlich steht. Wenn sie dies schrittweise herausarbeiten, stellen sie gemeinsam fest, dass Paula (wie Paul in der Spiegelszene) die allgemein anerkannten Wertmaßstäbe verkörpert, die jedes andere Mädchen ebenfalls repräsentiere. Diese Einsicht ist somit nicht das Resultat von abstrakten Begriffsableitungen, sondern eine Klarheit, die sie bei der gemeinsamen Interpretation und Ausleuchtung einer konkreten Szene gewinnen können. Zur Vertiefung des gewonnenen Verständnisses kann der Lehrer den Schülern einen weiteren Auftrag erteilen:

 Bitte versuchen Sie jetzt herauszufinden, worauf die folgenden Fragen zielen: Haben Paul, Fritz und Paula die Wertmaßstäbe ›im Blick‹, nach denen sie handeln ? Besitzen sie ein Wissen von den geltenden Maßstäben ? Sind sie diesen Maßstäben unterworfen ? Nehmen Sie sich dafür ein paar Minuten Zeit und versuchen Sie, das Ergebnis ihrer Überlegungen in einem kurzen Aufsatz deutlich zu machen. Das fällt Ihnen vielleicht leichter, wenn Sie sich zu einem kleinen Gedankenaustausch mit einem Mitschüler zusammensetzen und das Konzept ihres Aufsatzes gemeinsam vorskizzieren.153 Diese sehr anspruchsvolle Aufgabe können die Schüler nur dann bewältigen, wenn sie sehr genau beobachten und entdecken, dass Paul, Paula und Fritz kein artikulierbares Wissen von den Wertmaßstäben haben, die sie besitzen und nach denen sie urteilen. Das ändert aber nichts daran, dass sie den bestehenden Maßstäben der Gemeinschaft unterworfen sind. Zum Abschluss der ersten Unterrichtseinheit kann der Lehrer die folgende schriftliche Aufgabe stellen:

 Können wir eigentlich in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ganz natürlich auftreten ? Beantworten Sie die Frage bitte schriftlich in ein paar Sätzen. Mithilfe dieser irritierenden und herausfordernden Aufgabe soll das Ergebnis der ersten Unterrichtseinheit gesichert werden. Die Aufgabe verlangt von den Schülern subtile Differenzierungen und eine sehr sorgfältige Wortwahl. Denn sie müssen

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Selbstverständlich ist die Stärke des Einflusses abhängig von der Sympathie, die man der jeweiligen Person entgegenbringt. Vorstellbar ist an dieser Stelle auch ein Lehrer-Schüler-Gespräch, in dem der Lehrer die Fragen einfach stellt. Die Methode des Fragens zielt hier allerdings nicht darauf, dass die Schüler etwas gedanklich nachvollziehen, das sie bereits durchdacht haben, sondern durch die Fragen soll sich den Schülern ein neuer Denkhorizont eröffnen, in dem sie die Entdeckung selbst machen. Hier ist ein schriftlicher Auftrag oft die bessere Variante; schon deshalb, weil die Schüler so einfach mehr Zeit haben, darüber nachzudenken.



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berücksichtigen, dass es für uns Menschen unmöglich ist, in der Gemeinschaft mit anderen Menschen ganz natürlich aufzutreten, weil wir als Menschen dem Prinzip des Bewunderungs- und Anerkennungsstrebens unterliegen. Es liegt also in unserer Natur als Mensch, nach Anerkennung zu streben. Gleichwohl können sie die Frage sowohl mit einem Ja als auch mit einem Nein beantworten, abhängig davon, wie sie das Wort »natürlich« in diesem Zusammenhang auffassen und verwenden. Denn sie können ja entweder implizit oder explizit einen Naturzustand voraussetzen, in dem sich der Mensch natürlicher als in der Szene auf dem Fußballplatz verhält, oder Aristoteles folgen, für den außer Zweifel steht, dass der Mensch von Natur aus und seinem Wesen gemäß nach Bewunderung und Anerkennung strebt. Haben die Schüler diese Einsicht gewonnen, haben sie – auf dem Wege des Selbstdenkens – einen ersten wichtigen Schritt zum Verständnis der aristotelischen Anthropologie getan. Das muss sich erweisen, wenn sie nun aufgefordert werden, mit verteilten Rollen eine große Debatte vorzuführen, in der darum gestritten wird, ob sich der Mensch auch außerhalb der Gemeinschaft (gut) entwickeln kann. Hier ist ein Streit nahezu unausweichlich, in dem nochmals die Ambivalenz des aristotelischen Menschenbildes zum Tragen kommt. Mit dieser offenen Frage leitet der Lehrer direkt über zur zweiten Unterrichtseinheit.

2.1.1 Didaktischer Kommentar zur ersten Unterrichtseinheit: Die Funktion der szenischen Vergegenwärtigung, das Prinzip des Exemplarischen im Ethikunterricht und der innere Monolog als Darstellungsform Analog zum Physikunterricht, in dem der Lehrer die Naturphänomene in den Blick rücken kann, wenn er seinen Schülern etwas deutlich machen will, muss auch der Ethiklehrer darauf aufmerksam gemacht werden, wie wichtig es ist, den Blick der Schüler auf die Phänomene zu richten; auf diejenigen nämlich, bei deren Betrachtung diese nach seiner Annahme das Wissen erworben haben, auf das sie bei ihrer Deutung und Bewertung des Schauspiels menschlichen Handelns zurückgreifen. Doch anders als im naturwissenschaftlichen Unterricht wird ihr Blick im Ethik- und Philosophieunterricht nur selten auf die Naturphänomene gerichtet. Dies ist jedoch unbedingt nötig, wenn es stimmt, dass die Schüler nicht dazu angehalten werden sollen, unbestreitbare Grundsätze zu übernehmen, sondern vielmehr dazu, selbst einzusehen, aus welchen Gründen sie eine Handlungsweise hochschätzen oder als verwerflich einstufen. Im Ethikunterricht werden zwar nicht wie im Physik- und Biologieunterricht naturwissenschaftliche Experimente durchgeführt, aber der Lehrer hat doch die Möglichkeit, wie der Theaterregisseur durch szenische Vergegenwärtigungen das alltägliche Tun und Treiben der Menschen auf die Bühne des Unterrichts zu holen. Auch dieses Vorgehen hat einen experimentellen Charakter, und zwar insofern, als die Schüler sich durch die szenischen Darstellungen etwas vergegenwärtigen sollen, das sie zwar alltäglich – wie die Naturphänomene – erleben können, das sie aber zugleich doch nur sehr selten genauer in den Blick nehmen.

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Im naturwissenschaftlichen Experiment wird etwas dargestellt und durch die Darstellung aufgedeckt, das bei der alltäglichen Wahrnehmung der Naturphänomene leicht übersehen wird. Eine ähnliche Funktion hat die szenische Vergegenwärtigung im Ethikunterricht, denn hier wird dem Schüler ja ebenfalls etwas zur Darstellung gebracht, womit er bereits bekannt ist, nämlich das alltägliche Handeln und die Lebensweisen der Menschen. Das szenische Vorgehen im Ethikunterricht hat also eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Aufbau eines Experiments in den naturwissenschaftlichen Fächern – vor allem hinsichtlich des darstellenden Charakters der jeweiligen unterrichtlichen Inszenierung. Im Rahmen einer mimetischen Didaktik kann man deshalb sogar die starke These aufstellen, dass die szenische Vergegenwärtigung des Schauspiels menschlichen Handelns eine notwendige Bedingung dafür darstellt, dass für die Schüler im Ethikunterricht überhaupt eine Verständnisentwicklung möglich ist. Durch die Vorgabe der Tafelskizzen »Paul und Paula in der Disco«, »Paula vor dem Spiegel« und »Paul, Fritz und Paula auf dem Fußballplatz« werden die Schüler nicht nur dazu herausgefordert, ihr eigenes Urteilsvermögen einzusetzen, sondern auch dazu, sich ihre eigenen Urteilskriterien klarzumachen, wenn sie das, was sie sehen und herausfinden, zur Sprache bringen und sich dabei verständlich ausdrücken müssen. Das gelingt ihnen, weil sie aufgrund ihrer Erfahrungen die nötige Phantasie haben, sich in die jeweilige Situation hineinzuversetzen. Oft auf eine so verblüffende Weise, dass es ihnen so vorkommt, als stünden sie gerade selbst vor dem Spiegel und sie selbst seien dabei, sich für einen Bewunderer oder eine Bewunderin hübsch zurechtzumachen. Weil wir alle schon einmal angestrengt überlegt haben, wie wir einen anderen Menschen, dessen Bewunderung uns nicht völlig gleichgültig ist, gefallen könnten, ist uns diese Situation wohl bekannt und wir sind mit ihr bestens vertraut. Das bedeutet, dass die Situation einen exemplarischen Charakter besitzt. Darüber hinaus hat diese Situation Merkmale, die von den Schülern durch die szenische Vergegenwärtigung aufdeckbar und somit bestimmbar sind. Aufdecken können die Schüler diese typischen Merkmale der Situation deshalb, weil sie sich unzählige Male in ihr befunden haben. Das entscheidende Merkmal der Szene von »Paula vor dem Spiegel« ist, dass sie sich dem Blick von Paul nicht wirklich entziehen kann. Schließlich ist sie seinem Blick ja selbst dann unterworfen, wenn sie sich bewusst davon distanzieren will. Denn auch in diesem Moment reagiert sie in irgendeiner Weise auf seinen Blick. Wenn die Schüler das von sich aus erkennen, hat diese Szene auch insofern einen exemplarischen Charakter, als sie beispielhaft erkennen lässt, dass der Mensch seine Abhängigkeit von den Blicken der anderen wohl oder übel anerkennen muss. Damit entspricht die szenische Vergegenwärtigung von »Paula vor dem Spiegel« ebenfalls den beiden Prinzipien, die Wagenschein an das exemplarische Verfahren stellt. Zum einen sind wir als Lehrer gezwungen, den Blick auf die Genese der Sache zu richten; bei »Paula vor dem Spiegel« handelt es sich um eine einzelne Szene, in der sich etwas Elementares im Schauspiel menschlichen Handelns zeigt. Um es mit den Worten Wagenscheins zu sagen: »Das Einzelne, in das man sich hier versenkt,



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ist nicht Stufe, es ist Spiegel des Ganzen.«154 Zum anderen müssen wir als Lehrer genauso die Wissensentwicklung des Schülers beachten. Durch die Methode des inneren Monologs werden die Schüler nicht bloß irgendwie aktiviert, sondern ihr Blick richtet sich auf eine bestimmte Situation, zu der sie ihre eigenen Erlebnisse, Erfahrungen und Gefühle zur Darstellung bringen müssen. Das heißt: Die Ballungen, Plattformen, müssen auch auf der Subjektseite Ballungen der Aktivität des Kindes sein. Sie müssen eindringlich und inständig sein, in die Sache hinein und in den Seelengrund des Lernenden hinein. Die Spiegelung muß nicht nur das Ganze des Faches, – im günstigsten Fall das Ganze der geistigen Welt –, sie muß auch das Ganze des Lernenden (nicht nur z. B. seine Intelligenz) erhellen.155

In der Szene »Paula vor dem Spiegel« spiegelt sich demnach sowohl von sachlicher als von der Schülerseite her der ganzheitliche Anspruch des exemplarischen Verfahrens. Einen exemplarischen Charakter besitzen die ausgewählten Szenen auch deshalb, weil sie so konzipiert sind, dass sie möglichst nahe an die Lebenswelt der Schüler heranreichen bzw. möglichst viele ihrer Erlebnisse ansprechen und abrufen. Nur wenn diese Bedingung erfüllt ist, kann jeder Schüler seine eigenen Erfahrungen zur Bestimmung und Bewertung der Szenen mit ins Spiel zu bringen. Es ist zu betonen, dass die Schüler nicht schon durch die szenische Vergegenwärtigung die angestrebten Erkenntnisse gewinnen. Vielmehr gibt der Lehrer ihnen durch die gezielte Aufmerksamkeitslenkung auf die Szenen die Möglichkeit, etwas zu entdecken. Was sie dabei entdecken können, muss nicht zwangsläufig etwas ganz Neues für sie sein, denn in vielerlei Hinsicht haben die Schüler bereits Bekanntschaft mit solchen Situationen gemacht. Nur werden sie im Unterricht erneut auf das aufmerksam gemacht, womit sie eigentlich schon bekannt sind.156 Dieser Schritt ist alles andere als nebensächlich, sondern führt vielmehr erst wirklich zur Sache hin. Und das, was die Schüler in dieser Hinsicht wissen, kann z. B.

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Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 32. Ebd., S. 34. Vgl. Aristoteles: Anal. post. I, 1, 71b 7 ff. S. 18. Die Vergegenwärtigung von Szenen – des Bekannten – stellt im Rahmen dieses Lehrstückansatzes die unabdingbare Voraussetzung dafür dar, dass etwas erkannt werden kann. Mithilfe der beiden Szenen »Paula vor dem Spiegel« und »Paul, Fritz und Paula auf dem Fußballplatz« soll der Rückgriff auf das für uns Bekannte ermöglicht werden. Dies bildet den Ausgangspunkt für den Reflexionsprozess, bei dem das Bekannte auch unvertraut werden kann, z. B. wenn die Schüler erkennen, dass Paula vor dem Spiegel versucht, sich durch Pauls Augen zu sehen, oder auch dann, wenn ihnen klar wird, welche Rolle Paula in der Szene auf dem Fußballplatz tatsächlich spielt. Die bloße Bekanntschaft mit solchen Situationen reicht also nicht aus, um eine Erkenntnis zu erwerben. Die Schüler erkennen vielmehr erst dann etwas, »sobald es zum Gegenstand einer Reflexion wird und damit aus seiner verlässlichen Vertrautheit gerissen wird, die als solche nicht zu ergreifen ist.« (Käte MeyerDrawe: Diskurse des Lernens, S. 206.) Käte Meyer-Drawe hat an dieser Stelle das Moment des Unvertraut-Werdens mit dem bekannten Gegenstand, das häufig beim Umschlag vom bloßen ›Auskennen‹ ins ›Erkennen‹ – sprich in der Reflexion auf Bekanntes – auftritt, hellsichtig am Beispiel des aristotelischen Lernansatzes herausgearbeitet.

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durch die Präsentation des inneren Monologs zur Darstellung gebracht werden.157 Nach Wagenschein darf dieser Schritt im Unterricht nicht übergangen werden. Weil dies aber oft geschieht, kritisiert er zu Recht sehr heftig den herkömmlichen Unterricht. Das Zitat von Max Picard, das Wagenschein in diesem Zusammenhang verwendet, mag ein wenig pathetisch klingen. Dennoch ist m. E. der grundsätzlichen Stoßrichtung seiner Kritik zuzustimmen: Ich zitiere Max Picard: ›Das charakterisiert den Menschen von heute: Es findet keine Begegnung mehr statt zwischen ihm und dem Objekt, es ist kein Geschehnis mehr, ein Objekt vor sich zu haben, man hat es schon, ehe man danach gelangt hat, und es verläßt einen, ehe man es von sich entläßt. – Man kommt zu den Objekten nur auf Umwegen, indirekt, provisorisch, approximativ, unverbindlich, das heißt, man kommt gar nicht zu den Objekten, sondern … sie werden einem geliefert. Es ist alles, wie schon vor-geschehen. … Alle Objekte scheinen zu einer ungeheuren Erledigungsmaschinerie zu gehören, der Mensch ist Teil von ihr: die Stelle, an der das Erledigte abgeliefert wird. – Der Sinn einer Begegnung aber ist, dem Objekt, das vor einem ist, Zeit, und das heißt Liebe, zu geben.‹ Dies alles scheint mir Wort für Wort auf die Schule zuzutreffen.158

Durch das methodische Arrangement des inneren Monologs wird den Schülern nicht nur die nötige Zeit für diese Form von Begegnung zur Verfügung gestellt, sondern noch vielmehr geht es hier darum, dass sie darüber ihre Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen zur Darstellung bringen können. Doch welche didaktische Funktion hat die sprachliche Darstellungsform des inneren Monologs ? Erstens führt die Aufgabenstellung dazu, dass die Schüler ihre Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Situationstyp richten – und dass sie darüber auf die subtilen Hintergründe und Motive einer Handlung aufmerksam werden, die mit Blick auf diese Situation relevant sind. Zweitens tun die Schüler das durch die Methode des inneren Monologs nicht auf irgendeine Weise, denn sie müssen dabei nach den passenden sprachlichen Wendungen suchen und sich so um eine angemessene Ausdrucksweise bemühen. Und sie kommen mit den Worten, die sie der betrachtenden Person Paula in den Mund legen, auch selbst zu Wort. Wenn die Schüler den Auftrag bekommen, den inneren Monolog kunstgerecht vorzutragen, wird es ihnen drittens leicht gemacht, diejenigen Aspekte besonders zu betonen, die in ihrer Sicht für das Verständnis der Gefühle Paulas wichtig sind. Dies ist der Ausgangspunkt für einen spannenden Dialog, bei dem sich die Schüler gegenseitig auf das aufmerksam machen können, was ihnen an dem jeweiligen Vortrag aufgefallen ist. Dabei können sie auch bemerken, dass ihre Gedanken und Phantasien mit Blick auf die

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Vgl. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer, § 121, S. 222 ff. Vgl. hierzu außerdem mein Buch: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht, S. 71 ff. und S. 148 ff. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 36. Vgl. auch Max Picard: Jenes Bild, das sich auf das Urbild bezieht. In: Wegweiser in der Zeitwende. Hrsg. v. E. Kern. München und Basel 1956, S. 79. Max Picard: Die Welt des Schweigens. Erlenbach-Zürich 1950 [2. Auflage], S. 74.



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Situation gar nicht so unterschiedlich sind. Denn mit großer Wahrscheinlichkeit zeichnet sich in den Monologen ein Muster ab, z. B. das Muster, dass in einigen Monologen Paul als eine urteilende Instanz auftritt, über die sich Paula vor dem Spiegel selbst bewertet. Wenn die Aufmerksamkeit der Schüler durch die Vergegenwärtigung der unterschiedlichen Szenen tatsächlich so in den Bann gezogen wird, dass dadurch ein Sog entsteht und sie in diesem Sog zu den Klarheiten selbstständig gelangen, darf man dies als ein weiteres Indiz dafür ansehen, dass die Vorgaben des exemplarischen Verfahrens nach Wagenschein erfüllt worden sind: »Wir verfahren also wie in der ursprünglichen Forschung. Das Seltsame fordert uns heraus, und wir fordern ihm das Einfache ab.«159 Die Erkenntnis, die die Schüler auf diesem Weg gewinnen, ist grundlegend für das aristotelische Verständnis der Ethik und doch ganz einfach.

2.2 Zweite Unterrichtseinheit: Die Bestimmung des Menschen als zōon politikon Der Einstieg in die zweite Unterrichtseinheit erfolgt über die Inszenierung des folgenden Gedankenexperimentes:

 Stellen Sie sich eine glückliche Dorfgemeinschaft auf einer ›Rousseau-Insel‹ vor.160 Hier leben ein paar dutzend Naturmenschen mit besten Lebensmöglichkeiten. Das heißt, sie besitzen genügend Nahrung, leben unter angenehmen klimatischen Bedingungen und haben ebenso beste Möglichkeiten zur Fortpflanzung. Bis hierhin ist also auf der paradiesischen Insel alles bestens eingerichtet. Doch plötzlich tritt eine einzige Veränderung ein: Als alle Dorfbewohner in angenehmer Stimmung um ein Lagerfeuer sitzen, zeigt sich, dass Franzi Franz für sein überaus gekonntes Flötenspiel bewundert. Es zeigt sich auch, dass Franz die Bewunderung in ihren Blicken spürt. Viele aus der Lagerfeuerrunde bekommen mit, was vor sich geht. Die Schüler bekommen zum Gedankenexperiment folgende schriftliche Aufgabe erteilt:

 Finden Sie sich in Dreiergruppen zusammen und malen Sie sich aus, wie die Menschen 100 Jahre später auf der Insel leben werden. Notieren Sie sich ihre Gedan

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Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 35. Jean-Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und herausgegeben von Philipp Rippel. Stuttgart 1989, S. 81. »In dem Maße […] fährt das Menschengeschlechte fort, zahmer zu werden […]. Man nahm die Gewohnheit an, sich vor den Hütten oder um einen großen Baum zu versammeln; Gesang, Tanz, echte Kinder der Liebe und der Muße, wurden das Vergnügen […].« (Ebd.)

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ken und entwickeln Sie daraus eine kleine Geschichte, die Sie uns anschließend auf einem Plakat vorstellen sollen. Sie können ihre Geschichte der Dorfgemeinschaft auch in Form einer Karikatur, eines Schaubilds oder eines Comics dar­ stellen. Nachdem die Gruppen ihre jeweilige Geschichte zur Dorfgemeinschaft entwickelt und auf einem Plakat dargestellt haben, sollen sie diese im Plenum vorstellen. Der Lehrer hält die wichtigsten Punkte der Geschichten an der Tafel fest. Es geht hier darum, möglichst viele Beschreibungen und damit ein umfangreiches Bild der Vorstellungen der Schüler zu gewinnen. Erfahrungsgemäß zeigt sich ungeachtet der kreativen Gestaltung der einzelnen Versionen eine Gemeinsamkeit in den Beschreibungen: Franzis Bewunderung für Franz’ ausgezeichnetes Flötenspiel stellt ein auslösendes Moment für eine grundlegende Entwicklung von bestimmten Wertmaßstäben innerhalb der Gemeinschaft dar. Indem Franzi den Flöte spielenden Franz für seine musikalischen Fähigkeiten bewundert, setzt sie einen Wert in die Welt der Dorfgemeinschaft, der nun für alle Dorfbewohner zum Maßstab wird und an dem ihre musikalischen Fähigkeiten gemessen werden. Dieser Wertmaßstab kann sich dann immer weiter ausdifferenzieren, z. B. könnte es sein, dass ein paar Leute aus der Lagerfeuerrunde auf die Idee kommen, Instrumente zu bauen, die besser klingen als die Flöte von Franz. Auf diese Weise entsteht im Laufe der Zeit ein neues Gewerbe usw. Doch mit den neuen Wertmaßstäben steigt auch für den einzelnen Dorfbewohner der Druck, ihnen gerecht zu werden. Beispielsweise kann das gute Flötenspiel von Franz für die anderen Dorfbewohner so beeindruckend sein, dass sie sich ebenfalls dazu aufgefordert sehen, das Instrument bestmöglich spielen zu können. Der Wert des Flötenspielens setzt sich so allmählich in der Gemeinschaft der Dorfbewohner durch, und zwar mit ganz unterschiedlichen Konsequenzen für den einzelnen Dorfbewohner. Dies kann bei der Beschreibung der unterschiedlichen Szenarien bereits deutlich werden, weil die Schüler gezwungen sind, eine geschichtsphilosophische Perspektive einzunehmen. Ähnlich wie bei der Darstellung der anthropologischen Voraussetzungen des aristotelischen Ethikansatzes werden auch hier ganz unterschiedliche Perspektiven auf die weitere Geschichte des Dorfes zum Vorschein kommen. Das Spektrum reicht von utopischen Fortschrittsgeschichten, bei der zum Beispiel 100 Jahre später alle friedlich zusammenleben und jeder Einzelne gemäß seiner Fähigkeiten einen Platz in der Dorfgemeinschaft findet, bis hin zu Verfallsgeschichten und Dystopien, bei der durch auftretende negative Gefühle wie Neid und Missgunst Besitzansprüche entstehen, die vorher nicht existierten und die im Fortgang der Geschichte zu Machtmissbrauch und Kriegen führen. Der Lehrer kann, falls die Schüler nicht von allein ihr Augenmerk darauf richten, bei den Beschreibungen der Dorfgeschichten die möglichen Folgen für den einzelnen Dorfbewohner ins Zentrum des Gesprächs rücken. Da die Schüler sich selbst in der Regel als freie und autonome Individuen verstehen, machen sie sich in diesem Zusammenhang meist für die Freiheitsspielräume des einzelnen Dorfbewohners stark. Diesen Widerstand des Individuums kann sich der Lehrer hier zunutze ma-



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chen, denn der einzelne Dorfbewohner steht ja durch den Druck der Wertmaßstäbe unter Zugzwang, seine Fähigkeiten und Potentiale zu entwickeln, wenn er nicht von der Bewunderung ausgeschlossen bleiben will, und zwar möglichst so, dass er sich damit in die Gemeinschaft, die diese Wertmaßstäbe vorgibt, einbringen kann. Schafft er dies – aus welchem Grund auch immer – nicht, dann kann das dazu führen, dass er zum Außenseiter wird. Die möglichen Umgangsweisen des einzelnen Dorfbewohners mit den bestehenden Wertmaßstäben der Gemeinschaft sollten an dieser Stelle in einem Zwischenfazit festgehalten werden. Dies kann der Lehrer durch die folgende schriftliche Aufgabe erreichen, bei der es sich anbietet, direkt auf die in den Geschichten genannten Wertmaßstäbe Bezug zu nehmen:

 Nehmen Sie an, dass sich nach 100 Jahren bestimmte Wertmaßstäbe (z. B. im Hinblick auf die musischen Fähigkeiten) durchgesetzt haben ! Was bedeutet das für den Einzelnen in der Gemeinschaft ? Entwickeln Sie dazu eine These. Die Thesen werden von den Schülern an die Tafel geschrieben, sodass sie jeder vor Augen hat. Zudem gilt es darauf zu achten, dass sie die Thesen nicht nur vortragen, sondern auch vor den Mitschülern begründen. So ergibt sich nämlich erfahrungsgemäß eine Diskussion im Plenum, in der zwei wesentliche Aspekte herausgearbeitet werden sollen: Erstens muss herausgestellt werden, dass der Einzelne dem Prinzip der geltenden Maßstäbe in der Gemeinschaft unterworfen ist. Und zweitens soll sich in der Diskussion zeigen, dass genau dieses Prinzip der Anlass dafür ist, dass der einzelne Mensch seine Fähigkeiten nach seinem Potential entwickelt. Davon ausgehend kann der Lehrer den Blick der Schüler noch einmal auf den inneren Zusammenhang zwischen der Ausbildung der Fähigkeiten beim einzelnen Menschen und den in der Gemeinschaft geltenden Wertmaßstäben lenken. Als Methode eignet sich hierfür ein Kaffeehausdialog, bei dem die Schüler gezwungen sind, sich ein Gespräch mit einem Freund auszudenken. Den Dialog zwischen den Freunden müssen sie so inszenieren, dass darin die wesentlichen Aspekte des aristotelischen Gedankengangs deutlich hervortreten. Um das kritische Potential der Schüler aufzugreifen, kann der Lehrer den Rahmen für den Kaffeehausdialog selbst festlegen. Er kann aber auch auf die Revoluzzer und Rebellen-Figuren zurückgreifen, die die Schüler in ihren Geschichten wahrscheinlich schon selbst entworfen haben. Eine festgelegte Rahmenhandlung könnte zum Beispiel so aussehen:

 Sie begegnen heute Nachmittag einem Freund in einem Café und der fragt Sie, was Sie am Morgen im Ethikunterricht behandelt haben. Ihr Freund ist ein Rebell, der mit dem Leben heutzutage unzufrieden ist. Vor allem deshalb, weil er das Gefühl hat, überall in der Gesellschaft Ansprüchen gerecht werden zu müssen, die nicht seine sind. Er träumt von einer Gesellschaft, die den Einzelnen zu nichts zwingt und in der jeder Mensch leben kann, wie es ihm beliebt. Was ihn außerdem grundsätzlich an der Gesellschaft stört, ist, dass sie ihn permanent zwingt, sich anzustrengen und etwas ›aus sich machen‹ zu

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müssen. Das sind für ihn alles Vorgaben, die eigentlich kein Mensch wirklich wollen kann. Und in einer Sache ist sich ihr Freund auch ganz sicher: ›Früher war das alles ganz anders. Da hat es diese Zwänge der Gesellschaft noch nicht gegeben.‹ Die Aufgabe dazu lautet:

 Schreiben und inszenieren Sie einen Dialog, in dem Sie ihrem Freund Ihre bisher gewonnenen Erkenntnisse zu Aristoteles darlegen. Achten Sie beim Schreiben des Dialogs inhaltlich besonders auf das Verhältnis des einzelnen Menschen zu seiner Gemeinschaft ! Weil die Schüler einen Dialog schreiben sollen, bietet sich hier als Arbeitsform eine Partnerarbeit an. Außerdem kann man den Schülern noch einige Hinweise zur Inszenierung des Dialogs mit auf den Weg geben: erstens den, sich zu überlegen, in welcher historischen Zeit der Kaffeehausdialog spielen soll. Zweitens sollen sie sich für den Freund eine für ihn typische Geste ausdenken, die sie dann auch beim Vortrag des Dialogs zum Ausdruck bringen. Und drittens sollen sie sich überlegen, ob die beiden Dialogpartner aus ihrer Sicht in einem symmetrischen oder in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander stehen. Diesen Gesichtspunkt sollen sie ebenfalls bei der anschließenden Präsentation des Dialogs auf irgendeine anschauliche Art einfließen lassen. Es werden möglichst viele Dialoge von den Schülern vor der Klasse vorgetragen. Dadurch ist es möglich, dass die Schüler ihr Verständnis der aristotelischen Position zur Sprache bringen. Man kann hier wie im Theater den Zuhörern der Dialoge den Auftrag geben, kundzutun, was sie gesehen und gehört haben. Dabei kann der Lehrer bei der Besprechung der Dialoge auf die einzelnen Inszenierungshinweise zurückgreifen. Denn die Schüler müssen sich ja bei den Inszenierungen etwas gedacht haben, das sich, wenn der Dialog gut in Szene gesetzt ist, auch darin zeigt. Die Zuschauer sind nun aufgefordert, das Gehörte und das Gesehene zu beschreiben und zu interpretieren. Dieser Zugang kann zu sehr detaillierten Betrachtungen und Analysen der Inszenierungen führen, bei der dem assoziativen Spiel mit Perspektiven und Interpretationsansätzen keine Grenzen zu setzen sind. Die Inszenierungshinweise bilden den interpretatorischen Rahmen, von dem aus die ›Sache‹, nämlich das Verhältnis des Einzelnen zur Gemeinschaft, näher betrachtet werden kann. So kann der Lehrer die Schüler zum Beispiel beauftragen, nach vorne zu gehen, wenn sie mit einer Inszenierung nicht einverstanden sind, und einen Korrekturvorschlag zu unterbreiten, der dazu führt, dass die Inszenierung ein ihrer Ansicht nach stimmigeres Bild ergibt. Dieser Korrekturvorschlag kann dann wiederum zur Disposition gestellt werden usw. Es entsteht dann ein Dialog zwischen den Schülern über die jeweilige Inszenierung, der im besten Fall solange geführt wird, bis sich für alle ein in sich schlüssiges Gesamtbild ergibt, das allen Betrachtern einleuchtet. Die gemeinsame Arbeit am szenischen Detail ist niemals losgelöst von der Inhaltserschließung zu betrachten, sondern dient im Wesentlichen der Erschließung



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der Inhalte. Denn darüber können sowohl die Klarheiten gesichert und festgehalten als auch noch bestehende Unklarheiten im Unterrichtsgespräch erkannt und ausgeräumt werden. Zielführend war der bisherige Unterricht dann, wenn sich anhand der vorgetragenen Dialoge zeigt, dass die Schüler die folgende Klarheit gewonnen haben: »Der Mensch ist ein Lebewesen, das in einer Gemeinschaft mit anderen Menschen lebt (zōon politikon). Die geltenden Maßstäbe, welche die menschliche Gemeinschaft auszeichnen, spürt der einzelne Mensch im ›Blick‹ seiner Mitbürger. So sieht sich jeder dazu herausgefordert, den geltenden Maßstäben möglichst gerecht zu werden. Die in der Gemeinschaft herrschenden Maßstäbe nötigen die darin lebenden Mitglieder, das Beste aus sich zu machen.« Die Schüler erhalten daran anschließend ein Arbeitsblatt161. Dadurch werden sie aufgefordert, die aristotelische Perspektive auf das menschliche Tun und Treiben einzunehmen und aus seiner Sicht zwei Fragen zu beantworten. Das Arbeitsblatt verdeutlicht den Blick des Aristoteles auf das System der gegenseitigen Hoch- und Geringschätzung, wobei einerseits der Fokus auf der äußeren Erscheinung liegt, andererseits auf den Bedingungen, die die Voraussetzung dafür bilden, dass der Mensch seine verschiedenen, z. B. dianoetischen (den Verstand betreffenden), musischen und handwerklichen, Fähigkeiten bestmöglich entwickelt. All das soll nochmals genauer in den Blick genommen werden, ebenso wie die Probleme, die dafür sorgen, dass er das nicht tut. Dabei kommt Aristoteles indirekt zu Wort, indem er von einem Logenplatz aus das Schauspiel menschlichen Handelns kommentiert, das durch zwei bildliche Darstellungen in Szene gesetzt ist. Am Arbeitsblatt werden die bis hierhin gewonnenen Klarheiten der Schüler angewendet und überprüft; Rückbezüge können zu allen vorhergehenden Szenen gezogen werden, also zu Paul und Paula in der Disco, zu Paula vor dem Spiegel, dem Bewunderungsspiel auf dem Fußballplatz sowie der Dorfgemeinschaft auf der Rousseau-Insel. Demnach darf man als Lehrer davon ausgehen, dass die Schüler die Textinhalte sowie die Illustrationen auf dem Arbeitsblatt auch wirklich verstehen können, weil sie die wesentlichen Gesichtspunkte des aristotelischen Gedankengangs bereits im selbstständigen Denken anhand der Szenen erschlossen haben. Die beiden Fragen auf dem Arbeitsblatt sollen dazu führen, dass die Schüler ihr Verständnis auf eine neue Situation übertragen und es damit vertiefen. Etwa mit einer Antwort auf die Frage »Wer kann sagen, was für ein Erscheinungsbild das Richtige ist ?«: Die richtige äußere Erscheinung zeichnet sich dadurch aus, dass sie innerhalb der Gemeinschaft als die Richtige angesehen wird. Jeder einzelne Mensch in der Gemeinschaft besitzt dafür einen Blick, weil er weiß, was hoch- und geringgeschätzt wird. Es ist aber auch gut möglich, dass der aristotelische Standpunkt auf der Grundlage der von den Schülern bereits geäußerten Kritik an der Macht des

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Siehe Anhang 4.2, Arbeitsblatt 1: Aristotelischer Blick auf das System der gegenseitigen Hochund Geringschätzung. Äußere Erscheinung. Dianoetische, musische und handwerkliche Tüchtigkeit. Die ersten Entwürfe der Arbeitsblätter und die Textbausteine in den Arbeitsblättern stammen von Johannes Hachmöller. Lisa Wander hat mich mit ihren kreativen Ideen bei der gestalterischen Umsetzung der Arbeitsblätter sehr unterstützt. Dafür möchte ich mich be­ danken.

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Ansehens erneut hinterfragt, erweitert und problematisiert wird. So könnten mögliche Thesen zur zweiten Frage, was bei Laches dazu geführt hat, dass er seine geistigen Fähigkeiten auf dem Gebiet der Physik nicht entwickelt hat, etwa lauten: Laches widersetzt sich mit Absicht dem allgemeinen Geltungsstreben; er revoltiert gegen das Prinzip des menschlichen Anerkennungsstrebens. Ein weiterer Gesichtspunkt, der oft von den Schülern ins Gedankenspiel eingebracht wird: Laches lebt im Vergleich zu Leukippos in der falschen Gesellschaft. Er ist einfach umgeben von den falschen Personen, die seine geistige Begabung und sein Interesse für die Physik nicht fördern, sondern ganz im Gegenteil der Entfaltung seiner Fähigkeiten im Weg stehen. Den Punkt des negativen Einflusses der Gemeinschaft auf die Entwicklung seiner Fähigkeiten kann der Lehrer aufgreifen, indem er in aristotelischer Manier die Frage stellt, wie die Gemeinschaft denn beschaffen sein müsste, dass Laches seine Fähigkeiten bestmöglich entfalten kann. Hier heben die Schüler völlig zu Recht auf soziale Anerkennungsverhältnisse ab, die in der Gemeinschaft bestehen müssen, damit Laches sein Interesse für die Naturerscheinungen weiterentwickelt. Umgekehrt kann eine Gemeinschaft von Menschen selbstverständlich auch so beschaffen sein, dass Laches seine Fähigkeiten nicht angemessen ausbilden kann. Mehr noch: Er verkommt dann als Mensch durch die schlechte Gemeinschaft, in der er lebt. Zum Abschluss der zweiten Unterrichtseinheit kann der Lehrer als Übung zur Beherrschung der Klarheit die folgende schriftliche Aufgabe erteilen:

 Können Laches und Leukippos als Menschen ihre natürlichen Fähigkeiten und Begabungen auch in einem Leben außerhalb der Gemeinschaft entwickeln ? Beantworten Sie die Frage in ein paar klaren Sätzen aus der Sicht von Aristoteles. Aristoteles zufolge kann der Mensch seine natürlichen Fähigkeiten nur in der Gemeinschaft mit anderen Menschen entwickeln. Dabei folgt der Mensch dem Prinzip des Anerkennungsstrebens und der Macht des Ansehens. Ohne die Gemeinschaft würde der Mensch also seine Naturanlagen nicht in gleichem Maße entfalten wie in der Gemeinschaft. Er ist von Natur aus auf die Gemeinschaft hin angelegt und als einzelner Mensch den geltenden Maßstäben, die in der Gemeinschaft herrschen, unterworfen. Da die Schüler vom Lehrer aufgefordert werden, ihre Antworten auf die Frage zu präsentieren, können im abschließenden Unterrichtsgespräch noch bestehende Unklarheiten geklärt werden.



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2.2.1 Didaktischer Kommentar zur zweiten Unterrichtseinheit: 162 Aufmerksamkeitslenkung und die Arbeit am Wort-Werk: die Funktionen der Tafel Wie oben ausgeführt, zeichnet der Lehrer oder ein Schüler zur Illustration der Szene von »Fritz, Paul und Paula« ein Schaubild an die Tafel, das die Situation auf dem Fußballplatz veranschaulicht. Paul und Fritz treten als kleine Strichmännchen auf, die mit einem Ball spielen. Von der Seite schaut ihnen Paula, dargestellt durch ein großes Auge, bei ihrem Treiben zu. Auf diese Weise kommen in dem Schaubild an der Tafel die wesentlichen Aspekte der Szene zur Darstellung. Jeder Schüler hat somit die ganze Szene vor Augen, sein Blick kann darüber hinaus von Paul zu Fritz und dann zu Paula wandern, sodass schrittweise die Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren auf dem Fußballplatz ausgeleuchtet werden können. Das Schaubild an der Tafel hat in diesem Zusammenhang also eine vergegenwärtigende Funktion – vor allem deshalb, weil sich die Schüler die imaginäre Szene in einem Blick vor Augen führen können. Durch die Frage: »Was löst es bei Fritz aus, wenn er bemerkt, dass Paula den guten Fußballer Paul ganz genau beobachtet und ihn für seine Spielkunst bewundert ?«, lenkt der Lehrer die Aufmerksamkeit der Schüler auf Fritz. Die Schüler versetzen sich in dessen Lage und überlegen, was ihm in dieser Situation durch den Kopf gehen könnte. Dabei dient die Tafel dem Lehrer als ein wichtiges Hilfsmittel zur Lenkung der Aufmerksamkeit der Schüler. Indem sie ihre Gedanken zu Fritz in Form von Sätzen schriftlich an der Tafel präsentieren, hat der Lehrer die Chance, dafür zu sorgen, dass sie ihre eigenen Gedanken gemeinsam entfalten und verständlich darstellen. Außerdem bleiben die Sätze an der Tafel allen Schülern gegenwärtig, sodass man jederzeit auf sie zurückkommen und an späterer Stelle erneut auf sie Bezug nehmen kann. Die Schüler leuchten so einzeln und schrittweise die Figuren der Szene sowie ihre Beziehungen zueinander aus. Weil ihnen dabei sehr viel auffällt, machen sie sich auch gegenseitig auf diverse Aspekte der Situation aufmerksam. All das wird an der Tafel durch Striche, Stichworte und graphische Darstellungen der Schüler oder des Lehrers festgehalten und somit dokumentiert. Deshalb kann man mit gutem Recht behaupten, dass das Schaubild gemeinsam mit den Schülern entwickelt wird. Nach der Maxime: »Das Tafelbild sollte – wo immer möglich – vor den Augen der Schüler entstehen !«163 Demnach dient das Tafelbild im Lehrstückunterricht auch niemals nur der bloßen Ergebnissicherung, schon deshalb nicht, weil der gemeinsame Denkprozess hier im



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Der didaktische Kommentar bezieht sich nicht immer direkt auf die jeweilige Unterrichtseinheit. Es kann auch sein, dass in ihm auf Situationen aus anderen Unterrichtseinheiten Bezug genommen wird. Hilbert Meyer: Unterrichtsmethoden II: Praxisband. Berlin 2010 [13. Auflage], S. 219. An dieser Stelle möchte ich mich bei Susann Leidig bedanken, die zu einer Seminarsitzung ein Protokoll geschrieben hat. In diesem Zusammenhang ist sie auf die verschiedenen Funktionen der Tafel näher eingegangen.

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Mittelpunkt des Geschehens steht. Aber auch deshalb nicht, weil mit Blick auf die einzelnen Figuren der Szene von vornherein noch gar nicht klar ist, was genau den Schülern auffallen wird und mit welchen Worten sie die Auffälligkeiten umschreiben werden. Was indes feststeht: Sie bringen in jedem Fall ihre eigenen Einschätzungen und Deutungen ins Spiel. Dabei sind die Schüler oft genug von sich selbst überrascht, wenn sie feststellen, was sie dazu schon alles wissen, und sie sehen sich dazu herausgefordert, sich um eine angemessene sprachliche Darstellung ihrer Erkenntnisse zu bemühen, am besten in schriftlicher Form, sodass es tatsächlich ihre Worte und Sätze sind, die alle Schüler an der Tafel lesen können. Auf diese Weise greifen die Schüler ganz selbstverständlich auf die Worte zurück, die sie selbst mit Blick auf die jeweilige Figur für aussagekräftig halten. Das Tafelbild ist also auch in seiner sprachlichen Verfasstheit als ein ›Angelpunkt‹ zu verstehen, um den sich das gemeinsame Denken der Schüler bewegt. Anders gesagt: »Ein Tafelbild kann zum Angelpunkt einer ganzen Unterrichtsstunde werden, wenn es die Aufgabe erhält, den Sach-, Sinn- oder Problemzusammenhang der Stunde grafisch (in Schrift und Bild) darzustellen.«164 Den Teilnehmern wird vieles klar, wenn sie das Lehrstück erproben und spielerisch an ihm teilnehmen. Etwa dann, wenn sie auf die Frage »Welche Rolle spielt Paula in dem Theaterstück auf dem Fußballplatz ?« zum Beispiel antworten, sie sei der »Auslöser der Gefühle« oder mit ihr werde der »äußere Maßstab für das Verhalten der Jungen« abgebildet oder sie fungiere als »Resonanzboden«. Dann bemühen sie sich darum, mit ihren eigenen sprachlichen Mitteln die Rolle von Paula in der Szene zu verdeutlichen.165 Mehr noch: Sie bemühen sich vor allem darum, ihre Worte so einzusetzen, dass sie die anderen Teilnehmer auf das aufmerksam machen, was ihnen selbst bei der Bestimmung von Paulas Rolle in der Szene aufgefallen ist. Die Teilnehmer bringen also genau das zum Ausdruck, was ihnen bei der Betrachtung des skizzenhaften Bildes von Paula in den Sinn kommt. Übrigens tun sie das sehr oft durch die Verwendung von Metaphern. Solche Versuche bieten dem Lehrer die Chance, die Schüler weiter in die Betrachtung der Szene zu verwickeln. Mit dem Ausdruck »Resonanzboden« kann er zum Beispiel leicht weiterarbeiten, wenn die Mitspieler ihn zum Anlass nehmen, mit ihren eigenen Worten zu beschreiben, worauf er ihrem Verständnis nach verweist. Weil bei dieser Arbeit an der sprachlichen Darstellung um eine genauere Wortverwendung gerungen wird, kommt es vielleicht auch zu dem, was sich für Wittgenstein »als Ziel der philosophischen Arbeit erweist«166 , und zwar auf ganz selbstver

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Ebd., S. 218. Protokoll Susann Leidig. Die Beiträge stammen von Marc Thomßen und Christoph Kehl. Ich werde im Folgenden mit der sprachlichen Äußerung von Christoph Kehl weiterarbeiten, der das Wort »Resonanzboden« in die Diskussion eingebracht hat. Wolfgang Kienzler: Ludwig Wittgensteins »Philosophische Untersuchungen«. Darmstadt 2007, S. 61. »Als Ziel der philosophischen Arbeit erweist sich […] die Fähigkeit, einen Überblick zu gewinnen und sich in der Sprache auszukennen […]. Wittgenstein betont die ›grundlegende Bedeutung‹ (122) des Begriffs der übersichtlichen Darstellung und nennt ihn ›unsere Darstellungsform, die Art, wie wir die Dinge sehen‹ (122).« (Ebd.)



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ständliche Weise, weil die Auslegung des Wortes »Resonanzboden« von den Teilnehmern gemeinsam in Hinsicht auf die Szene erörtert wird. Viele Teilnehmer werden auch dann, wenn sie die Argumente für diese Wortwahl verstehen, nicht selten gleichwohl bei der Ausdrucksweise bleiben, für die sie sich selbst entschieden haben. Oder es werden ihnen Formulierungen einfallen, die den entscheidenden Punkt ihrer Sichtweise noch genauer treffen. In beiden Fällen liegt es für sie nahe, den Mitspielern zu erklären, aus welchen Gründen sie die von ihnen gewählten Formulierungen bevorzugen. Der Lehrer darf selbstverständlich nicht den Ehrgeiz haben, diese Ausdrucksdifferenzen wie im Diskurs zugunsten einer allgemeingültigen Sprachregelung oder eines Konsenses aufzuheben.167 Denn wenn sich die Teilnehmer mit ihren unterschiedlichen Beiträgen darum bemühen, das, was sie selbst erkennen, für alle Beteiligten verständlich darzustellen, werden sie zu Mitspielern an einem Erschließungsprozess, in dem sie bei allen Divergenzen gemeinsam neue Einsichten gewinnen. Dabei steht die Verwendung der Worte stets in einem Verweisungszusammenhang mit der imaginären Szene. Damit wird die Tafel zur Schautafel, weil alle Mitspieler zusammen mit der Skizze auch den Wortlaut ihrer kommentierenden und deutenden Aussagen buchstäblich vor Augen haben. Dieses Schaubild sorgt oft verblüffend erfolgreich für die notwendige Konzentration im Erschließungsgespräch, weil es stehenbleibt und alle Mitredenden einlädt, bei der Ausleuchtung neuer Zusammenhänge und Hintergründe darauf zurückzukommen. Die Schautafel ist aber nicht nur deshalb ein geeignetes Instrument zur Lenkung der Aufmerksamkeit. Sie ermutigt die Teilnehmer darüber hinaus, ihre Vorstellungen, Denkmodelle und Phantasien zum Vorschein zu bringen, von denen sie sich bei ihren Urteilen leiten lassen, und zwar ohne dass der Lehrer auf die berühmtberüchtigte Lehrerfrage als bewährtes Instruktionsmittel zurückgreifen muss. Ihre Imaginationen werden also nicht durch gezielte Nachfragen gesteuert und aus ihnen herausgefragt, sondern sie nehmen beim gemeinsamen Blick auf die Schau­ tafel mit und durch ihre Worte gegenseitig Einfluss auf die Denkbewegungen ihrer Mitspieler. Auf diese Weise kann der Lehrer mit Hilfe der Schautafel gemeinsam mit den Teilnehmern an ihrem Wort-Werk arbeiten und die von ihnen formulierten Sätze im Hinblick auf die Szene präzisieren. Dabei können noch bestehende Unklarheiten aufgedeckt werden. Nelson und Heckmann, die beiden Neubegründer der sokratischen Methode, haben die Bedeutung der Tafel als methodisches Hilfsmittel ebenfalls erkannt und gezeigt, »dass es ›durch bloßes Hinschreiben der Lehrsätze zweier einander widerstreitender Doktrinen‹ gelingt, ›die Aufmerksamkeit auf die ihnen zugrunde liegende‹ falsche Voraussetzung ›zu lenken, deren Mißbrauch aufzude

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Besonders im neosokratischen Gespräch ist das Konsensstreben, also die Einigung auf genau eine bestimmte allgemeingültige Aussage oder Formulierung, ein verbindliches Leitziel. Vgl. Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschul­semi­ naren. Hannover 1980, S. 68 f. Vgl. Gisela Raupach-Strey: Das Sokratische Paradigma und seine Bezüge zur Diskurstheorie. In: Dieter Birnbacher/Dieter Krohn (Hrsg.): Das sokratische Gespräch. Stuttgart 2002, S. 106–139, hier S. 124 ff.

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cken und damit beide Lehrmeinungen zu stürzen‹.«168 Der Lehrer kann demnach durch die Schautafel in die Urteilsbildung der Teilnehmer indirekt eingreifen und sie so zu einer vertiefenden Denkbewegung veranlassen, ohne dass diese Lenkungsmaßnahme dazu führt, dass den Teilnehmern die Einsichten, die sie nur selbst gewinnen können, durch suggestive Fragen vorgegeben werden. Selbstverständlich gibt es auch noch andere Darstellungsweisen als die sprachliche Form, über die die Teilnehmer ihre Phantasien, Imaginationen und Gedanken hinsichtlich einer Szene zum Ausdruck bringen können. Im Ethik- und Philosophieunterricht ist diese Form aber zweifellos besonders wichtig, weil die Schulung des Denkens nur über eine Schulung der Sprache und der Sprechweise zu erreichen ist. Weil es in diesem Fach besonders nötig ist, die Gedanken der Teilnehmer sichtbar zu machen, darf man die These wagen, dass die Schautafel ein zentrales und unersetzbares Instrument für die methodische Gestaltung des Unterrichts ist. Hiermit stimmt auch Hartmut von Hentig überein, der Folgendes erklärt: »Hätte ich unter alten und neuen Unterrichtsmitteln ein einziges zu wählen, ich wählte Tafel-undKreide.«169 Daraus kann man auch ein mutiges Plädoyer gegen das modische Bekenntnis zu einem Medien- und Methodenpluralismus170 ableiten, das heutzutage überall tonangebend ist. Es verführt den Lehrer allzu leicht dazu, wahllos eine bunte Vielfalt von Medien und Methoden durchzuprobieren, ohne als Erstes zu fragen, ob mit ihrer Hilfe denn überhaupt das unbezweifelbare Hauptziel des Ethik- und Philosophieunterrichts – die angemessene sprachliche Darstellung des eigenen Denkens – erreicht werden kann.

2.3 Dritte Unterrichtseinheit: Der Blick auf die artspezifischen Möglichkeiten von Kühen, Tigern und Menschen 2.3.1 Die artspezifischen Möglichkeiten von Kühen und Tigern Diese Unterrichtseinheit beginnt mit der Inszenierung von zwei aufeinander aufbauenden Szenen, mithilfe derer zunächst ersichtlich werden soll, unter welchen Bedingungen die Kühe auf einer Wiese oder ein Tiger im Zoo ein gutes Leben führen. Es ist davon auszugehen, dass die Schüler zunächst die ganze gedankliche Spannweite dieser Fragestellungen unterschätzen bzw. etwas naiv glauben, diese

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Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschul­semi­ naren, S. 69 f. Heckmann zitiert an dieser Stelle Nelson. Hartmut von Hentig: Das allmähliche Verschwinden der Wirklichkeit. Ein Pädagoge ermutigt zum Nachdenken über die Neuen Medien. München, Wien 1987 [3. Auflage], S. 22. Vgl. Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover 2003, S. 54 ff. Vgl. Johannes Rohbeck: Didaktik der Philosophie und Ethik. Dresden 2010 [2. Auflage], S. 69. Meyer und Jank sehen in der »Vielfalt« ebenfalls ein Gütekriterium einer »neuen Methodenkultur«. Jank, Werner/Meyer, Hilbert: Didaktische Modelle. Berlin 2005 [7. Auflage], S. 129.



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Fragen ohne größere Probleme beantworten zu können. Dennoch ist die Explikation des Vorwissens der Schüler an dieser Stelle des Lehrstücks unbedingt nötig, denn nur so lässt sich im weiteren Verlauf des Unterrichts zum einen die differentia specifica zwischen Tier und Mensch herausarbeiten; zum anderen ist die artspezifische Betrachtung von tierischen und menschlichen Lebensweisen deshalb so wichtig, weil nur so das wesentliche Charakteristikum der menschlichen Natur in den Blick kommen kann, vor allem der Gesichtspunkt, dass die natürliche Anlage des Menschen nach Aristoteles zugleich als eine Vorgabe und als eine Aufgabe zu verstehen ist171 und dass danach nur der Mensch ein gutes und somit glückliches Leben führen kann, der die natürliche Vorgabe als seine Aufgabe ansieht und sie bestmöglich, also im Sinne der aretē erfüllt. Als erste Aufgabe bekommen die Schüler vom Lehrer zunächst folgende Szene präsentiert:

 Stellen Sie sich eine große, eingezäunte Wiese vor, auf der eine Herde von Kühen mit ihren Kälbern grast. Am Rand der Wiese fließt ein Bach vorbei, sodass den Kühen jederzeit ausreichend Wasser zur Verfügung steht. Und es gibt natürlich auch einen Bullen auf der Wiese. Dazu erhalten sie die Frage:

 Führen die Kühe auf dieser Wiese aus ihrer Sicht ein gutes Leben ? Treffen Sie dazu ein Urteil. Das Spektrum an möglichen Antworten kann hier sehr breit sein, beginnend mit der klaren Ja-Position: Die Kühe können auf der Wiese in jedem Fall ein gutes und glückliches Leben führen, weil es ihnen mit Blick auf ihre Bedürfnisse an nichts fehlt. Es steht ihnen alles auf der Wiese zur Verfügung, was sie zu einem guten Leben brauchen. Aber auch die Nein-Position kann unter Umständen von einigen Schülern vertreten werden, z. B. mit dem Hinweis darauf, dass ein Leben in Gefangenschaft auch für eine Kuh im Hinblick auf ihr Bedürfnis nach ausreichend viel Bewegung eine einschränkende Wirkung haben kann. Der Lehrer kann diesen Einwand leicht entkräften, indem er deutlich macht, dass die Wiese so groß ist, dass die Kühe das sie umzäunende Gehege kaum bemerken. In der Regel finden sich auch wieder einige Skeptiker unter den Schülern, die schlicht behaupten, dass wir



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Vgl. Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik. Würzburg 2006, S. 92 ff. Müller arbeitet die »Verschränkung von Natur als Vorgabe und als Aufgabe (S. 92)« sehr präzise heraus. Im Rahmen des Lehrstücks ist es mir nicht möglich, in gleicher Weise die unterschiedlichen Dimensionen des aristotelischen Naturbegriffs in seiner ganzen Breite zu betrachten und zu analysieren. Der Fokus soll hier vor allem auf den artspezifischen Möglichkeiten des Menschen liegen, und zwar mit Blick auf die Bestimmung der menschlichen eudaimonia als einer natürlichen Vollendungsgestalt, die in einem gewissen, wenngleich nicht-normativ gesetztem (S. 123) Rahmen vorgibt, welche menschlichen Lebensformen gelingen können und welche mit großer Sicherheit misslingen werden.

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als Menschen gar nicht wissen können, was eine Kuh zu einem guten Leben tatsächlich braucht.172 Die Urteile der Schüler sollten wieder an der Tafel gesammelt werden. Eine solche Form der Verschriftlichung dient vor allem dazu, die Zusammenhänge, Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den einzelnen Aussagen herauszufinden und zu klären – genau so weit, wie es die Gedankenentwicklung der Schüler mit Blick auf die Szene zulässt. Und nicht weiter ! Der gemeinsame Blick an die Tafel führt auch dazu, dass alle dasselbe vor Augen haben, sodass die Schüler jederzeit vom Lehrer ermuntert werden können, ihre Gedankengänge den Mitschülern verständlich zu machen. Selbstverständlich kann auch der Lehrer durch diese Art des Vorgehens feststellen, worum die Gedanken der Schüler kreisen, in welche Richtung sie gehen und welcher Gedankenschritt demnach als nächstes in Angriff genommen werden kann, und zwar so, dass sich auf diesem Weg eine Klarheit he­raus­ schälen lässt, die möglichst allen Schülern mit Blick auf die Szene verständlich ist. Im gemeinsamen Blick auf die grasenden Kühe sollte den Schülern klarwerden, dass die Kühe dann ein gutes Leben auf der Wiese führen, wenn es ihnen möglich ist, all ihre Bedürfnisse unmittelbar zu befriedigen. Weil davon auszugehen ist, dass ihnen zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse nichts im Wege steht, führen sie auf der Wiese ein für sie – im Rahmen ihrer Lebensform173 – gutes Leben. Um die aristotelische Blickschulung weiter voranzutreiben bzw. den Blick der Schüler schrittweise für das Wesentliche zu öffnen, ist es nötig, sich eine andere Lebensform in der gleichen Situation vorzustellen. Dafür wandelt der Lehrer die erste Szene auf der Wiese nur etwas ab, indem er statt der Kühe nun einen ausgewachsenen Tiger auf der gleichen Wiese leben lässt. Die Schüler bekommen also den Auftrag, sich folgende Szene vor ihrem inneren Auge auszumalen:

 Stellen Sie sich nun einen ausgewachsenen Tiger vor, der auf der gleichen eingezäunten Wiese lebt. Er ist ganz allein auf der großen Wiese. (Es befinden sich dort demnach auch keine Kühe etc. mehr.). Zudem bekommt er jeden Morgen eine tote Antilope zu fressen.

 Führt der ausgewachsene Tiger auf der Wiese ein gutes Leben ? Treffen Sie dazu wiederum ein Urteil !



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Dass einige Schüler hierzu eine skeptische Haltung einnehmen, ist völlig legitim. Sie schützt auch vor einer anthropozentrischen Weltsicht und sollte schon deshalb als eine ernsthafte Position mit in die Diskussion einbezogen werden. Außerdem wird die skeptische Position an späterer Stelle des Lehrstücks in der Auseinandersetzung mit Philippa Foots Konzept einer »autonomen Bewertung« eine zentrale Rolle spielen (Vgl. unten, 2.3.2). Häufig tauchen die »Skeptiker« bereits bei der allerersten Frage in der ersten Unterrichtseinheit aus der Versenkung auf, wenn es darum geht, ob der Goldfisch auf die Bewunderung des Betrachters reagiert. Vgl. oben, 2.1. Der Begriff der ›Lebensform‹ spielt für die Schüler an dieser Stelle noch keine Rolle.



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Der Lehrer wird analog zur ersten Frage möglichst viele Antworten der Schüler an der Tafel sammeln. Beim Vergleich der Lebensweise der Kühe und des Tigers auf der Wiese sollte den Schülern auffallen, dass der Tiger im Gegensatz zu den Kühen kein gutes Leben auf der Wiese führen kann, weil es für ihn hier unmöglich ist, alle seine natürlichen Anlagen adäquat zu entwickeln. Doch in der Regel ist zunächst das Spektrum an Antworten wieder sehr durchmischt, wobei es eine deutliche Tendenz in Richtung der Nein-Position gibt. Als Hauptgrund wird oft vorgebracht, dass der Tiger für ein gutes Leben einfach mehr brauche als eine große Wiese und ausreichend viel Wasser. So kann er auf der eingezäunten Wiese zum Beispiel nicht seinem Jagdtrieb nachgehen, den er von Natur aus besitzt. Der Jagdtrieb ist jedoch ein charakteristisches Wesensmerkmal des Tigers, das in ihm steckt und das ihn von Kühen deutlich unterscheidet. Wenn er diesen Teil seiner natürlichen Anlage nicht entwickeln kann, weil ihm die Ausübung dieser Fähigkeit auf der Wiese verwehrt wird, dann kann er dort auch kein gutes Leben führen. Er kann folglich sein Leben als Tiger nicht so leben, dass er die natürliche Anlage des Jagdtriebs angemessen entwickeln kann. Manchmal kommen die Schüler im Spiel ihrer Gedanken selbst auf das Beispiel, wie es denn dann mit einem Tiger im Zoo aussähe: »Kann also ein Tiger im Zoo ein gutes Leben führen ?« Diese Frage, ob sie nun von den Schülern gestellt wird oder ob sie der Lehrer stellt, führt nicht selten zu einer heftigen Auseinandersetzung, bei der die Pro-und-Contra-Argumente nur so hin- und herfliegen. Vor allem auf der Pro-Seite kommt häufig unbewusst wieder die anthropozentrische Sichtweise bei der Betrachtung der tierischen Lebensweise ins Spiel, und zwar in dem Sinne, dass die Schüler den Punkt stark machen, dass der Tiger sich auch im Zoo an die dort anzutreffenden Lebensumstände gewöhne. Er gewöhnt sich also daran, sein Fressen in Form der toten Antilope zu bekommen. Und er vergesse mit der Zeit auch den natürlichen Drang zu jagen. Gestützt wird diese Position oft noch mit dem problematischen Hinweis, dass bei den Tigern, die im Zoo geboren werden und aufwachsen, dieser natürliche Drang gar nicht existiere. Sie gewöhnen sich einfach an die Lebensumstände, die sie im Zoo vorfinden, und deshalb fehle es ihnen auch an nichts. Wenn die Position von einem Teil der Schülerschaft ernsthaft vorgetragen wird, dauert es oft nicht lange, bis sich bei einem anderen Teil deutliche Widerstände hinsichtlich dieser Position regen. Hier muss der Lehrer wieder nur etwas Geduld bewahren, dann schwingt das Pendel von allein in eine andere Richtung. Falls es das nicht tut, dann darf er auch durch ein paar minimale Impulsfragen etwas nachhelfen: »Fehlt dem Tiger wirklich nichts im Zoo ? Kann er unter den Bedingungen wirklich gut leben ?« Der Lehrer darf die beiden Fragen – falls überhaupt nötig ! – ruhig mit einem deutlich erkennbaren ironischen Unterton stellen, denn es geht an dieser Stelle nicht um die Etablierung einer allzu menschlichen Lehnstuhlphilosophie, sondern um die gezielte Aufdeckung des teleologischen Verständnisses der aristotelischen Naturlehre. In aller Regel finden sich ein paar Schüler, die dem Tiger intuitiv ein natürliches (Lebens-)Ziel, sprich ein spezifisches ergon, unterstellen, das den Tiger

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als ein bestimmtes und bestimmbares Lebewesen auszeichnet und das ihn von anderen Lebewesen, wie z. B. der Kuh, wesentlich unterscheidet. Dabei kommen sie selbstverständlich nicht auf die Idee, mit Blick auf den Tiger von »natürlichen Zielen«, ihm »innewohnenden Seinsmöglichkeiten« und von »charakteristischen Tätigkeiten« zu sprechen, also von all den philosophischen Begriffen, die die »Prinzipien der natürlichen Teleologie« und vor allem das »Artprinzip« der aristotelischen Naturlehre näher bestimmen.174 Worauf die Schüler aber kommen könnten, ist, dass der Tiger sich dann am wohlsten fühlt, wenn er seine natürlichen Anlagen bestmöglich entfalten kann. Und weil er das im Zoo nicht in der gleichen Weise tun kann wie in der freien Natur, lebt er dort auch seinem »Tiger-Sein« entsprechend nicht gut. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass die Schüler diese »Wesens­ bestimmung« des Tigers vornehmen können, ohne auch nur einmal die oben genannten philosophischen Begriffe gehört oder gelesen zu haben. Und das können sie vor allem deshalb leisten, weil sie nicht anders als Aristoteles »Augen haben« und somit »sehen« können, wie ein Tiger in der freien Wildbahn lebt (selbst wenn sie seine Lebensweise nur aus dem Fernsehen kennen !), welche Fähigkeiten er besitzt und in welchen Situationen er sich anscheinend besonders wohl fühlt. Sie teilen demnach mit Aristoteles den Blick auf die lebendigen Phänomene. Und in diesem Blick auf die tierischen Lebensweisen von Kuh und Tiger zeigt sich ihnen etwas Bestimmtes und für sie Bestimmbares, das sie wohlgemerkt auch in eigenen Worten beschreiben und erklären können. So gehen sie methodisch betrachtet nicht viel anders als Aristoteles selbst vor, nur dass er bei seiner Inaugenscheinnahme der lebendigen Wesen der Natur »Begriffe« entwickelt hat, die sie noch nicht in gleicher Weise mit Blick auf die Phänomene für sich erschlossen haben. Aber grundsätzlich sind sie dazu in der Lage, weil sie ganz einfach sehen können und somit Intuitionen haben, die sich durch eine gezielte Nachschau auch aufdecken und sich selbst verständlich machen lassen.175 Damit die Schüler die wichtigste Klarheit dieses Unterrichtsabschnittes auch begrifflich erfassen können, ist es sinnvoll, ihnen den folgenden schriftlichen Auftrag zu erteilen:

 Wann oder unter welchen Bedingungen fühlt sich ein Tiger wirklich wohl ? Beant­ worten Sie die Frage in ein paar Sätzen. Das führt weiter, wenn die Schüler sinngemäß zu der Klarheit gelangen, dass der Tiger sich dann wirklich wohl fühlt, wenn er ein Leben gemäß seiner natürlichen Anlage leben und diese bestmöglich entfalten kann. Auf der großen Wiese oder im Zoo kann er seine natürlichen Anlagen, z. B. den Jagdtrieb, nicht bestmöglich entwickeln und somit auch nicht verwirklichen. Deshalb kann er dort streng genommen auch nicht »glücklich« sein.

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Vgl. Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, S. 50 ff. Vgl. Fußnote 45.



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2.3.2 Ein Tiger mit Holzbein und ein lahmender Hirsch Im »Sog der Sache«, wie Wagenschein das genetische Lehren bildlich umschreibt,176 kommen die Schüler im Idealfall oft auf ähnliche Phänomene, die mit dem ursprünglichen verwandt sind, die aber neue Aspekte aufwerfen und somit zu neuen Fragen hinführen. Das Drama des Tigers im Zoo kann aber auch vom Lehrer noch weitergesponnen werden. So kann er die Aufmerksamkeit der Schüler in einem neuen Akt auf einen Tiger mit einem Holzbein lenken, der ebenfalls im Zoo lebt. Dieser Tiger hat nun offensichtlich im Vergleich zu einem gesunden und ausgewachsenen Tiger einen Mangel, der ihn stark bei der Ausführung seiner normalen Bewegungsabläufe beeinträchtigt. Er ist ein invalider Tiger, der nicht selten auch unser menschliches Mitleid erregt. Umso schwerer fällt es den Schülern, die folgende Frage ganz nüchtern zu beantworten:

 Kann ein Tiger mit einem Holzbein, der ebenfalls im Zoo lebt, ein gutes Leben führen ? Entwickeln Sie dazu eine These mit einer prägnanten Begründung !177 Dies ist ein extremes Beispiel. Deshalb ist auch davon auszugehen, dass die Intuitionen der Schüler weit auseinander gehen, weil die Wertmaßstäbe, auf die sie sich mit ihren Intuitionen beziehen, unterschiedlich sind.178 So wird häufig von den Schülern das Argument vorgebracht, dass auch der Tiger mit Holzbein im Zoo kein gutes Leben führt, weil er, genauso wie der ausgewachsene Tiger, seine natürlichen Anlagen nicht entfalten kann. Die Schüler, die so argumentieren, vergleichen den ausgewachsenen und gesunden Tiger mit dem invaliden Tiger und stellen oft nüchtern fest, dass beide ihr natürliches Ziel als Tiger verfehlen. Ihr Ziel besteht bekanntlich darin, all ihre natürlichen Anlagen bestmöglich zu entwickeln. Dies ist aber unter den gegebenen Bedingungen im Zoo nicht möglich, ganz unabhängig davon, ob es sich hierbei um einen gesunden ausgewachsenen Tiger oder eben um einen Tiger mit Handicap handelt. Das spielt für die Bewertung der Lebensweise des Tigers im Zoo zunächst eine untergeordnete Rolle, weil der Fokus der Bewertung hier eindeutig auf der normativen Bestimmung der Lebensform des Tigers liegt, zu der es z. B. wesentlich dazu gehört, eine bestimmte Schnelligkeit zu entwickeln, um erfolgreich bei der Jagd sein zu können. Die Schüler müssen sich ihres eigenen Bewertungsmaßstabes, den sie bei dieser Argumentation intuitiv anwenden, noch nicht vollends bewusst sein. Es reicht zunächst völlig aus, wenn sie diese Sichtweise auf die Lebensform des Tigers einnehmen und dafür erste eigene Argumente vorbringen

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Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 82. Selbstverständlich kann man bei der Inszenierung auch auf einen dreibeinigen Tiger zurückgreifen, falls die Schüler den Tiger mit Holzbein als unrealistisch empfinden. Viele der hier dargestellten Argumente haben sich bei der Durchführung des Lehrstücks immer wieder gezeigt, sodass man als Lehrer mit großer Wahrscheinlichkeit davon ausgehen kann, dass sie so oder zumindest so ähnlich von den Schülern wieder vorgebracht werden. Die Sätze, die ich im Folgenden verwende, sind die Ergebnisse von Studenten aus einem Seminar an der Friedrich-Schiller-Universität Jena, das ich im Wintersemester 2014/2015 durchgeführt habe.

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können. Oft sind die bewertenden Stellungnahmen der Schüler mit Blick auf den invaliden Tiger im Zoo noch viel konkreter und anschaulicher: »Der Tiger mit Holzbein lebt nicht gut im Zoo, er überlebt nur. Im Zoo werden zwar seine Grundbedürfnisse abgedeckt, aber sein eigentliches Ziel, nämlich gemäß seines Tigerseins zu leben und somit glücklich zu werden, kann er aufgrund der Bedingungen im Zoo sowie aufgrund seiner körperlichen Einschränkung nicht verwirklichen.« Oder diese Stellungnahme: »Der Tiger wird im Zoo gezwungen, dass er sein Wesen vergisst. Sein Leben wird im Zoo zwar gerettet, aber er kann dennoch nicht so gut und zufrieden leben, wie es für einen normalen Tiger in der Wildnis möglich ist; und zwar vor allem deshalb nicht, weil er diejenigen Wesensmerkmale, die ihn zum Tiger machen, im Zoo nicht im gleichen Maße entwickeln kann wie in der freien Wildnis.« Dass die Natur des Tigers hier als eine normative Vorgabe verstanden wird, ist mehr als offensichtlich. Das führt nicht selten zu der Frage, ob es nicht eigentlich besser sei, einen Tiger mit Holzbein sterben zu lassen. Zum einen sei das einfach der »natürliche Lauf der Dinge«. Zum anderen müsse der Tiger dann nicht unnötig leiden bzw. ein Leben führen, bei dem er nur noch »vor sich hinvegetiert.« Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zur Frage nach der »Würde des Tigers«, also danach, ob es für den Tiger nicht »würdelos« sei, ein Leben zu führen, bei dem ein wichtiger Teil seiner natürlichen Anlagen verkümmern muss. In diese normativ aufgeladene Diskussion mischen sich oft auch mildere Stimmen ein, die das normative Kriterium, das sich aus der Beschreibung und Bewertung der Lebensform des Tigers ergibt, abschwächen möchten. Eine solche Argumentation könnte z. B. so aussehen: »Dem invaliden Tiger geht es im Zoo vermutlich viel besser als in der Wildnis. Denn er kann sich ja aufgrund seiner körperlichen Einschränkung nicht mehr allein versorgen. Er ist also darauf angewiesen, dass andere Personen – sprich die Wärter im Zoo – ihn ernähren. Deshalb lebt dieser Tiger im Zoo das für ihn beste aller möglichen Leben, weil ihn das Leben dort mit Blick auf seine individuellen Möglichkeiten nicht weiter einschränkt, sondern sogar seine körperliche Einschränkung durch die hier vorliegenden Lebensbedingungen kompensiert und somit sein Leben schützt.« Die Bewertungen der Lebensweise des invaliden Tigers gehen hier zu Recht sehr weit auseinander, und der Lehrer sollte sich deshalb auch auf die unterschiedlichen Argumentationsansätze der Schüler einlassen; schon deshalb, weil sie direkt ins Zentrum des inhärenten Zusammenhangs von Naturlehre und Ethik bei Aristoteles führen. Und auch weil diese Verbindung von beschreibender Naturerklärung (naturphilosophische Begründung des telos-Begriffs) und der normativen Bewertung einer Lebensform bei ihm so eng und zugleich so schwer durchschaubar ist, dass eine konkrete Ausleuchtung der damit verbundenen Probleme schon mit Blick auf die tierische Lebensform des Tigers äußerst wünschenswert und aufschlussreich ist. Denn noch viel dramatischer und problematischer wird die Verhältnisbestimmung von artspezifischer Bestimmung des Guten und der normativen Bewertung einer Lebensform mit Blick auf die unterschiedlichen Lebensweisen des Menschen. Ein Klärungsversuch, der diese Schwierigkeit berücksichtigt, könnte an dieser Stelle so aussehen:



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Unter Berücksichtigung seines Mangels ist das Leben im Zoo speziell für diesen Tiger sehr wahrscheinlich das bestmögliche Leben, das er führen kann. Folglich geht es ihm auch unter den gegebenen Bedingungen im Zoo so gut wie möglich. Aber als gesunder Tiger könnte er im Zoo kein gutes Leben führen, weil er hier seine natürlichen Fähigkeiten nicht allesamt entwickeln kann. So besitzt der nicht-invalide Tiger zum Beispiel von Natur aus die Möglichkeit, sich selbst zu ernähren. Die ihm im Zoo aufgezwungene Lebensweise verhindert mithin die Entwicklung seiner natürlichen Potentiale. In ihrer natürlichen Sprechweise verwenden die Schüler die beiden Adjektive ›gut‹ und ›schlecht‹ zur Beschreibung und Bewertung einer bestimmten tierischen Lebensform, in unserem Fall zur Bewertung der unterschiedlichen Lebensweisen eines Tigers in freier Wildbahn und im Zoo. Bei dieser Sprechweise gebrauchen sie ganz selbstverständlich die beiden Adjektive ›gut‹ und ›schlecht‹ so, dass sie damit ein Werturteil über ein Individuum einer bestimmten Spezies treffen. Damit machen sie »aristotelisch-kategorische Aussagen (Aristotelian categoricals).«179 Mehr noch: Sie gehen davon aus, dass die Individuen einer bestimmten Spezies nur dann ein gutes Leben führen können, wenn sie das natürliche Ziel, das für die Spezies charakteristisch ist, auch erreichen können (Entelechie). Sie haben also das natürliche Ziel dieser Lebensform im Blick, und sie verwenden die beiden Adjektive ›gut‹ und ›schlecht‹, wenn sie etwas darüber aussagen wollen, ob ein Individuum einer bestimmten Spezies das natürliche Ziel erreicht oder nicht erreicht hat. Die Beschreibung und Bewertung der Lebensweise eines Individuums einer bestimmten Spezies geschieht – zumindest für Aristoteles – niemals wertneutral, weil das natürliche Ziel (das telos des Lebewesens), nach dessen Verwirklichung alle Individuen dieser Spezies streben, nicht wertneutral bestimmt werden kann, sondern stets als ein erstrebenswertes Gut (agathon) angesehen werden muss.180 Das heißt, dass die Schüler bei der Beschreibung und Bewertung der unterschiedlichen Lebensweisen des Tigers in der freien Wildbahn und im Zoo ihr intui-



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Philippa Foot verwendet den sprachlichen Ausdruck der »Aristotelian categoricals« und bezieht sich damit auf eine begriffliche Bestimmung, die Michael Thompson in seinem Aufsatz »The Representation of Life« festgelegt hat. (Vgl. Michael Thompson: »The Representation of Life«, in: Rosalind Hursthouse u. a. (Hrsg.), Virtues and Reasons. Philippa Foot and Moral Theory. Essays in Honour of Philippa Foot. Oxford 2002, S. 247–296, hier S. 267.) Gemeint ist damit Folgendes: »Naturgeschichtliche Sätze, die Thompson auch Aristotelian categoricals nennt, sprechen vom Lebenszyklus eines Individuums einer bestimmten Spezies. Einerseits ist daher dieser Zyklus die Zeitspanne, mit der es derartige Sätze zu tun haben. Andererseits müssen wir uns auf eine längere Zeitspanne beziehen, da wir auch von Fortpflanzung sprechen und die Eigenschaften eines Individuums nicht entscheiden, was als ein weiteres Individuum derselben Art zählen wird.« (Philippa Foot: Die Natur des Guten. Frankfurt am Main 2004, S. 48 f.) Der Übersetzer von Foots Buch, Michael Reuter, schlägt für den Begriff der Aristotelian categoricals die deutsche Übersetzung »Aristotelisch-kategorische Aussagen« vor, bleibt aber aufgrund der besseren Lesbarkeit bei dem englischen Original. (Ebd., S. 49.) Vgl. Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, S. 133. Vgl. Aristoteles: Physikvorlesung. Übersetzt von Hans Wagner. Berlin 1972 [2. Auflage], II, 195a 23–25. S. 40. Vgl. Aristoteles: Metaphysik, I, 2, 982a 9–10. S. 6.

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tives Verständnis der aristotelischen Teleologie einbringen, und sie decken es an dieser Stelle so weit auf, dass sie erkennen können, dass es für die Bestimmung des guten Lebens der normalen und gesunden Mitglieder dieser Spezies eine wesentliche Rolle spielt, ob sie das natürliche Ziel ihrer Spezies erreichen oder nicht erreichen können. Demnach argumentieren die Schüler auch im Sinne der Aristotelian categoricals, indem sie hinsichtlich der unterschiedlichen Lebensweisen des Tigers völlig eigenständig Urteile fällen und sie auch begründen – und dies tun sie bisher unabhängig von philosophischen Texten und Thesen ! Damit vollziehen die Schüler den Gedankenschritt, den Philippa Foot mit ihren Worten folgendermaßen charakterisiert: Das ist das Leben, das für die Art von Lebewesen charakteristisch ist, von der unsere categoricals handeln. Was in diesem Leben eine Rolle spielt, ist kausal und teleologisch hierauf bezogen – so wie bei Pflanzen das Treiben von Wurzeln auf Nahrungsaufnahme und das Anlocken von Insekten auf Fortpflanzung bezogen ist.181

Sobald die Schüler den Nachweis erbracht haben, dass sie in der Lage sind, eigenständig »aristotelisch-kategorische Aussagen« über die Lebensweise des Tigers zu treffen und diese ansatzweise zu begründen, sind sie darauf vorbereitet, sich verständnisvoll und kritisch mit dem ausgewählten Textabschnitt aus »Die Natur des Guten« von Philippa Foot auseinanderzusetzen.182 Das bedeutet, dass sie sich erneut mit der Frage befassen müssen, ob es uns überhaupt möglich ist, ein begründetes Urteil über die Lebensform eines Lebewesens zu fällen. Mit anderen Worten: ob es uns möglich ist, den Einwand des Skeptikers zu entkräften und ob wir tatsächlich eine autonome Bewertung hinsichtlich der pflanzlichen und tierischen Lebewesen treffen können.183 Zu dem Text, der den Fokus auf die zentrale Frage nach der Bestimmbarkeit und normativen Bewertbarkeit von nicht-menschlichen Lebewesen legt, erhalten die Schüler den folgenden schriftlichen Arbeitsauftrag:

 Wie begründet Foot die Möglichkeit einer autonomen Bewertung eines Lebewesens ? Stellen Sie ihr Argument dar und berücksichtigen Sie dabei das Beispiel des lahmenden Hirsches !



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Philippa Foot: Die Natur des Guten, S. 51. Foot gibt in einer Fußnote zu dieser Textstelle einen wichtigen Hinweis: »Es ist offensichtlich, daß die Kausalität in diesen Fällen eher die Kausalität notwendiger als hinreichender Bedingungen ist: Die Gefahren der Natur und die Existenz der Nahrungskette machen es sehr unwahrscheinlich, daß die meisten, auch der gesunden Mitglieder der meisten Tierspezies lange leben.« (Ebd.) Siehe Anhang: 4.1.1. Philippa Foot: Autonome Bewertung. Die Beispiele, die ich im Rahmen des Lehrstücks gewählt habe, betreffen immer nur tierische Lebewesen. Selbstverständlich lässt sich die Vorgehensweise auch auf die Lebensvollzüge von Pflanzen übertragen, weil sie grundsätzlich unter das gleiche Schema der Aristotelian categoricals sowie der aristotelischen Teleologie fallen.



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Die Schüler sollten das Argument von Foot prinzipiell nachvollziehen können, weil sie selbst bereits in dieser Weise argumentiert haben, ohne sich jedoch die eigene Argumentationsweise vollständig klar gemacht zu haben. Mit der Textarbeit wird nun das Ziel verfolgt, sich dieser Argumentationsweise bewusst zu werden, um sich im Anschluss daran selbstkritisch befragen zu können, ob man das Argument denn auch überzeugend findet. Im Rückgriff auf die im Unterricht behandelten Beispiele sollte es den Schülern demzufolge auch leichter fallen, darzustellen, wie die Autorin an dieser Stelle argumentiert und was sie meint, wenn sie zunächst in einer sehr eigenwilligen Diktion von einer »autonomen Bewertung« spricht und im Anschluss daran den Terminus Aristotelian categoricals einführt. Foot erläutert in dem Text zwei Aussagetypen, die für die autonome Bewertung eines Individuums einer bestimmten Spezies relevant sind. Dabei argumentiert sie wie folgt: 1. Zunächst ist eine genaue Beschreibung der Lebensform nötig, die sich auf die jeweilige Spezies bezieht. Diese Beschreibung dient der normativen Bestimmung der Lebensform eines Lebewesens. Zu einem normalen Leben eines Hirsches gehört es zum Beispiel, dass er, wenn er von einem Angreifer bedroht wird, fliehen kann. Gesunde Hirsche verfügen also über eine bestimmte Schnelligkeit als Mittel zur Verteidigung. Dabei handelt es sich um eine Norm, die wir bei der Beschreibung der Lebensform der Spezies gewonnen haben. 2. Es folgt die genaue Beschreibung eines bestimmten Individuums, das zu dieser Spezies gehört und das von uns bewertet werden soll. Wenn es sich dabei nun beispielsweise um einen lahmenden Hirsch handelt, dann kommen wir mit Blick auf die festgelegte Norm zu dem Urteil, dass er nicht über diese Schnelligkeit verfügt und sich somit auch nicht angemessen verteidigen kann. Ihm fehlt diese natürliche Fähigkeit, die ein gesunder Hirsch besitzt. 3. Daher können wir das autonome Werturteil fällen, dass der lahmende Hirsch nicht der Norm seiner Spezies entspricht. Er besitzt also einen Defekt mit Blick auf die normale Lebensform der Spezies Hirsch. Der Lehrer kann im Anschluss an die Darstellung des Arguments durch ein paar Fragen noch einmal den Fokus auf die Bedeutung der Wörter ›gut‹ und ›autonom‹ legen:

 Unter welchen Bedingungen führt der Hirsch ein gutes Leben ? Und wann geht es ihm nicht gut ? Was berechtigt uns nach Foot dazu, eine autonome Bewertung hinsichtlich eines bestimmten Lebewesens zu treffen ? Der Hirsch lebt genau dann ein gutes Leben, wenn er seine natürlichen Anlagen, die zu seiner Lebensform als Hirsch wesentlich gehören, entwickeln kann. Nicht gut geht es ihm demnach, wenn er seine natürlichen Anlagen nicht angemessen entfalten kann, und zwar entweder deshalb nicht, weil die Bedingungen, die sein Leben bestimmen, dies nicht zulassen, wie im Zoo oder weil er einen natürlichen Defekt

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hat, der es verhindert, dass er eine bestimmte Anlage entwickeln kann. Zum Beispiel fehlt einem lahmenden Hirsch eine bestimmte Schnelligkeit, die er benötigt, um sich vor Angreifern zu schützen. Diesen natürlichen Defekt besitzt der lahmende Hirsch auch dann, wenn er im Zoo lebt, wo er zufälligerweise die seine Lebensform auszeichnende Fähigkeit gar nicht benötigt bzw. sie nicht notwendig entwickeln muss. Eine solche autonome Bewertung hinsichtlich des lahmenden Hirsches ist uns nach Ansicht von Foot deshalb möglich, weil wir erstens »unabhängig von menschlichen Wünschen und Interessen«184 ein Urteil darüber fällen können, welche natürlichen Normen zu einer bestimmten Lebensform gehören. Und weil wir zweitens auf der Grundlage dieser normativen Bestimmung der Lebensform feststellen können, ob ein bestimmtes Individuum wie eben der lahmende Hirsch dieser natürlichen Norm entspricht. Da der lahmende Hirsch offensichtlich die natürliche Fähigkeit, schnell zu laufen, nicht entwickeln kann, können wir auch nicht sagen, dass er in dieser Beziehung gut lebt.

2.3.3 Der wesentliche Unterschied zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform: eine vergleichende Betrachtung Zu Beginn legt der Lehrer den Schülern ein Arbeitsblatt185 zu Aristoteles vor: mit einer Illustration, die den Betrachter anregt, sich in einem ersten spielerischen Zugriff auf sein eigenes Verständnis um eine genauere Bestimmung der Gemeinsamkeiten und der Unterschiede zwischen der tierischen und der spezifisch menschlichen Lebensform zu bemühen. Zu sehen ist im Schattenriss das Gesicht eines Betrachters, der aristotelisch staunend und forschend zwei knapp skizzierte Szenen vor Augen hat: eine Schwalbe, die ihre Flugkünste zeigt, und den Diskuswerfer Robert, der demonstriert, wie gut er diese Kunst beherrscht.186



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Philippa Foot: Die Natur des Guten, S. 56. Siehe Anhang 4.2, Arbeitsblatt 2: Aristoteles betrachtet ein sportliches Naturtalent. Vgl. Fußnote 161. Es ist hier unmöglich, auf alle vorgebrachten Einwände hinsichtlich einer solchen schlichten begrifflichen Verwendungsweise von ›gut‹ einzugehen. Die Hauptkritik an Aristoteles läuft in der Regel auf den Vorwurf hinaus, dass er damit einen naturalistischen Fehlschluss begehe, weil er unzulässigerweise einen Schluss von einer natürlichen Eigenschaft auf eine nicht-natür­liche Eigenschaft eines Lebewesens oder Gegenstandes ziehe. Für Moore, den prominentesten Verfechter dieses Arguments, ist ›gut‹ einfach kein natürlicher Term, sondern ein nicht-natürlicher Begriff. Weil ich diese subtile begriffliche Unterscheidung einiger analytischer Moralphilosophen mit Blick auf die Schulung des Urteilsvermögens der Schüler im Ethikunterricht für überflüssig oder unter gewissen Umständen sogar für schädlich ansehe, werde ich im Lehrstück auch nicht weiter darauf eingehen. Wer sich dafür interessiert, wie man den Naturalismusvorwurf im Sinne des aristotelischen Ethikansatzes (das gilt auch für die »allgemeinere Variante« dieses Vorwurfes durch Hume) entkräften kann, ist bei Jörn Müller gut aufgehoben: Vgl. Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, S. 138 ff. und S. 142 ff.



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Das Übereinstimmende ist auffällig: Die Schwalbe kann nicht von Geburt an gut fliegen und muss ihre artspezifischen Möglichkeiten im Laufe der Zeit entwickeln. Sie hat somit die natürliche Anlage dazu, diese Fähigkeit auszubilden. Und wenn die Schwalbe ihre akrobatischen Flugkünste in Bestform ausführt, scheint es ihr aus der Sicht des Betrachters besonders gut zu gehen. Das heißt, sie scheint sich genau dann in bester Verfassung zu befinden, wenn sie die Flugübungen in Bestform vollzieht. Nicht anders als der Diskuswerfer, der seine Fähigkeiten ebenfalls entwickeln muss, wenn er seine Bestform erreichen will. Weil die Gemeinsamkeit zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform nicht zu übersehen ist, drängt sich der Schluss auf, es gebe ein »Muster natürlicher Normativität.«187 Es ist daher zu erwarten, dass die Schüler in ihren Urteilen diese Gemeinsamkeit beider Lebensformen feststellen. Damit teilen sie, so mag man meinen, die Ansicht des Aristoteles, der die These vertritt, jedes Lebewesen strebe danach, seine spezifischen natürlichen Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln. Und es führe nur dann ein gutes Leben, wenn es die Tätigkeiten (erga), zu denen es von Natur aus befähigt ist, wirklich bestmöglich ausübe – nach den »Prinzipien der natürlichen Teleologie.«188 Für den Schüler, der seinen Blick zwischen den beiden skizzierten Szenen auf dem Arbeitsblatt hin und her gehen lässt, ist daher deutlich, welche Betrachtungen Aristoteles dazu veranlasst haben, die »natürliche Normativität« als eine grundsätzliche Gemeinsamkeit aller Lebewesen anzusehen: Da ist nun zu bemerken, dass jede Gutheit (aretē) dasjenige, dessen Gutheit sie ist, in eine gute Verfassung bringt und zugleich die Ausübung seiner Funktion (ergon) gut macht. So macht zum Beispiel die Gutheit des Auges ebenso das Auge gut, wie es seine Funktionsausübung zu einer guten macht; denn durch die Gutheit des Auges sehen wir gut. Auf die gleiche Weise macht die Gutheit des Pferdes dieses zu einem guten (spoudaios) Pferd und gut (agathos) darin, zu laufen, seinen Reiter zu tragen und vor den Feinden standzuhalten.189

Die Schüler werden sehr wahrscheinlich dazu passende Sätze wählen, wenn ihnen zu dem Schaubild auf dem Arbeitsblatt die folgende Aufgabe gestellt wird:

 Wenn wir etwas beobachten, kommen uns Worte und Sätze in den Sinn. Geht es Ihnen auch so ? Schreiben Sie ein paar davon in die Sprechblase ! Und bitte vergleichen Sie in diesem Zusammenhang, wie die Schwalbe ihre Flugkunst erlernt mit Roberts Kunst, den Diskus zu werfen.190

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Philippa Foot: Die Natur des Guten, S. 59. Vgl. Jörn Müller: Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Relevanz für die Ethik, S. 50 ff. Ich beziehe mich an dieser Stelle besonders auf das »Artprinzip«. Es ist mit den Schülern nicht nötig, das aristotelische Prinzip der natürlichen Teleologie in seiner ganzen Tiefe zu erforschen. Aristoteles: NE, II, 5, 1106a 15–21. S. 82 f. Siehe Anhang, 4.2.2. Arbeitsblatt 2: Aristoteles betrachtet ein sportliches Naturtalent. Vgl. Fußnote 161.

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Zu erwarten sind Formulierungen, die sich auf unterschiedliche Weise an die These des Aristoteles annähern: – Robert kann ein vortrefflicher Diskuswerfer werden, weil er das Vermögen dazu besitzt, diese sportliche Fertigkeit auszubilden. – So wie die Schwalbe von Natur aus zu fliegen lernt und diese Fähigkeit im Laufe ihres Lebens entwickeln muss, um sie bestmöglich auszuführen, so ist auch Robert dazu veranlagt, sich um die Verbesserung seiner sportlichen Technik zu bemühen. – Sowohl die Schwalbe als auch Robert müssen schlicht etwas tun, um ihre spezifischen Fähigkeiten bestmöglich auszubilden. – Um diese natürliche Fähigkeit bzw. diese sportliche Fertigkeit zu erlernen, ist es also gleichermaßen notwendig, dass sie ihre artspezifischen Aktivitäten auch ausüben, um sie und damit sich selbst vollkommen zu machen. – Sowohl die Schwalbe als auch Robert streben nach ihrer jeweiligen Bestform, weil es ihnen dann besonders gut geht: genau dann, wenn sie die Kunst zu fliegen oder den Diskus zu werfen auf vortreffliche Weise beherrschen. Sorgt der Lehrer dafür, dass die markantesten Sprechblaseneinträge der Schüler für alle sichtbar, aber ungeordnet an der Tafel zusammengestellt werden, kann er ihnen die folgende Aufgabe stellen:

 Philosophen sind nicht bereit, das, was ihnen auffällt, so mitzuteilen, wie es ihnen gerade in den Sinn kommt. Sie haben vielmehr den Ehrgeiz, einen Gedanken schrittweise zu entwickeln. Versuchen Sie es ihnen nachzumachen ! Weichen Sie auch dann nicht aus, wenn Sie finden, dass die sportliche Tätigkeit Roberts nicht richtig erklärt ist, wenn sie in jeder Hinsicht mit der Tätigkeit der Schwalbe gleichgesetzt wird. Die sehr kurzen Abhandlungen, die daraufhin geschrieben und allen Unterrichtsteilnehmern präsentiert werden, haben zumeist ein erstaunliches Niveau. Für die Schüler ist es häufig ein großes Erlebnis, wenn sie feststellen, dass sie selbst philosophieren. Auch der Lehrer macht damit eine wichtige Erfahrung, denn basierend auf diesem Erlebnis wird er den Unterricht nach dem Gewinn erster Klarheiten niemals, so wie es oft geschieht, mit scheinsokratischen Suggestionen weiterführen – also nicht Schritt für Schritt in der von der Lehrerrhetorik vorgegebenen und erzwungenen Reihenfolge ! Der Lehrer stellt hier demnach keine Fragen, von denen der Schüler meinen kann, ihm werde dadurch eine schnelle und richtige Antwort abverlangt, und die ihm bestenfalls andeuten, was er sagen soll. Das tut er deshalb nicht, weil es im Lehrstückunterricht sein Ziel ist, dass der Schüler auf das zurückgreifen kann, was ihm selbst bereits aufgefallen und aufgegangen ist. Dafür muss der Lehrer ihm die Zeit lassen, die er benötigt, wenn er sich auf seine eigenen Vorstellungen besinnen und diese mit eigenen Mitteln verdeutlichen soll. Das heißt, nicht mit Impulsen der folgenden Art:



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Warum lernt die Schwalbe das Fliegen ? Warum lernt Robert die Technik des Diskuswerfens ? Dient sie ihm zum Überleben, so wie der Schwalbe die Fähigkeit zu fliegen ? Unter welchen Bedingungen kann Robert ein vortrefflicher Diskuswerfer werden ? Wozu muss er bereit sein ? Muss sich die Schwalbe eigentlich genauso anstrengen wie Robert beim Diskuswerfen, um ihre Fähigkeit zu fliegen bestmöglich zu entwickeln ? Für den Lehrer, der die Möglichkeiten der Lehrstückdidaktik ausloten will, stehen demgegenüber viele andere Wege offen. Er kann sich zum Beispiel an den Schüler wenden, der die Anstrengungen des Sportlers und der Schwalbe vorbehaltlos gleichsetzt und der sich dabei am weitesten vorwagt, und ihn bitten, seine These noch einmal zu bekräftigen und seine Argumente vorzutragen. Außerdem kann er ausnahmsweise als Mitspieler auftreten und ihm in verräterischer Entschiedenheit erklären, es sei doch bekannt, dass der gute Reiter sein Pferd sehr häufig lobt. Im Übrigen wisse man doch, dass der Reitlehrer sehr viel Mühe darauf verwendet, dem Anfänger beizubringen, dies gezielt und in der richtigen Weise zu tun. Im Lehrstück muss jedes wichtige Gespräch als ein Lehrstück inszeniert werden. Es braucht also eine Szene, die alle vor Augen haben und die somit den szenischen Rahmen bildet, in dem der Verständigungsprozess im mündlichen Gespräch stattfindet. Der Lehrer darf bei dieser Inszenierung nicht den Eindruck erwecken, er wolle sich als Mitredender in das Gespräch einmischen und es dominieren. Das ist ausgeschlossen, wenn er zunächst den von ihm ausgewählten Schüler auffordert, sein Argument an die Tafel zu schreiben, und wenn er anschließend selbst zur Tafel geht und sein Argument ebenfalls schriftlich präsentiert, etwa in der folgenden Fassung:

Wird ein Pferd in der richtigen Weise vom Reiter gelobt, wenn es sich in der gewünschten Weise betätigt, lernt es erfahrungsgemäß schneller und besser. Damit ist bewiesen, dass sich das Pferd dabei genauso anstrengt und genauso anstrengen muss wie der Mensch, der etwas lernt. Die Tatsache, dass der Reiter sein Pferd lobt, ist außerdem ein sicherer Beweis dafür, dass er dies annimmt.

Dies ist eine wohlbedachte Maßnahme, weil damit zu rechnen ist, dass es niemanden in der Klasse geben wird, der genau versteht oder zu verstehen glaubt, was er an der Tafel liest, und für den genauso das, was der mutige Mitschüler behauptet, in jeder Hinsicht richtig ist. Weil die einzelnen Gesprächsteilnehmer die These(n) und ihre Begründung(en) unterschiedlich auffassen, kann das, was ihnen daran einleuchtet oder nicht einleuchtet und was in ihrer Sicht noch genauer erfasst werden muss, durchaus weit auseinandergehen. Das muss zuallererst deutlich werden, wenn es zu einem Gespräch kommen soll, das sie dazu veranlasst, ihre Auffassungen zu verdeutlichen und das Verständnis, was sie haben, weiter zu vertiefen. Um das zu erreichen, kann der Lehrer den folgenden Vorschlag machen:

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 Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie sich etwas gründlicher mit dieser These (des Lehrers) und mit diesem Argument befassen. Bitte deuten Sie es an, mit einem Stichwort, das Sie an die Tafel schreiben. Es darf auch eine kurze Frage oder eine bissige Bemerkung sein. Jeder Schüler, der sich entschließt, dies zu tun, hat damit einen Auftritt, der von allen Mitschülern verfolgt wird und der ihnen verrät, was er einzuwenden hat und was nach seiner Auffassung noch genauer geklärt werden muss. Lassen sich hinreichend viele Schüler dazu bewegen, sich mit der Andeutung ihrer Erwägungen vorzustellen und in die Öffentlichkeit zu wagen, wird sich herausstellen, dass sich bei der gemeinsamen Sichtung der verschiedenen Stellungnahmen ein paar Hauptlinien abzeichnen. Die Schüler, die im ersten Teil des Lehrstücks ein wenig gründlicher darüber nachgedacht haben, aufgrund welcher Fähigkeit der Mensch als animal rationale für Bewunderung empfänglich ist, werden geltend machen, dass die Tätigkeit der eifrig übenden jungen Schwalbe ganz gewiss nicht in jeder Hinsicht mit der anstrengenden Trainingstätigkeit des Sportlers gleichzusetzen ist. Vor allem deshalb nicht, weil der Ehrgeiz zwar in seiner Natur liegen mag, aber nicht das Ziel, das er in seinem Ehrgeiz gewählt hat. Dabei handelt es sich nämlich um eine Wahl, die das Ergebnis von Erfahrungen ist, die ihn im Laufe des Lebens geprägt haben. Und weil wir als Menschen diese Wahl (immer) haben, kann auch letztlich die vom Lehrer aufgestellte These nicht stimmen.191 Denn weder das Pferd des Reiters noch die Schwalbe haben diese Wahl, sich für oder gegen eine bestimmte Tätigkeit zu entscheiden. Demnach kann man sie auch nicht ernsthaft dafür loben, wenn sie sich gemäß ihrer natürlichen Anlage betätigen. So bekommt beispielsweise die Schwalbe ihre Fähigkeit zu fliegen einfach von der Natur geschenkt. Im Gegensatz dazu muss sich Robert nicht nur dazu entscheiden, eine bestimmte sportliche Technik zu erlernen, sondern er muss sich darüber hinaus auch enorm anstrengen und manchmal auch selbst überwinden, wenn er sich dieses Ziel gesetzt hat und daran festhält. Gelingt ihm das, sprechen wir ihm als Zuschauer gern ein Lob aus. Lässt er sich dagegen hängen und strengt sich überhaupt nicht an, würden wir ihn eher dafür tadeln. Auch in ihren jungen Jahren haben die Schüler bei vielen Gelegenheiten die Tätigkeiten der Menschen beobachtet, die in ihrem Leben eine Rolle spielen. Weil sie bei alledem auch auf ihre eigene Rolle schauen, ist ihnen zumindest undeutlich bewusst, dass jeder – so wie sie selbst – nicht nur ein Bild von den eigenen, sondern auch von den Fähigkeiten und Leistungen der anderen vor Augen hat: mithin Bilder, die dazu führen, sich im Hinblick darauf mit ihnen zu vergleichen und danach zu

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Noch deutlicher wird der Unterschied zwischen Tier und Mensch dann, wenn man sich klarmacht, dass beispielsweise das Fliegen-Können für die Schwalbe eine notwendige Bedingung ist, um ihr Überleben zu sichern. Sie benötigt diese Fähigkeit, um sich ernähren oder ein Nest bauen zu können. Hingegen dient Roberts Wurfkunst ganz sicher nicht dem eigenen Überleben. Menschen erlernen also sehr viele Dinge im Laufe ihres Lebens, ohne dass sie damit allein einem natürlichen Zweck folgen: »Die Teleologie des Menschen erschöpft sich nicht im Überleben allein.« (Philippa Foot: Die Natur des Guten, S. 64.)



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streben, sich hervorzutun. Darum können sich die Schüler darauf besinnen, dass wir als Menschen zwar nach der Verwirklichung der in unserer Natur liegenden Möglichkeiten streben, dass es aber auch zu unserer menschlichen Natur gehört, dass wir uns als Individuen die Ziele, die wir anstreben, auch vorstellen können. Diese Besinnung liegt durchaus nahe, wenn sie dazu kommen, auf sich selbst zu achten – und auf das, was sich ihnen selbst zeigt und wie sie sich erleben. Deshalb darf man den Schülern auch die Einsicht zutrauen, dass wir als Individuen die Vorstellungen, die wir uns selbst von unseren Zielen machen, auch selbst ändern und weiterentwickeln können. Und zuzutrauen ist ihnen auch die Feststellung, dass wir sogar die Möglichkeit haben, unsere Anstrengungen zu verringern oder zu beenden, wenn wir finden, dass es uns dann besser geht.192 Spielen die Schüler mit, kommt somit nicht nur zum Vorschein, dass sie unterschiedlich denken und urteilen, sondern sie können auch registrieren, wer von den anderen jeweils die Ansichten vertritt, die sie teilen, und wer die Position bezieht, mit denen sie nicht einverstanden sind. Damit hat der Lehrer mit seinen Arrangements die Voraussetzungen für die folgende Aufgabenstellung geschaffen:

 Bitte setzen Sie sich zu einer kurzen Besprechung mit jemandem aus Ihrer Klasse zusammen, von dem Sie annehmen, dass er so ähnlich denkt wie Sie selbst. Bitte überlegen Sie zusammen, wie Sie das, was Ihnen selbst im Hinblick auf die Flugkunst der Schwalbe und auf das Training des Diskuswerfers klar ist, mit einem mündlichen Vortrag möglichst allen Schülern klarmachen können. Zum Schluss können Sie sich entscheiden, wer von Ihnen gleich vor die Klasse tritt und vorträgt, was Sie sich überlegt haben. Wird der Unterricht so inszeniert, können sich die Vortragenden auch dann, wenn sie ihr eigenes Verständnis aufdecken, in ihrer Rolle verstecken und nicht nur ganz unbefangen sehr gewagte Ansichten äußern, sondern sich dabei auch frei und lebhaft ausdrücken. Und das können sie auch dann tun, wenn sie sich anschließend vor aller Augen mit den Sprechern der Gruppen, die anders argumentieren, heftige Rededuelle liefern. In der »Geschichte der Farbenlehre« vergleicht Goethe, weil er sich mit Übersetzungsproblemen konfrontiert sieht, die beiden alten Sprachen und charakterisiert sie folgendermaßen:



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Foot versucht am Beispiel der Wurzeln einer Eiche aufzuzeigen, dass die »Bewertung der Wurzeln eines bestimmten Baumes oder die Bewertung des Handelns eines bestimmten Menschen« dieselbe Struktur hat: »Die Bedeutungen der Wörter »gut« und »schlecht« weichen nicht voneinander ab, wenn »gut« bzw. »schlecht« bei Merkmalen von Pflanzen einerseits und bei Menschen andererseits Verwendung findet.« (Philippa Foot: Die Natur des Guten, S. 69.) Das sehe ich anders. Dieser Teil des Lehrstücks zielt auch darauf, den Schülern klarzumachen, dass es hier einen wesentlichen Unterschied festzustellen gibt und dass es sich demnach auch nicht um dieselbe Verwendungsweise handeln kann.

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Das Griechische ist durchaus naiver, zu einem natürlichen, heitern, geistreichen, ästhetischen Vortrag glücklicher Naturansichten viel geschickter. Die Art, durch Verba, besonders durch Infinitiven und Partizipien zu sprechen, macht jeden Ausdruck läßlich; es wird eigentlich durch das Wort nichts bestimmt, bepfählt und festgesetzt, es ist nur eine Andeutung, um den Gegenstand in der Einbildungskraft hervorzurufen. Die lateinische Sprache dagegen wird durch den Gebrauch der Substantiven entscheidend und befehlshaberisch. Der Begriff ist im Wort fertig aufgestellt, im Worte erstarrt, mit welchem nun als einem wirklichen Wesen verfahren wird.193

Das, was Goethe hier über das Griechische sagt, gilt gewiss auch für die Muttersprache der Schüler; zumindest dann, wenn sie zunächst mündlich mitteilen dürfen, was sie aufgrund eigener Erfahrungen und Erlebnisse wissen und was ihnen darum im Hinblick auf die übende Schwalbe und den übenden Diskuswerfer klar ist. Werden Sie dazu nämlich mit dem nötigen methodischen Geschick angehalten, werden sie sich so genau ausdrücken, wie es ihnen möglich ist und bei alledem lebhaft und frei sprechen und aufgesetzte Formulierungen vermeiden. Das darf man auch von den Schülern erwarten, wenn das Lehrstück danach mit der folgenden Aufgabe fortgesetzt wird:

 Ein unermesslich wohlhabender Athener Kaufmann wandert in der Begleitung des Aristoteles über den Sportplatz, sieht einen trainierenden Diskuswerfer, schaut eine Weile schweigend zu und wendet sich dann mit der folgenden Bemerkung an den neben ihm gehenden Philosophen: »Welch ein Narr ! Alles für den kurzen Augenblick, den er genießen wird, wenn er einmal im Wettkampf gewinnt. Und für das Preisgeld ! Ich werde ihm einen kleinen Teil meines Vermögens schenken. Dann kann er sich alles leisten, worauf er gerade Lust hat, und muss sich nicht mehr weiter plagen. Etwas Besseres kann er sich doch gar nicht wünschen !« Aristoteles reagiert darauf verärgert und missgelaunt: »So wenig Menschenkenntnis hätte ich dir nicht zugetraut.« Diesen Vorwurf versteht der großherzige Kaufmann nicht. Übernehmen Sie den Part des Philosophen, der ihm zu erklären versucht, was er nicht begriffen hat. In dieser Rolle können die Schüler nur dann überzeugen, wenn sie das, was sie verstanden haben, bei der Vorbereitung ihres Auftritts noch einmal sehr sorgfältig durchdenken und es an selbstgewählten Beispielen mit eigenen Worten erklären. Das ist eine Arbeit, die sie nur dann bewältigen können, wenn sie sich sehr stark konzentrieren. Anschließend sollte der Lehrer möglichst viele von ihnen dazu bewegen, sich mit ihrem Beitrag vor der Klasse zu präsentieren; nicht nur, weil diese Leistung gewürdigt werden muss, sondern weil er darauf bauen darf, dass jeder

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Johann Wolfgang von Goethe: Geschichte der Farbenlehre. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XIV. Naturwissenschaftliche Schriften, zweiter Teil. Hamburg 1971 [4. Auflage], S. 7–269, hier S. 75.



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Schüler, der sich auf das Spiel einlässt, neue und ganz eigene Möglichkeiten zur Verdeutlichung seines Verständnisses entdeckt. Damit wird allen Beteiligten demonstriert, dass eine Entdeckung auf sehr verschiedenen Wegen und auf sehr unterschiedliche Weise verdeutlicht werden kann – und dass diese Unterschiedlichkeit niemals aufzuheben ist. Weil dies eine überaus wichtige Erfahrung ist, dürfen alle Schüler dazu aufgefordert werden, die aus ihrer Sicht besonders bemerkenswerten Ansätze zur Belehrung des Kaufmanns auszuwählen, diese miteinander zu vergleichen und sich ein paar Notizen dazu zu machen: mit Stichworten, die ihnen helfen, sich an die interessantesten Einfälle und zugleich namentlich an den Mitschüler zu erinnern, der sich damit hervorgetan hat. Machen sie sich diese Mühe, setzen sie, obwohl sie das nicht ausdrücklich feststellen, voraus, dass jede Erklärung die Erklärung eines anderen, und somit verschiedener Personen ist, die jeweils den Versuch machen, das, was ihnen selbst klar ist, auf ihre Weise und mit ihren sprachlichen Mitteln auch für andere verständlich zu machen. Das Lehrstück ist darauf angelegt, dass sie die Situationen, in denen jemand dies versucht, ganz konkret und darum ungewöhnlich vollständig und deutlich vor Augen haben. Darum muss ihnen nicht umständlich erklärt werden, worum es geht, wenn ihnen an dieser Stelle der folgende längere Textabschnitt aus dem ersten Buch der Nikomachischen Ethik vorgelegt wird: Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autark ist; es ist das Ziel all dessen, was wir tun. (1.) Doch zu sagen, dass das beste Gut im Glück besteht, ist wohl offensichtlich ein Gemeinplatz, und man wünscht sich, noch genauer erläutert zu haben, was es ist. (2.) Nun wird das vielleicht geschehen können, wenn man die Funktion (ergon) des Menschen erfasst. (a) Wie man nämlich annimmt, dass für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion und Tätigkeit (praxis) hat, »gut« (agathos) und »auf gute Weise« (eu) in der Funktion liegt, so sollte man annehmen, dass das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine bestimmte Funktion hat. (b) Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein ? Oder kann man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß, allgemein jedes Körperteil eine bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all diesen Funktionen ansetzen ? (c) Welche nun könnte das sein ? Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemein zu haben, gesucht ist aber die ihm eigentümliche (idios) Funktion. Das [vegetative] Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als Nächstes käme wohl das Leben der Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele (psyche), der Vernunft (logos) besitzt; von diesem hat ein Teil Ver-

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nunft in der Weise, dass er der Vernunft gehorcht, der andere so, dass er sie hat und denkt. Da aber auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, dass er im Sinn der Betätigung (energeia) zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn bezeichnet werden dürfte. (3.) Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit (energeia) der Seele entsprechend der Vernunft (kata logon) oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, dass die Funktion eines So-und-so und die eines guten (spoudaios) So-und-so zur selben Art gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers, und so überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit (arete) zur Funktion hinzugefügt wird (denn die Funktion eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die Funktion des guten Kitharaspielers, das auf gute Weise (eu) zu tun) – wenn das der Fall ist, wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen, und zwar eine Tätigkeit der Seele oder der Vernunft entsprechende Handlungen, als die Funktion des guten Menschen aber, diese Handlungen auf gute und angemessene (kalos) Weise zu tun, und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend verrichtet ist – wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gut für den Menschen (to anthropinon agathon) als Tätigkeit (energeia) der Seele im Sinn der Gutheit (kat´arete), und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel (teleios) ist. (4.) Hinzufügen müssen wir: »in einem ganzen Leben«. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig (makarios) und glücklich (eudaimon).194

Denn sie haben nunmehr, wenn sie diesen Text des Aristoteles lesen, ganz selbstverständlich auch ihn, den Verfasser, als eine Person vor Augen: als jemanden, der mit den Sätzen, die von ihm schriftlich überliefert sind, nicht anders als die in ihrer Rolle auftretenden Schüler den Versuch macht, das, was er bei der Betrachtung der Lebensweise von Pflanzen, Tieren und Menschen bemerkt hat, auch dem Leser verständlich zu machen. Weil sie folglich mit der Situation vertraut sind, in der sich der Autor an dieser Stelle befindet, ist für sie einzusehen, dass es möglich und nötig ist, näher auf seine Aussagen einzugehen. Und weil sie für das, was er an dieser Stelle erklärt, selbst eine vorläufige Erklärung haben, gewinnen sie in dem Augenblick, in dem ihnen dies aufgeht, einen Zugang zum Text. Wenn sie einen Zugang gefunden haben, kann es sie, weil das auch in der Übersetzung durchscheint, nicht gleichgültig lassen, dass der Verfasser eine Ausdrucksweise wählt, die ihnen nicht geläufig ist, und zwar deshalb nicht, weil dieser zur Verdeutlichung seiner Auffassungen einen Weg einschlägt, von dem sie vermuten können, dass er in vielerlei Hinsicht mit dem übereinstimmt, den sie zuvor in ihren

194

Siehe Anhang: 4.1.2. Aristoteles: Die Bestimmung des menschlichen Glücks im Hinblick auf sein artspezifische ergon. NE, I, 6, 1097b 20 – 1098a 19. S. 55 ff.



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Vorführungen und Erklärungen selbst gefunden haben. Für die weitere Gestaltung des Lehrstücks ist es sehr wichtig, dass sie dieser Vermutung weiter nachgehen. Das tun die Schüler, wenn sie sich auf den folgenden Vorschlag einlassen:

 Nehmen Sie an, dass jemand aus der Klasse behauptet, Aristoteles sage an dieser Stelle genau dasselbe wie einer von den Mitschülern, die vorhin den Part des Philosophen übernommen und dem Athener Kaufmann erklärt haben, was er nicht begriffen hat ! Wenn Sie das anders sehen, haben Sie gleich die Möglichkeit zu widersprechen und uns zu erklären, was der Philosoph tatsächlich sagen will. Das sollten Sie auch dann versuchen, wenn Sie mit der Behauptung des Mitschülers einverstanden sind. Nehmen Sie sich die dafür nötige Zeit und machen Sie sich Notizen, denn wir wollen das nachher gemeinsam besprechen.195 Entwickelt sich das Textverständnis nach diesem Konzept im Anschluss an die mündlichen Beiträge zunächst in der Mündlichkeit einer gemeinsamen Besprechung, ist am ehesten gewährleistet, worauf es ankommt: Die Schüler werden nicht dazu verleitet, die These des Aristoteles als ein Diktum aufzufassen, mit dem das Prinzip der menschlichen Tätigkeit befehlshaberisch »bestimmt, bepfählt und festgesetzt«196 wird. Und weil sie dazu ermutigt werden, ihre eigenen Auffassungen in Worte zu fassen, werden sie ungezwungen, lebendig, beweglich und selbstständig formulieren. Darum werden die Schüler sich auch dann bemühen, wenn sie zum Abschluss der Textarbeit dazu verpflichtet werden, einen Dialog zu schreiben, der festhält, wie das Texterschließungsgespräch verlaufen ist und welche Einsichten die Beteiligten dabei gewonnen haben. Klar werden sollte ihnen in diesem Zusammenhang nicht nur, dass der Mensch allein unter der Voraussetzung ein glückliches Leben führen kann, dass er sein Vernunftvermögen betätigt und nicht darauf verzichtet, es einzusetzen. Denn schließlich unterscheidet ihn dieses so geschätzte Vermögen von den Pflanzen und den Tieren. Vielmehr sollte den Schülern auch deutlich werden, dass er dabei unbedingt eine große Ausdauer an den Tag legen sollte. Zum Müßiggang ist der Mensch nach Aristoteles nämlich nicht geschaffen, vor allem deshalb nicht, weil er unaufhörlich danach strebt, das Beste aus sich zu machen bzw. etwas Hervorragendes zu leisten. Wer aber allzu viel genießt, der vergisst nicht nur diesen Anspruch, sondern auch sich selbst. Das ist nicht gut – so viel ist jetzt klar. Stellt sich heraus, dass die Schüler dieser Aufgabe gewachsen sind, kann der Lehrer zur Vertiefung ihres Menschenverständnisses noch einmal auf die Szene auf dem Sportplatz zurückkommen und sie bitten, sich Folgendes vorzustellen:



195



196

Vgl. unten, 2.7.2. In diesem didaktischen Kommentar gehe ich nochmal gesondert auf die Behandlung philosophischer Texte im Rahmen der Lehrstückdidaktik ein. Johann Wolfgang von Goethe: Geschichte der Farbenlehre. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XIV. Naturwissenschaftliche Schriften, zweiter Teil. S. 75. Vgl. Fußnote 191.

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 Der Diskuswerfer Robert trifft auf dem Sportplatz seinen Freund Alexander, der ebenfalls mit großer Leidenschaft das Diskuswerfen betreibt. Alexander trainiert in letzter Zeit sehr viel und regelmäßig das Diskuswerfen. Er strengt sich so sehr an, weil er seine Bestleistung verbessern und auch ein wenig deshalb, weil er Robert gern mal bezwingen möchte. Robert hat indes zurzeit überhaupt keinen Bock auf das anstrengende Training und lässt es häufig ausfallen. Beim kleinen Trainingswettkampf, den die beiden miteinander ausfechten, übertrifft Robert Alexanders Wurfweite dennoch um Längen.

 Können Sie sich vorstellen, dass Alexander trotz seiner Niederlage glücklich sein kann ? Bitte beantworten Sie die Frage schriftlich in ein paar Sätzen. Auf diese Weise sind die Schüler gezwungen, sich mit der unaufhebbaren Zerrissenheit und der Zwiespältigkeit des Menschen auseinanderzusetzen, die nicht nur der Sportler, sondern auch jeder Schüler häufig zu spüren bekommt. Denn einerseits muss der Mensch sich anstrengen, wenn er bestrebt ist, seine Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln. Andererseits spüren wir nicht selten den Wunsch, uns dieser Anstrengung gerade nicht auszusetzen und sehen genau darin unser Glück. Es ist an dieser Stelle nicht davon auszugehen, dass die Schüler eine eindeutige Antwort geben, denn man kann die Frage auf ganz unterschiedliche Weise beantworten. Im Spiel der Antwortmöglichkeiten ist allerdings auch die aristotelische Pointe: Alexander geht es gar nicht so sehr um den sportlichen Erfolg und um den kleinen Triumph, Robert zu bezwingen, sondern er ist vielmehr dann glücklich, wenn ihm im Rahmen seiner Möglichkeiten einfach ein guter Wurf gelingt. Besonders wohl fühlt er sich also dann, wenn ihm die sportliche Tätigkeit auf vortreffliche Weise gelingt und ihm die Diskusscheibe leicht von der Hand geht. Das damit verbundene Glücksgefühl kennt nicht nur Alexander, sondern die meisten Menschen, weil es bei jeder menschlichen Tätigkeit, die vortrefflich gelingt, hervortritt. Der Lehrer kann den Schülern nun einen weiteren Abschnitt aus der Nikomachischen Ethik vorlegen.197 Gestaltet er den Unterricht ein zweites Mal mit neuen Regieeinfällen nach den dramaturgischen Regeln der Lehrstückdidaktik, darf er erwarten, dass die Schüler das, worauf uns Aristoteles hier aufmerksam machen will, tatsächlich selbst wahrnehmen (können) und so zunehmend deutlicher erkennen. Zum Beispiel mit der folgenden Aufgabe:



197

Siehe Anhang: 4.1.3. Aristoteles: Glück und Freude. NE: I, 9, 1098b 30 – 1099a 30. S. 59 ff. Der Textinhalt geht an dieser Stelle ein wenig über das bisher gewonnene Verständnis der Schüler hinaus; schon deshalb, weil Aristoteles in diesem Abschnitt auch auf die ethische Tugend eingeht, die im Lehrstück bisher noch keine Rolle gespielt hat. Das ist an dieser Stelle legitim, weil der Fokus bei der Texterschließung weniger die Frage berührt, was einen guten Charakter auszeichnet und was seine Handlungen gut macht, sondern vielmehr darauf, warum das tätige Leben zugleich auch als ein glückliches und freudvolles Leben erfahren wird. Der Text ist unter diesem Gesichtspunkt auch gekürzt worden.



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 Lesen Sie den Text. Es ist nach der ersten Textbesprechung Ihre Aufgabe, vor die Klasse zu treten und den beiden Diskuswerfern Robert und Alexander, die nicht am Unterricht teilgenommen haben, zu erklären, was sie bisher vielleicht noch nicht von sich selbst verstanden haben. Zur Vorbereitung dieser Aufgabe tauschen Sie sich nach dem eigenständigen Lesen des Textes mit Ihrem Banknachbarn darüber aus, welche Fragen sich den beiden auftun könnten und wo sie ggf. Verständnisschwierigkeiten haben werden. Bitte beachten Sie für Ihren anschließenden Auftritt den Hinweis, dass konkrete Beispiele aus dem Leben am besten geeignet sind, um Ihr Verständnis zu verdeutlichen. Weil schon zur Zeit des Aristoteles nicht für jedermann sofort einsichtig war, warum das menschliche Glück (eudaimonia) nur durch die Ausübung der (besten) Tätigkeiten zu gewinnen sein soll, hat er sehr viel Mühe darauf verwendet, den Leser auf diesen für ihn erfahrbaren und somit wahrnehmbaren Zusammenhang aufmerksam zu machen. Aristoteles geht also tatsächlich davon aus, dass allein ein tätiges Leben ein gutes und glückliches Leben ist und dass zugleich (eigentlich) nur ein solches Leben als ein lustvolles und freudvolles erfahren wird: Wichtig im jetzigen Kontext ist, dass nach dem alltäglichen Begriff der eudaimonia das gute Leben wesentlich als angenehm, befriedigend, lustvoll erfahren wird. Wenn daher die Herleitung des Inhalts der eudaimonia in I 6 nicht ein philosophisches Diktat von außen bleiben soll, muss Aristoteles zeigen können, dass das Leben der aretē in der Tat zugleich ein subjektiv befriedigendes Leben ist.198

Die Schüler treffen bei der Bearbeitung und Besprechung des Textabschnitts auf viel Bekanntes, das sie bereits gut kennen, sodass sie die sich stellenden Fragen auch beantworten können. Doch ein Aspekt ist neu: Nach Aristoteles können wir dem Glück nur indirekt zuarbeiten, indem wir uns darum bemühen, die Tätigkeiten, die wir lieben, besonders gut und gelingend auszuüben. Auf diesen klugen Gedanken ist er gekommen, weil er den Ursprung der Lust und der Freude von der Wahrnehmung (aisthesis) her denkt. Lust und Freude (hēdonē) stellen selbst ein Moment unseres Wahrnehmens dar, deshalb kann uns auch bei der Ausübung der geliebten Tätigkeit auffallen, dass es uns dabei gut geht. Und weil das so ist, wollen wir dieser Tätigkeit häufig immer wieder nachgehen. Aus der wahrgenommenen Lust entspringt also offenkundig ein Streben (orexis), das auf lange Sicht gesehen zu einer bestimmten Lebensweise führen kann.199 Unter diesem Gesichtspunkt ist es auch leicht verständlich, dass wir mit besonderer Vorliebe die Tätigkeiten ausüben, bei denen wir diese Freude empfinden können:

198

199

Ursula Wolf: Aristoteles’ ›Nikomachische Ethik‹. Werkinterpretationen. Darmstadt 2002, S. 48. Dass das Streben aus einer wahrgenommenen Lusterfahrung resultiert, mag für moderne Denker ein ungewöhnlicher Gedanke sein – im Rahmen der aristotelischen Wahrnehmungslehre ist er dennoch richtig. (Vgl. Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aristotelischen Sinneslehre. Stuttgart 1987, S. 393.) Zum Zusammenhang von Lust (hēdonē), Begierde (epithymia) und Streben (orexis): Ebd., S. 392 ff.

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Sich zu freuen (hēdesthai) gehört nämlich zu den seelischen Dingen. Dabei freut sich jeder an dem, wovon er ein Liebhaber genannt wird, zum Beispiel der Pferdeliebhaber an Pferden, der Liebhaber von Schauspielen an Schauspielen; auf dieselbe Weise freut sich der Gerechtigkeitsliebende an gerechten Handlungen, und überhaupt der Liebhaber der Tugend an Handlungen der Tugend. 200

Da die Menschen sehr unterschiedlich sind und manche überhaupt nicht sagen können, woran sie Freude haben, sind nach Ansicht des Aristoteles Konflikte hinsichtlich der Frage, welche Tätigkeiten von Natur aus angenehm, schön und gut sind, vorprogrammiert. Das kann auch im Unterricht passieren. In diesem Zusammenhang helfen gut gemeinte Ratschläge – auch des Lehrers – zumeist nicht viel weiter. Deshalb hat sich Aristoteles für einen anderen Weg entschieden: nämlich für eine indirekte Zugangsweise und für eine gezielte Aufmerksamkeitsverlagerung als Wahrnehmende. Er lenkt unseren Blick auf unser eigenes Tun und Treiben und auf die Tätigkeiten von den Menschen, mit denen wir gern Zeit verbringen. Denn bei der genauen Selbstwahrnehmung und bei der Beobachtung des Handelns unserer guten Freunde kann uns auffallen,201 dass wir auffällig oft die Tätigkeiten zusammen ausüben, die wir als besonders freudvoll erfahren haben. Den Hinweis auf den guten Freund kann der Lehrer aufgreifen und zum Abschluss dieser Unterrichtseinheit eine Inszenierung wählen, die diesen Gesichtspunkt berücksichtigt:

 Nach dem kleinen Trainingswettkampf sitzen die beiden Freunde Robert und Alexander gemütlich auf dem Sportplatz und unterhalten sich über ihre Motive, das Diskuswerfen als Sport auszuüben. In diesem Zusammenhang sagt Robert zu Alexander Folgendes: ›Ich sehe überhaupt keinen Sinn mehr darin, jeden Tag aufs Neue den Diskus zu werfen. Es langweilt mich. Außerdem muss ich gar nicht mehr richtig trainieren und bin trotzdem stets der Beste. Wa­r um

200 201

Aristoteles: NE, I, 9, 1099a 7–12. S. 60. Aristoteles macht im neunten Buch der Nikomachischen Ethik unmissverständlich klar, dass auch der Glückliche (eudaimōn) der Freunde bedarf. Entscheidend ist dabei das Argument, warum das so ist. Denn auch hier verweist er uns auf unsere Möglichkeiten als Wahrnehmende, doch diesmal im Hinblick auf die Tüchtigkeit unserer Freunde; und zwar schon deshalb, weil das Tun und Treiben unserer Freunde für uns viel besser zu sehen ist als unser eigenes Tätigkeitsein. Zum anderen aber auch deshalb, weil es uns sogar noch größere Freude bereitet, wenn wir unsere Freunde bei der Ausübung einer gelingenden Tätigkeit beobachten können. Denn auf diese Weise kann man die sich dabei ergebende Lust zusammen erleben. Daher fühlt man sich auch mit einem Freund so sehr verbunden: »Wenn nun das Glücklichsein im Leben und Tätigsein besteht und die Tätigkeit des Guten, wie zu Anfang gesagt wurde, gut und als solche angenehm ist; wenn weiter das Eigene (oikeion) zum Angenehmen gehört; wenn wir ferner unsere Nächsten eher betrachten können als uns selbst und ihre Handlungen eher als unsere eigenen; und wenn die Handlungen guter Menschen, die ihre Freunde sind, für Gute angenehm sind (denn diese haben beide Merkmale des von Natur aus Angenehmen): dann wird folglich der Glückselige solcher Freunde bedürfen, da er ja bevorzugt gute und eigene Handlungen zu betrachten wünscht, so beschaffen aber die Handlungen des Guten sind, der ein Freund ist.« (Aristoteles: NE, IX, 9, 1169b 30 – 1170a 4. S. 302.)



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soll ich eigentlich noch mit dem Diskuswerfen weitermachen ?‹ Alexander denkt kurz darüber nach und antwortet dann wie folgt: ›…‹.

 Bitte übernehmen Sie den Part von Alexander und beantworten Sie Roberts Frage schriftlich in ein paar Sätzen ! Sie dürfen Robert gern ein paar Lebenstipps mit auf den Weg geben, die Sie von Aristoteles gelernt haben. In den Lebenstipps für Robert manifestiert sich das Verständnis der Schüler, das Sie bisher von der aristotelischen Glückslehre gewonnen haben. Ein Aspekt ist dabei sehr wichtig, den auch Robert übersehen hat und auf den die Schüler ihn nun in ihrer Rolle hinweisen sollen. Es ist nämlich so, dass sich das Glück nie direkt, sondern immer nur indirekt intendieren lässt.202 Roberts Glücksstreben ist also verfehlt, wenn er es sich z. B. zum Ziel macht, beim Diskuswerfen Erfolg zu haben und viele Trophäen zu gewinnen. Er würde dann das Glück nur an den Erfolg binden, den er im Sport erreicht, und damit das, wonach er eigentlich strebt, verfehlen. Sein Ziel, das Glück wiederzufinden, kann Robert als guter Sportler ergo nur dann erreichen, wenn ihm klar wird, dass es die Tätigkeit des Diskuswerfens selbst ist, die er anstreben muss, möglichst gut auszuüben und so in ihr aufzugehen. Gelingt ihm das, dann wird ihm die Lust quasi gratis dazu geschenkt, als ein köstliches Nebenprodukt der gelingenden Tätigkeit. Ein Mensch, der das Gute, Schöne und Angenehme daran bemerkt und danach handelt, »bedarf also nicht zusätzlich der Lust wie eines schmückenden Umhangs […].« 203 Dieser kluge Hinweis der indirekten Zuarbeit ist für Aristoteles ein wesentlicher Schlüssel für ein lustvolles und glückliches Leben.

2.4 Vierte Unterrichtseinheit: Die Anstrengungen bei der Entwicklung der ethischen Tüchtigkeit Der Lehrer kann zu Beginn einen kurzen Rückblick auf die vergangenen drei Unterrichtseinheiten werfen. Er sollte noch einmal festhalten, dass der Mensch nach Aristoteles ein zōon politikon ist, sprich ein Gemeinschaftswesen, das auf die Bewunderung und Anerkennung seiner Mitbürger angewiesen ist, damit er seine menschli

202



203

Welsch hat das Prinzip des Indirekten im Rahmen der aristotelischen Lustkonzeption sehr deutlich herausgearbeitet und die pragmatische Lebensdevise, die aus diesem Lehrsatz folgt, völlig zutreffend auf den Punkt gebracht: »Es sei aber wenigstens auf einen der daraus sich ergebenden Hauptsätze, auf den ersten Satz einer entsprechenden Aristotelischen Lust-Pragmatik hingewiesen, der da besagt, daß man nie die Lust als solche zum Gegenstand machen, nie direkt sie anzielen darf, daß solches vielmehr genau die sicherste Art ist, sie zu verfehlen, indem sie wesensmäßig ἐπιγινόμενόν τι τἐλος ist, nur von gelingender ἐνέϱγεια her aufgeht und aufgehen kann, so daß man also diese, das Gelingen der Tätigkeit, zum Ziel sich nehmen und ihr zuarbeiten muß – die Lust wird einem in diesem Gelingen und ob seiner dann schon geschenkt und wie von selbst zuteil (und anders denn als solcherart geschenkte gibt sie sich, auf welcher Ebene auch immer, nie).« (Wolfgang Welsch: Aisthesis. Grundzüge und Perspektiven der Aris­ totelischen Sinneslehre, S. 419.) Aristoteles: NE, I, 9, 1099a 15. S. 60.

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Kapitel 2

chen Fähigkeiten adäquat entwickeln kann. Der Fokus im Unterricht lag neben der Unterscheidung zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform vor allem auf der spezifisch menschlichen Tüchtigkeit, allen voran auf der sportlichen, musischen, handwerklichen und dianoetischen Tüchtigkeit; die ethische Tüchtigkeit hat also bisher deutlich weniger eine Rolle gespielt. Darum soll es im nächsten Akt des Lehrstücks gehen. Die Eröffnung des Unterrichts erfolgt selbstverständlich nicht durch einen Lehrervortrag, bei dem die Schüler vorab darüber informiert werden, was sie in den nächsten vier Stunden lernen werden. Der Lehrer beginnt also nicht mit einer Zielangabe, die die Schüler vermeintlich motiviert und die zum Beispiel so aussehen könnte:204 »Wir werden uns heute damit beschäftigen, welche Anstrengungen Menschen aufbringen müssen, wenn sie ethisch vortrefflich handeln wollen. Und wir wollen auch klären, welche Bedingungen gewährleistet sein müssen, damit ein Mensch zu einem ethisch tüchtigen Bürger heranwachsen kann. All das ist ja auch für uns selbst sehr interessant, denn wir wollen doch auch wissen, wie wir selbst zu einem guten Menschen werden können.« Nach der Logik einiger Bildungswissenschaftler ist diese Zielangabe nicht nur unbedingt nötig, weil eine zielführende Lenkung des geplanten Lernprozesses anders nicht möglich ist, sondern darüber hinaus auch eine motivierende Maßnahme. Diese Annahme stützt sich auf das simple Argument, dass die Schüler danach darauf gespannt sein werden, zu erfahren, was genau es mit der ethischen Tüchtigkeit auf sich hat und was genau daran eigentlich so anstrengend sein soll. 205 Nach den



204



205

Klaus Prange: Bauformen des Unterrichts. Eine Didaktik für Lehrer. Bad Heilbrunn/Obb. 1986 [2. Auflage], S. 121 ff. Prange beschreibt hier sehr treffend, wie und warum ein Unterricht nach dem »kognitiv-humanistischen Modell« mit einer klaren Zielangabe beginnt. Diese soll »gleichsam kathartisch und konzentrierend […] wirken; kathartisch, indem die hemmenden und ablenkenden Vorstellungen abserviert werden, konzentrierend insofern, als förderliche Vorstellungen, die in der vorgeplanten Richtung liegen, verstärkt werden.« (Klaus Prange: Bauformen des Unterrichts. Eine Didaktik für Lehrer, S. 123.) Die Zielangabe ist auch heute noch ein beliebtes Stilmittel, um ohne unnötige Umschweife in den Unterricht einzusteigen. Allen voran der sogenannte »informierende Unterrichtseinstieg« erfreut sich großer Beliebtheit und wird den jungen Lehrern als »Rezept« mit auf den Weg gegeben. (Vgl. Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht ? Berlin 2004 [2. Auflage], S. 36. Vgl. Jochen Grell/Monika Grell: Unterrichtsrezepte. Weinheim und Basel 2007. Kapitel 5, S. 134–171.) Ich spiele hier ein Spiel mit einem bestimmten Stereotyp von Unterrichtseinstieg. Denn so sieht sehr häufig ein klassischer Unterrichtseinstieg nach den Prinzipien der Schulpädagogik aus. Es geht mir an dieser Stelle nicht darum, diese Form des Unterrichtens auszuschließen, sondern darum, ein Problem zu verdeutlichen, dass daraus entspringen kann. Denn hinter der Idee der Zielangabe steckt eine Psychologie, die davon ausgeht, dass »transparente Lernziele […] emotional beruhigend wirken […]« und so »auch das Interesse und die Lernfreude der Lernenden positiv beeinflusst« wird. (Michaela Gläser-Zikuda/Stefan Fuß: »Lehrerkompetenzen und Schüleremotionen: Wie nehmen Lernende ihre Lehrkräfte emotional wahr ?« In: Michaela GläserZikuda/Jürgen Seifried (Hrsg.): Lehrerexpertise. Analyse und Bedeutung unterrichtlichen Handelns. Münster 2008, S. 113–142, hier S.119.) Ich werde in dieser Unterrichtseinheit für eine alternative Inszenierungsform werben, bei der der Schüler zu Beginn des Unterrichts nicht weiß,



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Regeln der Lehrstückdidaktik darf und soll der Lehrer ganz anders einsteigen, etwa mit dem folgenden Auftrag:

 Stellen Sie sich einen besonders guten Sportlehrer vor, der unglaublich sportlich und zudem sehr tüchtig auf seinem Gebiet ist. Zugleich bekommen Sie zu sehen, wie er durch seinen abfälligen Blick einen dicken Jungen bei einer missglückten Rolle vorwärts verachtet. Plötzlich und unerwartet taucht ein unansehnlicher, etwas untersetzter Mathematiklehrer auf, der spontan dem dicken Jungen bei der Rolle vorwärts hilft.

 Wen schätzen Sie mehr, den Sport- oder den Mathematiklehrer ? Begründen Sie ihr Urteil kurz schriftlich. Der Lehrer hält die intuitiven Urteile der Schüler an der Tafel fest. Dabei sind die Schüler aufgefordert, die beiden Lehrer einerseits hinsichtlich ihrer Fähigkeiten, also ihrer sportlichen und mathematischen Fähigkeiten, und andererseits hinsichtlich ihres Verhaltens in der Situation zu beurteilen und ihr Urteil zu begründen. Ein Urteil zu fällen, fällt den Schülern nicht schwer, weil sie gerade mit Blick auf diese Situation ein Urteilsvermögen haben, das sie durch die Inszenierung ins Spiel bringen können. Deshalb positionieren sich die Schüler hinsichtlich der Fähigkeiten und des Verhaltens der beiden Lehrer auch recht schnell. Der Sportlehrer kommt dabei in der Regel nicht gut weg: Er sei zwar gut im Sport, aber als Pädagoge völlig ungeeignet. Als Pädagoge viel besser und kompetenter ist in ihren Augen der Mathematiklehrer, weil er es schafft, sich in die schwierige Lage des dicken Jungen hineinzuversetzen und ihm bei der Rolle vorwärts zu helfen. Die Schüler malen sich die Situation erfahrungsgemäß gerne weiter aus, wobei sie oft auch auf Klischees zurückgreifen und eine Karikatur zeichnen: Das Bild eines Sportlehrers, der nur seinen Sport im Kopf und nur Augen für diejenigen Schüler hat, die wie er selbst gute Sportler sind. Mit solchen Klischees kann man als Lehrer im Unterricht gewinnbringend arbeiten; nicht nur, weil an ihnen oft etwas dran ist, sondern vor allem, weil sie wie in diesem Fall für eine bestimmte begriffliche Differenzierung zweckdienlich sind (hier die von sportlicher und ethischer Tüchtigkeit). Denn den Sportlehrer kann man selbstverständlich für seine sportliche Tüchtigkeit bewundern. Und die Schüler geben auf Nachfrage auch gern zu, dass sie sich einen Sportlehrer wünschen, der selbst sportlich ist bzw. in seiner Disziplin vortreffliche Leistungen erbringt. Der Lehrer kann daran anschließend ein paar Aufgaben stellen, durch die die Aufmerksamkeit der Schüler nochmals auf den Mathematiklehrer gelenkt wird:

wohin die Reise geht. Das bedeutet aber keineswegs, dass der Lehrer im Rahmen der Lehrstückdidaktik keinen ›Plan‹ hat und keine Ziele, die er gemeinsam mit den Schülern erreichen will.

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 orin besteht der Unterschied zwischen dem Sport- und dem Mathematik­  1. W

lehrer ? 2. K  önnen wir den Mathematiklehrer in der Situation auch für etwas bewundern ? 3. Wie wollen wir sein Verhalten nennen ?

Die Schüler weisen dann darauf hin, dass man den Mathematiklehrer eben für etwas anderes bewundern könne als den Sportlehrer. Außerdem müsse ein Lehrer nicht allein und ausschließlich tüchtig sein in seiner Disziplin wie z. B. der Sportlehrer im Sport, sondern er brauche auch noch andere Tugenden, um ein wirklich guter Pädagoge zu sein. Entscheidend ist, dass die Schüler bemerken, dass es sich beim Verhalten des Mathematiklehrers um eine andere Art von Tüchtigkeit handelt und dass wir auch diese Art von Tüchtigkeit von einem guten Lehrer erwarten. Wie auch immer die Schüler diese Art von Tüchtigkeit beim Mathematiklehrer benennen mögen – wichtig ist nur, dass sie ihre Worte im Hinblick auf die Handlungsweise wählen, die sie gemeinsam betrachten. Denn dann haben ihre Begriffsbestimmungen einen phänomenalen Bezug: Für sie ist etwas sinnfällig und deutlich, und für diese Auffälligkeit lassen sie einen selbstgewählten Ausdruck einspringen, auf den sie im weiteren Fortgang des Gesprächs jederzeit zurückkommen können. Bei der Qualifikation des Mathematiklehrers handelt es sich nach den Begriffen des Aristoteles selbstverständlich um eine ethische Tugend, die er kategorial von den anderen Arten menschlicher Tüchtigkeit unterscheidet. Es folgt nun eine Erweiterung der Ausgangsszene:

 Fred, der beste Sportler der Klasse, bemerkt, dass der tonangebende Teil der Klasse sich freut, weil der dicke Junge sich bei der Rolle vorwärts blamiert. Dem dicken Jungen missglückt die Rolle vorwärts immer wieder. Nach angespanntem Zögern entschließt sich Fred plötzlich, dem Jungen beizustehen und zu helfen. Später im Gespräch mit der netten Frieda seufzt er: »Das ist mir echt schwergefallen !«

 Erklären Sie jemandem, der das nicht versteht, um welche Art von Anstrengung es sich handelt. Malen Sie sich Freds Situation in der Klasse aus und machen Sie sich dazu ein paar Notizen. Die Schüler malen sich seine Situation zumeist sehr facettenreich aus, denn es handelt sich schließlich um eine Situation, die die meisten Schüler (vom Typ her) aus ihrem Schulalltag kennen. Es stellt sich schnell heraus, dass Fred durch seine Hilfsbereitschaft sein Ansehen in der Klasse aufs Spiel setzt. Er hat die berechtigte Angst, dieses Ansehen zu verlieren, weil er sich gegen das geltende (Bewunderungs-)Prinzip der Klasse stellt. Die Hilfsbereitschaft gegenüber dem dicken Jungen fällt ihm also vor allem deshalb so schwer, weil er sich damit für etwas einsetzt, was er für ethisch wertvoll hält, das aber nach den Maßstäben der oberflächlich urteilenden Klassengemeinschaft nicht als Wert anerkannt wird.



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Das ist der Zwiespalt, in den Fred gerät, und an dem es liegt, dass es ihm so schwerfällt, sich gegen den tonangebenden Teil der Klasse zu behaupten. Demnach ist es auch sehr wahrscheinlich, dass Fred für seine hilfsbereite Tat nicht die Bewunderung erhält, die er normalerweise als ›Supersportler‹ in der Klasse besitzt und die er auch gewohnt ist. Indem er sich dem ausgegrenzten, dicken und damit benachteiligten Jungen zuwendet und ihm bei der Rolle vorwärts hilft, nimmt er in Kauf, selbst von der Klasse ausgegrenzt oder zumindest weniger hochgeschätzt zu werden. Davor hat Fred Angst. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang erstens, dass die Schüler Freds Zwiespalt zwischen der anerkennenden Bewunderung für seine sportliche Tüchtigkeit und der fehlenden Wertschätzung für seine ethische Tüchtigkeit aufdecken. Und zweitens, dass sich bei ihnen ein erstes Verständnis für die genuin ethische Anstrengungsbereitschaft entwickelt, die hier darin besteht, sich den geltenden Wertmaßstäben der Klasse zu widersetzen. Die Schüler erhalten als Nächstes den folgenden Auftrag:

 Erstellen Sie in Partnerarbeit ein Modell, Diagramm oder Schaubild, das die Kräfte veranschaulicht, die im Inneren von Fred wirken ! Erklären Sie anschließend ihr Modell vor der Klasse. Die Schüler sind nun aufgefordert, ein Schaubild von Freds Innenleben in der Situation zu entwerfen. Dabei sind sie gezwungen, ihre Ansichten graphisch und sprachlich zur Darstellung zu bringen. In den Schaubildern stellen die Schüler durch die Verwendung von unterschiedlichen symbolischen Formen die einzelnen Faktoren dar, von denen sie meinen, dass sie Freds Entscheidungsprozess maßgeblich beeinflussen. Hierbei kommt es immer zu einer Gewichtung der Kräfte, etwa durch die Zeichnung einer Waage oder eines Taus oder durch andere Symbole, die jeweils die Kräfteverhältnisse und Spannungen in Freds Seele veranschaulichen. Zudem verwenden die Schüler Metaphern wie »Zugzwang«, »Gruppenzwang«; manchmal ist auch von kleinen und großen »Zügen« und »Gewichten« die Rede oder es wird davon gesprochen, dass Fred sich »zerrissen« fühle, weil die unterschiedlichen Kräfte an ihm zerren. Daraus kann sich für die Schüler ein erstes Problem ergeben. Denn wenn Fred selbst und seine Taten bloß das Ergebnis eines Kräftespiels sein sollen, dann würde ihm doch eindeutig die Eigenständigkeit und Selbstbestimmung fehlen, die er eigentlich benötigt, wenn er sich dem tonangebenden Teil der Klasse und damit den geltenden Wertmaßstäben widersetzen will. Um in der Situation das einzig Richtige zu tun und dem benachteiligten dicken Jungen zu helfen, muss sich Fred also in irgendeiner Weise selbst überwinden. Er muss einen ethischen Willen ausbilden, der zumindest so eigenständig ist, dass er sich gegenüber den geltenden Wertmaßstäben behaupten kann. Die damit verbundene Anstrengung kommt so denn auch fast immer in irgendeiner Weise in den graphischen und sprachlichen Darstellungen zum Vorschein. Der Lehrer sollte die Schüler dazu ermuntern, phantasievoll mit diesen Darstellungsmöglichkeiten zu spielen, und darauf bauen, dass sie Freds Situation auf diese

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Kapitel 2

Weise noch leichter und besser als allein durch Erklärungen ausleuchten können. Dabei ergeben sich oft neue Fragen, die den Dialog206 vorantreiben und die so zur Aufdeckung weiterer Aspekte führen können. In der Regel spielen dabei zwei Fragen eine wesentliche Rolle: erstens die, wie es eigentlich kommt, dass es Fred so schwerfällt, dem dicken Jungen zu helfen; und zweitens die, was Fred durch seine gute Tat in der Klasse bewirkt und überhaupt bewirken kann. Besonders die erste Frage ist zentral für die Erschließung der aristotelischen Ethik, weil sie den Fokus nicht nur darauf richtet, dass der Mensch sich anstrengen muss, um ein guter Mensch zu werden, sondern auch darauf, dass gewisse Sozialisationsbedingungen gewährleistet sein müssen, damit der Mensch in der Gemeinschaft eine moralisch reife Persönlichkeit werden kann. Die Schüler kommen dabei ganz selbstverständlich auf das soziale Umfeld zu sprechen, in dem Fred aufgewachsen ist. Sie loten dann aus, unter welchen Bedingungen es ihm möglicherweise leichter fiele, dem dicken Jungen zu helfen (darauf wird später noch genauer eingegangen.). Manchmal kommt in diesem Zusammenhang bereits der Aspekt der Gewöhnung zur Sprache, wenn die Schüler geltend machen, dass Fred vermutlich nicht daran gewöhnt ist, ethisch zu handeln. Wäre er in einer Gemeinschaft groß geworden, die darauf mehr Wert legt (bzw. in der es einfach gewöhnlich ist, ethisch das Richtige zu tun), würde es ihm in der konkreten Situation sehr wahrscheinlich auch leichter fallen. Auf der anderen Seite muss Fred aus der Sicht der Schüler dennoch auch in der Gemeinschaft, in der er tatsächlich aufgewachsen ist, Erfahrungen gemacht haben, die ihn dazu bewegen, dem hilfsbedürftigen Jungen zur Seite zu springen: zum Beispiel in der ethischen Praxis seines Sportvereins. Das bedeutet, dass die ethische Tüchtigkeit Freds auch nach dem Verständnis der Schüler nicht auf eine geheimnisvolle Weise vom Himmel gefallen, sondern aus einer realen Praxis erwachsen ist. Die Schüler, die so weit kommen, beschäftigen sich oft auch mit der zweiten Frage, ob Freds gute Tat die ethische Praxis der Klasse verändert. Das ist ein Pro­ blem, das sie offenbar deshalb brennend interessiert, weil sie, ohne sich dies einzugestehen, den Wunsch verspüren, in ihrer eigenen Klasse ein höheres ethisches Niveau zu erreichen. Wenn dem nachgegangen wird, kann das zu weiteren spannenden Fragen führen:

Vgl. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer, S. 106. Hachmöller führt für eine ganz bestimmte Form des sokratischen Dialogs den Begriff des »Peri­ logs« ein. Es kommt hier vor allem darauf an, dass die Schüler zu einer »gemeinsamen Nachschau« bewegt werden. Mit Blick auf die dargestellte Unterrichtssituation bedeutet das, dass sie gemeinsam nachschauen, was sich ihnen in den Schaubildern und den damit verbundenen sprachlichen Darstellungen zeigt, und ob das, was sich da für sie zeigt, vielversprechend und richtig ausgedrückt ist. Anders lässt sich aus der Sicht von Sokrates nämlich nicht prüfen, ob eine Aussage als richtig oder falsch einzuschätzen ist: »Aber lasst uns jetzt gemeinsam nachschauen, ob es sich um ein wohl ausgetragenes und gutes Gedeihen versprechendes Kind oder um eine Scheingeburt handelt.« (Ebd.) Ich werde im didaktischen Kommentar zur fünften Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.5.1) genauer auf die unterschiedlichen Formen des sokratischen Gesprächs eingehen.

206



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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– Ist es wirklich richtig von Fred, den Mut aufzubringen und dem dicken Jungen zu helfen, obwohl das bedeuten kann, dass sein Ansehen im sozialen Klassengefüge sinkt ? – Lohnt sich die erhebliche ethische Anstrengung überhaupt, wenn sich dadurch möglicherweise sowieso nichts an den bestehenden Wertmaßstäben in der Klasse verändert ? – Oder hat Freds gute Tat vielleicht die Kraft, nachhaltig einen neuen ethischen Wertmaßstab in der Klasse zu etablieren ? All diese Fragen berühren wiederum wesentliche Aspekte der aristotelischen sowie der allgemeinen Ethik. Wie der Lehrer sie aufgreift und was genau an dieser Stelle des Unterrichts vertieft werden soll, hängt maßgeblich von den Interessen der Schüler und der Eigendynamik des Gesprächs ab. Es ist auch gar nicht so entscheidend, welche der einzelnen Fragen in den Vordergrund gerückt wird; das hier vorgestellte Lehrstück ist als »improvisiertes Mitspielstück« 207 konzipiert, das den Lehrer dazu ermutigen soll, durch die Variation der Konstellationen neue Perspektiven für die Vertiefung des Verständnisses zu eröffnen. Für den Zeitgenossen ist die aristotelische Denkweise ungewöhnlich und oft nicht einleuchtend. Denn wir setzen zumeist voraus, dass ein selbstbewusstes und vernunftgeleitetes Subjekt in der Freiheit des ethischen Handelns die gesellschaftlichen Konventionen und Maßstäbe reflektiert, kritisch hinterfragt und sich gegebenenfalls über sie erhebt. Fred handelt – so würde man dann behaupten können – genau genommen erst dann ethisch im vollen Sinne, wenn er die bestehenden Wertmaßstäbe der Klasse durch den Gebrauch seiner ihn auszeichnenden autonomen Vernunft überschreitet. Die Schüler, die so argumentieren, verlassen das Feld der aristotelischen Ethik. Diese Grenzüberschreitung ist selbstverständlich erwünscht. Sie müssen dabei aber so angeleitet werden, dass sie die grundlegende Differenz zwischen der aristotelischen und der modernen Ethik selbst entdecken und erklären können. Aufgeweckte Schüler können die Differenz auch mit theatralischen Mitteln darstellen und winzige Dramen erfinden, in denen Fred das eine Mal als zerrissener Held mit dem Pathos des Schiller’schen Helden agiert und spricht und sich besiegt, das andere Mal aber als ein unauffälliger Held, der sich zwar ebenfalls überwinden muss, der aber von der Anstrengung und Anspannung, die dazu nötig ist, nicht viel Aufhebens macht. Dass es sich bei der ethischen Tugend um eine Tüchtigkeit handelt, die Fred wie die Rolle vorwärts einüben und trainieren muss, wird noch klarer werden, wenn er in der nächsten Szene auf die bewundernswerte Frieda trifft. Doch zuvor kann der Lehrer (falls eine Phase der Verschriftlichung an dieser Stelle angezeigt und nötig ist) den zurückgelegten Gedankenschritt durch die folgende schriftliche Aufgabe abschließen:

Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 379.

207

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Kapitel 2

 Kommentieren Sie in ein paar kurzen und prägnanten Sätzen das folgende Fazit: »Hierin liegt auch der Grund, warum es eine schwierige Aufgabe ist, gut zu sein.«208 In Ihrem Kommentar können Sie sich zum Zwecke der Veranschaulichung entweder direkt auf Fred beziehen oder sich selbst ein neues Beispiel überlegen, an dem Sie Ihren Mitschülern den Gedanken des Aristoteles verständlich machen können.



Damit sollen die Schüler dazu animiert werden, die Kernpunkte mit ihren eigenen sprachlichen Mitteln angemessen darzustellen. Es folgt nun die oben angekündigte kleine Abwandlung der Szene, bei der Fred zum Beobachter wird:

 Fred beobachtet die nette Frieda, die ebenfalls eine Spitzensportlerin ist, in einer vergleichbaren Situation. Später trifft er sie im Café und erklärt ihr mitfühlend und bewundernd: »Echt toll, wie du das geschafft hast !« Frieda antwortet ihm daraufhin: »Das ist mir leichtgefallen.« Dabei ist sie wirklich aufrichtig. Die Schüler bekommen zu der abgewandelten Szene die folgenden beiden Arbeitsaufträge:  orin unterscheiden sich Fred und Frieda ? Fassen Sie den wesentlichen Unter 1. W schied in ein paar prägnanten Sätzen zusammen ! 2. E  ntwickeln Sie in Partnerarbeit ein Modell oder modifizieren Sie das ursprüngliche Schaubild zu Fred, sodass der entsprechende Unterschied deutlich wird.



In der abgewandelten Szene erscheint nicht viel Neues. Fred und Frieda sind beide sportlich tüchtig. Frieda fällt es nur leichter, anderen Menschen in vergleichbaren Situationen zu helfen. Wie lässt sich dieser Unterschied erklären ? Die Schüler sind also durch die erste Aufgabe gezwungen, ihren Blick erneut auf die möglichen Entstehungsbedingungen der ethischen Tüchtigkeit zu lenken. Dazu müssen sie ihre Gedanken ordnen, indem sie den wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Charakteren in ein paar prägnanten Sätzen zum Ausdruck bringen. Das Spektrum der Antworten kann sehr breit sein. Im Zentrum steht jedoch stets Friedas Leichtigkeit in der Ausübung der ethischen Tüchtigkeit im Gegensatz zu Freds großer Kraftanstrengung und Selbstüberwindung. Diese Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit bei der Ausübung einer ethisch vortrefflichen Handlungsweise bewundert Fred an Frieda, und zwar vor allem deshalb, weil es ihm selbst überhaupt nicht leichtfällt, in solchen Situationen das ethisch Geforderte zu tun. Ergo muss Frieda es viel stärker als Fred gewohnt sein, anderen Menschen zu helfen, wenn sie Hilfe bedürfen. Sie fühlt sich in der Situation sehr wahrscheinlich auch gar nicht wie Fred

208

Aristoteles: NE, II, 9, 1109a 24. S. 92.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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innerlich ›zerrissen‹, weil sie offenbar einen festen Charakter ausgebildet hat, der sich in ihrer ethisch vortrefflichen Handlungsweise zeigt. In der Regel loten die Schüler durch die gemeinsame Betrachtung der Schaubilder die Entstehungsbedingungen von Friedas festem Charakter weiter aus und vergleichen diese mit ihren Überlegungen zu Fred. Dabei stellt sich die zentrale Frage, wie Frieda zu ›der‹ Frieda geworden ist, die sagen kann: »Das ist mir leichtgefallen.« In diesem Zusammenhang sind die Schüler sprachlich schöpferisch tätig, insofern sie bei der Darstellung der Schaubilder auch in sprachlicher Hinsicht Bilder kreieren, die die Herkunft von Friedas vortrefflichen Charakterzügen genauer umschreiben. Das kann dann zum Beispiel so aussehen: Frieda lebt schon von Kindheitstagen an in »Tugendhausen«. 209 Es geht dabei natürlich um einen Ort, in dem sich die meisten Bewohner ethisch vortrefflich benehmen. So habe Frieda schon früh die Erfahrung machen können, dass es völlig normal ist, wenn man anderen – und insbesondere schwächeren – Menschen hilft. Außerdem habe sie in vielen vergleichbaren Situationen bereits richtig gehandelt, sodass sie die entsprechende Übung beim Vollzug der ethisch geforderten Handlungsweisen besitzt. Bei ihr sei das so sehr in Fleisch und Blut übergegangen, dass sie gar nicht lange überlegen müsse, sondern intuitiv wisse, was in der Situation mit dem dicken Jungen zu tun sei. Daraus ergeben sich eine Reihe von Anschlussfragen; etwa die, ob es in Tugendhausen möglich sei, dass Frieda ihre ethische Tüchtigkeit wieder verliert. Oder im Anschluss auch die, ob es überhaupt erstrebenswert sei, in Tugendhausen zu bleiben, wenn man sich dort doch die ganze Zeit bei der Pflege der traditionellen Tugenden anstrengen müsse und nicht ›sein eigenes Ding‹ machen könne. Die erste Frage zwingt die Schüler dazu, sich das Schaubild weiter auszumalen. Das »Tugendhaus«, in dem Frieda in Tugendhausen lebt, könne im Laufe der Zeit sanierungsbedürftig sein. Frieda kann also ihre erworbene ethische Tüchtigkeit auch wieder verlieren, zum Beispiel dann, wenn sie nicht in Übung bleibe und sich selbst bzw. das Tugendhaus, in dem sie bisher gelebt hat, verkommen lässt. Die charakterliche Disposition sei niemals so fest ›zementiert‹, dass sie nicht zurück in ein lasterhaftes Leben verfallen könnte. Das bedeutet auch, dass Frieda sich nie auf den Erfolgen ausruhen könne, sondern in ethisch relevanten Situationen stets aufs Neue aufgefordert sei, sich zu bewähren. Genau dieser trainingsbezogene Leistungsaspekt der aristotelischen Ethik missfällt vielen Schülern, s­ odass sich die zweite Frage in irgendeiner Weise auftut: Warum soll »ich« überhaupt in Tugendhausen bleiben, wenn ich dort die ganze Zeit »an meinem eigenen Haus und/oder an den Häusern von anderen Bewohnern arbeiten muss ? Ist es nicht viel besser, wenn ich mir ein anderes Plätzchen auf der Welt mit geringeren Ansprüchen suche ?« In diesem Zusammenhang wird zwar gelegentlich traditionalistisch argumentiert und erwidert, das Erbe müsse gepflegt und erhalten werden. Doch dieses konservative und nicht ganz unaristotelische

209

Die Wortschöpfung »Tugendhausen« sowie die damit erfundene Lebensgeschichte von Frieda ergab sich aus einer Gruppenarbeit von Studenten in meinem Seminar »Die Nikomachische Ethik des Aristoteles« im Wintersemester 2013/2014.

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Kapitel 2

Argument wird in der Regel nur von wenigen Schülern akzeptiert und provoziert zu Recht den Hinweis auf die Fragwürdigkeit einer Ethik, die auf die blinde Übernahme überlieferter Wertvorstellungen zielt. Gehen die Schüler auf diesen Einwand ein, wird offenbar, dass »Frieda« nur dann unseren Respekt verdient, wenn ihr die Gründe für die tradierte ethische Praxis, in die sie sich bereitwillig einfügt, auch einleuchten, und zwar so weit, dass sie den eigenen Zweifeln nicht bequem ausweicht, sondern sie zum Anlass für eine kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit den Regeln nimmt, die einzuhalten ihr nur wenig schwerfällt. Gelingt es den Schülern, das, was sie in dieser Hinsicht finden, in einer für alle verständlichen Form darzustellen, wird diese Darstellung deutlich machen, dass »Frieda« selbstverständlich die Möglichkeit besitzt, ein anderes Leben zu leben: ein Leben, das auf neuen oder veränderten Werten der Eltern aufbaut und somit auch nicht zwingend durch die schmale Gasse der aristotelischen Klugheitslehre (die bis hierhin vor allem eine Gewöhnungslehre ist) passen muss. Soviel sollte den Schülern in etwa klar sein, bevor sie den Text von Aristoteles zum Entstehungsprozess der Tugenden mit den folgenden beiden Aufgabenstellungen erhalten:210

 Lesen Sie den Text und beantworten Sie die beiden Fragen mit Blick auf die Tugendentwicklung bei Frieda: 1. Wie wird man eine ethisch tüchtige Persönlichkeit ? 2. Worauf kommt es in diesem Zusammenhang besonders an ? Schreiben Sie dazu in ein paar Sätzen ihre Gedanken auf !



Da die Schüler die im Text angesprochenen Aspekte im Wesentlichen bereits am Beispiel von »Frieda« durchdacht haben, sollten sie die beiden Fragen auch leicht beantworten können. Wichtig für das Verständnis des Textes ist vor allem, dass Aristoteles die Entwicklung der Tugenden als einen Gewöhnungsprozess innerhalb einer Gemeinschaft versteht. Ob dieser Prozess erfolgreich beim einzelnen Bürger vonstattengegangen ist, kann man an der Güte seiner Handlungsweisen erkennen. Bei »Frieda« ist der ethische Entwicklungsprozess insgesamt geglückt. Das liegt zum einen daran, dass sie in Tugendhausen groß geworden ist. Zum anderen lebt »Frieda« in ethischer Hinsicht ein Leben wie ein Sportler, denn sie geht regelmäßig einer Tätigkeit nach und übt diese solange ein, bis sie darin ein vortreffliches Niveau erreicht. In ethischer Hinsicht befindet sie sich also in einem optimalen Trainingszustand, sodass es ihr in der Situation mit dem dicken Jungen leichtfällt, das ethisch Richtige zu tun. Der Verweis auf den Sport macht außerdem deutlich, dass alle Formen der Tüchtigkeit, auch die ethische, vom Menschen entwickelt werden müssen. Kein Mensch bekommt sie einfach von der Natur geschenkt. Frieda hat die ethische Tüchtigkeit soweit entfaltet, dass sie sich damit in der Gemeinschaft der Klasse hervortun kann und von Fred dafür lobende Anerkennung erhält.

210

Siehe Anhang: 4.1.4. Aristoteles: Der Entstehungsprozess der Tugenden. NE, II, 1, 1103a 32 – b3, 1103b 7 – b25. S. 74 f.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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2.4.1 Didaktischer Kommentar zur vierten Unterrichtseinheit: »Bei der Sache bleiben !«211 – die genetische Methode im Ethikunterricht Ziel dieses Kapitels ist es, die Rolle der genetischen Methode im Rahmen der Lehrstückdidaktik deutlich zu machen und die Unterrichtseinheit zu »Fred und Frieda« in dieser Perspektive zu analysieren. Genetisch ist das methodische Vorgehen im Unterricht dann, wenn die Schüler die wesentlichen Gesichtspunkte einer Sache (in diesem Fall vor allem die Anstrengungen bei der Entwicklung der ethischen Tüchtigkeit) selbst entdecken und wenn sie dazu herausgefordert werden, das von ihnen Entdeckte mit ihren eigenen Mitteln verständlich darzustellen. Dabei sind zwei Arten der Genesis auseinanderzuhalten: die Genese der Sache und die Genese des Wissens beim Schüler. Otto Willmann und Martin Wagenschein, die beiden Hauptvertreter der genetischen Methode, interpretieren das Verhältnis von Sach- und Wissensgenese auf unterschiedliche Weise. Die entscheidende Differenz dieser beiden genetischen Prinzipien soll herausgearbeitet werden, und in diesem Zusammenhang wird sich zeigen, dass das Lehrstück zur aristotelischen Ethik sich vorrangig an der Wagenschein’schen Auslegung der genetischen Methode orientiert.

i)  Exposition: Freds Zögern Zur Rekapitulation: Die Schüler werden in dieser Unterrichtseinheit dazu aufgefordert, sich verschiedene Szenen vor Augen zu führen, die aufeinander aufbauen und die miteinander durch einen Erzählrahmen verbunden sind. Unter anderem auch die Szene, in welcher der Supersportler Fred bemerkt, wie der tonangebende Teil seiner Klasse sich darüber freut, dass sich ein dicker Mitschüler bei einer Rolle vorwärts blamiert. Ihm zu helfen, erklärt er anschließend seiner Mitschülerin Frieda, sei ihm »echt schwergefallen«. Zum Auftakt sollen die Schüler einen kurzen Vortrag halten, in dem Sie einem fiktiven Unwissenden schildern und erklären, was genau Fred in dieser Situation so schwerfällt. Um diesen Auftrag erfüllen zu können, sind sie gezwungen, sich Freds Lage möglichst plastisch vor Augen zu führen bzw. sich in seinen Seelenzustand hineinzuversetzen. Dabei ist davon auszugehen, dass sie eine solche Situation irgendwie und irgendwoher kennen. Weil ihnen seine schwierige Lage bekannt ist, ist auch der Arbeitsauftrag legitim, Freds Seelenzustand in der Situation nachvollziehbar darzustellen. Ausgehend von den wenigen zentralen Merkmalen der Szene müssen sie sich selbst und den anderen in Form des Vortrages eine plausible Geschichte erzählen, die Freds zögerndes Verhalten in der Situation verständlich macht. Im Zentrum der ersten Auseinandersetzung steht dabei stets Freds innerer Zwiespalt: auf der einen Seite die große Angst vor dem Verlust seiner Anerkennung und auf der anderen Seite die ethische (Auf-)Forderung, die Fred ebenfalls in der Situation zu spüren bekommt.



211

Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 110.

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Kapitel 2

Hinter Fred, dem Helden dieser Szene, verbirgt sich ein für die Schüler zunächst noch unsichtbares Gebilde, das sich aber bereits in der bildlichen Umschreibung von Freds innerem Zwiespalt in Ansätzen erkenntlich macht und das somit auch weiter ausgeleuchtet werden kann. Das heißt, die In-Szene-Setzung von Freds Handeln führt in den Köpfen der Schüler zu einer »imaginären Wirklichkeit« 212 , in der ein Stück ihrer Welt zum Vorschein kommt, das ihre volle Aufmerksamkeit beansprucht, insofern sie es selbst sind, die den Hintergrund des Helden dieser Szene beleuchten. Schon in der Exposition braucht jede Lehrstückeinheit einen Helden, der die Schüler in seinen Bann zieht. Ihre Neugier ist dann geweckt, wenn ihnen dazu Bilder und mit diesen Bildern eigene Erlebnisse in den Sinn kommen. Dieser expositorische Auftakt ist für Wagenschein eine notwendige Voraussetzung für das Gelingen des genetischen Lehrgangs. 213 Die Exposition ist als ein erstes dramaturgisches Mittel innerhalb des genetischen Lehrgangs zu verstehen, ohne dass das Thema sich nicht »zünden« lässt. 214 Entscheidend ist das, was die Schüler beim Anblick der angedeuteten Szenen imaginieren: die Bilder, mit denen das, was sie selbst als eine ethische Anstrengung oder Zerrissenheit erlebt haben, fassbar und darstellbar wird. Berg und Schulze haben auf den inneren Zusammenhang von genetischem Lehren und der dramaturgischen Arbeitsweise hingewiesen. 215 Im vorgeführten Lehrstück agiert der Lehrer tatsächlich als ein Dramaturg und ein Bühnenbildner, weil er es ist, der die beiden Figuren Fred und Frieda im Unterrichtstheater auftreten lässt. Und wie im Theater wird bereits in der Exposition für das Aufscheinen einer imaginären Wirklichkeit gesorgt, die in der weiteren genetisch-dramaturgischen Abfolge der Szenen nicht verschwindet, sondern nach den Plänen des Dramaturgen zur Verdeutlichung neuer Aspekte abgewandelt wird. Das bedeutet, dass die Genese der Sache und die Genese der Wissensentwicklung beim Schüler unmittelbar miteinander verknüpft bleiben. Schulze hat das dramaturgische Prinzip der Lehrstückdidaktik wie folgt auf den Punkt gebracht:



212



213



214 215

Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 370 f. »Unterricht erzeugt ebenso wie das Theater eine künstliche, eine imaginäre Wirklichkeit […]. Unterrichten bedeutet In-Szene-Setzen, bedeutet so viel wie Inszenieren.« Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 81 f. Im Ethikunterricht ist der exponierte Held im Lehrstück oft ein handelnder Mensch oder das Zusammenspiel von handelnden Menschen, an dem sich etwas ethisch Relevantes zeigen lässt. Vgl. ebd., S. 81. Vgl. Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 360. »Und für die Lehrkunstdidaktik wird diese Prüffrage (Welche Hilfen dienen dem Lerner zu einer lebendigen und tiefgründigen Welterfahrung und Welterkenntnis ? Hinzugefügt von M. Z.) zur Gestaltungsaufgabe, und an dieser Stelle ruft die genetische Methode die dramaturgische Methode zu Hilfe. Denn nun brauchts neben dem Gespür für die Wachstumskräfte der Lerner auch das Gespür für die Dynamik der Inhalte, neben dem genetischen Takt auch den dramaturgischen Takt.«



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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Das Lehrstück braucht einen Protagonisten, einen Helden. Der Held jedoch ist keine Person, sondern – ja, wie soll ich sagen – ein Phänomen, ein Gebilde, ein Konzept, das wie eine ›Figur‹ im Drama agiert, das eine ›Entwicklung‹ durchläuft, das in eine ›Krise‹ gerät, das am Ende in einer neuen Gestalt aus den Handlungen und Verwicklungen hervorgeht. 216

Auf der Bühne des Unterrichtstheaters erscheint den Betrachtern eine Person. In Freds Denk- und Handlungsweise kommen ethisch relevante Aspekte zum Vorschein, mit denen jeder Mensch und somit auch jeder Schüler vertraut ist. Das ethisch Relevante an der Handlungsweise von Fred kann sich der Schüler aber nur dann verständlich machen, wenn es ihm gelingt, seine eigenen Imaginationen aufzudecken. In dem damit verbundenen Denkprozess kann sich ihm etwas ethisch Relevantes mit Blick auf das menschliche Handeln zeigen: ein ›Gebilde‹ oder eine ›Gestalt‹, die seinen ethischen Blick so verändert und schult, dass man sagen kann, dass er das menschliche Handeln unter dieser Perspektive zu betrachten gelernt hat.

ii) Die Arbeit an den Schaubildern: Ein Vergleich der Charakterentwicklung bei Fred und Frieda. Eine Darstellungsform im Sinne der genetischen Methode Im Anschluss an die Kurzvorträge bekommen die Schüler den Arbeitsauftrag, ein Schaubild/Modell zu entwickeln, das die Kräfte in Freds Seele veranschaulichen soll. Der Auftrag knüpft direkt an die Exposition an, insofern der von den Schülern festgestellte »innere Zwiespalt« nun auf eine andere Weise zur Darstellung gebracht werden muss. Dabei greifen die Schüler von selbst auf die Metapher zurück, die sie vorher für Freds Seelenzustand gefunden haben. Sie sind durch die gewählte Darstellungsform aufgefordert, Freds Zerrissenheit zu visualisieren, zum Beispiel in der Weise, dass sie die in Freds Seele wirkenden Kräfte, also einerseits seinen starken Wunsch nach Anerkennung und andererseits die gesellschaftlichen Wertvorstellungen, die er ebenfalls in der Situation zu spüren bekommt, in Form einer »inneren Waage« zum Ausdruck bringen. 217 Das Symbol der Waage hilft den Schülern zudem, das Verhältnis der Kräfte so zu gewichten, dass daran deutlich werden kann, welche Kraft in der Situation das größere Gewicht besitzt. Worauf es ankommt, ist, dass die Schüler mit der Visualisierung von Freds Seelenzustand zugleich etwas für die Ethik ganz Elementares modellhaft zur Darstellung bringen, nämlich den Befund, dass es in ethisch relevanten Situationen stets unterschiedliche Kräfte oder Wertmaßstäbe gibt, die unser Handeln bestimmen, und dass die im engeren Sinne ethische »Kraft« dabei oft nur eine Kraft unter vielen ist. Aus methodischer Sicht ist noch hinzuzufügen, dass die Schüler durch die Entwicklung der Schaubilder/Modelle veranlasst werden, einen unsichtbaren Sachver

216



217

Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 379. Bei meiner Beschreibung des Lehrstücks beziehe ich mich vor allem auf die Durchführungen mit Studenten im Wintersemester 2015/2016. Die Protokolle zu den Seminarsitzungen haben Christoph Kehl, Sebastian Hundt und Jason Schürz geschrieben. Das Schaubild der »inneren Waage« ist das Ergebnis einer Koproduktion von Robert Nagler und Jason Schürz gewesen.

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Kapitel 2

halt (denn die Kräfte in Freds Seele sind ja nicht zu sehen) in Schaubildern sichtbar zu machen. Die Entwicklung der Schaubilder ist also kein Selbstzweck, weil die Schüler damit die Möglichkeit haben, zu zeigen und somit begreiflich zu machen, was ihnen beim Betrachten und Durchdenken der Szene klargeworden ist. Und weil die Schüler mithilfe der Schaubilder auf die für sie wesentlichen Aspekte verweisen und sich darüber gemeinsam verständigen können, ist dieser Schritt nicht selten der Ausgangspunkt für einen spannenden Dialog. Hier zeigt sich beispielhaft, was für die Lehrstückdidaktik insgesamt gilt: Die Methodenwahl und die damit verbundenen Gestaltungsaufgaben sind niemals losgelöst von der Inhaltserschließung zu betrachten: »In ihr [der Lehrkunstdidaktik, hinzugefügt von M. Z.] sind Inhalt und Handlung wie im Drama in einer Fabel unmittelbar miteinander verbunden. Sie findet die Methode in der inhaltserschließenden Handlung bereits vorgebildet.« 218 In der Fortführung der Szene befindet sich Frieda in einer vergleichbaren Situation. Es gibt nur eine kleine Veränderung. Denn Frieda sagt zu Fred, der sie für ihr Handeln bewundert, Folgendes: »Das ist mir leichtgefallen !« Die beiden Arbeitsaufträge sind darauf angelegt, dass die Schüler die beiden Figuren miteinander vergleichen. Zum einen in der Weise, dass sie in Partnerarbeit den Unterschied zwischen Fred und Frieda wiederum in einem Schaubild deutlich machen sollen; zum anderen bekommen sie den Auftrag, den wesentlichen Unterschied in einer prägnanten These festzuhalten. Bei der Modifikation der Schaubilder sind die Schüler von neuem gezwungen, sich die Frage zu stellen, wie Frieda zu eben der Frieda geworden ist, der es in solchen Situationen so leichtfällt, das Richtige zu tun. Damit achten sie auf die Entstehungsbedingungen eines ethisch wertvollen Charakters. Und sie fragen sich zugleich, welche Gründe es geben kann, dass bei Fred der Entwicklungsprozess anders verlaufen ist. Die Schüler müssen also den ethischen Entwicklungsprozess der beiden Figuren in Bezug zueinander setzen, und sie sind genötigt, den wesentlichen Unterschied in sichtbarer Form zur Darstellung zu bringen. Dabei erzählen sie sich eine Geschichte von Friedas Charakterentwicklung. Sie zeichnen den ethischen Entwicklungsprozess von Frieda nach, den sie in ihrer Phantasie durchspielen, und zwar so, dass er in der Erzählung und in dem dazugehörigen Schaubild erkennbar wird. Die Weiterentwicklung ihrer Gedanken hängt hier vor allem damit zusammen, dass die Schüler es selbst sind, die die Geschichte von Frieda ausgehend von den wenigen Aspekten der Szene weitererzählen. Indem sie den für sie entscheidenden Punkt in ihren Erzählungen und Schaubildern zur Darstellung bringen, nähern sie sich dem Kern der Sache. Das tun sie schon deshalb, weil sie ihre Erzählungen auf ein Ziel hin anlegen müssen, denn sie sind ja gezwungen zu erklären, wie Frieda einen solchen wertvollen Charakter ausbilden konnte. Im selben Zug vergleichen die Schüler ihren Entwicklungsprozess mit Freds Werdegang und zeichnen so auch seine Geschichte nach, die ja offenkundig zu einem anderen Ergebnis geführt hat. All das verdeutlichen sich die Schüler durch ihre Erzählungen und anhand ihrer

218

Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 376. Hervorhebung von M. Z.



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schematischen Darstellungen gegenseitig. Willmann hat im Lexikon der Pädagogik bereits 1913 das zentrale Anliegen der genetischen Methode zusammengefasst. Seine begriffliche Festlegung darf durchaus als didaktischer Kommentar zum methodischen Vorgehen in dieser Unterrichtseinheit gelesen werden: Es gewährt einen größern Reiz, einer Erzählung zu folgen als einer Beschreibung, u. ebenso einer Entwicklung nachzugehen, als eine Begründung aufzufassen; es hat dies seinen Grund darin, daß uns in dem einen Fall der Gegenstand selbst weitertreibt, während im andern nur Zusammenstellungen vorliegen. Noch mehr wird das Interesse erhöht, wenn die Erzählung od. die Entwicklung einem kenntlichen Ziele zugeführt wird, sich also zwischen einem terminus a quo u. einem terminus ad quem bewegt; das ist aber der Fall, wenn die Erzählung das Zustandekommen von Etwas aufzeigt u. die Entwicklung eine bestimmte Erkenntnis begründet. In beiden Fällen verfährt die Darstellung genetisch (v. griech. γίγνᴏμαι = entstehen), weist eine Genesis, d. h. ein Werden und ein Gewordenes nach. 219

Das Lehrstück zielt folglich, so wie es Willmann verlangt, auf eine genetische Verständnisentwicklung. Maßgebend für die methodische Gestaltung ist gleichwohl die Auslegung Wagenscheins, der dem Lehrer empfiehlt, niemals genetisch zu dozieren. 220 Die Schüler sollen also nicht den Erklärungen des Lehrers folgen, sondern den Weg zu den angestrebten Einsichten selbst finden und gehen. 221 Lassen sich die Schüler dazu bewegen, sich interpretierend und wertend zu den Szenen zu äußern, die sie gemeinsam im Blick haben, konstituiert sich eine Gesprächsrunde, deren Teilnehmer auffällig oft zur Verdeutlichung ihres Verständnisses auf ungewöhnliche sprachliche Bilder zurückgreifen. Darauf ist das methodische Arrangement angelegt, weil in dieser Bildlichkeit die Imaginationen und Phantasien der Interpreten zum Vorschein kommen. Etwa dann, wenn sie zu erklären versuchen, was die beiden Schaubilder zu Fred und Frieda zeigen, und dabei Wendungen der folgenden Art bevorzugen: »Frieda besitzt eine gefestigte Wertehierarchie als Kompass. Sie hat einfach festere Überzeugungen als Fred. Fred fehlt dieser moralische Kompass, deshalb hat er auch deutlich weniger Orientierung in der Situation. Er muss sich nach den Sternen richten.« Auch das Motivationsgefüge und die Motivationsdynamik kann durch solche Bilder charakterisiert werden: »Frieda hat andere Kraftquellen als Fred. Sie ist mit einem Motor ausgestattet, mit dem sie aus eigenem Antrieb leicht und schnell das Richtige tut. Fred ist demgegenüber mit einem Segelboot unterwegs und somit von dem Spiel äußerer Kräfte abhängig.« Oder: »Frieda ist daran gewöhnt, angemessen

219



220 221

Otto Willmann: Genetische Methode. In: Ernst M. Roloff (Hrsg.): Lexikon der Pädagogik. Zweiter Band. Freiburg im Breisgau 1913. S. 219–222, hier S. 219 f. Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 97 f. Vgl. Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 356 ff. Berg hat an dieser Stelle auf die wesentlichen Unterschiede zwischen den beiden genetischen Lehrgängen von Willmann und Wagenschein hingewiesen. Ich werde im Folgenden noch genauer darauf eingehen.

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zu reagieren. Sie hat ähnliche Situationen bereits so oft durchlaufen, dass sie schneller und spontaner handeln kann. Sie besitzt sehr viel mehr Erfahrung als Fred in der Anwendung der ethischen Prinzipien.« 222 Alle Äußerungen beziehen sich auf die visuellen Darstellungen und nehmen in sprachlicher Form darauf Bezug. Da auf diese Weise beide Darstellungsformen ineinandergreifen, hat jeder Teilnehmer ein Mittel, um das, was für ihn selbst bei der Betrachtung der imaginären Szenen zu erkennen ist, so anzudeuten und verständlich zu machen, dass alle anderen es verstehen und sich an der weiteren Klärung und Verdeutlichung beteiligen können. Die Entwicklung der Gedanken wird wesentlich von der bildlichen Vorstellungskraft und der Phantasie der Teilnehmer gelenkt und geprägt. Stephan Thies hat den genuin bildlichen Charakter der Vorstellungskraft der Kinder (genau genommen nicht nur von Kindern, sondern ebenso von Erwachsenen) folgendermaßen auf den Punkt gebracht: Wieviel einfacher ist es, mit den Händen in der Luft die Erklärung einer ›Wendeltreppe‹ zu begleiten, als sich bei der Frage eines Kindes nach diesem Begriff ganz auf die Präzision abstrahierender Sprachbeschreibungen zu verlassen – und bei seinem Gegenüber auf die erst noch reifende Vorstellungskraft !223

Die Verständnisentwicklung nach diesem methodischen Konzept ist mithin tatsächlich ein genetisches Lernen, weil die nötigen Aufdeckungs- und Darstellungsleistungen von den Teilnehmern selbst erbracht werden. Das bedeutet, dass das Wissen, das sie auf diesem Weg gewinnen, ›einwurzeln‹ kann. 224 Einige Fachdidaktiker betonen daher zu Recht, dass die Darstellungsform der Schaubilder, Strukturskizzen und Modelle dem »besseren Verständnis philosophischer Begriffe oder Theorien« 225 oder sogenannter »abstrakter Zusammenhänge« 226 dient. Außerdem sind die Teilnehmer bei der Erarbeitung der Schaubilder gezwungen, die relevanten Aspekte der Szenen von den irrelevanten abzugrenzen. Sie müssen demnach eine Auswahl treffen und legen dadurch fest, welche Aspekte der Szenen sie für wesentlich halten. Die Reduktion auf die wesentlichen Aspekte gelingt aber oft nur dann, wenn die ausgewählten Szenen einen exemplarischen Charakter besitzen. Also mit Blick auf die Wissensdisziplin der Ethik genau genommen nur dann, wenn sie überhaupt etwas für die Ethik Wesentliches enthalten, was so zur Erscheinung kommen kann. Ist das der Fall, können die Schaubilder ein probates Mittel sein, es zum Vorschein zu bringen: »(Fast) jede Visualisierung vereinfacht den Ge

222



223



224 225



226

An dieser Stelle bedanke ich mich bei Sebastian Hundt, der in seinem Protokoll die verwendeten Sätze festgehalten hat. Stephan Thies: Visualisierung als didaktisches Prinzip. In: Der Altsprachliche Unterricht. Latein und Griechisch. Heft 6, 2002. S. 4–12, hier S. 4. Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 64 ff. Barbara Brüning: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien. Weinheim [u. a.] 2003, S. 140. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? Stuttgart 2003, S. 121.



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genstand ihrer Darstellung, versucht das Wesentliche herauszuarbeiten, die Wahrnehmung zu fokussieren: Reduktion ist ein wesentliches Element jeder Visu­ali­ sierung.« 227 Wenn die Teilnehmer den ethischen Entwicklungsprozess von Fred und Frieda mithilfe der Schaubilder schildern, liefern sie damit zugleich eine Interpretation der Szenen. Da sie mit ihnen zum Ausdruck bringen, was sie an den Szenen für wichtig und zentral erachten, stellen ihre Schaubilder bereits eine Deutung dar. 228 Die Arbeit an den Schaubildern sowie die Interpretation der Szenen führen demnach auch zu einer Verständnisentwicklung und zu einer ersten Begriffsbildung mit Blick auf die Entstehungsbedingungen eines ethisch wertvollen Charakters. Es ist kein bloßer Zufall, dass hierbei Begrifflichkeiten wie »Gewohnheit«, »gefestigte Überzeugung« sowie »Erfahrung« eine zentrale Rolle spielen. Denn diese Begrifflichkeiten entwickeln sich bei der Deutung der wesentlichen Aspekte der Szenen – also auch und vor allem bei der Erarbeitung der Schaubilder. Die Arbeit an den Schaubildern lässt sich in diesem Zusammenhang als ein methodisches Hilfsmittel verstehen, um in die eigentliche Arbeit am Begriff einzusteigen. Noch viel wichtiger ist jedoch die Feststellung, dass damit ein Hauptziel des genetischen Lehrgangs verfolgt und erreicht wird: »[…] daß das Ganze durchdrungen sei von dem belebenden Geist des Wissensgebietes, der den Geist des Lernenden wachsen machen soll.« 229

iii) Sachgenese und/oder Wissensgenese: Ein Plädoyer für die Einführung in die ­lebende und überaus lebendige Wissenschaft230 der Ethik In der gewählten Inszenierung ist die Sachgenese so untrennbar mit der Wissensgenese verknüpft, dass die Schüler gar nicht dazu kommen, diese beiden Aspekte des Erschließungsprozesses auseinanderzuhalten. Mit Aristoteles kann man daher von einer realgenetischen Betrachtung der Phänomene sprechen, bei der die Genese der Sache stets vorrangig ist: »Die beste Methode dürfte hier wie bei anderen Problemen sein, daß man die Dinge in ihrem fortschreitenden Wachstum ins Auge faßt.« 231 Das ist ein Zitat aus den politischen Schriften, in denen es um die Frage geht, wie sich das Gemeinwesen aus den Familien- und Siedlungsstrukturen heraus entwickelt. Aristoteles entscheidet sich nicht nur in seiner Politik für die genetische Be

Stephan Thies: Visualisierung als didaktisches Prinzip. In: Der Altsprachliche Unterricht. Latein und Griechisch, S. 8. Worauf es mir besonders ankommt, ist, dass die Wahrnehmung auf etwas Bestimmtes fokussiert wird. Das gilt selbstverständlich nicht für die Malerei und die bildenden Künste, denn hier geht es in der Regel nicht um eine Reduktion des Gegenstands auf seine wesentlichen Elemente. 228 Vgl. ebd. 229 Otto Willmann: Didaktik als Bildungslehre. Freiburg im Breisgau 1957, S. 460. 230 Das ist eine Anspielung auf Wagenschein, der meint, dass sich der genetische Lehrgang vor allem dadurch auszeichne, »eine Einführung in die lebende, nicht in die nur verwaltende Wissenschaft« zu sein. (Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 114.) 231 Aristoteles: Politik. Nach der Übersetzung von Franz Susemihl. Mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. Reinbek bei Hamburg 1965 [1994]. I, 2, 1252a 25. S. 45. 227

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trachtungsweise. Dies hängt, wie Willmann erklärt, »mit Aristoteles’ organischer Anschauungsweise zusammen, die im Gegensatz zur mechanischen überall ein inneres, Einheit gebendes u. die Entwicklung leitendes Prinzip sucht.«232 Wer so denkt, denkt die Ethik also per se genetisch, und zwar vor allem deshalb, weil sich die organische Anschauungsweise für diesen Gegenstandsbereich bestens eignet. Das bedeutet, dass auch der Ethikunterricht unbedingt auf eine genetische Verständnisentwicklung zielen muss: »Insofern ist die g. M. [genetische Methode, hinzugefügt von M. Z.] der Höhepunkt der Methodik, u. ihre Anwendung gehört zu den lohnendsten Aufgaben des Unterrichts, aber sie darf nicht einem Stoffe aufgedrängt werden, der sie nicht erheischt.« 233 Die Forderung, dass sich die Methodenwahl an dem zu erschließenden Gegenstand auszurichten hat, wird in der neueren Didaktik allerdings kaum noch berücksichtigt, schon deshalb nicht, weil die Eigenart des Fachwissens und die daraus ableitbaren Darstellungsformen und Methoden in der lerntheoretisch geprägten und kompetenzorientierten Didaktik fast überhaupt nicht mehr beachtet werden.234 So wenig, dass diese sach- und fachbezogenen Zusammenhänge im allgemeinmethodischen Kauderwelsch leicht vergessen werden. 235 Aber auch einige Fach­ didaktiker folgen leichtgläubig dem allgemein-methodischen Mainstream. Geredet wird dann von einem anzustrebenden ›Methodenpluralismus‹ und modisch von einer ›Methodenvernetzung‹, so als würde bereits eine große Vielfalt an Methoden uns der in den Blick zunehmenden Sache nur einen Schritt näherbringen. 236 Das vorliegende Lehrstück zur Nikomachischen Ethik des Aristoteles darf als ein fachdidaktischer Gegenentwurf zu dieser unsachgemäßen Betrachtungsweise ver-



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Otto Willmann: Genetische Methode. In: Lexikon der Pädagogik. Zweiter Band. Herausgegeben von Ernst M. Roloff. S. 220. Ebd., S. 221 f. Käte Meyer-Drawe hat diesen starken Hang zur rein formalen Betrachtung des Lernens, bei der sowohl der Gegenstand als auch der Erfahrungsgehalt auf Seiten des Schülers zugunsten allgemeiner Lernmethoden in den Hintergrund tritt, völlig zu Recht kritisiert. In ihrer Kritik bezieht sie sich auf Aristoteles und betont, dass eine wesentliche Besonderheit des Lernens in den heutigen Debatten über das Lernen einfach vergessen wird: »Aristoteles und andere, die ihm in der Ansicht gefolgt sind, dass Lernen eine Erfahrung ist, setzen voraus, dass Lernen immer Lernen von etwas bedeutet. Dagegen hat die Formalisierung des Lernens heute ein Ausmaß erreicht, das zwar einen hohen Grad an Allgemeinheit garantiert, aber nicht mehr erkennen lässt, worin die Besonderheit des Lernens in Bezug auf andere Veränderungen liegt. Lernen wird nun, aber nicht erst jetzt als Wissenserwerb ohne feststellbare Herkunft aufgefasst. Man gewöhnt sich an die Vorstellung, dass Lernen im überprüfbaren Wissen endet.« (Käte Meyer-Drawe: Diskurse des Lernens, S. 188.) Vgl. Hilbert Meyer: Was ist guter Unterricht ? Kapitel 2.6 Methodenvielfalt, S. 74–85. Vgl. Jürgen Wiechmann: »Unterrichtsmethoden. Vom Nutzen der Vielfalt.« In: Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Herausgegeben von Jürgen Wiechmann. Weinheim und Basel 2002 [3. Auflage], S. 9–19. Vgl. Johannes Rohbeck: Didaktik der Philosophie und Ethik. Dresden 2010 [2. Auflage], S. 77 ff. Vgl. Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Hannover 2007 [3. Auflage], S. 55 ff. Barbara Brüning: Philosophieren in der Sekundarstufe. Methoden und Medien.



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standen werden. Der Lehrgang in dieser Unterrichtseinheit wird der genetischen Methode gleich in doppelter Weise gerecht: erstens deshalb, weil wir es bei der Entstehung des ethischen Charakters von Frieda tatsächlich mit einem Entwicklungsprozess zu tun haben. Und nicht nur Frieda, sondern jeder Mensch und somit auch jeder Schüler durchläuft auf irgendeine Art einen solchen Entwicklungsprozess. Weil das so ist, kann sich auch jeder Schüler am Beispiel von Frieda die Genese eines ethisch wertvollen Charakters klarmachen. Kurzum: Die realgenetische Betrachtungsweise wird der Sache an sich wirklich gerecht. Das hat zweitens auch Aristoteles so gesehen. Deshalb hat er sich im Bereich des Ethischen für eine organische Betrachtungsweise entschieden und ist auf diesem Weg zu seiner Theorie der Charakterentwicklung gekommen. Das heißt, auch die Genese des Wissens in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles folgt der genetischen Betrachtungsweise. Ganz im Sinne der genetischen Methode laufen in diesem Teil des Lehrstücks der Werdegang der Sache und der Werdegang des Wissens organisch zusammen. Sie lassen sich mit Blick auf den zu erschließenden Gegenstand überhaupt nicht voneinander trennen. Es ist ein und derselbe Weg, der hier zum Ziel führt. Demnach ist auch die manchmal etwas künstlich wirkende Unterscheidung zwischen einer Sachgenese und einer Wissensgenese in diesem Lehrstück insgesamt weniger relevant, weil der genetische Lehrgang von vornherein als ein Doppellehrgang zu verstehen ist. Weil das primäre Wissen für die Ethik konstitutiv ist, 237 verdient der Ethikunterricht nur dann seinen Namen, wenn er die Schüler dazu einlädt, das Werden des Wissens zu erleben. Hans Christoph Berg spricht sich ebenfalls, allerdings im Sinne von Diesterweg und Schleiermacher, für einen Doppellehrgang aus. Vielleicht noch etwas pragmatischer in der Vorgehensweise unterteilt er den genetischen Lehrgang in zwei Teile: Zuerst dem Werdegang des Wissens folgen (in geschmeidigem Klettern auf seinen verschiedenen Zweigen), bis das grundlegende Element, die sachliche Keimzelle, der Kern der Sache gefunden ist. Dann im zweiten Teil den sachgenetischen Aufbau der Wissenschaft zur adaequatio intellectus ad rem (und nicht bloß ad doxam). Erst nach dem zweiten, dem sachgenetischen Durchgang stimmt auch Comenius bei, denn



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Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 56 ff. Nach den Maßstäben der intuitionistischen Epistemologie steht fest, »dass wir mit den Einsichten, die wir bei der Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns gewinnen, ein Wissen (knowledge from the start) erwerben, das als vorrangig einzustufen ist, weil es unsere Unabhängigkeit in moralischen Fragen begründet.« (Ebd., S. 57.) Es macht aus Sicht der intuitionistischen Didaktik einen großen Unterschied, ob wir bei der Beobachtung des Schauspiels menschlichen Handelns eigenständig Einsichten gewinnen (primäres Wissen) oder ob wir die moralischen Urteile von anderen Menschen bloß übernehmen (sekundäres Wissen). Aus dem epistemischen Grundverständnis des intuitionistischen Ansatzes ergeben sich einige Konsequenzen für die Gestaltung des Ethikunterrichts. (Vgl. ebd., S. 69 ff.)

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»der Gang der Lehre möge dem Gang der Tatsachen folgen und das Frühere zuerst, das Spätere nachher bringen«. 238

Willmann und Wagenschein stimmen darin überein, dass sie beide den genetischen Lehrgang als einen Doppellehrgang verstehen, auch wenn Wagenschein im Rahmen seiner Lehrstücke in den Naturwissenschaften den wissensgenetischen Pfad zu bevorzugen scheint. 239 Die sachgenetische Betrachtung ist jedoch auch für ihn ein unumgänglicher Schritt. Wird der Lehrstückunterricht nach dieser Maßgabe durchgeführt, ist gewährleistet, dass das ethische Wissen sich einwurzelt, weil die Schüler aufgrund eigener Einsichten und Erfahrungen urteilen und somit davon abgehalten werden, die Thesen und Sätze anerkannter Philosophen zu übernehmen. Für Wagenschein, der diese ›Einwurzelung‹ des Wissens nachdrücklich einfordert, steht somit außer Zweifel, dass »ein wirksamer, ein genetischer, Unterricht verlangt, daß man bei der Sache bleibe.« 240 Diese Forderung an den genetischen Lehrgang stellt Wagenschein aus zwei Gründen auf, die beide die Rolle des Schülers im Unterricht betreffen und die zugleich den grundlegenden Unterschied zu dem genetischen Lehrgang nach Willmann verdeutlichen: Denn erstens kann sich nach seinem Verständnis das Wissen nur dann einwurzeln, wenn der Schüler die Phänomene betrachtet und sich daran die Sache verständlich machen kann. Das bedeutet, dass dieser, wenn das nicht geschieht, »aus dem Allesamt seiner Umweltbeziehungen« herausfällt und damit seiner »Wurzeln beraubt« wird;241 mit der Folge, dass das Vertrauen in die eigenen Einsichten durch eine Wortgläubigkeit ersetzt wird: »Unter solchen Umständen die Gründe nicht mehr zu sehen, erblindet zu sein, noch dazu infolge der Wortgläubigkeit, das allerdings produziert bildungswidriges, wirklichkeitsfremdes, entwurzelndes Wissen: Scheinwissen.« 242 Das ist der erste Grund, warum Wagenschein so vehement die konkrete Auseinandersetzung des Schülers mit der Sache einfordert, und der zweite Grund schließt direkt daran an. Nach seiner Auffassung erzeugt nur der genetische Unterricht, in dem es allein um die Sache geht, »das kritische Vermögen.« 243 Der Schüler wird auf diese Weise dazu befähigt, selbst zu prüfen, ob das, was von Wissenschaftlern be

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Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 358 f. Vgl. ebd., S. 357. »Es ist meist der Werdegang des Wissens, an dem Wagenschein sich orientiert, nicht der Werdegang der Sache.« Dass der Fokus auf die Genese des Wissens insbesondere für den Lehrer ganz entscheidend ist, ist klar ersichtlich. Denn er muss bestens mit dem problemgeschichtlichen Werdegang des Wissens in seiner Disziplin vertraut sein, wenn er das Ziel hat, seinen Unterricht nach der genetischen Methode zu gestalten. Für die fachbezogene Lehrerausbildung ist dieser Hinweis absolut grundlegend. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 110. Ebd., S. 65. Der erste Teil des Zitats stammt von Simone Weil, die Wagenschein mit Blick auf das Problem der Einwurzelung mehrfach zitiert. Vgl. Simone Weil: Die Einwurzelung. Einführung in die Pflichten dem menschlichen Wesen gegenüber. München 1956, S. 75. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 66. Ebd., S. 108.



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hauptet wird, nach seinem Urteil gültig ist, und ob sie dem Anspruch auf »logische Folgerichtigkeit« genügen. 244 Die Autonomie, die danach möglich und anzustreben ist, ist somit nichts anderes als die Fähigkeit, die jeder erwirbt, der es lernt, sich auf die eigenen Beobachtungen und Erkenntnisse zu verlassen und selbstständig zu urteilen. Für Wagenschein ist das nicht nur ein schönes humanistisches Ideal, das als erziehungswissenschaftliches Leitmotiv über der allgemeindidaktischen Modellierung des Unterrichts steht, sondern ein ganz zentraler Baustein seiner Form des genetischen Unterrichts. Wer das selbstständige Denken und somit das Verstehen lehren will, für den wird die Auseinandersetzung mit der Sache zum Dreh- und Angelpunkt des Unterrichts. 245 Diese Selbstständigkeit soll den Schüler vor einer »Schizophrenie« 246 bewahren, die vor allem auch der Ethik- und Philosophieunterricht hervorbringt, wenn der Lernende in ihm nicht dazu angehalten wird, in der nötigen Muße auf das Schauspiel menschlichen Handelns zu schauen, sondern dazu verführt wird, stattdessen kluge Sätze nachzusprechen und mit Worten zu fechten. Obwohl Willmann und Wagenschein übereinstimmend das genetische Lehren als einen Doppellehrgang ansehen, geben sie auf die Frage nach der Rolle des Schülers weit auseinandergehende Antworten. Ihre Antworten gehen ebenfalls ausein­ ander, wenn es um die Frage nach der Rolle des Lehrers im genetischen Unterricht geht. Weil das Lehren für Wagenschein »eine Einführung in die lebende, nicht in die nur verwaltende Wissenschaft«247 sein soll, muss der Lehrer sich streng an die Regel halten, dass er den Schülern niemals die Lösung eines Problems vorgeben darf und dass er ihnen somit auch niemals selbst erklären darf, wie das zu Beobachtende aufzufassen ist. Für ihn ist folglich Sokrates das Vorbild. Für Willmann ist es demgegenüber der ›Systematiker‹ Aristoteles, der das oft verwirrende und verstörende Gespräch meidet und auch dann die Form des Vortrags wählt, wenn er bestrebt ist, den Werdegang des Wissens deutlich zu machen: »Aristoteles dialogisiert zwar nicht, sondern er doziert, aber er doziert genetisch.« 248 Wagenschein räumt diese Möglichkeit zwar ein, stellt aber unmissverständlich klar, dass der genetische Unterricht nach seinem Verständnis genetische Vorträge prinzipiell ausschließt:

Ebd. Vgl. Andreas Gruschka: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht. Stuttgart 2011, S. 66 ff. Auf das Problem der »fortschreitenden Didaktisierung anstelle eines ›Lehren des Verstehens‹« hat Gruschka an dieser Stelle eindringlich hingewiesen. Er beklagt ebenfalls den Verlust der Sache im Zuge einer zunehmenden Didaktisierung: »Nicht die Sache selbst dient als Führgröße des Unterrichts, sondern vielfach didaktische Substitute, die letztlich nicht zur Sache führen. Die ausufernde Didaktisierung verhindert auf diese Weise das, was sie letztlich befördern sollte.« (Ebd., S. 72.) Das gleiche Problem tritt häufig auch in der Hochschuldidaktik auf, also in der fachdidaktischen und allgemeindidaktischen Bildung der Lehrer. 246 Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 109. 247 Ebd., S. 114. 248 Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 357. 244 245

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Dann ist es erlaubt zu sagen, daß man sowohl exemplarisch wie auch genetisch, wie auch beides verbindend, sogar dozieren kann. Nur: streng sokratisch kann man nie dozieren und auch nicht programmieren. Und damit auch nicht genetisch, da in ihm das Sokratische konstitutiv ist. 249

Das genetische Lehren in diesem Teil des Lehrstücks (und letztlich auch im Ganzen betrachtet) zur aristotelischen Ethik entspricht weithin den Vorgaben Wagenscheins – vor allem deshalb, weil es sich um eine dialogische Einführung in die lebende und überaus lebendige Wissenschaft der Ethik handelt und weil somit auch das sokratische Prinzip maßgebend ist. Das heißt, nach meinem Verständnis verlangt die Lehrstückdidaktik eindeutig einen radikal »genetisch – sokratisch – exemplarischen« Unterricht. 250 Nun ist zugegebenermaßen nicht jeder Lehrer ein Sokrates. Nicht jeder Lehrer beherrscht die vielleicht schwierigste Disziplin innerhalb der Lehrstückdidaktik – die Gesprächskunst – gleich gut. Vor diesem Hintergrund wendet sich Berg gegen die Radikalität, mit der Wagenschein für diese Hochform des genetischen Lehrens eintritt; und zwar mit dem folgenden Argument: Was wird nun aus der Genetischen Lehrmethode, bringt man Wagenschein und Willmann zusammen ? Wagenscheins Ausformung des Genetischen bleibt erhalten, aber sie erweist sich als seltene (wiewohl unentbehrliche) Hochform, während Willmanns Ausformung eher zur robusten Normalform taugt. Nur da, wo wirklich weitreichend und tiefgründig Exemplarisches vorliegt – und vorgelegt werden kann – da ist die aufwendige, riskante, nervenzehrende Sokratik verantwortbar; und auch die nur dann, wenn man nicht in sokratischer Problematik steckenbleibt, sondern zur aristotelischen Systematik und möglichst sogar zur euklidischen Axiomatik weiterschreitet. 251

In seinen Büchern und Aufsätzen konzentriert sich Wagenschein in der Tat darauf, deutlich zu machen, wie die Unterrichtsreihen methodisch zu gestalten sind, in denen die Schüler die Entdeckungen machen und die Einsichten gewinnen sollen, die grundlegend sind für die naturwissenschaftlichen Disziplinen, in die sie eingeführt werden. Diese Demonstration ist für ihn so wichtig, dass er sich viel zu wenig mit der Frage beschäftigt, in welcher Form die gewonnenen Einsichten festgehalten und nachprüfbar gesichert werden, also wie die daraus entspringenden Fähigkeiten systematisch eingeübt und bis zur nötigen Geläufigkeit geschult werden können. In dieser Hinsicht ist der Einwand Bergs zweifellos berechtigt, weil dieser Teil der Arbeit den Schulalltag prägt und den weitaus größten Teil der verfügbaren Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 97 f. In der Fußnote zu diesem Zitat zeigt sich der gravierende Unterschied zum genetischen Lehrgang nach Willmann noch deutlicher: »Man wird dann auch nicht mehr vom »durchzunehmenden Stoff« sprechen, sondern von dem zu »erschließenden Gegenstand«.« (Ebd., S. 98.) 250 Vgl. ebd., S. 97. 251 Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 358. 249



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Unterrichtszeit in Anspruch nimmt. Demnach ist auch sein pragmatisches Plädoyer für eine Lehrkunst verständlich, die die beiden genetischen Ansätze von Willmann und Wagenschein zu kombinieren versucht. Auch wenn man dies einräumt, darf man indes skeptisch zurückfragen, ob der Lehrer tatsächlich die Voraussetzungen für die Bewältigung dieser Aufgaben verbessert, wenn er genetisch doziert. Außerdem ist dem Kritiker entgegenzuhalten, dass Wagenschein den Lehrer mit seinen Exempeln für die Gestaltung dieser didaktischen Hochform keineswegs dazu ermutigt, die schwierigen und ebenso wichtigen unterrichtlichen Alltagsaufgaben mit geringerer Sorgfalt zu bewältigen. Schwerer wiegt hingegen der Einwand, die Sokratik Wagenscheins sei aufwendig, riskant und nervenzehrend. Das ist nicht nur eine Charakterisierung, sondern eine grundsätzliche Kritik, die wohl jeder Lehrer geltend macht, der seine Klassen ein ganzes Schuljahr lang zu unterrichten hat. Man kann angesichts dieser Vorbehalte eine Neuausrichtung der universitären Didaktik fordern, die dem Lehrer die Möglichkeit gibt, sich früh und gründlich genug in der Kunst der sokratischen Gesprächsführung zu üben. 252 Dabei ist aber zu bedenken, dass die Theorie Wagenscheins in diesem zentralen Punkt tatsächlich nicht schlüssig ist, weil er auf das Dogma festgelegt ist, der Unterricht sei nur dann sokratisch, wenn der Lehrer die Schüler durch seine raffinierten sokratischen Fragen in ein Gespräch hineinziehe und die Antworten aus ihnen herauslocke, mit denen sie ihr eigenes Verständnis bekunden. In der dargestellten Unterrichtseinheit wird demgegenüber jeder Schüler zwar behutsam, aber mit robuster Selbstverständlichkeit vor die Aufgabe gestellt, das verständlich darzustellen, was er mit Blick auf die beiden Szenen zu Fred und Frieda durchschaut und verstanden hat. Die gewählten Inszenierungsformen verschaffen dem Lehrer den Freiraum, den er unbedingt benötigt, um nicht den kompletten Gedanken im sokra­ tischen Gespräch mit den Schülern entwickeln zu müssen. Das bedeutet, dass an die Stelle des sokratischen Gesprächs hier eine andere dramaturgische Unterrichtsform tritt, die zugleich zu einer anderen Form von sokratischem Dialog führt.253 Auf jeden Fall entlastet diese dramatische Lehrweise den Lehrer von der überaus an-



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Die sokratische Gesprächsführung kann man nur schrittweise erlernen. Dafür braucht man im Rahmen der Lehrerausbildung vor allem Probebühnen, auf denen sich die Lehramtsstudenten in dieser Disziplin ausprobieren und darüber hinaus bestimmte Techniken wie im Schauspielunterricht einüben können. Auch das reicht noch nicht aus. Denn wer über das Gespräch die Gedankenentwicklung evozieren und vorantreiben möchte, ist oft gezwungen, von seinem eigenen Plan loszulassen. Er muss sich auf viele Unwägbarkeiten und mögliche Unklarheiten einlassen können, die eine dialogische Situation stets mit sich bringt. Vgl. unten, 2.5.1. An dieser Stelle werde ich noch genauer auf die unterschiedlichen Formen der sokratischen Gesprächsführung, auch in dramaturgischer Hinsicht, eingehen. Außerdem ist darauf hinzuweisen, dass selbstverständlich jede Didaktik, also auch die sokratische, eine dramaturgische Form besitzt. Gottfried Hausmann hat den inhärenten Zusammenhang von Dramaturgie und Didaktik an ganz unterschiedlichen Konzepten in der Geschichte der Didaktik herausgearbeitet. Vgl. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts. Kapitel VI: Beispiele dramaturgischer Form in der Geschichte der Didaktik, S. 148–207.

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spruchsvollen und oft mit vielen Schwierigkeiten verbundenen streng sokratischen Lehrweise. 254 Der Fokus liegt bei der dramatischen Lehrweise folglich vielmehr auf der Inszenierung sowie auf den daraus resultierenden Darstellungsformen und Gestaltungsaufgaben. Der Lehrer muss sich im Rahmen des Lehrstückunterrichts sehr genau überlegen, welche Inszenierungsform und welche unterrichtsmethodischen Darstellungsformen für die anvisierte Inhaltserschließung wirklich geeignet sind. Er braucht nun »neben dem Gespür für die Wachstumskräfte der Lerner auch das Gespür für die Dynamik der Inhalte, neben dem genetischen Takt auch den dramaturgischen Takt.« 255 Ein Gespür für die Dynamik der Inhalte zu entwickeln und danach eine geeignete Darstellungsform zu finden, ist für den Lehrer im Lehrstückunterricht eine ganz zentrale Aufgabe – auch deshalb, weil er nur dann, wenn er den Schülern die entsprechenden Darstellungsleistungen zumutet, gewährleisten kann, dass es zu einer angemessenen Sicherung, Wiederholung und Systematisierung der gewonnenen Erkenntnisse kommt. Der Lehrer, der sich an diese dramatische Lehrweise hält, muss folglich nur in wohlbegründeten Ausnahmefällen sokratische Fragen stellen. Bei einer angemessenen Komposition gegenstandsadäquater Darstellungsformen darf er darauf vertrauen, dass der genetisch-dramaturgische Aufbau des Lehrstücks sowie die damit einhergehende dramatische Lehrweise ihn von der nervenzehrenden Anspannung des sokratischen Gesprächs befreien. Demnach muss der Lehrer dann auch gar nicht mehr ein solcher Gesprächskünstler wie Sokrates sein.

2.5 Fünfte Unterrichtseinheit: Von der Pferdezucht, Elefanten im Porzellanladen und klugen Steuermännern. Die begriffliche Unterscheidung von natürlicher und eigentlicher Tugend In dieser Unterrichtseinheit soll der Begriff des guten Charakters, wie ihn Aristoteles im Rahmen seiner Klugheitslehre ausarbeitet, noch schärfer präzisiert werden. Im Vordergrund steht hier zunächst noch einmal der Gewöhnungsaspekt bei der Tugendentwicklung. Darüber hinaus soll durch den abenteuerlichen Vergleich mit

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Vgl. Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 381. Schulze bezeichnet diese Lehrweise in Abgrenzung zur sokratischen zutreffend als ›dramatische‹ Lehrweise. Der Lehrer wird hier zu einer Art Regisseur, der durch die Inszenierungen den Dialog zwischen den Gesprächspartnern evoziert. Zu einer wirklichen Entlastung führt die dramatische Lehrweise vor allem dann, wenn der Lehrer dazu imstande ist, sich mit den Schülern auf den Dialog über die Szenen einzulassen. Denn dann kann er nicht selten erleben und bestaunen, zu welchen Höchstleistungen sich die Gesprächspartner wechselseitig antreiben und wie viele neue Entdeckungen sie auf diesem Wege machen können. Hans Christoph Berg: Genetische Methode. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 360. Im Rahmen des didaktischen Kommentars zur siebten Unterrichtseinheit werde ich die Dramaturgie der Lehrstückdidaktik noch genauer betrachten. Vgl. unten, 2.7.2.



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den beiden Pferden »Max« und »Sultan« aber auch ein neuer Gedanke vorbereitet werden, nämlich der, dass die Gewöhnung allein nicht ausreicht, um als Mensch einen guten Charakter auszubilden. Es bedarf außerdem eines Wissens von dem, was mit Blick auf bestimmte ethisch relevante Situationen das Richtige ist. Wirklich klug und charakterfest könne der Mensch demzufolge erst dann werden, wenn er nicht nur an die anerkannten Maßstäbe der Gemeinschaft gewöhnt ist, sondern wenn ihm darüber hinaus noch selbst klar ist, was in der entsprechenden Situation das Richtige ist und warum das von der Gemeinschaft so gesehen wird. Die folgende Inszenierung bereitet schrittweise die begriffliche Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend vor. 256

 Stellen Sie sich einen Pferdezüchter vor. Sein Name ist Leo. Leo hat zwei Pferde in seinem Stall, die seiner Ansicht nach von unterschiedlichem Charakter sind. Deshalb stellt er gegenüber seinem Freund Johannes die beiden folgenden Behauptungen auf:

1. Mein Max hat einen wirklich guten Charakter. 2. Sultan hat einen schlechten Charakter. (Er könnte noch hinzufügen: Bei Sultan musst du aufpassen, wenn du auf ihm reiten willst.)

 Was meint Leo damit ? Kommentieren Sie die beiden Behauptungen. Machen Sie sich dazu ein paar Notizen. Leo verweist mit den beiden Aussagen auf die natürlichen Charaktereigenschaften der Pferde. Jeder Schüler, der selbst ein Haustier besitzt oder kennt, weiß zum Beispiel, dass sich sein Hund, was die einzelnen Charaktereigenschaften betrifft, natürlich von dem Nachbarshund unterscheidet. Und dass deshalb auch jeder Hund ein wenig anders erzogen werden muss, je nachdem wie sein natürlicher Charakter entwickelt ist. Diese Erfahrung teilt Leo mit den Schülern, weshalb sie mit seinen Behauptungen auch etwas anfangen bzw. diese kommentieren können. Und nicht nur sie, sondern auch Aristoteles scheint auf diese anschauliche Erfahrung zurückzugreifen, wenn er Folgendes behauptet: »Denn die natürlichen Dispositionen kommen auch Kindern und Tieren zu […].« 257 Um nochmals auf den Aspekt der Gewöhnung zurückzukommen, könnte der Lehrer zum Beispiel diese Frage stellen:

 Welche (Erziehungs-)Maßnahmen könnte Leo bei seinem Pferd Max getroffen haben, damit sich bei ihm die ohnehin guten natürlichen Charaktereigenschaften so entwickeln konnten, dass man ihn als ein gutes Reitpferd bezeichnen kann ?

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Im Fokus der begrifflichen Auseinandersetzung steht also die aristotelische Unterscheidung von natürlicher und eigentlicher Tugend. Allerdings soll die begriffliche Differenzierung auf der alltagssprachlichen Grundlage der Schüler vorgenommen werden bzw. auf ihrem Verständnis von einem guten oder schlechten Charakter – diesmal mit Blick auf die beiden Pferde »Max« und »Sultan« sowie im Rückblick auf Friedas Handeln. Aristoteles: NE, VI, 13, 1144b 7. S. 215.

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Kapitel 2

Die Schüler müssen zur Beantwortung dieser Frage keine erfahrenen Pferdezüchter sein, auch wenn ein entsprechendes Detailwissen der Gedankenentwicklung im Unterricht niemals schadet, sondern diese stets bereichert. Worauf es in diesem Zusammenhang indes ankommt, ist, dass sich die Schüler über den Vergleich mit den beiden Pferden noch einmal die Gemeinsamkeiten und die Unterschiede zwischen Mensch und Tier vor Augen führen müssen. Die Gemeinsamkeiten hinsichtlich dieser Frage bestehen darin, dass erstens sowohl die beiden Pferde als auch jeder Mensch eine natürliche Charakteranlage besitzt, und zweitens darin, dass selbstverständlich auch die beiden Pferde Max und Sultan ausgehend von ihren natürlichen Voraussetzungen so trainiert und durch entsprechende Übungen zugeritten werden können, dass sie gut ausgebildet sind und man sie somit auch als gute Reitpferde bezeichnen kann. Das heißt, auch die beiden Pferde können durch einen angeleiteten Gewöhnungs- und Erziehungsprozess entsprechende Verhaltensweisen ausbilden, und zwar so, dass man diese mit den Attributen gut und schlecht sinnvoll beschreiben kann. Der tugendhafte oder lasterhafte Mensch ist in diesem Sinne wie die beiden von Leo ausgebildeten Pferde ein Gewohnheitstier, dessen guter oder schlechter Charakter sich für Aristoteles zunächst durch ein Gespann von Gewohnheiten auszeichnet. 258 Bei alledem muss hier aber unbedingt der grundlegende Unterschied zum Menschen deutlich bleiben, auf den Aristoteles in seiner Ethik verweist. Wie die Schüler bisher herausgearbeitet haben, besteht er vor allem darin, dass der Mensch gemäß seiner Natur für die Bewunderung und Anerkennung von anderen Menschen empfänglich ist. Und dass er deshalb alle Formen der Tüchtigkeit auch nur innerhalb einer Gemeinschaft ausbilden kann, die ihn zwingt, sich an die von ihr geschätzten Wertmaßstäbe und Handlungsweisen zu gewöhnen. Die natürliche Differenz zum Tier sowie die eigentliche Bestimmung des Menschen treten für die Schüler noch deutlicher hervor, wenn man die Szenerie mit den beiden Pferden wie folgt abwandelt:

 Wir hatten uns darauf verständigt, dass Frieda einen guten Charakter besitzt. Denn sie ist hilfsbereit und handelt in ethisch relevanten Situationen stets angemessen. Demnach können wir wie Leo zu Max das gleiche zu Frieda sagen: Sie hat einen wirklich guten Charakter.

 Sehen Sie (jetzt noch) einen Unterschied zwischen Leos Aussage über Max und der unseren zu Frieda ? Formulieren Sie dazu eine These mit einer Begründung. Der Lehrer muss hier darauf vertrauen, dass die Schüler sich mit den bisherigen Feststellungen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Tier und Mensch nicht zufriedengeben, sondern dass sie von sich aus befähigt und gewillt sind, einen weiteren wesentlichen Unterschied aufzudecken. Dieser besteht für



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Aristoteles: NE, II, 1, 1103a 17. S. 73.



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Aristoteles darin, dass die natürliche Anlage des Menschen zu allerhand Tugenden eigentlich erst dadurch zur Vollendung kommt, dass zur Gewohnheit die Fähigkeit zur Erwägung, Beratschlagung und Reflexion hinzutritt, ohne die eine menschliche Handlung niemals wirklich gut und somit auch nicht tugendhaft sein kann. Frieda zeichnet sich also eigentlich erst dadurch als eine ethisch vortreffliche Person aus, dass sie neben dem Gespann von guten Gewohnheiten, das sie als ein guter Charakter besitzen muss, zudem eine ethische Urteilsfähigkeit oder Klugheit entwickelt hat. Sie verfügt über ein Wissen in der Frage, was situationsbezogen das Richtige ist, und kennt dessen Gründe; nur deshalb kann ihr Handeln in der Situation mit dem dicken Jungen im vollen Sinne gut genannt werden. Falls die Schüler nicht von allein auf diesen für den Menschen wesentlichen Aspekt zu sprechen kommen, darf der Lehrer etwas provokant die Nachfrage stellen, ob sie denn auch sagen würden, dass Max klug handelt, wenn er stets das von ihm als Pferd Erwartete tut. Oder aber er schreibt einfach die beiden folgenden Sätze an die Tafel und fragt die Schüler dann, ob sie, nach dem, was ihnen bis hierhin klargeworden ist, mit der Aussage der beiden Sätze jeweils einverstanden sind:259 Frieda handelt klug, wenn sie dem dicken Jungen hilft. Max handelt klug, wenn er über ein Hindernis springt. Durch die Analyse der beiden Sätze, die jeweils auf bestimmte Phänomene verweisen, sollte der charakteristische Unterschied zwischen Mensch und Tier deutlich hervortreten; nämlich der, dass der Mensch mit Vernunft begabt ist und dass er deshalb auch zu einer klugen Beratschlagung und Erwägung hinsichtlich der Wertstruktur einer Situation fähig ist. Diese Fähigkeit besitzt das Pferd nicht, weshalb es auch falsch ist, zu sagen, dass Max klug handelt, wenn er über das Hindernis springt. Er legt allenfalls ein wünschbares oder gewandtes Verhalten an den Tag, weil er dazu die natürlichen Voraussetzungen besitzt bzw. von Leo so gut durch entsprechende Übungen trainiert wurde, dass wir aufgrund der Leichtigkeit seiner Bewegungen leicht dazu geneigt sind, sein Verhalten als klug zu bezeichnen. Die Erwägung, Beratschlagung und schließlich die gute Tat, die Frieda in der Situation mit dem dicken Jungen vollzieht, hat damit überhaupt nichts zu tun. All diese Tätigkeiten sind spezifisch menschliche, weil allein der Mensch – zumindest für Aristoteles – dazu fähig ist. Frieda besitzt aufgrund dieser Fähigkeiten die Möglichkeit, sich ein Wissen hinsichtlich ethisch relevanter Situationen anzueignen. Wägt sie in solchen Situationen mit Blick auf die anerkannten Wertmaßstäbe klug ab und besitzt sie zudem einen guten Charakter, dann handelt sie nicht nur allgemein menschlich, sondern sogar wie ein kluger Mensch, sprich: im eigentlichen Sinne tugendhaft. Der Lehrer sollte den Schülern für die Analyse der beiden Sätze viel Zeit lassen. Ein paar vorsichtige Nachfragen sind erlaubt:

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Diese Provokation ist verbunden mit einem kleinen Schwindel, denn der Lehrer tauscht nun das Adjektiv ›gut‹ durch das Adjektiv ›klug‹ aus. Damit gibt er den Schülern eine minimale Hilfe­ stellung, um die Begriffsverwirrung, die mit Blick auf die begriffliche Festlegung des ›guten Charakters‹ von Max und Frieda eintreten kann, zu überwinden.

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Kapitel 2

 An was genau denkt Leo, wenn er sagt, dass Max klug handelt ? An was denken wir, wenn wir behaupten, dass Frieda in der Situation klug handelt ? Sehen Sie einen Unterschied zwischen den beiden Aussagen ? Gibt es vielleicht auch Gemeinsamkeiten ? Der Lehrer muss hier darauf vertrauen, dass die von ihm geplante ›Versuchsanordnung‹ ohne viel Nachfragen dazu führt, dass die Schüler gedanklich ›in die Falle gehen‹. Ob es dazu kommt, hängt maßgeblich von den Reflexionen der Schüler ab, und diese lassen sich nicht planen. 260 Das heißt, falls der Plan an dieser Stelle des Unterrichts nicht zum Ziel führt, dann ist der Lehrer gezwungen, sich einen neuen Weg zu überlegen. Das muss er in der Gelassenheit tun, die unbedingt nötig ist, wenn er die Chancen nutzen will, die sich aus der Unvorhersehbarkeit des Verlaufs der Urteilsbildung und der dadurch bedingten Offenheit des Unterrichts ergeben. Auch dann, wenn die Schüler die anthropologischen Voraussetzungen der Klugheit noch nicht in jeder Hinsicht verstanden haben, sollte ihr Vorverständnis für die nun folgende Textarbeit doch so weit entwickelt sein, dass sie die aristotelische Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend eigenständig erarbeiten können. 261 Dafür bekommen sie einen Text mit der Überschrift »Die Tugendlehre« ausgehändigt 262 und erhalten den folgenden Arbeitsauftrag:

 Lesen Sie den Text. Fassen Sie zunächst in eigenen Worten die aristotelische Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend zusammen. Machen Sie sich diese Unterscheidung an einem selbstgewählten Beispiel klar. Versuchen Sie anschließend, Ihrem Banknachbarn diese Unterscheidung anhand des Beispiels deutlich zu machen. Ihr Banknachbar hat den Auftrag, Ihnen nach kurzer Bedenkzeit ein paar weiterführende Fragen zu stellen. Dann tauschen Sie bitte die Rollen. Zu guter Letzt bereiten Sie sich zu zweit auf einen fünfminütigen Kurzvortrag vor, den einer von Ihnen vor den Mitschülern halten soll ! Ein Hin-



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»Unterricht planen heißt, die Falle aufzustellen, in der man dann selbst sitzt. Oder: der Lehrer plant Unterricht im Sinne der Erstellung einer Versuchsanordnung – nur daß er dann gleichzeitig unter den Versuchskaninchen sitzt. Das heißt, planbar ist nur die Versuchsanordnung, nicht planbar jedoch sind die Reaktionen, wenn der Versuch erst einmal läuft; unplanbar ist das Versuchskaninchen (sonst könnte auf den Versuch verzichtet werden).« (Wulff D. Rehfus: Didaktik der Philosophie. Grundlage und Praxis. Düsseldorf 1980, S. 152.) Zur Vorbereitung auf die im Text behandelte Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend könnte man mit den Schülern sogar noch einen weiteren Gedankenschritt vollziehen, der einerseits die anthropologischen Voraussetzungen berücksichtigt und andererseits den Blick noch genauer auf den Entwicklungsaspekt der ethischen Tüchtigkeit lenkt. Der Lehrer könnte hierfür wieder auf eine mögliche gemeinsame Feststellung zurückgreifen, z. B. auf diese: »Frieda besitzt im Gegensatz zu Max einen guten Charakter, weil sie aus einer Überlegung heraus handelt und ihr Handeln klug abwägt.« Und dazu die Frage stellen: »Kann Frieda eigentlich schon als junges Mädchen, beispielsweise mit fünf Jahren, ihr Handeln klug abwägen ?« Siehe Anhang: 4.1.5. Aristoteles: Die Tugendlehre. NE, VI, 13, 1144b 5–17. S. 214 f.



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weis: Zur Illustration sollten Sie unbedingt auf Ihr Beispiel zurückgreifen. Es soll den Zuhörern dabei helfen, diese Unterscheidung besser zu verstehen.263 Die Schüler sind nun gezwungen, sich selbst ein Beispiel zu überlegen, an dem die begriffliche Unterscheidung möglichst sinnfällig wird. Das ist für die Schüler nicht leicht. Nichtsdestoweniger darf der Lehrer die Hoffnung haben, dass sie den Arbeitsauftrag bewältigen können. Diese Zuversicht gründet sich darauf, dass die Schüler ja bereits durch den Vergleich von Frieda, Max und Sultan ein genaues Verständnis haben, das sie nun an einem neuen Beispiel konkretisieren und vertiefen sollen. 264 Dabei müssen sie zwei Hindernisse überwinden: erstens die sprachliche Hürde, die in diesem Fall vielleicht sehr hoch ist, weil ihnen mit einer Übersetzung aus dem Altgriechischen ein Text vorgelegt wird, in dem eine Sprache gesprochen wird, die ihnen nicht vertraut ist. Die zweite Schwierigkeit liegt für die Schüler, wie schon erwähnt, darin, dass sie sich ein eigenes Beispiel für die begriffliche Unterscheidung überlegen müssen. Bei der Wahl und Auswertung von Beispielen greifen die Schüler oft und gern auf eigene Bilder, Metaphern und graphische Illustrationen zurück, die allesamt erwünscht sind. Gleichwohl muss der Lehrer, am besten gemeinsam mit den Schülern, bei der anschließenden Präsentation der Vorträge darauf achten, ob die gewählten Bilder und Formulierungen wirklich passend sind. Darum ist ein häufiger und genauer Rückbezug auf den Text unumgänglich. Weil die Schüler ihre Phantasie spielen lassen dürfen, sind ihre Illustrationen in der Regel auffallend phantasievoll: der Elefant im Porzellanladen (natürliche Tugend), dessen natürliche Verhaltensweise ohne das Denken großen Schaden anrichten kann; der kluge Steuermann (Klugheit aus Erfahrung), der das Schiff in die richtige Richtung lenkt; der Samen eines Baumes (natürliche Tugend), der sich im Laufe des Lebens durch genügend Regen (Erziehung, äußerer Umgang und Übung) und durch genügend Sonne (Vernunft und Klugheit) zu einem kräftigen Baum entwickelt (eigentliche Tugend).265 Solche Vergleiche treffen den entscheidenden Punkt zwar oft nicht ganz genau, aber jedes dieser Bilder birgt ein imaginatives Potential, das, wenn es geschickt ausgeschöpft wird, zum Vorschein bringt, wie die Schüler denken. Und ihre Gedanken lassen sich durchaus auf eine sinnvolle Weise mit den Erklärungen des Aristoteles in Verbindung bringen, und zwar vor allem deshalb, weil er ja ebenfalls auf sprachliche Bilder zurückgreift, wenn er sich darum bemüht,



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Oder als Alternative die folgende Aufgabe: »Lesen Sie den Text. Stellen Sie sich anschließend einen naiven Leser vor, der nicht Ihr Vorwissen besitzt. Versuchen Sie, diesem anhand eines selbstgewählten Beispiels die aristotelische Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend deutlich zu machen. Nutzen Sie die Gelegenheit und halten Sie einen fünfminütigen Kurzvortrag ! Ein Hinweis: Zur Illustration sollten Sie unbedingt auf Ihr Beispiel zurückgreifen. Es soll den Zuhörern dabei helfen, diese Unterscheidung besser zu verstehen.« Außerdem kennen die Schüler bereits den wesentlichen Unterschied zwischen der tierischen und der menschlichen Lebensform. Vgl. oben, 2.3.3. Diese Beispiele, die oft an die griechische Unbefangenheit denken lassen, stammen von Studenten aus meinem Seminar »Die Nikomachische Ethik des Aristoteles« im Wintersemester 2013/2014.

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die begriffliche Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend verständlich zu machen. Zum Beispiel so: Und dennoch suchen wir das Gute im eigentlichen Sinn als etwas anderes und wollen, dass diese Tugenden uns auf andere Weise zukommen. Denn die natürlichen Dispositionen kommen auch Kindern und Tieren zu, doch ohne Denken (nous) erweisen sie sich als schädlich. So viel scheint ersichtlich: Wie ein starker Körper, der sich ohne Sehvermögen bewegt, schwer stürzen kann, weil ihm die Sicht fehlt, so verhält es sich auch hier. Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Dispositionen, die bisher der Tugend nur ähnlich war, wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn sein. 266

In ähnlicher Weise sind die Ausführungen der Studenten von dieser unbefangenen Bildhaftigkeit geprägt, wenn sie von der Tollpatschigkeit des Elefanten im Porzellanladen reden, der sich überall kräftig stößt, weil er sich als ein großer Körper ohne Geist in einer fragilen Welt zurechtfinden muss. Ähnliches gilt auch für den Hinweis auf den Steuermann (die großen Abenteuer des Odysseus sind zu erahnen), der geschickt und klug sein Schiff an allerhand Klippen und Gefahren vorbei über den weiten Ozean lenkt. Mit diesen Vergleichen darf der Lehrer im Unterricht spielen, weil er über die gezielte und differenzierte Ausleuchtung der Sprachbilder und ihrer ›Logik‹ eine angemessene begriffliche Klärung ansteuern kann. Diese Möglichkeit soll nun noch einmal genauer anhand des Unterrichtsgesprächs verdeutlicht werden, das sich im Anschluss an die graphische (Tafelbild) und die sprachliche Präsentation (durch den Vortrag) des »Baumsamen-Bildes« zwischen den Studenten im Seminar entwickelt hat. Dabei kamen die folgenden spannenden Fragen auf: – Wieso soll es für den Samen ungünstig sein, wenn die Sonne nicht hinzukommt ? – Reicht es für die Entwicklung nicht einfach aus, wenn es ausreichend regnet ? – Wozu benötigen wir eigentlich die Klugheit, wenn die natürliche Tugend bereits in uns angelegt ist ? Führt jene uns nicht vom natürlichen und damit richtigen Weg ab ? – Kann die Klugheit wirklich etwas in einer Welt bewirken, in der der Zufall herrscht ? Zu jeder einzelnen dieser Fragen könnte man die Schüler später einen Essay schreiben lassen, in dem sie sich kritisch mit der aristotelischen Unterscheidung auseinandersetzen könnten. Jede einzelne dieser Fragen führt direkt ins Zentrum der Debatten der antiken Ethik. Und noch etwas: Jede dieser Fragen verrät mehr oder weniger eindeutig die moralische Skepsis des modernen Menschen (Hier wurden die skeptischen Fragen von Studenten formuliert, die später einmal selbst Ethiklehrer sein wollen !), der ›emotivistisch‹ oder ›naturalistisch‹ argumentiert und sich so fragen muss, wozu die Klugheit eigentlich im Leben gut sein soll.

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Aristoteles: NE, VI, 13, 1144b 5–14. S. 215.



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Auch wenn das »Baumsamen-Bild« zugegebenermaßen in mancherlei Hinsicht schief ist, hat es die Studenten doch dazu angespornt, es mit Blick auf den Text wie folgt weiter zu entwickeln: Die Sonne (Klugheit) sorge dafür, dass der junge Baum (natürliche Tugend) in die richtige Richtung wachse. Außerdem wisse sie, welche äußeren Einflüsse (Erziehung, sozialer Umgang und Gewohnheiten) für das Wachstum des Baumes günstig oder ungünstig sind. Das heißt, die Klugheit, die für die Fähigkeit stehe, ethisch relevante Situationen richtig zu analysieren und einzuschätzen, schütze den wachsenden Baum vor schlechten Witterungseinflüssen und somit vor verderblichen Einwirkungen (falsche Erziehung, schädlicher sozialer Umgang und schlechte Gewohnheiten). Die Klugheit sei also der eigentliche Garant dafür, dass der Baum eine große Standfestigkeit (eigentliche Tugend, moralische Reife) ausbilden könne. Fehle es indes an genügend Sonneneinstrahlung (Klugheit), dann könne der Samen (natürliche Tugend) mit ausreichend Wasser in Form von Regen (gute Erziehung) immer noch als Baum Früchte tragen, aber der Baum wisse dann überhaupt nicht, wofür oder für wen das gut sei; für einen Baum, der sowieso einem von der Natur vorbestimmten ›Plan‹ folge, sei dies ganz in Ordnung, aber für einen urteils- und handlungsfähigen Menschen, der eigentlich erst durch sein Urteilsvermögen – durch die Klugheit – zum Menschen werde, sei dies ein Unding. Auch wenn man nicht in allen ethisch relevanten Situationen das richtige Urteil treffe, sondern eben auch falsch liegen könne, und auch wenn die zufälligen Lebensumstände und -konstellationen der Berücksichtigung kluger Erwägungen entgegenstünden, so sei die kluge Erwägung und Beratschlagung doch die einzige vernünftige Antwort darauf, wie man sich als Mensch in einer Welt des Zufalls zurechtfinden könne. Mehr noch: Die Klugheit des Menschen erhalte zuallererst in einer Welt einen Sinn, in der die Kontingenz eine wesentliche Rolle spiele. 267 Hieraus ergeben sich wiederum viele weiterführende Fragen, die auch die sogenannte Lebenswelt der Schüler direkt tangieren können, z. B. die spannende Frage: »In welchem Sinne kann man den aristotelischen Klugen eigentlich als frei und selbstbestimmt bezeichnen, wenn der Mensch doch in einer kontingenten Welt zu Hause ist, die es ihm so schwermacht, richtig zu urteilen und situationsangemessen zu handeln ?« Oder die noch tiefer beunruhigende und auf eine verdrehte Weise überaus moderne Frage: »Ist der Naturmensch (aus heutiger Sicht: der unstrebsame, der gefühlsgeleitete und der determinierte Mensch) nicht viel freier als der Kluge, weil er gerade nicht weiß (oder nicht wissen kann), was zu tun ist ?« Diese zugleich auffordernden und verstörenden Fragen können im Unterricht zu überaus interessanten Diskussionen führen, die an dieser Stelle nur angedeutet werden

267

Wer sich weitergehend mit dem Kontingenzproblem innerhalb der aristotelischen Ethik beschäftigen möchte, dem sei das Kapitel »Kosmologie der Klugheit« und insbesondere § 1 »Die Kontingenz« in dem Buch »Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles« von Pierre Aubenque empfohlen, der sich überaus facettenreich mit der Theorie der Klugheit innerhalb einer »Kosmologie und Ontologie der Kontingenz« auseinandergesetzt hat. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles. Aus dem Französischen übersetzt von Nicolai Sinai und Ulrich Johannes Schneider. Mit einem Vorwort zur deutschen Ausgabe von Horst D. Brandt. Hamburg 2007, S. 69–105.

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können. Nur so viel soll noch gesagt sein, dass Aristoteles für uns moderne Menschen, also auch für die Schüler, als ein kluger Gesprächspartner bestens geeignet ist, weil er die Grenzen des menschlichen Wissens in einer sich verändernden Welt deutlich sieht und gerade deshalb die Klugheit als eine Tugend begreift. Sie kann uns als ein moralischer Kompass in teilweise sehr komplizierten Entscheidungs­ situationen eine große Hilfe sein. Anders und noch radikaler gesagt: Doch der Mensch wird die veränderliche und unvorhersehbare Welt niemals völlig erkennen und muss deshalb erwägen und zu Rate gehen und dann wählen. Die Klugheit ist die Tugend der Menschen, die zum Erwägen und Beratschlagen innerhalb einer unergründlichen und verwickelten Welt bestimmt sind, einer Welt, deren Unfertigkeit selbst eine Aufforderung an das ist, was man wohl die menschliche Freiheit nennen muss: Wie es in den Magna Moralia heißt, ist die Klugheit »eine feste Grundhaltung, die auf Entscheidung eingestellt ist und auf das Verwirklichen dessen, was zu tun oder nicht zu tun bei uns steht«. 268

In welche Richtung auch immer sich das Unterrichtsgespräch genau entwickelt, der Lehrer sollte die Schüler unbedingt dazu bringen, den entscheidenden Gedankenschritt noch einmal in schriftlicher Form festzuhalten. Dies kann er mithilfe der folgenden beiden Merksätze des Aristoteles tun, die das Wesentliche des zurückgelegten Gedankengangs zusammenfassen und neue Perspektiven eröffnen: 1. Merksatz:  Aus dem Gesagten ist also klar, dass man weder im eigentlichen Sinn gut sein kann ohne die Klugheit noch klug ohne die Tugend des Charakters.269 2. Merksatz:  Nach verbreiteter Meinung [können] junge Menschen zwar Geometer und Mathematiker werden und weise in solchen Dingen, nicht aber klug.270 Dazu erhalten die Schüler den folgenden Arbeitsauftrag, der als Partnerarbeit angelegt ist:

 Stellen Sie sich mal vor, Sie sitzen in einem Kaffeehaus. Ein Unbekannter liest die beiden Zitate von Aristoteles in Ihrem Hefter. Es handelt sich um eine ziemlich neugierige Person, die allerdings überhaupt keine Ahnung von der aristotelischen Tugendlehre hat. Dieser Unbekannte will aber unbedingt etwas mehr darüber erfahren. Deshalb stellt er Ihnen ganz unbefangen ein paar Fragen.

 Schreiben Sie in Partnerarbeit einen Kaffeehausdialog. Stellen Sie darin die wesentlichen Aspekte der aristotelischen Tugendlehre vor dem Hintergrund der beiden Zitate dar. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 96. Aristoteles: Magna Moralia. Übersetzt und kommentiert von Franz Dirlmeier. Berlin 1966 [2. Auflage]. I, 34, 1197a 14. S. 44. 269 Aristoteles: NE, VI, 13, 1144b 30–32. S. 216. 270 Ebd., 9, 1142a 12. S. 206. 268



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 Bitte beachten Sie für die anschließende Präsentation des Kaffeehausdialogs fol

gende Inszenierungshinweise: 1. Wer sind Sie ? Wer ist der andere ? Was ist Ihr Status ? 2. Wo befinden Sie sich im Kaffeehaus ? 3. Was tun Sie während des Gesprächs ? 4. Wie fühlen Sie sich dabei ?

Diese partnerschaftliche Aufgabe ist als eine zusammenfassende Darstellung gedacht, bei der die Schüler gezwungen sind, zwei unterschiedliche Perspektiven einzunehmen. Zum einen die Perspektive eines Menschen, der mit der Materie gut vertraut ist, und zum anderen die Perspektive eines Menschen, der davon keine Ahnung hat, der aber zugleich unbedingt mehr darüber erfahren möchte. Diese Aufgabe stellt die Schüler vor ein Darstellungsproblem, weil sie sich überlegen müssen, wie sie den Dialog zwischen den beiden Personen anlegen müssen, wenn sie erreichen wollen, dass der Neugierige klüger aus dem Gespräch hervorgeht. Sie befinden sich also in einem klassischen Ethiklehrersetting: Sie müssen eine dramaturgische Entscheidung treffen, wie sie den Unwissenden im Dialog auf diesem Gebiet klüger machen können. Deshalb kann die Darstellungsform des Dialogs im Anschluss an die Präsentation der Kaffeehausdialoge vor der Klasse selbst zum Thema gemacht werden. Dazu lässt der Lehrer das Plenum im Anschluss an die Präsentation des jeweiligen Dialogs als erstes die vorher festgelegten Fragen beantworten: Wer sind die beiden Dialogpartner ? Was ist ihr Status ? Wo befinden Sie sich im Kaffeehaus ? Was tun sie während des Gesprächs ? Wie fühlen Sie sich dabei ? Im anschließenden Auswertungsgespräch sollte er auf die einzelnen Fragen näher eingehen. Besonders der Status der beiden Dialogpartner muss genauer in den Blick genommen werden, weil sich daran sehr viel ablesen und verständlich machen lässt: zum einen die von den Schülern vorgenommene Rollenzuschreibung des wissenden Lehrers, auf die sich die Schüler durch die Vorgaben des Settings festlegen müssen. Zum anderen kommen in der Art und Weise, wie sie den Dialog anlegen, auch implizit ihre Hintergrundannahmen zum Vorschein, wie sie sich den Prozess des Wissenserwerbs im Dialog vorstellen. Auf den ersten Blick sind diese beiden Aspekte für die Schüler sicherlich untrennbar miteinander verbunden. Der Lehrer kann sie jedoch durch gezielte Beobachtungsfragen auf den Unterschied aufmerksam machen und sie auch für sich genommen explizieren lassen. Diese Metaperspektive auf die Darstellungsform der vorgetragenen Dialoge ist sowohl für die Schüler als auch für den Lehrer von Interesse; vor allem deshalb, weil sich in der jeweiligen Darstellungsform zeigen müsste, wie sich die Schüler den Lernprozess im Dialog vorstellen, respektive welche Rolle sie daraufhin dem wissenden Lehrer und dem unwissenden Unbekannten zuweisen. Das ist eine Frage, die auch für den tatsächlich unterrichtenden Lehrer außerordentlich wichtig ist. Denn die von den Schülern gewählte Dialogform ist ja in eine andere Darstellungs- und Dialogform eingebettet, nämlich in den von ihnen selbst erlebten Ethikunterricht. Das theatrale ›Spiel im Spiel‹ kann also für den Lehrer durchaus aufschlussreich sein, da das in-

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szenierte Rollenspiel eine implizite und indirekte Reflexion auf den eigenen Unterricht darstellt. Darüber hinaus darf der Lehrer gespannt sein, ob die Schüler nicht selbst, angestiftet durch die inhaltliche Auseinandersetzung mit der aristotelischen Klugheits- und Tugendlehre, einen eigenen dialogischen Lernansatz entwickeln oder zumindest andeutungsweise präferieren. Dieser müsste sich anhand der gewählten Darstellungsform der Dialoge aufzeigen lassen. 271 Unabhängig davon, ob sich die Schüler auf diese Metareflexion des Ethikunterrichts tatsächlich einlassen werden, sollte der Lehrer ihre Aufmerksamkeit bei der gemeinsamen Besprechung der Dialoge auf den zweiten Merksatz des Aristoteles lenken: »Nach verbreiteter Meinung [können] junge Menschen zwar Geometer und Mathematiker werden und weise in solchen Dingen, nicht aber klug.« 272 Dazu kann er sie etwas provozierend mit der Frage konfrontieren, warum eigentlich ein junger und schlauer Mathematiker nicht auch in gleichem Maße ethisch klug sein könne ? Wenn die Schüler die aristotelische Pointe verstanden haben, dann müssten sie ihn an dieser Stelle verteidigen, indem sie darauf verweisen, dass dem schlauen, aber noch jungen Mathematiker einfach die Erfahrung fehlt, um im vollen Sinne die ethische Klugheit ausbilden zu können. Im Gegensatz zur Entwicklung der mathematischen Fähigkeiten benötigt die Entwicklung der ethischen Reife also vor allem Zeit, und zwar Zeit zum Sammeln von Lebenserfahrung in der Gesellschaft und mit den Mitmenschen. Weil jungen Menschen in der Regel diese Lebenserfahrenheit fehlt und weil sie zudem oft den augenblicklichen Leidenschaften folgen (und deshalb die Folgen ihres Handelns noch nicht richtig einzuschätzen gelernt haben), können sie auch nicht in gleichem Maße wie ältere Menschen lebensklug denken und handeln. 273 Die Schüler sollten zunächst diese aristotelische Klarheit gewinnen, bevor sie dann dazu ermuntert werden, den wertkonservativen Impetus und die damit verbundene Überlegenheitsgeste des erfahrenen alten Mannes kritisch zu hinterfragen. Diese abschließende Diskussion kann der Lehrer wiederum mit einer Provokation einleiten:

 Wenn die Behauptung von Aristoteles stimmt, dann müsste man das Fach Ethik ersatzlos aus dem Kanon der Unterrichtsfächer streichen, weil man den Schü

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Hierbei handelt es sich um einen lohnenswerten Exkurs mit Blick auf das Aristoteles-Lehrstück. Grundsätzlich ist zu sagen, dass der Ethiklehrer eine solche Metareflexion auf das eigene Fach und auf den eigenen Unterricht niemals scheuen, sondern vielmehr die Schüler durch die Inhalts-Erschließung dazu schrittweise in die Lage versetzen sollte. Das heißt: Eine solche Form von Metareflexion sollte durchaus gesucht und kultiviert werden, aber immer thematisch eingebunden sein und nicht losgelöst von den Inhalten angestrebt werden. Dann kann sie einen sinnvollen Beitrag zum (dialogischen) Selbstverständnis des Schülers leisten. Aristoteles: NE, VI, 9, 1142a 12. S. 206. Es scheint für Aristoteles darüber hinaus einen großen Unterschied zu machen, die Gründe für das richtige Handeln bloß zu kennen oder danach auch zu handeln. Denn die jungen Menschen kennen in der Regel die Gründe für das richtige Handeln, nur handeln sie oft nicht danach. Dazu sind Bewährungssituationen nötig, in denen sie zeigen können, dass sie in der Lage sind, danach zu handeln.



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lern, also Ihnen, ja sowieso nichts beibringen kann – schon gar nichts fürs Leben. Der wahre Lehrmeister in Sachen Ethik ist demnach das Leben selbst und nicht die Schule oder ein Lehrer. Stimmen Sie Aristoteles zu ? 274 Damit lässt sich der Lehrer in gewisser Hinsicht auf eine ›gefährliche‹ Diskussion mit seinen Schülern ein, die hier aber direkt mit der Erschließung der Sache zusammenhängt. Wenn die Schüler ihm allzu bereitwillig zustimmen, dann bedeutet das nicht nur, dass sie den aristotelischen Standpunkt teilen, sondern auch, dass sie das Fach Ethik und damit den bisher erlebten Unterricht streng genommen für überflüssig halten. Ein solches Ergebnis kann zu einer spannenden Diskussion führen, die auch in moralphilosophischer Hinsicht ertragreich sein kann. Falls sie jedoch Aristoteles in diesem Punkt widersprechen sollten, ist das nicht nur ein schönes Bekenntnis zum Fach und vielleicht auch zum Lehrer. Vielmehr wären die Schüler dann bereits dabei, sich darüber Gedanken zu machen, ob die damit behauptete Gleichsetzung der ethischen Klugheit mit der Erfahrung überhaupt zulässig ist. Stimmen die Schüler, oder zumindest einige unter ihnen, dem Aristoteles nicht vorbehaltlos zu, sind sie schon dabei, sich einen Weg zu überlegen, wie der Ethikunterricht stattdessen begründet werden kann. Das könnte sie auf die Idee bringen, auf das aristotelische Argument zurückzugreifen, aber es dieses Mal gegen ihn zu verwenden. Zum Beispiel indem sie betonen, dass auch ein junger Mensch durchaus genügend Lebenserfahrung besitzt, es jedoch noch nicht gelernt hat, seine Erfahrungen hinreichend zu reflektieren und das eigene Handeln daran auszurichten. Das Problem des Ethikunterrichts wäre dann gar nicht so sehr die fehlende Erfahrung der Schüler (denn die bringen sie ja in der Tat immer mit in den Unterricht), sondern die Frage, wie die eigenen Erfahrungen auf eine sinnvolle Weise reflektiert werden können, und zwar so, dass die Schüler darüber die Chance haben, lebensklüger zu werden. Damit würden sie auf indirekte Weise das ethikdidaktische Potential der aristotelischen Ethik freilegen, indem sie sich kritisch mit seiner Tugendlehre auseinandersetzen und vielleicht zu Schlüssen kommen, die mutiger sind als die, die Aristoteles selbst gezogen hat. Denn zu einem eigentlich tugendhaften und somit klugen Menschen wird der Mensch nach seiner Ansicht bekanntlich erst dann, wenn er durch Reflexion die allgemein anerkannten Wertmaßstäbe aufdeckt und sie sich auf diesem Wege entweder selbst zu eigen macht oder kritisch von ihnen abwendet. Das ist die Refle­ xions­leistung, die Aristoteles in seiner Klugheits- und Tugendlehre moralepistemologisch in den Blick rückt und die somit nicht nur von wenigen herausragenden



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Selbstverständlich handelt es sich hierbei um eine Unterstellung, die nicht ganz zulässig ist. Denn schließlich hat Aristoteles ein Buch geschrieben mit dem Titel: Nikomachische Ethik. Auch wenn ungeklärt ist, wer Nikomachos ist und warum die Schrift nach ihm benannt ist (Vgl. Otfried Höffe: Aristoteles. München 2006, S. 188 f.), ist die Nikomachische Ethik doch ein Lehrbuch, mit dem bekanntlich das Ziel verfolgt wird, andere Menschen in die wissenschaftliche Disziplin der Ethik einzuführen. Die Unterstellung scheint mir an dieser Stelle dennoch legitim, weil sie die Schüler dazu herausfordert, inhaltlich begründet zum Fach Ethik Stellung zu beziehen.

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Kapitel 2

Menschen wie z. B. von Perikles275 erbracht werden kann, sondern von jedem Menschen, sofern er denn auf die richtige Weise in die Disziplin der Ethik eingeführt wird.

2.5.1 Didaktischer Kommentar zur fünften Unterrichtseinheit: Die beiden Hauptformen des sokratischen Gesprächs276 Es ist an dieser Stelle nicht mein Ziel, die unterschiedlichen Formen des sokratischen Gesprächs hinsichtlich ihrer epistemologischen Voraussetzungen mit Blick auf die ethische Urteilsbildung zu untersuchen und miteinander zu vergleichen. Dies habe ich an anderer Stelle bereits getan. 277 Stattdessen werde ich den Versuch machen, die dialogische Struktur der beiden Hauptformen des sokratischen Gesprächs offenzulegen und deutlich zu machen, worin diese sich unterscheiden. Zu diesem Zweck werde ich den Verlauf der Gespräche so darstellen, dass jeweils ihre spezifische dramatische Struktur zu erkennen ist. Dieser Vorgang wird in Form einer Geschichte erzählt, die die Erfahrungen des Sokrates beim Gespräch mit seinen Mitbürgern illustriert und die somit den platonischen Weg zu einer gelingenden Dialogform nachzeichnen soll. Auf diese Weise werden auch das Inszenierungskonzept und die dramaturgischen Mittel der beiden sokratischen Gesprächsformen in den Blick gerückt. Dabei soll sich erweisen, aus welchen Gründen die Lehrstück­ didaktik einen dialogischen Unterricht anstrebt, in dem alle Beteiligten gemeinsam etwas vor Augen haben, und warum sie die Veranstaltung von methodischen Diskursen ablehnt. Sokrates ist ein Denker, der eingesehen hat, dass er niemanden belehren und dass er seine Erkenntnisse und sein eigenes Urteilsvermögen mithin nicht durch den Vortrag richtiger Sätze und zutreffender Aussagen an seine Mitmenschen weitergeben kann. Darum präsentiert er sich in den Dialogen Platons als ein Lehrer, der sich darauf verlegt, seinen Gesprächspartnern stattdessen Fragen zu stellen. Natürlich in der Erwartung, dass diese mit ihren Antworten auf das zurückgreifen, was ihnen selbst klar ist oder was sie sich klarmachen können, wenn sie gezielt nachforschen und sich somit auch selbst ausforschen. Das ist, so scheint es, ein wohldurchdachtes Konzept zur Auflösung des Dilemmas, in dem jeder Lehrer steckt, der unterrichtet und der davon überzeugt ist, dass ein Unterricht ohne die Vorgabe eines belehrenden Urteils gewiss auch möglich ist. 278 Wer dieser Argumen

275 276



277



278

Vgl. Aristoteles: NE, VI, 5, 1140b 8–10. S. 200. Teile dieses Kapitels habe ich in einem Aufsatz »Unterricht im Zeichen der Perspektivität – Lehrstückdidaktik als Antwort auf die Signatur der Moderne« verwendet, den ich gemeinsam mit Daniel Löffelmann geschrieben habe. Es handelt sich um den Band »Relativität und Bildung (Hrsg. Carolin Führer u. a.)«, der voraussichtlich im Herbst 2021 erscheinen wird. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik. Teil IV: Metaethische Grundtypenbestimmung der sokratischen Didaktikansätze, S. 185–275. Leonard Nelson hat das Problem der sokratischen Methode in der folgenden Frage zusammen-



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tation folgt, propagiert folgerichtig einen sokratischen Unterricht, in dem diese Fragemethode kunstgerecht angewandt wird. Dieser Schluss ist jedoch sehr voreilig. Denn er lässt außer Acht, dass Platon Gespräche vorführt, die etwas ganz anderes deutlich machen. In den frühen Dialogen spricht Sokrates mit seinen Mitbürgern zum Beispiel über die Tapferkeit und über die Tüchtigkeit und greift damit Worte auf, die jedem geläufig sind und die jeder versteht. 279 Um herauszufinden, was der Angesprochene mit den aufgegriffenen »Begriffen« verbindet, wird er aufgefordert, möglichst gut und genau zu erklären, wofür sie nach seiner Auffassung stehen und was sie demnach besagen. Auf diese Weise soll er dazu gebracht werden, etwas von seinem Urteilsvermögen zu bekunden und es durch diese Bekundung aufzudecken. Dazu könnte es in der Tat kommen, wenn der Befragte es nicht allzu eilig hätte und sich tatsächlich ein wenig eingehender mit den Szenen befasste, die ihm bei der Suche nach der richtigen Antwort ganz gewiss in den Sinn kommen. Nähme er sich dazu nämlich die nötige Zeit, könnte er sich vergewissern, wie er die Situation einschätzt, in der sich die in seiner Phantasie auftretenden Akteure bewähren müssen, und welche Beweggründe sie in seiner Sicht für ihre Entscheidungen und für die darauffolgende Handlungsweise haben. In dieser besonnenen Nachschau280 könnten sich somit tatsächlich die Charakteristika der Handlungen hinreichend deutlich herausschälen, die er bei seinen Einschätzungen berücksichtigt und auf die er hindeutet, wenn er von der Tapferkeit oder von den hochgeschätzten Eigenschaften eines Mitmenschen redet. Aber Sokrates macht zu seinem großen Verdruss die Erfahrung, dass die Befragten gar nicht begreifen, worauf er mit seinen Fragen eigentlich hinauswill. Denn er sieht, dass seine Gesprächspartner ihn missverstehen und meinen, es sei ihre Aufgabe, stattdessen zu ermitteln, was das aufgegriffene Wort nach ihrem eigenen Wortverständnis denn nun genau genommen bedeutet. Auf diesem Weg teilen sie dem Fragenden das Ergebnis ihrer Ermittlungen mit präzisen Definitionsversuchen unverzüglich mit. Das ist für Sokrates ein großes Ärgernis, weil er davon überzeugt ist, dass sie das, was für ihr Verständnis maßgebend ist, durch solche Mitteilungen gar nicht deutlich machen können. Denn ihm ist bei unzähligen Gelegenheiten aufgefallen, dass sich die Befragten bei solchen Versuchen lediglich viele neue Wendungen einfallen lassen, um mit diesen wohlgewählten Ausdrücken noch einmal



279



280

gefasst: »Wie soll ein Unterricht und also Belehrung überhaupt möglich sein, wenn jegliches belehrende Urteil aus dem Unterricht verbannt ist ?« Für Nelson steht diese Frage sinnbildlich für ein grundsätzliches »pädagogisches Problem«. Leonard Nelson: Die sokratische Methode. In: Grete Henry-Herman (Hrsg.): Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik. Philosophische Bibliothek (Bd. 288). Hamburg 1975, S. 191–238, hier S. 213. Platon: Sämtliche Dialoge. In Verbindung mit Kurt Hildebrandt, Constantin Ritter und Gustav Schneider. Herausgegeben und mit Einleitungen, Literaturübersichten, Anmerkungen und Registern versehen von Otto Apelt. Band I. Vorwort und Einleitung zur Gesamtausgabe von Otto Apelt. Protagoras – Laches und Euthyphron – Apologie und Kriton – Georgias. Hamburg 1998. Ich beziehe mich hier vor allem auf die beiden Dialoge »Laches« und »Protagoras«. Der Begriff der Nachschau: Vgl. Fußnote 45.

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Kapitel 2

anders zu sagen, was das zur Besprechung vorgelegte Wort nach ihrer Sprachauffassung besagt. Nach der Beobachtung Platons wird das Frage-und-Antwort-Spiel von den meisten Philosophen seiner Zeit fast ausnahmslos so gespielt. Aber er will sich damit nicht abfinden, dass es endlos so weitergeht. Deshalb muss Sokrates in den frühen Dialogen als ein Gesprächsleiter auftreten, der die Gesprächsteilnehmer mit großem Erfolg zur Verzweiflung bringt und der immer wieder verzweifelt erkennt, dass er auch selbst mit seiner Kunst am Ende ist – genau in den Augenblicken, in denen er seine Mitbürger erfolgreich zu der einzigen Erkenntnis geführt hat, die nach seiner Methode zu gewinnen ist. Das ist der Befund, dass das, worüber sie reden, ihnen allen miteinander in Wahrheit nicht bekannt ist und dass es ihnen auch niemals bekannt gemacht werden kann. Ignorabimus – zu dieser Einsicht bringt er seine Gesprächspartner stets mühelos mit der einfachen Frage, was das sei und was das sein solle, wofür das Wort eingesetzt werde, das sie gerade verwendeten. Denn wer sie aufrichtig beantworten will, muss ja mehrere verschiedene Verwendungsmöglichkeiten benennen und für diese Benennung gleich eine ganze Reihe weiterer Sätze formulieren. Findet Sokrates jemanden, der sich auf diese Prozedur einlässt, kann er ihn endlos im Kreise herumführen. Denn die Frage, was das ist, wovon geredet wird, muss ja unbedingt auch im Hinblick auf die in diesen Sätzen vorkommenden Worte gestellt werden. In den Gesprächen, die Sokrates in dieser Manier vorführen muss, macht er bei alledem keinen Hehl daraus, dass er sich auch selbst endlos im Kreis dreht und keinen Weg weiß, der daraus herausführt – aus dem Labyrinth, in dem er nach seiner Überzeugung zusammen mit all seinen Mitbürgern umherirrt. Schaut man auf das Ergebnis, ist nicht zu verkennen, dass Platon die vielbewunderte und von Vielen nachgeahmte Fragekunst sehr einfallsreich parodiert, um aufzudecken, dass es sich in Wahrheit um einen Bluff handelt, der für den, der darauf hereinfällt, so verblüffend ist, dass er an seinem eigenen Verstand zweifelt und ihn am Ende verliert. 281 In den frühen Dialogen muss sich Sokrates bei alledem als ein Philosoph präsentieren, der die Anwendung dieses Verfahrens nicht nur für unumgänglich hält, sondern der sich einbildet, es sei auch für seine Mitbürger wichtig, auf diese Weise fachgerecht zu der Einsicht geführt zu werden, dass ihnen der Weg zu irgendwelchen Einsichten versperrt ist. Spätestens im Theaitetos282 zeigt sich Sokrates demgegenüber als ein Denker, der begriffen hat, dass die Experten für die Erforschung der Sätze am Ende nicht nur

281



282

Im neosokratischen Gespräch wird diese Fragekunst wieder salonfähig; angefangen bei Nelson, für den der Sinn des Gesprächs darin besteht, dass die Schüler durch die Methode des Fragens ihre eigene Unwissenheit einsehen: »Ein ihm [Sokrates, hinzugefügt von M. Z.] allgemein zugestandener Erfolg besteht zunächst darin, daß er durch seine Fragen die Schüler zum Eingeständnis ihrer Unwissenheit bringt und damit dem Dogmatismus bei ihnen die Wurzel durchschneidet. Dieser in der Tat auf keine andere Weise zu erzwingende Erfolg ist es, worin sich der Sinn des Gesprächs als Unterrichtsform offenbart.« Leonard Nelson: Die sokratische Methode. In: Leonard Nelson: Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik, S. 209. Vgl. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer.



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selbst völlig verwirrt sind, sondern auch alle Mitredenden unnötig verwirren, wenn ihr Gespräch über die von ihnen verwendeten Worte nur lange genug dauert. In dieser neuen Rolle darf er glänzen und als ein Gesprächsleiter auftreten, der seinen wortgläubigen Gegenspielern polemisch und mit zornigem Spott begegnet. 283 Dabei zeigt er ihnen auf, wie absurd die Diskursregeln sind, denen sie sich unterwerfen, und wie absonderlich die Diskurse verlaufen, die nach diesen Regeln geführt werden. In dieser Hinsicht ist seine Kritik radikal und vernichtend. In seiner neuen Rolle als Gesprächsleiter spricht Sokrates seinen Gesprächspartnern die sinnvolle Anwendung ihres Urteilsvermögens nicht mehr ab. Mehr noch: Er versäumt es nicht, sie taktvoll und behutsam daran zu erinnern, dass sie sich tatsächlich oft mit Erfolg ihres Verstandes bedienen und mit diesem Einsatz das Verständnis erweitern, das sie zuvor mit dessen Hilfe erworben haben. In diesem Sinne kann der sokratisch unterrichtende Lehrer also auch ein Gespräch inszenieren. Zum Beispiel so, dass er im Ethikunterricht vor den Augen der Schüler die Umrisse von typischen Situationen erscheinen lässt, die sie gemeinsam als Darstellungen des Schauspiels menschlichen Handelns oder tierischen Verhaltens betrachten können. Dabei treten stets Figuren auf wie die beiden Pferde Max und Sultan oder das Mädchen Frieda, Figuren, bei deren Vergegenwärtigung sie sich gegenseitig auf das, was ihnen auffällt, hinweisen können: mit Demonstrationen an der Tafel oder mit ihren Worten, auch mit Fragen, die die Aufmerksamkeit des Befragten in die angestrebte Richtung gehen lassen, und nicht zuletzt durch eigene Darstellungen wie z. B. Bilder, Metaphern und graphische Illustrationen, die das, was sich zeigen soll, noch deutlicher hervortreten lassen. Sokrates hält es nicht für nötig, seinen Namen zu ändern, wenn er in der neuen Rolle an die Möglichkeit und an die Notwendigkeit einer solchen Unterweisung erinnert. Wer Platons spätes Lehrstück im Theaitetos so auffasst, der präferiert auch eine andere Form sokratischer Gesprächskunst. 284 Er setzt nicht wie in den frühen Dialogen auf den Diskurs und die damit verbundene Klärung von Worten und Sätzen, sondern er inszeniert den sokratischen Unterricht als ein dialogisches Lerndrama, bei dem alle Beteiligten angeleitet werden, das, was ihnen bei der gemeinsamen Beobachtung typischer Szenen menschlichen Handelns auffällt, mit eigenen Mitteln deutlich zu machen.

Wie beißend der Spott des Sokrates gegenüber wortgläubigen Denkern wie Theaitetos ist, erschließt sich dem, der das XV. Kapitel aus dem Buch von Johannes Hachmöller liest. Johannes Hachmöller: Platons Theaitetos. Ein Gespräch an Heraklits Herdfeuer. XV Der sechste Teil des großen Perilogs. Die Übermittlung von Kenntnissen durch Aussagen: Der spartanische Kurierdienst zur Erleuchtung blinder Generäle. S. 363–386. 284 Michael Hampe stellt ebenfalls deutlich heraus, dass der Sokrates, der in Platons Theaitetos auftritt, selbst kein Thesenverfechter mehr ist und auch die daraus entstandene Lehre ablehnt. Mit seiner Sokrates-Darstellung wendet sich Hampe gegen eine bestimmte Form der ›akademischen Philosophie‹, in der die philosophische Lehre darauf verkürzt wird, dass Behauptungen aufgestellt und argumentativ begründet werden sollen. Vgl. Michael Hampe: Die Lehren der Philosophie. Eine Kritik. Erweiterte Ausgabe. Berlin 2020 [2. Auflage], S. 45 ff. 283

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Bei der Inszenierung des dialogischen Lerndramas kann der nach den Regeln der Lehrstückdidaktik sokratisch unterrichtende Lehrer natürlich viele unterschiedliche dramaturgische Mittel einsetzen. Welche das sein können, zeigt beispielhaft die didaktische Analyse des Kaffeehausdialogs. Die Aufgabenstellung hat ein bewegendes Moment, weil die Schüler damit in eine Handlung verstrickt werden, die sie nicht nur dazu nötigt, ihr eigenes Verständnis hinsichtlich der aristotelischen Tugendlehre zu explizieren, sondern auch dazu, sich darüber zu verständigen, wie sie das Spiel in den beiden vorgegebenen Rollen – wissender Lehrer und neugieriger Unbekannter – in Szene setzen wollen. Indem sie z. B. den Status der Figuren und die Handlungen während des Gesprächs festlegen müssen, werden sie dazu veranlasst, sich in der Phantasie eine Handlung zwischen den beiden Figuren auszudenken. 285 Im Zentrum des dialogisch angelegten Lerndramas steht dabei die Sprache der Schüler. Sie dient hier allerdings nicht nur zur Mitteilung der wesentlichen Aspekte der aristotelischen Tugendlehre. Denn durch sie kommen zugleich die gedanklichen Vorgänge zwischen den Figuren zum Vorschein, weil die Schüler durch ihre Ausdrucksweise den Status der beiden Figuren erkennbar machen. Deshalb kann man hier durchaus im Sinne Hausmanns von einem »dramatischen Bildungsgeschehen« sprechen: »Das dramatische Bildungsgeschehen bedarf wesentlich des Mittels der Sprache. Es ist ursprünglich auf gesprächsweises Handeln angewiesen.« 286 Die Schüler bekommen hier keine Frage gestellt, sondern sie werden durch die Inszenierung dazu angeregt und herausgefordert, anknüpfend an die beiden Zitate zentrale Pointen der aristotelischen Tugendlehre zur Anschauung zu bringen und somit darzustellen. Es handelt sich bei alledem um einen spielerischen Umgang mit der Sache, bei dem der Spielraum der Imagination durch die Rollenzuschreibung des wissenden Lehrers und durch die beiden Zitate bewusst eingeschränkt ist, damit das Wesentliche nicht aus dem Blick gerät. Der Kaffeehausdialog ist also auch ein Mittel, um festzustellen, ob die Vorstellungen der Schüler richtig bzw. der Sache nach angemessen sind. Zugleich enthält die Inszenierung des Dialogs ein »sachgebundenes Spannungsmoment« 287, weil die Schüler die nicht ganz leichte Aufgabe haben, dass Wesentliche des zurückgelegten Gedankengangs in einem anderen Kontext darzustellen, der durch die Rollenzuschreibung der beiden Figuren auch dramatisch aufgeladen ist.



285 286



287

Vgl. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 206. Ebd., S. 147. Dass es sich bei dem dialogischen Lerndrama um ein »Gespräch in Handlungen« handelt, ist klar ersichtlich. An einer anderen Stelle zitiert Hausmann Goethe, der den eigentlichen Gehalt der sprachlichen Darstellungsform aus meiner Sicht noch genauer mit Blick auf das Theaterstück zum Ausdruck gebracht hat: »[…] insofern es den Sinn des Auges mitbeschäftigt und unter gewissen Bedingungen örtlicher und persönlicher Gegenwart faßlich werden kann.« (Ebd., S. 143.) Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe: Schriften zur Literatur: Shakespeare und kein Ende. In: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Band XII. Schriften zur Kunst, Schriften zur Literatur, Maximen und Reflexionen. S. 296. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 222.



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Die dramatische Aufladung resultiert zudem daraus, dass die Schüler sich zunächst gemeinsam in Partnerarbeit vor ein Darstellungsproblem gestellt sehen. Denn sie müssen sich ja überlegen, wie sie die Rollen der beiden Figuren und den Dialog anlegen, in den die Figuren miteinander treten sollen. Um diese dramaturgische Entscheidung sinnvoll treffen zu können, müssen sie eine eigene Lösung für das Darstellungsproblem finden, die dann gemeinsam im Plenum analysiert, diskutiert und beurteilt werden kann. Entscheidend dabei ist, dass diese Beurteilung der gefundenen Lösungen vor dem Hintergrund des eigenen Verständnisses erfolgt, denn das eigene Verständnis der Schüler zeigt sich vielmehr erst in ihren Darstellungen. Die Sache gerät hier also niemals aus dem Blick, sondern wird nur unter einer neuen Perspektive betrachtet. Demnach ist das dramaturgisch angelegte Darstellungsproblem und somit auch die methodische Inszenierung des Kaffeehausdialogs selbstverständlich kein Selbstzweck. Denn dadurch müssen die Schüler ihr Verständnis auf eine neue Weise demonstrieren und durch die von ihnen gewählte Darstellungsform indirekt deutlich machen, wie sie sich einen dialogischen Lernprozess vorstellen. Das Spiel im Spiel oder das Theater im Theater wird damit zum Ausgangspunkt für eine Metareflexion und für eine kritische Reflexion. 288 Diese Möglichkeit ergibt sich aus der methodischen Inszenierung des Kaffeehausdialogs, die eine Beschäftigung mit der Frage nach der Funktion der Darstellungsform nahelegt. Mit Fragen wie: »Was ist Ihr Status im Dialog ? Wie fühlen Sie sich dabei ?«, kann der Lehrer gemeinsam mit den Schülern eine Metaperspektive auf die Darstellungsform eröffnen. Im Zentrum steht dabei ihr körperlicher und sprachlicher Ausdruck, weil die Art der Darstellung etwas deutlich macht. Die Schüler geben hier nicht nur den gelernten Wissensstoff wieder, sondern sie bringen auf spielerische Weise ihre eigenen Erfahrungen und das Verständnis ihrer eigenen Rolle mit ein. Auf diese Weise kommt ihre eigene schulische und im weiten Sinne auch gesellschaftliche Situation mit ins Spiel. Das aristotelische Unterrichtstheater, das bis hierhin vor allem ein Identifikationstheater war, weil sich die Schüler mit den Figuren identifizieren sollten, gewinnt damit eine epische Dimension. Denn wenn die Schüler im dialogischen Drama nicht nur vorführen und vorspielen, was sie bewegt, sondern wenn sie die zuschauenden Mitschüler bei der Vorführung und durch die Art ihrer Vorführung auch dazu einladen, das Vorgespielte einzuordnen und zu deuten, dann reflektieren sie damit ebenfalls ihre Situation und ihr Verhältnis zu Mitschülern und Lehrern. Es tritt also ein Stück ihrer eigenen Welt hervor, das im Spiel einer gemeinsamen kritischen Betrachtung unterzogen werden kann.



288

In ganz ähnlicher Weise ist auch die Provokation durch den Lehrer im letzten Teil der fünften Unterrichtseinheit als ein dramaturgisches Mittel zu verstehen, mit dem das Ziel verfolgt wird, die Schüler zu einer kritischen Reflexion zu bewegen. Es reicht also auch nicht aus, wenn die Schüler durch die dramaturgische Anlage des Unterrichts zu »Aristotelikern« gemacht werden. Vielmehr ist die Dramaturgie im Rahmen der Lehrstückdidaktik stets so angelegt, dass sie, nachdem sie ein eigenes Verständnis der Sache entwickeln konnten, mit spielerischen Mitteln dazu angeregt werden, in eine kritische Auseinandersetzung zu treten.

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In diesem Sinne überwindet der Lehrstückunterricht den Charakter einer Schaubühne, in dem die einzelnen Denk-Figuren des Aristoteles nur präsentiert werden, und folgt ansatzweise dem Programm des ›epischen Theaters‹. Die Brecht’sche Form des Lehrstücks ist damit zwar noch nicht erreicht, aber der so gestaltete Ethikunterricht ermöglicht doch eine Spiegelung und eine kritische Betrachtung der Bedingungen und der geltenden Regeln des menschlichen Zusammenlebens; mit den Worten Brechts: »Es [das Theater, hinzugefügt von M. Z.] macht die praktikablen Abbildungen der Gesellschaft, die dazu imstande sind, sie zu beeinflussen, ganz und gar als ein Spiel.« 289 Der Lehrstückunterricht wird auf diese Weise zu einem lehrreichen Unterrichtstheater, in dem die Schüler durch die gemeinsame Betrachtung und Interpretation ihrer eigenen Darbietungen dazu gelangen, einen kritischen Blick auf sich selbst zu werfen – und auf die Verhältnisse, in denen sie leben. Bei alledem geht es nicht zuletzt darum, den Unterricht durch diese Dramatisierung lebendig zu machen. Die Inszenierung des Kaffeehausdialogs ist darauf angelegt, dass die Schüler in Bewegung kommen und selbst aktiv und produktiv werden. Sie bekommen die Erklärungen und Urteile nicht vom Lehrer geliefert und diese werden auch nicht aus ihnen herausgefragt, sondern sie bringen durch ihre Darstellungen und Vorführungen ihre eigene Weltsicht selbst zum Vorschein. So deutlich und pointiert, dass ihre Mitschüler zu Mitbetrachtern werden, die miteinander über das sprechen, was sich zeigt und was ihnen gezeigt wird. Solche Gespräche sind oft sehr viel spannender und lehrreicher als Diskussionen, in denen ein argumentativer Wettbewerb stattfindet, bei dem der eine den anderen zu beweisen versucht, dass sein Argument stärker und das der anderen schwächer ist. Demgegenüber werden die Mitspieler im dialogischen Lerndrama dazu ermutigt, sich gegenseitig auf wichtige Aspekte in ihren eigenen Darstellungen aufmerksam zu machen und über das zu sprechen, was sie gemeinsam entdecken. Damit gewinnt der Unterricht eine ungewöhnliche Offenheit und Lebendigkeit und in dieser spielerischen Geselligkeit und Leichtigkeit ist er oft unvergleichlich ertragreich und bei allem Verzicht auf Belehrungen außerordentlich lehrreich. Das Mitspielen und Mitmachen soll für alle Beteiligten vergnüglich sein, vor allem auch deshalb, weil dieses Vergnügen die wichtige Voraussetzung dafür ist, dass die Schüler fröhlich miteinander umgehen und sich in dieser Fröhlichkeit gegenseitig zur Kenntnis nehmen und kennenlernen – in einem Unterricht nach dem Ideal des Comenius, der in seiner Didactica magna folgende Ansprüche an das Gespräch stellt: Gespräche regen an, beleben und unterhalten die Aufmerksamkeit, und zwar durch die Mannigfaltigkeit der Fragen und Antworten und durch deren verschiedene Veranlassung und Formen. Auch wird der Geist, wenn zuweilen ein Scherz eingestreut wird, ja überhaupt durch die Verschiedenheit und den Wechsel der sprechenden

289

Bertolt Brecht: Kleines Organon für das Theater. In: Schriften zum Theater, Band VII, 1948 – 1956. Berlin und Weimar 1964. S. 9–63, hier S. 25.



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Personen nicht nur frei von Langeweile, sondern es regt sich in ihm auch der Hunger, mehr zu hören. Die Gesprächsform festigt die Bildung. Denn wie wir uns sicherer an etwas erinnern, was wir selbst gesehen haben, als an das, worüber wir nur durch Hörensagen wissen, so haftet im Geist der Lernenden das fester, was wir nach der Weise eines Lustspiels oder Gesprächs lernen (da wir hier nicht so sehr zu hören, als zu sehen meinen), als was wir nur im Vortrag von dem Lehrer erzählen hören. 290

Die Lehrstückdidaktik ist demnach eine »dramaturgische Didaktik« 291, weil sie von der Einsicht geleitet ist, dass die Inszenierung eines lebendigen Unterrichts nur dann gelingt, wenn alle Beteiligten das, worum es geht und was zu erklären ist, gemeinsam deutlich vor Augen haben, und wenn sie dazu angeleitet werden, das, was noch nicht hinreichend einprägsam hervortritt, durch ihre vielgestaltigen Darstellungsleistungen besser fassbar zu machen.

2.6 Sechste Unterrichtseinheit: Die Tugend als Mitte zwischen zwei Extremen. Charakterstudien im Kasperletheater Der Vorhang im Kasperletheater hebt sich. Es treten auf:

 Franz, ein reicher und gutaussehender Bauer; Josef, sein Knecht, der, so wie es sich gehört, ein junger, lebenslustiger und durchtrainierter Bursche ist, der zupacken kann und der froh ist, eine Arbeit zu haben, die körperlich zwar sehr anstrengend ist, die ihm aber die Möglichkeit gibt zu zeigen, dass er geschickt, sachkundig und zuverlässig ist. Beide werben um die Gunst der ungewöhnlich schönen und zudem sympathischen Guste, die von allen gemocht wird, weil sie das Herz, wie man sagt, auf dem rechten Fleck hat. Beide tun, was sie können, um sie für sich zu gewinnen. Auch beim Tanz auf dem Dorfball. Am Ende des bis tief in die Nacht hinein andauernden Festes bleibt nicht unbemerkt, dass Guste sich freundlich an Josef wendet und ihm sagt, sie möchte so, wie es sich schickt, von ihm nach Hause begleitet werden. 292 Die Schüler bekommen als Partnerarbeit zu dieser Szene den folgenden Auftrag:

Johann Amos Comenius: Didactica magna. Übersetzt und herausgegeben von Walther Dorbrodt. Leipzig 1910 [2. Auflage]. Kapitel XIX, S. 115. Vgl. auch Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 154. 291 Der Begriff der »dramaturgische Didaktik« stammt von Gottfried Hausmann. Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 241. 292 Die Figuren im Kasperletheater stellen Stereotype dar, dessen muss sich der Lehrer bewusst sein. Wer als Lehrer mit solchen klischeehaften Eigenschaften und Namen ein theaterähnliches Spiel spielt, sollte auch an irgendeiner Stelle im Unterricht deutlich machen, dass es sich dabei um stereotype Denkweisen und Figurenkonstellationen handelt. Darüber hinaus ist eine kritische Reflexion der damit verbundenen Geschlechterbilder erforderlich. 290

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 Was kann Franz bloß falsch gemacht haben ? Malen Sie sich die Szene weiter aus, und zwar so genau, dass verständlich wird, warum sich die vielbegehrte Guste am Ende des Abends für Josef entscheidet. Die Schüler dichten die Szene vor dem inneren Auge weiter. In der Regel kommt dabei Franz als »Charakter« nicht gut weg. In ihrer Sicht ist er ein allzu großspuriger Hof­erbe, der viel zu sehr von sich eingenommen ist. Es könnte auch sein, dass Franz als Tänzer womöglich nicht ganz taktsicher ist, aber bei alledem fest auftretend. Guste spürt in der Unterhaltung mit Franz, dass es nicht wirklich um sie geht oder dass Franz im Gespräch mit ihr überhaupt nicht authentisch wirkt. Zum Beispiel könnte er ihr ziemlich einfältige Komplimente machen, die nicht sie selbst, sondern nur ihr Äußeres betreffen. Das Ganze führt dann wiederum sehr oft zu abgedroschenen Floskeln, die Franz derart phrasenhaft vor sich hinsagt, dass sich daran zeigt, dass er sie bereits bei unzählig vielen anderen Anlässen zum Besten gegeben hat. Der Lehrer kann die Sache noch weiterführen, indem er den Schülern die folgende Aufgabe gibt:

 Überlegen Sie sich mal zu zweit eine abgedroschene Floskel, mit der Franz die schöne und gutmütige Guste mächtig beeindrucken will. Spielen Sie die kurze Szene zwischen Franz und Guste so ein, dass Franz bei seinem Auftritt unstimmig wirkt. Sie sollen gezielt mit Übertreibungen arbeiten, sodass das charakterliche Defizit von Franz deutlich hervortritt. Achten Sie bei Ihren Auftritten bitte auf Folgendes: 1. Wer ist Franz und wer ist Guste ? 2. Wo spielt die Szene ? 3. Was ist der Status der beiden ?293 Der Lehrer sollte den Schülern für diese Aufgabe ausreichend Zeit zur Verfügung stellen, damit sie sowohl ihre vielen Erfahrungen als auch ihre Phantasie ins Spiel bringen können. Denn die Schüler müssen sich die selbstgewählte Szene nun nicht nur vor dem inneren Auge ausmalen, sondern sie sind veranlasst, eine abgegriffene Floskel wie etwa diese: »Du hast wirklich wunderschöne Augen. Ob du schick gekleidet bist, ist mir völlig egal. Was für mich zählt, ist allein die Schönheit deiner Augen.«, auch äußerlich zur Darstellung zu bringen, und zwar so, dass darin auch der entsprechende Charakter von Franz zum Vorschein kommt. Der Lehrer kann bei der anschließenden Besprechung der Szene die Aufmerksamkeit der Schüler durch ein paar geschickte Fragen lenken:

 In welcher Weise war Franz für Sie unstimmig ? Woran hat sich das gezeigt ? Auf welche Weise hat er seine Gefühle zum Ausdruck gebracht ? Was hat Sie daran gestört ?294

Wenn die Schüler mit der Methode des szenischen Spiels nicht vertraut sind, kann man ihnen auch eine abgedroschene Floskel, die Franz im Gespräch mit Guste zum Besten geben soll, vorgeben. Zum Beispiel diese: »Ich habe noch nie jemanden gesehen, der so schön ist wie du.« 294 Manchmal kann es sinnvoll sein, dass die Schüler ihre Beobachtungen vor der Besprechung 293



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Durch diese Fragen kann der Lehrer bei der ersten Beschreibung der Szene das Augenmerk zunächst auf die Frage lenken, wie Franz sich zu seinen eigenen Affekten, Gefühlen und Leidenschaften verhält. Damit rückt er zugleich einen wesentlichen Aspekt der arete als mesotes in den Blickpunkt der Aufmerksamkeit. 295 Denn durch die Aufforderung zur Übertreibung müssen die Schüler irgendwie zum Ausdruck bringen, wie sich Franz zu seinen eigenen Affekten bzw. zu seinem eigenen Begehren verhält – und dies müsste sich selbstverständlich auch in seinen Handlungen und in seiner Redeweise zeigen. Wenn zum Beispiel in seinen Handlungen deutlich wird, dass er hinsichtlich seines Begehrens, die schöne Guste zu erobern, völlig unbeherrscht und taktlos ist, dann missfällt uns das in der Regel als Zuschauer. Und dieses »uns« impliziert, dass es auch den Schülern bei der Betrachtung der szenischen Vorführungen auffällt und missfällt, sodass sich der Umgang mit den (eigenen) Affekten direkt an dem Schauspiel thematisieren lässt. Entscheidend ist in diesem Zusammenhang, dass den Schülern deutlich vor Augen tritt, dass nicht das Begehren als solches an Franz problematisch ist. So kann man als Lehrer zum Beispiel die Nachfrage stellen, ob denn sein Begehren an sich lobenswert oder tadelnswert ist. Das ist selbstverständlich nicht der Fall. Denn auch Josef drückt ja sein Begehren auf irgendeine Weise aus und bei ihm finden wir es merkwürdigerweise in keiner Weise als störend. Die Affekte selbst sind für Aristoteles weder lobenswert noch tadelnswert. 296 Es sind folglich nicht die Affekte als solche, die wir mit unserem Lob und Tadel qualifizieren, sondern es ist die Art und Weise, wie wir uns zu ihnen verhalten. Dies veranlasst uns zu einem ethischen Urteil, und in diesem Urteil richten wir über das jeweilige Verhältnis, das der Beurteilte zu seinen Affekten hat. Das heißt, die Schüler werden durch die Inszenierungsaufgabe dazu herausgefordert, sich sehr genau zu überlegen, wie und in welcher Weise Franz das richtige Maß in dieser Hinsicht verfehlt. Und dieses Fehlverhalten müssen sie auf irgendeine Weise so zur Darstellung bringen, dass es ihre Mitschüler sehen und verstehen können. So könnte Franz beispielsweise bei seinen Schmeicheleien in einer bestimmten Pose auftreten, die deutlich macht, wie er von der eigenen Lust besessen und wie selbstbezogen sein Begehren in Wirklichkeit ist. Die Zügellosigkeit, mit der Franz demnach sein Begehren zum Ausdruck bringt, wäre in diesem Fall völlig unangemessen, sodass er eben »das Mittlere« im Sinn des »Richtigen« deutlich verfehlt. 297 Lassen sich die Schüler auf dieses Spiel ein, spielen sie es auch gern weiter, wenn ihnen die Aufgabe gestellt wird, vorzuführen, wie Josef um Guste wirbt. Durch die Art ihrer Vorführung soll sich zeigen, was er im Gegensatz zu Franz richtig macht:



295



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schriftlich festhalten: »Achten Sie beim Zuschauen darauf, in welcher Weise Franz für Sie unstimmig wirkt ? Woran hat sich das gezeigt ? Halten Sie Ihre Eindrücke in Stichpunkten fest.« Vgl. Ursula Wolf: Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre (II). In: Klassiker auslegen. Herausgegeben von Otfried Höffe. Band 2. Aristoteles: Nikomachische Ethik. Berlin 2006 [2. Auflage]. S. 83–108, hier S. 90. Aristoteles: NE, II, 4, 1105b 31. S. 81. Vgl. Ursula Wolf: Über den Sinn der Aristotelischen Mesoteslehre (II). S. 90. Aristoteles: NE, II, 5, 1106b 17–27. S. 84.

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Kapitel 2

 Versuchen Sie sich noch einmal in Josef hineinzuversetzen und versuchen Sie dann die gleiche abgedroschene Floskel, die Sie Franz in den Mund gelegt haben, so zur Darstellung zu bringen, dass Josef dabei völlig authentisch und überzeugend wirkt. Dazu müssen sich die Darsteller überlegen, wie ein richtiger Umgang mit den eigenen Affekten und Gefühlen aussehen könnte. Es sollte sich an den Vorführungen zeigen lassen, dass es nicht die Worte selbst sind, sondern vielmehr die Art und Weise, wie die abgedroschene Floskel zum Ausdruck gebracht wird. Darin manifestiert sich maßgeblich, ob jemand in der richtigen affektiven Verfassung ist oder ob er das nicht ist, und darin zeigt sich in gewisser Weise auch, von welcher Einschätzung des Gegenübers und von welcher Selbsteinschätzung der Umgang mit dem Affekt geprägt wird. Denn es muss deutlich werden, dass Josef seine Zuneigung zu Guste auf eine andere Weise als Franz, nämlich auf eine angemessene Weise zum Ausdruck bringt. Das kann sich zum Beispiel darin ausdrücken, dass er sich auf die Umworbene wirklich einlässt und seine Gefühle zeigt. Josef sollte sich demnach auch nicht verstellen oder etwas vorspielen müssen, was er in Wirklichkeit gar nicht ist. Da die zuschauenden Schüler bei alledem so agieren und reagieren wie das Publikum im Theater, kann der Lehrer sie in dieser Rolle beobachten und sich ein genaueres Bild von der Gesellschaft machen, in der sie leben und von der sie, ohne es zu wissen, geprägt sind. Denn als Theaterpublikum verkörpern die Schüler mit ihrem Spott, mit ihrem Gelächter und ihren Respektbezeugungen die Gesellschaft, für die nach der aristotelischen Mesotes-Lehre entschieden und schon beim Hinsehen genau entscheidbar ist, was ethisch richtig oder im Gegenteil geringzuschätzen und tadelnswert ist. Diese konkrete Ausleuchtung der Szenen ist auch deshalb so wichtig, weil sich vor allem auf diesem Wege den Schülern zeigen lässt, dass die Rede von der Mitte bei Aristoteles niemals einen arithmetisch bestimmten Richtwert oder gar ein allgemeines Gesetz meint. Vielmehr besitzen die Schüler bereits einen ethischen Sinn für das richtige Handeln, der auch mit Blick auf die dargestellten Szenen zum Vorschein kommt. Das »Fußfassen im Konkreten« 298 ist hier also sowohl inhaltlich als auch methodisch motiviert. Denn bei der gemeinsamen Deutung der konkreten Szenen kann den Schülern deutlich werden, dass es in diesem Zusammenhang keine allgemeine Handlungsregel gibt, die strikt festlegt, was im Einzelfall die richtige Handlungsweise ist, und die sich demnach auch nicht einfach so auf alle ähnlichen Fälle übertragen lässt. Damit dies den Schülern anschaulich vor Augen tritt, darf man sich einen kleinen Spaß erlauben und ihnen die folgende Anweisung geben:

298

Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch. Erfahrungen in philosophischen Hochschulseminaren. Hannover 1981, S. 67. »Der Gesprächsleiter muß die Teilnehmer dazu bringen, im Konkreten Fuß zu fassen, und dafür sorgen, daß beim Fortschreiten zu allgemeineren Einsichten der Zusammenhang mit dem Konkreten immer bewusst bleibt. Er wird etwa die Teilnehmer auffordern, einen in allgemeiner Formulierung geäußerten Gedanken durch ein Beispiel zu erläutern. Beispiele sind für den Zweck, den sie im sokratischen Gespräch haben, mehr oder weniger geeignet. Je näher ein Beispiel am Erfahrungsbereich der Teilnehmer ist, desto besser ist es.«



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 Spielen Sie den Franz doch einmal so, dass er in der Szene mit der schönen Guste nur mittelstarke Affekte hat. Das heißt, er ist weder unbeherrscht leidenschaftlich noch völlig beherrscht, sondern von beiden Extremen gleich weit entfernt. Wir legen also die allgemeine Handlungsregel fest, dass er beim Zusammensein mit schönen Frauen nur dann alles richtig macht, wenn er hinreichend genau die so bestimmte Mitte trifft.299 Sehen sich die Schüler mit dieser Darstellungsaufgabe konfrontiert, werden sie bei ihren gemeinsamen Überlegungen und Vorführungen begreifen, worauf uns Aristoteles mit seiner These von der »richtigen Mitte« aufmerksam machen will. Im Anschluss an die Vorführungen darf der Lehrer ein paar provokante Fragen stellen, z. B. die, ob es denn ausreicht, wenn Franz die gemeinsam festgelegte allgemeine Handlungsregel beim Zusammensein mit schönen Frauen befolgt. Handelt er dann stets richtig ? Spätestens dann sollte den Schülern deutlich werden, dass Aristoteles mit der Lehre von der Mitte nicht das strikte Festhalten an einer allgemeinen Handlungsregel gemeint haben kann, was sich übrigens auch darin zeigen könnte, dass die gespielte Szene einer gewissen Komik nicht entbehrt. Und genauso wenig kann Aristoteles damit ernsthaft gemeint haben, dass sich die richtige Mitte rein quantitativ bestimmen lässt, sprich im Sinne eines nicht zu viel und nicht zu wenig an Affekt. Um diesen Teil des Lehrstücks sinnvoll abzuschließen, kann der Lehrer die folgende Aufgabe stellen:

 Stellen Sie sich vor, dass sich der reiche Bauer Franz und sein Knecht Josef bei der gemeinsamen Arbeit im Kuhstall darüber unterhalten, was nun das Richtige ist bei der Eroberung von schönen Frauen und wie man das am besten anstellt.

 Schreiben Sie in Partnerarbeit einen pfiffigen Dialog, in dem deutlich wird, wie die beiden in diesem Punkt denken. Bitte treten Sie anschließend mit diesem Dialog wie auf einer Bühne vor der ganzen Klasse auf. Ihre Vorführung soll uns Zuschauern deutlich machen, was Guste bemerkt, wenn sie Franz einen Korb gibt. Kommt es zur Aufführung, darf der Lehrer den zuschauenden Schülern ausdrücklich den Auftrag geben, sehr genau darauf zu achten, was die Schauspieler deutlich machen wollen. Im Anschluss an die Aufführung sollte er den Zuschauern die Zeit lassen, die sie brauchen, um sich zu ihren wichtigsten Beobachtungen ein paar Stichpunkte zu machen. Das, was in der nachfolgenden Besprechung klar wird, muss danach vom Lehrer oder von den Schülern wiederum dargestellt werden, z. B.



299

Die Aufgabe ist in zweifacher Hinsicht absurd: Denn erstens ist der Grad der Beherrschung der Affekte und die Stärke menschlicher Affekte nicht messbar und lässt sich demzufolge auch nicht in Zahlen abbilden. Darauf wird noch näher eingegangen. Und zweitens ist die Vorstellung absurd, dass wir die menschlichen Affekte vollständig unter Kontrolle bringen und dass wir sie selbst machen können.

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in einem Schaubild, in dem die wichtigsten Beweggründe der beiden Protagonisten festgehalten werden, sodass man im weiteren Verlauf des Unterrichts darauf zurückgreifen kann. Bei ihren Aufführungen und Vorführungen kann man die Schüler darauf aufmerksam machen (wenn sie es nicht selbst bemerken), dass es sich um ihre eigenen Wertmaßstäbe handelt und dass sie demnach auch ein ethisches Richtmaß besitzen, das sie bei der Beurteilung der Affekte und Handlungsweisen von Franz und Josef zur Anwendung bringen. Diese Einsicht wird weiter vertieft, wenn sie aufgefordert werden, die folgende Frage schriftlich zu beantworten:

 Warum können wir uns als Publikum im Kasperletheater eigentlich darüber freuen, dass Franz bei seinem Eroberungsfeldzug mächtig auf die Nase fällt ? Selbstverständlich kommt es darauf an, um was für eine Art von Publikum es sich bei der jeweiligen Klasse handelt. Im Kasperletheater identifiziert sich das Publikum in der Regel sehr stark mit Josef, weil es durch ihn seine eigenen Wertvorstellungen bestätigt bekommt. Es sieht und erkennt sich in den Handlungsweisen von Josef selbst. Genauer gesagt erkennt es das Gute in sich selbst ! Auf der anderen Seite verkörpert Franz das Schlechte, den Wunsch nach Geld und Besitz und den selbstbezogenen Drang nach äußerlichen Dingen. Auch Guste ist vielleicht für ihn nur ein schönes Schmuckstück, eine Trophäe, mit der er vor den anderen Dorfbewohnern angeben will. Eine wohlwollende Erklärung für die Freude des Publikums wäre die, dass mit Josefs Erfolg die Gerechtigkeitsmaßstäbe des Publikums bestätigt werden. Der gute Josef siegt, und in seinem Triumph realisiert sich der Wert der Gerechtigkeit. Es gibt aber auch noch eine andere Art der Freude, die für das Publikum als vermeintlich moralische Instanz weniger schmeichelhaft ist. Auch darauf können die Schüler aufmerksam werden, die sich selbst auf die Spur kommen, weil sie sich in der Rolle des Zuschauers wiederfinden. Denn der Lehrer kann ihnen, wenn es um das Vergnügen des Publikums geht, das folgende Rätsel vorlegen:

 Warum freut sich das Publikum und lacht herzhaft, wenn der reiche Bauer Franz von der Umworbenen abgewiesen wird ? Auch das kindliche Publikum im Kasperletheater lacht nicht nur, weil der moralisch überlegene Held triumphiert, sondern oft auch deshalb, weil andere Regungen im Spiel sind: Beweggründe, die der Zuschauer nicht wahrhaben will, wenn er entdeckt, dass sie ihn selbst umtreiben. Nicht zuletzt auch das »Gefühl der eigenen Überlegenheit angesichts fremder Fehler« 300 , dessen Bedeutung für das Lachen des Menschen Hobbes sehr scharf ausgeleuchtet hat. Weil Aristoteles sich überaus gründlich mit den Darstellungen menschlicher Tätigkeit in den Tragödien und Komödien beschäftigt und daher einen genauen Einblick in das Seelenleben hat, hat

300

Thomas Hobbes: Vom Menschen. Vom Bürger. Elemente der Philosophie II/III. Eingeleitet und herausgegeben von Günter Gawlick. Hamburg 1994, S. 33.



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er selbstverständlich auch einen genauen Blick für die Schadenfreude, für den Neid und für all die abgründigen Regungen, die sich in das Lachen des Publikums und in die Äußerungen seines Vergnügens einmischen können. 301 Der das Lehrstück inszenierende Lehrer darf bei der Planung nicht ausschließen, dass die zuschauenden Unterrichtsteilnehmer, die sich natürlich auch selbst erkunden, wenn sie über das Publikum reden, zu ähnlichen Einsichten gelangen. Dies ist nicht unwahrscheinlich, wenn sie sich mit der Frage beschäftigen, welche Gründe sie eigentlich für ihre Heiterkeit bei der Betrachtung des Bühnengeschehens haben. Ist der Lehrer als Regisseur darauf eingestellt, kann er sich auch in diesem Fall auf die Interpretationen seiner Schüler einlassen und mit seinen Arrangements dafür sorgen, dass sie das, was sie in dieser Hinsicht finden, mit ihren Mitteln verständlich machen und bei ihren Auslegungen gemeinsam berücksichtigen können. Entdecken die Schüler, dass die Heiterkeit des Komödienpublikums nicht nur gute, sondern auch höchst fragwürdige Gründe haben kann, haben sie zugleich eine Chance, das Lachen als eine soziale Geste zu verstehen. Mit diesem Verständnis haben sie darüber hinaus die Möglichkeit, einen Zugang zur aristotelischen Anthropologie zu gewinnen. Die Bewertung des Lachens als sozialer Geste hängt in hohem Maße von den anthropologischen Voraussetzungen ab, die eine ethische Theorie für sich beansprucht. Aristoteles scheint in diesem Zusammenhang viel optimistischer als viele Denker des 20. Jahrhunderts, allen voran Sartre, die aus guten Gründen hierzu eine andere Position eingenommen haben. 302 Der aristotelische Optimismus zeigt sich zum Beispiel daran, dass er einen sehr viel wohlwollen

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Aristoteles könnte eine solche kritische Sichtweise auf die empfundene Schadenfreude des Publikums auf zwei Weisen begründen: Erstens dadurch, dass er im Rahmen seiner Poetik ganz grundsätzlich feststellt, dass die Komödie, dazu zählt im weiten Sinne auch das Genre des Kasperletheaters, die Nachahmung von »schlechteren Menschen [ist] – aber nicht in jedem Sinn von Schlechtigkeit, sondern »nur« zum Unschönen gehört das Lächerliche. Denn das Lächerliche ist eine bestimmte Art der Verfehlung »des Handlungszieles« (wie bei der Figur Franz, hinzugefügt von M. Z.) und eine Abweichung vom Schönen, die keinen Schmerz verursacht und nicht zerstörerisch ist.« (Aristoteles: Poetik. Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008, 1449a 32ff. S. 8.) Die Komödie stellt also immer schon Menschen dar, die von der Norm abweichen. Und zweitens kann ein Theaterpublikum, das selbst von dem Affekt der Schadenfreude beherrscht ist, von vornherein niemals das richtige Maß treffen, weil dieser Affekt selbst schlecht ist: »Nicht jede Handlung und nicht jeder Affekt lässt allerdings eine Mitte zu. Einige haben nämlich Namen, die die Schlechtigkeit bereits implizieren, zum Beispiel Schadenfreude, Schamlosigkeit, Neid […]. All diese und ähnliche Dinge werden so benannt, weil sie selbst schlecht sind, und nicht das Übermaß oder der Mangel an ihnen. Man kann also in diesem Bereich niemals das Richtige treffen, sondern immer nur fehlgehen.« (Aristoteles: NE, II 6, 1107a 8–15. S. 85.) Dass das Lachen als eine soziale Geste verstanden werden muss und dass es sich dabei zugleich um einen körperlichen Ausdruck handelt, der den Menschen quasi wie ein Hustenanfall überkommt, wird von Philosophen wie Bergson, Sartre und Plessner deutlich herausgearbeitet. Die einzelnen Theorien des Lachens unterscheiden sich aber in dem Punkt, wie sie das Lachen als soziale Geste bewerten. (Vgl. Henri Bergson: Das Lachen. Ein Essay über die Bedeutung des Komischen. Übersetzt von Roswitha Plancherel-Walter. Hamburg 2011, S. 98, vgl. Jean-Paul Sartre: Der Idiot der Familie. Gustave Flaubert 1821 bis 1857. Bd. 2: Die Personalisation 1 (frz. 1971). Reinbek bei Hamburg 1980 [2. Auflage], S. 186, vgl. Helmuth Plessner: Philosophische

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deren Blick auf das gesellschaftliche Bewertungssystem von Lob und Tadel und somit auch auf die soziale Geste des Lachens hat. Dass das Lachen auch ein Hinweis dafür sein kann, dass eine Person aus der Gemeinschaft ausgeschlossen werden soll, scheint für ihn jedenfalls nicht in Betracht zu kommen. Die Schüler interpretieren das soziale Phänomen des Lachens auf ganz unterschiedliche Weise. In der Divergenz ihrer Auslegungen zeigt sich auch die Ambivalenz bei der Deutung der menschlichen Natur und der daraus resultierenden Bewertung der gesellschaft­ lichen Sanktionierungssysteme. Im weiteren Verlauf des Lehrstücks soll diese Ambivalenz im Hinblick auf die anthropologischen Voraussetzungen der aristotelischen Ethik noch genauer ausgeleuchtet werden. 303 Wenn die Schüler entdecken, welche Rolle sie selbst bei der Deutung und Beurteilung der ihnen vorgeführten komödiantischen Szenen spielen, sprich, dass sie es selbst sind, die als Theaterpublikum festlegen, was die richtige Mitte mit Blick auf sie/uns alle ist, dann sind sie soweit, dass der Lehrer ihnen den folgenden Text aus der Nikomachischen Ethik vorlegen kann. 304 Dazu erhalten sie zwei Arbeitsaufträge:

 Lesen Sie bitte den Text. Überlegen Sie sich erstens mit Blick auf unsere Szenerie, was genau Aristoteles mit der »Mitte für uns« meinen könnte.

 Stellen Sie sich zweitens Folgendes vor: Heutzutage gibt es ja nicht nur Trainer, die mit berühmten Athleten wie Milon zusammenarbeiten und sich um ihre körperliche Fitness und ihre Ernährungsgewohnheiten kümmern, sondern die Sportler erhalten stets auch eine psychologische Beratung. Solche Berater finden sich häufig auch in modernen Partnerschaftsagenturen. Ihre Aufgabe ist es, den suchenden Singles kluge Ratschläge übers Internet mit auf den Weg zu geben; so auch bei Franz: »Halte dich bei deiner Partnersuche an das allgemeine Prinzip ›Nichts im Übermaß (meden agan) !‹«

 Hilft ein solcher Ratschlag des Maßhaltens Franz wirklich weiter ? Beantworten Sie die Frage schriftlich aus der Sicht von Aristoteles, indem Sie an den psychologischen Berater eine kurze E-Mail schreiben. Die beiden Arbeitsaufträge zum Text bauen aufeinander auf. Zunächst sollte den Schülern bei der Beantwortung der ersten Aufgabe deutlich werden, dass die »Mitte für uns« nicht so gemeint sein kann, dass jeder Einzelne im Publikum darüber entscheidet, was nun mit Blick auf das Handeln von Josef und Franz das richtige Maß ist. Eine individualistische Lesart ist zwar nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wie sich in den zahlreichen Interpretationsansätzen zeigt, 305 aber sie scheint mit Blick



303



304 305

Anthropologie. Lachen und Weinen. Das Lächeln. Anthropologie der Sinne. Herausgegeben und mit einem Nachwort von Günter Dux. Frankfurt am Main 1970, S. 90 f, S. 152–154, S. 165.) Vgl. unten, 2.7. Die Vertiefung des Verständnisses erfolgt wiederum am Beispiel eines Helden der Komödie: John Falstaff. Siehe Anhang: 4.1.6. Aristoteles: Die mesotes-Lehre. NE, II, 5, 1106a 27–1106b 7. S. 83. Vgl. Stephen Leighton (1992): Relativizing Moral Excellence in Aristotle. In: Apeiron 25, S. 49–66,



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auf unser Beispiel keinen wirklichen Sinn zu ergeben. Denn bisher sind wir quasi im Selbstversuch dazu gekommen, dass wir gemeinsam, also als Kollektiv, ein Urteil darüber gefällt haben, warum zum Beispiel Franz die »Mitte für uns« verfehlt hat. Das heißt, die Schüler vertreten einen kollektivistischen Standpunkt, in dem Sinne, dass sie als Mitglieder einer Gesellschaft im Theater einen gemeinsamen Maßstab besitzen, mit dem sie das Handeln der Figuren auf der Bühne als richtig oder falsch beurteilt haben. Es ist ihnen also klar, dass die Tugend als Mitte bei Aristoteles nicht so gemeint sein kann, dass jeder für sich selbst festlegt, was das richtige Maß ist, sondern nur so verstanden werden kann, dass es in der Gesellschaft bestimmte Wertmaßstäbe gibt, die von vielen Menschen (und die wie im Kasperletheater auch einen ähnlichen gesellschaftlichen Status besitzen) prinzipiell geteilt werden. 306 Bei der Beantwortung der zweiten Aufgabe kommt der Lehrer auf indirekte Weise auf das Milon-Beispiel im Text zu sprechen. Die zu klärende Frage: »Hilft ein allgemeiner Ratschlag wie ›Nichts im Übermaß‹ Franz wirklich weiter ?«, ist auf den ersten Blick gar nicht so leicht zu beantworten; denn einerseits ist eine individualistische Lesart der Tugend als Mitte wenig überzeugend. Andererseits hilft Franz ein solcher allgemeiner Ratschlag des psychologischen Beraters, auch wenn er gut gemeint ist, mit Blick auf seine konkrete Situation gar nicht weiter, und zwar vor allem deshalb nicht, weil das richtige Maß nicht auf einen fixen Durchschnittswert festlegbar ist und somit auch nicht als ein für alle Mal gültiger und fertiger Satz im Sinne eines Allheilmittels verabreicht werden kann. Die Tugend als Mitte ist keine Mitte der Sache nach. Demnach lässt sie sich weder arithmetisch noch als eine »Art von Durchschnittlichkeit« 307 verstehen, wie es der



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hier S. 50 f. Leighton stellt die unterschiedlichen Interpretationsansätze zur Lehre der Tugend als »Mitte für uns« in seinem Aufsatz sehr genau dar. Vgl. hierzu ebenfalls: Magdalena Hoffmann: Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten. Freiburg im Breisgau 2010, S. 93. Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass schon in der Art und Weise, wie das Lehrstück in dieser Unterrichtseinheit inszeniert ist, deutlich wird, dass hier gegen einen akteurrelativen Ansatz der mesotes-Lehre Stellung bezogen wird. Dennoch trifft die Kritik an der akteurrelativen Interpretation bisher auch noch auf die Inszenierung des Lehrstücks zu, denn den Schülern ist bis dato lediglich klargeworden, dass sich die Bestimmung der richtigen Mitte an den allgemein anerkannten gesellschaftlichen Maßstäben orientiert, die die Akteure, in unserem Fall die Schüler selbst, besitzen. Die richtige Mitte ist also auch in der kollektivistischen Lesart immer noch relativ zum moralischen Akteur, weil sie vom gesellschaftlichen Status des jeweiligen Akteurs oder der jeweiligen Gruppe an Akteuren abhängt. Eine generalistische Lesart der Lehre der Tugend als Mitte, wie sie von Lesley Brown vorgeschlagen wird, kann von den Schülern an dieser Stelle des Lehrstücks noch nicht vollständig nachvollzogen werden, weil ihnen dazu ein wesentlicher Gedankenschritt fehlt; nämlich der, dass auch die mesotes-Lehre bei Aristoteles in seine anthropologischen Überlegungen eingebunden ist, die bisher aber noch nicht ausreichend dargestellt worden sind. Vgl. Lesley Brown (1997): What is ›The Mean relative to Us‹ in Aristotle’s Ethics ? In: Phronesis 42, S. 77–91. Vgl hierzu ebenfalls: Magdalena Hoffmann: Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität des Unbestimmten, S. 93 ff. Magdalena Hoffmann: Der Standard des Guten bei Aristoteles: Regularität im Unbestimmten, S. 92. Das Beispiel für die allgemeine Empfehlung ›Nichts im Übermaß‹ stammt von Magdalena Hoffmann. Ich verwende sie hier für meine eigenen Zwecke, indem ich sie dem psychologischen Berater als einen vermeintlich gutgemeinten Ratschlag in den Mund lege.

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Ratschlag ›Nichts im Übermaß‹ immer schon impliziert. Als »Mitte für uns« ist das richtige Maß zumindest so flexibel, dass es nicht als ein fixer Durchschnittswert verstanden werden kann, der auf jede beliebige Situation anwendbar ist. Vielmehr muss die Tugend als Mitte in jeder Situation immer wieder neu ausbalanciert werden, weil für ihre richtige Bestimmung stets der situative Kontext mitzuberücksichtigen ist. Das sollte den Schülern bei der Vorführung und Deutung der komödiantischen Szenen klargeworden sein, und das macht auch Aristoteles an einer anderen Stelle unmissverständlich deutlich: »Dagegen sie zu empfinden, wann (hote) man soll, bei welchen Anlässen (eph’hois) und welchen Menschen gegenüber (pros hous), zu welchem Zweck (hou heneka) und wie man soll (hos dei), ist das Mittlere und Beste, und dies macht die Tugend aus.« 308 Die Bestimmung der richtigen Mitte ist demnach keine leichte Sache, eben weil so viele unterschiedliche Aspekte in einer Handlungssituation gleichzeitig eine Rolle spielen. Wer die richtige Mitte treffen will, muss tatsächlich ein großes Gespür für die jeweilige Situation haben und dann sehr genau überlegen, was das Richtige ist und wie er das am besten – sprich möglichst taktvoll – im menschlichen Zusammenspiel praktiziert. Auf die Schwierigkeit, den richtigen Takt zu finden, sind die Schüler beim szenischen Spiel selbst gestoßen, sodass sie nun in der Lage sind, dem psychologischen Berater aus Sicht von Aristoteles eine kurze E-Mail zu schreiben. In den E-Mails sollte die große Naivität des Beraters offen zu Tage treten, denn wenn die Schüler das Milon-Beispiel verstanden haben und angemessen auf die Situation von Franz übertragen können, dann sollte ihnen klar sein, dass ein solcher allgemeiner Ratschlag des Maßhaltens niemals genau die richtige Mitte treffen kann, und zwar schon deshalb, weil er so allgemein ist, dass er von Franz mit jeder und mit keiner Situation gleichermaßen in Verbindung gebracht werden kann. Er ist für ihn und mit Blick auf seine Situation so schablonenhaft, dass sich daraus ganz sicher nicht ablesen lässt, was Franz im Umgang mit Guste besser machen bzw. wie er seine empfundene Zuneigung besser zum Ausdruck bringen könnte. Die Komödie der Partnerschaftssuche, die eine gesellschaftliche Komödie und manchmal auch ein Drama ist, kann man zudem um eine letzte Szene erweitern, bei der der gesellschaftliche Zusammenhang noch deutlicher hervortritt. Hier ist es zulässig, den historischen Rahmen der aristotelischen Ethik zu verlassen und die eigene Zeit der Schüler mit ins Spiel zu bringen. 309 Deshalb sollen sich die Schüler die folgende Szene vorstellen:

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Aristoteles: NE, II, 5, 1106b 21ff. S. 84. Das ethische Ideal des Aristoteles (und auch die Suche nach einem solchen Ideal) ist heutzutage nicht einfach verschwunden. Es kommt vielleicht nur in anderen Gestalten und Vorbildern zum Ausdruck. So wie der phronimos für Aristoteles einen vortrefflichen Charakter verkörpert, gibt es auch in unserer Zeit Personen, die für ihre Urteilsfähigkeit und für ihre Techniken, die Menschen zu optimieren und sie leistungsfähig zu machen, ein hohes Ansehen genießen. Mit den Figuren Franz und den psychologischen Beratern wird im folgenden Gedankenexperiment ein Spiel gespielt, das zeigen soll, dass eine solche personifizierte Urteilsinstanz durchaus auch kritisch betrachtet werden kann. Und das gilt selbstverständlich nicht nur für den aristotelischen phronimos, wie es sich in der achten Unterrichtseinheit (vgl. unten, 2.8 und 2.8.1.) ein-



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 Obwohl die Gründe für seinen Erfolg unklar sind, ist Franz nach der psychologischen Beratung ein richtiger Womanizer. Der Erfolg ist für ihn so bestechend, dass er sich überlegt, daraus ein Geschäft zu machen und damit viel Geld zu verdienen. Er hängt seinen Job als Bauer an den Nagel und gründet im Dorf eine moderne Partnerschaftsagentur. Mittlerweile kennt er landesweit die besten psychologischen Berater, die er in seiner neuen Firma anstellt. Diese Berater sind selbstverständlich Experten auf dem Gebiet der Partnervermittlung und des sozialen Umgangs miteinander. Schließlich haben sie allesamt Psychologie studiert und somit gelernt, wie das menschliche Zusammenleben funktioniert und wie jeder Einzelne das Bestmögliche aus sich machen kann. Das gilt ganz besonders für die Ausgestaltung eines Selbstbildes, das dazu führt, die besten Chancen auf dem heiß umkämpften Partnerschaftsmarkt zu haben. Deshalb sind die psychologischen Berater in dieser Hinsicht für viele Menschen ein Vorbild, von dem man lernen kann, wie man auf dem menschlichsten aller Gebiete erfolgreich sein kann. Dazu erhalten die Schüler die folgenden beiden Aufgaben, die sie in Partnerarbeit durchspielen sollen:

 Wofür wirbt Franz mit seiner Firma ? Entwickeln Sie einen knackigen Werbeslogan ! Stellen Sie anschließend eine Prognose auf, ob Franz’ Firma in der Dorfgemeinschaft Erfolg hat. Begründet Sie Ihre Entscheidung ! Ein kleiner Hinweis: Bei der Prognose dürfen Sie kräftige Farben auftragen und an markanten und vielleicht überspitzten Beispielen zeigen, wie sich das Dorfleben durch die Firmengründung verändern und wie es den Menschen unter den von Ihnen angenommenen Verhältnissen gehen wird. Wer diese Aufgaben lösen will, muss sich das zukünftige Leben im Dorf sehr genau vorstellen und mit seiner Phantasie arbeiten. Dabei entwerfen die Schüler einen Schauplatz der angenommenen Verhältnisse, auf dem auch die Gestalten, von denen er bevölkert ist, zum Vorschein kommen, und zwar so, dass die imaginären Personen in imaginierten Konstellationen auftreten und dergestalt miteinander umgehen, dass ihre Eigenart enthüllt wird. Denn nur so können sich die prägenden Eigenschaften einer Person zeigen, und auch in der Imagination kann das Wesen einer Person nur in ihren Auftritten und Vorführungen zum Vorschein kommen. Das drücklich zeigen wird, sondern selbstverständlich auch für die Personen, die in unserer Zeit auf diesem Gebiet den Ton angeben. Mir ist bewusst, dass der Vergleich zwischen dem phronimos und der Figur des Franz oder auch des psychologischen Beraters im Gedankenexperiment in vielerlei Hinsicht hinkt. Dennoch scheint mir dieses gleichnishafte Charakterspiel hier für die Inszenierung legitim, weil so das Problem, das sich aus einer solchen »Personifikation der Norm« (Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 48 ff.) und aus der damit verbundenen Überlegenheit und Deutungshoheit ergibt, deutlich wird. Gleichwohl spielt die Figur des phronimos als ethisch-vortrefflicher Charakter an dieser Stelle des Lehrstücks noch keine Rolle.

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gilt natürlich nicht nur für Franz oder für die Dorfbewohner, sondern auch für die psychologischen Berater, die das (ethisch-menschliche) Ideal in dieser neuzeitlichen Szene vorbildlich verkörpern sollen. Die Schüler werden somit dazu angehalten, sich das Auftreten dieser neumodischen Helden möglichst genau und nuancenreich auszumalen. Der Schüler, der die entsprechenden typischen Szenen in seiner Phantasie vor Augen hat, soll sich als erstes an seinen Partner wenden und ihm klarmachen, in welche Richtung sich das Dorf nach seiner Ansicht entwickeln wird. Schon anhand der Werbeslogans zeigt sich, was die Schüler über die neugegründete Firma denken und wofür sie aus ihrer Sicht steht. Diese Einschätzung wird noch vertieft, wenn sie sich gegenseitig darum bemühen, ihre sprachlichen Mittel und ihre Erzählkunst dafür einzusetzen, die szenischen Imaginationen, die sie im Sinn haben, ihrem Gegenüber zur Erscheinung zu bringen. Denn durch die Schilderung der typischen Auftritte sorgen sie dafür, dass auch ihr Partner erfährt, was sie sich vorstellen, und zwar im Hinblick darauf, wie sich die Einstellungen der verschiedenen Personen unter den im Gedankenexperiment angenommenen Bedingungen verändern werden und welche Folgen die Firmengründung für ihre Beziehungen untereinander und somit für die weitere Ausprägung des Zusammenlebens und der sozialen Ordnung haben wird. Der dialogische Austausch führt also dazu, dass die Partner erfahren, welche Vorstellungen sich der andere von diesen Verhältnissen macht und in welchen Punkten diese mit seinen eigenen Vorstellungen übereinstimmen oder von ihnen abweichen. Auf diese Weise machen sie sich ein Bild von dem sich entwickelnden Dorfleben und gestalten dieses gemeinsam weiter aus. Ein Bild, das vor allem zeigt, wie Franz und die psychologischen Berater in den Augen ihrer Mitmenschen erscheinen: ihr Gebaren, ihre Gesten und nicht zuletzt die Art und Weise, wie sie sich selbst, ihre Einstellungen und Haltungen, rechtfertigen und sie ins rechte Licht rücken. Darin zeigt sich auch die Manier, wie sie ihre Prinzipien vorleben, und welche Techniken sie anwenden, damit die Menschen im Dorf das Bestmögliche aus sich machen können. Sind die Schüler mit dem nötigen Eifer bei der Sache, ist es wahrscheinlich, dass sie ein kritisches und sehr differenziertes Bild des zukünftigen Dorflebens zeichnen: mithin ein Bild, das illustriert, dass sich das imaginierte Gemeinschaftsleben in vielerlei Hinsicht vielleicht gar nicht gut entwickelt. Denn es wird den Schülern kaum verborgen bleiben, dass jemand wie Franz (oder auch der psychologische Berater als Typus), der vorgibt, sehr genau Bescheid zu wissen, was sich ziemt und wie man deshalb mit Frauen umzugehen hat, am Ende doch nicht in jeder Hinsicht ihren Respekt verdient – vor allem dann nicht, wenn sie ihn als einen Charakter zeichnen, der sich in seinem Unternehmerstolz und als Besserwisser über jeden erhebt, der sein Leben nicht nach den Prinzipen und nach der Marktlogik gestaltet, die er selbst als Geschäftsmann für richtig hält. Weil die Schüler als Regisseure der Dorfentwicklung nicht nur eine einzige Person, sondern die Komödie oder das Drama der Gemeinschaft mit seinen verschiedenen Hauptpersonen im Blick haben, dürfen sie gezielt dazu aufgefordert werden, sich Szenen auszudenken oder ihre eigenen Szenen weiterzuspinnen, in denen sich



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jemand, z. B. Josef, mit so einer Überheblichkeit und so einem Hochmut konfrontiert sieht, nämlich mit der Überlegenheit eines Menschen, der nach seiner Selbsteinschätzung in den wirklich wichtigen Fragen ein ungewöhnlich sicheres Urteil hat und der sich dessen bewusst ist. Dabei können die Schüler daran erinnert werden, dass sie natürlich auch die Möglichkeit haben, als Charakterdarsteller in der Rolle des Verspotteten aufzutreten, dem anzumerken ist, wie er die Besserwisserei empfindet, und wie er sich dazu stellt. Weil sie auf diese Weise die Entwicklung des Dorflebens als ein Phantasietheater vor Augen haben, wird ihnen mit großer Wahrscheinlichkeit nicht verborgen bleiben, dass die Verhältnisse sich durchaus nicht in jeder Hinsicht zum Guten verändern – ganz besonders dann nicht, wenn die Hochschätzung dieses erfolgsversprechenden Menschentyps zur Abwertung aller anderen menschlichen Fähigkeiten und Lebensweisen führt. So kann es gelingen, dass die Schüler die Paradoxie der unternehmerischen Idee aufdecken und verstehen, dass Echtheit als propagiertes und definiertes Markenzeichen die Negation der Echtheit ist.

2.7 Siebte Unterrichtseinheit: Die Bestimmung der Eigenart des Menschen vor dem Hintergrund seiner reizenden Schwächen. Ein Held der Komödie betritt die Bühne: John Falstaff Nach Aristoteles hat jedes Lebewesen sein spezifisches Gut. Es muss demnach auch ein Gut geben, das nur dem Menschen zukommt und ihn in besonderer Weise auszeichnet. Das Gut des Menschen soll sich nach seiner Ansicht präzise bestimmen lassen, wenn man ihn in seiner artspezifischen Differenz zu anderen Lebewesen betrachtet: »Denn es gibt nicht eine Weisheit, die sich auf das Gut aller Arten von Tieren bezieht, sondern für jede Art eine andere […].« 310 Aristoteles ermuntert uns, den Blick auf das artspezifische ergon des Menschen zu richten. Wir werden also dazu aufgefordert, uns das Schauspiel menschlichen Handelns genau anzuschauen, und zwar so genau, dass dabei für uns deutlich wird, wodurch sich der Mensch in seiner spezifischen Lebensform von anderen Lebewesen unterscheidet. Denn der Mensch zeichnet sich nach seiner Beobachtung vor allem dadurch vor den anderen Lebewesen aus, dass er in der Lage ist, sein Leben vernünftig zu führen. Dass dies nicht alle Menschen im gleichen Maße tun, ist ihm selbstverständlich klar. Darum sieht er auch, dass einige von ihnen sprichwörtlich aus der Art schlagen und nicht vernunftgemäß leben, obwohl sie als Mensch dazu eigentlich die Möglichkeit hätten. Die den Menschen eigene Art, aus seiner Art schlagen zu können, findet Aristoteles höchst spannend. Zum einen deshalb, weil das nur der Mensch in dieser Weise tun kann, es den anderen Lebewesen also nicht in gleicher Weise zukommt. Das macht den Menschen tatsächlich zu einer Besonderheit im Rahmen der lebendigen



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Aristoteles: NE, VI, 7, 1141a 31–31. S. 203.

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Wesen. 311 Zum anderen aber auch deshalb, weil der Mensch offenbar aufgrund dieser merkwürdigen Eigenschaft so von seiner Natur ausgestattet ist, dass er sein Leben zwar sehr viel freier als die anderen Lebewesen gestalten, es aber auch so führen kann, dass es nach seinen eigenen Maßstäben scheitert. Vor diesem Hintergrund ist also für jeden Menschen im Hinblick auf die eigene Lebensführung die ernsthafte Beschäftigung mit ethischen Fragen dringend nötig. Den Schülern soll in dieser Unterrichtseinheit deutlich vor Augen treten, wie schwer es für jeden Menschen ist, sein Leben so zu führen, dass es tatsächlich gelingt, und zwar schon deshalb, weil er sich die Ziele im eigenen Leben weitestgehend selbst setzen und sich somit auch stets selbst befragen muss, wie er leben will. So können sich seine Antworten auch als falsch erweisen. Aristoteles ist mit den vielfältigen Möglichkeiten des Gelingens und des Scheiterns des menschlichen Lebens vor allem deshalb so sehr vertraut, weil er die Theaterspiele seiner Zeit vor Augen hat und sie zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Ethik macht. 312 Darum soll der Blick der Schüler in diesem Teil des Lehrstücks auf John Falstaff 313 gelenkt werden. Auf eine Komödie mithin, die in diesem Zusammenhang sehr aufschlussreich ist, weil Shakespeare in ihr einen Helden auftreten lässt, der seine menschlichen Möglichkeiten nicht verwirklicht, sondern auf verblüffende Weise vernachlässigt, weil er nicht gewillt ist, sich anzustrengen. 314 Die Schüler werden damit zu Zuschauern, die auf sich selbst schauen und dabei beobachten können, wie mit ihren eigenen Wertmaßstäben ein Spiel gespielt wird. Ein Spiel, das sie durchschauen sollen, damit sie lernen, sich selbst besser zu verstehen, und damit zugleich die aristotelische Denkweise. Es beginnt mit der folgenden Aufgabe:



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So wie das Lachen, dass nach der Ansicht des Aristoteles ebenfalls eine Besonderheit des Menschen ist: »Daß nur der Mensch kitzlig ist, liegt an der Feinheit seiner Haut und an dem Umstand, daß nur er von allen Geschöpfen lachen kann.« (Aristoteles: Über die Glieder der Geschöpfe. Die Lehrschriften. Herausgegeben, übertragen und in ihrer Entstehung erläutert von Paul Gohlke. Paderborn 1959. III, 10, 73a. S. 125.) Vgl. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 147 ff. Aubenque macht in dem Kapitel »Die Herkunft der Klugheit aus der Tragödie« deutlich, wie sehr das Denken des Aristoteles mit Blick auf die Ethik von der homerischen Literatur und den Auseinandersetzungen mit den Tragödien beeinflusst ist. Vgl. Fußnote 51. William Shakespeare: Die lustigen Weiber von Windsor. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 1. Komödien. Berlin und Weimar 1989, S. 463–552. William Shakespeare: König Heinrich IV. Erster Teil und Zweiter Teil und König Heinrich V. In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 3. Historien. Berlin und Weimar 1989, S. 179–491. In einem anderen Theaterstück spielt Shakespeare selbst auf die Ethik des Aristoteles an. So legt er in »Troilus und Cressida« Hektor den folgenden Satz in den Mund: »Doch oberflächlich – nicht ungleich der Jugend, die Aristoteles unfähig hielt zum Studium der Moralphilosophie.« William Shakespeare: Troilus und Cressida (II, 2). In: Anselm Schlösser (Hrsg.), Sämtliche Werke in vier Bänden, Bd. 2. Komödien, Poetische Werke. Berlin und Weimar 1989, S. 5–114, hier S. 40.



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 Im Theater wird eine Komödie von Shakespeare aufgeführt. Sie sitzen jetzt in der ersten Reihe und John Falstaff tritt in Szenen auf, die zeigen, dass er ein Mensch ist, der jede Genussmöglichkeit mit großer Entschlossenheit auskostet: viel süßer spanischer Sherry-Sekt und viele schöne Mädchen. Besonders viel Spaß macht ihm die Eroberung der Frauen anderer Männer. Etwas anderes kommt ihm nicht in den Sinn.

 Welchen Eindruck macht Falstaff auf Sie ? Machen Sie sich dazu ein paar Notizen. Es gilt hier erst einmal die intuitiven Urteile der Schüler aufzudecken. In diesen Urteilen zeigen sich ihre Wertmaßstäbe, die sie im Blick auf das Schauspiel menschlichen Handelns gewonnen haben. Der Lehrer sollte sich an dieser Stelle viel Zeit lassen, denn das Spektrum an möglichen Bewertungen ist groß. Nicht selten gibt es ein paar Schüler, besonders oft und gern die ›starken‹ unter den jungen Männern der Klasse, die die Lebensweise von Falstaff gar nicht so schlecht finden. Sie bewundern Falstaff sogar ein wenig für seine vergnügliche Lebensweise, zum Beispiel deshalb, weil er sich nichts aus den Urteilen der anderen Leute macht oder weil er sich eine Freiheit einfach so herausnimmt, die man sich selbst gern gestatten würde, sich aber nicht traut. Falstaff ist also auch ein bisschen cool ! Es werden sich aber auch andere Urteile einmischen, nicht selten geäußert von den Schülerinnen. Sie finden Falstaff oft überhaupt nicht cool, sondern halten ihn für einen verkommenen Lüstling oder gar für einen bösen Menschen, der sich einfach nicht im Griff hat. Nicht selten erheben sie sich ein wenig über Falstaff, indem sie zum Beispiel anbringen, dass er schwach ist, nichts aus seinem Leben macht oder einfach eine lächerliche Gestalt ist. Der Lehrer darf hier selbst mit den Bewertungen der Schüler ein wenig spielen, sie provozieren und sich, je nach Situation, auf die eine oder die andere Seite schlagen, um das gesamte Spektrum an Urteilsmöglichkeiten auszuloten. Denn Falstaff ist eine Figur, über die man sehr unterschiedliche Meinungen haben kann. 315 Zur Veranschaulichung dieser Vielfalt kann der Lehrer ein Tafelbild entwerfen, in dem die Schüler das Publikum im Theater darstellen und ihre unterschiedlichen Urteile mit Blick auf Falstaff – z. B. als dickes Strichmännchen dargestellt – festgehalten

315

Vgl. Sigmund Freud: Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten. Der Humor. Einleitung von Peter Gay. Frankfurt am Main 2009 [9. Auflage], S. 244. Für Freud ist der Shakespeare’sche Falstaff gerade ein besonderes Beispiel für den Humor, und zwar vor allem deshalb, weil er einen so entspannten und mit Blick auf sich selbst überaus nachsichtigen Umgang mit den gesellschaftlichen Konventionen pflegt, die er selbstverständlich auch kennt, von denen er sich aber niemals beherrschen lässt: »Sir Johns eigener Humor geht eigentlich aus der Überlegenheit eines Ichs hervor, dem weder seine leiblichen noch seine moralischen Defekte die Heiterkeit und Sicherheit rauben können.« (Ebd.) Ein weiteres gutes Beispiel für die unterschiedlichen Interpretationen der Falstaff-Figur ist der Film von Orson Welles: »Falstaff – Glocken um Mitternacht«, Spanien 1965 (2013 Zweitausendeins). Hier erscheint Falstaff als ein »guter Mensch«, der in einer funktionalen Gesellschaft, in der die Menschen bloß noch ein kleines Rädchen in einem großen Räderwerk sind, eine Gegenkraft darstellt, weil er eine Güte besitzt, die ihn im besten Sinne zum Menschen macht. Vgl. unten, 2.9.

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werden. Die Unterschiedlichkeit in den Bewertungen der Schüler kann er dadurch dokumentieren, dass er sie unter den Stichwörtern »Lob« und »Tadel« einordnet oder sie einfach als positive oder negative Bewertungen auflistet. Sehr wahrscheinlich wird ihnen aber irgendetwas an der Lebensweise von Falstaff missfallen. Oft reicht es schon aus, wenn der Lehrer sie rückblickend auf den leicht arroganten Tonfall aufmerksam macht, in dem manche ihrer Mitschüler ihr Urteil hinsichtlich des tüchtigen Schürzenjägers vorgetragen haben, oder auf den verächtlichen Blick, der sich dabei in ihren Gesichtern gezeigt hat. Die Gründe dieser Abfälligkeit müssen an dieser Stelle noch nicht erörtert werden. Wichtig ist nur, dass sie bemerkt werden. Im nächsten Schritt kann der Lehrer die Schüler bitten, sich die folgende Szene auszumalen:

 Stellen Sie sich nun bitte vor, Falstaff will die Frau seines besten Freundes verführen. Sie weiß sehr genau um den Reiz, den sie auf Falstaff ausübt, und lockt ihn ins eigene Schlafzimmer, während ihr Ehemann gerade auf Reisen ist. Falstaff überschreitet die Türschwelle in siegessicherer Pose. Als er begierig auf sie zugeht, reißt es ihm den Boden unter den Füßen weg: Sie hat ihm eine Falle gestellt ! Falstaff findet sich heftig fluchend auf einem Misthaufen unterhalb des Schlafzimmers wieder.

 Sie lachen im Theater über diese Szene. Haben Sie dafür eine Erklärung ? Bitte schreiben Sie dazu ein paar Sätze auf, die Sie nachher an die Tafel schreiben können. Ein Hinweis: Machen Sie sich bitte keine Gedanken über die möglichen Motive der Frau ! Diese Aufgabe ist keinesfalls zu unterschätzen, weil die Schüler die Wertmaßstäbe, die in ihrem Urteil zum Ausdruck kommen, aufspüren und aussprechen müssen. Vielleicht entdecken sie ihre vom Neid genährte und darum unmoralische Schadenfreude, die durchaus im Spiel sein kann, wenn sie finden, dass Falstaff bei seiner dreisten Aktion zu Recht auf die Nase fällt und dabei zu Schaden kommt. Einige Schüler werden aber auch darauf verweisen, dass Falstaffs Aktion nach ihrem Empfinden insbesondere deshalb zu verachten ist, weil er »Schlechtes im Sinn« hat. Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird den Schülern, wenn sie darüber ins Gespräch kommen, klarwerden, dass sie nur lachen können, wenn das Strafmaß angemessen ist und wenn Falstaff somit genau die Strafe erhält, die er in ihrer Sicht verdient hat. Vielleicht fällt ihnen sogar auf, dass es nur unter dieser Voraussetzung komisch wirkt, wenn sich ganz plötzlich im Boden eine Luke auftut und der üble Held mit einem Schmerzensschrei hinunterpoltert. Aber oft werden auch Sätze von dieser Art vorgelegt: »Falstaff ist ein Lustmolch, der nur das Eine im Sinn hat. Ist das nicht ein wenig beschränkt ? […] Er hätte doch ganz andere Möglichkeiten zu leben, als bloß zu saufen und hinter Frauen herzulaufen. […] Falstaff könnte einfach mehr aus sich machen, als er es tut. Und das weiß er sicher auch, denn das weiß doch jeder normale Mensch !«



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In dieser Herablassung manifestiert sich das Wissen, dass Falstaff eigentlich zu mehr imstande wäre. Er könnte besser leben, als ein Leben als Säufer und Schürzenjäger zu führen. Das ist die aristotelische Pointe der Falstaff-Komödie. Der Lehrer kann hier das Tafelbild zur ersten Szene wiederverwenden und durch ein geschicktes Arrangement die Schüler mit Blick auf die Bestimmung und Begründung ihrer Wertmaßstäbe ein wenig herausfordern. Zum Beispiel mit der Aufgabe, jemanden, der es noch nicht verstanden hat, sehr genau zu erklären, warum man Falstaff für seine Erfolge bei den Frauen, wenn er sie denn hätte, nicht loben kann, obwohl man ihm doch zubilligen muss, dass er auf diesem Gebiet keine Anstrengung scheut. Ein Lehrer, der sehr viel wagt, kann, wenn er seine Klasse gut kennt, nach taktvoller Abwägung anschließend das folgende Gedankenexperiment vorschlagen:

 Was wäre, wenn sich in einer weiteren Szene herausstellte, dass Falstaff in seinen geistigen Fähigkeiten eingeschränkt ist (an einer leichten geistigen Behinderung leidet) ? Könnten Sie dann auch noch über ihn lachen, wenn er auf dem Misthaufen landet ? Weil die Schüler feststellen, dass ihnen in diesem Fall das Lachen vergeht, erkennen sie selbst, dass sie nur deshalb über den »Helden« und seine Bestrafung lachen können, weil sie ein Bild von den menschlichen Möglichkeiten haben, an denen selbstverständlich nur der gemessen werden kann, der sie wirklich hat. Der Blick auf die menschlichen Möglichkeiten ist an dieser Stelle des Lehrstücks also unvermeidlich, weil die Schüler gezwungen sind, einen Vergleich zwischen dem »normalen« Falstaff und dem Falstaff mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten zu ziehen. Auch hier ist es wichtig, dass die Schüler ihre Einsichten mit ihren eigenen sprachlichen Mitteln zum Ausdruck bringen und die angestrebte Klarheit eigenständig entwickeln – selbstverständlich wiederum gemeinsam, indem sie miteinander untersuchen, welche Ausdrucksweise treffend ist und in welchen Punkten die unterschiedlichen Erklärungen voneinander abweichen. Das, was damit deutlich wird, prägt sich für die Schüler besser ein, wenn sie noch einmal schriftlich in eigenen Worten zusammenfassen müssen, warum der Falstaff in den ersten beiden Szenen ein »Held« der Komödie sein kann und warum das beim Falstaff mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten nicht möglich ist. Ist dieser Gedankenschritt abgeschlossen, sollte der Lehrer die Chance nutzen und den Schüler klarmachen, dass diese von ihnen getroffene Unterscheidung eine anthropologische Bestimmung des Menschen voraussetzt und dass somit der erfahrungsbezogene Blick auf die menschlichen Möglichkeiten ein wesentliches Fundament für die Bewertung des menschlichen Handelns darstellt. Denn für Aristoteles steht fest, dass dieser allgemein anerkannte Wertmaßstab, der z. B. darin zum Ausdruck kommt, dass man über Menschen mit Handicap nicht lacht, nicht einfach vom Himmel gefallen und auch keine schöne Erfindung einer gutherzigen Gesellschaft ist. Er ist also auch nicht relativ zur jeweiligen Gesellschaft oder zum gesellschaftlichen Status der jeweiligen Akteure zu betrachten, sondern er ist vielmehr

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Kapitel 2

grundsätzlich eingebettet in eine Betrachtung der Natur des Menschen. Das ist ein ganz entscheidender Punkt im Rahmen der aristotelischen Ethik, der sehr umstritten ist und deshalb auch auf eine kontroverse Weise inszeniert werden sollte. Der Lehrer kann dafür eine neue Person erfinden und auftreten lassen. Jemanden, der sich zunächst anschaut, was an der Tafel steht, und der darauf verweisend dennoch behauptet, dass wir nur deshalb mit freundlicher Nachsicht oder mit scharfem Spott über Falstaff lachen, weil wir alle miteinander in einer Zeit und in einer Gesellschaft leben, die jedem das Bild vorgibt, das er sich von den menschlichen Möglichkeiten macht. Damit kann der Lehrer den Unterricht wiederum als ein kleines Drama inszenieren, in dem sich zwei Parteien bilden werden. Das ist deshalb wahrscheinlich, weil sich die Schüler in der Auseinandersetzung mit der neu ins Spiel gebrachten Person unterschiedlich positionieren können. Manche werden das Argument einleuchtend finden, weil sie sich vorstellen können, dass ein Dorfbewohner, solange er noch nicht zum Mitglied der sich konstituierenden Gesellschaft geworden ist, die Lebensführung Falstaffs gar nicht unter diesem Gesichtspunkt betrachtet und bewertet. Diese Stellungnahme wird andere dazu bewegen, demgegenüber wie Aristoteles festzustellen, dass der Mensch als Individuum offenbar eigenständig das Urteilsvermögen gewinnen kann, das ihn befähigt zu erkennen, ob er selbst oder ein anderer mit seiner Lebensführung seine ethischen Möglichkeiten verwirklicht und in welcher Hinsicht er sie verfehlt. Diejenigen, die dies einsehen, werden folglich zwar ebenfalls sehr entschieden die Ansicht vertreten, dass wir in einer Gesellschaft leben, in der jeder jeden nach diesen Maßstäben einschätzt. Und so werden sie auch wie die andere Partei zu dem Urteil kommen, dass Falstaff sich nur deshalb so aufführt, wie es für ihn charakteristisch ist, weil er seine Unterworfenheit unter diese Maßstäbe nicht hinnehmen und sich ihnen nicht fügen will. Aber sie werden doch nach Argumenten suchen, die ihre Auffassung stützen, dass jeder Mensch, in welcher Zeit und in welcher Zivilisation er auch leben mag, als zōon politikon stets über die gloriosen Heldentaten Falstaffs lachen wird. In diesem Zusammenhang werden sie sich überdies bemühen, auf irgendeinem Weg aufzuzeigen, dass ein Zuschauer sich keineswegs allein deshalb in den Chor der Spötter einreiht, weil er die Maßstäbe für das ethisch Hochzuschätzende von der Gesellschaft übernommen hat, sondern vielmehr zuallererst deshalb, weil er sie aufgrund eigener Beobachtungen und Einsichten gewonnen hat. Das Falstaff-Exempel ist somit ein gutes Beispiel für eine Schulung des Blicks im Ethikunterricht, weil es die Möglichkeit einer gezielten Aufdeckung und Erschließung des ethischen Verständnisses der Schüler demonstriert 316 – einer Erschließung, die phänomengeleitet ist, weil die Aufmerksamkeit der Schüler auf handelnde Personen gelenkt wird, die in einer Rolle erscheinen und die durch die Art ihres Auftretens in dieser Rolle ihren Charakter offenbaren. 317

316



317

Vgl. Mario Ziegler: Die Schulung des Blicks im Ethikunterricht. Perspektiven einer intuitionistischen Didaktik, S. 24. In den moralphilosophischen Debatten wird in der Regel streng unterschieden zwischen der



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2.7.1 Die Metanoia des John Falstaff oder warum es enorm anstrengend ist, einen lobenswerten Charakter auszubilden Die Rolle der Vernunft und der damit verbundenen Freiheitsspielräume des Menschen ist bisher im Rahmen des Lehrstücks noch nicht ausreichend vertieft worden. Damit dieser Gesichtspunkt sinnvoll in den Blick der Schüler rücken kann, lohnt es sich, die Komödie des schwachen Falstaff weiterzuspinnen, und zwar in der Weise, dass die Schüler nun selbst zu Dichtern werden und sich überlegen müssen, wie sie die ihnen bekannte Szene so abwandeln können, dass das Publikum im Theater nicht mehr über Falstaff lacht, sondern ihn für sein Verhalten lobt oder sein Verhalten zumindest verzeihlich findet. Dafür erhalten die Schüler folgenden Arbeitsauftrag:

 Stellen Sie sich bitte vor, dass Sie nun selbst ein Dichter sind. Ihre Aufgabe besteht darin, die Komödie umzuschreiben: dergestalt, dass die Zuschauer im Theater nicht mehr über Falstaff lachen, sondern ihn loben bzw. sein Verhalten zumindest verzeihlich finden. Sie sollen sich also überlegen, was in der Szene passieren muss, damit dies möglich ist. Schreiben Sie dazu in Partnerarbeit ein Storyboard für eine Szene in einem Drehbuch. Stellen Sie ihre Drehbuchszene anschließend so vor, dass ihren Mitschülern verständlich wird, warum sie Falstaff für seine Aktion loben können. Bei den szenischen Beschreibungen müssen die Schüler vor allem darauf achten, dass Falstaff einen überzeugenden und nachvollziehbaren Wandlungsprozess durchläuft. Genauer gesagt muss bei der Vorstellung der Drehbuchszenen deutlich werden, dass Falstaff sich charakterlich tatsächlich verändert hat bzw. ein »besserer Mensch« geworden ist. Der Lehrer kann hier die Klasse wieder als Theaterpublikum einsetzen und ihre Einschätzungen hinsichtlich des szenisch beschriebenen Wandlungsprozesses an der Tafel festhalten. Dazu werden dem Publikum die folgenden Fragen gestellt:

 Überzeugt Sie der dargestellte Wandlungsprozess ? Überlegen Sie beim Zuschauen, ob Sie Falstaff für sein Verhalten ein Lob aussprechen können ? Warum oder warum nicht ? Finden Sie sein Verhalten verzeihlich ? Warum oder warum nicht ? Bewertung von moralischen Handlungen und der Bewertung der Lebensweise einer Person. Diese Unterscheidung hat auch ihre Berechtigung, z. B. bei bestimmten moralepistemologischen Fragestellungen. Im Rahmen des Lehrstücks ist es m.E. methodisch legitim, wenn die Evaluation der Moralität auch auf die Bewertung der Lebensweise einer Person oder eines Charakters ausgeweitet wird. Zum einen schon deshalb, weil Shakespeare selbst bei der literarischen Darstellung der Falstaff-Figur einen bestimmten menschlichen Charakter zeichnet, der auf uns lächerlich wirkt. Zum anderen stellt auch Aristoteles in seiner Nikomachischen Ethik häufig menschliche Charaktere oder Lebensweisen dar. Das tut er, weil er die Beobachtungen und Erfahrungen des Lesers einbeziehen und sie so für eine kritische Reflexion zugänglich machen will. Sein methodisches Prinzip bringt er bei der Bestimmung der Klugheit wie folgt auf den Punkt: »Was die Klugheit (phronēsis) ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug (phronimos) nennen.« (Aristoteles: NE, VI, 5, 1140a 24. S. 199.)

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Kapitel 2

Auf diese Weise können die Schüler den jeweiligen Drehbuchautoren mitteilen, ob ihnen die dargestellte Handlungsweise tatsächlich Respekt abnötigt. Das bedeutet auch, dass methodisch betrachtet wieder mit den Wertmaßstäben des Publikums gearbeitet wird. Es geht um die Metanoia des John Falstaff. Denn es muss sich tatsächlich seine Wesensverwandlung zeigen. Diese ist immerhin denkbar, weil er als Mensch und animal rationale grundsätzlich die Möglichkeit haben muss, sich selbst eine bessere moralische Gestalt zu geben und sich moralisch zu vervollkommnen. Der Lehrer hält die spontanen Reaktionen und Begründungen des Publikums unter den beiden Kategorien »Lob« und »Tadel« an der Tafel fest, außerdem auch noch unter der Kategorie »verzeihlich«. Oft fordern die Schüler von Falstaff ein, dass sich die Veränderung seines Charakters auch in seinen Handlungen widerspiegeln muss: Falstaff hat die Pflicht, sich zu entschuldigen. Es soll ersichtlich sein, dass er einsieht, was er falsch gemacht hat, und seinen Fehler daraufhin auch eingesteht. Manche Schüler sind auch noch strenger zu Falstaff und fordern ihn auf, öffentlich Reue zu zeigen. Es muss demnach für die Schüler auf irgendeine Weise zu sehen sein, dass er sich charakterlich tatsächlich verändert hat und dass er diese Wesensverwandlung hin zu einem guten Charakter nicht nur vorspielt, sondern es wirklich ernst damit meint. 318 Damit stellen sich den Schülern einige zentrale Fragen der aristotelischen Poetik und Ethik, ganz besonders die Frage nach der Bestimmung eines lobenswerten Charakters. Der Lehrer kann diese Frage noch weiter vertiefen, indem er mit Blick auf die von ihnen dargestellten Szenen den Schülern die folgenden Fragen stellt:

 1. Reicht es Ihnen als Zuschauer wirklich aus, wenn Falstaff vor uns, z. B. in einer großen öffentlichen Rede, eingesteht, dass er etwas falsch gemacht hat ? Oder verlangen Sie noch mehr von ihm ? 2. Unter welchen Umständen könnten Sie Falstaffs Handeln zwar nicht loben, aber sein Verhalten immerhin verzeihlich finden ? Wie müsste er in der Szene dann auftreten ?



Die Schüler treffen nun im Hinblick auf die jeweilige Drehbuchszene eine erste begriffliche Unterscheidung. Denn sie sind gezwungen darzulegen, warum sie die Aktion von Falstaff in dem einen Fall verzeihlich finden und im anderen Fall lobenswert. In der Regel finden die Schüler sein Verhalten dann verzeihlich, wenn in der Szene irgendwie deutlich wird, dass er sich anstrengt, und zwar auch dann, wenn ihn die große Lust besiegt. Das kann auf ganz unterschiedliche Weise in den Drehbuchszenen zur Darstellung gebracht werden. In jedem Fall ändert sich durch die nun sichtbare Anstrengungsbereitschaft des schwachen Helden etwas an der Reaktionsweise des Publikums. Zum Beispiel fällt es dem Publikum dann nicht mehr so leicht, sich über Falstaff lachend zu erheben. Es mischt sich in das strafende

318

Zu diesen Ergebnissen sind die Studenten im Rahmen meines Seminars »Tugend und Tragik. Die aristotelische Ethik und Poetik und ihre didaktischen Potentiale« in ganz ähnlicher Weise immer wieder gekommen.



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Lachen noch mehr Mitgefühl und Verständnis ein, weil Falstaff nun versucht der Macht der Begierde zu widerstehen, und damit dem Ideal des Publikums ähnlicher wird. Gleichwohl führt die neu erworbene Anstrengungsbereitschaft noch nicht dazu, dass das Publikum ihn für sein Handeln lobt. Das tut es sehr wahrscheinlich deshalb nicht, weil ihm noch etwas Entscheidendes fehlt. Aristoteles hat diesen Unterschied ebenfalls gesehen, wenn er mit Blick auf den Unbeherrschten Folgendes sagt: Denn es ist nicht erstaunlich, wenn jemand von starker und übergroßer Lust oder Unlust besiegt wird – vielmehr ist das verzeihlich, wenn er versucht hat zu widerstehen, wie es der Philoktet des Theodektes getan hat, als er von der Schlange gebissen wurde, oder Kerkyon in der Alope des Karkinos oder wie diejenigen, die das Lachen zurückzuhalten versuchen, plötzlich losprusten, wie es dem Xenophantos passiert ist. 319

Die Schüler sehen diesen Unterschied auch. So wird ihnen schnell klar, unter welchen Umständen und in welcher Hinsicht sie das Verhalten von Falstaff verzeihlich finden können. Was ihnen indes etwas schwerer fällt, ist, genau zu sagen, für was sie ihn loben. Hier muss der Lehrer Geduld haben. Außerdem sollte er ihren Blick wieder auf eine konkrete Drehbuchszene lenken, denn daran soll ja die begriffliche Bestimmung vorgenommen werden. Oft hängt sich das Gespräch an einem einzelnen Detail einer Drehbuchszene auf. Zum Beispiel an der Frage, ob es uns als Zuschauer wirklich ausreicht, wenn Falstaff öffentlich kundtut, dass er sich und sein Leben nunmehr ändern will, oder überall lauthals herumposaunt, wie sehr er es bereut, was er getan oder wie er gelebt hat. Es entbrennt dann eine lebhafte Diskussion darüber, ob das wörtliche Eingeständnis seiner falschen Lebensweise schon dazu führt, dass wir ihn loben. Es gibt immer Schüler, die ihm dafür noch kein Lob aussprechen wollen, die noch viel mehr von ihm in der Szene sehen wollen als nur das öffentliche Eingeständnis durch Worte. Solche Schüler oder Studenten argumentieren zum Beispiel so: »Wir loben Taten und nicht Worte. Falstaffs neu gewonnene Lebenseinstellung soll für uns glaubwürdig sein. Das ist sie nur, wenn der Wandel seiner Wertvorstellungen auch in seinen Handlungen sichtbar wird, und zwar nicht nur in einer einzigen vortrefflichen Handlung, sondern über einen längeren Zeitraum und immer wieder. Mit anderen Worten: Ein richtiges Lob verdient sich Falstaff erst dann, wenn mit Blick auf sein Handeln eine vernünftige Abwägung und darüber hinaus ein wirklicher Wesenswandel erkennbar ist. Nur dann genügt er auch unseren Wertvorstellungen als Publikum.« 320



319

320

Aristoteles: NE, VII, 8, 1150b 6–11. S. 235. An dieser Stelle bedanke ich mich bei der Studentin Lisa Fäustel, die in ihrem Seminarprotokoll die hier verwendeten Sätze festgehalten hat. Damit taucht das Echtheitsdilemma, das in der sechsten Unterrichtseinheit eine wesentliche Rolle gespielt hat, wieder auf. Vgl. oben, 2.6.

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Die Schüler werden damit zu Theoretikern, die sich eine poetologische Frage stellen – nämlich die, was einen lobenswerten Charakter eigentlich auszeichnet. Oder anders gefragt, wie ein Charakter beschaffen sein muss, damit er sich unser Lob verdient. Der Lehrer darf hier wieder ein kleines Rollenspiel inszenieren, in dem die Schüler die Rolle des Theoretikers übernehmen, der sich mit Blick auf die Drehbuchsszenen die Frage stellt, was an Falstaff unbedingt zu sehen sein muss, damit ihn das Publikum im Theater loben kann. Hier eignet sich am besten eine schriftliche Aufgabe, die so gestellt ist, dass die Schüler auf ihre Einsichten zurückgreifen können, die sie bei den Besprechungen der Drehbuchszenen gewonnen haben:

 Entwickeln Sie ein paar pointierte Thesen zu den wichtigsten Entdeckungen, die Sie bei den Schilderungen der Drehbuchszenen gemacht haben. Was muss an Falstaff zu sehen sein, damit ihn das Publikum im Theater loben kann ? Der Lehrer gibt den Schülern dafür an der Tafel die folgende Überschrift vor:

Der lobenswerte Held John Falstaff. Thesen aus Sicht eines Theoretikers.,

in der Erwartung, dass Thesen der folgenden Art aufgestellt werden:

Das Handeln erfolgt aus Motiven, die gesellschaftlich als »gut« angesehen werden. Sein Verhalten muss nachvollziehbar und glaubwürdig sein. Die Veränderung seines Charakters soll sich in seinen Taten zeigen. Er soll sein Handeln reflektieren und so zu einer vernünftigen Entscheidung gelangen. 321

Diese Thesen sind Klarstellungen der Maßstäbe, die sie zunächst bei der Deutung und Bewertung der ursprünglichen Falstaff-Szenen und sodann bei ihrer Umgestaltung von sich aus ins Spiel gebracht haben. Das bedeutet, dass es ihre eigenen Kriterien sind und dass ihnen dies im Rückblick selbst auffallen kann. Nur dann, wenn es dazu kommt, können sie wie angestrebt darüber staunen, dass ihre Wertvorstellungen weithin übereinstimmen und dass ihre Anforderungen an einen lobenswerten Charakter demzufolge auch gar nicht so subjektiv gefärbt sind, wie es für sie vielleicht auf den ersten Blick den Anschein machte. Der Überraschungseffekt wird noch größer, wenn ihnen an dieser Stelle des Lehrstücks der folgende Abschnitt aus dem 15. Kapitel der Poetik präsentiert wird: Was die Charaktere betrifft, so muss man vier (Forderungen) zu erfüllen suchen, eine davon – und die grundlegende – ist, dass die Charaktere gut sein sollen. Charakter hat jemand, wenn, wie gesagt, sein Reden oder Handeln irgendeine Tendenz, Bestimmtes vorzuziehen, erkennen lässt, und einen guten, wenn diese Tendenz gut ist. Das gibt es in jedem Geschlecht und gesellschaftlichen Rang […]. Zweitens müssen die Charakterzüge angemessen sein […]. Das Dritte ist, dass ›der Charakter uns‹ ähn

321

Diese Sätze hat dankenswerterweise Julia Heinze in ihrem Seminarprotokoll festgehalten.



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lich sein soll […]. Das Vierte ist, dass ›der Charakter‹ konsistent sein soll. Denn auch wenn der, der das Vorbild für die Nachahmung bietet, sich selbst nicht treu bleibt, und ein solcher Charakter Gegenstand der Nachahmung ist, muss das Ungleichmäßige als ›dessen charakterliche‹ Konstante dargestellt werden. 322

Hierzu sollte der folgende Arbeitsauftrag erteilt werden:

 Bitte setzen Sie sich mit dem Partner zusammen, mit dem Sie auch das Storyboard für die Drehbuchszene zur Metanoia Falstaffs geschrieben haben. In dieser Nachbesprechung sollen Sie nun gemeinsam die Frage beantworten, ob Sie in ihrem Drehbuch den aristotelischen Anforderungen an einen guten Charakter gerecht geworden sind. Das zeigt sich am besten, wenn Sie die Thesen, die Sie dazu selbst aufgestellt haben, noch einmal aufgreifen und so übersichtlich anordnen, dass Sie ihnen die Aussagen des Aristoteles gegenüberstellen können. Auf diese Weise werden die Drehbuchschreiber dazu ermutigt, das, was Aristoteles in der Poetik über die Charaktere in der Tragödiendichtung sagt, mit dem dramaturgischen Verständnis zu lesen, das sie soeben selbst entwickelt haben. Dabei kommt es zu einem Vergleich der aufgestellten Anforderungen. Das Ergebnis kann etwa so aussehen:323 Anforderungen an einen guten C ­ harakter (eigene Reflexion)

Aristoteles’ Anforderungen an Charaktere der Tragödiendichtung (Poetik)

– Handeln aus Motiven heraus, die ­gesellschaftlich als gut empfunden werden – Selbstreflexion – vernünftige Abwägung – glaubwürdig und nachvollziehbar – Die Veränderung zum Guten soll für den Zuschauer ersichtlich sein.

– soll gut sein: sein Handeln an gesellschaftlichen Normen ausrichten, eine gute Tendenz in seinen Neigungen und Ansichten erkennen lassen – soll angemessen sein: angemessen mit Blick auf die Situation, in der sich der Charakter befindet – soll uns ähnlich sein: Publikum soll sich identifizieren können, soll für uns verständlich sein und einen vorbildlichen Charakter besitzen – soll konsistent und gleichmäßig sein: es braucht langfristig gesehen etwas »Gleichmäßiges«, das uns als Publikum gleich erscheint, sodass wir den ­Charakter erkennen können

Ergänzungen: – Mut, Heldenmut als Tugend – für das Publikum: Held soll einen ­vorbildlichen Charakter haben



322



323

Siehe Anhang: 4.1.7. Aristoteles: Die Anforderungen an einen guten Charakter. Aristoteles: Poetik. 1454a 16–29. S. 21. Ein Ergebnis des Vergleichs hat Martin Gnielka dankenswerterweise in seinem Seminarprotokoll festgehalten.

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Damit ist ihnen der Text so zugänglich, dass sie nicht übersehen können, wie verblüffend genau die Erklärungen des Philosophen mit ihren eigenen Feststellungen übereinstimmen. Bei der gemeinsamen Erörterung der Frage, ob und wie in Einzelheiten eine Gleichsetzung der Positionen möglich ist, gewinnen sie nicht selten Einsichten, die für das Verständnis der aristotelischen Ethik und Poetik grundlegend sind – etwa dann, wenn ihnen auffällt, dass Aristoteles genauso, wie sie es selbst tun, dem Publikum unterstellt, es wisse bei der Betrachtung einer Tragödie oder Komödie sehr genau, was gut ist, und es besitze damit offensichtlich ein gemeinsames Wertfundament. Oft können die Schüler oder auch die Philosophiestudenten nicht glauben, es sei wahr, was sich dadurch herausstellt. Manchmal verstört sie diese Feststellung auch oder sie sind sogar schockiert. 324 Dann suchen sie mit großer Leidenschaft nach Argumenten (besonders dann, wenn sie bereits philosophisch gebildet sind), die beweisen, dass sie nicht stimmen kann. Philosophiestudenten, die versuchsweise die Rolle der Schüler übernommen haben, protestieren zumeist besonders heftig, weil sie sicher sind, dass ihnen damit ein naturalistischer Fehlschluss unterlaufen sein muss. 325 Ist zu erkennen, dass die Schüler ein hinreichend großes Interesse an der Auflösung des Rätsels haben, sollte der Lehrer ihnen die Möglichkeit geben, selbst nach einer Erklärung für die überraschende Übereinstimmung zu suchen und diese zu präsentieren. Wenn sie dazu, wie es nahe liegt, auf den anthropologischen Ansatz des Aristoteles zurückgreifen, können sie zum Beispiel so argumentieren:326 Menschen besitzen von Natur aus grundlegende Eigenschaften, die zeitunabhängig sind. Eine solche grundlegende Eigenschaft des Menschen scheint nun die zu sein, dass er sich selbst vervollkommnen möchte. Er strebt also danach, seine menschlichen Fähigkeiten bestmöglich zu entwickeln. Weil er danach strebt, sucht er auch in der Gesellschaft, in der er lebt, nach Menschen, die man in dieser Hinsicht bewundern kann; Menschen haben demnach zu allen Zeiten Heldenfiguren vor Augen. Und diese Heldenfiguren verkörpern die jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäbe auf vortreffliche Weise. Das heißt, die Übereinstimmung lässt sich vor diesem anthropologischen Hintergrund so erklären, dass Menschen von Natur aus nach Selbstvervollkommnung streben und dass sie, weil sie das tun, auch bestimmte Charaktere als Helden wahrnehmen. Sowohl das menschliche Streben als auch die daraus resultierende Heldenbewunderung bleiben also gleich, sodass sich daraus auch die relative Überein

324



325 326

So hat z. B. eine Studentin im Rahmen einer Seminarsitzung ihre Verblüffung hinsichtlich der deutlichen Übereinstimmung ganz offen zum Ausdruck gebracht. Sie meinte dazu nur: »Ich bin geschockt.« Doch auch dann, wenn es nicht zu dieser Übereinstimmung kommen sollte und sich die Schüler ein anderes Publikum imaginieren, dass sich z. B. kritisch mit den gesellschaftlichen Normen auseinandersetzt und diese nicht bestätigt wissen will, schon gar nicht im Theater, ist das wiederum ein guter Ausgangspunkt, um differenziert die Wertmaßstäbe des Aristoteles zu prüfen. Vgl. Fußnote 186. Den folgenden Erklärungsansatz hat die Studentin Jeanette Trefz vorgeschlagen. Ich gebe ihn hier nur sinngemäß wieder.



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stimmung zwischen den aristotelischen und unseren eigenen Anforderungen an einen guten Charakter erklären lässt. Relativ ist die Übereinstimmung aber vor allem deshalb, weil sich im Laufe der Zeit das »Bild« vom Helden verändern kann. Es ist demnach abhängig von der Zeit, in der Menschen leben, und von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen.

2.7.2 Didaktischer Kommentar zur siebten Unterrichtseinheit: Die Lehrstückdramaturgie und die dramatische Lehrweise – darstellerische Maßnahmen, die auf die eigenständige Urteilsbildung zielen. Die vier Grundsätze der Lehrstückdidaktik327 In diesem Kommentar soll das dramaturgische Prinzip der Lehrstückdidaktik in der Auseinandersetzung mit Christian Theins Konzept einer »problemorientierten Urteilsbildung« 328 weiter verdeutlicht werden. Auf diese Weise kommt es auch zu einem Vergleich der beiden didaktischen Ansätze, der sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Unterschiede zeigen soll. 329 Daraus soll hervorgehen, wie die Schüler zu einem »selbstständigen und zugleich philosophisch fundierten Urteil« 330 hingeführt werden können. In diesem Zusammenhang stelle ich vier Grundsätze auf, die als Richtlinien formuliert werden und so eine Orientierungshilfe im Rahmen eines ganzheitlichen Konzepts der Urteilsbildung darstellen können. 331

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Teile dieses Kapitels habe ich bereits in meinem Aufsatz »Die Schulung der Urteilsfähigkeit im Ethikunterricht. Grundsätze der Lehrstückdidaktik« verwendet, der im Jahr 2020 in dem Band »Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht« erschienen ist. Vgl. Mirka Dickel, Anke John, Michael May, Katharina Muth, Laurenz Volkmann, Mario Ziegler: Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Ethik, Englisch, Geographie, Geschichte, politische Bildung, Religion. Frankfurt/M. 2020. S. 47–70. Christian Thein: Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht. Opladen, Berlin und Toronto 2017. Vgl. ebenso Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht. In: Jörg Peters (Hrsg.), Mitteilungen des Fachverbandes Philosophie e.V. Nr. 56/2016. S. 85–93. Es kommt darüber hinaus zu einer Auseinandersetzung mit weiteren Konzepten der Urteilsbildung in der Philosophie- und Ethikdidaktik: Vgl. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? Stuttgart 2003, S. 139–175. Vgl. Donat Schmidt: Moralische Urteilsbildung neu denken ? Fachdidaktische Perspektiven des sozialen Intuitionismus. In: Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik: Empirische Forschung in der Philosophieund Ethikdidaktik. Dresden 2016, S. 99–117. Vgl. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethisch-philosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik. In: Johannes Rohbeck (Hrsg.), Ethisch-philosophische Basiskompetenz. Dresden 2004. S. 65–96. Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht, S. 86. Der erste Grundsatz des »Dresdner Konsenses für den Philosophie- und Ethikunterricht« lautet folgendermaßen: »Grundlegendes Ziel des Philosophie- und Ethikunterrichts ist die Stärkung der Urteilskraft.« In diesem Zusammenhang wird festgestellt, dass sich dieses Ziel nur dann erreichen lässt, wenn es sich »aus einem ganzheitlichen Konzept der Urteilsbildung [ergibt]. Sie darf nicht auf die Beförderung der emotionalen Intelligenz oder das Einüben kognitiver Strategien philosophischen und ethischen Argumentierens verkürzt werden.« Vgl. Dresdner Kon-

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Kapitel 2

■  Erster Grundsatz: Das Darstellungsgebot

Im Rahmen seiner Poetik sagt Aristoteles nicht viel zur Kunst der Inszenierung, 332 obwohl er sich im Laufe seines Lebens wahrscheinlich viele Theaterstücke angeschaut hat. Aber das Wenige, was er darüber sagt, ist für die theoretische Begründung der Lehrstückdidaktik außerordentlich wichtig, weil er feststellt, dass jede Inszenierung darauf zielt, etwas anschaulich und somit »sichtbar und hörbar« zu machen. 333 Im Lehrstück wird der Unterricht als ein »dramatischer Prozess« 334 gestaltet, weil die Schüler damit die Möglichkeit haben, das, was sie einsehen, durch ihre Inszenierungen zu veranschaulichen. Andererseits haben sie aber auch die Option, die szenische Darstellung als Vorführungen zu betrachten und zu deuten, die im Hinblick auf die menschlichen Handlungen etwas hörbar und sichtbar machen, was sich anders nicht zeigen kann. Das bedeutet, dass dieser Unterricht urteilsbildend ist, weil er die Schüler dazu anleitet, ihr eigenes Urteilsvermögen eigenständig weiterzuentwickeln. Gottfried Hausmann plädiert sogar dafür, »die Bildung als Drama zu verstehen.« 335 Danach ist der Prozess der Urteilsbildung ein Drama, das stattfindet, wenn die Schüler durch die Abfolge der Szenen dazu veranlasst werden, ein eigenes Urteil zu fällen und es in der Konfrontation mit der dramatischen Szenenfolge zu prüfen und zu kritisieren – und damit ihr Urteilsvermögen selbstdenkend zu erweitern. Die Szenenfolge in der Komödie des John Falstaff folgt diesem Darstellungsgebot. Damit bilden die eigenen Erfahrungen der Schüler den Ausgangspunkt für den Urteilsbildungsprozess. Wer im Ethik- und Philosophieunterricht diesen notwendigen Darstellungs- und Reflexionsschritt übergeht, verhindert somit auch beim Schüler die Entwicklung eines eigenständigen Urteilsvermögens. Christian Thein hat prinzipiell



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sens (2016): https://philosophiedidaktik.wordpress.com/erklaerungen/ (Stand: 27.08.2020. Hervorhebung von M. Z.). Dieses ganzheitliche Konzept der Urteilsbildung soll hier auf der Grundlage der Lehrstückdidaktik entwickelt werden. Aristoteles: Poetik. Der Begriff der Inszenierung spielt im Rahmen seiner Poetik eine unbedeutende Rolle; eigentlich ist er nur dann von Belang, wenn es sich um Fragen der visuellen Inszenierung (όpsis, Poetik: 1453b 1–14. S. 19.) und der Lieddichtung (melopoiίa, Poetik: 1449b 31–50a 12. S. 9 f.) handelt. Die Inszenierung hat für ihn nur eine unterstützende Funktion, denn die »Wirkung durch die Anschauung herbeizuführen, hat weniger mit dichterischem Handwerk zu tun […].« (Poetik, 1453b 8. S. 19.) Vgl. Aristoteles: Poetik. S. 511 und 731. Dass Aristoteles auch die konkrete Inszenierungspraxis seiner Zeit sehr genau vor Augen gehabt haben muss, beweist die Tatsache, dass seine Bestimmung der Merkmale der Tragödie aus einer Analyse ihrer Inszenierungsregeln hervorgeht. Vgl. hierzu Michael Jänichen (2010): Dramaturgie im Lehrstückunterricht. Himmelsuhr und Erdglobus – Howards Wolken – Erd-Erkundung mit Sven Hedin. Ein Beitrag zur Theorie, Praxis und Poiesis der Lehrkunstdidaktik, S. 35 f. und 38 ff. Vgl. archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2011/0072/ pdf/dmj.pdf (Stand: 27.08.2020). Nicht zuletzt deshalb orientiert sich die Lehrstückdidaktik »an der Arbeitsweise von Dramatikern, Regisseuren, Theaterkritikern und Literaturwissenschaftlern. Lehrkunstdidaktik ist eine dramaturgische Didaktik.« (Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/ Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 370.) Gottfried Hausmann: Didaktik als Dramaturgie des Unterrichts, S. 120.



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dasselbe im Sinn, wenn er mit Blick auf die Urteilsbildung im Rahmen eines philosophischen Unterrichts Folgendes konstatiert: »Wird das Philosophieren demzufolge als eine in Lernschritten sich vollziehende Entwicklung verstanden, so nimmt diese ihren Ausgangspunkt von der anschaulichen Erfahrung.« 336 Wichtig ist dabei, dass die einzelnen Szenen sich aufeinander beziehen und dass jede von ihnen unter einem neuen Gesichtspunkt irritierend ist. 337 Im vorliegenden Lehrstück zu Falstaff entwickelt sich das Urteilsvermögen der Schüler in Auseinandersetzung mit den einzelnen Szenen. Die Aufgabe zur zweiten Szene: »Sie lachen im Theater über diese Szene. Haben Sie dafür eine Erklärung ?«, bringt sie dazu, über die dargestellte Szene nachzudenken, und zugleich dazu, an die Gründe zu denken, die sie zum Lachen bewegt haben. Dabei haben die Schüler die Aufgabe, das darzustellen, was sie darin erkennen. Die Darstellungen, die ein Problem, zum Beispiel die Festlegung des Strafmaßes vor dem Hintergrund der Bestimmung der menschlichen Möglichkeiten 338 , auf eine lebendige Weise verständlich machen, 339 setzen ein Verständnis und ein selbsterworbenes Wissen voraus, das mit diesen Darstellungsleistungen so geklärt und erweitert wird, dass eine »progressive und strukturierte Urteilsbildung« möglich wird, »deren Abschluss in einer selbstständigen Urteilsbildung liegt.« 340 Das Urteilsvermögen der Schüler entwickelt sich somit tatsächlich in einem »Spannungsfeld«, in dem ihnen eine »reflexive Haltung zum Problem« abverlangt wird, die dazu führt, dass philosophische Konzepte in ihre natürliche Urteils- und Sprechweise einfließen. 341 Ihr Urteilsvermögen erweitert sich aber nicht etwa durch die »Problemreflexion«, wenn dies eine Erörterung abstrakter Thesen sein soll, sondern vielmehr durch die Einsichten und Klarheiten, die sie im lebendigen Gespräch



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Christian Thein: Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, S. 14. Die dramatische In-Szene-Setzung im Lehrstück provoziert solche Irritationsmomente: »Ausgangspunkte bilden Zustände der Irritation von Hintergrundwissen und Vormeinungen, durch die SchülerInnen in Situationen geraten, in welchen sie Fragen, Themen und Gegenstände unter neuen Perspektiven betrachten, deuten und reflektieren.« (Christian Thein: Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, S. 16.) Noch dramatischer und problematischer wird die Urteilsabwägung und Begründung der Schüler dann, wenn ihnen in einer weiteren Szene folgende Frage gestellt wird: »Was wäre, wenn sich in einer weiteren Szene herausstellte, dass Falstaff in seinen geistigen Fähigkeiten eingeschränkt ist (an einer leichten geistigen Behinderung leidet) ? Könnten Sie dann auch noch über ihn lachen, wenn er auf dem Misthaufen landet ?« Vgl. oben, 2.7. Vgl. Michael Jänichen (2010): Dramaturgie im Lehrstückunterricht. Himmelsuhr und Erdglobus – Howards Wolken – Erd-Erkundung mit Sven Hedin. Ein Beitrag zur Theorie, Praxis und Poiesis der Lehrkunstdidaktik, S. 25. Vgl. archiv.ub.uni-marburg.de/diss/z2011/0072/pdf/dmj.pdf (Stand: 27.08.2020). Christian Thein: Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, S. 48. Es »entwickelt sich eine wirklich reflexive Haltung zur Problemstellung – die »Problemreflexion«  – im dargestellten Spannungsfeld zwischen den Grundintuitionen (Vor-Urteilen) der Schülerinnen und Schüler und der Auseinandersetzung mit Philosophemen im Gesamtverlauf der Unterrichtsreihe.« (Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht, S. 92.)

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miteinander bei der Entschlüsselung der Szenen im Hinblick auf die darin auftretenden Figuren gewinnen. 342 Jedes Lerndrama benötigt demnach einen »Helden«. Theodor Schulze hat die Rolle, die solche Helden im Rahmen der Lehrstückdidaktik spielen, mit vorsichtigem Seitenblick aufs Theater wie folgt pointiert: Das Lehrstück braucht einen Protagonisten, einen Helden. Der Held ist jedoch keine Person, sondern – ja, wie soll ich sagen – ein Phänomen, ein Gebilde, ein Konzept, das wie eine »Figur« im Drama agiert, das eine »Entwicklung« durchläuft, das in eine »Krise« gerät, das am Ende in einer neuen Gestalt aus den Handlungen und Verwicklungen hervorgeht. 343

Die Schüler sollen im weiteren Verlauf des Lehrstücks die Komödienszene, in der Falstaff als »Held« agiert, so umgestalten, dass die Zuschauer nicht mehr über ihn lachen können. Das Lerndrama ist hier mithin zum einen darauf angelegt, dass die Schüler durch die szenischen Darstellungen die Möglichkeit haben, auf etwas hinzudeuten, und zum anderen darauf, dass ihre Mitschüler die Aufgabe bewältigen müssen, das Angedeutete auch ihrerseits zu erkennen und mit eigenen Worten verständlich zu machen. Diese Darstellung ist somit eine mimetische Leistung, die das, was sich in den Schauspielen menschlichen Handelns zu erkennen gibt, durch eine gezielte Gestaltung zum Vorschein bringt. 344 Die Lehrstückdidaktik ist deshalb eine deiktische Didaktik – eine »Kunst des Darstellens und Zeigens.« 345

■  Zweiter Grundsatz: Das Souveränitätsgebot

Eine menschliche Handlungsweise und einen Menschen mit seinen Ansichten so vorzuführen, dass der Zuschauer erkennen und beurteilen kann, worauf es ankommt, macht den Schülern viel Freude. Und diese Freude beim Betrachten und entdeckenden Analysieren ihrer Darstellungen ist vor allem eine Erkenntnisfreude. 346 Dazu kommt es, wenn es ihnen Vergnügen macht, eine Drehbuchszene so umzugestalten, dass sich Falstaff darin als ein Held mit lobenswerten Zügen hervortut. Denn dazu müssen sie sich zunächst einmal klarmachen, welche Charaktereigenschaften sie dem Theaterpublikum vorführen müssen, wenn sie ihr Ziel erreichen wollen.



Diese Klarheit kommt nicht zuletzt durch die Dramaturgie des Lehrstücks zustande: »Durch die Dramaturgie gewinnt das Lehrstück Klarheit, Prägnanz und Bündigkeit, bringt und hält den Lernprozess in Gang […].« (Hans Christoph Berg/Hans Brüngger/Susanne Wildhirt: Lehrstückunterricht: Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch. In: Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Weinheim und Basel 2008, S. 116.) 343 Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 379. 344 Vgl. oben, 1.3.5. 345 Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 372. 346 Vgl. Wolfgang Welsch: Der Philosoph. Die Gedankenwelt des Aristoteles, S. 362 f. 342



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Weil sich in ihren Vorführungen gewöhnlich sehr viel zeigt, machen die Betrachter die Erfahrung, dass sie oft Unterschiedliches und Ambivalentes im Blick haben und dass sie folglich nach sorgfältiger Abwägung sehr differenziert und vorsichtig urteilen müssen. All das können sie, wie festzustellen ist, leisten, ohne sich vorab mit philosophischen Texten zu befassen, in denen diese Fragen behandelt werden. Sie bilden somit ihr Urteil in der gemeinsamen Arbeit an der Gestaltung der Drehbuchszenen zunächst völlig selbstständig. Das ist die Voraussetzung dafür, dass diese Arbeit zu einem »philosophisch fundierten Urteil« 347 führt. Diese Einstufung als »philosophisch fundiertes Urteil« ist wohlbegründet, weil die Schüler selbst denken, wenn sie das, was sie durch ihre Darstellungen aufdecken, auf ihre Weise verständlich machen. Der damit verbundene Grundsatz der Souveränität des Schülers hängt auch mit dem philosophischen Grundverständnis der Lehrstückdidaktik zusammen, das ähnlich wie das Thein’sche Modell eines »urteilsbildenden Philosophieunterrichts« von folgender Prämisse ausgeht: »Philosophie ist kein statisches, rezeptiv anzueignendes Ideengebilde, sondern eine prozessuale Form der verstehenden und kritischen Auseinandersetzung mit Welt und Selbst.« 348 Souverän bleibt der Schüler in seinem Urteil auch dann, wenn er sich mit seinen Mitschülern über die verschiedenen Drehbuchszenen verständigt und dabei feststellt, dass sich seine Sichtweise und auch die Bewertungskriterien seines Urteils von denen seiner Mitschüler unterscheiden. Denn das, was sich im Schauspiel des menschlichen Handelns zeigt und was in den verschiedenen Darstellungen dieses Handelns fassbar werden soll, ist stets außerordentlich vielschichtig, stets mehrdimensional und verwickelt und stets in manchen Aspekten schwer erschließbar und nicht eindeutig bestimmbar. Das ist der Hauptgrund dafür, dass die Ausdeutungen auch dann unvermeidlich divergieren, wenn die Interpreten nicht mit Worten fechten, sondern genau hinschauen und mit aller Sorgfalt den Versuch machen, das, was sie erfassen, selbstständig und mit eigenen Mitteln verständlich zu machen. Im Lehrstück machen die Teilnehmer folglich die Erfahrung, dass diese Divergenz unvermeidlich, aber auch aufschlussreich ist. Es wird daher so inszeniert, dass die Mitspieler in jedem Teil des Dramas unter wechselnden Gesichtspunkten darauf aufmerksam werden, dass das von ihnen selbst beobachtete Schauspiel nach ihrer eigenen Beobachtung vieldeutig ist und dass diese Ambivalenz der erste und wichtigste Grund für die Divergenz ihrer Auslegungen ist. Da dies nach den sich wiederholenden Erfahrungen im Lehrstück für sie ungewöhnlich durchsichtig ist, können sie verständnisvoll aufeinander eingehen. Durchaus auch dann, wenn sie feststellen, dass sie die Szenen, die sie gemeinsam vor Augen haben, unterschiedlich deu

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Christian Thein bestimmt »Problemreflexion« als eine Leistung, die den »Urteilsbildungsprozess«, der zu einem philosophisch fundierten Urteil hinführt, »notwendig begleitet.« (Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht, S. 86.) Die Lehrstück­ didaktik akzentuiert anders, weil sie geltend macht, dass die Schüler mit ihren Darstellungen und mit der Interpretation dieser Darstellungen Klarheiten gewinnen, mit denen die philosophischen Problemreflexionen zugänglich werden. Christian Thein: Verstehen und Urteilen im Philosophieunterricht, S. 9.

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ten und dass ihre Erklärungen weit divergieren und sich gegenseitig ausschließen. Unter diesem Gesichtspunkt ist das Urteil der Schüler vielleicht auch gerade deshalb »philosophisch fundiert und souverän«, weil sie die Ambivalenz in ihren eigenen Beobachtungen und die Divergenz ihrer Auslegungen auszuhalten lernen und auf diesem Weg eine Zurückhaltung erlernen, die einer Tugend gleichkommt, und zwar vor allem deshalb, weil sie zu einer kritischen Reflexion der eigenen Urteilsmaßstäbe hinführt, ohne zugleich – und schon gar nicht notwendigerweise – zu einer Urteilsenthaltung zu führen. 349 Wird den Schülern nach dieser Vorbereitung ein Abschnitt aus einer philosophischen Abhandlung vorgelegt, der ihnen zugänglich ist, dann haben sie folglich auch beim Lesen die Person vor Augen, die sich damit zu Wort meldet. Den Verfasser nämlich, der die von ihnen betrachteten und gedeuteten Szenen menschlichen Handelns in ihrer Sicht ebenfalls verständnisvoll beobachtet hat und der angesichts der Lebenswelt, die jeder Mensch vorfindet, schon vor ihnen zu vielen wichtigen Einsichten gelangt ist: zu Einsichten, die er für mitteilungswürdig hält und die er in dem Text zu verdeutlichen sucht, der von ihm überliefert ist. Dabei greift er auf Erklärungen und Argumentationen zurück, die sie als Leser mit dem Interesse und dem Verständnis lesen können, das sie verdient haben. Denn auf der einen Seite können sich die Schüler nach der Vorbereitung im Lehrstück tatsächlich eingehend mit dem Text beschäftigen, weil sie finden, dass der Verfasser sich mit seinen Erklärungen auf die Vorgänge bezieht, die sie selbst im Blick haben und die sie selbst zu deuten versuchen. Auf der anderen Seite können sie sich aber auch souverän mit dem Text auseinandersetzen, weil ihnen bewusst ist, dass die Geschehnisse, die sie zu erklären bemüht sind, stets von vielen schwer auslotbaren Bedingungen und Hintergründen abhängen. Von so vielen, dass die Festlegung auf ein ganz bestimmtes Urteil nur dann überzeugend ist, wenn sie das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung der Gründe ist, die von den Interpreten mit abweichenden Einschätzungen vorgetragen werden. Denn das sind ja die Geschehnisse, die die Schüler auch selbst wahrnehmen, wenn ihre Mitmenschen als agierende Personen in ihrem Horizont erscheinen.

Es geht hier in gewisser Weise um die Ausbildung einer Tugend der Zurückhaltung und der Bescheidenheit, die nicht dazu führen soll, sich eines eigenen Urteils zu enthalten, sondern die in der Übung besteht, die eigenen Wissens- und Urteilsansprüche kritisch in den Blick zu nehmen. Vorreiter einer solchen Tugend der Zurückhaltung und Bescheidenheit sind die beiden Neukantianer Leonard Nelson und Hermann Cohen. Bei Nelson ist die Tugend der Zurückhaltung eigentlich eine Tugend des Lehrers, der im sokratischen Gespräch dazu aufgefordert ist, sich mit seinem eigenen Urteil zurückzuhalten. Doch die mit dieser Tugend verbundenen Eigenschaften sollten m.E. auch und gerade die Schüler im Rahmen eines philosophischen Unterrichts entwickeln – vor allem deshalb, weil sie nur so in die Lage versetzt werden, ihre Urteile selbstständig zu prüfen. Vgl. Leonard Nelson: Die sokratische Methode. In: Vom Selbstvertrauen der Vernunft. Schriften zur kritischen Philosophie und ihrer Ethik, S. 213 ff. Vgl. Hermann Cohen: System der Philosophie. Zweiter Teil: Ethik des reinen Willens. Berlin 1921. Zwölftes Kapitel: Die Bescheidenheit, S. 535–556.

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Im Lehrstück treten die Schüler nicht selten selbst in einer Rolle auf. Als Darsteller bemühen sie sich darum, das von ihnen Entdeckte durch die Vorführung einer Handlungs- und Denkweise mimetisch zum Vorschein zu bringen. Ist im Rahmen eines Lehrstücks die Behandlung philosophischer Texte vorgesehen, darf der Lehrer die Mitspielenden nicht zu einer Analyse nach eingeübten Regeln auffordern. Vielmehr muss er die Aufgaben zur Behandlung so formulieren, dass sie eine Auseinandersetzung mit den Aussagen des Verfassers ermöglichen und initiieren, in der sich alle Mitredenden wie auch der Verfasser selbst von ihren eigenen Einsichten leiten lassen und in der ihr Anspruch auf Ebenbürtigkeit und Gleichrangigkeit außer Zweifel steht und stets anerkannt bleibt. Diese Aufgaben sollten daher nach dem folgenden Muster-Arbeitsauftrag gestaltet werden, der natürlich abhängig von den unterschiedlichen Themen und Spielsituationen einfallsreich abgewandelt werden muss:

 Nehmen Sie an, dass jemand aus der Klasse behauptet, Aristoteles (oder ein anderer Autor !) sage an dieser Stelle genau dasselbe wie einer der Mitschüler, die vorhin in den Szenen aufgetreten sind ! Wenn Sie das anders sehen, haben Sie gleich die Möglichkeit, zu widersprechen und uns zu erklären, was der Philosoph tatsächlich sagen will. Das sollten Sie auch dann versuchen, wenn Sie mit der Behauptung des Mitschülers einverstanden sind. Sie haben ein paar Minuten Zeit für die Vorbereitung.350 Denn diese Aufgabe gewährleistet die Souveränität der Schüler, weil sie nach den dramaturgischen Regeln der Lehrstückdidaktik konzipiert ist und auf diese Weise verhindert, dass die Schüler die Position des Aristoteles und auch die eines Mitschülers nur übernehmen. Die Schüler werden durch Arbeitsaufträge dieser Art nicht nur dazu in die Lage versetzt, sich kritisch mit der These oder mit dem Argument eines philosophischen Autors auseinanderzusetzen. Vielmehr werden sie auch dazu ermuntert, bei sich selbst und ihrem eigenen Urteil zu bleiben und dieses so in Worte zu fassen, dass darüber die Unterschiede und gegebenenfalls auch die Gemeinsamkeiten in den Auffassungen sowohl zu der philosophischen Position als zu der eines Mitschülers deutlich werden können. Fast alle darstellerischen Maßnahmen der Lehrstückdidaktik zielen also darauf ab, die eigenständige Urteilsbildung der Schüler zu fördern.

■  Dritter Grundsatz: Das Kontroversitätsgebot

Das Kontroversitätsgebot ist sowohl in der Philosophie- und Ethikdidaktik als auch in der Politikdidaktik unumstritten. Es fußt auf dem berechtigten Wunsch demokratischer Gesellschaften, die Lernenden zu einem eigenen Urteil zu befähigen und damit ein wirksames Mittel zum »Schutz gegen Indoktrination«351 zur Verfügung zu haben. Vgl. oben, 2.3.3. Vgl. Dresdner Konsens (2016): https://philosophiedidaktik.wordpress.com/erklaerungen/ (Stand: 27.08.2020).

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Im Beutelsbacher Konsens, der in der Politikdidaktik als Standard für politische Bildungsprozesse angesehen wird, kommt diese gesellschaftliche Perspektive klar zum Ausdruck: Er (Beutelsbacher Konsens, hinzugefügt von M. Z.) hält uns dazu an, die in der Gesellschaft gegebenen Perspektiven auch im Unterricht zu repräsentieren und die Lernenden an der Findung eines eigenen politischen Urteils nicht zu hindern. Insofern erscheint der Beutelsbacher Konsens als eine Deduktion von politischen Prinzipien der (bundesdeutschen) Demokratie auf den Unterricht. Menschenwürde, Pluralität und freie Entfaltung der Persönlichkeit lassen sich in Kontroversität, Mündigkeit und Orientierung an den Interessen der Lernenden übersetzen. 352

Dieser Grundsatz, sich an die freiheitlich-demokratische Grundordnung zu halten, gilt auch für den Ethikunterricht. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass man in der Ethikdidaktik ebenfalls bestrebt ist, Grundsätze zu formulieren, die als Unterrichtsstandard gelten sollen. Im Rahmen des »Dresdner Konsens« für den Philosophie- und Ethikunterricht wird neben der »Stärkung der Urteilskraft«, dem »Gebot weltanschaulicher und religiöser Neutralität«, dem »Bewusstsein von Suggestivität« eben auch das »Gebot der Kontroversität« als ein solcher Grundsatz festgelegt. 353 Das Gebot der Kontroversität ist hier so zu verstehen, dass die vielfältig verschiedenen Ansichten und Urteile, die in gesellschaftlichen, wissenschaftlichen und philosophischen Debatten zum Ausdruck kommen, auch im Unterricht eine wesentliche Rolle spielen. Deshalb soll der Philosophie- und Ethikunterricht so angelegt sein, dass ein »strittiger Sachverhalt« zum Unterrichtsgegenstand gemacht wird, der »mehrere, wohlbegründete, voneinander abweichende Posi­tio­ nierungen« 354 zulässt. Dieses Kriterium erfüllt die Lehrstückdidaktik in besonderem Maße, weil die dramatische Lehrweise auf eine kontroverse Auseinandersetzung mit den philosophischen Problemen hin angelegt ist. Allerdings ist diese Auseinandersetzung nicht erst auf einer philosophischen Reflexionsebene kontrovers – etwa dann, wenn sich die Schüler mit dem Argumentationsmuster von Aristoteles konfrontiert sehen, sondern bereits auf der konkreten Urteilsebene der Schüler. Wenn beispielsweise ein Schüler das Urteil fällt, dass Falstaff nur dann ein gutes Leben führen kann, wenn er all seine menschlichen Möglichkeiten bestmöglich ausschöpft, ruft das in der Regel Gegenstimmen hervor. Noch strittiger wird die Auseinandersetzung zwischen den Schüler dann, wenn dieses Kriterium auf den Falstaff mit eingeschränkten geistigen Fähigkeiten übertragen wird: Es findet sich immer ein Schüler, der das aristotelische Erklärungsmuster anficht, insbesondere dann, wenn das philosophi

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Michael May: Die unscharfen Grenzen des Kontroversitätsgebots und des Überwältigungsverbots. In: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens ? Eine Debatte der politischen Bildung. Schriftenreihe Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1793. Bonn 2016, S. 234. Vgl. Dresdner Konsens, Fußnote 351. Vgl. ebd.



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sche Problem mit dramaturgischen Mitteln in Szene gesetzt wird. Kontroversität ist folglich ein Prinzip der Lehrstückdidaktik, und dieses Prinzip gilt eben nicht nur dann, wenn Philosophen zu Wort kommen, sondern bereits dann, wenn die Schüler durch die dramatische Lehrweise zu Philosophen gemacht werden. Es zeigt sich hier wieder eine Strukturähnlichkeit mit Theins Modell eines auf Urteilsbildung zielenden Philosophie- und Ethikunterrichts, denn er stellt prinzipiell die gleiche Forderung auf: Kontroversität ist demzufolge das zentrale Strukturmerkmal eines für den Philosophieunterricht relevanten Problems. Die einnehmbaren Positionen müssen respektabel sein und zugleich in einem Gegensatz zueinanderstehen. Die geforderte Auflösung des Widerspruchs soll durch Differenzierungen, wechselseitige Bezugnahmen, neue Konstruktionen und Widerlegungen eindeutig falscher Behauptungen geschehen. Der genuin philosophische Problemhorizont von Fragestellungen aus der theoretischen und praktischen Philosophie ist zudem um die soziale und existenzielle Dimension beispielbezogen zu erweitern, um den Lebensweltbezug zu ermöglichen. 355

Jedes Lehrstück besitzt ein solches Irritationsmoment, bei dem die Schüler herausgefordert sind, ihre Urteile zu reflektieren. Häufig ist die Szenenfolge so gestaltet, dass die Schüler mit ihren eigenen Überzeugungen und Urteilen, die sich nicht selten mit dem ›Common Sense‹ decken, konfrontiert werden. Die Auseinandersetzung mit philosophischen Positionen kann dabei durchaus einen solchen Störfaktor bilden, der von ihnen erneut eine Positionierung und Begründung ihres Urteils abverlangt. 356 Entscheidend ist allerdings, dass der philosophische Problemhorizont nicht allein durch Bezugnahme auf philosophische Positionen und Texte gewährleistet ist, sondern bereits durch die dramaturgische In-Szene-Setzung des Unterrichts. In diesem Punkt unterscheidet sich die Lehrstückdidaktik von Theins Konzept einer »problemreflexiven Urteilsbildung« 357 so grundlegend, dass die Differenz unbedingt aufgedeckt und in den Blick gerückt werden muss. Das tut Thein selbst, wenn er den Übergang von der erfahrungsgeleiteten Meinungsbildung zur philosophischen Abstraktions- und Reflexionsleistung folgendermaßen charakterisiert: Die Unterrichtseingangsphase sollte durch die beschreibende Erfassung von Sachverhalten und Gegenständen hindurch Irritation und Erfahrungsbrüche provozieren. Diese Irritationen entstehen in der Praxis jedoch nur durch die Konfrontation des Common Sense – hier eingeführt als Allgemeinbegriff für die lebensweltlichen Wissens- und Meinungshorizonte der Schülerinnen und Schüler – mit kontraintuitiven philosophischen Positionen und Thesen […]. Die Wechselseitigkeit von Lebensweltbezug und philosophischer Abstraktions- und Reflexionsleistung wird also möglich dadurch, dass die Schülerinnen und Schüler immer zuerst an ihr Vorwissen und ihre 357 355

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Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht, S. 88. Vgl. ebd., S. 89 f. Vgl. ebd., S. 93.

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erste Meinungsbildung anknüpfen können, bevor sie zur Erarbeitung von philosophischer und wissenschaftlicher Theorie übergehen. Jedes sich in diesem Spannungsverhältnis konstituierende philosophische Problem fordert zu einem Urteil heraus, so dass […] über die Problemorientierung ein reflektierter Urteilsbildungsprozess initiiert wird. 358

Diese Erklärung verrät, dass Thein auf die fragwürdige These festgelegt ist, genuin philosophische Positionen und Thesen seien in jedem Fall kontraintuitiv. Weil dies für ihn offenbar außer Zweifel steht, grenzt er die philosophische Argumentation nicht nur scharf von der Urteilsbildung in den lebensweltlichen Wissens- und Meinungshorizonten ab, sondern konstruiert darüber hinaus einen Gegensatz, der nur einseitig aufgehoben werden kann: eben nur dadurch, dass die Konfrontation der Schüler mit philosophischen Aussagen Erfahrungsbrüche erzeugt und dazu führt, dass ihr Vertrauen in die Evidenz ihrer eigenen Einschätzungen hinreichend heftig erschüttert wird. Denn nur dann, wenn es brüchig ist, soll ihnen angeblich der Schritt zur Erarbeitung philosophischer Theorie möglich sein. Dieser Übergang kann nach dieser Logik mithin nur ein Sprung auf die Höhe der genuin philosophischen Reflexion sein – auf das Niveau, das sie vermeintlich erst dann und nur dann erreichen, wenn sie lernen, von ihren eigenen Erfahrungen und Ansichten abzusehen und sich ganz auf die Sätze der großen Denker zu konzentrieren und sich darauf zu verlassen, dass diese ihnen das Richtige sagen werden. Das ist gerade nicht das Ziel des Lehrstückunterrichts, in dem die Schüler ihre Meinungen und Ansichten nicht aufgeben, sondern diese ganz im Gegenteil so weiterentwickeln sollen, dass sie sich am Ende selbstständig mit philosophischen Thesen und Texten auseinandersetzen können. Der Lehrer, der den Unterricht als Lerndrama inszeniert, setzt somit voraus, dass ein philosophischer Text nur deshalb für den Schüler zugänglich und kontrovers diskutierbar ist, weil sein Verfasser die Einsichten, die er mit seinen Worten mitzuteilen versucht, wie jeder andere bei der Besichtigung des Schauspiels der Erscheinungen gewonnen hat, die er seinerseits in der Lebenswelt vorfindet. Unter dieser Prämisse entfaltet das exemplarische Verfahren im Rahmen der Lehrstückdidaktik erst seinen eigentlichen Sinn. Denn die Beispiele dienen hier nicht bloß dazu, einen wie auch immer gearteten Lebensbezug herzustellen, sondern sie sind aus sich selbst heraus ambivalent und kontrovers genug, weil es das Theater menschlicher Handlungen »naturgemäß« ist, und zwar nicht nur in der Sicht der Philosophen, sondern auch in der Alltagswahrnehmung der Schüler, sodass auch der philosophische Problemhorizont hier nicht künstlich durch das Beispiel erzeugt werden muss. Deshalb steht im Mittelpunkt jeder Lehrstückeinheit die gemeinsame Analyse einer exemplarischen Situation. Und deshalb hat auch jede Unterrichtseinheit eine eigene Dramaturgie, die aus der exemplarischen Situation und aus dem daraus erwachsenden Thema hervorgeht. 359

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Ebd., S. 89. Hervorhebungen von M. Z . Vgl. Martin Wagenschein: Verstehen lehren, S. 31 ff.



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Dieser grundlegende Unterschied zeigt sich nicht nur gegenüber dem Thein’­ schen Urteilsbildungsmodell, dass trotz dieser theoretischen Differenz in vielen wichtigen Punkten mit dem Konzept der Lehrstückdidaktik übereinstimmt. Noch viel deutlicher tritt dieser Unterschied hervor, wenn man sich die anderen Urteilsbildungsmodelle anschaut, die im Rahmen der Philosophie- und Ethikdidaktik diskutiert werden. 360 Und vielleicht ist es auch ein Unterschied, der sich mit Blick auf die Urteilsbildungsmodelle in den anderen angrenzenden Fachdidaktiken feststellen lässt, 361 denn ein weiterer Grundsatz der Lehrstückdidaktik ist die Inhaltszentrierung. 362

■  Vierter Grundsatz: Das Gebot der Inhaltszentrierung

Die Inhaltszentrierung ergibt sich aus dem exemplarischen Charakter einer Situation oder eines Themas. Jede Lehrstückeinheit fußt auf einem besonderen Beispiel, in diesem Fall auf einer exemplarischen Figur, Falstaff, die ambivalent genug ist, sodass sie als eine »dialektische Figur«363 bezeichnet werden kann. Weil davon auszugehen ist, dass die Schüler mit Blick auf eine solche ambivalente Figur wie Falstaff sehr differenziert urteilen müssen, wird auch die Eigenlogik ihrer jeweiligen Urteilsbildung durch das exemplarische Thema berücksichtigt. Denn ihre Urteile haben hier eindeutig einen inhaltlichen Bezug. Sie fällen ein konkretes Urteil mit Blick auf Fal­staffs Lebensweise, und sie tun das nicht allein durch eine sprachliche Verlautbarung, sondern auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen. In ihren Urteilen greifen die Schüler also immer schon auf Bekanntes zurück. Der Unterricht hilft ihnen im besten Fall nur dabei, das einzusehen, was in ihren Urteilen zum Vorschein kommt.

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Im Kontext der Philosophie- und Ethikdidaktik trifft dies vor allem auf die Urteilsbildungsmodelle von Julia Dietrich und Volker Pfeifer zu: Vgl. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethisch-philosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik. In: Johannes Rohbeck (Hrsg.): Ethisch-philosophische Basiskompetenz. Dresden 2004, S. 65–96. Vgl. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? S. 139–175. Im Kontext der anderen Fachdidaktiken: Politikdidaktik: Vgl. Peter Massing: Kategoriale politische Urteilsbildung. In: Hans-Werner Kuhn (Hrsg.): Urteilsbildung im Politikunterricht. Ein multimediales Projekt. In: Politik und Bildung, Bd. 21. Schwalbach/Ts. 2003, S. 91–108. Geschichtsdidaktik: Vgl. Winfried Gossmann: Überlegungen zum Problem der Urteilsbildung im Geschichtsunterricht. In: Bergmann, Rüsen (Hrsg.): Geschichtsdidaktik. Theorie für die Praxis. Düsseldorf 1978, S. 67–85. Geographiedidaktik: Christiane Meyer/Dirk Felzmann: Was zeichnet ein gelungenes ethisches Urteil aus ? Ethische Urteilskompetenz im Geographieunterricht unter der Lupe. In: C. Meyer, R. Henry, und G. Stöber (Hrsg.): Geographische Bildung. Kompetenzen in didaktischer Forschung und Schulpraxis. Braunschweig 2011, S. 130–146. Vgl. Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie. In: Hans Christoph Berg/Theodor Schulze: Lehrkunst. Lehrbuch der Didaktik, S. 375 ff. und 387 ff. Vgl. außerdem: Hans Christoph Berg/Ueli Aeschlimann/Astrid Eichenberger: Lehrstückunterricht. Exemplarisch – Genetisch – Dramaturgisch. In: Jürgen Wiechmann (Hrsg.): Zwölf Unterrichtsmethoden. Vielfalt für die Praxis. Weinheim und Basel 2002, S. 101 und 111. Theodor Schulze: Lehrstück-Dramaturgie, S. 388. »Sie (die dialektische Figur, hinzugefügt von M. Z.) vereinigt das Moment der Konzentration, Zusammenziehung und Verdichtung mit der der Öffnung, Erschließung und Erweiterung. Die Figur ist gleichsam sternförmig angelegt, und je mehr Strahlen sich in ihr kreuzen, desto stärker ist ihre exemplarische Potenz.«

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In den meisten Urteilsbildungsmodellen spielt der Grundsatz der Inhaltszentrierung keine Rolle. Das liegt sehr wahrscheinlich daran, dass viele Didaktiker gar nicht mehr damit rechnen, dass im Philosophie- und Ethikunterricht tatsächlich Einsichten zu gewinnen sind. Stattdessen setzen viele Urteilsbildungsmodelle einseitig auf die Förderung von logisch-argumentativen Kompetenzen, um die ethische Urteilsfähigkeit bei den Schülern zu entwickeln. 364 Damit treten nicht nur die philosophischen Inhalte aus dem Blick, die ja auch urteilsbildend sein können. Viel gravierender ist, dass damit die ethische Urteilsbildung allein im Raster des Kompetenz­ erwerbs – genauer gesagt der Entwicklung logisch-analytischer Kompetenzen – gefasst wird. 365 So kommt es, dass kaum mehr der erkenntnistheoretische und didaktische Zusammenhang von erfahrungsgeleiteter Einsichtsgewinnung und Urteilsbildung berücksichtigt wird. Bereits Heckmann hat mit Blick auf das sokratische Gespräch vor einer einseitigen Fixierung auf eine logisch-argumentative Grundstruktur des Philosophieunterrichts gewarnt und sich stattdessen für eine Urteilsbildung im Erfahrungsbereich stark gemacht: Erst allmählich habe ich begriffen, daß der Urteilsbildung im Erfahrungsbereich eine wesentlich größere Bedeutung für das Gewinnen von Einsichten zukommt. Die Wurzeln auch der durch Abstraktion zu gewinnenden allgemeinen Einsichten liegen in der Urteilsbildung im Erfahrungsbereich. Eine Einsicht, die hier nicht ihre Wurzeln hat, verdient diesen Namen nicht. Sie bleibt bloße Formel, ohne Verbindung mit dem konkreten Lebendigen, in dem wir uns doch durch das Philosophieren orientieren wollen.366

Der gleiche Inhaltsverlust tritt häufig in der sogenannten Dilemmadiskussion auf, 367 deren Relevanz auf die ethische Urteilsbildung mit Hilfe des Kohlberg’schen Stufen

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Vgl. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethischphilosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik. Julia Dietrich (2012): Ethische Urteilskraft. Methodologische Erwägungen aus argumentationstheoretischer Perspektive. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 60 (2), S. 233–249. Vgl. ebenso Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? Stuttgart 2003, S. 139–175. Volker Pfeifer: Ethisch Argumentieren: ›Was ist richtig, was ist falsch ?‹ – Ethisch Argumentieren anhand aktueller Fälle, Brühl 1997. Nur Donat Schmidt vertritt mit seinem intuitionistischen Ansatz ein etwas anders gelagertes Urteilsbildungsmodell. Er macht sich ebenfalls für einen nicht-analytischen Zugang bei der ethischen Urteilsbildung stark: Vgl. Donat Schmidt: Moralische Urteilsbildung neu denken ? Fachdidaktische Perspektiven des sozialen Intuitionismus. In: Jahrbuch für Didaktik der Philosophie und Ethik: Empirische Forschung in der Philosophieund Ethikdidaktik. Dresden 2016, S. 99–117. In der Geschichtsdidaktik ist es ebenfalls sehr umstritten, ob die gegenwärtig dominierende Kompetenzorientierung einen sinnvollen Beitrag zur Urteilsbildung im Geschichtsunterricht leistet. Vgl. Tagungsbericht: HT 2014 (2015): »Gewinner oder Verlierer ?« – Das historische Urteil im Geschichtsunterricht als Qualitätsmerkmal und Desiderat, 23.09.2014–26.09.2014 Göttingen. In: H-Soz-Kult, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-5795 (Stand: 28.08.20). Gustav Heckmann: Das sokratische Gespräch, S. 85. Ebenfalls sehr beliebt sind im Ethik- und Philosophieunterricht die Trolley-Probleme. Laura Martena stellt ihre große Popularität vor allem in moralphilosophischen Diskussionen heraus und



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modells begründet wird. 368 Dabei wird vorausgesetzt, dass sich die ethische Urteilsfähigkeit der Schüler dadurch verbessert, dass man sie vor dem Hintergrund einer hypothetischen Entscheidungssituation miteinander diskutieren lässt und sie anschließend mit Gegenargumenten der »gleichen« oder einer nächst »höheren« Stufe 369 konfrontiert. Ziel des diskursiven Ansatzes ist, sie dadurch »aus ihrem kognitiven Gleichgewicht zu bringen, was den Übergang in die nächsthöhere Stufe moralischer Urteilsfähigkeit anregen soll.« 370 Das Kontroversitätsgebot bekommt an dieser Stelle einen formalistischen Zug, indem man sich im Rahmen der Urteilsbildung einseitig auf den Diskurs und somit auf den Austausch von Meinungen, Standpunkten und argumentativen Begründungen beschränkt 371 – selbstverständlich mit den entsprechenden unterrichtspraktischen Arrangements, allen voran der Methode der Debatte. Aber dadurch findet überhaupt keine echte inhaltliche Auseinandersetzung mit einem exemplarischen Thema statt. Die Schüler können somit auch nicht mehr auf ihren eigenen Erfahrungsschatz bei der Urteilsfindung und -begründung zurückgreifen. Sie urteilen sprichwörtlich blind und fällen am Ende auch kein eigenes Urteil mehr, weil sie im kontroversen Hin und Her der Standpunkte und beim sprachlichen Jonglieren mit philosophischen Argumenten ihre eigenen Einsichten und ihr eigenes Verständnis aus dem Blick verlieren. Die Folgen eines solchen urteilsbildenden Unterrichts und eines falsch verstandenen Kontroversitätsgebots können verheerend sein: einerseits deshalb, weil die Schüler darüber ihr eigenes Interesse an einer »Sache« schnell verlieren können. Es kommt dann zu einem belanglosen Austausch von Argumenten, bei dem die Schüler vielleicht pflichtbewusst das »Einerseits und Andererseits« der unterschiedlichen Positionen diskutieren, aber bei dem sie selbst nicht mehr nachdenken und es sie deshalb auch nichts mehr angeht. Andererseits kommt die Urteilsbildung, inhaltlich betrachtet, zu keinem wirklichen Ende, weil die konkreten Inhalte bzw. die eigene Einsichtsgewinnung beim Erwerb der analytischen und argumentativen Kompetenzen überhaupt keine Rolle mehr spielen. Michael May hat die unterrichtlichen Konsequenzen einer solchen Verfallsform des Kontroversitätsgebots mit Blick auf den Politikunterricht sehr deutlich auf den Punkt gebracht:



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kritisiert sie dann äußerst differenziert unter einer didaktischen Perspektive: »Thinking Inside the Box: Concerns about Trolley Problems in the Ethics Classroom.« In: Teaching Philosophy 41 (2018), H.4. Vgl. www.academia.edu/37446602/_Thinking_Inside_the_Box_Concerns_about_ Trolley_Problems_in_the_Ethics_Classroom_in_Teaching_Philosophy_41_2018_H._4 (Stand: 28.08.20). Vgl. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? S. 220– 236. Vgl. Georg Lind: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung. München 2003, S. 73–79. Vgl. Georg Lind: Moral ist lehrbar. Handbuch zur Theorie und Praxis moralischer und demokratischer Bildung, S. 73. Donat Schmidt: Moralische Urteilsbildung neu denken ? Fachdidaktische Perspektiven des sozialen Intuitionismus, S. 112. Vgl. ebd.

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Meines Erachtens zutreffend wird die Tendenz beschrieben, dass Positionen oft ungebunden gegenüberstehen, wenig um Inhalte gerungen wird und der Unterricht in einer Abstimmung ein formales, aber – im Konsens oder begründeten Dissens – kein inhaltliches Ende findet. Solche Stunden sind durch ›beliebige Meinungsgirlanden‹, Kontroversenformalismus, wie auch eine relativistische Grundstimmung gekennzeichnet. 372

Diese Tendenz zur »Entsorgung des Inhalts« 373 zugunsten des Kompetenzerwerbs belegen auch schulpädagogische Forschungen. Gruschka beklagt die inhaltliche Verarmung, die über alle Fächer hinweg gleichermaßen feststellbar ist. Und er macht dafür vor allem die zunehmende »Dominanz der Form gegenüber dem Inhalt« 374 verantwortlich: »Die Themen werden gegenüber der Form der Darstellung sekundär […]. Der Unterricht leidet am Schwund der Fachlichkeit, die gleichwohl durch seine Form allemal hervorgetrieben wird […].« 375 Dass in der Philosophie- und Ethikdidaktik seit längerer Zeit eine Tendenz zum Formalen, zu Kompetenzorientierung und zum ›Methoden‹-Paradigma feststellbar ist, belegen zahlreiche Veröffentlichungen.376 Dass diese Tendenz auch einen maßgeblichen Einfluss auf die Urteilsbildungsmodelle gehabt hat, die in der Philosophie- und Ethikdidaktik diskutiert werden, ist ebenfalls deutlich erkennbar.377 Die Lehrstückdidaktik darf hier als ein Gegenmodell verstanden werden. Schon deshalb, weil sie im Gegensatz zu diesen Konzepten ein anderes Philosophieverständnis hat: Statt die »Transformation von philosophischen Denkrichtungen« zu Unterrichtsmethoden und die Entwicklung philosophischer Kompetenzen einzufordern, statt das »Philosophieren als Kulturtechnik« zu verstehen, die sich vor allem in einer reflektierten Methodenkompetenz zeigt, setzt die Lehrstückdidaktik schlicht auf erfahrungsgeleitete Einsichtsgewinnung und Inhaltserschließung. Daraus erwächst auch ein anderes Konzept ethischer Urteilsbildung: eine Urteilsbildung nämlich, die von der eigenen Anschauung der Schüler lebt, souveräne Urteile ermöglicht und die gerade deshalb zu einer kontroversen Auseinandersetzung mit philosophischen Problemen führt, weil die Schüler auf ihre eigenen Einsichten zurückgreifen können.

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377

Michael May: Die unscharfen Grenzen des Kontroversitätsgebots und des Überwältigungsverbots. In: Benedikt Widmaier/Peter Zorn (Hrsg.): Brauchen wir den Beutelsbacher Konsens ? Eine Debatte der politischen Bildung. Schriftenreihe Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 1793, S. 237. Andreas Gruschka: Verstehen lehren. Ein Plädoyer für guten Unterricht, S. 84. Vgl. ebd., S. 86. Vgl. ebd., S. 86 und 95. Vgl. u. a. Ekkehard Martens: Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts. Philosophieren als elementare Kulturtechnik. Vgl. Johannes Rohbeck: Methoden des Philosophie- und Ethikunterrichts. In: ders. (Hrsg.): Methoden des Philosophierens. Dresden 2000, S. 146–174. Vgl. Johannes Rohbeck: Philosophische Kompetenzen. In: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie und Ethik 23, Heft 2 (2001), S. 86–94. Vgl. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethischphilosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik. Vgl. Christian Thein: Problemreflexion und Urteilsbildung im Philosophieunterricht.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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■ Zusammenfassung

Die meisten Urteilsbildungsmodelle gehen davon aus, dass die philosophische Kompetenz bei den Schülern dadurch entwickelt und gefördert wird, dass sie im Unterricht lernen, sich durch die fachspezifische Auseinandersetzung mit philosophischen und ethischen Begründungsansätzen ein begründetes Urteil zu bilden. Vor allem die reflektierte Auseinandersetzung mit fachlich etablierten Argumentationsmustern scheint demnach zu garantieren, dass ein philosophisches Niveau im Urteilsbildungsprozess erreicht wird. Dieses Verständnis hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass die verschiedenen Begründungsansätze als »Wahrnehmungsund Urteilsmuster« verstanden werden, worüber, so die Annahme, die »Relevanz von Werten und Normen ins Blickfeld« rückt. 378 Julia Dietrich sagt zur epistemologischen Begründung dieser Auffassung sehr pointiert Folgendes: »Die verschiedenen Begründungsansätze der Ethik sind so gesehen nicht nur Begründungs­ansätze, sondern auch Wahrnehmungsmuster […].« 379 Daraus leitet sich aus ihrer Sicht die logische Grundstruktur der Urteilsbildungsmodelle ab. 380 Für die Lehrstückdidaktik liegt genau hier das zentrale Problem, denn diese epistemologische These suggeriert die Vorstellung, dass die Schüler nicht selbst über die entsprechenden Wahrnehmungsmuster verfügen, sondern dass ihnen erst das argumentative Erschließen der Begründungsansätze das philosophische Niveau verleiht, die ethische Relevanz einer Situation überhaupt angemessen wahrzunehmen. Damit wird der eigene Urteilsbildungsprozess der Schüler irrelevant, der grundsätzlich auf ihrem Wahrnehmungsvermögen aufbaut. Stattdessen geht es im Philosophie- und Ethikunterricht dann hauptsächlich darum, anonyme Argumente zu analysieren und Begründungsansätze zu reflektieren, um darüber die Wahrnehmungs- und Urteilskompetenz der Schüler weiterzuentwickeln. Doch all das führt leider oft nur dazu, »dass nachträgliche Rationalisierungen bereits gefällter Urteile elaborierter begründet sind.« 381 Die Lehrstückdidaktik versucht mit den vier Grundsätzen – dem Darstellungsgebot, dem Souveränitätsgebot, dem Kontroversitätsgebot sowie dem Gebot der Inhaltszentrierung – der einseitigen Fixierung auf eine logische-argumentative Grundstruktur ethischer Urteilsbildung etwas entgegenzusetzen. Das Darstellungsgebot soll gewährleisten, dass die Schüler dazu befähigt werden, ihr eigenes

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379



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381

Vgl. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethischphilosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik, S. 87. Vgl. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? S. 152. Julia Dietrich: Grundzüge ethischer Urteilsbildung. Ein Beitrag zur Bestimmung ethisch-philosophischer Basiskompetenzen und zur Methodenfrage der Ethik, S. 87. Vgl. ebd., S. 83 ff. Dietrich macht an dieser Stelle den Vorschlag, »den praktischen Syllogismus bzw. das Toulmin-Schema, als Grundmodell ethisch-philosophischer Basiskompetenzen heranzuziehen.« (Ebd., S. 83.) Sie bezieht sich hier unteren anderem auf das Modell von Volker Pfeifer zur ethischen Urteilsfindung, der sich ebenfalls am praktischen Syllogismus und am Toulmin-Schema als »logischer Grundfigur« orientiert. (Vgl. Volker Pfeifer: Didaktik des Ethikunterrichts. Wie lässt sich Moral lehren und lernen ? S. 151 ff.) Donat Schmidt: Moralische Urteilsbildung neu denken ? Fachdidaktische Perspektiven des sozialen Intuitionismus, S. 113.

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Verständnis mit Blick auf eine exemplarische Situation zum Vorschein zu bringen. Das Souveränitätsgebot verlangt, dass die Schüler in allen Phasen und auf allen Ebenen des Unterrichts eigenständig urteilen. Das Kontroversitätsgebot wird nur dann erfüllt, wenn es durch die unterrichtliche Inszenierung dazu kommt, dass die Schüler tatsächlich auf der Basis ihrer eigenen Erfahrungen in eine kontroverse Auseinandersetzung mit dem Thema und ihren Mitschülern hineingeführt werden. Darum ist der Grundsatz der Inhaltszentrierung besonders wichtig, weil erst durch sie eine echte kontroverse Auseinandersetzung ermöglicht wird. Ein Konzept, das auf eine ganzheitliche Urteilsbildung zielt, muss aus Sicht der Lehrstückdidaktik diese vier Grundsätze unbedingt berücksichtigen.

2.8 Achte Unterrichtseinheit: Die personifizierte Norm: der Gute. Eine Argumentation, die sich schnell im Kreis dreht Wird die Textarbeit zur aristotelischen Tragödientheorie nach den Regeln der Lehrstückdidaktik durchgeführt, 382 werden die Schüler bei vielen Gelegenheiten mit dem Problem der Relativität und der Macht der gesellschaftlichen Maßstäbe und Normsetzungen konfrontiert. Zum Beispiel dann, wenn sie einsehen sollen, dass der dargestellte gute Charakter im Theater uns tatsachlich ähnlich sein soll. Denn das bedeutet folglich, dass wir als Theaterpublikum offenbar bereits wissen, welche Lebensweise richtig und angemessen ist und welche Mitmenschen dieses Ideal durch die Art ihrer Lebensführung augenscheinlich bestmöglich verkörpern. Wer in dieser Hinsicht zu zweifeln beginnt, stellt Gegenfragen: »Aber wer sagt denn, dass wir die richtigen Wertmaßstäbe haben ?« 383 Oder: »Wer legt überhaupt fest, ob etwas gut oder erstrebenswert ist ?« Bei alledem haben die Schüler die Personen vor Augen, die zuvor in den von ihnen entworfenen und besprochenen Szenen aufgetreten sind. Da ihnen die Regungen und Wünsche und das, was ihnen in diesen Rollen zugemutet wird, aus dem eigenen Erleben sehr vertraut ist, kommen ihnen gewiss auch Fragen der folgenden Art in den Sinn: »Wie geht es den Menschen, die nach den geltenden Normen beurteilt werden, und was geschieht ihnen damit ? Und was ist mit denen, deren Lebensweise nicht den geltenden Maßstäben entspricht ?« Der Lehrer, der dies annimmt, muss die Schüler dazu ermutigen, das, was ihnen in dieser Hinsicht klar ist, auch zur Sprache zu bringen. Ist das sein Ziel, kann er sich zum Beispiel dazu entschließen, scheinbar unvermittelt vor aller Augen die folgenden Sätze an die Tafel zu schreiben:



382

383

Vgl. oben, 2.7.1. Aristoteles: Die Anforderungen an einen guten Charakter. Im Seminar wurde diese Frage von einer Teilnehmerin gestellt, als ihr klar wurde, dass der gute Charakter in der Tragödientheorie des Aristoteles mit unseren Wertmaßstäben als Publikum übereinstimmen soll. Julia Wolff hat in ihrem Protokoll zur Seminarsitzung die folgenden Fragen festgehalten.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks



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Das Gelächter des Komödienpublikums ist schonungslos, unerbittlich streng und vernichtend. Für den Ausgelachten wäre es unerträglich, wenn er einsähe, dass er das Urteil des Publikums teilt und dass er ihm unentrinnbar unterworfen ist. Denn in diesem Fall müsste er sich selbst verachten, wenn er nicht die Kraft hätte, sein Leben nach den Maßstäben des Aristoteles zu führen.

Die Schüler sollten dazu aufgefordert werden, sich zunächst mit dieser Feststellung zu befassen und sich schweigend ein paar Notizen dazu zu machen. Diese Besinnung ist wichtig, weil sie danach sogleich die Pointe der Aufgabe durchschauen, die ihnen nun kommentarlos gestellt wird:

 Stellen Sie sich vor, dass wir alle gemeinsam in einer »Falstaff-Gesellschaft« leben. Das heißt, wir befinden uns in einer geschlossenen Gesellschaft, die von außen völlig abgeriegelt ist und in der nur Menschen leben, die alle so wie Falstaff sind. Wir alle teilen seine Freuden und gehen auch genau denselben Tätigkeiten nach. Das bedeutet, dass wir uns im Theater auch nicht über ihn erheben und über seine Auftritte lachen können.

 Bereiten Sie einen kleinen Vortrag vor, in dem Sie ausführen, welche Fähigkeiten Sie den Zuschauern in diesem Fall absprechen und welche Möglichkeiten Sie ihnen zusprechen müssen ! Bitte geben Sie zum Schluss eine knappe und eindeutige Antwort auf die Frage, ob es das von Ihnen charakterisierte Publikum wirklich geben kann ! Weil dies für die Schüler eine sehr bewegende Frage ist, werden sie sich ihre Antwort sehr genau überlegen und sorgfältig prüfen, ob sie sich tatsächlich ein Publikum vorstellen können, das so nachsichtig und so wenig überheblich ist und das in dieser Hinsicht so still bleibt, wie es im Gedankenexperiment angenommen wird. Die allermeisten von ihnen werden zu dem Ergebnis kommen, dass diese Möglichkeit nach ihren Ansichten ausgeschlossen ist, und zwar zunächst häufig mit dem Verweis auf ihre eigene Lebenserfahrung, die sie im Hinblick auf ihre Mitmenschen gewonnen haben. Viele Schüler haben sich auch selbst schon einmal dabei ertappt, dass sie schonungslos über jemanden gelacht haben, der wie Falstaff nur den niederen Lebensgenüssen folgt. Weil sie ihr Menschenverständnis überdies im Lehrstück in der Auseinandersetzung mit Aristoteles weiterentwickelt haben, ist damit zu rechnen, dass nicht wenige von ihnen in ihren Vorträgen zur Begründung ihrer Entscheidung auf seine Behauptungen zurückkommen werden. Zeigt sich damit, dass sie in dieser Hinsicht das nötige Interesse an der Auslotung ihrer eigenen Urteile und an der Überprüfung der Haltbarkeit ihrer Interpretationen der Argumentation des Philosophen haben, kann der Lehrer die günstige Situation nutzen und den Unterricht mit der Vorlage der folgenden Abschnitte aus seinen Abhandlungen fortsetzen. 384 Es handelt sich hierbei um zwei Textauszüge aus

384

Siehe Anhang: 4.1.8. Aristoteles: Die Festlegung der Norm. NE, VII, 8, 1150b 1–19, S. 235 f. NE, X, 5, 1175b 25–29, S. 323. NE, X, 5, 1176a 10–23, S. 324 f.

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dem siebten und dem zehnten Buch der Nikomachischen Ethik. Im ersten Teil geht es um die verschiedenen Grade der Unbeherrschtheit, die wiederum mit Blick auf die Lebensweise von Falstaff genauer untersucht werden sollen. Der zweite Teil beschäftigt sich mit der Frage: »Wer legt fest, was gut ist ?« Im Zentrum steht hier also die Festlegung der Norm durch Aristoteles. Der Lehrer darf an dieser Stelle erwarten, dass die Schüler im dialogischen Drama gerade deshalb auf die Aussagen des berühmten Denkers eingehen können, weil sie sich von ihren eigenen Beobachtungen und Urteilen leiten lassen. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich ihnen erschließen, was eine andere Person mitzuteilen versucht. Die erste Frage, die sich den Schülern beim Lesen des Textes stellt, ist: Warum verfehlt Falstaff eigentlich die Norm ? Nach Aristoteles verfehlt Falstaff das rechte Maß vor allem deshalb, weil er bei den falschen Dingen Freude empfindet. Mehr noch: Es zeigt sich an seinem schändlichen Genussstreben, wie sehr sein Charakter verdorben ist. Das ist dem Zuschauer im Theater klar, und auch die Schüler gelangen in Auseinandersetzung mit den Erklärungen des Aristoteles zu dieser Einsicht. Damit haben sie begriffen, dass dem Einzelnen, zum Beispiel Falstaff, auch dann, wenn er aufgrund seiner Schwächen seine menschlichen Möglichkeiten ganz und gar nicht verwirklicht, durchaus klar ist, dass er sie hat. Ihr Verständnis können die Schüler durch den Verweis auf die entsprechenden Textstellen untermauern, zum Beispiel mit Blick auf diese beiden: Denn auch die Begierden nach werthaften Dingen sind lobenswert, die nach niederen Dingen aber tadelnswert […].« 385 »Diejenige Lust also, die nach allgemeiner Übereinstimmung niedrig ist, darf man offenkundig nicht als Lust bezeichnen, es sei denn als solche für verdorbene Menschen. 386

Weil sie hinter diese wichtige Einsicht nicht zurückgehen können, werden sie wahrscheinlich bei ihren Erörterungen zu dem Ergebnis kommen, dass es den Zuschauer mit der im Gedankenexperiment angenommenen Einstellung prinzipiell nicht geben kann. Das bedeutet, dass sich die Schüler – vielleicht widerwillig und resigniert – auf die Feststellung einigen müssen, dass der Gedanke an ein Publikum, das den Komödienhelden mit seinem Gelächter verschont, eindeutig eine Illusion ist. Der Lehrer muss bei der Textarbeit unbedingt noch auf eine weitere Frage eingehen: »Wer bestimmt, was gut bzw. die Norm ist ?« Dafür werden die Schüler durchaus unvermittelt mit den beiden folgenden Sätzen konfrontiert und dazu aufgefordert zu erklären, was Aristoteles damit behauptet: »In allen solchen Dingen aber gilt dasjenige als [wirklich] so beschaffen, was dem Guten so erscheint.« 387

387 385 386

Aristoteles: NE, X, 5, 1175b 29. S. 323. Aristoteles: NE, X, 5, 1176a 22f. S. 324 f. (Hervorhebung von M. Z .). Ebd., 1176a 15. S. 324. Dieses Zitat entstammt dem Textauszug, den die Schüler vorher erhalten haben.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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»Was die Klugheit (phronēsis) ist, können wir erfassen, indem wir schauen, welche Menschen wir klug (phronimos) nennen.« 388 Lösen die Schüler die Aufgabe gut genug, stellen sie oft zähneknirschend fest, dass es nach Aristoteles der Gute ist, der bestimmt, was das Gute bzw. die Norm ist. Der Gute selbst stellt also die Norm dar. Damit unterstellt er uns, dass wir mit ihm bekannt sind, und zwar bereits so gut, dass wir im Grunde auch wissen, was an ihm gut ist und warum wir ihn so nennen. Diese Einsicht weckt bei den Schülern häufig große Widerstände und somit die Lust zur Kritik. Die Hauptkritik zielt direkt auf die Normfestlegung durch den Guten. Denn was gut ist, ist hier dadurch festgelegt, dass eine bestimmte menschliche Person mit ihren typischen Merkmalen beschrieben wird – nämlich der Gute. Mit dieser Form der Normfestlegung sind die Schüler sehr oft überhaupt nicht einverstanden; schon deshalb nicht, weil damit der Gute das Kriterium für das Gute wäre. Dieser Einwand ist auch berechtigt, denn es handelt sich offensichtlich um einen Zirkelschluss, wenn Aristoteles die Prinzipien des Handelns, von denen sich der Kluge und der Gute tatsächlich leiten lässt, zur Norm der Gesetzgebung erklärt, die für alle gelten soll 389: »Da der Kluge das letzte Kriterium darstellt, ist er selbst sein eigenes Kriterium.« 390 Wenn die Schüler das sogenannte Zirkelschlussproblem entdecken, stellen sie oft auch noch weitere Probleme fest, die mit dieser Normfestlegung verbunden sind. So gelangen sie beispielsweise sehr schnell zu der Feststellung, dass damit eine gewisse Willkürlichkeit einhergeht. Denn die gesellschaftliche und historische Situation hat ja einen maßgeblichen Einfluss auf die Bestimmung der Persönlichkeit, die als moralisches Vorbild angesehen werden soll. Eine solche Normfestlegung bleibt also stets bezogen auf die jeweiligen gesellschaftlichen Maßstäbe und kann somit auch niemals absolut sein. Nicht selten weisen die Schüler darauf hin, dass sich die Menschen bei der Bestimmung dieser Persönlichkeit auch täuschen können: Was ist, wenn der Gute gar nicht so gut ist, sondern viel Schlechtes oder gar Böses im Sinn hat ? Er erscheint dann nur als der Gute, ohne es wirklich zu sein. Zur Verdeutlichung dieser Kritik liegt für sie der Hinweis auf die vielen korrupten Machthaber und Diktatoren, die es in der Geschichte der Menschheit gegeben hat, nicht fern.



388 389



390

Aristoteles: NE, VI, 5, 1140a 24. S. 199. Ich mache im Rahmen des Lehrstücks keine Unterscheidung zwischen dem spoudaios (der Gute oder der Wertvolle) und dem phronimos (der Kluge). Eine Unterscheidung der beiden aristotelischen Figuren ist an dieser Stelle zu vernachlässigen, weil ihre Verwandtschaft deutlich überwiegt. Allen voran können beide als vortreffliche Repräsentanten der Norm und als moralische Vorbilder angesehen werden. Manchmal hat es den Anschein, dass für Aristoteles ihre Namen austauschbar sind. Denn beide Figuren stellen letztlich das lebendige Kriterium eines vortrefflichen Charakters und der richtigen Überlegung (orthos logos) dar. Beim phronimos liegt das Augenmerk etwas mehr auf seiner intellektuellen Bestimmung. Vgl. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 55 ff. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 51.

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Kapitel 2

Eine weitere Kritik zielt auf die unpräzise Definition des Guten. Wenn der Kluge (oder der Gute) selbst das letzte Kriterium darstellt, woher nimmt er die Gewissheit und woran können wir feststellen, dass sein Urteil richtig ist. Das ist eine beunruhigende Frage, die auch die Schüler bewegt. Sollte sie sich ihnen nicht selbst stellen, darf der Lehrer hier wieder ein kleines Spiel inszenieren, in dem er selbst als der Gute, der die Norm repräsentiert, auftritt:

 Finden Sie es richtig, dass der Gute – sprich ein einziger Mensch – festlegt, was das Gute ist und nach welcher Norm wir alle leben sollen ? Stellen Sie sich mal vor, »ich« wäre der Gute und würde Ihnen sagen, was Sie zu tun haben und woran Sie sich halten müssen, wenn Sie ein gutes Leben führen wollen. Kurzum: »Ich« verkörpere für Sie den Guten ! Viele Schüler sind mit dieser Art der Normfestlegung überhaupt nicht einverstanden und bringen ihre Unzufriedenheit und ihr Unverständnis auch sprachlich deutlich zum Ausdruck, zum Beispiel so: »Das ist und war schon immer unbefriedigend, dass es auf eine solche wichtige Frage keine klare und eindeutige Antwort gibt. Aristoteles definiert den Begriff einfach nicht angemessen. Stattdessen verweist er auf den Guten als letztes Kriterium. Das ist ja willkürlich, vielleicht sogar gefährlich. Außerdem drehen wir uns durch diese Art der Normfestsetzung die ganze Zeit im Kreis. Der Gute legt fest, was das Gute ist usw.« 391 Manchmal suchen die Schüler auch nach eigenen Antworten auf diese schwierige Frage oder sie vergleichen die aristotelische Normbestimmung mit anderen Konzepten, die sie im Ethik- und Philosophieunterricht kennengelernt haben. So wie in diesem Fall: »Platon hatte bereits einen Ausweg aus diesem Kreislauf gefunden. Denn nach ihm haben wir ja bereits eine Idee davon, was das Gute ist. Und diese Idee des Guten ist ja unabhängig von einer konkreten Person zu denken. Vielleicht hat aber auch Aristoteles recht mit seiner Feststellung, dass das Gute nur bestimmbar durch den Verweis auf konkrete und lebendige Menschen ist. Denn gute Menschen sind ja in der Welt vorfindbar und somit auch bestimmbar, auch wenn das Gute an sich dadurch nicht definierbar ist.« 392



391



392

Diese pointierten Sätze sind die Ergebnisse von Studenten aus einem Seminar an der FriedrichSchiller-Universität Jena, leicht adaptiert und zugespitzt von M. Z. Vgl. Fußnote 391. Leicht adaptiert und ergänzt von M. Z.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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Exkurs: Das Definitionsproblem. Eine Methodenreflexion, die klarmacht, warum Aristoteles eine phänomenologische Ethik vertritt In einem Lehrstück zur Einführung in seine Ethik müssen die Schüler unbedingt begreifen, dass Aristoteles seine Bewertungsmaßstäbe keineswegs aus allgemeinen Grundsätzen ableitet und dass er sie auch nicht als Prinzipien diktiert. Das heißt, dass sie sehr gezielt dazu angeleitet werden sollten, festzustellen, dass er seine Kriterien für die Hoch- und Geringschätzung einer Lebensweise vielmehr bei der Beobachtung seiner Mitmenschen gewonnen hat, sprich bei der Beobachtung von Handlungen, die im Horizont seines Wahrnehmens hervorgetreten und die mithin als besonderes Schauspiel in der Vielfalt des Erscheinenden tatsächlich zur Erscheinung gekommen sind. Aristoteles setzt bei seinem methodischen Vorgehen also voraus, dass unser ethisches Wissen »induktiv« ist, 393 weil wir es bei der Betrachtung des Handelns der in unserer Wahrnehmung erscheinenden Menschen entwickeln. Der phronimos ist für ihn daher, wie es Aubenque treffend formuliert hat, ein bestimmter »Menschentyp«, »den wir alle zu erkennen vermögen, den wir von verwandten und dennoch verschiedenen Figuren unterscheiden können und mit dessen Modell wir aus Geschichte, Legende und Literatur vertraut sind. Alle Welt kennt den phronimos, obgleich niemand die phronesis zu definieren weiß.« 394 Gute oder auch kluge Menschen sind als Erscheinungen in der Welt vorzufinden. Deshalb kann das Gute für Aristoteles keine Idee sein. Weil das für ihn feststeht, macht er nicht den Versuch, die Klugheit zu definieren, sondern begnügt sich angesichts der »Unsystematisierbarkeit des Tugendreichs« 395 mit der Charakterisierung der Menschentypen, die in der Geschichte und Literatur seiner Zeit eine maßgebliche Rolle gespielt und die sich durch besondere ethische Vortrefflichkeiten ausgezeichnet haben. 396 Aristoteles beschreibt in der Nikomachischen Ethik das Handeln von wertvollen Charakteren derart präzise, dass damit die unterschiedlichen Typen ethischer Vortrefflichkeit in den Blick gerückt werden: zum Beispiel Perikles 397. Er steht als Modell für eine klar umrissene ethische Tüchtigkeit und für eine 395 396 393

394



397

Vgl. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 41. Ebd., S. 43. Otto Friedrich Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden. Frankfurt am Main 1958, S. 27. Otfried Höffe: Praktische Philosophie. Das Modell des Aristoteles, S. 29 f. Höffe stellt klar heraus, dass sich die jeweilige wissenschaftliche Methode an dem Gegenstand auszurichten und sich ihm »gemäß zu entwickeln« hat. Daraus resultiert auch die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Wissenschaft: »Die theoretische Wissenschaft gilt als exakt, weil ihr Gegenstand notwendig ist. Der praktische Gegenstand, das menschliche Handeln, kann sich einmal so und einmal anders verhalten; er ist nicht notwendig, sondern kontingent […]. Die praktische Philosophie des Aristoteles ist dem wirklichen Handeln in seiner Unterschiedlichkeit und Unbeständigkeit verpflichtet; sie will das Kontingente ernstnehmen. Deshalb entwickelt sie, unbeirrt vom Ideal theoretischer Wissenschaft, einen eigenständigen Erkenntnisanspruch.« Perikles vertritt in der aristotelischen Galerie der ethisch-vortrefflichen Menschen den Typ des klugen Politikers. Menschen wie er sind klug, »weil sie nämlich erwägen können, was für sie selbst und die Menschen gut ist; auch diejenigen, die ein Haus oder einen Staat leiten, halten wir für so beschaffen.« (Aristoteles: NE, VI, 5, 1140b 9f. S. 200.)

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vortreffliche Persönlichkeit, mit der seine Mitbürger und auch seine Leser bereits so gut vertraut sind, dass er ihnen nicht in einem definitorischen Satz mitteilen muss, was an ihr gut und wertvoll ist. Das heißt, Aristoteles ist der Begründer einer phänomenologischen Ethik, die auf Darstellungen angewiesen ist, die zum Vorschein bringen, was sich zeigen soll: [E]s ist eine Beschreibung dieser Typen, d. h. eine Galerie von Porträts, auf welche sich die aristotelische Analyse der ethischen Tugenden im dritten und vierten Buch der Nikomachischen Ethik in der Tat zurückführen lässt. Einige dieser Porträts erreichen eine literarische Vollendung, die dazu beigetragen hat, ihren typenhaften Charakter zu akzentuieren […]. Mit dieser Typengalerie wird Aristoteles wenigstens ebenso sehr zum Wegbereiter eines von seinem Schüler Theophrast ausgestalteten literarischen Genres, nämlich dem der Charaktere, oder zum ersten Vertreter einer »phänomenologischen« und deskriptiven Ethik, wie zum Begründer eines moralphilosophischen Systems. 398

Das sprachliche Porträtieren der typenhaften und wertvollen Charaktere hat hier also nicht die Funktion, etwas durch Sätze und Definitionen in die Welt zu setzen, sondern dient lediglich dazu, den Leser auf etwas aufmerksam zu machen, was er bereits kennt und auf das er sich beim Lesen noch einmal genauer besinnen kann. Die Sprache ist damit vor allem ein Darstellungsmittel, das mit Blick auf die ethischen Phänomene etwas deutlich und verständlich macht. So kann Aristoteles dem Leser die Besonderheit eines wertvollen Charakters so vor Augen führen, dass er nachher seine Vortrefflichkeit besser sehen und sein Urteil danach ausrichten kann. Das deskriptive Vorgehen ist daher auch keine bloß ästhetische Vorliebe des Aristoteles, sondern vielmehr, zumindest mit Blick auf die Darstellungsmöglichkeiten und Medien seiner Zeit 399 , die angemessenste Darstellungsform für die Ethik. Mit anderen Worten: »Der Rückgriff auf das Porträt ist hier kein Notbehelf, sondern ein Erfordernis der Sache selbst.« 400

2.8.1 Der Typus des phronimos: klug und maßvoll. Die Inszenierung eines Spiels Im Verlauf des Lehrstücks sind die Schüler bei vielen Gelegenheiten darauf aufmerksam geworden, dass sie die Macht des Ansehens und das damit eng verknüpfte Leistungsprinzip auch selbst zu spüren bekommen. Weil sie daher viel gezielter, als sie es gewöhnlich tun, unter diesem Gesichtspunkt auf sich selbst geach-



398

399

400



Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 44. Vielleicht eignet sich das Medium Film ähnlich gut zur darstellenden Charakterisierung von menschlichen Typen und Persönlichkeiten. Wie gut, das wird sich in der neunten Unterrichtseinheit des Lehrstücks zeigen. Vgl. unten, 2.9. Pierre Aubenque: Der Begriff der Klugheit bei Aristoteles, S. 46.



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tet haben, haben sie indes auch bemerkt, dass sie sich dieser Macht und diesem Prinzip zu widersetzen bestrebt sind und dass ihnen dies nicht immer misslingt. Darum ist ihnen klar, dass dieses Bestreben in vielen Situationen das Hauptmotiv ihres eigenen Handelns und ihrer eigenen Regungen ist. Man kann Aristoteles zubilligen, dass er den Blick zunächst auf die höchsten geistigen und sittlichen Fähigkeiten des Menschen öffnen muss, wenn er seine Mitbürger davor bewahren will, allzu selbstgefällig zu meinen, dass sie schon das Bestmögliche leisten, wenn sie den Vergnügungen nachgehen, die ihren Neigungen gemäß zu sein scheinen. Man kann seine Ethik, hält man sich an den Text, aber auch ganz anders auslegen und feststellen, dass er seine Mitbürger angesichts der historischen Situation, in der er sich befindet, tatsächlich dazu erziehen will, kategorisch ein unerbittlich strenges und schonungslos vernichtendes Urteil zu fällen – über jeden, der mit seiner Lebensweise in den Augen der Gesellschaft und ihrer leistungsfähigsten Individuen nicht gut dasteht, weil er sich nicht genug anstrengt bei dem Versuch, seine menschlichen Möglichkeiten nach ihren Regeln und Kriterien zu entwickeln. Diese Widersprüchlichkeit und Ambivalenz seiner Ethik kommt vielleicht am besten bei seiner Beschreibung des phronimos zum Ausdruck, der nicht nur ein »wissender Experte« 401 ist, der angeblich stets die richtigen Urteile fällt und dessen Urteilsvermögen wir einfach vertrauen sollen, weil er das Gute erkennt. Vielmehr verkörpert er einen klugen Staatsmann, der der Tüchtigkeit (arete) mit der nötigen Macht zum »Sieg« verhilft. Besonders deutlich wird diese verhängnisvolle Verbindung in seiner Politik: [B]is zu einem gewissen Grade [ist] eben die Tugend (aretē), sobald sie sich im Besitz der erforderlichen Mittel befindet, dasjenige […], was am meisten die Macht dazu verleiht, andere zu überwältigen, und daß immer der Sieger dem Besiegten nach irgendeiner Richtung hin an Trefflichkeit überlegen ist, so daß die Gewalt (bia) nie ohne eine gewisse Tugend zu sein scheint und der Streit nur die rechtmäßige Ausübung der Gewalt betrifft […]. 402

Die Tugend ist also nicht nur gut, sondern sie hat auch die Macht, andere zu überwältigen und somit zu siegen. Im dialogischen Drama müssen die Schüler selbstverständlich auf die höchst problematische Verbindung von Tugend und Macht aufmerksam gemacht werden. Nicht zuletzt deshalb, weil damit ein Naturalismus verbunden ist, der so weit geht zu behaupten, dass der »Sklave« aufgrund seiner Natur ein Sklave sei. 403 Aber auch deshalb, weil damit eine Norm gesetzt wird, die teilweise unmenschliche Züge hat und die alles, was ihr nicht entspricht, zu vernich-



401 402



403

Vgl. Andrea M. Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, S. 129. Aristoteles: Politik. I, 6, 1255a 12–18. S. 55. Vgl. Andrea Marlen Esser: Eine Ethik für Endliche. Kants Tugendlehre in der Gegenwart, S. 129 f. (Fußnote 149.) Auf diese höchst problematische Verbindung von Tugend und Macht hat mich Andrea Esser aufmerksam gemacht. Vgl. Aristoteles: Politik, I, 6, 1255b 1f. S. 56.

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ten droht. Unter diesem Blickwinkel hat der Lehrer die Aufgabe, die Schüler auch zu Einsichten hinzuführen, mit denen sie im Hinblick auf das wenig großartige Handeln ihrer Mitmenschen zu weniger unerbittlichen Urteilen gelangen und mithin Ansichten vertreten, die der Philosoph Aristoteles keineswegs teilt. Es folgt nun eine Textarbeit, die all diese Aspekte berücksichtigt und in der die Schüler den Typus des phronimos so genau charakterisieren müssen, dass damit die ganze Ambivalenz dieser Figur zum Vorschein kommt. Aristoteles beschreibt diese Figur in der Nikomachischen Ethik gleich an mehreren Stellen. 404 Dabei entwirft er für den Leser ein Bild von einem vortrefflichen Menschen, dessen Charakterbildung durchaus zur Nachahmung empfohlen wird. Die Eigenschaften dieses Typs lassen sich zueinander in Beziehung setzen, sodass es möglich ist, seine charakteristische Besonderheit genauer in den Blick zu nehmen und durch eine geeignete Methodenwahl auch zur Darstellung zu bringen:405

 Entwickeln Sie in Partnerarbeit ein Modell, in dem Sie die wichtigsten Charaktereigenschaften des phronimos festhalten und darüber hinaus eine sinnvolle Gewichtung dieser Eigenschaften vornehmen. Stellen Sie anschließend Ihr Modell an der Tafel vor. Das Hauptproblem bei der Modellarbeit besteht für die Schüler darin, die Charaktereigenschaften des phronimos so zu gewichten, dass daran ersichtlich wird, mit was für einem Typ von Menschen wir es hier zu tun haben. Genauer gesagt geht es zunächst vor allem um eine angemessene Bestimmung der Haupt- und Neben­ eigenschaften dieses Charakters. Darüber hinaus gibt es für die Schüler ganz unterschiedliche Möglichkeiten, das eigene Verständnis hinsichtlich seiner wichtigsten Eigenschaften modellhaft zur Darstellung zu bringen, denn die Darstellungsmöglichkeiten sind bereits durch die Aufgabenstellung vielseitig angelegt. Eine Möglichkeit ist die symbolhafte Darstellung. Da finden sich dann zum Beispiel ein Maßband, ein Lichtschalter, eine Glühbirne, ein Gemälderahmen und eine Faust an der Tafel (Abbildung 1). Die Studenten, die diesen Entwurf für ein Tafelbild präsentierten, kommentierten ihn so: Der Gemälderahmen stelle das Gute dar. Das hieße für Aristoteles: die allgemein anerkannten gesellschaftlichen Wertmaßstäbe. In diesem Rahmen bewege sich auch das bestimmbare Handeln des phronimos, den jeder Bürger kenne und dessen Handlungen somit auch von ihm einschätzbar seien. Der phronimos zeichne sich dadurch aus, dass er die besten Charaktereigenschaften in vortreff-

404





405

Vgl. Aristoteles: NE, VI, 5, 1140b 8–12. S. 200. NE, III, 6, 1113a 25–30. S. 107. NE, IV, 14, 1128a 31. S. 157. NE, IX, 4, 1166a 12–20. S. 290 f. Siehe Anhang: 4.1.9. Aristoteles: Der Typus des phronimos. Textauszüge aus der Nikomachischen Ethik, vgl. Fußnote 404. Außerdem habe ich das Zitat aus der Politik mit in den Text eingefügt, weil so einfach noch mehr die Ambivalenz und die Kontroversität dieser Figur und der damit verbundenen Normsetzung in den Blick rückt. Vgl. Aristoteles: Politik, I, 6, 1255a 12–18. S. 55.



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Abbildung 1: Phronimos 406

licher Weise verkörpere, ganz besonders falle er durch seine Klugheit auf. Diese zeige sich vor allem darin, dass er in allen Lebenssituationen »jedes Einzelne richtig [beurteilt].« 407 Die Fähigkeit, richtig zu urteilen und das rechte Maß im Blick zu haben, sei eine Leistung seines Verstandes. Damit der phronimos diese intellektuellen Leistungen beständig erbringen könne, benötige er einen gut ausgebildeten Charakter. Dafür stehe in dem Modell symbolhaft das Maßband. Denn für Aristoteles bewahre die Mäßigkeit (sophrosyne) das kluge Urteil. 408 Ohne sie lasse sich der tüchtigste Verstand von der Wahrheit nur allzu leicht ablenken. Deshalb sei auch der Lichtschalter in dem Modell so wichtig, der einerseits die Möglichkeit und andererseits auch die Begrenztheit der Vernunft darstelle. Denn sehr viel hänge davon ab, ob er betätigt werde oder eben nicht.

406



407

408

An dieser Stelle möchte ich mich bei Lisa Wander bedanken. Sie hat mich mit ihren kreativen Ideen bei der Gestaltung der bildlichen Illustrationen sehr unterstützt. Der erste »Entwurf« dieser bildlichen Darstellung des phronimos stammt von Studenten, die an meinem Seminar an der Friedrich-Schiller-Universität Jena teilgenommen und ihr Modell auch präsentiert haben. Leicht adaptiert, ergänzt und zugespitzt von M. Z. Aristoteles: NE, III, 6, 1113a 30. S. 107. Vgl. Aristoteles: NE, VI, 5, 1140b 12. S. 200.

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Kapitel 2

Weil die Klugheit für Aristoteles eine Tugend des Verstandes sei, die sich stets auf veränderliche Dinge beziehe, 409 sei es von entscheidender Bedeutung, dass der Mensch seine natürliche Anlage zum Denken entwickele. Der Mensch habe also die Möglichkeit, seine Vernunftanlagen gut oder auch schlecht auszubilden. Beim phronimos sei der Fall klar, denn bei ihm fließe der Strom, der das Licht in der Glühbirne erzeuge, durchgängig und in voller Stärke, weil er seine Vernunftanlage bestmöglich entwickelt habe. Sein Lichtschalter sei daher immer ›an‹, was man aber nicht von allen Menschen behaupten könne. Bei vielen Menschen flackere das Licht in der Glühbirne nur. Sie hätten einfach nicht die charakterliche Stärke, den Lichtschalter – ihre Vernunft – zu jeder Zeit einzusetzen, weil das als eine zu starke Belastung empfunden werde. Aber vielleicht auch einfach deshalb, weil für sie der Teil, mit dem der Mensch denke, nicht das Wesentliche am Menschen sei. Wenn die Schüler das nicht von selbst tun, kann der Lehrer das Spiel mit den unterschiedlichen Typen auch noch ein wenig weitertreiben. Dabei kann er auch auf das Symbol der Faust bzw. auf das Verhältnis von Tugend und Macht zu sprechen kommen. Er kann zum Beispiel provokativ behaupten, Jesus Christus sei ja genau der Menschentyp, den Aristoteles vor Augen gehabt haben muss, als er den phronimos beschrieben hat – vor allem die aufopfernde, zurückhaltende und gewaltlose Art, mit der er anderen Menschen begegne und sich für sie einsetze. Den Schülern wird an dieser Stelle sehr schnell klar, dass diese beiden Typen von guten Menschen nicht nur von ihren Charaktereigenschaften sehr unterschiedlich sind, sondern dass auch ihre Rolle, die sie jeweils in der Gemeinschaft einnehmen, nicht unterschiedlicher sein kann. Denn Jesus Christus opfert als Sohn Gottes sein eigenes Leben für die Menschheit, nicht zuletzt deshalb verkörpert er die höchste christliche Tugend. Diese Selbstlosigkeit ist für Aristoteles aber ganz sicher kein Tugendideal, denn das eigene Leben stellt für den guten Menschen etwas Gutes dar, das er unbedingt zu erhalten wünscht. 410 Außerdem führe das christliche Tugendideal zu einer extremen Lebensweise, die gerade im Widerspruch zur Tugend der Mäßigkeit stehe. Doch der entscheidende Punkt, an dem die große Unterschiedlichkeit der beiden Typen besonders zum Vorschein komme, sei ihr Verhältnis zur Macht. Der tugendhafte phronimos strebe nach Macht und besitze auch die Macht, andere Menschen zu überwältigen. Daher sei die Faust das einzig richtige Symbol, um seinen Machtanspruch und auch seinen Durchsetzungswillen darzustellen, der ja schließlich der Tugend zum Sieg verhelfe. Ein solcher Machtwille sei bei Jesus Christus aber ganz sicher nicht zu erkennen. Er käme auch nie auf die Idee, die Tugend mit entsprechenden Machtmitteln, zum Beispiel Gewalt, auszustatten, um zu siegen. Vielleicht seien aber gerade diese beiden Eigenschaften, Gewaltlosigkeit und Selbstlosigkeit, die Jesus Christus in besonderem Maß verkörpere, für Aristoteles nur ein deutliches Zeichen seiner Sklavennatur. Der Lehrer muss damit rechnen, dass die Schüler zunächst sehr plakativ ar-



409 410

Vgl. ebd., 1140b 25f. S. 201. Vgl. Aristoteles: NE, IX, 4, 1166a 19f. S. 291.



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gumentieren. Geschieht dies, muss er den Unterricht so gestalten, dass sie dazu herausgefordert werden, vorsichtiger und differenzierter zu urteilen. Um sich den großen Machtanspruch, die Stärke und die Ambivalenz des phronimos noch genauer vor Augen zu führen, bietet es sich an, die Schüler ein Standbild zu dieser Figur entwickeln zu lassen. Die Standbildmethode ist in diesem Zusammenhang als eine weiterführende Form der Texterschließung zu verstehen, die sich direkt an die Modellarbeit anschließt. 411 Ziel der Methode ist an dieser Stelle vor allem, dass die Schüler ein möglichst ambivalentes und vielseitiges Porträt dieser Figur entwerfen. Dabei sollen sie durchaus auf ihre Kritik zurückgreifen. Zur Entwicklung des Standbildes erteilt der Lehrer den folgenden Arbeitsauftrag:

 Entwickeln Sie in einer Kleingruppe (drei oder vier Personen) ein Standbild zur Figur des phronimos. Bringen Sie seine wesentlichen Eigenschaften zur Darstellung. Beachten Sie bei der Entwicklung der Figur folgende Hinweise:

1. Welchen Status hat die Figur im Vergleich zu seinen Mitbürgern ? 2. Welche Geste ist für die Figur typisch ? 3. Welcher Körperteil ist für die charakterliche Darstellung der Figur zentral ?



Begründen Sie kurz Ihre darstellerischen Entscheidungen !

Bei der Präsentation der Standbilder sollte der Lehrer auf Folgendes achten: Die Gruppe, die das Standbild präsentiert, sollte zunächst nichts zu ihrer Vorführung sagen, vor allem deshalb nicht, weil die Zuschauer, die sich das Standbild ansehen, aufgefordert sind, ihre Eindrücke zu schildern. Da jede Beschreibung eine Interpretation einschließt, liegt oft schnell eine erste Deutung des Standbildes vor, zu der sich die anderen Betrachter verhalten können. Wichtig ist an dieser Stelle, dass der Lehrer bei der gemeinsamen Deutungsarbeit darauf achtet, dass die Schüler auf die drei Hinweise Bezug nehmen, die ihnen vorher mit auf dem Weg gegeben wurden. Denn sie dienen ihm bei der gemeinsamen Blickschulung als Mittel zur Aufmerksamkeitslenkung. Wie unterschiedlich sich die Figur des phronimos interpretieren lässt, versuche ich im Folgenden anhand von zwei Standbildern zu zeigen, die im Rahmen eines Seminars zur Nikomachischen Ethik präsentiert wurden und die ich nun genauer beschreibe. Das erste Standbild ist eine Koproduktion der beiden Studentinnen Sieglinde Spath und Julia Wolff. 412 Den betrachtenden Studenten ist bei der ersten

411



412

Christian Gefert hat in seinem Buch »Didaktik theatralen Philosophierens« die große Rolle der mimetischen Darstellung beim Philosophieren zu Recht hervorgehoben: »Das theatrale Philosophieren betont diesen mimetischen Aspekt des Philosophierens: Es beinhaltet den Versuch, abstrakte, schriftlich fixierte Begriffe in der verkörpernden Darstellung des Rezipienten lebendig werden zu lassen.« (Christian Gefert: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchung zum Zusammenspiel argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen. Dresden 2002, S. 119.) Babett Bielefeld hat dankenswerterweise in ihrem Protokoll die Beschreibungen des Standbildes durch die Studenten festgehalten.

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Kapitel 2

Beschreibung des Standbildes Folgendes aufgefallenen: ein Buch, ein hervorstechender Zeigefinger, ein quer gespannter Schal und die Armhaltung von Frau Spath, die Frau Wolff an der Schulter festhält. Schnell war klar, dass das Buch nur ein Verweis darauf sein könne, dass es sich beim phronimos um eine intelligente Person handele. Er sei bekanntlich der Kluge, der das richtige Ziel für sich und seine Mitmenschen genau im Blick habe. Besonders deutlich werde das auch an dem Zeigefinger der Hand, die auch das Buch hält, und der in eine bestimmte Richtung zeige. Die gesamte Körperhaltung von Frau Spath stelle eine Art Wegweiser dar, und der phronimos erscheint hier als ein Weisungsbefugter, weil er über ein bestimmtes Wissen verfüge. Daran anschließend gingen die Betrachter auf den quer gespannten Schal ein, der zwischen einem Stuhl und der Tafel angebracht war. Eine Studentin meinte dazu, dass der Schal als eine Abgrenzung oder Absperrung zu verstehen sei, hinter der sich anscheinend ein großer Abgrund befinde. Mit dieser Interpretation arbeiteten die anderen Studenten weiter; sie machten deutlich, dass Frau Wolff, die kurz vor der Absperrung stand, sehr wahrscheinlich die Mitglieder der Gesellschaft repräsentiere. Der Schal markiere demnach eine normative Grenze zwischen einem Innerhalb und einem Außerhalb der Gesellschaft. Dies verdeutliche auch nochmal die restriktive Funktion der Norm, für die der phronimos eben auch stehe: Wer sich nicht an die gesetzte Norm halte, fliege buchstäblich raus. Danach sorgte der rechte Arm sowie die dazugehörige Handhaltung von Frau Spath für reichlich Interpretations- und Diskussionsstoff. Der Arm und die Hand des phronimos habe nämlich zugleich etwas Verbindendes und Verbindliches. Frau Spath (Darstellerin des phronimos) reiche ihren Mitbürgern die Hand. Dabei stelle der phronimos den verbindenden Teil der Gemeinschaft dar, der sich auch auf der gleichen Ebene mit den anderen Bürgern befinde. Zudem sei die Arm- und Handhaltung insofern für den phronimos eine typische Geste, weil sie Vertrauen erwecke. Man könne sie aber auch so interpretieren, dass der phronimos sein Wissen bereitwillig weitergibt und so in einer beschützenden Weise seinen Mitbürgern den richtigen Weg weist, sodass diese erst gar nicht in die Gefahr geraten, ins gesellschaftliche Abseits abzugleiten. Alles in allem verkörpere der phronimos in diesem Standbild einen äußerst besonnenen Lenker und Leiter der Gemeinschaft, der jedem Bürger offen ins Gesicht schauen könne. Er setze die Norm nicht durch Gewalt, Zwang und ähnliche Machtmittel durch, sondern wisse vielmehr durch sein umfangreiches und lebenskluges Wissen zu überzeugen. Die beiden Bildhauer, Frau Spath und Frau Wolff, erklärten sich mit den Interpretationen der einzelnen Details ihres Standbildes sehr einverstanden. Frau Spath fügte dem Gesagten nur noch hinzu, dass für sie beide der phronimos tatsächlich eine Art Beschützer darstelle. Wenn wir es als Bürger der Gemeinschaft schafften, unser Handeln an seinem wohl überlegten Urteil auszurichten, würde vielleicht in Zukunft auch niemand mehr Schaden nehmen. Die Bildhauer des zweiten Standbildes warfen ein sehr viel kritischeres Licht auf den phronimos und auf seine Rolle in der Gemeinschaft. 413 Der Deutungsprozess

413

Franziska Frieß und Jeanette Trefz haben das Standbild entworfen und im Seminar präsentiert.



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begann hier ebenfalls mit der präzisen Beschreibung des Standbildes. Zunächst fiel den Betrachtern die hervorstechende Kopfhaltung des phronimos auf: Der Blick von Frau Frieß (Darstellerin) sei leicht nach oben gerichtet und ihr Blick verfolge ein bestimmtes Ziel. Gleichzeitig wirke sie nachdenklich. Ihre Nachdenklichkeit werde noch verstärkt durch die linke Hand, die das Kinn stütze. Es handele sich bei diesem phronimos um einen intellektuellen Menschen, dessen Körperzentrum der Kopf sei, sprich: ein Verstandesmensch ! Weiterhin machten sich die Studenten gegenseitig auf den rechten Arm des phronimos aufmerksam. Dieser zeige nach hinten und die Handfläche sei geöffnet. Es habe den Anschein, als ob er seinen Mitbürgern die Hand reichen wolle, allerdings von einer erhobenen Position aus, denn er stehe auf einem Stuhl. Das dokumentiere den gehobenen Status, den der phronimos im Rahmen der Gemeinschaft einnimmt. Er sei eben kein Durchschnittsmensch, sondern stehe deutlich über seinen Mitbürgern – wie ein Richter, der auf der Grundlage der Gesetze die Handlungsweisen seiner Mitbürger beurteile. Ein Körperteil stach bei der Beschreibung des Standbildes jedoch besonders hervor: das nach vorne gestreckte rechte Bein des phronimos sowie sein angewinkelter Fuß. Die Interpretationen hinsichtlich der auffälligen Beinhaltung gingen weit auseinander. Einige Betrachter deuteten die Stellung des rechten Beins so, dass der phronimos gerade dabei sei, eine Treppe hinaufzusteigen; in seinem Schlepptau befänden sich alle Mitglieder der Gemeinschaft. Der andere Teil der Studenten war mit dieser wohlwollenden Deutung der Beinstellung überhaupt nicht einverstanden: »Er geht nicht mit seinen Mitbürgern gemeinsam eine Treppe hinauf, sondern er ist gerade im Begriff, Fußtritte an seine Mitbürger zu verteilen.« Das stelle doch die passende Geste für den phronimos dar, der ja gezwungen sei, sich selbst als normgebende Instanz durchzusetzen. Zudem sei die Metapher des Fußtritts auch deshalb treffend zur Charakterisierung des phronimos, weil sie deutlich mache, dass er als Normsetzer und Gesetzgeber auch die Macht besitze, Menschen, die ihr nicht entsprechen, zu verstoßen. Die beiden Bildhauer, Jeanette Trefz und Franziska Frieß, freuten sich über diese Interpretation des Fußtrittes besonders, weil sie genau das mit ihrer Darstellung des phronimos zum Ausdruck bringen wollten. Sie hatten sogar das Gefühl, dass damit der eigentliche Sinn ihrer Darstellung von den Betrachtern entschlüsselt wurde, vor allem ihre Kritik an der ausgrenzenden Wirkung der Normsetzung, die auf diese Weise sichtbar werden sollte und die man auf die sprachliche Formel bringen könnte: Entweder bist du wie ich und damit ein Teil von uns, oder du wirst meine Machtfülle zu spüren bekommen. Das bedeutet, die Betrachter erkannten in dem Standbild etwas wieder, und dieses Wiedererkennen bereitete allen Beteiligten Freude, weil sie beim Darstellen und beim gemeinsamen Betrachten ihrer Darstellungen etwas entdecken und erkennen konnten. Diese Freude entspringt zum einen aus der Freude am Darstellen und am Entwickeln eigener Ausdrucksformen, die beim theatralen Philosophieren eine Joe Bornträger hat das an die Präsentation anschließende Gespräch in seinem Protokoll festgehalten.

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große Rolle spielt. 414 Zum anderen handelt es sich aber auch um eine Entdeckungsund Erkenntnisfreude, die beim Betrachten von Darstellungen und Bildern entsteht. 415 Führt die Inszenierung an dieser Stelle zum Ziel, sehen die Schüler in der nötigen Deutlichkeit, dass sie das Prinzip der aristotelischen Ethik nur dann verstanden haben, wenn sie die strengen Bewertungen des Philosophen nicht blind übernehmen, sondern sich nach seiner phänomenologischen Methode selbst ein Urteil bilden. Durch die Standbilder ist es den Schülern möglich, sich sowohl die typische Besonderheit dieser aristotelischen Figur als auch seinen ambivalenten Charakter deutlich vor Augen zu führen – und somit zu einem eigenen Urteil zu gelangen, das auch das Ergebnis ihrer eigenen Beobachtungen ist. Ein solches Urteil können sie sich selbstverständlich nicht nur mit Blick auf den phronimos bilden, sondern genauso, wenn sie sich mit dem nötigen Interesse einen Film anschauen, zum Beispiel den Film von Orson Welles, in dem Falstaff erscheint und in dem seine Rolle neu interpretiert wird. 416 Dargestellt von einem Schauspieler (Orson Welles), der nach den Absichten des Regisseurs (Orson Welles) durch seine mimetische Kunst dafür sorgt, dass sich in der Maske des komischen Helden ein Charakter abzeichnet, der von dem vernichtenden Gelächter des Publikums – und der Gesellschaft – verschont bleibt. Ein Mensch somit, der von den Zuschauern respektiert und vielleicht sogar hochgeschätzt wird, obwohl er die von Aristoteles festgestellten menschlichen Möglichkeiten und ethischen Vortrefflichkeiten in vielerlei Hinsicht ganz eindeutig nicht ausschöpft. Bei Welles ist Falstaff nämlich aus gutem Holz geschnitzt, doch seine »Gutheit« entspricht dabei nicht dem aristotelischen Bild eines vortrefflichen Menschen. So kommt es im letzten Akt des Lehrstücks zu einem Aufeinandertreffen von zwei Typen von Menschen, die beide für das Gute stehen und die doch unterschiedlicher nicht sein könnten. Dabei verkörpert der Welles’sche Falstaff einen ganz eigenen Wert, der es zum Abschluss möglich macht, die aristotelische Normfestlegung kritisch zu betrachten.



414



415 416

Vgl. Christian Gefert: Didaktik theatralen Philosophierens. Untersuchung zum Zusammenspiel argumentativ-diskursiver und theatral-präsentativer Verfahren bei der Texteröffnung in philosophischen Bildungsprozessen, S. 219. Vgl. Aristoteles: Poetik, 1148b 15–17. S. 6. Orson Welles (Regie): Falstaff – Glocken um Mitternacht. Spanien 1965 (2013 Zweitausendeins).



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2.9 Neunte Unterrichtseinheit. Epilog: Falstaff – Glocken um Mitternacht 417 2.9.1 Szene I: Im Wirtshaus Die Szene dient der Einführung der beiden Charaktere, die in dieser Unterrichtseinheit die Protagonisten bilden werden: John Falstaff und der junge Prinz Hal (später Heinrich V.). Der junge Prinz spielt mit seinem Freund Ned Poins Falstaff einen Streich. Sie stehlen ihm die Geldbörse, während er gerade dabei ist, ein kleines Nickerchen zu halten. Als er erwacht, beschuldigt er sogleich die Wirtin Hurtig, seine Geldbörse sei geplündert worden. Das sei ja kein Gasthaus, sondern ein Freudenhaus, in dem man vor nichts und niemand sicher sein könne. Außerdem belügt Falstaff alle Beteiligten hinsichtlich des Geldbetrags, der sich angeblich in der Börse befunden haben soll. Der junge Prinz deckt diese Lüge auf und gibt den Streich zu. Anschließend befinden sich alle in ausgelassener Stimmung, in der sogleich ein neuer Streich geplant wird. Am nächsten Tag soll ein Pilgerzug überfallen werden, der sicher einen großen Beutel mit Geld mit sich führt, sodass sich ein Überfall lohnen würde. Weil es sich dabei um einen Diebstahl handelt, fangen die beiden Protagonisten an, sich selbst und ihre Lebensweise zu charakterisieren. So stellt sich Falstaff als einen tugendhaften Edelmann dar, dem schlechte Gesellschaft immer ein Gräuel gewesen sei, bis er auf den jungen Prinzen getroffen sei. Erst heute sei er so ein dickes Brauereiross und ein Schwerenöter, der auf Geldbörsen aus sei und bei solchen Späßen auch noch Freude empfinde. Der junge Prinz gerät in Zweifel, ob er bei dem Überfall auf den Pilgerzug mitwirken soll, denn schließlich werde er irgendwann einmal der König sein. Sein Konflikt löst sich auf, sobald er das wilde Leben und den Müßiggang, den er gerade pflegt, als Teil eines größeren Lebensplans ansieht. Die Besserung werde nämlich später all seine vorherigen Fehler überglänzen. Er mache deshalb den Müßiggang noch eine Weile mit, weil sich vor der Folie des schlechten Lebenswandels der Wandel zum Guten umso deutlicher abzeichne. Das ist der Grund, warum er sich dazu entschließt, das Falstaff-Spiel eine Zeitlang noch mitzuspielen. Als erste Aufgabe zur Filmszene (Zeit: 0:06:49–0:12:02) erhalten die Schüler folgenden Auftrag:418

 Schauen Sie sich die Filmszene ›Im Wirtshaus‹ an. Beschreiben Sie, was in der Szene passiert, und achten Sie dabei besonders auf Falstaff und den jungen Prinzen Hal. Machen Sie sich zu den beiden Figuren ein paar Notizen.



417



418

Der Film kann an dieser Stelle nicht in allen Details nacherzählt werden. Ich werde nur die Filmszenen beschreiben und analysieren, die im Rahmen des Lehrstücks relevant sind. Die Schüler sollten sich vorher zu Hause den ganzen Film als Vorbereitung auf den Unterricht anschauen.

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Im einführenden Gespräch über die Szene geht es vor allem um die Charakterisierung der beiden Hauptfiguren. Dabei kommt Falstaff zunächst nicht gut weg, schon im Hinblick auf seine körperliche Verfassung: fett, liederlich und eine versoffene Knollnase inmitten eines aufgedunsenen Gesichts. Aber auch seine charakterliche Verfassung wird häufig argwöhnisch beäugt: Als Tunichtgut, Schwätzer und Schlitzohr erscheint Falstaff in der Regel in keinem guten Licht. 419 Außerdem wird festgestellt, dass Falstaff Schulden hat, ein Betrüger ist und so tut, als seien seine schlechten Charaktereigenschaften eigentlich Tugenden. Manchmal mischen sich in diese vorrangig negativen Beschreibungen seines Charakters auch ein paar positive Stimmen mit ein, die Falstaff in einem anderen – etwas besseren – Licht erscheinen lassen. Da fallen dann leicht Adjektive wie offenherzig, lebenslustig, liebenswürdig, gutmütig und authentisch. Die ganze Ambivalenz seines Charakters tritt noch deutlicher hervor, wenn ihn die Schüler mit dem Charakter des jungen Prinzen Hal vergleichen, der in dem Film ebenfalls als eine ambivalente Figur dargestellt wird. Einerseits scheint der junge Prinz ein gerissener Fuchs zu sein, der sein Leben strategisch plant und seine eigentliche Lebensaufgabe, irgendwann den Königsthron zu besteigen, zielstrebig verfolgt; schon deshalb ist der junge Prinz der Gegentyp zu Falstaff. Andererseits genießt er durchaus sein Junggesellenleben, fühlt sich von der Leichtigkeit der Lebensweise Falstaffs angezogen und ihn scheint eine innige Freundschaft mit ihm zu verbinden. Doch von welcher Art diese Freundschaft ist, lässt sich an dieser Stelle noch nicht genau sagen. Es könnte sich jedoch nur um eine bloße Zweckfreundschaft handeln, bei der beide glauben, voneinander profitieren zu können. Wie auch immer, der junge Prinz Hal ist in jedem Fall auch eine ambivalente Figur, bei der (noch) nicht klar ist, welche der beiden Seiten seinen Charakter zukünftig dominieren wird. Im nächsten Schritt wird der seelische Konflikt des jungen Prinzen Hal genauer betrachtet. Dafür ist es nötig, dass sich die Schüler den letzten Teil der Filmszene (Zeit: 0:10:20–0:12:02) noch einmal anschauen. Im Anschluss sollen sie den Konflikt des Prinzen anhand des Monologs vor dem Gasthaus in geeigneter Form zur Darstellung bringen. Ihr Auftrag ist:

 Schauen Sie sich den letzten Teil der Filmszene nochmal an. In dem Monolog zeigt sich der Prinz: Machen Sie sich ein Bild davon ! Bringen Sie anschließend in Partnerarbeit die darin aufscheinende Haltung des Prinzen in geeigneter Weise zur Darstellung. Die Darstellungsform ist Ihnen freigestellt. Viele Schüler thematisieren dabei die Auffälligkeit, dass der Prinz trotz seines Lebenswandels seine zukünftigen Aufgaben und seine ›höheren‹ Lebensziele genau im Blick habe. Weil er das wisse, sei er auch bereit, eine Zeitlang das »wilde Wesen

419

Ich habe das Lehrstück zum Film »Falstaff – Glocken um Mitternacht« mit ganz unterschiedlichen Gruppen durchgespielt. Die Bewertung seines Charakters fällt dabei immer wieder ähnlich aus. Im Folgenden beziehe ich mich auch auf das Protokoll von Martin Gnielka, der ein Seminargespräch über die einzelnen Filmszenen dokumentiert hat.



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des Müßiggangs« mitzuspielen. Doch dann werde er ein für alle Mal »abschwören diesem losen Treiben«. Seine gegenwärtige Lebensweise, das genussvolle Leben mit Falstaff, nehme er also bloß in Kauf, weil er sich sicher sei, dass es sich nur um eine zeitlich begrenzte Phase in seinem Leben handele. Demnach sei der junge Prinz Hal berechnend, und zwar sowohl hinsichtlich der Kalkulation und der strategischen Planung der eigenen Lebenszeit als auch hinsichtlich seiner ›Freundschaft‹ zu Falstaff. Man könne nämlich behaupten, dass er Falstaff für die Befriedigung seiner gegenwärtigen Interessen bloß instrumentalisiere. Er spiele dann mit ihm nur ein ›Spiel‹, bei dem er wisse, dass er als Sieger hervorgehen werde, denn sein Ziel sei ja, »mit Kunst die Ausschweifungen zu lenken«. Die berechnende Seite des jungen Prinzen, die sich in der klugen Vorwegnahme seines zukünftigen Lebenswandels und in seiner rationalen Kalkulation, sprich in der zweckgerichteten Beziehung zu Falstaff zeigt, kann von den Schülern auf ganz unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht werden. Hier finden sich zwei unterschiedliche Möglichkeiten: »Ich Der König Einst ein Tunichtgut Phönix aus der Asche Strahlend« 420

Das Kurzgedicht (›Poetisches Elfchen‹) wird aus der fernen Zukunft gesprochen – also aus der Perspektive des Königs, sein Tonfall ist erhaben. Es verdeutlicht vor allem die königliche Haltung, die er in Zukunft einnehmen wird, und wie er sich selbst bereits jetzt (in seiner Vorstellung als junger Prinz) ›sieht‹. Die zweite Darstellung (siehe Abbildung 2, S. 198) berücksichtigt noch stärker die Zukunftsperspektive, die sich dem jungen Prinzen Hal auftut. In seiner Vorstellung steht er wie Herakles am Scheideweg: Die Zukunft als König liegt vor ihm (die Sonne, die hell erstrahlen wird), sie ist richtungsweisend und gibt ihm auch eine bestimmte – gute( ?) – Form des Handelns und der Lebensweise vor. Der andere Weg steht symbolhaft für eine wilde Zeit mit vielen Verlockungen, sprich für sein gegenwärtiges – jugendliches( !) – Leben mit Falstaff. Der junge Prinz muss sich entscheiden, welchen Weg er zukünftig gehen will. Die ›richtige‹ Richtung steht aber im Grunde schon fest, denn schließlich ist der junge Prinz Hal ein vorausschauender Mensch (ein Kennzeichen des phronimos), ein Mensch, der seine Interessen und Beziehungen zu anderen Menschen sehr genau vor dem Hintergrund seiner zukünftigen Funktion in der Gesellschaft abwägt. Wer ein tugendhafter König sein will, muss sich in der Frage klar und eindeutig positionieren; ganz besonders dann, wenn es in der gefühlten Zeit bereits fünf vor zwölf ist:



420

Das ›Poetische Elfchen‹ ist eine Gemeinschaftsarbeit von Martin Gnielka und Joe Bornträger, die ihr Kurzgedicht im Seminar gemeinsam verfasst und präsentiert haben.

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Abbildung 2: Prinz Hal 421

2.9.2 Szene II: Spiel im Spiel Im Gasthaus spielen Falstaff und der junge Prinz ein Spiel. Sie führen für die anwesenden Gäste eine Begegnung zwischen dem Prinzen und seinem Vater, König Heinrich IV., auf. Im ersten Teil der Szene mimt Falstaff den König; er spricht in dieser Rolle vor allem über sich und seinen Einfluss auf den jungen Prinzen. Dabei beschreibt er sich in ironischer Weise auch selbst: als einen »prächtigen Mann, wohl beleibt und von edler Art«. »Tugend sei zu sehen in seinen Augen«, weshalb sich der junge Prinz ruhig an ihn halten solle. Der Prinz ist mit seiner Darstellung des Königs überhaupt nicht einverstanden, deshalb übernimmt er kurzerhand die Rolle seines Vaters. Die Szene zerfällt also in zwei Teile. In beiden Teilen wird die Rolle Falstaffs hinsichtlich seines Umgangs mit dem jungen Prinzen verhandelt. Doch im zweiten Teil

421

Vgl. Fußnote 406. Der erste »Entwurf« dieser bildlichen Darstellung von Prinz Hal stammt von den beiden Studentinnen Anne-Marie Voigt und Julia Heinze, die an meinem Seminar an der Friedrich-Schiller-Universität Jena teilgenommen und ihr Bild des Prinzen auch präsentiert haben. Leicht adaptiert, ergänzt und zugespitzt von M. Z .



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verliert das Spiel im Spiel seine komödienhafte Leichtigkeit. Die Szene kippt, und die Komödie wird zur Tragödie. 422 Für den Zuschauer ist nicht klar, ob der Prinz seinen Vater noch ›spielt‹ oder ob es ihm ernst ist, wenn er, von Hass erfüllt, Folgendes sagt: »Ein Teufel sucht dich (den jungen Prinzen, hinzugefügt von M. Z.) heim, ein alberner Lustgreis und alter, weißbärtiger Satan, der zu Nichts gut ist.« Mit dieser vernichtenden Rede auf Falstaff verändert sich nicht nur für den Betrachter die Stimmung der Szene, denn Falstaff reagiert ebenfalls auf diesen heftigen (Gefühls-) Umschwung. Sein Gesicht hat nun viel ernstere Züge angenommen, wenngleich er die komödiantische Fassung noch zu wahren versucht. Falstaff hält es unversehens für nötig, sich selbst und seine Lebensweise vor dem Publikum im Gasthaus zu rechtfertigen: Er streitet vehement ab, ein »alter Satan« zu sein. »Wenn alt und fröhlich zu sein, eine Sünde ist, dann kenne ich manchen, der verdammt ist.« Falstaffs eigene Sichtweise kommt schließlich in den folgenden Sätzen sehr deutlich zum Ausdruck: »Verbannt nicht den guten John Falstaff, […] den treuen John Falstaff. Verbannt ihn nicht aus eures Sohnes Kumpanei; verbannt ihr Falstaff, so verbannt ihr die ganze Welt.« Die Antwort des Königs, gespielt( ?) vom jungen Prinzen, ist vielsagend und richtungsweisend für den weiteren Verlauf des Dramas: »Ja, das tue ich. Das will ich tun.« Welles gibt der Szene zum Schluss noch einen grotesken Anstrich, 423 indem er das Publikum im Gasthaus und auch die Wirtin Frau Hurtig über das Schauspiel, das die beiden ›Freunde‹ miteinander aufführen, lachen lässt. Sie bemerken nicht, dass das komödiantische Spiel eine dramatische Wendung genommen hat. So erhält ihr Lachen einen verurteilenden Charakter, und zwar vor allem deshalb, weil sich darin zeigt, dass sie sich über Falstaff erheben und seine Lebensweise verurteilen. Dies erschließt sich ihnen als Beteiligten nicht, jedoch vielleicht den Zuschauern, wenn Für Orson Welles ist Falstaff der Inbegriff eines guten Menschen. Er hat über diese Shakespeare-Figur nicht nur viel nachgedacht, sondern er hat sie auch regelmäßig auf der Theaterbühne gespielt. Dabei hat er herausgefunden, dass es sich bei Falstaff um einen guten und wertvollen Charakter handelt. Das ist auch ein Grund dafür, warum er ihn in seinem Film Falstaff – Chimes at midnight nicht als einen Helden der Komödie (wie bei Shakespeare) darstellt, sondern als einen tragischen Helden: »What is difficult about Falstaff, I believe, is that he is the greatest conception of a good man, the most completely good man, in all drama. His faults are so small and he makes tremendous jokes out of little faults. But his goodness is like bread, like wine… And that was why I lost the comedy. The more I played it, the more I felt that I was playing Shakespeare’s good, pure man.« (Joseph McBride: Orson Welles. London 1972, S. 154.) Dass es sich im Film um eine tragische Figur handelt, wird auch daran deutlich, dass Falstaff bei Welles trotz seines guten Charakters am Ende an der harschen Zurückweisung seines vermeintlichen Freundes Hal – später der neue König Heinrich V. – zerbricht. Die Fallhöhe des Helden John Falstaff entspricht in etwa der Fallhöhe, die Aristoteles in seiner Poetik für den tragischen Helden vorsieht. Deshalb ist es auch verständlich, wenn McBride den Welles’schen Falstaff als einen tragischen Helden im aristotelischen Sinne versteht: »If we can call Chimes at Midnight the tragedy of Falstaff (and we can, even though he makes moral decisions only by instinct), it is tragedy perhaps more in the Aristotelian than in the Shakespearean sense of the term.« (Ebd.) 423 Dass die Filmszene zum Schluss einen grotesken Anstrich bekommt, haben wir im Seminar nach mehrmaligem Betrachten und Analysieren der Szene – also erst auf dem zweiten Blick – gemeinsam entdeckt. Martin Gnielka hat diese Entdeckung in seinem Protokoll festgehalten. 422

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sie sich die Szene verständlich machen. Für die Erschließung der Szene erhalten die Schüler folgenden Auftrag:

 Schauen Sie sich nun die zweite Filmszene an (Zeit: 0:27:00–0:31:18). Ihre Aufgabe besteht darin, sich in den Regisseur (also in Orson Welles) hineinzuversetzen, und zwar wie folgt:

1.  Der Regisseur hat ein Notizbuch: Welche Regieanweisungen stehen mit Blick auf die beiden Figurendarstellungen (Falstaff als König Heinrich IV. und der junge Prinz Hal als König) in seinem Notizbuch ? Machen Sie sich dazu ein paar Notizen.



2. A  ußerdem setzt der Regisseur in der Regel einen ›Cut‹, wenn sich bei der Darstellung der Figuren etwas ändern soll. Gibt es einen solchen ›Bruch‹ in der Figurendarstellung ? Zeigen Sie das anhand der Szene und begründen Sie kurz Ihre Entscheidung.

Zunächst sollen sich die Schüler also in die Rolle des Regisseurs versetzen, denn Orson Welles hat die Rollen der beiden Figuren so angelegt, dass deren Charaktere im Spiel – hier im Auftritt des Königs – indirekt zum Vorschein kommen. Entscheidend ist die Charakterisierung Falstaffs, dessen Wesen in unterschiedlichen Per­ spektiven erscheint: aus seiner eigenen Sicht, aus der Sicht des Königs und aus der Sicht des jungen Prinzen, sofern diese denn überhaupt von der Sichtweise des Königs abgrenzbar ist. Zu Beginn der Szene hält Falstaff eine große Lobrede auf sich selbst, in der er sich in überspitzter Weise als einen vortrefflichen Charakter darstellt. Bei alledem wirkt er lächerlich, was schon daran erkennbar ist, dass er sich einen Kochtopf als Krone schräg auf den Kopf setzt. Sein Blick auf sich ist zwar ein wenig selbstverliebt, aber niemals völlig ernst. Falstaff ist bei Welles ein humorvoller Mensch, der sich selbst und sein Handeln nie zu ernst nehmen würde. Vielleicht kann gerade das als ein Zeichen von Selbstbewusstsein verstanden werden. Diesen selbstironischen Blick bemerken auch die Schüler, weshalb sie Falstaff gegenüber oft echte Sympathien entwickeln. Ihre Sympathie für Falstaff steigert sich noch, wenn sie anschließend die Position des Regisseurs mit Blick auf den jungen Prinzen erläutern sollen, denn der junge Prinz Hal macht in der Rolle des Königs keine wirklich gute Figur: Er verkörpert den König mitsamt seinen Charaktereigenschaften perfekt – so perfekt, dass für den Zuschauer nicht mehr klar ist, ob er die Rolle des Königs noch ›spielt‹ oder ob er bereits wie sein Vater ›ist‹. In jedem Fall erweckt der junge Prinz in der Rolle des Königs den Eindruck, dass er von dem, was er über Fal­ staff sagt, voll und ganz überzeugt ist. Er verurteilt Falstaff und seine Lebensweise aufs heftigste. Dabei ist er derart herablassend, dass Falstaff am Ende der Szene sogar beginnt, sich selbst zu verteidigen. Wenn für die Schüler ersichtlich geworden ist, dass der junge Prinz in der Rolle des Königs kein Spiel mehr treibt, kann der Lehrer zur zweiten Aufgabe übergehen. Die ›Brüche‹ in der Figurendarstellung sind nun für sie erkennbar, zumindest mit Blick auf den jungen Prinzen. Viele solcher ›Cuts‹ sind in diesem Zusammenhang



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möglich und auch berechtigt, zum Beispiel an der Stelle, an der der Prinz von seinem Herrscherstuhl aufsteht (Zeit: 0:29:28) und lautstark beginnt, Falstaff hinsichtlich seines schlechten Charakters zu kritisieren. Er erhebt sich hier buchstäblich über Falstaff, und sein moralisches Urteil ist vernichtend. Falstaff hört sich die vernichtende Rede des jungen Prinzen zunächst noch in abgewandter Position an, doch weil auch er wie der Zuschauer nach und nach bemerkt, dass der Prinz kein Spiel mehr treibt, rutscht er zusehends in eine Rechtfertigungsposition. Auf dem Höhepunkt der Moralpredigt wendet er sich dem ›König‹ zu (Zeit: 0:30:10) und beginnt sich selbst und seine Lebensweise zu verteidigen. Nun scheint es auch für ihn kein bloßes Spiel mehr zu sein. Er wirkt viel ernsthafter, wenn er über sich selbst sagt: »Verbannt nicht den guten John Falstaff […]. Verbannt ihr Falstaff, so verbannt ihr die ganze Welt.« Damit verwahrt er sich gegen die Unmenschlichkeit der Norm, die in der ernstgemeinten Rede zum Vorschein gekommen ist (übrigens lässt sich das Inhumane dieser Norm besonders gut aus dem Gesicht des jungen Prinzen, dargestellt von Keith Baxter, ablesen). Falstaff verteidigt sich am Ende der Szene mithin selbst gegen eine unmenschliche Norm, die er in dem jungen Prinzen und zukünftigen König bereits verkörpert ›sieht‹. Ein guter Gradmesser für die Unangemessenheit und vielleicht sogar für die Unmenschlichkeit der Norm ist das Lachen, zunächst das vernichtende Lachen des Gasthauspublikums, das im Film gezeigt wird. Die Schüler werden sich sehr wahrscheinlich darauf aufmerksam machen, dass es töricht und grausam ist. Tun sie das, wird ihnen auffallen, dass die scheinbar heitere Szene als entlarvende Groteske endet, weil die Gäste lauthals weiterlachen, obwohl aus dem Spiel längst Ernst geworden ist. Allein Frau Hurtig scheint etwas unsicher zu sein. Sie dreht sich für einen kurzen Moment um und schaut den Lachenden ins Gesicht, um sich zu vergewissern, ob sie selbst noch lachen darf (Zeit: 0:30:08). Doch auch sie wird dann wieder vom allgemeinen Gelächter mitgerissen. Wenn das nachträgliche Einverständnis der Schüler außer Zweifel steht, darf der Lehrer vor der Vorführung der Filmszene zwei von ihnen möglichst unbemerkt beiseite nehmen und sie bitten, bei der Betrachtung mit einem auffälligen Seitenblick auch auf die Gesichter der Mitschüler zu achten. Mit dem Auftrag, sich zu merken, an welcher Stelle manche von ihnen lachen und was sich in ihrem Mienenspiel zeigt, wenn sie das Geschehen verfolgen. Werden die beiden Beobachter anschließend gebeten zu schildern, was ihnen aufgefallen ist, wird deutlich werden, dass Orson Welles mit den Wertmaßstäben des Filmpublikums spielt – so virtuos, dass der Zuschauer am Ende der Filmszene erleben kann, dass ihm das Lachen sprichwörtlich »im Halse stecken bleibt«. Damit spürt er, wie vermessen und unmenschlich die Missachtung Falstaffs ist. Wird dieses Empfinden im Dialog über die Entdeckungen der heimlichen Beobachter angesprochen, 424 werden die Filmbetrachter ihrerseits ein sehr kritisches Urteil über die allzu lang lachenden Gäste im Wirtshaus fällen –

424

Der Lehrer kann das eigene Erleben und Empfinden der Schüler auch durch ein paar Fragen thematisieren: »Ist Ihnen am Ende der Szene noch zum Lachen zumute ? Wann ist für Sie Schluss mit lustig ?«

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und selbstverständlich auch über den jungen Prinzen und vielleicht sogar über die zuschauenden Mitschüler, die bis zum Schluss alles nur lustig finden. Festzuhalten bleibt, dass diese Norm vor allem deshalb unmenschlich ist, weil danach alles abgewertet wird, was nicht leistungsfähig und »in Ordnung« ist. Fal­ staff stellt sich hier gegen dieses Leistungsprinzip, das einerseits mit Tugenden wie Ehre und Tapferkeit assoziiert wird, um die er sich nicht kümmert. Andererseits geht es auch um die Frage nach dem guten Leben. Er hält seine Lebensweise nämlich durchaus für etwas Gutes, und er möchte auch seinem Freund Hal in dieser Weise ein Vorbild sein. Das Gute, das er bewahren möchte und das er seinem Freund durch seine Art zu leben aufzeigt, steckt in der Bewahrung der eigenen Kindlichkeit, einer Kindlichkeit, die sich jeder Form von berechnender Vernunft entzieht. Darauf möchte er seinen Freund Hal in seiner Verteidigungsrede aufmerksam machen, weil er weiß, dass dessen Art zu denken die zerstörerische Kraft hat, alles zu dominieren und zu deformieren. Diese berechnende Seite der Vernunft hat sich nach seiner Beobachtung in der Seele seines geliebten Freundes breitgemacht. Falstaff stemmt sich mit seiner ganzen Vitalität und in seiner bedingungslosen Freundesliebe gegen dieses Kalkulationsdenken, das nur das als wertvoll anerkennt, was nützlich und anerkannt ist. In der Spiel-im-Spiel-Szene geht es demzufolge vornehmlich darum, ein Charakterbild von Hals Vater, König Heinrich IV., zu entwerfen, denn dieser ist das beste Exempel für die Denk- und Lebensweise, gegen die sich Falstaff in seiner Rede an Hal wendet. Worauf er Hal aufmerksam machen möchte, ist, dass er seine eigene Kindlichkeit und die damit verbundene Lebensfreude bewahren muss, weil sie ihn gegen die Berechnungen und die Logik einer alterssteifen Vernunft, die er an seinem eigenen Vater studieren kann, schützt. Dabei ist Falstaffs Güte in Welles’ Augen »wie Brot, wie Wein«, sprich, er ist so unschuldig in seiner Liebe, dass er an der in dieser Szene sich bereits anbahnenden harten Zurückweisung des menschlichsten aller Gefühle am Ende zugrunde gehen wird. 425 Der tragische Verlauf und das damit verbundene Schicksal von Falstaff deutet Welles in dieser Filmszene bereits an. All das zeigt sich auch in Falstaffs Gesicht am Ende der Szene. Weil die Schüler dies selbst entdecken sollen, kann ihnen der letzte Teil der Filmszene ein weiteres Mal gezeigt werden (Zeit: 0:30:11–0:31:18 oder 0:31:01–0:31:18). Welche der beiden Filmsequenzen der Lehrer auswählt, hängt davon ab, wie gut sich die Schüler noch an das Ende der Szene erinnern können. In jedem Fall sollte er sie ermuntern, sich die letzten Sekunden nach der Aussage des jungen Prinzen: »Ja, das tue ich. Das will ich tun.«, in der das Gesicht von Falstaff in Großaufnahme eingeblendet wird, ganz genau anzuschauen. Der Auftrag dazu lautet:



425

Vgl. Orson Welles. In: Reihe Film 14. Mit Beiträgen von Peter Buchka, Urs Jenny, Peter M. Ladiges, Hans Helmut Prinzler. München 1977, S. 133. Buchka stellt in seiner Kommentierung des Films Chimes at Midnight völlig zu Recht fest, dass für Falstaff »Hal zum Objekt der Zuneigung, der Liebe [wird]. Falstaff stirbt denn auch an der Zurückweisung der alten Freundschaft, am Erfrieren der menschlichen Gefühle.« (Ebd.)



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 Schauen Sie Falstaff genau ins Gesicht ! Was sehen Sie in seinem Gesicht am Ende der Szene ? Schreiben Sie dazu in zwei bis drei Sätzen ihre Gedanken auf und überlegen Sie sich eine griffige Überschrift für seinen Gesichtsausdruck. Der Lehrer kann dem Ganzen ebenfalls eine Überschrift an der Tafel geben: »Das Gesicht Falstaffs – nach dem Spiel«. Darunter können die Schüler ihre Gedanken sowie ihre Überschriften zu Falstaffs Gesichtsausdruck schreiben. Nach der Androhung des Prinzen, Falstaff verbannen zu wollen, ist eine feine Regung in seinem Gesicht erkennbar. Diese kleine Änderung im Blick steht sinnbildlich für eine große Veränderung in der Beziehung der beiden Figuren zueinander. Man kann die ganze Szene nämlich auch so verstehen, dass Falstaff den jungen Prinzen – im Spiel – einer Charakterprobe unterzieht. So kann auch die Provokation, die in dem abschließenden Satz seiner Rede steckt: »Verbannt ihr Falstaff, so verbannt ihr die ganze Welt.«, interpretiert werden. Auf diese Weise würde auch ihre Freundschaft auf eine Probe gestellt. Falstaff ist offensichtlich schockiert von dem Ergebnis der Prüfung, zu der er sich im Spiel entschlossen hat, denn sein Gesicht ist merklich gezeichnet von der Geringschätzung seiner Person. Er will, wie sich zeigt, nicht glauben, was er da zu hören und zu sehen bekommen hat. Besonders hart scheint ihn die Ernsthaftigkeit und der unbedingte Vernichtungswille getroffen zu haben, mit dem der junge Prinz diese unmenschliche Norm in seiner Rede vertreten hat. Falstaff hat mit einer solch heftigen Reaktion des jungen Prinzen offenkundig nicht gerechnet. In seinem Gesicht erscheint unverkennbar eine Regung von Angst und Verunsicherung und es deutet sich an, dass, wie man sagt, eine Welt in ihm zusammenstürzt: entweder deshalb, weil er gerade das ›wahre Gesicht‹ des jungen Prinzen gesehen hat und doch nicht glauben kann, was sich da vor seinen Augen abgespielt hat, oder aber deshalb, weil er seine eigene Vernichtung als Zukunftsvision schon vor Augen hat. In diese Richtung gehen oft auch die Überschriften, die die Schüler für Falstaffs Gesichtsausdruck am Ende der Szene wählen. Für manche von ihnen erscheint damit die tiefe Verunsicherung seiner freundschaftlichen Empfindungen: »Kenne ich dich überhaupt ?« Andere verweisen in ihren Interpretationen darauf, dass Falstaff die eigene Vernichtung und damit auch mit einem visionären Blick die Zukunft der Gesellschaft voraussieht. Ahnend, dass die Denk- und Lebensweise, von der der junge Prinz und künftige König spricht, auch weiterhin gelten wird.

2.9.3 Szene III: Die Krönung des neuen Königs Heinrich V. Nachdem der alte König Heinrich IV. verbittert abgetreten und gestorben ist, kommt nun der junge Prinz Hal selbst an die Macht. Er wird Heinrich V., der neue König. Shakespeare stellt ihn als einen Herrscher dar, der ernsthaft bemüht ist, ein ›guter König‹ zu sein, ein König, der als Repräsentant das moralische Gesetz und die Macht – zwei widerstreitende Kräfte – miteinander zu versöhnen weiß (oder dies zumindest versucht). Für Welles ist und bleibt dies aber ein unüberbrückbarer Gegensatz:

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Macht aber steht bei Orson Welles immer im Gegensatz zum Gesetz, dessen Reinheit sich vor allem gegen die Macht zu behaupten hat. Bei Shakespeare versucht der spätere Henry V. beides zu versöhnen und ein »guter König« zu werden. Für Welles ist dies von vornherein ein Widerspruch in sich. 426

Welles interessiert sich weniger für die moralische Frage nach einem gerechten Herrscher, die für Shakespeare ganz zentral ist. Für ihn steht vielmehr die Frage nach dem guten Leben im Mittelpunkt. Ausgerechnet Falstaff ist für ihn der Proto­ typ eines guten Menschen, der sich auf kindlich-unschuldige und überaus gut­ mütige Weise gegen eine berechnende und das gesellschaftliche Zusammenleben deformierende Vernunft zur Wehr setzt. Aber nicht etwa dadurch, dass er gegen die autoritäre und repressive Staatsmacht wortgewandt und argumentativ schlagfertig zu Felde zieht, und auch nicht dadurch, dass er im Film öffentlich Kritik an der unmenschlichen Norm übt, die nun auch durch den neuen König repräsentiert wird. Vielmehr allein durch seine Art zu leben, die ihm im Kontext einer alles beherrschenden und alles durchdringenden Norm eine individuelle Note verleiht. Falstaff ist bei Welles kein Ideologe, der sich für seine eigene Lebensweise rechtfertigen muss. 427 Umso tragischer ist es, dass er in der Krönungsszene von seinem alten Freund Hal, den er von seiner übernommenen lebens- und leibfeindlichen Ideologie befreien wollte, öffentlich zurückgewiesen und vernichtet wird. In der Krönungsszene greift Welles auf zwei cineastische Kunstgriffe zurück, die ihre ganze Kraft erst durch die schauspielerische Darstellung entfalten. Zum einen setzt er durch die Großaufnahme die Gesichter der Schauspieler so in Szene, dass sich die Motive, Gefühle und die »Geheimnisse seiner Personen aus deren Gesichtern (statt aus ihrer Aktion) herauslesen« 428 lassen. Zum anderen erzeugt die »Doppelperspektive« der Kamera eine polyvalente Erscheinung der Gesichter, die damit niemals eindeutig bestimmbar sind: The camera’s focus on the actors’ mobile and expressive faces – especially Welles’s own and that of Keith Baxter as Hal – makes an important contribution to the film’s multivalent meanings. Thus while Chimes valorizes Falstaff and the tavern more emphatically than do the plays, the total effect is not simple or unequivocal. 429

Die Dramaturgie der Krönungsszene lebt davon, dass die ganze Geschichte der Szene über die Gesichter der beiden Hauptfiguren erzählt wird. Welles selbst sagt

426



427



428



429

Orson Welles. In: Reihe Film 14. Kommentierte Filmografie von Peter Buchka. Kommentar zu ›Chimes at Midnight (1965/66)‹, S. 131. Vgl. ebd., S. 132. Falstaffs Ideologiekritik drückt sich vielmehr in seiner körperlichen Gestalt aus, die ja auch nur ein Ausdruck seiner Lebensweise ist. Orson Welles. In: Reihe Film 14. Kommentierte Filmographie von Peter Buchka. Kommentar zu L’Histoire immortelle. Stunde der Wahrheit (1966/67), S. 138. Chimes at midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, editor. New Brunswick and London 1988, S. 17 f. Das Zitat ist der Einführung entnommen, die Bridget Gellert Lyons geschrieben hat.



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über Chimes at Midnight, dass der Film hauptsächlich von der darstellerischen Wirkung seiner Schauspieler lebe. Sein vorrangiges Interesse gilt folglich den Schauspielern und ihren Gesichtern, sprich dem Geschehen vor der Kamera, und weitaus weniger den illusionistischen Tricks, die er normalerweise durch die technischen Möglichkeiten der Kamera erzeugt: Falstaff ist ein Film, der sich ganz auf die Schauspielerei konzentriert. Auch mich hat das Projekt vor allem als Schauspieler interessiert, während mich sonst als Darsteller selten etwas am Film anzieht. Falstaff war eine der wenigen Geschichten, die ich als Darsteller realisieren wollte. Falstaff ist die beste Rolle, die Shakespeare je geschrieben hat. Ich habe sie aus fünf Stücken herauspräpariert. 430

Es bietet sich deshalb für den Lehrer an, den Blick der Schüler auf die Gesichter der beiden Protagonisten zu lenken:

 Schauen Sie sich die Krönungsszene an (Zeit: 1:39:20–1:44:52). Richten Sie Ihren Blick zunächst auf Falstaff: Welches Wort kommt Ihnen in dieser Situation in den Sinn ? Begründen Sie kurz, warum Sie sich für dieses Wort entschieden haben. Schauen Sie anschließend auf den neuen König Heinrich V. Was ›lesen‹ Sie in seinem Gesicht ? Formulieren Sie dazu ein paar Sätze, die Sie an die Tafel schreiben können. Die von den Schülern gewählten Schlüsselwörter sollen die Tragödie des John Falstaff signalisieren: seine tiefe Erschütterung nach der Demaskierung des Königs, nach seinem Verrat und angesichts der drohenden Verbannung und Vernichtung. Die Interpretationen des Gesichtsausdrucks des neuen Königs können weiter auseinandergehen; nicht selten stellen die Schüler fest, dass es sich eigentlich um zwei Gesichter handele. 431 Zum einen sei da das ›öffentliche‹ Gesicht des Königs, das kalt, starr und verachtend sei. Zum anderen zeige sich der König in der Szene aber auch als ›Privatmensch‹ – als ein Mensch, der die Freundschaft zu Falstaff nicht vergessen habe oder der einfach Mitgefühl für seinen alten Kumpel empfinde. Welles hat die Szene so inszeniert, dass man hinsichtlich der richtigen Deutung seines Gesichtsausdrucks – und seines Charakters – auch bei genauer Betrachtung zu sehr unterschiedlichen Einschätzungen und damit zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen kommen kann. Orson Welles. In: Reihe Film 14. Orson Welles antwortet nicht. Kompilage von P.M. Ladiges, S. 46. 431 Auch der Gesichtsausdruck und das Auftreten des neuen Königs Heinrich V. lässt sich mit Blick auf die Filmszene unterschiedlich interpretieren. Welles spielt hier wie im gesamten Film mit den filmischen Darstellungsmöglichkeiten. Seine Methode besteht vor allem darin, die Filmbilder und die gesprochenen Worte miteinander zu kontrastieren. Das erzeugt eine Offenheit und Vieldeutigkeit, die keine eindeutige Sichtweise und Antwort zulässt. Vgl. Chimes at midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, Introduction: The Shakespearean Camera of Orson Welles, S. 18. 430

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Oft bilden sich dabei zwei Fraktionen heraus. Die erste Fraktion ist sich ziemlich sicher, dass der König nun endgültig sein wahres Gesicht gezeigt habe: ein knallharter und völlig abgebrühter Machtpolitiker, der ganz genau berechnet habe, wie er mit Falstaff umgehen werde, sobald er König sei. Nun sei er das geworden, wovon er immer geträumt habe. Deshalb falle es ihm auch nicht schwer, die unmenschlichen Normen und Maßstäbe geltend zu machen, die er in seiner gesellschaftlichen Rolle verkörpern muss. Im Grunde sei er dieser Machtmensch ja ›schon immer gewesen‹. Er habe sich demnach charakterlich gar nicht wirklich geändert. Außerdem spiele er in dieser Szene nur den Tugendhaften, um in der Öffentlichkeit den Anschein eines guten Königs zu erwecken – er instrumentalisiere die Tugend einfach nur für seine Zwecke. Das sei seine eigentliche Maske. Doch dahinter verstecke er bloß seinen schlechten Charakter, der sich letztlich darin ausdrücke, dass er nun gewillt sei, Falstaff für seine Lebensweise zu vernichten. Die zweite Fraktion ist mit dieser Deutung überhaupt nicht einverstanden. Sie geht auch weniger hart mit dem König ins Gericht. Ihre Sichtweise ähnelt dabei sehr der Sichtweise Falstaffs. Er zeige uns nur seine öffentliche Maske, die er als König und Machthaber eben tragen müsse. Aber in Wirklichkeit rege sich in ihm sein menschliches Gefühl, sein privates Gesicht, dass auch seine persönliche Zuneigung und Wertschätzung für Falstaff zum Ausdruck bringe. Das werde z. B. daran deutlich, dass er während seiner Rede den Blick immer wieder von Falstaff abwende, weil er ihm einfach nicht mehr ins Gesicht schauen könne; oder auch daran, dass er die harte Strafe (Verbannung bei Todesstrafe, wenn Falstaff künftig seine Gegenwart nicht meide) später wieder etwas abschwäche und ihn bereits am nächsten Tag aus der Gefangenschaft entlassen wolle. All das sei ein Anzeichen für sein schlechtes Gewissen gegenüber Falstaff. Vielmehr sei er gezwungen, sein wahres Gesicht hinter der öffentlichen Königsmaske zu verstecken. Manchmal bildet sich eine dritte Fraktion, weil einzelne Schüler feststellen, dass die beiden sich scheinbar gegenseitig ausschließenden Deutungen in Wahrheit zwei Seiten ein und derselben Medaille sind. Diese Deutung ist besonders radikal, weil sie nicht bloß auf die charakterliche Ambivalenz des Königs – eines Individuums – abhebt, sondern noch viel grundsätzlicher den Charakter der gesamten Gesellschaft in den Blick nimmt. Aus dieser Sicht ist die Macht der Norm so stark, dass alle Mitglieder der Gesellschaft gleichermaßen von ihr geprägt sind, demnach auch der König. Er ist bereits so korrumpiert von dieser Macht, dass er nicht mehr wirklich bei sich ist. Er hat sein voriges Selbst, wie es im Film heißt, »nicht weggeworfen«, sondern in Wahrheit ist die Macht der Norm so groß, dass er sein wahres Selbst verloren hat. Mit der Übernahme der Rolle des Königs ist der Verlust seines eigenen Selbst verbunden. In dieser Logik kann der neue König auch gar nichts für seine verletzende Redeweise. Vielmehr sind die gesellschaftlichen Zusammenhänge so, dass diese unmenschliche Norm sich überall durchgesetzt hat. Als König und Machthaber ist er nur ihre Verkörperung. Das bedeutet, die Ausprägung seines Charakters ist nicht das Ergebnis seiner freien Entscheidungen, weil er in Wahrheit umgekehrt von der gesellschaftlichen Rolle geformt worden ist, die ihm als Sohn des Herrschers zugefallen ist und für die er somit bestimmt war. Wer so denkt, für



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den ist Hal als König Heinrich V. ebenfalls eine tragische Figur. Die Norm, die in der Verbannung Falstaffs ihren notwendigen Ausdruck findet, zerstört seinen moralischen Charakter und sein besseres Selbst. 432 In Chimes at Midnight ist der tragische Tod John Falstaffs somit ein Sinnbild für den Untergang einer Lebensform und einer Welt, in der die menschlichen Schwächen und Unzulänglichkeiten nicht unerbittlich verachtet, sondern mit einer versöhnlichen Ironie angenommen und hingenommen werden. Das scheint die weise Botschaft des Films zu sein, der das Ende einer gesellschaftlichen Epoche zeigt, in der der Humor noch als eine Tugend galt und in der das Herz für die menschlichen Schwächen, Gefühle und Leidenschaften noch kräftig schlagen konnte. All das verbirgt sich hinter der von Orson Welles glorifizierten Wunschgesellschaft des guten alten »Merrie England.« 433 Eine solch bittere Auslegung der Filmszene ist also durchaus legitim, und auch die damit verbundene Gesellschaftskritik ist sehr wahrscheinlich im Welles’schen Sinne.

2.9.4 Szene IV: Das Ende des Films. Falstaffs schwerer Sarg Falstaff ist an gebrochenem Herzen gestorben. Sein Sarg steht in der letzten Filmszene im Hof des Gasthauses. Nur die engsten Freunde und Diener sind bei ihm: Bardolph, Peto, die Wirtin Hurtig und sein Page. Poins kommt aus dem Haus und isst einen Apfel. Er fragt, ob es Falstaff sei, der im Sarg liege. Der Page bestätigt das: »Falstaff ist tot.« Peto und Bardorlph beklagen ernsthaft seinen Tod: »Des Königs Zorn hat ihm das Herz gebrochen […]. Ich wollt, ich wär’ bei ihm, wo immer er auch ist, sei es im Himmel oder in der Hölle.« Anschließend folgt ein langer Monolog der Wirtin Hurtig, die herzergreifend davon berichtet, wie Falstaff gestorben ist. Ein »schöner Tod« soll es gewesen sein: »Er schied dahin, als wäre er ein unschuldiges armes Kind.« Bardolph, Peto und ein dritter Mann schieben den schweren Sarg auf einem Karren aus dem Hof des Gasthauses auf das große offene Feld, das sich direkt zwischen dem Gasthaus und dem königlichen Schloss befindet, im Hintergrund des Filmbildes sind die großen Schlossmauern zu sehen. Die Beteiligten des Trauerzugs erzählen sich noch eine Anekdote, die von Falstaffs Umgang mit den »Weibern« handelt. Peto berichtet davon, dass Falstaff einmal gesagt habe: »Der Teufel würde ihn holen ob der Weiber.« Die Wirtin, die seinen Umgang ja bestens kennt, sagt dazu nur: »Nun ja, er hatte so eine gewisse Art mit ihnen umzugehen.« Sie bleibt an dem



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Dass Hal für Welles eine tragische Figur ist, lässt sich an unterschiedlichen Szenen des Films zeigen. Joseph McBride hat die Gründe für diese Annahme anhand der Filmszenen herausgearbeitet und sie zu Shakespeares Hal in Bezug gesetzt. Vgl. Joseph McBride: Orson Welles, S. 152 f., S. 155. »The end of Falstaff implies for Welles the end of an era, the end of chivalry, of »Merrie England«.« Peter Cowie: The Cinema of Orson Welles. The Study of Good Companionship: Chimes at Midnight/Falstaff. New York 1983, S. 179.

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Tor des Gasthauses stehen und schaut den Sargschiebern zu, wie sie den schweren Sarg langsam über das unebene Gelände schieben. Aus dem Off ist nun die Erzählerstimme zu hören. Der Erzähler berichtet von dem neuen König Heinrich V. Ein »tüchtiger Feldherr« und »kluger Politiker« sei er gewesen, und auch von seinem Weitblick und seiner strategischen Voraussicht wird in höchsten Tönen geschwärmt: »Er ließ sich auf keine Unternehmungen ein, bevor er nicht die Aussichten auf ihr Gelingen genau berechnet hatte.« Im Film sind währenddessen gleichwohl weiterhin die Sargschieber bei ihrer mühevollen Tätigkeit zu sehen. Schließlich berichtet der Erzähler auch noch davon, dass der neue König aufgrund seiner »humanen Gesinnung […] keinen Freundschaftsdienst unbelohnt« gelassen habe. Die Legendenbildung ist also bereits in vollem Gange. 434 Es folgt noch der Abspann: Im Hintergrund des Bildes befinden sich in mehreren Reihen stehend Adlige, Kleriker und Soldaten inmitten von riesigen Lanzen und Fahnen. Wie bei militärischen Paraden üblich, wird der Abspann von rhythmischen Trommelschlägen begleitet. Das Ende des Films ist also mehrdeutig; schon deshalb erhalten die Schüler dazu eine völlig offene Aufgabe:

 Schauen Sie sich das Ende des Films an (Zeit: 1:46:00–1:50:05): Wie ist das Ende zu deuten ? Formulieren Sie dazu eine These mit Begründung. Die Schüler schreiben ihre Thesen an die Tafel unter die Überschrift »Das Ende des Films«. Ihre Deutungen lassen sich grob in zwei Kategorien einordnen. Für die einen wird ein versöhnliches Ende dargestellt. Der König nähere sich in seinen Worten Falstaff wieder an. Er entlasse ihn aus der Haft, und es habe sogar den Anschein, als verzeihe er ihm. Außerdem berichte ja auch der Erzähler von der »humanen Gesinnung« des Königs, der »keinen Freundschaftsdienst unbelohnt ließ«. Das könne man auch so verstehen, dass der König am Ende die besten Charaktereigenschaften seiner beiden ›Väter‹ in sich vereine. Die Disziplin, den berechnenden Verstand und den Leistungswillen habe er von seinem leiblichen Vater, König Heinrich IV., ›geerbt‹ und die Güte, Liebe und Großherzigkeit habe er sich von seinem väterlichen Freund Falstaff abgeschaut. Das Ganze ergebe eine gute Mischung für einen vortrefflichen Charakter, oder um es in den Worten des Erzählers zu sagen: Der neue König war ein »Muster von Ehre und wahrhaft königlichem

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Welles’ Methode, Sprache und Bildsetzung miteinander zu kontrastieren, wird ganz besonders in dieser letzten Filmszene deutlich. Während der Erzähler ein Loblied auf die Klugheit und die Vortrefflichkeit des neuen Königs anstimmt, zeigt die Kamera den schweren Sarg von Falstaff, wie er mühselig und langsam aus dem Hof des Gasthauses geschoben wird. Wie auch immer man die Bildsequenz im Einzelnen interpretiert, ist eins klar: Sie steht im absoluten Kontrast zur Stimme von Ralph Richardsons, der eine Passage aus dem berühmten Holinshed’s Chronical of England, Scotland and Ireland vorträgt und der aus dem Off zum Zuhörer spricht: »Most obviously, it refutes or qualifies what the voice of history is saying; the camera records a truth that has been left out of the official version of events.« (Chimes at midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, Introduction: The Shakespearean Camera of Orson Welles, S. 19.)



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Sinn.« All das sei doch ein Indiz dafür, dass man das Ende des Films als ein versöhnliches Ende verstehen könne. Diese naive Deutung der Szene erregt oft bei einem anderen Teil der Schüler Widerstand. Sie sind mit der versöhnlichen Sichtweise überhaupt nicht einverstanden. Denn schließlich liege Falstaff in dem großen Holzsarg. Er sei das Opfer, das dem Machthunger des neuen Königs erlegen sei. Folglich sei das Ende auch kein versöhnliches, sondern ganz im Gegenteil ein extrem bitteres Ende. Es verdeutliche einmal mehr, dass politische Macht stets im Gegensatz zur Menschlichkeit und zu einer »humanen Gesinnung« steht. Das Macht- und Leistungsprinzip habe sich in dem König am Ende doch eindeutig durchgesetzt; es hat just den Menschen das Leben gekostet, der ihm zumindest dem Anschein nach einmal am liebsten war. In der Regel gibt es einige Schüler, die in diesem Zusammenhang von sich aus auf die Rolle des Erzählers zu sprechen kommen. Sie sind auch der Ansicht, dass das Loblied des Erzählers auf König Heinrich V. als Zeichen für ein versöhnliches Ende verstanden werden kann, denn schließlich werden auch die Charaktereigenschaften des Königs gewürdigt, die er ganz offensichtlich seiner Freundschaft mit Fal­ staff zu verdanken hat, allen voran der Wert der Freundschaft. Somit erhalte auch Falstaffs positiver Einfluss auf die Charakterentwicklung des Königs auf indirekte Weise eine Würdigung. Diejenigen der Schüler, die die letzte Filmszene genau angeschaut und auch zugehört haben, werden mit dieser Einschätzung ganz und gar nicht einverstanden sein, vor allem deshalb nicht, weil der Kommentar des Erzählers, der König habe »keinen Freundschaftsdienst unbelohnt« gelassen, mit Blick auf das, was im Film zu sehen sei, nur zynisch klinge. Falstaff sei dem jungen König schließlich nicht mal so viel wert, dass er zu seiner Beerdigung komme. Stellt sich heraus, dass die Schlussszene zumindest von einigen wenigen Schülern so interpretiert wird, darf der Lehrer mit dem Verlauf der gemeinsamen Besprechung gänzlich zufrieden sein – auch dann, wenn nur ein einziger von ihnen andeutet, dass seine Überlegungen in diese Richtung gehen. Denn damit haben auch die Gesprächspartner, die diese Ansicht nicht teilen, einen Grund, sehr gezielt darauf zu achten, ob die Worte zu dem passen, was zu sehen ist. Das bedeutet, dass jeder von ihnen selbst die Frage beantworten kann, ob das, was im Kommentar gesagt wird, denn nun durch die Bilder bestätigt oder ob es so offenkundig von ihnen widerlegt wird, dass in ironischer Schärfe deutlich wird, dass die Worte lügen. 435

435

Dass Welles in seinem Film Falstaff – Glocken um Mitternacht mit dem Kontrast von Bild und Text häufig spielt, um den Zuschauer auf den doppelbödigen Charakter der Sprache in seiner Beziehung zur Handlung aufmerksam zu machen, ist von einigen Interpreten gesehen und thematisiert worden. Vgl. Chimes at midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, Introduction: The Shakespearean Camera of Orson Welles, S. 19. Vgl. Michael Anderegg: Orson Welles, Shakespeare, and Popular Culture. Chimes at Midnight: Rhetorik and History. New York 1999, S. 123–140. Besonders Anderegg hat gezeigt, dass Welles dieses filmische Darstellungsmittel einsetzt, um die Rolle und Funktion der Sprache in historischen und politischen Zusammenhängen kritisch zu hinterfragen. Er erzeugt auf diese Weise für den Betrachter eine permanente Spannung zwischen dem Gesehenen und dem Gehörten.

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Der Film Chimes at Midnight hat eine Botschaft, die sich dem Zuschauer nur dann erschließt, wenn er insbesondere die bewegten Bilder auf sich wirken lässt. Denn nur dann ist für ihn zu erkennen, dass die schönen Worte des Erzählers im Nachruf auf den König über die Wahrheit hinwegtäuschen. Als bitter ironischer Kommentar sind sie vor allem deshalb zu verstehen, weil sie die große Rhetorik der offiziellen Geschichtsschreibung, die falsche Legendenbildung und den durch pragmatische Machtinteressen hervorgerufenen notwendigen Verrat der Freundschaft schonungslos offenlegen. Für Welles sind die Bilder klüger als Worte, auch deshalb, weil sie das Potential haben, die Doppelbödigkeit der Sprache im Hinblick auf das Schauspiel menschlichen Handelns zu verdeutlichen. Der Filmemacher Welles übt hier mit den Mitteln des Films eine besondere Form von Sprachkritik. Falstaff sagt am Ende gar nichts mehr, er liegt im Sarg und schweigt. Auch vorher hat er sich nicht mit Worten zu den Anschuldigungen geäußert, z. B. nach der heftigen Zurückweisung durch den jungen König. In seiner kindlichen Unschuld hat er nicht geglaubt, dass die Worte ernst gemeint sein könnten. Und sogar das, was nach seinem Tod über den König gesagt wird, geht an der Wahrheit vorbei. Es wird ihm einfach nicht gerecht. Bei Welles hat die Kamera bis zum Schluss das ›letzte Wort‹. Sie und somit das Bild stellt die eigentliche Autorität dar – nicht das Wort. Und sie vermittelt dem Zuschauer auch die entscheidende Botschaft und die eigentliche Moral des Films. Für Welles sind die Bilder nicht nur klüger als Worte, sie sprechen auch jeden an. Wenn es nach ihm geht, dann vermitteln sie nicht nur seine Sicht der Dinge, sondern ebenso die Sichtweise Shakespeares, die er mit filmischen Mitteln zur Darstellung gebracht hat: By disjoining voice and image at the end, Welles underscore an irony implicit earlier in the film, points a moral for a story that has become as much his own as Shakespeare’s, and, not least, asserts the authority of his camera in interpreting the writer who, as Welles wrote in Everybody’s Shakespeare, »said everything« and »speaks to everyone«. 436

Im Verlauf des Lehrstücks sind die Schüler dazu angeleitet worden, die aufschlussreichen Schauspiele menschlichen Handelns nach dem Vorbild des Aristoteles auch selbst sehr sorgfältig und neugierig zu beobachten und auf diesem Wege das eigene Urteilsvermögen zu entwickeln und weiter zu bilden. Damit sind die Aussagen und Argumente der Nikomachischen Ethik für sie so zugänglich, dass sie imstande sind, sich selbstständig und kritisch mit den Positionen auseinanderzusetzen, die der Philosoph bei seinen Betrachtungen vertritt, selbstverständlich auch mit den teilweise unerbittlich strengen Maßstäben, nach denen er die Handlungsweisen der von ihm charakterisierten Mitmenschen einschätzt und vielleicht allzu unnachsichtig und schonungslos bewertet.



436

Chimes at midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, Introduction: The Shakespearean Camera of Orson Welles, S. 19.



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Das bedeutet, dass der Unterricht zur Einführung in die aristotelische Ethik nur dann richtig angelegt ist, wenn er die Schüler nicht dazu verführt, die Grundsätze des Aristoteles zu übernehmen und diese als Wahrheiten geltend zu machen. Das muss ihnen am Schluss des Lehrstücks noch einmal besonders deutlich demonstriert werden. Dafür zeigt ihnen der Lehrer das Ende des Films ein weiteres Mal in einer kürzeren Version und ohne Ton. Für den letzten Akt des Unterrichtsdramas erhalten die Schüler die folgende Aufgabe:

 Schauen Sie sich den letzten Teil der Filmszene ein zweites Mal an (Zeit: 1:48:50– 1:50:05) ! Sie bekommen diesmal nur die bewegten Bilder zu sehen. Der Film hat eine Botschaft. Bitte formulieren Sie diese in Partnerarbeit als Grabsteinspruch für Falstaff. Ein Hinweis: Grabsteinsprüche sind kurz. Sie dürfen nicht mehr als elf Worte verwenden. Auch wenn ganz unterschiedliche Aspekte von den Schülern thematisiert werden können, haben doch viele Grabsteinsprüche eine düstere Botschaft:437 »Und die Moral von der Geschicht’: Traue falschen Prinzen nicht.« »Hier ruht Falstaff. Freund dem ich keiner mehr sein konnte. Heinrich.«

Bei diesen Epitaphien handelt es sich um Sätze, die das, was der Film zeigen soll, in der gebotenen Knappheit und Zuspitzung fassbar machen. Noch schärfer pointiert ist der folgende Grabsteinspruch: »Dieb Trunkenbold Schürzenjäger Narr Betrüger Unerwünscht« 438

Falstaff ist aufgrund seiner Lebensweise weder besonders leistungsfähig (schon gar nicht als Soldat, wie sein Auftreten in der großen Schlacht gezeigt hat) noch ist

437



438

Welles stellt selbst die Moral der Geschichte auf diese Weise dar, wenn er sagt: »Chimes is a sombre comedy, the story of the betrayal of friendship.« (Joseph McBride: Orson Welles, S. 149.) Die drei Grabsteinsprüche stammen von Studenten, die an meinem Seminar an der FriedrichSchiller-Universität Jena teilgenommen haben.

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er gesund. Ganz im Gegenteil: Seine Krankheiten sind den ganzen Film über präsent. Das Lebensideal, das ihm vorschwebt, kann er gar nicht mehr verwirklichen, weil ihm dazu schlicht die nötige ›Lebenskraft‹ fehlt. Er ist tatsächlich nur ein Schaumschläger, ein Mensch, der seine hedonistische Lebensweise in großen Worten vortäuscht, zu der er in Wahrheit gar nicht mehr in der Lage wäre. Aber für Falstaff ist ohnehin alles nur ein Spaß: »Es sind doch nur Worte, bitte nehmt sie bloß nicht ernst«, würde er wohl sagen. Darum ist der Zuschauer tief erschüttert, dass es die Worte (und die daraus folgenden Taten) des neuen Königs sind, die ihn vernichten. Im Gegensatz zu Falstaff ist Hal als König Heinrich V. nämlich ein Mensch, der zu seinem Wort steht. Er kann seine Motive nicht nur klar benennen, sondern er hat auch die nötige Macht, ihnen Taten folgen zu lassen. 439 Indem König Heinrich V. Falstaff und seine Freunde im Geiste vom Hof verbannt, schließt er sie zugleich aus der Gemeinschaft aus. Denn erst »wenn wir hören von einem Wandel eurer Lebensart, so wollen wir nach eurer Kraft und Fähigkeit Beförderung euch vergönnen«. Das heißt, entweder führt Falstaff nach den Maßstäben des Königs und der Gesellschaft ein gutes Leben oder er wird aus der Gemeinschaft der Tugendhaften verstoßen. Falstaff, der vorgibt, ein egoistischer Hedonist zu sein, geht in Wahrheit an dem Verrat des Freundes und an dem Ausschluss aus der Gemeinschaft zu Grunde. Nach Ansicht der beiden Studenten, die den letzten Spruch für den Grabstein geschrieben haben, will er in einer solchen Gemeinschaft auch gar nicht mehr leben. Er ist sogar ›lieber tot‹, als sich dieser unmenschlichen Norm, den Gesetzmäßigkeiten einer Leistungsgesellschaft permanent auszusetzen. Da habe er wenigstens ›seine Ruhe‹. Diese Botschaft ist an Düsterheit und Bitterkeit kaum noch zu übertreffen – und sie trifft auch Aristoteles. Der Lehrer sollte zum Abschluss des Lehrstücks daher noch einmal den Bezug zu seiner Ethik herstellen. Er kann das Ganze spielerisch inszenieren, indem er die Standbilder (aus der vergangenen Unterrichtseinheit 440) zur Figur des phronimos erneut auf die Unterrichtsbühne holt. Nur kommt es diesmal zu einem Aufeinandertreffen mit Falstaff:

 Stellen Sie sich vor, Falstaff könnte aus seinem Grab wieder emporsteigen. Am Rand des Grabs steht zufällig Ihr phronimos als Standbild. Es kommt also zu einer Begegnung zwischen Ihrem phronimos und Falstaff. Beide stehen sich zu-



439



440

Chimes at Midnight: Orson Welles, director. Bridget Gellert Lyons, editor. Commentaries/Michael Anderegg: »Every Third Word a Lie«: Rhetoric and History in Orson Welles’s Chimes at Midnight, S. 326–334. Anderegg hat den völlig unterschiedlichen Umgang mit Worten/Sprache der beiden Hauptprotagonisten des Films sehr gut herausgearbeitet. Er bezieht sich vor allem auf die Szene direkt nach der Zurückweisung durch König Heinrich V., in der Falstaff zu Shallow Folgendes sagt: »Was er (König Heinrich V., hinzugefügt von M. Z.) uns eben gezeigt hat, das war nur eine Maske […]. Er wird mich rufen lassen noch heute Nacht«. »For Welles’s Falstaff, these words suggest not bravado so much as a deeply felt hope, a nearly desperate attempt to render words meaningless. But Hal not only means what he says, he now has the power to turn words into deeds, and his words and deeds kill Falstaff.« (Ebd., S. 334.) Vgl. oben, 2.8.1.



Systematische Beschreibung des Lehrstücks

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nächst wortlos gegenüber, anschließend dürfen Sie den beiden Figuren auch ein paar wenige Worte in den Mund legen. Inszenieren Sie in Partnerarbeit die Begegnung zwischen den beiden Figuren so, dass darüber Ihr eigener Standpunkt deutlich wird. Das Ende des Lehrstücks ist offen angelegt. 441 Viele mögliche und ganz unterschiedliche Interpretationen sind denkbar. Der Autor (und auch der Lehrer, der das Lehrstück im Unterricht durchführt) sollte auch kein abschließendes Urteil darüber fällen, welche der Interpretationen er für richtig hält, denn das Schauspiel menschlichen Handelns bleibt weiterhin vieldeutig – so wie die Standbilder und auch die Menschenbilder, die in den Darstellungen der Schüler zum Vorschein kommen. Auch hier spielt das Lehrstück gleichermaßen mit aristotelischen und brechtschen Elementen der Theaterkunst: mit genetischem Nachvollzug und mit Verfremdungstechniken. Auf diese Weise können die Schüler ihre unterschiedlichen Sichtweisen und Einschätzungen auf das im Lehrstück dargestellte Schauspiel menschlichen Handelns – und somit auch im Hinblick auf die Ethik des Aristoteles – zum Ausdruck bringen. Das ganze Schauspiel, das sich für die Mitspieler des Lehrstücks auf der Bühne des Unterrichtstheaters abgespielt hat, lässt sich auf diese Weise noch einmal Revue passieren. Wer es als Lehrer selbst sehen will, muss es inszenieren.



441

Falls nur der Epilog als Lehrstück (ohne auf Aristoteles Bezug zu nehmen) inszeniert wird, ist auch eine alternative Abschlussaufgabe möglich, die sich nur auf den Film bezieht. Zum Beispiel so: »Stellen Sie sich vor, Sie säßen als Filmkritiker in der ersten Reihe des Kinos und schauten sich den Film Falstaff – Glocken um Mitternacht an. Sie haben die Aufgabe, eine Filmkritik zu schreiben. Darin sollen Sie die Tugendhaftigkeit der beiden Protagonisten im Film, also von Hal als König Heinrich V. und von Falstaff, beurteilen.«

3 . FA Z I T Die Lehrstückdidaktik als szenische Didaktik und ihre Bedeutung für den Ethikunterricht Wenn in letzter Zeit von philosophischer und ethischer Bildung die Rede ist, dann wird häufig auf das sogenannte Rationalitätsparadigma Bezug genommen: Wer im Ethik- und Philosophieunterricht einen Mindeststandard an Rationalität gewährleisten will, ist aufgefordert, bei den Schülern bestimmte philosophische Kompetenzen auszubilden. Als rationalitätssichernde Kompetenzen gelten gemeinhin das logische Argumentieren und die Fähigkeit, begriffliche Unterscheidungen treffen zu können. Wer diese Kompetenzen im Unterricht erwirbt, darf sich selbst ein kritisches Bewusstsein unterstellen und sich auch für einen mündigen Menschen mit Urteilskraft halten. Denn: »Sie [die philosophisch-ethische Bildung; hinzugefügt von M. Z.] schult die Urteilskraft verstanden als Fähigkeit zur kritisch rationalen Argumentation sowie sicheren Verwendung von Begriffen und kategorialen Unterscheidungen.« 442 Dieses Verständnis von philosophisch-ethischer Bildung impliziert eine Wissensform, die sich vor allem an der Logik und der Mathematik orientiert und die zugleich einen bestimmten – sehr engen ! – Begriff von Rationalität präferiert. Danach kommt auch dem Ethik- und Philosophieunterricht hauptsächlich die Aufgabe zu, die (Denk-)Fähigkeiten zu vermitteln, die diesem Bildungsverständnis gerecht werden. Nach Tiedemann geht es darum, »die Allgemeingültigkeit von Argumenten zu prüfen und die ihnen zugrundeliegenden Prämissen zu explizieren.« 443 Denn dies sei »die Essenz des philosophischen Sprachspiels, das notwendig an einen kompetenten ›diskursiv-propositionalen Sprachgebrauch‹ gebunden« 444 bleibe. Doch wer so denkt und spricht, übersieht aus der Sicht der Lehrstückdidaktik etwas Wesentliches: das »Szenische als Wissensform« 445 . Dabei handelt es sich um eine Form des Wissens, die sich vielleicht nicht so eindeutig wie das propositionale Wissen in einem formallogischen Ablauf manifestiert, das aber augenscheinlich ein Wissen ist, das in unserer alltäglichen Wahrnehmung von Situationen und somit bei unserer alltäglichen Einschätzung des Schauspiels menschlichen Handelns eine große Rolle spielt. Die szenische Wissensform ist mithin gerade für den Umgang mit Menschen – und somit für die Ethik – von entscheidender Bedeutung. Hogrebe



Markus Tiedemann: Ethische Orientierung in der Moderne – Was kann philosophische Bildung leisten ? In: Julian Nida-Rümelin/Irina Spiegel/Markus Tiedemann (Hrsg.): Handbuch Philosophie und Ethik. Band I: Didaktik und Methodik. Paderborn 2017 [2. Auflage]. S. 23–29, hier S. 26. 443 Ebd. 444 Ebd. 445 Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 11. 442

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hebt die große Bedeutung dieser Wissensform für das soziale Zusammenleben zu Recht hervor: Aber diese schwachen Formen des Wissens wie Ahnung, Mutmaßung und das Gefühl als Grundlage von Situationseinschätzungen sind für unseren Alltag von erheblicher Bedeutung. Auch für den Umgang miteinander sind gerade schwache Formen des Wissens häufig von Relevanz, da sie konziliante Attitüden ermöglichen. 446

Es bleibt eine offene Frage, ob diese Wissensform schon deshalb als schwach zu bezeichnen ist. Nur weil sie nicht zu diesem engen Begriff von Rationalität passt und weil es hier nicht das vorrangige Ziel ist, die formalen Denkfähigkeiten auszubilden, sondern stattdessen das Interesse für Inhalte und das Gewinnen von Einsichten mit Blick auf ethisch relevante Lebenssituationen angestrebt wird. Doch diese epistemologische Frage nach der Unterscheidbarkeit dieser beiden Wissensformen soll hier unbeantwortet bleiben. Mir geht es vielmehr darum, zum Abschluss meines Buches deutlich zu machen, dass sich die auf die Entfaltung des szenischen Wissens zielende mimetische Lehrstückdidaktik grundlegend von vielen anderen ethikdidaktischen Konzepten unterscheidet. Die szenische Wissensform setzt voraus, dass der Schüler wie jeder Mensch ein wahrnehmendes, empfindendes und sensibles Wesen ist, weil er alltäglich an dem Schauspiel menschlichen Handelns teilnimmt und insofern mitspielt, als er selbst als ein Akteur auf der Bühne des Lebens auftritt. Weil das so ist, darf man davon ausgehen, dass er dabei einige Erfahrungen gemacht hat, Erfahrungen, die seinen Blick auf das menschliche Zusammenleben geschärft und die dazu geführt haben, dass er viele Situationen und Umgangsarten kennengelernt und auch einzuschätzen gelernt hat. Deshalb ist es im Ethikunterricht möglich, auf diese Erfahrungen zurückzugreifen und den Blick für diese Konstellationen menschlichen Handelns weiter zu sensibilisieren. Die Schüler besitzen also insofern ein szenisches Wissen, als sie mit diesen Situationen wohl vertraut sind und weil sie das Leben ›in Szenen‹ vor Augen haben. Daher kann man die Lehrstückdidaktik auch als eine szenische Didaktik bezeichnen. Nach Hogrebe ist das »szenische Weltverhältnis« 447 kein außergewöhnlicher Weltzugang, sondern ganz im Gegenteil die gewöhnliche Weise, wie wir der Welt als Wahrnehmende begegnen und wie sie uns erscheint. Das gilt ganz besonders für den philosophisch Unverbildeten, also auch für die Schüler, die heute am Ethikunterricht teilnehmen, denn sie denken und sprechen auf der Grundlage eines vor-philosophischen Weltverständnisses. Das szenische Wissen, das sie mit in den Unterricht bringen, ist in der Lehrstückdidaktik die Basis und der Dreh- und Angelpunkt für das (ethische) Lernen und für den Dialog, der im Unterricht stattfindet.

446 447

Ebd., S. 7. Ebd., S. 84. Nach Hogrebe ist es nun gerade das Anliegen des Aristoteles gewesen, die »szenische Vertrautheit mit dem Sinnlichen abzusichern« und so das »szenische Weltverhältnis« zu »retten«. (Ebd.)

Fazit

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Das heißt, das Philosophieren beginnt mit einer Szene, die allen Dialogteilnehmern bekannt ist und die sie (noch) besser verstehen können, wenn sie sie gemeinsam ausleuchten und dabei das aufdecken und explizit machen, was sie implizit bereits darüber wissen. Erst vor dem Hintergrund der Epistemologie des Aristoteles und seines Verständnisses der epagoge wird demnach deutlich, worauf Hogrebe eigentlich hinauswill, wenn er vom »szenischen Existieren« 448 spricht. Anknüpfend an die Untersuchungen Wolfgang Wielands charakterisiert er sehr einprägsam und klar dieses der Sinnlichkeit verhaftete Weltverhältnis, mit dem wir auch heute noch als Mitspieler auf der Bühne des Lebens bestens vertraut sind, wenn wir uns nicht gerade im philosophischen Studierzimmer darüber Gedanken machen, ob die Außenwelt (überhaupt) existiert: Wieland weist […] darauf hin, dass dieses uns auf den ersten Leserblick hin vielleicht fremd anmutende Weltverhältnis im Grunde genommen dennoch auch heute noch in uns steckt: und zwar in unserem philosophisch unverbildeten ›natürlichen Bewußtsein‹. So ›sollte man sich vergegenwärtigen, daß sich auch heute noch alles vorreflexive Denken, Sprechen und Argumentieren in jenem der Subjekt-Objektspaltung gegenüber indifferenten Bereich bewegt‹. Damit gewinnen wir einen Wink, uns der Bedeutung szenischen Existierens gerade in dieser vorreflexiven Zone zu vergewissern. 449

Die Lehrstückdidaktik folgt diesem Wink und berücksichtigt das »szenische Weltverhältnis« 450 des philosophisch Unverbildeten vor allem dadurch, dass sie die Schüler dazu herausfordert, mit ihren Darstellungsversuchen das aufzudecken, was sie im Hinblick auf die alltäglichen Situationen des Schauspiels menschlichen Handelns vor Augen haben. Das Ergebnis dieser Darstellungsarbeit soll auch die Schulung eines Taktgefühls sein, das die Schüler entwickeln, wenn sie dazu angeleitet werden, über die Interpretation der exemplarischen Situationen die Wahrnehmungen, Gefühle und Imaginationen ihrer Mitmenschen zu registrieren und zunehmend einfühlsamer zu erklären. Im Mittelpunkt einer solchen Schulung des Taktgefühls steht also weder die Orientierung an Prinzipien noch die Prüfung der Allgemeingültigkeit von Argumenten. Denn es geht hier nicht darum, die Wahrnehmungen, Empfindungen und Gefühle der Schüler dadurch zu rationalisieren,



448 449



450

Ebd., S. 83. Ebd. Vgl. auch Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, S. 73. Wieland charakterisiert das natürliche Bewusstsein und den damit verbundenen Wissensbegriff vor dem Hintergrund der aristotelischen Epistemologie an dieser Stelle noch genauer: »Das natürliche Bewußtsein ist phänomenologisch betrachtet niemals bei sich selbst, sondern bei den Dingen; es ist als Wissen immer Wissen von etwas, ohne daß sich phänomenologisch eine Differenz zwischen dem Wissen und seinem Gegenstand aufweisen ließe.« (Ebd., S. 73 f.) Ebd., S. 84.

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dass man sie einer »Prüfungslogik von Argumenten« 451 unterzieht, und nur diejenigen gelten lässt, die dieser Prüfung standhalten. Das eigentliche Ziel der Darstellungsarbeit ist vielmehr eine einsichtsgeleitete »Verständigkeit«, die auch zu einer bestimmten Form des Benehmens führen kann und die sich nach Ansicht von Aristoteles vor allem bei den Menschen zeigt, die wir gemeinhin für nachsichtige Persönlichkeiten halten: Daher kommt der Name »Verständigkeit« für diejenige Disposition, kraft deren Menschen wohlverständig sind, nämlich vom Verstehen beim Lernen. Denn man bezeichnet das Lernen häufig als ein Verstehen. Die so genannte Einsicht (gnōmē), mit Bezug auf die wir bestimmten Menschen Nachsicht (syngnōmē) zuschreiben und sagen, dass sie Einsicht haben, ist das richtige Urteil über das Billige (epieikes). Ein Anzeichen dafür ist Folgendes: Wir sagen, dass der billig eingestellte Mensch am meisten zur Nachsicht disponiert ist und dass es billig ist, bei manchen Dingen Nachsicht zu üben. 452

Folgt man der Interpretation Hogrebes, dann erklärt Aristoteles an dieser Stelle, dass unser Umgang miteinander von einer »eigenen Erkenntnisart« geprägt ist, die er »›gnomisch‹ nennt« 453 . Diese Erkenntnisart entspringt demnach aus dem »szenischen Weltverhältnis« 454 , das wohl vor allem darauf hindeutet, dass der Mensch als Wahrnehmender und Denkender immer schon ein Mitspieler auf der Bühne des Lebens ist – und dass dieses Mitspielen, Zusammenspielen und auch Gegeneinanderspielen besonders eindrücklich bei der Betrachtung des Schauspiels menschlichen Handelns zu beobachten ist. Wer sich auf dieser Bühne gewandt bewegen kann, der besitzt Takt, hier aber verstanden als ein Taktgefühl, das man auch beim »musikalischen Zusammenspiel« 455 erleben und entwickeln kann. Der Vergleich des menschlichen Zusammenlebens

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455

Michal May: »Aber bitte mit Gefühl !« – Rationale politische Urteilsbildung als Ziel und Herausforderung politischer Bildung. In: Urteilspraxis und Wertmaßstäbe im Unterricht. Ethik, Englisch, Geographie, Geschichte, politische Bildung, Religion. Herausgegeben von Mirka Dickel, Anke John, Michael May, Katharina Muth, Laurenz Volkmann, Mario Ziegler. Frankfurt am Main 2020, S. 125–147, hier S. 132. May setzt sich im Rahmen der politischen Urteilsbildung und des Politikunterrichts ebenfalls kritisch mit dieser Art der »Prüfungslogik« auseinander. Aristoteles: NE, VI, 11, 1143a 16–23. S. 209 f. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 9. Das »szenische Weltverhältnis« hängt nach Hogrebe maßgeblich damit zusammen, wie wir aus der Sicht von Aristoteles in der Welt verankert sind. Hogrebe verweist in diesem Zusammenhang auf Wielands Interpretation der aristotelischen Physik, in der sehr deutlich wird, dass für Aristoteles überhaupt kein Subjekt existiert, das der Welt bloß »gegenübersteht«. Vielmehr befinden wir uns Menschen als Sinneswesen immer schon in ihr, können demnach auch etwas von ihr und ihresgleichen erfahren und uns mit unseren Mitmenschen darüber austauschen. (Vgl. Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 83. Vgl. auch Wolfgang Wieland: Die aristotelische Physik. Untersuchungen über die Grundlegung der Naturwissenschaft und die sprachlichen Bedingungen der Prinzipienforschung bei Aristoteles, S. 73 und S. 85.) Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 9.

Fazit

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und des Umgangs miteinander mit einem musikalischen Zusammenspiel verweist darauf, dass wir uns stets in Situationen und Szenen befinden und dass diese Situationen auch etwas mit uns machen, das wir uns in der Nachschau verständlich machen können. Denn wir können auf diesem Weg Einsichten in das menschliche Zusammenleben gewinnen, mit denen wir ein Taktgefühl entwickeln, das uns dazu befähigt, rücksichtsvoll miteinander umzugehen. Hogrebe hat die Qualitäten der szenischen Wissensform deutlich herausgestellt, und er hat auf dieser Grundlage versucht, das aristotelische Konzept einer ethischen Bildung genauer zu skizzieren: Umgangsformen sollten eine konsonante Qualität aufweisen, wie wir sie z. B. im musikalischen Zusammenspiel praktizieren. Was Aristoteles, unabhängig von dieser musikalischen Interpretation, aber äquivalent vor Augen hatte, ist offenbar eine Art des Umgangs miteinander, die ebenso rücksichtvoll wie souverän ist. Er versucht ein Benehmen zu charakterisieren, das in sich ebenso abgewogen wie situationsgerecht ist. In diesem Sinne spricht er von flexibler, aber zugleich korrekter Ausgewogenheit, die sich vor allem in der Qualität der Nachsichtigkeit (συγγνὡμη) zeigt und bewährt. Diese Qualität ist ebenso erstrebenswert wie gut und nützlich, sie ist Ausdruck, wie Aristoteles hier meist übersetzt wird, einer erfahrungsgesättigten ›Wohlberatenheit‹ (εὐβουλία). 456

Doch eine solche Schulung des Taktgefühls und der sozialen Sensibilität kann sehr schnell missverstanden werden, besonders deshalb, weil ja gerade dem Ethikunterricht die Aufgabe zugewiesen wird, einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Selbst- und Sozialkompetenz der Schüler zu leisten. Dabei wird unter den Begriffen Selbst- und Sozialkompetenz allerdings häufig die technische Einübung von sozialen Regeln des Miteinanders, die Beherrschung von bestimmten Sozialformen im Unterricht oder die Fähigkeit des Schülers verstanden, seinen Lernprozess eigenverantwortlich zu planen und zu steuern. So formuliert etwa der Thüringer Lehrplan für das Fach Ethik die folgenden Ziele für die gesellschaftliche Kompetenzentwicklung in den Bereichen Selbst- und Sozialkompetenz für die Klassenstufen 5 – 10: Der Schüler kann – gesellschaftliche Entscheidungen, Probleme oder Konflikte eigenständig sach- und wertorientiert beurteilen, – eigene Urteile und Entscheidungen überprüfen, – eigene Positionen angemessen artikulieren, – Konflikte demokratisch lösen, – Mehrheitsentscheidungen akzeptieren und den Minderheitenschutz respektieren, – seinen Lernprozess eigenverantwortlich und strukturiert planen, durchführen und dokumentieren, – den eigenen Lebensentwurf reflektieren. 457 Ebd. Thüringer Ministerium für Bildung, Wissenschaft und Kultur. Lehrplan für den Erwerb der all-

456 457

220

Kapitel 3

Wer all diese Kompetenzen im Ethikunterricht erwirbt, darf sich zweifellos als ein gesellschaftlich kompetentes Individuum ansehen, das auch insofern demokratiefähig ist, weil es gelernt hat, sich sowohl an soziale Regeln zu halten als auch den eigenen Standpunkt zu artikulieren. Aber darf man dieses gesellschaftlich kompetente Individuum schon als eine moralisch reife Persönlichkeit bezeichnen ? Aus der Sicht der Lehrstückdidaktik ist bei alledem zu bedenken, dass ein ethischer und auch demokratischer Bildungsprozess nicht bei der technischen Einübung von gesellschaftlich erwünschten Kompetenzen stehen bleiben darf, sondern die Schüler dazu befähigen sollte, aus Einsicht in das menschliche und gesellschaftliche Zusammenleben eigene Werturteile zu fällen und ethische Entscheidungen zu treffen. Dies bedeutet selbstverständlich auch, die gesellschaftlich anerkannten Wertmaßstäbe und Normen nicht nur zu kennen und ihnen blind zu folgen, sondern sie mitunter zu kritisieren. Die Schulung des einsichtsgeleiteten Taktgefühls ist daher eng verknüpft mit der Entwicklung einer sozialen Sensibilität für diejenigen unter uns, die den gesellschaftlichen Ansprüchen und Normen nicht genügen – auch und gerade in der Schule. Eine ethische Blickschulung, wie sie beispielsweise in der neunten Unterrichtseinheit anhand von Orson Welles’ Falstaff-Film vorgeführt wurde, 458 zielt auf die Entwicklung einer sozialen Sensibilität beim Schüler, indem sie Attitüden wie Nachsichtigkeit und menschliche Güte nicht nur inhaltlich berücksichtigt, sondern sie z. B. durch schauspielerische Arrangements für die Schüler auch sinnlich und emotional erfahrbar macht und ihnen somit ein feines Gespür für Nuancen vermittelt, auf die es nicht selten im menschlichen und gesellschaftlichen Zusammen­ leben ankommt. Auch wenn sich eine solche Form von ethischer Bildung, wie sie die Lehrstückdidaktik angestrebt, vielleicht nur schwer in ein klassisches Kompetenzraster einfügen lässt, sollte sie gleichwohl wesentlicher Bestandteil eines Curriculums des Ethikunterrichts sein. 459



458 459

gemeinen Hochschulreife: Ethik (2012), S. 7 f. Vgl. www.schulportal-thueringen.de/media/­ detail ?tspi=2838 (Stand: 02.09.2020). In der Klassenstufe 11 klingt die Formulierung der Ziele nicht weniger technisch, denn hier werden folgende Ziele für die Entwicklung der Selbst- und Sozialkompetenz angegeben: »Der Schüler kann selbstständig und zielgerichtet sein Lernen steuern, verantwortlich in unterschiedlichen Sozialformen arbeiten, eigene Werthaltungen reflektieren und mit anderen vergleichen, ethisch verantwortliches Handeln als menschliche Aufgabe akzeptieren.« (Ebd., S. 25.) Vgl. oben, 2.9. Hogrebe hat die Qualitäten einer solchen Takt-Schulung deutlich herausgestellt und auch klargestellt, was Aristoteles und die Verfechter der Lehrstückdidaktik damit eigentlich im Blick haben und wogegen sie sich aussprechen: »Wir würden das, was Aristoteles […] intendierte, heute mit dem Ausdruck ›Sozialkompetenz‹ bezeichnen. Aber mit diesem Terminus bewegen wir uns zu weit im Terrain einer Sozialtechnik, um die es Aristoteles nun gerade nicht geht. Ihm schwebt eher so etwas vor wie eine soziale Sensibilität, die auch ihr eigenes Normprofil in Form sanfter valeurs der Rücksichtnahme und Nachsichtigkeit zur Geltung bringt. Eben solche, die auch ein musikalisches Zusammenspiel charakterisieren.« (Wolfram Hogrebe: Riskante Lebensnähe. Die szenische Existenz des Menschen, S. 10.)

Fazit

221

Vielleicht können gerade auch Filme wie etwa Falstaff – Glocken um Mitternacht dazu beitragen, dass die Schüler ein solches Taktgefühl entwickeln. Denn der Film kann uns bei der Betrachtung menschlichen Handelns etwas vor Augen führen, was sich anders nicht zeigen lässt. Nach Béla Balázs hat der Film das Potenzial, »den unter Begriffen und Worten verschütteten Menschen wieder zu unmittelbarer Sichtbarkeit hervor[zu]heben.« 460 Dass der Mensch auch in seiner leiblichen Erscheinungsweise – ganz besonders durch sein lebendiges Gebärden- und Mienenspiel – wieder sichtbar wird und so ein »neues Gesicht« 461 bekommt, ist für ihn ein wichtiger Bestandteil einer Kultur des Films. Mit Hogrebe könnte man vielleicht sagen, dass der Film die szenische Existenz des Menschen auf besonders beeindruckende Weise zum Vorschein bringt. 462 Vor allem die Technik der Großaufnahme erlaubt es dem Filmemacher, die kleinen Details groß erscheinen zu lassen und so ihre eigentliche Bedeutung zu beleuchten: [D]ie Lupe des Kinematographs bringt uns die einzelnen Zellen des Lebensgewebes nahe, läßt uns wieder Stoff und Substanz des konkreten Lebens fühlen […]. Sie zeigt dir das intime Gesicht all deiner lebendigen Gebärden, in denen deine Seele erscheint, und du kennst sie nicht. Die Lupe des Kinoapparates wird dir deinen Schatten an der Wand zeigen, mit dem du lebst, ohne ihn zu merken, und wird dir die Abenteuer und das Schicksal der Zigarre in deiner ahnungslosen Hand zeigen und das geheime – weil unbeachtete – Leben aller Dinge, die deine Gefährten sind und miteinander das Leben ausmachen. 463

Falstaff – Glocken um Mitternacht ist ein Film dieser Art, und Orson Welles macht aus dieser filmischen Technik eine Kunst. So deutet sich z. B. die drohende Vernichtung Falstaffs durch den zukünftigen König Heinrich V. in einer Szene allein durch das Mienenspiel des Schauspielers an, in der der junge Prinz Hal seinen Vater, König Heinrich IV., scheinbar nur nachspielt. 464 Eine winzige Einzelheit im Mienenspiel des jungen Prinzen (dargestellt von Keith Baxter) ist ein Vorverweis auf das finstere Ende. Dabei belehrt Welles die Zuschauer nicht durch die Worte, die er den Figuren in den Mund legt, sondern lässt die bewegten Bilder und die Gesichter sprechen: »Der gute Film wird dich aber durch seine Großaufnahmen lehren, die Partitur des vielstimmigen Lebens zu lesen, die einzelnen Lebensstimmen aller Dinge zu merken, aus denen sich die große Symphonie zusammensetzt.« 465 462 460 461

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Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films. Frankfurt am Main 2001, S. 19. Ebd., S. 16. An anderer Stelle stellt Hogrebe die große Bedeutung der Bilder heraus: »Aber sie [die Bilder, hinzugefügt von M. Z .] erinnern an Ursprünge, die uns immer noch zu denken geben. Im Bild wird etwas offenbar, was anders nicht offenbar werden könnte. Insofern sind gerade Bilder Zeugen unserer szenischen Existenz.« (Wolfram Hogrebe: Szenische Metaphysik. Frankfurt am Main 2019, S. 20.) Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 49. Vgl. oben, 2.9.2. Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, S. 50. Mit Hilfe der Großaufnahme

222

Kapitel 3

Das bedeutet, dass der Film ein großes Bildungspotenzial hat, 466 weil er, wenn er nach den Regeln der szenischen Lehrstückdidaktik behandelt wird, eine phänomengeleitete und wahrnehmungsbezogene Schulung des Taktgefühls ermöglicht. Der ethische Blick der Schüler wird damit für das geöffnet und geschärft, was sie sehen und begreifen, ohne es in seiner ganzen Hintergründigkeit zu verstehen, wenn sie auf ihr eigenes Leben und auf das ihrer Mitmenschen schauen. Dabei liegt der Fokus der szenischen Erschließung zunächst vor allem auf den nicht-sprachlichen Lebenserscheinungen, auf den visuellen Gesichtsausdrücken von Menschen, auf ihren Beziehungskonstellationen und auf dem »unbeachteten Leben« der Dinge, die sie umgeben. Die filmische Darstellung ist somit eine Kunst, die uns auf die elementaren menschlichen Lebensäußerungen und Ausdrucksformen aufmerksam macht, die leicht übersehen und übergangen werden, wenn zuerst und allein die Sätze maßgebend sein sollen, die unsere Handlungsprinzipien vermeintlich eindeutig und endgültig feststellen und bewerten. Deswegen werden die Schüler im Lehrstückunterricht dazu aufgefordert, neben den Theaterszenen auch filmisch dargestellte Szenen genau zu betrachten und ihr Verständnis mit ihren Worten deutlich zu machen. Weil sie dabei nicht allein sind, sondern die dargestellten Situationen gemeinsam betrachten und analysieren, können sie sich auch gegenseitig auf die sich erschließenden Nuancen aufmerksam machen und somit im Dialog miteinander ihr Verständnis weiterentwickeln. Die zu einem tieferen Verständnis führende gemeinsame Auseinandersetzung mit dem Schauspiel menschlichen Handelns ist vielleicht der beste Weg zur angestrebten Schulung des Taktgefühls, das die Voraussetzung für ein gelingendes soziales Zusammenleben ist. Bonnemann hat das einzigartige Bildungspotenzial des Films mit Blick auf ein taktvolles Miteinander an dieser Stelle besonders prägnant auf den Punkt gebracht: Um überhaupt taktvoll agieren zu können, ist allerdings zunächst ein Verstehen des leiblichen Ausdrucks von Personen und der Atmosphäre von Situationen erforderlich – und es spricht einiges dafür, dass Filme einen alles andere als unerheblichen



466

ist der Regisseur in der Lage, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf die Dinge zu lenken, die er für bedeutsam hält. Er lenkt den Blick auf das, was in unserem alltäglichen Leben vielleicht verborgen bleibt und erst durch die Großaufnahme in unserer Wahrnehmung erscheinen kann. Darin steckt auch ein didaktisches Potenzial, das sich der Lehrer im Unterricht zu Nutze machen kann: »Die Großaufnahme im Film ist die Kunst der Betonung. Es ist ein stummes Hindeuten auf das Wichtige und Bedeutsame, womit das dargestellte Leben zugleich interpretiert wird. Zwei Filme mit der gleichen Handlung, demselben Spiel und denselben Totalen, die aber verschiedene Großaufnahmen haben, werden zwei verschiedene Lebensanschauungen ausdrücken.« (Ebd.) Vgl. Jens Bonnemann: Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild. Zum Bildungspotenzial des Films. In: Unterricht im Zeichen von Wahrnehmung und Darstellung. Philosophische Anstiftungen zu einer unzeitgemäßen Didaktik. Herausgegeben von Daniel Löffelmann und Mario Ziegler. Freiburg und München 2020, S. 125–138, hier S. 131. Bonnemann vertritt hier die These, »dass auch der Film ein einzigartiges Bildungspotenzial bereitstellt, weil der Film wie kein anderes Medium eine Sensibilisierung für den leiblichen Ausdruck fördert.« (Ebd.)

Fazit

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Beitrag hierfür leisten können: Die Filmrezeption führt zu einer Weiterbildung des Verständnisses für den nicht-sprachlichen Ausdruck von Menschen und Situationen, das mit Fug und Recht als eine wesentliche Bedingung für ein taktvolles soziales Miteinander in Betracht gezogen werden sollte. 467

Dieses aristotelische Bildungsverständnis impliziert eine Antwort auf die Frage, was es heißt, von einer reifen Persönlichkeit zu sprechen. Moralisch reif und ethisch gebildet ist jemand, der nicht nur die »Allgemeingültigkeit von Argumenten prüfen« und der sich nicht nur »kompetent im diskursiv propositionalen Sprachspiel« 468 bewegen kann, sondern der bei alledem ein Urteilsvermögen erworben hat, das ihn befähigt, die Nuancen in ethisch strittigen Situationen wahrzunehmen und zu erklären. Mit dem nötigen Gespür für die tiefer liegenden Beweggründe des Handelns seiner Mitmenschen, das ihn dazu befähigt, rücksichtsvoll und taktvoll mit ihnen umzugehen. Da die aristotelische Lehrstückdidaktik auf die Entwicklung dieses Urteilsvermögen zielt, verlangt sie eine Neubestimmung der Prinzipien, die für die inhaltliche und methodische Gestaltung des Ethikunterrichts maßgebend sind.



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Jens Bonnemann: Leiblicher Ausdruck im bewegten Bild. Zum Bildungspotenzial des Films, S. 137. Er fügt an dieser Stelle zu Recht hinzu: »Keineswegs gilt dies natürlich für alle Filme und keineswegs nur für Spielfilme, sondern gerade auch für Dokumentarfilme wie etwa Claude Lanzmanns Shoa.« (Ebd., S. 137 f.) Vgl. Markus Tiedemann: Ethische Orientierung in der Moderne – Was kann philosophische Bildung leisten? S. 26.

4 . A NH A NG 4.1 Texte 4.1.1  Philippa Foot: Autonome Bewertung  Wie begründet Foot die Möglichkeit einer autonomen Bewertung eines Lebewesens ? Stellen Sie ihr Argument dar und berücksichtigen Sie dabei das Beispiel des lahmenden Hirsches ! T E X T Die Natur des Guten: Frankfurt am Main 2004, S. 54 f. ■ 

Also ist die »autonome« Bewertung eines bestimmten Lebewesens, d. h. eine Bewertung ohne Bezug auf unsere Interessen und Wünsche, dann möglich, wenn zwei Aussagetypen zusammenkommen: Aristotelian categoricals (LebensformBeschreibungen, die sich auf die Spezies beziehen) auf der einen Seite und Aussagen über bestimmte Individuen, die Gegenstand der Bewertung sind, auf der anderen Seite. Wir sollten uns an diesem Punkt an die frühere Diskussion von »gut« und »schlecht«, angewendet auf Eigenschaften und Vollzüge von Pflanzen und Tieren, erinnern. Folgende Elemente kamen ans Tageslicht: (a) Der Lebenszyklus, der in diesen Fällen, grob gesagt, in Selbsterhaltung und Fortpflanzung besteht. (b) Das Ensemble von Aussagen, die angeben, wie Nahrung aufgenommen wird, wie Entwicklung stattfindet, welche Mittel der Verteidigung zur Verfügung stehen und wie Fortpflanzung gesichert wird. (c) Von alledem werden Normen abgeleitet, die zum Beispiel vom Hirsch eine bestimmte Schnelligkeit, von der Eule Nachtsicht und vom Wolf kooperative Jagd verlangen. (d) Durch die Anwendung dieser Normen auf ein Exemplar der betreffenden Spezies urteilen wir, daß es (dieses Individuum) so ist, wie es sein sollte, oder aber, daß es in einer bestimmten Hinsicht mehr oder weniger defekt ist. Hier gibt es viele Details, die für das Ziel dieses Buches nicht von Belang sind. Man muß aber mehr darüber sagen, wie Aristotelian categoricals, indem sie das Wie und das Was des Lebenszyklus beschreiben, die Normen bestimmen, nach denen einzelne Lebewesen, die hier und jetzt existieren bzw. dann und dort existiert haben, zu beurteilen sind. Zur Veranschaulichung wollen wir folgendes Aristotelian categorical betrachten: »Der Hirsch ist ein Tier, dessen Verteidigungsform die Flucht ist.« Daraus ergibt sich, daß einem Hirsch, der langsam zu Fuß ist, etwas fehlt. Ein Hirsch

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Kapitel 4

benötigt Schnelligkeit, um seinen Verfolgern zu entkommen, nicht Aggressivität oder Tarnung. Doch hier müssen zwei Bemerkungen hinzugefügt werden. Erstens: Schnelligkeit ist für sein Überleben nur angemessen – in manchen Situationen wird auch die (für diese Tierart) größtmögliche Geschwindigkeit nicht ausreichen. Außerdem kann es manchmal vorkommen, daß durch Zufall gerade der schnellste Hirsch auf der Flucht vor einem Verfolger in eine Falle gerät. Zweitens: Was ein Vorzug und was ein Defekt ist, hängt von dem natürlichen Umfeld der Spezies ab. Auch in einem Zoo ist ein Fluchttier wie der Hirsch, wenn es lahmt, insofern defekt und nicht, wie es sein sollte – obwohl das unter den zufälligen Umständen weder für Verteidigung noch für Nahrungsaufnahme, Paarung oder Aufzucht der Jungen ein Nachteil sein muß.

4.1.2  Aristoteles: Die Bestimmung des menschlichen Glücks im Hinblick auf sein artspezifisches ergon  Nehmen Sie an, dass jemand aus der Klasse behauptet, Aristoteles sage an dieser Stelle genau dasselbe wie einer der Mitschüler, die vorhin den Part des Philosophen übernommen und dem Athener Kaufmann erklärt haben, was er nicht begriffen hat ! Wenn Sie das anders sehen, haben Sie gleich die Möglichkeit zu widersprechen und uns zu erklären, was der Philosoph tatsächlich sagen will. Das sollten Sie auch dann versuchen, wenn Sie mit der Behauptung des Mitschülers einverstanden sind. Nehmen Sie sich die dafür nötige Zeit und machen Sie sich Notizen, denn wir wollen das nachher gemeinsam besprechen. T E X T Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. ■  Reinbek bei Hamburg 2015. NE, I, 6, 1097b 20 – 1098a 19. S. 55 ff.

Das Glück erweist sich also als etwas, das abschließend und autark ist; es ist das Ziel all dessen, was wir tun. (1.) Doch zu sagen, dass das beste Gut im Glück besteht, ist wohl offensichtlich ein Gemeinplatz, und man wünscht sich, noch genauer erläutert zu haben, was es ist. (2.) Nun wird das vielleicht geschehen können, wenn man die Funktion (ergon) des Menschen erfasst. (a) Wie man nämlich annimmt, dass für den Flötenspieler, den Bildhauer und jeden Fachmann in einem Herstellungswissen, allgemein für jeden, der eine bestimmte Funktion und Tätigkeit (praxis) hat, »gut« (agathos) und »auf gute Weise« (eu) in der Funktion liegt, so sollte man annehmen, dass das wohl auch für den Menschen zutrifft, wenn er wirklich eine bestimmte Funktion hat. (b) Sollten also wirklich der Schreiner und der Schuster bestimmte Funktionen und Tätigkeiten haben, der Mensch hingegen keine, sondern von Natur aus ohne Funktion sein ? Oder kann man, ebenso wie offensichtlich das Auge, die Hand, der Fuß, allgemein jedes Körperteil eine bestimmte Funktion besitzt, so auch für den Menschen eine bestimmte Funktion neben all diesen Funktionen ansetzen ?



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227

(c) Welche nun könnte das sein ? Das Leben scheint der Mensch mit den Pflanzen gemeinsam zu haben, gesucht ist aber die ihm eigentümliche (idios) Funktion. Das [vegetative] Leben der Ernährung und des Wachstums ist also auszusondern. Als Nächstes käme wohl das Leben der Wahrnehmung, doch auch dieses teilt der Mensch offenkundig mit dem Pferd, dem Rind und überhaupt mit jedem Tier. Übrig bleibt also ein tätiges Leben desjenigen Bestandteils in der menschlichen Seele (psychē), der Vernunft (logos) besitzt; von diesem hat ein Teil Vernunft in der Weise, dass er der Vernunft gehorcht, der andere so, dass er sie hat und denkt. Da aber auch von diesem letzteren Teil in zwei Bedeutungen gesprochen wird, müssen wir sagen, dass er im Sinn der Betätigung (energeia) zu verstehen ist, da er so im eigentlicheren Sinn bezeichnet werden dürfte. (3.) Wenn nun die Funktion des Menschen eine Tätigkeit (energeia) der Seele entsprechend der Vernunft (kata logon) oder wenigstens nicht ohne Vernunft ist und wenn wir sagen, dass die Funktion eines So-und-so und die eines guten (spoudaios) So-und-so zur selben Art gehören, zum Beispiel die eines Kitharaspielers und die eines guten Kitharaspielers, und so überhaupt in allen Fällen, wobei das Herausragen im Sinn der Gutheit (aretē) zur Funktion hinzugefügt wird (denn die Funktion eines Kitharaspielers ist, die Kithara zu spielen, und die Funktion des guten Kitharaspielers, das auf gute Weise (eu) zu tun) – wenn das der Fall ist, wenn wir aber als die Funktion des Menschen eine bestimmte Lebensweise annehmen, und zwar eine Tätigkeit der Seele oder der Vernunft entsprechende Handlungen, als die Funktion des guten Menschen aber, diese Handlungen auf gute und angemessene (kalōs) Weise zu tun, und wenn jede Handlung gut verrichtet ist, wenn sie im Sinn der eigentümlichen Tugend verrichtet ist – wenn es sich so verhält: dann erweist sich das Gut für den Menschen (to anthrōpinon agathon) als Tätigkeit (energeia) der Seele im Sinn der Gutheit (kat´aretēn), und wenn es mehrere Arten der Gutheit gibt, im Sinn derjenigen, welche die beste und am meisten ein abschließendes Ziel (teleios) ist. (4.) Hinzufügen müssen wir: »in einem ganzen Leben«. Denn eine Schwalbe macht noch keinen Frühling, auch nicht ein Tag. So macht auch ein Tag oder eine kurze Zeit keinen selig (makarios) und glücklich (eudaimōn).

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Kapitel 4

4.1.3  Aristoteles: Glück und Freude  Lesen Sie den Text. Es ist nach der ersten Textbesprechung Ihre Aufgabe, vor die Klasse zu treten und den beiden Diskuswerfern Robert und Alexander, die nicht am Unterricht teilgenommen haben, zu erklären, was sie bisher vielleicht noch nicht von sich selbst verstanden haben. Zur Vorbereitung dieser Aufgabe tauschen Sie sich nach dem eigenständigen Lesen des Textes mit Ihrem Banknachbarn darüber aus, welche Fragen sich den beiden auftun könnten und wo sie ggf. Verständnisschwierigkeiten haben werden. Bitte beachten Sie für Ihren anschließenden Auftritt den Hinweis, dass konkrete Beispiele aus dem Leben am besten geeignet sind, um Ihr Verständnis zu verdeutlichen. T E X T

(Der Text wurde leicht gekürzt.)

Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. ■  Reinbek bei Hamburg 2015. NE, I, 9, 1098b 30 – 1099a 30. S. 59 ff.

Mit denjenigen nun, die das Glück mit der Tugend oder einer bestimmten Art der Tugend gleichsetzen, ist unsere Erklärung im Einklang; denn zur Tugend gehört die entsprechende Tätigkeit (energeia). Es macht aber gewiss keinen geringen Unterschied, ob man das beste Gut im Besitzen oder im Gebrauchen vermutet, das heißt in einer Disposition (hexis) oder in einer Betätigung (energeia). Denn eine Disposition kann vorhanden sein, ohne ein gutes Ergebnis (agathon ti) hervorzubringen – wie bei jemandem, der schläft oder auf andere Art völlig untätig ist –, während das bei einer Tätigkeit nicht möglich ist; denn wo die Tätigkeit vorhanden ist, handelt man notwendigerweise, und man handelt gut. Wie bei den Olympischen Spielen nicht die Edelsten (kalos) und Stärksten den Siegeskranz erhalten, sondern diejenigen, die am Wettkampf teilnehmen (denn aus ihnen gehen die Sieger hervor), so erlangen auch die edlen und guten Dinge (kala k`agatha) im Leben diejenigen, die richtig handeln. Ihr Leben ist auch als solches (kath` hauto) angenehm (hēdy). Sich zu freuen (hēdesthai) gehört nämlich zu den seelischen Dingen. Dabei freut sich jeder an dem, wovon er ein Liebhaber genannt wird, zum Beispiel der Pferdeliebhaber an Pferden, der Liebhaber von Schauspielen an Schauspielen; auf dieselbe Weise freut sich der Gerechtigkeitsliebende an gerechten Handlungen, und überhaupt der Liebhaber der Tugend an Handlungen der Tugend. Für die Leute aus der Menge nun stehen die angenehmen Dinge miteinander in Konflikt, weil sie nicht von Natur aus angenehm sind, während für die, die das Werthafte (kalon) lieben, das angenehm ist, was von Natur aus angenehm ist; so beschaffen aber sind die Handlungen der Tugend, sodass sie erfreulich sowohl für diese Menschen wie auch als solche sind. Das Leben dieser Menschen bedarf also nicht zusätzlich der Lust wie eines schmückenden Umhangs, es hat vielmehr seine Lust in sich. […] Das Glück ist also das Beste (ariston), Werthafteste (kaliston) und Erfreulichste (hēdiston), und diese Eigenschaften lassen sich nicht trennen, wie es in der delischen Inschrift geschieht: »Das Werthafteste ist das Gerechteste, das Beste ist



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die Gesundheit, das Erfreulichste ist, das zu bekommen, was man möchte.« Denn alle diese Eigenschaften kommen den besten Tätigkeiten zu; diese aber, oder eine – die beste – von ihnen, ist, so sagen wir, das Glück.

4.1.4  Aristoteles: Der Entstehungsprozess der Tugenden  Lesen Sie den Text und beantworten Sie die beiden Fragen mit Blick auf die Tugendentwicklung bei Frieda:

1. Wie wird man eine ethisch tüchtige Persönlichkeit ? 2. Worauf kommt es in diesem Zusammenhang besonders an ?



Schreiben Sie dazu in ein paar Sätzen Ihre Gedanken auf !

T E X T Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. ■  Reinbek bei Hamburg 2015. NE, II, 1, 1103a 32 – b 3, 1103b 7 – b 25. S. 74 f.

Die Tugenden hingegen erwerben wir dadurch, dass wir sie zuvor betätigen, wie das auch bei den Arten des Herstellungswissens (technē) der Fall ist. Denn was wir erst lernen müssen, um es zu machen (poiein), lernen wir, indem wir es machen. Zum Beispiel wird man Baumeister dadurch, dass man baut, und Kitharaspieler dadurch, dass man die Kithara spielt. So werden wir auch gerecht dadurch, dass wir Gerechtes tun (prattein), mäßig dadurch, dass wir Mäßiges, und tapfer dadurch, dass wir Tapferes tun. […] Ferner: Dasjenige, woraus und wodurch jede Tugend, und ebenso jedes Herstellungswissen, sowohl entsteht als auch vergeht, ist ein und dasselbe. So entstehen aus dem Kitharaspielen sowohl die guten als auch die schlechten Kitharaspieler. Und Entsprechendes gilt für Baumeister und alle Übrigen; aus dem guten Bauen gehen gute Baumeister hervor, aus dem schlechten schlechte. Wenn es sich nicht so verhielte, dann brauchte man keine Lehrer, sondern alle würden als gute oder als schlechte [Baumeister] geboren. So verhält es sich nun auch bei den Tugenden: Indem wir im Verkehr mit anderen Menschen so oder so handeln, werden die einen von uns gerecht, die anderen ungerecht, und indem wir in Gefahrensituationen handeln und uns ans Fürchten oder Mut­haben gewöhnen, werden wir tapfer oder feige. Ebenso steht es auch mit den Handlungen im Bereich der Begierde (epithymia) und des Zorns (thymos). Die einen werden mäßig und mild, die anderen unmäßig und erzürnbar, indem sich die einen in derartigen Situationen so verhalten, die anderen so. Mit einem Wort: Die Dispositionen (hexis) entstehen aus den entsprechenden Tätigkeiten (energeia). Aus diesem Grund müssen wir den Tätigkeiten, die wir ausüben, eine bestimmte Qualität geben, eben weil den Unterschieden zwischen diesen die Dispositionen entsprechen. Es kommt also nicht wenig darauf an, ob man schon von Kindheit an so oder so gewöhnt wird; es hängt viel davon ab, ja sogar alles.

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4.1.6

Kapitel 4

Aristoteles: Die Tugendlehre

 Lesen Sie den Text. Fassen Sie zunächst in eigenen Worten die aristotelische Unterscheidung zwischen der natürlichen und der eigentlichen Tugend zusammen. Machen Sie sich diese Unterscheidung an einem selbstgewählten Beispiel klar. Versuchen Sie anschließend, Ihrem Banknachbarn diese Unterscheidung an dem Beispiel deutlich zu machen. Ihr Banknachbar hat den Auftrag, Ihnen nach kurzer Bedenkzeit ein paar weiterführende Fragen zu stellen. Dann tauschen Sie bitte die Rollen. Zu guter Letzt bereiten Sie sich zu zweit auf einen fünfminütigen Kurzvortrag vor, den einer von Ihnen vor den Mitschülern halten soll ! Ein Hinweis: Zur Illustration sollten Sie unbedingt auf Ihr Beispiel zurückgreifen. Es soll den Zuhörern dabei helfen, diese Unterscheidung besser zu verstehen. TEX T Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. ■  Reinbek bei Hamburg 2015. NE, VI, 13, 1144b 5–17. S. 214 f.

Denn man nimmt allgemein an, dass uns die einzelnen Tugenden auf gewisse Weise von Natur aus zukommen, da wir gerecht, mäßig, tapfer usw. sofort von Geburt an sind. Und dennoch suchen wir das Gute im eigentlichen Sinn als etwas anderes und wollen, dass diese Tugenden uns auf andere Weise zukommen. Denn die natürlichen Dispositionen kommen auch Kindern und Tieren zu, doch ohne Denken (nous) erweisen sie sich als schädlich. So viel scheint ersichtlich: Wie ein starker Körper, der sich ohne Sehvermögen bewegt, schwer stürzen kann, weil ihm die Sicht fehlt, so verhält es sich auch hier. Wenn man aber das Denken erwirbt, bedeutet das einen Unterschied für das Handeln, und die Dispositionen, die bisher der Tugend nur ähnlich war, wird dann eine Tugend im eigentlichen Sinn sein. Wie es beim meinenden Bestandteil [der Seele] zwei Arten gibt, die Geschicklichkeit und die Klugheit, so gibt es also auch im Bereich des Charakters zwei Arten, einerseits die natürliche Tugend, andererseits die Tugend im eigentlichen Sinn, und von diesen beiden kommt die Tugend im eigentlichen Sinn nicht ohne Klugheit zustande.



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4.1.7

231

Aristoteles: Die mesotes-Lehre

 Lesen Sie bitte den Text. Überlegen Sie sich erstens mit Blick auf unsere Szenerie, was genau Aristoteles mit der »Mitte für uns« meinen könnte. Stellen Sie sich zweitens Folgendes vor: Heutzutage gibt es ja nicht nur Trainer, die mit berühmten Athleten wie Milon zusammenarbeiten und sich um ihre körperliche Fitness und ihre Ernährungsgewohnheiten kümmern, sondern die Sportler erhalten stets auch eine psychologische Beratung. Solche Berater finden sich häufig auch in modernen Partnerschaftsagenturen. Ihre Aufgabe ist es, den suchenden Singles kluge Ratschläge übers Internet mit auf den Weg zu geben – so auch bei Franz: »Halte dich bei deiner Partnersuche an das allgemeine Prinzip ›Nichts im Übermaß‹ (meden agan) !

Hilft ein solcher Ratschlag des Maßhaltens Franz wirklich weiter ? Beantworten Sie die Frage schriftlich aus der Sicht von Aristoteles, indem Sie an den psychologischen Berater eine kurze E-Mail schreiben.

TEX T Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. ■  Reinbek bei Hamburg 2015. NE, II, 5, 1106a 27–1106b 7. S. 83

Bei allem Kontinuierlichen und Teilbaren kann man einen größeren, einen kleineren oder einen gleichen Beitrag nehmen, und dies entweder in Bezug auf die Sache selbst oder in Bezug auf uns. Das Gleiche ist eine Art Mittleres (meson) zwischen Übermaß (hyperbolē) und Mangel (elleipsis). Ich nenne aber das Mittlere der Sache das, was gleich weit von beiden Extremen entfernt ist, und das ist für alle ein und dasselbe. Hingegen meine ich mit dem Mittleren in Bezug auf uns, was weder zu viel noch zu wenig ist; dies ist nicht eines, und es ist auch nicht für alle dasselbe. Wenn zum Beispiel zehn viel und zwei wenig ist, dann nimmt man als das der Sache nach Mittlere sechs, da es um den gleichen Betrag übertrifft und übertroffen wird; das ist die Mitte nach der arithmetischen Proportion. Das Mittlere in Bezug auf uns darf man jedoch nicht so nehmen. Wenn für jemanden Nahrung von zehn Minen zu viel und Nahrung von zwei Minen zu wenig ist, dann wird der Trainer nicht Nahrung von sechs Minen vorschreiben; denn vielleicht ist auch das für denjenigen, der die Nahrung aufnehmen soll, zu viel oder zu wenig – für Milon wenig, für einen Anfänger in den athletischen Übungen viel. Dasselbe gilt für Wettlauf und Ringkampf. So meidet also jeder Kundige Übermaß und Mangel, das Mittlere dagegen sucht er und wählt eben dieses, und zwar das Mittlere nicht der Sache, sondern in Bezug auf uns.

232

Kapitel 4

4.1.8  Aristoteles: Die Anforderungen an einen guten Charakter  Bitte setzen Sie sich mit dem Partner zusammen, mit dem Sie auch das Storyboard für die Drehbuchszene zur Metanoia Falstaffs geschrieben haben. In dieser Nachbesprechung sollen Sie nun gemeinsam die Frage beantworten, ob Sie in Ihrem Drehbuch den aristotelischen Anforderungen an einen guten Charakter gerecht geworden sind. Das zeigt sich am besten, wenn Sie die Thesen, die Sie dazu selbst aufgestellt haben, noch einmal aufgreifen und so übersichtlich anordnen, dass Sie ihnen die Aussagen des Aristoteles gegenüberstellen können. TEX T Poetik: Übersetzt und erläutert von Arbogast Schmitt. Berlin 2008. 1454a 16–29. S. 21 ■ 

Was die Charaktere betrifft, so muss man vier [Forderungen] zu erfüllen suchen, eine davon – und die grundlegende – ist, dass die Charaktere gut sein sollen. Charakter hat jemand, wenn, wie gesagt, sein Reden oder Handeln irgendeine Tendenz, Bestimmtes vorzuziehen, erkennen lässt, und einen guten, wenn diese Tendenz gut ist. Das gibt es in jedem Geschlecht und gesellschaftlichem Rang […]. Zweitens müssen die Charakterzüge angemessen sein […]. Das Dritte ist, dass [der Charakter uns] ähnlich sein soll […]. Das Vierte ist, dass [der Charakter] konsistent sein soll. Denn auch wenn der, der das Vorbild für die Nachahmung bietet, sich selbst nicht treu bleibt, und ein solcher Charakter Gegenstand der Nachahmung ist, muss das Ungleichmäßige als [dessen charakterliche] Konstante dargestellt werden.

4.1.9  Aristoteles: Die Festlegung der Norm  1. Warum verfehlt Falstaff die Norm ?

2. Wer legt fest, was gut bzw. die Norm ist ?

TEX T Nikomachische Ethik: ■ 

Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf.

Reinbek bei Hamburg 2015. NE, VII, 8, 1150b 1–19. S. 235 f.

Wer nun versagt, wo die meisten widerstehen und dies vermögen, ist weichlich und verwöhnt. Denn auch die Verwöhntheit (tryphē) ist eine Art der Weichlichkeit. Wer sein Kleid auf dem Boden schleppen lässt, um die Unlust durch die Mühe des Aufhebens zu vermeiden, und wer den Überanstrengten spielt, hält sich nicht für unglücklich, obwohl er einem Unglücklichen gleicht. Ebenso verhält es sich auch bezüglich der Beherrschtheit und Unbeherrschtheit. Denn es ist nicht erstaunlich, wenn jemand von starker und übergroßer Lust oder Unlust besiegt wird – vielmehr ist das verzeihlich, wenn er versucht hat, zu widerstehen, wie es der Philoktet des Theodektes getan hat, als er von der Schlange gebissen wurde,



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233

oder Kerkyon in der Alope des Karkinos oder wie diejenigen, die das Lachen zurückzuhalten versuchen, plötzlich losprusten, wie es dem Xenophantos passiert ist. Erstaunlich ist es hingegen, wenn jemand den Dingen, denen die meisten widerstehen können, unterliegt und ihnen nicht Widerstand zu leisten vermag, und zwar nicht durch Vererbung oder Krankheit (wie die erbliche Weichlichkeit bei den skythischen Königen) oder wie sich das Weibliche vom Männlichen unterscheidet. Man hält auch denjenigen, der das Vergnügen liebt, für unmäßig, er ist jedoch in Wirklichkeit weichlich. Denn Vergnügen bedeutet Entspannung, da es ja eine Erholung ist; und wer das Vergnügen liebt, gehört zu denen, die hierin das Übermaß suchen. NE, X, 5, 1175b 25–29. S. 323

Da sich aber die Tätigkeiten durch Gutheit und Schlechtigkeit unterscheiden und einige wählenswert, andere zu meiden sind, wieder andere keines von beidem, verhalten sich ebenso auch die Arten der Lust. Denn zu jeder Tätigkeit gibt es eine ihr eigentümliche Lust. Die der guten Tätigkeit eigentümliche Lust nun ist gut, die der schlechten eigentümliche schlecht. Denn auch die Begierden nach werthaften Dingen sind lobenswert, die nach niedrigen Dingen aber tadelnswert. NE, X, 5, 1176a 10–23. S. 324 f.

Die Arten der Lust weichen aber zumindest bei den Menschen nicht wenig voneinander ab: Dieselben Dinge bereiten den einen Menschen Freude und den anderen Unlust, und sie sind den einen unangenehm und verhasst, anderen angenehm und lieb. Dasselbe geschieht auch bei süßen Dingen. Denn dem Fiebernden und dem Gesunden erscheint nicht dasselbe als süß und dem Schwachen und dem Kräftigen nicht dasselbe als warm. Und so auch in anderen Fällen. In allen solchen Dingen aber gilt dasjenige als [wirklich] so beschaffen, was dem Guten so erscheint. Wenn dieser Satz aber, wie man annehmen darf, richtig ist und wenn das Maß einer jeden Sache die Gutheit (aretē) und der Gute (agathos) ist, insofern er gut ist, dann wird auch die [wirkliche] Lust diejenige sein, die diesem als solche erscheint, und dasjenige [wirklich] lustvoll, woran dieser sich freut. Wenn aber das, was ihm lästig ist, einem anderen als lustvoll erscheint, so ist das nicht verwunderlich, denn Menschen können auf viele Weisen verdorben und geschädigt sein; aber diese Dinge sind nicht lustvoll, vielmehr sind sie nur lustvoll für diese Menschen und für Menschen in einer solchen Verfassung. Diejenige Lust also, die nach allgemeiner Übereinstimmung niedrig ist, darf man offenkundig nicht als Lust bezeichnen, es sei denn als solche für verdorbene Menschen.

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Kapitel 4

4.1.10  Aristoteles: Der Typus des phronimos  Entwickeln Sie in Partnerarbeit ein Modell, in dem Sie die wichtigsten Charaktereigenschaften des phronimos festhalten und darüber hinaus eine sinnvolle Gewichtung dieser Eigenschaften vornehmen. Stellen Sie anschließend Ihr Modell an der Tafel vor. TEX T Nikomachische Ethik: Übersetzt und herausgegeben von Ursula Wolf. Reinbek bei Hamburg ■  2015. | Politik: Nach der Übersetzung von Franz Susemihl. Mit Einleitung, Bibliographie und zusätzlichen Anmerkungen von Wolfgang Kullmann. Reinbek bei Hamburg 1994 [1965]. NE,  VI, 5, 1140b 8–12. S. 200

Aus diesem Grund glauben wir, dass Perikles und Menschen seiner Art klug sind, weil sie nämlich erwägen können, was für sie selbst und die Menschen gut ist; auch diejenigen, die ein Haus oder einen Staat leiten, halten wir für so beschaffen. Daher geben wir auch der Mäßigkeit (sōphrosynē) diesen Namen, um auszudrücken, dass sie die Klugheit bewahrt (sōzei tēn phronēsin). Sie bewahrt nämlich das so [wie beschrieben] beschaffene Urteil (hypolēpsis). NE, III, 6, 1113a 25–30. S. 107

Für den guten Menschen (spoudaios) wäre es dann das, was in Wahrheit Gegenstand des Wünschens ist, für den Schlechten etwas Beliebiges, ebenso wie im physischen Bereich für Körper in guter Verfassung diejenigen Dinge gesund sind, die wahrhaft gesund sind, für die kranken Körper aber andere Dinge – und dasselbe gilt für bitter, süß, warm, schwer usw. Der Gute beurteilt jedes Einzelne richtig, und in allen Einzelsituationen zeigt sich ihm, was wahr ist. NE, IV, 14, 1128a 31. S. 157

Der kultivierte und vornehme Mensch wird sich auf diese Weise verhalten, indem er sich gewissermaßen selbst Gesetz (nomos) ist. NE, IX, 4, 1166a 12–20. S. 290 f.

Wie gesagt scheint aber das Maß (metron) aller Dinge jeweils die Gutheit (aretē) und der Gute (spoudaios) zu sein. Denn dieser ist mit sich selbst in Übereinstimmung, und er strebt mit seiner ganzen Seele nach denselben Dingen. Und er wünscht folglich sich selbst das Gute oder das, was als gut erscheint, und tut es (denn es ist Kennzeichen des guten Menschen, dass er das Gute durchführt), und zwar um seiner selbst willen, nämlich dem denkenden (dianoētikon) Teil zuliebe, den man für dasjenige hält, was jeder Mensch seinem Wesen nach ist. Und er wünscht, dass er selbst lebt und erhalten bleibt, und insbesondere derjenige Teil in ihm, mit dem er denkt. Denn für den guten Menschen ist sein Sein (to einai) etwas Gutes, und jeder wünscht das Gute sich selbst.



Anhang · Texte

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Politik, I, 6, 1255a 12–18. S. 55

[B]is zu einem gewissen Grade [ist] eben die Tugend (aretē), sobald sie sich im Besitz der erforderlichen Mittel befindet, dasjenige […], was am meisten die Macht dazu verleiht, andere zu überwältigen, und daß immer der Sieger dem Besiegten nach irgendeiner Richtung hin an Trefflichkeit überlegen ist, so daß die Gewalt (bia) nie ohne eine gewisse Tugend zu sein scheint und der Streit nur die rechtmäßige Ausübung der Gewalt betrifft […].

Entdeckung auf dem Logenplatz

Äußere Erscheinung

Aristoteles-Büste: http://static.geo.de · Plötzlich Prinzessin: http://img.bibo.kz · Text: Johannes Hachmöller Aus: Mario Ziegler, Ethik in Szene setzen. Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis, © 2021 Felix Meiner Verlag, Hamburg

Widerspruch?

Das ist gut so. Denn die Macht des Ansehens sorgt dafür, dass alle Mitbürger sich anstrengen, eine gute Figur zu machen. Der Mensch ist kein Naturwesen, das ist, wie es ist. Er ist vielmehr ein zōon politikon, sprich: ein Lebewesen, das von seinen Mitmenschen geschätzt werden will und das ihre Geringschätzung fürchtet und meiden muss. Jemand, der diese Macht nicht spürt oder nicht anerkennt, lässt sich gehen. Ich verachte Athener, die sich nicht pflegen und die nichts aus sich zu machen versuchen. Das sind doch kümmerliche und lächerliche Gestalten!

Urteil des Aristoteles:

Aristotelischer Blick auf das System der gegenseitigen Hoch- und Geringschätzung

Damit ergibt sich ein neuer Maßstab für das Urteil über die Vortrefflichkeit der Menschen. Entscheidend ist, auf welche Weise sich jemand auf die Macht des Ansehens einstellt. Der eine tut zu viel, der andere zu wenig für seine äußere Erscheinung. Wer kann sagen, was richtig ist?

Arbeitsblatt 1a

236 Kapitel 4

4.2 Arbeitsblätter

Beobachtung

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Entwicklung der menschlichen Möglichkeiten

Aristoteles-Büste: http://static.geo.de / Kitharaspieler: http://ats.ancientlyre.com · Hände: http://www.wissenschaft.de Text: Johannes Hachmöller · Aus: Mario Ziegler, Ethik in Szene setzen. Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis, © 2021 Felix Meiner Verlag, Hamburg

Gerin

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Anhang · Arbeitsblätter

3.

2.

1.

Angenommen: Laches und Leukippos haben von Natur aus dieselbe geistige Begabung und dasselbe Interesse für die Naturerscheinungen. Leukippos entwickelt sich tatsächlich zu einem tüchtigen Physiker, Laches aber keineswegs. Wie ist das zu erklären? Dazu ein paar Thesen:

Aufgabe

We r

Gesellschaft.

seinem Ansehen liegt, ist ein Mitglied der

Möglichkeiten! Nur der Mensch, dem etwas an

die Entwicklung der höheren menschlichen

Gesellschaft ist die Bedingung für

Das Leben in der

Dianoetische, musische und handwerkliche Tüchtigkeit

Aristotelischer Blick auf das System der gegenseitigen Hoch- und Geringschätzung

Die Bürger achten bei der Beurteilung ihre Mitbürger insbesondere auf die Tüchtigkeit. Hoch geschätzt wird der vorzügliche Kithara-Spieler, der brillante Physiker, der gute Baumeister. Gering geschätzt wird, wer auf seinem Gebiet nicht viel kann. Darum strengt sich jeder an, seine Fähigkeiten auf möglichst vielen Gebieten zu entwickeln.

Arbeitsblatt 1b

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Aristoteles Büste: http://static.geo.de · Robert Harting: https://www.sportbuzzer.de · Schwalbe rechts: https://www.mdr.de · Schwalbe mitte: http://www.naturfoto.cz · Schwalbe links: https://www.pinterest.fr Text: Johannes Hachmöller · Aus: Mario Ziegler, Ethik in Szene setzen. Die Nikomachische Ethik als Lehrstück in der Unterrichtspraxis, © 2021 Felix Meiner Verlag, Hamburg

Wie staunenswert weit schleudert doch Robert die Scheibe. Er beherrscht diese Kunst zwar nicht von Geburt an. Aber …

Forschender Blick auf Robert, den vortrefflichen Diskuswerfer

für Aristote le

s Von oben au f das Treiben de r Mitbürger he schauend. Si runter ch erhebend über die Vers dialektischen uche einer Bestimmung des Begriffs tigkeit oder de der Tüchr Vortrefflichk eit.

Logenplatz

Aristoteles betrachtet ein sportliches Naturtalent

Wie staunenswert gut können die Schwalben doch fliegen! Sie beherrschen diese Kunst zwar nicht von Anfang an. Aber sie haben von Natur aus die Anlage, diese Fähigkeit zu entwickeln. Sie lernen und beherrschen diese Kunst, weil sie diese ständig üben. Haben sie keine Gelegenheit dazu, verkümmert diese Fähigkeit. Sie sind in der besten Verfassung, wenn sie das tun, wozu sie von Natur aus veranlagt sind. Ich bewundere die Schwalben!!

Arbeitsblatt 2

238 Kapitel 4

Literaturverzeichnis Adorno, Theodor W.: Erziehung zur Mündigkeit. Vorträge und Gespräche mit Hellmut Becker 1959–1969. Herausgegeben von Gerd Kadelbach. Frankfurt am Main 1971. Anderegg, Michael: Orson Welles, Shakespeare, and Popular Culture. New York 1999. Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants Politischer Philosophie. Dritter Teil zu »Vom Leben des Geistes«. Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einem Essay von Ronald Beiner. Aus dem Amerikanischen von Ursula Ludz. München 2017 [1985]. – : »Verstehen und Politik.« In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994. S. 110–127. – : »Wahrheit und Politik«. In: Ursula Ludz (Hrsg.): Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I. München 1994. S. 327–370.

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240 Literaturverzeichnis

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