Kohärenzbegriffe in der Ethik 9783110210231, 9783110204230

Talk of coherence in ethics is popular. Particularly when dealing with the justification of ethical judgments, one frequ

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German Pages 463 [464] Year 2008

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Inhaltsverzeichnis
1. Einleitung
2. Ein kognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen
3. Ein nonkognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die Rechtfertigung moralischer Pro-Einstellungen
4. Ein motivationstheoretischer Ansatz: Kohärenz als notwendige Bedingung für die motivierende Kraft moralischer Gründe
5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz: Kohärenz von Präferenzen als notwendige Bedingung der Rationalität moralischer Entscheidungen
6. Analyse der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Kohärenztheorien und Zusammenfassung der Ergebnisse
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Kohärenzbegriffe in der Ethik
 9783110210231, 9783110204230

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Martin Hoffmann Kohärenzbegriffe in der Ethik



Ideen & Argumente Herausgegeben von Wilfried Hinsch und Lutz Wingert

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Martin Hoffmann

Kohärenzbegriffe in der Ethik

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein

앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 978-3-11-020423-0 ISSN 1862-1147 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. 쑔 Copyright 2008 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Umschlaggestaltung: Martin Zech, Bremen Umschlagkonzept: ⫹malsy, Willich

für Annette und Philine

Danksagung Das Buch Kohärenzbegriffe in der Ethik entspricht mit leichten Veränderungen meiner Dissertationsschrift, die im Dezember 2007 an der Universität Hamburg angenommen wurde. Mein Dank gilt an erster Stelle den beiden Gutachtern der Dissertation: Herrn Prof. Ulrich Gähde, der den gesamten Entstehungsprozess in ebenso kritischen wie ermutigenden und unterstützenden Diskussionen begleitet hat, sowie Herrn Prof. Wolfgang Künne, dem ich viele wertvolle Anregungen verdanke, die bei der Erstellung der hier nun in Buchform vorliegenden Version des Manuskripts eine große Hilfe waren. Weiterhin danke ich allen, die mich durch kritische Nachfragen bei Vorträgen sowie in persönlichen Gesprächen dabei unterstützt haben, meine Meinungen zu den im Folgenden verhandelten Themen weiterzuentwickeln. Nennen möchte ich Prof. Thomas Bartelborth, Dr. Ali Behboud, Tilman Botzenhardt, Martin Cremer, Prof. Sabine Döhring, Dr. Michael Oliva Córdoba, Prof. Erik Olsson, Dr. Edith Puster, Prof. Rolf Puster, Burkhard Radtke, Prof. Hans Rott, Markus Säbel, Dr. Nico Scarano, Dr. Reinold Schmücker, Dr. Benjamin Schnieder, Prof. Bettina Schöne-Seifert, Prof. Mark Siebel und Dr. Frank Zenker. Die Diskussionen mit all diesen Personen haben meine Arbeit um Vieles bereichert. Besonders möchte ich mich bei meinen Eltern bedanken, die mich während meiner gesamten Ausbildung unterstützt haben. Schließlich gilt mein Dank den Institutionen, die die Entstehung und Drucklegung des vorliegenden Buches gefördert haben. Ich danke der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), die meine Arbeit an diesem Thema im Rahmen eines

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Danksagung

Forschungsprojekts unter der Leitung von Herrn Prof. Gähde ermöglicht hat, und der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses. Außerdem danke ich dem Verlag Walter de Gruyter für die freundliche Zusammenarbeit.

Inhaltsverzeichnis 1. Einleitung .......................................................................................1 1.1 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik.................................................................................1 1.2 Ein grundlegendes Problem für jede Untersuchung des Kohärenzbegriffs ............................................................6 1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung.......................11 1.3.1 Ebenen metaethischer Analysen............................. 14 1.3.2 Die Präzisierung der Kernthese der Untersuchung........................................................................... 17 1.3.3 Der Aufbau der Untersuchung ............................... 23 1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz........................27 1.4.1 Die Grundidee des Überlegungsgleichgewichts... 27 1.4.2 Die Untauglichkeit des Überlegungsgleichgewichts für die Explikation des Kohärenzbegriffs........................................................................ 29 1.4.3 Das Überlegungsgleichgewicht und der Kohärenzbegriff: unabhängig voneinander explizierbar oder nicht?............................................ 33 2. Ein kognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen.............37 2.1 Einleitung ..............................................................................37 2.2 Der moralische Kognitivismus ..........................................39 2.2.1 Der Begriff des Moralurteils.................................... 39 2.2.2 Was ist moralischer Kognitivismus? ...................... 43 2.2.3 Der moralische Kognitivismus und der moralische Realismus ............................................... 58

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Inhaltsverzeichnis

2.2.4 Vorläufiges Fazit und Ausblick auf das weitere Kapitel......................................................................... 70 2.3 Der Kohärenzbegriff als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung in der Ethik.......................72 2.3.1 Eine grundlegende Anfrage an die kognitivistische Epistemologie der Moral .............................. 73 2.3.2 Der Kohärenzbegriff in der allgemeinen Epistemologie: eine erste intuitive Annäherung .. 79 2.3.3 Die Anwendbarkeit des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs auf die moralische Epistemologie........................................ 84 2.3.4 Die Attraktivität des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus für die moralische Epistemologie............................................................ 88 2.3.5 Ein Einwand gegen die Identität des Kohärenzbegriffs in moralischen und nichtmoralischen Anwendungen ................................................ 93 2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung ......................................................................97 2.4.1 Sayre-McCords frühe Kohärenztheorie................. 98 2.4.2 Sayre-McCords späte Kohärenztheorie............... 117 2.5 Fazit..................................................................................... 134 3. Ein nonkognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die Rechtfertigung moralischer Pro-Einstellungen ................... 139 3.1 Einleitung ........................................................................... 139 3.2 Der moralische Nonkognitivismus ................................ 141 3.2.1 Propositionale Einstellungen ................................ 142 3.2.2 Der zentrale Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus........................................... 152 3.2.3 Kognitivismus versus Nonkognitivismus – die Abbildung der Dichotomie auf illokutionärer Ebene ............................................... 158 3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus................. 167 3.3.1 Blackburns Kohärenztheorie der Wahrheit für die Ethik ................................................................... 169

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3.3.2 Scaranos rechtfertigungstheoretische Kohärenztheorie ..................................................... 196 3.4 Das Problem der inhaltlichen Charakterisierung kohärenzstiftender Beziehungen im Nonkognitivismus . 209 3.4.1 Der Frege-Geach-Punkt ........................................ 212 3.4.2 Die Relevanz des Frege-Geach-Punkts im vorliegenden Kontext............................................. 218 3.4.3 Blackburns Lösungsansatz..................................... 220 3.4.4 Der Frege-Geach-Punkt: Ein schlagender Einwand gegen den Nonkognitivismus?............. 226 3.5 Fazit..................................................................................... 228 4. Ein motivationstheoretischer Ansatz: Kohärenz als notwendige Bedingung für die motivierende Kraft moralischer Gründe................................................................. 233 4.1 Einleitung ........................................................................... 233 4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe.......... 237 4.2.1 Smiths Ausgangspunkt: Humes Motivationstheorie ....................................................................... 238 4.2.2 Smiths Theorie instrumenteller Rationalität ....... 248 4.2.3 Zur Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen............................................................. 256 4.2.4 Ein vorläufiges Fazit............................................... 268 4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe............... 270 4.3.1 Die Problemstellung: Smiths Trilemma .............. 271 4.3.2 Smiths Analyse normativer Gründe..................... 277 4.3.3 Der Kohärenzbegriff in Smiths Theorie normativer Gründe................................................. 296 4.3.4 Das zentrale Problem in Smiths Theorie normativer Gründe: Warum kohärent sein? ....... 307 4.4 Fazit..................................................................................... 314 5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz: Kohärenz von Präferenzen als notwendige Bedingung der Rationalität moralischer Entscheidungen.................................................. 319 5.1 Einleitung ........................................................................... 319

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5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff in der Entscheidungstheorie ............. 322 5.2.1 Einführende Bemerkungen zum Präferenzbegriff........................................................................ 322 5.2.2 Jeffreys Interpretation des entscheidungstheoretischen Grundmodells: eine neohumeanische Theorie instrumenteller Rationalität .................... 326 5.2.3 Die Kohärenz von Präferenzen: die Axiome des Standardmodells............................................... 338 5.2.4 Zur Abgrenzung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs von den anderen drei Kohärenzbegriffen.................................................. 346 5.2.5 Die Offenheit der Entscheidungstheorie für alternative Interpretationen ................................... 353 5.2.6 Ein vorläufiges Fazit............................................... 358 5.3 Zwei exemplarische Anwendungen des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik ............. 359 5.3.1 Jeffreys Anwendung des entscheidungstheoretischen Grundmodells auf die Ethik: Die Logik moralischer Entscheidungen ................................. 360 5.3.2 Nida-Rümelins Verwendung des Kohärenzbegriffs zur Verteidigung des moralischen Nicht-Konsequentialismus .................................... 369 5.4 Fazit..................................................................................... 387 6. Analyse der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Kohärenztheorien und Zusammenfassung der Ergebnisse .......................................................................... 391 6.1 Einleitung ........................................................................... 391 6.2 Die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik.................................................................................... 396 6.2.1 Die Individuation der vier verschiedenen Kohärenzbegriffe .................................................... 396 6.2.2 Warum die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik bisher häufig übersehen wurde ............................................................. 402

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6.3 Die Unmöglichkeit der Einbettung der verschiedenen Kohärenzbegriffe in eine umfassende Kohärenztheorie für die Ethik........................................ 405 6.3.1 Theoretische Zielsetzungen und metaethische Voraussetzungen bei der Einführung von Kohärenzbegriffen in verschiedene Kohärenztheorien..................................................................... 405 6.3.2 Die Abhängigkeit des Überlegungsgleichgewichts vom Kohärenzbegriff ............................ 414 6.4 Vergleichende Bewertung der Einwände gegen die verschiedenen Kohärenztheorien................................... 420 6.4.1 Einwände gegen die Explikationen der Kohärenzbegriffe.............................................................. 421 6.4.2 Einwände gegen die theoretischen Zielsetzungen......................................................................... 422 6.4.3 Einwände gegen die jeweiligen metaethischen Voraussetzungen der verschiedenen Kohärenztheorien..................................................................... 423 6.4.4 Schlussfolgerungen ................................................. 425 6.5 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik? .......................................................................... 428 7. Literatur ..................................................................................... 431 8. Personenindex .......................................................................... 443 9. Sachindex................................................................................... 447

1. Einleitung 1.1 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik Kohärenz spielt in der Ethik eine wichtige Rolle. So wird in vielen Theorien, die die Rechtfertigung von Moralurteilen thematisieren, an zentraler Stelle auf einen Kohärenzbegriff verwiesen. Diese Verweise finden sich nicht nur im engeren Bereich der normativen Ethik, sondern in vielen Disziplinen der praktischen Philosophie, in der Metaethik ebenso wie in der angewandten Ethik und in der politischen Philosophie. Um diese Behauptung zu belegen, werden im Folgenden einige paradigmatische Ansätze angeführt. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Ansatz, in dem auf einen Kohärenzbegriff Bezug genommen wird, stellt das Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) dar. Diese Idee zur Rechtfertigung einer normativen Theorie der Gerechtigkeit wurde von John Rawls in seiner Monographie A theory of justice (1971) in die politische Philosophie eingeführt und erlangte in der Debatte schnell den Status eines allgemeinen Rechtfertigungsmodells für Moralurteile.1 Rawls geht in seinen Überlegungen von zwei Feststellungen aus: Erstens beinhaltet das Korpus unserer common sense-Urteile zur Gerechtigkeit und zur 1 Eine verwandte Rechtfertigungsidee hatte Rawls bereits 20 Jahre zuvor in einer Aufsatzpublikation formuliert (Rawls 1951). Allerdings setzte eine breitere Rezeption und Diskussion dieses Ansatzes erst 1971 nach der Veröffentlichung von A theory of justice ein. Eine Nachzeichnung der Entwicklung des Konzepts des Überlegungsgleichgewichts in Rawls’ Werk findet sich z. B. bei Hahn (2000, 23–62).

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1. Einleitung

Moral2 eine Vielzahl heterogener und teilweise sogar widersprüchlicher Urteile. Es stehen darin moralische Grundsätze und Prinzipien neben Einzelfallurteilen, die wir zwar jeweils für sich genommen akzeptieren und in unserer Praxis moralischen Entscheidens auch anwenden, die jedoch manchmal nicht zusammen passen. Es ist deshalb nicht möglich, auf Grundlage der Klasse unserer moralischen common sense-Urteile eine widerspruchsfreie, homogene Moraltheorie zu formulieren. Zweitens kann der Moraltheoretiker dieses Korpus in seiner Gesamtheit aber nicht leichten Herzens über Bord werfen. In der Moral gibt es keine tabula rasa. Eine akzeptable Theorie der Moral und der Gerechtigkeit muss diese vortheoretischen Urteile, so widersprüchlich und kontrovers sie auch sein mögen, zumindest teilweise integrieren. Wie kann diese Klasse unserer common sense-Urteile in eine gegenüber jedermann rechtfertigbare und hinreichend präzise Theorie der Gerechtigkeit überführt werden? Nach Rawls sollte der Moraltheoretiker seinen Überlegungen genau diejenigen common sense-Urteile zugrunde legen, die in Kenntnis aller relevanten Fakten, ohne emotionale Erregung und frei von egoisti2 An dieser Stelle wird zunächst nicht zwischen Moral und Gerechtigkeit unterschieden. Im Rahmen eines Referats von Rawls’ Rechtfertigungsansatz ist dies deshalb legitim, weil dieser selbst keine Unterschiede zwischen der Rechtfertigung einer Theorie der Gerechtigkeit und der Rechtfertigung einer Moraltheorie macht. So trägt das Unterkapitel, in dem er in A theory of justice das Überlegungsgleichgewicht einführt, die Überschrift: „Some remarks about moral theory“ (Rawls 1971, 46). In den aktuellen Debatten ist die Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Moral umstritten. Es muss als eine offene Frage angesehen werden, ob die Rechtfertigung von Moralurteilen durch den Verweis auf dasselbe Modell expliziert werden kann wie die Rechtfertigung einer Theorie der Gerechtigkeit. Geht es doch bei letzterer (auch) um die Rechtfertigung der Einrichtung gerechter Institutionen innerhalb einer Gesellschaft, was bei einer Rechtfertigung der Moral nicht integriert werden muss. Die vorliegende Untersuchung beschränkt sich auf die Analyse des Kohärenzbegriffs in der Ethik.

1.1 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik

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schen Interessen gefällt werden. Selbst diese wohlüberlegten Urteile (considered judgments) aber vermögen keine unerschütterliche Grundlage zu bieten. Ihnen wird bei Rawls nicht der Status unanfechtbar begründeter Prämissen zugeschrieben, aus denen alle übrigen Teile der Konzeption deduktiv ableitbar wären. Einschlägig für die Rechtfertigung einer Gerechtigkeitskonzeption ist vielmehr eine andere Idee: Its [a conception of justice’s] justification is a matter of the mutual support of many considerations, of everything fitting together into one coherent view. (Rawls 1971, 21)

In der politischen Philosophie wurde Rawls’ Rechtfertigungsansatz schnell rezipiert. Auch andere Autoren übernahmen seine Grundidee, die Entwicklung einer normativen Theorie als Prozess aufzufassen, in dem die Grundsätze der Theorie mit den Einzelfallurteilen, die sich in der gesellschaftlichen Entscheidungspraxis bewährt haben, abgeglichen werden müssen. Weder die Grundsätze noch die Einzelfallurteile stehen dabei unwiderruflich fest; alle Elemente können im Verlauf des Rechtfertigungsprozesses modifiziert werden. Ziel des Prozesses ist es, eine kohärente Passung zwischen wohlüberlegten Einzelfallurteilen und Grundsätzen oder Prinzipien herzustellen. Dieser Gedanke findet sich auch bei Joel Feinberg (1973, 34f.): In social and political philosophy […] the counterparts to “past decisions” are the most confident judgments one makes in ordinary normative discourse. The philosophical task is to extract from these “given” judgments the principles that render them consistent, adjusting and modifying where necessary in order to convert the whole body of opinions into an intelligible, coherent system.

Auch wenn der Term „coherent“ in diesen Zitaten nur erwähnt und weder bei Rawls selbst noch bei Feinberg weiter thematisiert wird, ist die Berufung auf einen Begriff von Kohärenz in der sich anschließenden Debatte ubiquitär. An dieser Stelle sei zunächst ein weiteres Beispiel angeführt. In der Reaktion auf Rawls’ Theorie der Gerechtigkeit wurde diskutiert, wie umfangreich die Klasse von Urteilen ist, die in einen kohärenten Zu-

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1. Einleitung

sammenhang gebracht werden soll. Daniels entwickelte dazu den folgenden Vorschlag: The method of wide reflective equilibrium is an attempt to produce coherence in an ordered triple of sets of beliefs held by a particular person, namely, (a) a set of considered moral judgments, (b) a set of moral principles, and (c) a set of relevant background theories. (Daniels 1979, 258)

Daniels präsentiert hier die Idee eines weiten Überlegungsgleichgewichts. Die Charakterisierung wide versteht sich dabei als Abgrenzung vom so genannten engen Überlegungsgleichgewicht (narrow reflective equilibrium). Während das enge Gleichgewicht nur (a) partikulare Moralurteile und (b) Moralprinzipien in den Prozess der Gleichgewichtsbildung einbezieht, werden beim weiten Überlegungsgleichgewicht auch die unter (c) genannten relevanten Hintergrundtheorien berücksichtigt. Wichtig ist im vorliegenden Kontext zweierlei: Erstens wird auch in Daniels’ Konzeption des wide reflective equilibrium an prominenter Stelle auf einen Begriff von Kohärenz verwiesen und zweitens geht es auch hier um die Frage der Rechtfertigung von Moralurteilen.3 Vermittelt durch die Popularität des Überlegungsgleichgewichts in der politischen Philosophie, gewannen kohärentistische Rechtfertigungsansätze auch in der angewandten Ethik zunehmend mehr Einfluss. Ein paradigmatisches Beispiel aus diesem Bereich stellt das Rechtfertigungsmodell dar, auf das Beauchamp und Childress ihren principlism stützen. In ihrem mittlerweile in sechster Auflage erschienenen Buch Principles of biomedical ethics präsentieren sie eine Konzeption der Rechtfertigung moralischen Handelns im medizin- und bioethischen Kontext. Sie gehen davon aus, dass es in biomedizinischen Anwendungen in der Ethik grundsätzlich vier allgemeine Ver3 Zwar tritt der Rechtfertigungsbegriff im Zitat nicht explizit auf; er wird aber in Daniels’ Text bereits vor der zitierten Passage eingeführt (Daniels 1979, 256–257).

1.1 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik

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pflichtungen gibt (justice, autonomy, beneficience, non-maleficience), deren Forderungen in jedem konkreten Einzelfall gegeneinander abgewogen und in geeigneter Weise spezifiziert werden müssen, um eine angemessene Entscheidung treffen zu können. Auch hier geht es also darum, eine Pluralität grundlegender Prinzipien durch einen Abwägungsprozess in kohärenter Weise zu integrieren, um adäquate Handlungsempfehlungen für konkrete Entscheidungssituationen ableiten zu können.4 Im Bereich der Metaethik schließlich findet sich eine ganze Reihe von Autoren, die auf die Rolle der Kohärenz bei der Rechtfertigung von Moralurteilen verweisen. Die Erwähnung eines Kohärenzbegriffs findet sich dabei nicht nur in einem bestimmten theoretischen Lager: Sowohl ein Vertreter des moralischen Naturalismus wie Brink als auch ein nonkognitivistisch orientierter Antirealist wie Scarano vertreten nach eigenem Bekunden eine kohärentistische Epistemologie der Moral.5 Diese Beispiele sind ein ausreichender Beleg dafür, dass die Rede von Kohärenz in der Ethik tatsächlich populär ist. Die Grundidee der vorliegenden Untersuchung besteht darin zu explizieren, was mit Kohärenz in der Ethik gemeint ist und welcher Stellenwert dem Begriff der Kohärenz in verschiedenen Rechtfertigungskonzeptionen der Ethik zukommt. Der häufige Verweis auf einen Kohärenzbegriff lässt vermuten, dass zu diesem Thema eine umfangreiche Forschungsliteratur vorliegt. Dies ist jedoch nicht der Fall. Trotz seiner häufigen Verwendung wurde der Explikation des Kohärenzbegriffs in der Ethik – von einigen Ausnahmen abgesehen, die im Folgenden 4 Siehe für Details Beauchamp & Childress (52001, 397–401; 62009, 381–387). Aktuelle Diskussionen dieser prominenten kohärentistischen Rechtfertigungskonzeption in der biomedizinischen Ethik finden sich bei Arras (2007) und bei Schöne-Seifert (2007, 32–37). 5 So in Brink (1989, Kap. 5) und Scarano (2001, Kap. 5.4). Diese Ansätze werden an dieser Stelle nur kurz erwähnt, weil sie in der vorliegenden Untersuchung noch ausführlich besprochen werden.

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1. Einleitung

eingehend diskutiert werden – bisher vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit gewidmet. Diese Beobachtung motiviert die folgende Frage: Warum ist der Kohärenzbegriff trotz seiner Popularität in der Ethik ein relativ unexplizierter Begriff geblieben? Ich wende mich im folgenden Abschnitt zunächst der Beantwortung dieser Frage zu, weil es dafür systematische Gründe gibt, die auch Konsequenzen für das methodische Vorgehen in dieser Untersuchung haben (1.2). Dann werden die Grundthesen und die Struktur der vorliegenden Untersuchung dargestellt (1.3) und schließlich wird begründet, warum das Überlegungsgleichgewicht trotz seiner Prominenz keinen geeigneten Ausgangspunkt für eine befriedigende Aufklärung des Kohärenzbegriffs bieten kann (1.4).

1.2 Ein grundlegendes Problem für jede Untersuchung des Kohärenzbegriffs Warum also blieb die Rede von Kohärenz trotz ihrer Popularität in der Ethik vergleichsweise unpräzise? Wie im Folgenden gezeigt wird, liegen die Gründe für die Vernachlässigung dieses Themas in der Semantik des Kohärenzbegriffs selbst. Um diesen Gründen auf die Spur zu kommen, ist es sinnvoll, zunächst noch einmal einen Schritt zurückzutreten und die Frage zu stellen, wie der Kohärenzbegriff generell, d. h. auch außerhalb des hier thematisierten Anwendungsbereichs der philosophischen Ethik, verwendet wird. In diesem Abschnitt werden zunächst einige Überlegungen zur Semantik des Kohärenzbegriffs angestellt und dann wird gezeigt, welche Konsequenzen sich aus diesen für das methodische Vorgehen ergeben. Nähert man sich dem Thema Kohärenz, so ist man zunächst mit der Tatsache konfrontiert, dass es sich dabei um einen sehr unscharf verwendeten Begriff handelt. Der Term „Kohärenz“ tritt nämlich in recht unterschiedlichen Kontexten auf. Wenn man auf die Philosophie blickt, wird er nicht nur in

1.2 Ein grundlegendes Problem für jede Untersuchung des Kohärenzbegriffs

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der Ethik, sondern auch in der theoretischen Philosophie, insbesondere in der Wahrheitstheorie und der Epistemologie, verwendet. Aber auch außerhalb der Philosophie findet er Anwendung: In der theoretischen Optik werden Lichtemissionen, die bestimmte Eigenschaften erfüllen, als kohärent bezeichnet.6 In der Geschichts- und Rechtswissenschaft gibt es Untersuchungen zur Feststellung der Kohärenz verschiedener Quellen und in der Linguistik spricht man von der Kohärenz literarischer Werke oder von Texten allgemein.7 An diesen Beispielen fällt zweierlei auf. Zunächst handelt es sich ausnahmslos um fachsprachliche Kontexte.8 Außerdem zeichnen sich die Beispiele durch eine erhebliche inhaltliche Divergenz aus. Diese beiden Beobachtungen legen die Entscheidungsfrage nahe: Liegt den verschiedenen Verwendungen des Wortes „Kohärenz“ überhaupt ein gemeinsamer Bedeutungskern zugrunde oder hat man es vielmehr mit unterschiedlichen Begriffen zu tun, die nur mit demselben Term bezeichnet werden? Gibt es also einen in allen Kontexten invarianten Bedeutungskern des Kohärenzbegriffs, der einen geeigneten Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung zu bieten vermag? Um der Beantwortung dieser Frage näher zu kommen, empfiehlt sich ein Blick auf die normalsprachliche Verwendung 6 Als kohärent wird eine ideal monochromatische Lichtemission angesehen. Empirisch tritt diese nicht auf, aber bestimmte Lichtemissionen, z. B. der Laser, kommen diesem Ideal sehr nahe (Hecht 2005, 631–633). 7 Schade et al. (1991, 7–9) stellen fest, dass der Kohärenzbegriff schon in der Textlinguistik inhaltlich sehr unterschiedlich gefasst wird. 8 Die Dominanz fachsprachlicher Kontexte ist nicht einer einseitigen Auswahl der Beispiele anzulasten. Dies wird spätestens dann deutlich, wenn man versucht ein paradigmatisches Beispiel für eine normalsprachliche Verwendung des Terms anzugeben. Es ist (zumindest hinsichtlich der deutschen Umgangssprache) nicht einfach überhaupt ein Beispiel für eine normalsprachliche Verwendung des Terms zu finden, das seinerseits nicht einer bestimmten Fachsprache entlehnt ist.

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1. Einleitung

des Wortes „Kohärenz“. Abgeleitet ist das Substantiv Kohärenz vom lateinischen Verb cohaerere, das mit „zusammenhängen“ oder „zueinander passen“ übersetzt wird. Diese beiden Übersetzungen sind auch für die lexikalische Bedeutung in der deutschen Normalsprache einschlägig.9 Vergleicht man den durch diese allgemeinen Charakterisierungen eingefangenen normalsprachlichen Kohärenzbegriff mit den fachsprachlichen Verwendungen, so fallen zwei signifikante Unterschiede auf: In der normalsprachlichen Verwendung bleibt weitgehend unbestimmt, (a) welcher Art die Entitäten sind, die miteinander zusammenhängen, und (b) wie die Beziehungen, die diesen Zusammenhang stiften, inhaltlich zu charakterisieren sind. Blickt man dagegen noch einmal auf die eingangs genannten Beispiele für paradigmatische fachsprachliche Verwendungen des Kohärenzbegriffs, so zeigt sich, dass die stark unterbestimmte Grundidee des Zueinanderpassens oder Zusammenhängens verschiedener Entitäten hier zwar immer erkennbar ist, dass aber die jeweiligen Fachbegriffe inhaltlich stark ausdifferenziert und (in unterschiedlichem Ausmaß) präzisiert sind. Ein Beispiel für eine sehr weitreichende Präzisierung stellt dabei der Kohärenzbegriff in der Optik dar. Die Gegenstände sind klar definiert (Lichtemissionen) und auch die Art des Zusammenhangs wird exakt spezifiziert: Kohärent ist eine Lichtemission genau dann, wenn das emittierte Licht ideal monochromatisch ist.10 Der Kohärenzbegriff ist in dieser Anwendung also wohldefiniert. Es wird exakt angegeben, welche Entitäten in welcher Weise in Beziehung zueinander stehen müssen, damit ihre Passung als kohärent bezeichnet wird. In den meisten anderen Disziplinen sind die dort verwendeten Spezialisierungen des Kohärenzbegriffs nicht in die9 Nach Wahrig (2006). 10 Komplizierter wird die Definition, wenn es sich um die kohärente Interferenz der Emissionen von zwei verschiedenen Lichtquellen handelt (Hecht 2005, Kap. 12).

1.2 Ein grundlegendes Problem für jede Untersuchung des Kohärenzbegriffs

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sem Ausmaß präzisiert. Jedoch liegen z. B. auch in der Textlinguistik detaillierte Ideen dazu vor, welche Objekte in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden und wie die kohärenzstiftenden Beziehungen inhaltlich definiert sind.11 Analoges lässt sich auch in anderen Kontexten feststellen, in denen der Term „Kohärenz“ verwendet wird. Die Antwort auf die oben formulierte Entscheidungsfrage – gibt es einen gemeinsamen Kernbegriff von Kohärenz oder gibt es verschiedene Begriffe, die nur gleich bezeichnet werden? – hängt also davon ab, wie stark die inhaltlichen Forderungen sind, die man an einen Kernbegriff von Kohärenz stellt. Es scheint so zu sein, dass es zwar einen in allen Kontexten invarianten Bedeutungskern gibt. Dieser Bedeutungskern ist allerdings nur schwach konturiert. Aus ihm allein lassen sich keine gehaltvollen Aussagen darüber ableiten, was in den konkreten fachsprachlichen Kontexten unter Kohärenz verstanden wird. Der normalsprachliche Kohärenzbegriff, der diesem Bedeutungskern etwa entspricht, ist also inhaltlich stark unterbestimmt. Bezüglich dieser Eigenschaft unterscheidet er sich von vielen anderen normalsprachlichen Begriffen. So sind der Wissensbegriff, der Wahrheitsbegriff oder einige Grundbegriffe des moralischen Vokabulars (z. B. der Begriff moralischen Sollens oder die Prädikate „ist moralisch gut“ oder „ist moralisch schlecht“) schon in der Alltagssprache so tief verankert, dass die Analyse allein ihrer normalsprachlichen Semantik als Kernthemen der Sprachphilosophie, Epistemologie und Metaethik anzusehen sind. Im Gegensatz dazu erhält der Kohärenzbegriff einen vergleichbar anspruchsvoll charakterisierten Gehalt erst in fachsprachlich verankerten Spezialisierungen. Diese für den Kohärenzbegriff charakteristische Eigenschaft hat nun zwei Konsequenzen für die methodische Anlage einer jeden begriffsanalytischen Untersuchung, die der Analyse oder der Explikation dieses Begriffs gewidmet ist. 11 Siehe für verschiedene Ansätze z. B. Schade et al. (1991, 9–22).

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1. Einleitung

Erstens verspricht es nur wenig ergiebig zu sein, den normalsprachlichen Kohärenzbegriff ohne Bezug auf einen spezifischen Kontext zu untersuchen. Wie bereits ausgeführt, lässt sich Kohärenz auf dieser generellen Ebene nur insoweit charakterisieren, als dass eine Vielheit nicht weiter bezeichneter Entitäten in nicht näher charakterisierter Weise miteinander zusammenhängen bzw. zueinander passen. Diese Bestimmung jedoch scheint aufgrund ihrer inhaltlichen Blässe beinahe trivial zu sein. Zudem ist es fraglich, ob die Untersuchung auf einer derartig generellen Ebene aufgrund ihrer inhaltlichen Dürftigkeit überhaupt wegweisende Implikationen für irgendeine der spezialisierten Anwendungen hätte. Es lässt sich eben nicht in ähnlich kontextunabhängiger Weise von dem Kohärenzbegriff sprechen, wie man von dem Begriff moralischen Sollens oder dem Wahrheitsbegriff sprechen kann. Aus dieser Tatsache ergibt sich die methodische Forderung, dass sich eine inhaltlich ergiebige Untersuchung bestimmten Spezialisierungen des Kohärenzbegriffs zuwenden muss. Der Gegenstandsbereich der Untersuchung muss in einer Weise eingeschränkt werden, die es ermöglicht, jeweils eine und nur eine Spezialisierung des Kohärenzbegriffs zu thematisieren, ohne sie mit Elementen anderer Spezialisierungen zu vermischen. Methodisch stellt sich also die Aufgabe der adäquaten Fokussierung des Anwendungsbereichs. Will man diese Aufgabe lösen, so ergibt sich eine weitere Konsequenz für das methodische Vorgehen. Zweitens folgt nämlich aus der Unterbestimmtheit des normalsprachlichen Kohärenzbegriffs, dass eine der Sache angemessene Einschränkung des Gegenstandsbereichs nicht aus definitorischen Bestimmungen des Bedeutungskerns abgeleitet werden kann. Wie also kann eine adäquate Einschränkung des Gegenstandsbereichs geleistet werden? Es ist klar, dass die thematische Einschränkung nicht ad hoc erfolgen darf. Dies wäre nicht allein deshalb unbefriedigend, weil eine derartige Einschränkung den Charakter einer willkürlichen Dezision hätte. Vor allem wäre dies in methodischer Hinsicht problematisch, weil es keinen Grund dafür gäbe anzunehmen, dass in diesem Bereich wirklich genau ein spezialisierter Kohärenzbe-

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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griff auftritt. Dies ist aber für eine sachlich angemessene Fokussierung des Gegenstandsbereichs unerlässlich. Denn zieht man die Grenzen zu weit, so läuft man Gefahr, verschiedene Begriffe von Kohärenz miteinander zu vermengen; zieht man die Grenzen zu eng, könnten relevante Aspekte des entsprechenden Kohärenzbegriffs aus dem Blick geraten. Aus diesen Überlegungen ergibt sich eine zweite methodische Forderung: Es ist sicherzustellen, dass in den jeweiligen Themenbereichen tatsächlich ein und nur ein Kohärenzbegriff einschlägig ist. Diese Eingrenzung des Themenbereichs kann sich nicht allein auf normalsprachliche Intuitionen stützen. Zu berücksichtigen sind vielmehr systematische Überlegungen, die den in dem thematisierten Bereich vorliegenden Theoriehintergrund einbeziehen. In Bezug auf die Ethik spielen dabei die theoretischen Vorannahmen des jeweiligen metaethischen Theoriehintergrunds eine entscheidende Rolle. Aus diesem Grund lässt sich nicht voraussetzungsfrei der Kohärenzbegriff in der Ethik untersuchen. Vielmehr setzt eine jede solche Untersuchung eine sorgfältige Analyse der metaethischen Annahmen voraus.

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung Die metaethischen Vorannahmen verschiedener kohärentistischer Rechtfertigungsansätze wurden in bisherigen Untersuchungen zum Thema Kohärenz in der Ethik vergleichsweise wenig thematisiert. Dafür mögen unter anderem die folgenden drei Gründe verantwortlich sein. Erstens liegt der Arbeitsschwerpunkt vieler Vertreter des Überlegungsgleichgewichts (Rawls, Feinberg, Daniels etc.) eher in der politischen Philosophie oder der normativen Ethik als in der Metaethik. Schon dies erklärt zumindest partiell sowohl die fehlende Berücksichtigung metaethischer Fragestellungen bei der Entwicklung dieses prominenten kohärentistischen Rechtfertigungsmodells in der Ethik als auch die Tatsache, dass der dem Überlegungsgleichgewicht zugrunde liegende Kohärenzbegriff bisher kaum aufgeklärt worden ist.

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1. Einleitung

Zweitens haben sich Theoretiker, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, dieses Defizit der Theorien des Überlegungsgleichgewichts zu beheben, stark an Ergebnissen der Debatte um den rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus in der theoretischen Philosophie orientiert. Ein Beispiel dafür ist Folke Tersman. Dieser stellt fest: In the discussion of the idea of reflective equilibrium, few if any attempts have been made to produce an account of the concept of coherence it invokes. This is possibly because commentators tend to regard the theory of reflective equilibrium simply as an application of coherentism to moral beliefs. Therefore, it is held to invoke the same notion of coherence as that held to be relevant to the justification of nonmoral beliefs. (Tersman 1993, 32)

Zunächst klingt es so, als wolle sich Tersman seinerseits von dieser naiven Übertragungsidee (der „einfachen Anwendung“ des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus aus der theoretischen Philosophie auf moralische Überzeugungen) distanzieren. In der Folge tut er allerdings genau dies: Er diskutiert einige Kohärenzbegriffe, die in der theoretischen Philosophie im Rahmen einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung empirischer Überzeugungen entwickelt wurden,12 entscheidet sich dann für die Konzeption Keith Lehrers und setzt diese ein, um den dem Überlegungsgleichwicht zugrunde liegenden Kohärenzbegriff zu präzisieren.13 Eine Analyse der metaethischen Vorannahmen, die er mit der Behauptung eingeht, es gebe moralische Überzeugungen, die epistemisch gerechtfertigt werden können, fehlt bei Tersman.14 12 Tersman verweist dabei primär auf die Ansätze von Sellars, BonJour und Lehrer (Tersman 1993, 33–36). 13 Tersman 1993, 36–44. 14 Es ist aus verschiedenen Äußerungen Tersmans ersichtlich, dass dieser sowohl davon ausgeht, dass es moralische Überzeugungen gibt, als auch davon, dass diese epistemisch rechtfertigbar sind (siehe z. B. Tersman 1993, 46, 52). Wie im zweiten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt wird, legt er sich mit diesen Annahmen auf eine kognitivisti-

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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Ein dritter Grund für die Vernachlässigung der metaethischen Vorannahmen, die für die Explikation eines Begriffs von Kohärenz relevant sein könnten, mag in der zuweilen vertretenen Auffassung liegen, eine Kohärenztheorie für die Ethik sei unabhängig von diesen metaethischen Vorannahmen formulierbar bzw. verhalte sich gegenüber diesen Vorannahmen neutral. Eine solche Auffassung scheint z. B. Nida-Rümelin (1997a, 175, Fn. 1) zu vertreten, wenn er sagt: Eine Kohärenzkonzeption theoretischer und praktischer Rationalität ist mit so gut wie allen Theorien zweiter Ordnung (metaphysischen und ontologischen Annahmen) vereinbar.

Hier wird der Eindruck vermittelt, eine rationalitätstheoretische Kohärenzkonzeption sei generell voraussetzungsarm und deshalb mit verschiedensten Theorien zweiter Ordnung – und somit auch verschiedenen metaethischen Vorannahmen – ohne weiteres vereinbar. Nida-Rümelin scheint sich damit auf eine weitreichende Kompatibilitätsbehauptung festzulegen.15 Dieser Auffassung wird in dieser Untersuchung entschieden entgegen getreten. Die drei angeführten Gesichtspunkte, so werde ich zeigen, können die bisherige Vernachlässigung der metaethischen Grundlagen einer Kohärenztheorie für die Ethik vielleicht erklären, jedoch nicht rechtfertigen. Dass es nämlich nicht nur einen Kohärenzbegriff in der Ethik gibt, sondern mehrere, stelle ich hiermit als Kernthese dieser Untersuchung auf. Mindestens vier verschiedene Begriffe von Kohärenz lassen sich unterscheiden, die nicht in eine einheitliche Kohärenzkonzeption bzw. Kohärenztheorie der Ethik integrierbar sind. Vielmehr sind sie untereinander teilweise inkompatibel, weil sche Metaethik fest. Dem Anspruch, den dem Überlegungsgleichgewicht zugrunde liegenden Kohärenzbegriff zu explizieren, wird er deshalb nicht gerecht, weil das Überlegungsgleichgewicht auch innerhalb einer nonkognitivistischen Metaethik angewendet werden kann, Tersmans Explikation des Kohärenzbegriffs jedoch nicht. 15 Ich komme auf diese Auffassung Nida-Rümelins im Schlusskapitel der Untersuchung zurück (Abschnitt 6.1).

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1. Einleitung

sich ihre Pluralität vor dem Hintergrund konkurrierender metaethischer Positionen ergibt. Anders als es Nida-Rümelin mit seiner These von der Kompatibilität einer kohärentistischen Konzeption mit „so gut wie allen Theorien zweiter Ordnung“ nahe legen will, spielen metaethische Vorannahmen eine entscheidende Rolle bei der Klärung der Frage, was mit welchem Kohärenzbegriff (mit welcher Kohärenztheorie) in einer solchen Metaethik erreicht und verteidigt werden kann. Will man zeigen, dass ein wichtiger Grund für die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenztheorien in der Inkompatibilität relevanter metaethischer Vorannahmen zu sehen ist, so ist eine detaillierte Diskussion dieser Vorannahmen unerlässlich. Bevor die Grundthesen und der Aufbau der Untersuchung etwas eingehender dargestellt werden, wird deshalb zunächst ein kurzer Überblick darüber gegeben, welche Ebenen bei der Analyse der metaethischen Vorannahmen systematisch zu unterscheiden sind. 1.3.1 Ebenen metaethischer Analysen In der Metaethik herrscht keine Einigkeit über die Verwendung der Terminologie. Dies gilt insbesondere für die Bezeichnung metaethischer Positionen: Unter den Etikettierungen „moralischer Kognitivismus“ oder „moralischer Realismus“ wurde und wird in der Metaethik sehr Unterschiedliches verstanden. Dies hat zur Konsequenz, dass nicht selten Fragen miteinander konfundiert werden, die analytisch voneinander unterschieden werden sollten, weil sie auf verschiedenen Analyseebenen zu lokalisieren sind. Um die Gefahr von Missverständnissen auszuschließen, ist es deshalb sinnvoll, gleich vorab die zentralen Ebenen metaethischer Analysen zu vergegenwärtigen. Systematisch lassen sich – in Übereinstimmung mit Hare16 und Scarano17 – vier Analyseebenen unterscheiden: 16 Hare 1985, 39. 17 Scarano 2001, 11–16.

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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Semantische Ebene: Ein zentrales Thema der Metaethik ist die Semantik der Sprache der Moral. Primär geht es hier um die Beantwortung zweier Fragen. Erstens wird nach der Bedeutung der Grundbegriffe des moralischen Vokabulars gefragt. Worin besteht die Bedeutung moralischer Wertungsprädikate wie moralisch gut und moralisch richtig und was bedeutet der Begriff des moralischen Sollens? Zweitens stellt sich die Frage nach der Bedeutung moralischer Aussagen, insbesondere die Frage danach, ob diese wahrheitswertfähig sind.18 Ontologische Ebene: Die Frage nach der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen steht in enger Verbindung mit Fragen nach der Ontologie der Moral. So vertreten viele Metaethiker die Auffassung, dass moralische Aussagen nur dann wahrheitswertfähig sein können, wenn es moralische Tatsachen (moral facts) gibt. Die Frage nach der Existenz moralischer Tatsachen steht im Mittelpunkt der Kontroverse zwischen moralischen Realisten, die die Existenz moralischer Tatsachen behaupten, und moralischen Antirealisten, die deren Existenz bestreiten. Diese ontologische Streitfrage spielt in der gegenwärtigen Metaethik eine zentrale Rolle.19 Epistemologische Ebene: Die primäre Frage der Epistemologie der Moral lautet: Gibt es moralisches Wissen? Von Vertretern des moralischen Kognitivismus wird diese Frage positiv, von Vertretern des moralischen Nonkognitivismus wird sie negativ beantwortet. Nimmt man an, dass es moralisches Wissen gibt (wie es der Kognitivist tut), so behauptet man damit, dass sich in moralischen Äußerungen Erkenntnisse aussprechen können. 18 Als Beispiele für klassische Studien in diesem Bereich der Metaethik sei auf die Monographien The right and the good von W. D. Ross (1930) und auf The language of morals von Richard Hare (1952) verwiesen. 19 Nachdem über einige Jahrzehnte innerhalb der analytischen Metaethik antirealistische Positionen dominierten (Hare 1981, Blackburn 1984, Gibbard 1990), liegen mittlerweile eine ganze Reihe von Verteidigungen des moralischen Realismus vor. Verwiesen sei auf Brink (1989), Schaber (1997), Dancy (2000) und Shafer-Landau (2003).

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1. Einleitung

Moralische Äußerungen sind demnach nicht lediglich ein Ausdruck subjektiver Einstellungen. Vielmehr gibt es wahrheitswertfähige moralische Überzeugungen, die – zumindest zum Teil – auch einer Rechtfertigung fähig sind. An die Frage nach der Existenz moralischen Wissens schließen sich deshalb zwei weitere Fragen an: Was sind moralische Überzeugungen und wie können diese gerechtfertigt werden?20 Motivationstheoretische Ebene: Die Untersuchungen in der Handlungstheorie und der philosophischen Psychologie (bzw. der philosophy of mind) beleuchten vor allem den Aspekt moralischen Handelns. Ein zentrales Thema der entsprechenden Untersuchungen in der philosophischen Psychologie stellt die Frage nach der moralischen Motivation dar: Was bedeutet es, aus moralischer Einsicht zu handeln? Wirken moralische Gründe motivierend? In der Handlungstheorie wird unter anderem problematisiert, ob moralische Handlungen als eine Subklasse rationalen Handelns aufgefasst werden können und inwiefern sie in eine Theorie praktischer Rationalität integrierbar sind.21 Diese vier Ebenen stellen einen begrifflichen Bezugsrahmen dar, mit dessen Hilfe sich metaethische Positionen differenziert erfassen lassen. Unterschiedliche Positionen in der Metaethik sind in Abhängigkeit davon kategorisierbar, welche Antworten man auf die in diesen vier Ebenen gestellten Fragen gibt. Dabei sind die vier Ebenen nicht voneinander unabhängig, sondern die Beantwortung einer der Fragen kann Konsequenzen für die Positionierung auf anderen Analyseebenen nach sich ziehen. So ist z. B. der moralische Kognitivismus zwar primär eine Position in der Epistemologie der Moral. Da ein Kognitivist jedoch behauptet, dass sich in moralischen Äußerungen Erkenntnisse mitteilen können, legt er sich damit auch 20 Ein Überblick über verschiedene Positionen in der moralischen Epistemologie findet sich in Sinnott-Armstrong & Timmons (1996). 21 Siehe z. B. in neuerer Zeit die Monographien von Smith (1994) und Raz (1999).

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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auf eine These zur Semantik der Sprache der Moral fest – nämlich darauf, dass die Gehalte dieser Äußerungen wahrheitswertfähig sind. Diese Abhängigkeiten zwischen den verschiedenen Analyseebenen sind nicht immer leicht durchschaubar. Will man allerdings die metaethischen Voraussetzungen der Rede von Kohärenz in der Ethik untersuchen, ist es unerlässlich, diese Abhängigkeiten in angemessener Weise zu berücksichtigen. Im Folgenden wird genauer gezeigt, in welchem Sinn die Berücksichtung dieser Abhängigkeiten für die vorliegende Untersuchung relevant ist. 1.3.2 Die Präzisierung der Kernthese der Untersuchung Es mag prima facie so scheinen, als führe die starke Berücksichtigung metaethischer Fragestellungen von dem zentralen Thema der Untersuchung ab. In diesem Abschnitt wird anhand der Präzisierung der Kernthese verdeutlicht, dass dieser Eindruck täuscht. Ich unterscheide dabei zunächst drei Teilthesen, in die sich die Kernthese aufspalten lässt: (I) In der Ethik sind mindestens vier verschiedene Kohärnzbegriffe unterscheidbar. (II) Diese vier Begriffe von Kohärenz sind nicht in eine einheitliche Kohärenztheorie oder Kohärenzkonzeption der Ethik integrierbar. Vielmehr korrespondiert der Pluralität der Kohärenzbegriffe eine Pluralität untereinander teilweise inkompatibler Kohärenztheorien. (III) Diese unterschiedlichen Kohärenztheorien haben je eigene Stärken und sind jeweils spezifischen Problemen ausgesetzt, was dazu führt, dass sie für die weitere Theorieentwicklung in der Ethik unterschiedlich fruchtbar sind. Im Folgenden skizziere ich die Strategie, mit der im Verlauf dieser Untersuchung die Teilthesen begründet werden sollen. Die Begründung der drei Teilthesen wird durch fünf Fragen strukturiert. Ohne eine Klärung der metaethischen Voraussetzungen, so wird sich zeigen, können diese Fragen nicht in befriedigender Weise beantwortet werden.

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1. Einleitung

Zur ersten Teilthese: Vor dem Hintergrund der Überlegungen, die im Abschnitt 1.2 dieser Einleitung zur Semantik des alltagssprachlichen Kohärenzbegriffs angestellt wurden, muss einiges dazu gesagt werden, wie der Term „Kohärenzbegriff“ in der ersten Teilthese zu verstehen ist. Wenn davon gesprochen wird, dass vier Kohärenzbegriffe unterscheidbar seien, so ist damit gemeint, dass in der Ethik vier fachsprachliche Spezialisierungen des normalsprachlichen Kohärenzbegriffs unterschieden werden können. In allen vier Fällen geht es darum, dass (a) eine Mannigfaltigkeit von Gegenständen durch (b) spezifische Beziehungen in einen Zusammenhang gebracht wird. Die Verwendung des Terms „Kohärenz“ steht also in allen Fällen im Einklang mit seiner alltagssprachlichen Verwendung. Aus dieser Tatsache folgt jedoch nicht, dass sich die Theoretiker in der Metaethik auf diese sehr bescheidene Deutung des Kohärenzbegriffs festlegen würden. Dies ist de facto auch nicht der Fall. Alle der in dieser Untersuchung diskutierten Kohärenzbegriffe sind inhaltlich anspruchsvoller charakterisiert als der dünne Alltagsbegriff. Deshalb stellen sie fachsprachliche Kohärenzbegriffe dar. Aus Gründen der leichteren Formulierung wird im Folgenden stets ohne weitere Qualifikation von Kohärenzbegriffen gesprochen, wenn fachsprachliche Spezialisierungen des normalsprachlichen Begriffs gemeint sind. Damit stellt sich die methodische Frage, wie die verschiedenen Kohärenzbegriffe systematisch voneinander abgegrenzt werden können. Ausgehend von den beiden grundlegenden Bestimmungen des normalsprachlichen Kohärenzbegriffs und den methodologischen Überlegungen im Abschnitt 1.2 werde ich mich bei der Explikation der verschiedenen Kohärenzbegriffe von zwei Fragen leiten lassen: (1) Welche Gegenstände werden in einen kohärenten Zusammenhang gebracht? (2) Wie sind die kohärenzstiftenden Beziehungen inhaltlich charakterisiert? Durch die Beantwortung dieser beiden Fragen wird in den folgenden Kapiteln die Individuierbarkeit von vier verschiedenen

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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Kohärenzbegriffen nachgewiesen. Eine Schlüsselrolle spielt dabei die Beantwortung der ersten Frage: Es wird gezeigt, dass es in den vier unterschiedenen Ansätzen jeweils andere Gegenstände sind, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden. Schon dieser Befund belegt, dass es sich um vier verschiedene Begriffe handeln muss, weil diese nicht einmal hinsichtlich ihrer Extension übereinstimmen. Darüber hinaus zeigt die Beantwortung der zweiten Frage, dass auch die kohärenzstiftenden Beziehungen in jedem der vier Fälle in anderer Weise charakterisiert werden. Dieser Befund belegt die starke inhaltliche Divergenz der vier verschiedenen Begriffe. In der ersten Teilthese beschränke ich mich auf die Behauptung der Unterscheidbarkeit von mindestens vier Kohärenzbegriffen, weil an dieser Stelle nicht ausgeschlossen werden soll, dass sich bei einer weiterführenden Analyse die Abgrenzbarkeit von weiteren Kohärenzbegriffen ergeben kann.22 Das wesentliche Ziel dieser Untersuchung besteht darin zu begründen, dass die Rede von Kohärenz in der Ethik mehrdeutig ist und dass überhaupt verschiedene Kohärenzbegriffe voneinander abgrenzbar sind. Zur Inkompatibilitätsthese (II): In dieser These wird der Begriff der Kohärenztheorie genannt. Die Unterscheidung zwischen Kohärenzbegriffen und Kohärenztheorien ist im Rahmen dieser Untersuchung von erheblicher Bedeutung. Nicht verschiedene Kohärenzbegriffe, so die hier vertretene Behauptung, sondern verschiedene Kohärenztheorien sind miteinander inkompatibel. Zwar hängen Kohärenzbegriffe und Kohärenztheorien eng miteinander zusammen: Jede Kohärenztheorie bezieht sich per definitionem auf mindestens einen Kohärenzbegriff. Wichtig ist die Unterscheidung im vorliegenden Kontext aber, weil in Bezug auf Kohärenzbegriffe nicht ohne weiteres verständlich gemacht werden kann, was mit Inkompatibilität gemeint ist. Zwar ist festzustellen, dass die vier unterschiede22 Im Schlusskapitel der Untersuchung (Abschnitt 6.2.1) komme ich auf diesen Punkt noch einmal zurück.

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1. Einleitung

nen Kohärenzbegriffe inhaltlich disparat charakterisiert sind und dass ihre Extensionen auseinander fallen. Warum aber sollten die verschiedenen Kohärenzbegriffe miteinander inkompatibel sein? Generell sind zwei Begriffe nicht deshalb miteinander inkompatibel, weil sie unterschiedliche Extensionen haben. Für die Analyse der Semantik von Begriffen spielt die Frage ihres Erfülltseins für einen gewissen Anwendungsbereich sogar eine nur untergeordnete Rolle. Ein Begriff kann schließlich selbst dann existieren, wenn er eine leere Extension hat.23 Ein Kohärenzbegriff kann demnach auch dann existieren, wenn seine Extension der leeren Menge entspricht, d. h. wenn der Kohärenzbegriff für keinen Anwendungsbereich erfüllt ist. Eine Kohärenztheorie dagegen ist anspruchsvoller charakterisiert als ein Kohärenzbegriff. Erstens ist ein Kohärenzbegriff in einer Kohärenztheorie grundsätzlich mit einer spezifischen theoretischen Zielsetzung verknüpft. Zweitens muss eine Kohärenztheorie, wenn es sich um eine Kohärenztheorie für die Ethik handeln soll, auch auf den Bereich der Ethik anwendbar sein. Dies führt dazu, dass Kohärenztheorien im Gegensatz zu Kohärenzbegriffen in zweierlei Hinsicht miteinander inkompatibel sein können. Erstens kann nämlich ein Kohärenzbegriff in verschiedene Kohärenztheorien mit untereinander inkompatiblen theoretischen Zielsetzungen eingeführt werden. Diese Behauptung lässt sich wie folgt begründen. Ein bestimmter Kohärenzbegriff (z. B. Kohärenz im Sinne logischer Konsistenz) kann in verschiedenen Kohärenztheorien mit unterschiedlichen theoretischen Zielen verbunden werden, z. B. im Rahmen einer Kohärenztheorie der Wahrheit, des Wissens oder der epistemischen Rechtfertigung. Es ist nun denkbar, dass diese theoretischen Zielsetzungen nicht miteinander verträglich sind. Die Kohärenztheorien wären in diesem Fall selbst dann, wenn sie 23 Zum Beispiel kann man davon ausgehen, dass es den Begriff des Einhorns oder des runden Vierecks gibt, ohne sich darauf festlegen zu müssen, dass derartige Gegenstände existieren.

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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sich auf denselben Kohärenzbegriff berufen, miteinander inkompatibel. Dies ist die erste Form der Inkompatibilität verschiedener Kohärenztheorien. Zweitens setzt die Anwendbarkeit einer Kohärenztheorie auf die Ethik die Geltung bestimmter metaethischer Vorannahmen voraus. Will man eine Kohärenztheorie für die Ethik vertreten, dann muss man sich auf eine Metaethik festlegen, in der der Kohärenzbegriff, auf den sich die Theorie bezieht, auch auf die Ethik anwendbar ist. Damit ist gemeint, dass der Kohärenzbegriff in Bezug auf den Anwendungsbereich der Ethik nicht leer sein darf. Es muss also eine Metaethik vorausgesetzt werden, die zumindest mit der Annahme verträglich ist, dass es sowohl die Gegenstände, die in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, als auch die kohärenzstiftenden Beziehungen gibt. Andernfalls kann es zu einem zweiten Typ von Inkompatibilität kommen, nämlich zu einer Inkompatibilität zwischen den Grundannahmen der jeweiligen Kohärenztheorie und den metaethischen Vorannahmen. Ob es zwischen verschiedenen Kohärenztheorien in der Ethik Inkompatibilitäten gibt, kann demnach durch Beantwortung der beiden folgenden Fragen entschieden werden. (3) Welche theoretischen Zielsetzungen werden mit der Einführung eines bestimmten Kohärenzbegriffs verbunden? In der Untersuchung werden die Zielsetzungen rekonstruiert, die mit der Einführung der vier Kohärenzbegriffe in verschiedene Kohärenztheorien jeweils verbunden sind. Dabei wird sich zeigen, dass ein und derselbe Kohärenzbegriff mit unterschiedlichen Zielen verknüpft werden kann. Diese theoretischen Zielsetzungen sind, wie gezeigt werden wird, tatsächlich teilweise miteinander inkompatibel. (4) Welche metaethischen Vorannahmen werden bei der Formulierung dieser Kohärenztheorien in Anspruch genommen? Bei der Rekonstruktion der verschiedenen Kohärenzbegriffe und der jeweiligen theoretischen Zielsetzungen wird sich die Relevanz der metaethischen Vorannahmen zeigen. Einige der

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1. Einleitung

Kohärenztheorien sind nämlich nur dann auf die Ethik anwendbar, wenn anspruchsvolle metaethische Vorannahmen akzeptiert werden. In der Metaethik lassen sich nun im Rekurs auf die Analyseebenen diverse Positionen unterscheiden, die miteinander unverträglich sind (moralischer Kognitivismus vs. Nonkognitivismus, moralischer Realismus vs. Antirealismus, motivationstheoretischer Internalismus vs. Externalismus etc.). Wie gezeigt werden wird, gibt es auch Inkompatibilitäten des zweiten Typs: Manche Autoren legen sich auf Kohärenztheorien fest, die mit den von ihnen selbst akzeptierten metaethischen Vorannahmen unverträglich sind. Die Inkompatibilitätsthese besagt also: Es gibt keine umfassende Kohärenztheorie in der Ethik, die die vier verschiedenen Kohärenzbegriffe integrieren könnte. Die Einführung der verschiedenen Kohärenzbegriffe ist mit theoretischen Zielsetzungen verbunden, die untereinander zum Teil inkompatibel sind, und die verschiedenen Kohärenztheorien sind nur unter der Annahme einander widersprechender metaethischer Voraussetzungen vertretbar. Zu Teilthese (III): Der Anspruch der vorliegenden Untersuchung erschöpft sich nicht darin, die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenztheorien nachzuweisen und diese Theorien dann undiskutiert als gleichwertige Alternativen nebeneinander zu stellen. Vielmehr soll die Analyse eine Grundlage dafür bereitstellen, die Ansätze zur Explikation des Kohärenzbegriffs hinsichtlich ihrer theoretischen Fruchtbarkeit kritisch zu bewerten. Die letzte Fragestellung lautet deshalb: (5) Welchen Einwänden und Problemen sind die verschiedenen Kohärenztheorien jeweils ausgesetzt und wie schwer wiegen diese? Dabei geht es nicht primär darum, die Grundannahmen der metaethischen Positionen zu kritisieren, sondern es soll geklärt werden, ob es sich bei dem jeweils verwendeten Kohärenzbegriff um ein zentrales Konzept der jeweiligen Theorie handelt oder nicht. Wie wichtig ist der Kohärenzbegriff für die jewei-

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lige Position? Handelt es sich dabei um einen zentralen Begriff, von dem aus entscheidende Elemente der Position verständlich oder erklärt werden oder spielt dieser Begriff eine eher marginale Rolle? Schließlich wird untersucht, ob der Kohärenzbegriff die Rolle ausfüllen kann, die ihm im Rahmen der entsprechenden Konzeption zugeschrieben wird. Ist der Kohärenzbegriff gemessen an den theoretischen Zielsetzungen, mit denen er eingeführt wird, ein fruchtbares Konzept? Vermag er innerhalb der jeweiligen Theorie das zu leisten, was er leisten soll? Die Diskussion der Einwände und Probleme wird eine kritische Abwägung der theoretischen Fruchtbarkeit der verschiedenen kohärentistischen Ansätze in der Ethik und der Metaethik ermöglichen. 1.3.3 Der Aufbau der Untersuchung Die Untersuchung gliedert sich in sechs Kapitel. In den Kapiteln 2 bis 5 wird jeweils einer der vier unterschiedenen Kohärenzbegriffe thematisiert. Im abschließenden sechsten Kapitel werden die Ergebnisse zusammengefasst und die Interdependenzen zwischen den unterschiedlichen Begriffen und Theorien von Kohärenz in der Ethik einer vergleichenden Analyse unterzogen. Bei den vier Kohärenzbegriffen, die im Folgenden voneinander abgegrenzt werden, handelt es sich um einen kognitivistischen, einen nonkognitivistischen, einen motivationstheoretischen und einen entscheidungstheoretischen Kohärenzbegriff. Die von mir gewählten Bezeichnungen deuten bereits an, dass die Verwendung dieser Kohärenzbegriffe im Rahmen bestimmter Kohärenztheorien für die Ethik jeweils spezifischen metaethischen Vorannahmen verpflichtet ist. Jedes Kapitel beginnt deshalb mit einer Klärung dieser Vorannahmen auf den verschiedenen metaethischen Analyseebenen. Danach werden jeweils die definitorischen Bestimmungen des zugrunde liegenden Kohärenzbegriffs im Detail rekonstruiert. Und schließlich werden die mit der Einführung dieser Begriffe verbundenen theoretischen Zielsetzungen und die sich ergebenden Probleme anhand ausge-

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wählter Beispiele untersucht und kritisch diskutiert. Die Konzentration auf ausgewählte Beispiele ist aufgrund der Fülle des Materials unvermeidlich. Deshalb wird auch kein Vollständigkeitsanspruch erhoben, sondern lediglich die These vertreten, dass sich mindestens vier Kohärenzbegriffe in der Ethik unterscheiden lassen. Die Möglichkeit, dass weitere Kohärenzbegriffe abgegrenzt werden können, wird also nicht ausgeschlossen. Im zweiten Kapitel wird ein kognitivistisch interpretierter Kohärenzbegriff expliziert. Nach einer Einführung, die die Grundbegrifflichkeit der kognitivistischen Position in der Metaethik rekonstruiert, wird gezeigt, dass unter diesen Vorannahmen eine Kohärenztheorie im Sinne einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen konzipiert werden kann. Dieser Theorie liegt derselbe Kohärenzbegriff zugrunde, der aus der Debatte um den epistemologischen Kohärentismus in der theoretischen Philosophie bekannt ist. Kohärenz stellt unter kognitivistischen Vorzeichen auch in der Ethik einen Grundbegriff der Theorie epistemischer Rechtfertigung dar und die epistemologische Kohärenztheorie ist hier wie dort denselben Standardeinwänden ausgesetzt. Dieser Typ von Kohärenztheorie wird am Beispiel von Geoffrey Sayre-McCord diskutiert, weil dieser in der kognitivistischen Metaethik den elaboriertesten Kohärenzbegriff vorgelegt hat. Der im Nonkognitivismus vertretene Kohärenzbegriff wird im dritten Kapitel analysiert. Es werden die Kohärenztheorien von Simon Blackburn und Nico Scarano besprochen, die sich beide auf denselben Begriff von Kohärenz berufen. Gleichzeitig aber vertreten sie unterschiedliche Kohärenztheorien, weil sie mit der Einführung des Kohärenzbegriffs nicht nur verschiedene, sondern sogar miteinander unverträgliche theoretische Ziele verbinden. Während Blackburn seine Kohärenztheorie als eine Variante des wahrheitstheoretischen Kohärentismus in der Ethik auffasst, verneint Scarano die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Überzeugungen und vertritt stattdessen die These, Kohärenz sei eine notwendige Bedingung für die Rechtferti-

1.3 Kernthese und Aufbau der Untersuchung

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gung moralischen Handelns.24 Wie gezeigt wird, besteht das primäre Problem beider Kohärenztheorien allerdings darin, dass sich eine Spannung zu den nonkognitivistischen Grundannahmen ergibt, die weder Scarano noch Blackburn in adäquater Weise aufzulösen vermögen. Im vierten Kapitel wird ein Kohärenzbegriff expliziert, der eine wichtige Rolle in der Theorie moralischer Motivation spielt. Der primäre Streitpunkt in der gegenwärtigen Debatte um die Theorie moralischer Motivation betrifft die Frage, wie der Mechanismus zu rekonstruieren ist, aufgrund dessen uns moralische Gründe zum Handeln motivieren. Im Hinblick auf diese Streitfrage stehen sich motivationstheoretische Internalisten und Externalisten gegenüber. Externalisten behaupten, dass zwischen moralischen Urteilen bzw. moralischen Gründen und moralischen Motiven nur eine empirisch-kontingente Verbindung besteht. Internalisten versuchen dagegen die Behauptung zu begründen, dass moralische Urteile bzw. moralische Gründe notwendig motivierend wirken, d. h. dass zwischen diesen eine begriffliche Beziehung besteht. Michael Smith hat eine Kohärenztheorie moralischer Motivation vorgelegt, mit der er versucht, den motivationstheoretischen Internalismus zu begründen. Es wird herausgearbeitet, wie der in dieser Theorie verwendete Kohärenzbegriff charakterisiert wird und wie Smith ihn zur Begründung des Internalismus einsetzt. Wie sich zeigen wird, besteht das primäre Problem von Smiths Konzeption darin, dass er darauf angewiesen ist, eine von ihm so genannte Tendenz zur Kohärenz zu postulieren, die er jedoch nicht in überzeugender Weise begründen kann. 24 An dieser Stelle zeigt sich die Relevanz der im vorigen Abschnitt eingeführten Unterscheidung von Kohärenzbegriff und Kohärenztheorie. Wie im dritten Kapitel anhand der Analyse dieser beiden kohärentistischen Positionen noch ausführlich gezeigt wird, ist mit der Festlegung auf einen bestimmten Kohärenzbegriff noch nicht die Festlegung auf eine bestimmte Kohärenztheorie verbunden. Deshalb ist dies eine wichtige Unterscheidung bei der Explikation der Bedeutung von Kohärenz in der Ethik.

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1. Einleitung

Im fünften Kapitel wird der entscheidungstheoretische Ansatz thematisiert. Die Theorie rationaler Entscheidung ist eine formalisierte Theorie menschlichen Entscheidens, die von einer ganzen Reihe von Autoren auch auf die Ethik angewendet wurde. Dieser Ansatz ist im vorliegenden Kontext deshalb von Interesse, weil in dieser Theorietradition die Kohärenz von Präferenzen eine entscheidende Rolle spielt. Beispielhaft werden die Theorien von Richard Jeffrey und von Julian Nida-Rümelin besprochen. Ähnlich wie im Fall von Scarano und Blackburn verweisen beide Theoretiker auf denselben Kohärenzbegriff (oder zumindest auf eng verwandte Varianten), verbinden mit diesem jedoch unterschiedliche theoretische Ziele. Während es Jeffrey darum geht, moralische von nichtmoralischen Präferenzen zu unterscheiden, ist Nida-Rümelins wichtigstes Anliegen eine Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus. Es wird überprüft, inwieweit der entscheidungstheoretische Kohärenzbegriff geeignet ist, diesen Zielsetzungen zu genügen. Im sechsten und letzten Kapitel schließlich werden die wichtigsten Ergebnisse der Analyse zusammengeführt und in systematischer Weise gesichtet. Es werden Überlegungen angestellt, welche Konsequenzen sich aus diesem Ergebnis für die weitere Forschung zum Thema Kohärenz in der Ethik ergeben. Die Erkenntnis, dass es den einen Kohärenzbegriff in der Ethik nicht gibt, legt den Schluss nahe, dass Kohärenz deshalb letztlich unwichtig für die Ethik sei. Es wird gezeigt, aus welchen Gründen diese Schlussfolgerung voreilig ist. Tatsächlich lassen sich in begründeter Weise fruchtbare Ansätze der Kohärenztheorie in der Ethik von weniger verfolgenswerten Ansätzen unterscheiden. Dabei geht es nicht primär darum, endgültige Verdikte gegen einen oder mehrere der Ansätze auszusprechen. Das Ziel dieser Untersuchung besteht vielmehr darin, die Probleme und die Qualitäten der verschiedenen Ansätze differenziert zu erfassen und auf dieser Grundlage ihre Fruchtbarkeit für die weitere Theoriebildung in der Ethik und Metaethik zu bewerten. Abschließend wird die grundlegende Frage beantwortet, wie die Relevanz des Kohärenzbegriffs für die Ethik generell einzuschätzen ist.

1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz

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1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass das Überlegungsgleichgewicht (reflective equilibrium) den einflussreichsten Rechtfertigungsansatz innerhalb der Ethik darstellt, in dem auf einen Begriff von Kohärenz verwiesen wird. Deshalb liegt die Vermutung nahe, dass die Debatte um das Überlegungsgleichgewicht einen einschlägigen Ausgangspunkt für die Explikation von Kohärenz in der Ethik darstellt. Blickt man allein auf den Umfang der Debatte, so scheint sich diese Vermutung zu bestätigen: Das Überlegungsgleichgewicht avancierte in den Jahren nach seiner Einführung durch John Rawls zur wohl meistdiskutierten Rechtfertigungsfigur in der Ethik. Mittlerweile liegen neben zahlreichen Aufsatzpublikationen auch drei Monographien zu diesem Thema vor.25 Deshalb ist es begründungsbedürftig, dass das Überlegungsgleichgewicht in dieser Untersuchung nur eine marginale Rolle spielen wird. Im Folgenden wird gezeigt, aus welchen Gründen das Überlegungsgleichgewicht, entgegen dem ersten Anschein, keinen geeigneten Ausgangspunkt für die vorliegende Untersuchung bieten kann. Dabei wird zunächst noch einmal der Grundgedanke dieser Rechtfertigungsidee skizziert (1.4.1). Dann werden drei Argumente für die These vorgebracht, dass das Überlegungsgleichgewicht keinen fruchtbaren Boden für die Explikation des Kohärenzbegriffs bereitstellt (1.4.2). Das primäre Problem, so wird gezeigt, ist dabei darin zu sehen, dass die Beziehungen zwischen Kohärenzbegriff und Überlegungsgleichgewicht weitaus verwickelter und ungeklärter sind, als dies zuweilen angenommen wird (1.4.3). 1.4.1 Die Grundidee des Überlegungsgleichgewichts Was also ist das Überlegungsgleichgewicht? Geht man von der alltagssprachlichen Wortbedeutung aus, so scheint sich der Term „Überlegungsgleichgewicht“ auf einen Zustand oder eine 25 DePaul 1993, Hahn 2000, Tersman 1993.

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1. Einleitung

statische Situation zu beziehen. Im Rahmen der Debatte in der Ethik und der politischen Philosophie stellt er dagegen den Namen für ein Verfahren oder eine Methode zur Rechtfertigung von Moralurteilen, Moral- oder Gerechtigkeitsgrundsätzen dar. Wie bereits ausgeführt, wurde der Term durch Rawls’ Buch A Theory of Justice innerhalb der Ethik prominent. Rawls selbst weist darauf hin, dass sich die Grundzüge dieser Rechtfertigungsidee schon bei Nelson Goodman finden.26 Ging es bei Goodman um die Rechtfertigung von Regeln deduktiven und induktiven Schließens, so setzt Rawls dieses Verfahren zur Rechtfertigung seiner Theorie der Gerechtigkeit ein. Die zentrale Idee, die sowohl bei Rawls als auch bei vielen Nachfolgern identifizierbar ist, lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn wir unsere normativen Vorstellungen von Gerechtigkeit rechtfertigen, so geschieht dies nicht, indem wir zunächst von einem oder einigen wenigen Grundprinzipien ausgehen und dann das System aller spezielleren Gerechtigkeitsnormen aus diesen Prinzipien ableiten. Die Rechtfertigung von Gerechtigkeitsprinzipien ist vielmehr ein iteratives Verfahren, in dessen Verlauf generelle Prinzipien und konkrete Einzelfallurteile in einem Prozess gegenseitiger Revision und Adjustierung gegeneinander abgeglichen und dadurch korrigiert werden. Weder die generellen Prinzipien noch die partikularen Urteile sind in diesem Prozess sakrosankt; alle Elemente des Systems sind in den iterativen Prozess von Adjustierung und Revision involviert. Das Ziel des Verfahrens besteht schließlich in der Herstellung eines Überlegungsgleichgewichts. 26 Siehe dazu Goodman (1955, 62–68). Wie bereits erwähnt, hat Rawls schon in einem noch zuvor veröffentlichten Aufsatz eine „Entscheidungsprozedur für die Ethik“ vorgeschlagen (Rawls 1951). Allerdings scheint Rawls später selbst der Auffassung gewesen zu sein, dass die für das Überlegungsgleichgewicht charakteristische Grundidee eines gegenseitigen Abgleichs von allgemeinen Prinzipien und partikularen Urteilen („process of mutual adjustment of principles and considered judgments“) sich eher in Goodmans Ausführungen findet als in seinem eigenen frühen Text (Rawls 1971, 20, Fn. 7).

1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz

29

Fragt man nun danach, wie das Ziel des Verfahrens näher charakterisiert werden kann, kommt der Kohärenzbegriff ins Spiel: Von Rawls, Daniels und anderen Theoretikern, die sich mit dem reflective equilibrium auseinandergesetzt haben, wird Kohärenz als ein Begriff zur Beschreibung des Ziels, des Endzustands, des idealen Ausgangs dieses Rechtfertigungsprozesses eingesetzt: Eine Person ist genau dann „im Überlegungsgleichgewicht“, wenn sie die zu rechtfertigenden Prinzipien mit den partikularen Einzelfallurteilen in optimaler Weise in einen kohärenten Zusammenhang gebracht hat.27 1.4.2 Die Untauglichkeit des Überlegungsgleichgewichts für die Explikation des Kohärenzbegriffs Im Rahmen der Präsentation des Überlegungsgleichgewichts wird also auf einen Begriff von Kohärenz verwiesen. Bedeutet dies, dass man aus der Debatte um das reflective equilibrium etwas über die Explikation des zugrunde liegenden Kohärenzbegriffs lernen kann? Diesbezüglich ist aus mindestens drei Gründen eine skeptische Haltung angemessen. 1. Beim Überlegungsgleichgewicht handelt es sich eher um eine mehr oder minder vage Rechtfertigungsidee als um eine ausgearbeitete Methode oder Theorie der Rechtfertigung. So wird es zwar zuweilen als Rechtfertigungsverfahren, als „Entscheidungsprozedur für die Ethik“28 oder „methodologisches Prinzip“29 eingeführt; de facto aber bleibt die Idee sowohl bei Rawls als auch bei vielen Nachfolgern sehr schwach konturiert. Selbst Susanne Hahn, die eine umfassende Monographie zum Überlegungsgleichgewicht vorgelegt hat, bewertet die Ergebnisse der systematischen Aufarbeitung des 27 Belege stellen die bereits zitierten Passagen von Rawls (1971, 21) und Daniels (1979, 258) dar. 28 Rawls 1951. 29 Stegmüller 1986, 145.

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1. Einleitung

Konzepts vorsichtig und bezeichnet das Überlegungsgleichgewicht als „Rechtfertigungsmetapher“, der auch in ihrer Untersuchung erst „im Ansatz begriffliche Kontur verliehen“ wurde.30 Schon die Idee des Überlegungsgleichgewichts selbst bleibt also recht vage. Es kommt hinzu, dass der Kohärenzbegriff in den meisten Untersuchungen zum Überlegungsgleichgewicht lediglich eine untergeordnete Rolle spielt. Dieser wird im Normalfall nur als Paraphrase oder zur Erläuterung der Gleichgewichtsmetapher eingesetzt. Das Überlegungsgleichgewicht scheint also zunächst deshalb kein fruchtbarer Ausgangspunkt für die Explikation des Kohärenzbegriffs zu sein, weil weder der Status von Kohärenz beim Erreichen des Gleichgewichts noch die Einzelheiten der Explikation des vorausgesetzten Kohärenzkonzepts bisher eingehender untersucht worden sind. 2. Die Idee des Überlegungsgleichgewichts wurde in der Ethik zwar breit diskutiert. Diese Debatten fanden jedoch vor allem in der politischen Philosophie und der angewandten Ethik statt. Dies hat zur Folge, dass die metaethischen Grundlagen dieser Rechtfertigungsidee kaum eingehender beleuchtet worden sind. So gehen z. B. bis heute die Einschätzungen darüber auseinander, ob das Überlegungsgleichgewicht eher dem epistemologischen Kohärentismus oder dem epistemologischen Fundamentalismus verpflichtet sei. Geht man von der Grundidee des gegenseitigen Abgleichs von Grundsätzen und Einzelfallurteilen aus, so scheint es dem Kohärentismus nahe zu stehen; eine ganze Reihe von Autoren identifiziert es denn auch mit einer Kohärenztheorie der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen.31 An ande30 Hahn 2000, 243. 31 Beispiele dafür finden sich viele, so bei David Brink und John Arras: „A coherence theory of justification in ethics is essentially John Rawls’s method of wide reflective equilibrium“ (Brink 1989, 103– 104); „Within wide reflective equilibrium, in contrast [to foundation-

1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz

31

rer Stelle dagegen wird die These vertreten, dass Rawls’ Überlegungsgleichgewicht vielmehr dem epistemologischen Fundamentalismus verpflichtet sei.32 Andere Autoren wiederum fassen den dem Überlegungsgleichgewicht zugrunde liegenden Kohärenzbegriff gar nicht als Grundbegriff der moralischen Epistemologie auf, sondern interpretieren es in Verbindung mit einem Kohärenzbegriff instrumenteller Rationalität.33 Dies legt den Verdacht nahe, dass eine Orientierung am Überlegungsgleichgewicht eher dazu verleitet, die de facto bestehende Pluralität divergierender Kohärenzbegriffe in der Ethik zu verdecken, als dabei zu helfen, das zugrunde liegende Konzept von Kohärenz aufzuklären. 3. Es lässt sich einwenden: Auch wenn das Überlegungsgleichgewicht hinsichtlich seiner metaethischen Grundlagen nicht besonders gut aufgeklärt sein mag, wurde es immerhin in den Debatten in der politischen Philosophie und der angewandten Ethik auf viele konkrete ethisch-normative Problemstellungen angewendet. Dies könnte einen interessanten Vorrat an Fallbeispielen bereitgestellt haben, aus dem sich einiges über den verwendeten Kohärenzbegriff lernen lässt. Dazu muss man sagen, dass es solche Fallstudien faktisch nicht gibt. In elaborierter Weise ist das Überlegungsgleichgewicht nie auf ein konkretes ethisch-normatives Problem alism], beliefs are justified – i. e. they acquire the greatest measure or warrant or support – by being brought into coherence with the widest possible set of other beliefs we hold“ (Arras 2007, 57). 32 So z. B. Hare (1975) und Ebertz (1993). Für eine ausführliche Auseinandersetzung mit den konkurrierenden Lokalisierungen des Überlegungsgleichgewichts in der moralischen Epistemologie s. Botzenhardt (2008). 33 So Smith (1995, 114). Smith verweist eher am Rande auf die Konzeption des reflective equilibrium. Wo er genau die Implikationen dieses Konzepts für seine Kohärenztheorie sieht, die ich im vierten Kapitel dieser Untersuchung ausführlich diskutiere, wird bei ihm nicht näher erläutert.

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1. Einleitung

angewendet worden. Rawls erhebt zwar den Anspruch, dass seine Theorie der Gerechtigkeit mittels des Überlegungsgleichgewichts gerechtfertigt sei. Wie bereits angeklungen ist, bleibt das reflective equilibrium bei ihm aber weitgehend unexpliziert, so dass von der Anwendung einer ausgearbeiteten „Rechtfertigungsmethode“ kaum gesprochen werden kann. Hahn dagegen kommt zwar das Verdienst zu, erstmals überhaupt eine umfangreichere Rekonstruktion anhand eines konkreten Fallbeispiels vorgelegt zu haben. Allerdings rekonstruiert sie den Rechtfertigungsprozess mittels des Überlegungsgleichgewichts am Beispiel einer Grundlagenkrise in der Mathematik.34 Mit einer solchen Fallstudie ist es selbstverständlich nicht möglich, die besonderen Probleme der Anwendung des Überlegungsgleichgewichts auf moralische Urteile zu rekonstruieren. Aus diesen drei Gründen komme ich zu dem Ergebnis, dass das Überlegungsgleichgewicht kein geeigneter Ausgangspunkt für die Explikation des Kohärenzbegriffs ist. Daher kommt dem Überlegungsgleichgewicht in der vorliegenden Untersuchung eine nur untergeordnete Rolle zu. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist es einfach viel zu unterbestimmt, als dass sich aus dieser Rechtfertigungsidee etwas über die Bedeutung des Kohärenzbegriffs in der Ethik lernen ließe. Wenden wir uns zum Abschluss dieser Einleitung der Frage zu, wie die Beziehungen zwischen dem Kohärenzbegriff und dem Überlegungsgleichgewicht zu rekonstruieren sind. Es lässt sich nämlich durchaus die Frage stellen, ob die beiden Konzepte überhaupt eng miteinander verzahnt sind, wie in der Literatur häufig behauptet wird, oder ob es sich beim Überlegungsgleichgewicht eher um eine Methode handelt, die auch ohne Bezug zum Kohärenzbegriff expliziert werden kann.

34 Hahn 2000, 202–241.

1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz

33

1.4.3 Das Überlegungsgleichgewicht und der Kohärenzbegriff: unabhängig voneinander explizierbar oder nicht? Wie soeben festgestellt wurde, sind bisher weder die metaethischen Grundlagen des Überlegungsgleichgewichts in befriedigender Weise aufgeklärt worden, noch liegt eine ausgearbeitete Erprobung anhand eines konkreten Anwendungsbeispiels aus Ethik oder politischer Philosophie vor. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt wirft also der Status dieser Rechtfertigungsidee mindestens so viele Fragen auf wie der Status des Kohärenzbegriffs in der Ethik. Folglich ist auch ungeklärt, wie die Beziehungen zwischen den beiden Konzepten im Detail aussehen. Blickt man in die entsprechende Literatur, so scheint das Überlegungsgleichgewicht mit verschiedenen Vorstellungen von Kohärenz in der Ethik kombinierbar zu sein. Von einer Zuordnung des Überlegungsgleichgewichts zu einer bestimmten Vorstellung von Kohärenz kann also gegenwärtig keine Rede sein. Dieser Befund lässt sich in zweierlei Hinsicht interpretieren, wobei beide Interpretationen wiederum dagegen sprechen, dass das Überlegungsgleichgewicht einen Ausgangspunkt für die Aufklärung der Bedeutung von Kohärenz in der Ethik bieten könnte. Erstens ließe sich annehmen, dass das Überlegungsgleichgewicht als Methode oder Verfahren unabhängig von dem zugrunde gelegten Kohärenzbegriff sei. In diesem Fall wäre es mit beliebigen Kohärenzbegriffen gleichermaßen vereinbar, würde sich sogar gegenüber der jeweils vorausgesetzten Vorstellung von Kohärenz neutral verhalten und könnte aus diesem Grund keinen Ausgangspunkt für die Explikation oder Präzisierung eines spezifischen Begriffs von Kohärenz bieten. Zweitens könnte man aber auch annehmen, die Neutralität ergebe sich nur aufgrund der erheblichen Unterbestimmtheit der Idee des Überlegungsgleichgewichts zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Wäre das Überlegungsgleichgewicht erst einmal in befriedigender Weise zu einer Methode der Rechtfertigung moralischer Urteile ausgearbeitet, so wäre es auf einen der im vorigen Abschnitt skizzierten Begriffe von Kohärenz festgelegt und könnte dann vielleicht auch bei der weiteren Explikation

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1. Einleitung

dieses spezifischen Kohärenzbegriffs hilfreich sein. Auch diese zweite Interpretation führt letztlich zu demselben Ergebnis: In diesem Fall gäbe es zwar eine klare Zuordnung zwischen Überlegungsgleichgewicht und einem konkreten Kohärenzbegriff. Die Methode des Überlegungsgleichgewichts wäre aber nicht der Ausgangspunkt für die Explikation des Kohärenzbegriffs, sondern würde diese vielmehr voraussetzen. Erst wenn geklärt wäre, was Kohärenz ist, d. h. was es bedeutet, Kohärenz zwischen universellen Grundsätzen und partikularen Einzelfallurteilen herzustellen, könnte ein iteratives Verfahren, das dazu dienen soll, den kohärenten Zustand zu erreichen, ausgearbeitet werden. Egal zu welcher dieser beiden Interpretationen man eher neigt:35 In Bezug auf das methodische Vorgehen ergibt sich in beiden Fällen derselbe Ratschlag. Zumindest beim gegenwärtigen Forschungsstand sprechen gewichtige Gründe gegen die Entscheidung, eine Untersuchung, die der Explikation von Kohärenz in der Ethik gewidmet ist, an der Debatte um das Überlegungsgleichgewicht zu orientieren. Sowohl das Verfahren des Überlegungsgleichgewichts als auch die verschiedenen, in der Ethik de facto verwendeten Kohärenzbegriffe sind in der bisherigen Forschung unterbestimmt geblieben. Bevor man sich aber der Aufgabe widmet, deren Beziehung zueinander aufzuklären, sollte zunächst untersucht werden, inwieweit jedem Konzept für sich genommen mehr Profil verliehen werden kann. Wenn überhaupt eine Abhängigkeit zwischen den beiden Konzepten besteht, so scheint einiges dafür zu sprechen, mit der Untersuchung nicht beim Überlegungsgleichgewicht, sondern beim Kohärenzbegriff anzusetzen. Denn vielleicht stützt sich die Ausarbeitung der Methode des Überlegungsgleichgewichts auf einen Begriff von Kohärenz. 35 Im Schlusskapitel dieser Untersuchung (Abschnitt 6.3.2) wird noch einmal auf die Frage eingegangen, welche der beiden soeben skizzierten Interpretationen durch die Ergebnisse der im Folgenden entwickelten Analyse des Kohärenzbegriffs stärker gestützt wird.

1.4 Überlegungsgleichgewicht und Kohärenz

35

Dagegen ist nicht zu sehen, in welcher Weise die Explikation eines Kohärenzbegriffs im oben beschriebenen Sinn von der Ausarbeitung einer iterativen Methode der Rechtfertigung moralischer Urteile abhängig sein sollte. Aus diesem Grund ist es methodisch angebracht, sich zunächst auf die Explikation der in der Ethik vorhandenen Vorstellungen von Kohärenz zu konzentrieren. Erst dann lässt sich sinnvoll die Frage stellen, ob man daraus etwas für die Charakterisierung des Überlegungsgleichgewichts lernen kann. Diese Strategie wird in der vorliegenden Untersuchung verfolgt. Wenden wir uns also der Frage zu, was Kohärenz in der Ethik bedeutet.

2. Ein kognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen 2.1 Einleitung Kohärenz trägt zur Rechtfertigung moralischer Urteile bei. Was dies betrifft, herrscht bei vielen kohärentistisch orientierten Ethikern über verschiedene Lager hinweg Einigkeit. Will man aber genau herausarbeiten, was in diesem Slogan mit dem Term „Kohärenz“ gemeint ist, ergibt sich das Problem, dass die beiden basalen Begriffe Rechtfertigung und Moralurteil in der gegenwärtigen Metaethik nicht einheitlich verwendet werden. In diesem Kapitel wird rekonstruiert, welche Bedeutung diese Begriffe im Rahmen einer kognitivistischen Metaethik haben und welche Interpretation des Kohärenzbegriffs vor diesem Hintergrund einschlägig ist. Die Kernthese dieses Kapitels lautet: Bezieht man sich im Kognitivismus auf den Kohärenzbegriff, so wird dieser meistens als ein Grundbegriff der Theorie epistemischer Rechtfertigung moralischer Überzeugungen aufgefasst.1 Zudem handelt es sich bei diesem um genau denselben Kohärenzbegriff, der auch in der theoretischen Philosophie, insbesondere in der Debatte um die 1 Einige wenige Kognitivisten vertreten auch eine Kohärenztheorie der Wahrheit. Diese spielt jedoch, wie im Abschnitt 2.2.3 dieses Kapitels gezeigt wird, in der kognitivistischen Tradition eine nur marginale Rolle und wird hier deswegen nicht weiter thematisiert. Ungleich bedeutsamer ist die Kohärenztheorie der Wahrheit innerhalb der Tradition des moralischen Nonkognitivismus. Deshalb wird sie im dritten Kapitel der vorliegenden Untersuchung ausführlich diskutiert.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Epistemologie empirischen Wissens, gegenwärtig kontrovers diskutiert wird. Diese enge Parallele zwischen dem epistemologischen Kohärentismus in der Epistemologie empirischen Wissens und in der kognitivistischen Metaethik wird im Folgenden in drei Schritten nachgewiesen. Weil in der Metaethik keine einheitliche Terminologie verwendet wird, gilt es zunächst zu klären, was unter moralischem Kognitivismus zu verstehen ist. Insbesondere geht es darum, den Begriffen Moralurteil und Rechtfertigung mehr Kontur zu verleihen, um eine tragfähige Grundlage für die Explikation des Kohärenzbegriffs zu schaffen (2.2). Im zweiten Schritt wird gezeigt, dass unter kognitivistischen Vorannahmen genau derselbe Kohärenzbegriff auf die Moral anwendbar ist, der auch in der allgemeinen Epistemologie, insbesondere in der Epistemologie empirischen Wissens diskutiert wird. Es werden die Parallelen der Charakterisierung des Kohärenzbegriffs in den beiden Anwendungsbereichen nachgezeichnet und es wird gezeigt, dass sich für dessen Explikation hier wie dort exakt dieselben Probleme ergeben (2.3). Schließlich werden am Beispiel der Kohärenztheorie von Geoffrey Sayre-McCord die Grundlinien einer kohärentistischen Theorie epistemischer Rechtfertigung für die Ethik dargestellt. Sayre-McCord hat im Bereich der Ethik wohl den elaboriertesten Ansatz zu einer solchen Kohärenztheorie entwickelt. Trotzdem kann an seiner Theorie aufgezeigt werden, in welcher Weise die Debatte um Kohärenztheorien in der Ethik erheblich von den Ergebnissen profitieren kann, die in der theoretischen Philosophie vorliegen. Hierfür sind wiederum die engen Parallelen verantwortlich, die zwischen diesen beiden Anwendungsbereichen des epistemologischen Kohärentismus bestehen. Abschließend werden die wichtigsten Einwände gegen den Kohärentismus in der moralischen Epistemologie diskutiert (2.4).

2.2 Der moralische Kognitivismus

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2.2 Der moralische Kognitivismus Das Ziel dieses Abschnitts besteht darin, die Kernthese des moralischen Kognitivismus so weit zu präzisieren, wie es für die hier verfolgten Zwecke nötig ist. Es wird gezeigt, dass es sich dabei in erster Linie um eine epistemologische These handelt, und es wird untersucht, welche Implikationen mit dieser auf semantischer und ontologischer Ebene verbunden sind. Dabei wird deutlich werden, dass sich die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung auf eine Klasse von Vorannahmen stützen muss, die im Bereich der Ethik sehr viel kontroverser diskutiert werden als es in der Epistemologie empirischen Wissens der Fall ist. Eine Besonderheit dieser Untersuchung besteht darin, dass sie sich nicht auf den Begriff des Moralurteils stützt. Da dieser in der Metaethik sehr prominent ist, verlangt diese terminologische Entscheidung zunächst nach einer Begründung (2.2.1). Dann wird die Kernthese des Kognitivismus mit Hilfe der eingeführten Terminologie näher charakterisiert. Es wird expliziert, auf welches Annahmenbündel sich ein Kognitivist auf den verschiedenen Analyseebenen in der Metaethik genau festlegt. Dabei geht es zum einen um die Implikationen der kognitivistischen Kernthese für die Semantik der Moralsprache (2.2.2), zum anderen um eine weit verbreitete und dennoch verfehlte Auffassung zu deren Implikationen auf ontologischer Ebene. So findet sich in der Literatur häufig die Auffassung, mit der Festlegung auf den moralischen Kognitivismus sei notwendig die Festlegung auf den moralischen Realismus verbunden. Es wird dargestellt, dass dem nicht so ist. Vielmehr kann der moralische Kognitivismus sowohl mit einer realistischen als auch mit einer antirealistischen Ontologie verbunden werden (2.2.3). 2.2.1 Der Begriff des Moralurteils Der primäre Grund dafür, dass in der vorliegenden Untersuchung der Begriff des Moralurteils nicht verwendet wird, besteht in seiner Vieldeutigkeit. Kaum ein Begriff wird in der

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Metaethik in so vielen verschiedenen Bedeutungen verwendet wie der Begriff des Moralurteils. Allein innerhalb des kognitivistischen Ansatzes lassen sich mindestens drei Verwendungen unterscheiden. Dies führt häufig zu Missverständnissen. Es kommt hinzu, dass auch viele Nonkognitivisten den Term „Moralurteil“ verwenden – allerdings wieder in einer anderen Bedeutung.2 Weil es an dieser Stelle wichtig ist, den zentralen Gehalt der kognitivistischen Kernthese klar zu formulieren, stellt der vieldeutige Begriff des Moralurteils einen ungeeigneten Ausgangspunkt dar. Deshalb werden im Folgenden zunächst die drei verschiedenen Bedeutungen voneinander abgegrenzt, in denen der Term „Moralurteil“ im Kognitivismus zumeist verwendet wird. Für die verschiedenen Begriffe werden alternative Bezeichnungen eingeführt, die möglichst eindeutig sind. Zunächst wird das Wort „Moralurteil“ – oder allgemein „Urteil“ („judgement“) – häufig gebraucht, um konkrete Instanzen sprachlicher Urteilsbekundungen zu bezeichnen. In dieser Weise scheint es z. B. Jonathan Dancy in seiner Darstellung der Grundthese des moralischen Kognitivismus zu verwenden (Dancy 1993, 7): Cognitivists hold that moral judgements express beliefs […]

Dancy sagt wenig darüber, wie er den Begriff des Moralurteils an dieser Stelle genau auffasst. Die Tatsache, dass er davon spricht, dass Moralurteile (nach kognitivistischer Auffassung) Überzeugungen ausdrücken, lässt sich aber als Hinweis darauf interpretieren, dass ein Moralurteil eine sprachliche Äußerung darstellt. Das heißt nicht, dass Dancy sich darauf festlegen will, dass ausnahmslos alle Instanzen moralischer Äußerungen Überzeugungen ausdrücken. Ein Kognitivist, so will er vielmehr sagen, vertritt die These, dass sich in moralischen Äußerungen Überzeugungen ausdrücken können, während sich ein 2 Ich komme darauf im Abschnitt 3.2.2 zu sprechen.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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Nonkognitivist darauf festlegt, dass dies grundsätzlich nicht möglich ist.3 Es ist also mit Dancys Formulierung durchaus verträglich, dass es Situationen geben mag, in denen ein moralischer Satz geäußert wird („Stehlen ist moralisch falsch!“), ohne dass es sich dabei um ein Moralurteil handelt. Dies wäre z. B. dann der Fall, wenn dieser Satz lediglich geäußert wird, um die Funktionsfähigkeit eines Mikrofons zu testen. Nicht alle moralischen Äußerungen sind also Moralurteile. Für die hier verwendete Terminologie ergibt sich aus diesen Überlegungen Folgendes: Ganz allgemein werden konkrete sprachliche Verlautbarungen mit moralischem Gehalt als „moralische Äußerungen“ bezeichnet. Moralurteile sind dabei nur die Instanzen moralischer Äußerungen, mit denen ein Sprecher zu moralischen Fragen Stellung nehmen will. Diese Gegenstände werden in der vorliegenden Untersuchung als „moralische Behauptungen“ bezeichnet. Davon abzugrenzen ist eine zweite Verwendung des Terms „Moralurteil“: Diese liegt in allen Kontexten vor, in denen z. B. von der Kategorizität oder der Universalisierbarkeit von Moralurteilen die Rede ist.4 In diesen Kontexten bezieht sich der Term „Moralurteil“ offensichtlich nicht auf konkrete Instanzen sprachlicher Äußerungen bzw. Behauptungen. Was soll es auch heißen, dass eine moralische Äußerung oder Behauptung universalisierbar ist? Wenn in solchen Kontexten von Moralurteilen die Rede ist, so ist damit der Gehalt dieser Äußerungen gemeint. Dieser Bedeutungsaspekt des Urteilsbegriffs wird z. B. auch in dem folgenden sprachlichen Kontext aktualisiert: Tim und Tom haben unabhängig voneinander dasselbe moralische Urteil geäußert. 3 Ich komme auf die inhaltlichen Aspekte von Dancys Charakterisierung des moralischen Kognitivismus im Abschnitt 2.2.2.1 dieses Kapitels zurück. Die Abgrenzung des moralischen Nonkognitivismus vom Kognitivismus wird in der vorliegenden Untersuchung im Abschnitt 3.2.2 ausführlich thematisiert. 4 Siehe z. B. Birnbacher 2003, 20–43.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Wenn diese beiden Personen jede für sich einem bestimmten Urteil sprachlichen Ausdruck verliehen haben, so lassen sich auf sprachlicher Ebene zwei verschiedene Gegenstände unterscheiden: Die sprachliche Äußerung von Tim und die sprachliche Äußerung von Tom. Mit der Rede von „demselben Urteil“ ist gemeint, dass diese beiden moralischen Äußerungen bezüglich ihres Gehalts identisch sind. Derartige Gehalte bzw. Satzbedeutungen werden in der analytischen Philosophie häufig als „Propositionen“ bezeichnet. Während das Wort „Proposition“ in der englischen Normalsprache fest verankert ist, stellt es in der deutschen Sprache ein Kunstwort dar, das ausschließlich in den entsprechenden Fachdiskursen verwendet wird. Das Wort „Aussage“ ist in der deutschen Normalsprache – und auch in Teilen der deutschsprachigen Debatten in der Ethik und Metaethik – viel weiter verbreitet. Deshalb werde ich im Folgenden die beiden Terme „Proposition“ und „Aussage“ bedeutungsgleich verwenden. Wenn also über moralische Aussagen gesprochen wird, so ist damit nie der Akt des Aussagens gemeint, sondern stets das Ausgesagte, d. h. der propositionale Gehalt moralischer Äußerungen oder Behauptungen. Die dritte und letzte Bedeutung schließlich, in welcher der Term „Moralurteil“ häufig verwendet wird, bezieht sich auf die mentale Ebene. In dieser Bedeutung tritt das Wort „Urteil“ in sprachlichen Kontexten auf, in denen davon die Rede ist, dass eine bestimmte Person ein Urteil fällt, nach längerem Nachdenken zu einem Urteil kommt oder moralisch urteilt. Auf diese Wortbedeutung bezieht sich z. B. John Skorupski, wenn er scheibt: Judging that p means coming or continuing to believe (‘genuinely’, ‘fully’) that p. (Skorupski 1999, 439)

Wenn eine Person demnach den mentalen Akt des moralischen Urteilens vollzieht, so erwirbt oder aktualisiert sie dabei eine moralische Überzeugung. Wenn ich zu dem Urteil komme, dass Lügen moralisch falsch ist, dann erkenne ich es als wahr an, dass Lügen moralisch falsch ist. Nach dem Urteilsakt habe

2.2 Der moralische Kognitivismus

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ich entweder eine Überzeugung erworben oder eine bereits vorhandene Überzeugung aktualisiert: Ich halte nun für wahr, dass Lügen moralisch falsch ist. Das Fällen des Urteils, dass p, kann also mit dem Erwerb oder der Aktualisierung der Überzeugung, dass p, identifiziert werden. Da die Distinktion zwischen dem Überzeugungserwerb (bzw. der Aktualisierung einer Überzeugung) und dem Überzeugtsein bei den folgenden Überlegungen keine gravierende Rolle spielt, wird der Urteilsbegriff im Rahmen der vorliegenden Untersuchung auch nicht in dieser Bedeutung verwendet. Stattdessen wird der Begriff der moralischen Überzeugung eingeführt. Eine Person hat genau dann die moralische Überzeugung, dass p, wenn p eine moralische Aussage darstellt und die Person diese moralische Aussage für wahr hält. Das Wort „Moralurteil“ wird in dieser Untersuchung also durch die folgende alternative Terminologie ersetzt: Sprachliche Verlautbarungen moralischen Gehalts werden generell als „moralische Äußerungen“ bezeichnet. Die Gehalte dieser Äußerungen sind moralische Aussagen (Propositionen). Hält eine Person die moralische Aussage, dass p, für wahr, so hat die betreffende Person die moralische Überzeugung, dass p. Teilt die betreffende Person ihre Überzeugung p schließlich in der Form einer konkreten sprachlichen Äußerung mit, so stellt diese Person eine moralische Behauptung auf. Mit Hilfe dieser Terminologie lässt sich nun die Grundthese des moralischen Kognitivismus explizieren. 2.2.2 Was ist moralischer Kognitivismus? Der Kognitivismus, soviel ergibt sich bereits aus dem Wortsinn der Bezeichnung,5 stellt primär eine erkenntnistheoretische bzw. epistemologische Position in der Metaethik dar.6 Ein Kognitivist be5 Die Bezeichnung Kognitivismus leitet sich vom lateinischen cognoscere ab: erkennen, wiedererkennen, wahrnehmen. 6 So auch Birnbacher (2003, 354) und Czaniera (2001, 14).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

hauptet, dass die Wahrheit und Falschheit moralischer Aussagen erkennbar ist. Damit ist nicht die Festlegung auf die These verbunden, dass alle moralischen Wahrheiten erkennbar wären oder dass wir sogar im Besitz aller moralischen Wahrheiten wären. Jeder Kognitivist wird zustimmen, dass wir uns bezüglich der Wahrheit moralischer Aussagen genauso täuschen können, wie wir uns bezüglich der Wahrheit empirischer oder mathematischer Aussagen täuschen können. Deshalb legt der Kognitivismus weder einen moralischen Dogmatismus nahe, noch stellt er unrealistisch hohe Ansprüche an unsere epistemischen Fähigkeiten. Grundlegend für den Kognitivismus ist lediglich der Anspruch, dass unsere epistemischen Bemühungen im Bereich der Moral nicht gänzlich vergeblich sind. Wir können unsere Ansichten zur Moral insoweit begründen, dass wir deren Wahrheit oder Falschheit zumindest in einigen Fällen erkennen. In erster Annäherung lässt sich also festhalten, dass es sich beim moralischen Kognitivismus um eine nicht-skeptische Auffassung von der Epistemologie der Moral handelt. Diese Charakterisierung ist mit unserem alltäglichen Verständnis von Moral gut verträglich. Gemeinhin gehen wir davon aus, dass es richtige und falsche Antworten auf moralische Fragen gibt und dass wir über konkurrierende moralische Ansichten rational diskutieren können.7 Was aber sollte hier rational diskutiert werden, wenn nicht die Wahrheit oder die Falschheit dieser Ansichten? Generell wird man zumindest davon ausgehen, dass wir in der Lage sind, sowohl moralische Auffassungen argumentativ zu stützen als auch die Falschheit moralischer Auffassungen durch Argumente zu belegen. Der moralische Kognitivismus in der Metaethik lässt sich als ein Projekt auffassen, diese im common sense akzeptierten Vorstel7 Dass unser Alltagsverständnis von Moral kognitivistische Intuitionen im Sinne der Möglichkeit des Irrtums und rationaler Kritik nahe legt, wird auch von vielen Nonkognitivisten nicht bestritten. Siehe z. B. Scarano (2001, 31) und Blackburn (2006, 153).

2.2 Der moralische Kognitivismus

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lungen zur Moralsprache in systematischer Weise zu begründen. Über die exakte Formulierung der kognitivistischen Kernthese besteht dabei keineswegs Einigkeit. Im Folgenden wird die Kernthese so weit präzisiert, wie es für die in dieser Untersuchung verfolgten Zwecke nötig ist. Geht man von der grundlegenden kognitivistischen Intuition aus, dass wir die Wahrheit und Falschheit moralischer Aussagen erkennen können, so lässt sich die Kernthese des Kognitivismus in einfacher Form formulieren wie folgt: K Es gibt moralisches Wissen. Die kognitivistische Kernthese kommt in dieser Formulierung zunächst bescheiden daher: Der logischen Form nach handelt es sich lediglich um eine Existenzbehauptung. Zudem werden keine Aussagen darüber getroffen, wie umfangreich dieses Wissen um Moral ist. Allerdings hat diese These eine Reihe anspruchsvoller Implikationen, die in der gegenwärtigen Metaethik kontrovers diskutiert werden. Dies lässt sich anhand der folgenden Reformulierung illustrieren: K1 Es gibt (i) moralische Überzeugungen, die (ii) wahr und (iii) epistemisch gerechtfertigt sind. Dass sich K in dieser Weise reformulieren lässt, ergibt sich aus der klassischen, gemeinhin Platon zugeschriebenen Wissensdefinition, derzufolge Wissen als wahre gerechtfertigte Überzeugung definiert wird. Auch wenn angestoßen durch Gettier (1963) in der allgemeinen Epistemologie debattiert wird, ob diese drei Bedingungen gemeinsam hinreichend für das Vorliegen von Wissen sind,8 wird in der Epistemologie gemeinhin nicht bestritten, 8 Gettier (1963) hat in einer Diskussionsnotiz darauf aufmerksam gemacht, dass es Fälle gibt, in denen zwar alle drei Bedingungen erfüllt sind, in denen wir aber trotzdem nicht von Wissen sprechen. Es handelt sich dabei um Fälle, in denen eine Person in einer ihrer Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt ist, diese Rechtfertigung

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

dass alle drei Bedingungen einzeln notwendig sind.9 Selbst wenn man sich aus diesem Grund nicht darauf festlegen will, dass K und K1 denselben Gehalt haben, lässt sich sagen, dass sich ein Kognitivist zumindest auf K1 festlegen muss, wenn er die These K verteidigen will. Betrachten wir deshalb die drei in K1 unterschiedenen Implikationen der Kernthese des moralischen Kognitivismus etwas genauer. 2.2.2.1. Die Existenz moralischer Überzeugungen Den ersten Bestandteil der kognitivistischen These K1, (i) es gibt moralische Überzeugungen, betont z. B. Dancy in der bereits zitierten Textstelle (Dancy 1993, 7):

zwar verfehlt ist, die betreffende Überzeugung aber trotzdem wahr ist. Für die Wahrheit dieser Überzeugung ist in Gettiers Beispielen jeweils ein für die fragliche Person glücklicher Zufall verantwortlich. Gettier wendet sich also nicht dagegen, dass die drei in K1 genannten Bedingungen notwendig für das Vorliegen von Wissen sind. Er bezweifelt lediglich, dass sie gemeinsam hinreichend dafür sind, einer Person Wissen zuzusprechen. Da hier die Diskussion der drei in K1 genannten Komponenten der Kernthese K im Mittelpunkt stehen wird, ist dieses spezielle Problem, das deren Beziehungen zueinander betrifft, in dieser Untersuchung von untergeordneter Bedeutung. Die sogenannte Gettier-Problematik hat sich in der Epistemologie als äußerst widerspenstiges Problem bei der Definition des Wissensbegriffs herausgestellt, für das bis heute keine allgemein akzeptierte Lösung vorgelegt worden ist (s. für einen Überblick über verschiedene Ansätze Bieri 1997, 73–174). Es lässt sich feststellen, dass die Implikationen dieses Problems für die Epistemologie der Moral bisher weitgehend undiskutiert geblieben sind. 9 Dies gilt zumindest dann, wenn man von einigen wenigen Ansätzen zur Definition des Wissensbegriffs absieht, die z. B. Sartwell (1992) und in jüngerer Vergangenheit Beckermann (2001, 2002) vorgelegt haben. Diese Autoren vertreten eine minimalistische Wissensdefinition. Sie behaupten, dass Wissen als wahre Meinung definiert werden kann.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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Cognitivists hold that moral judgements express beliefs […]10

Akzeptiert man die Interpretation des Urteilsbegriffs, die ich Dancy oben zugeschrieben habe, so behauptet er hier: In moralischen Äußerungen drücken sich Überzeugungen aus. Wir können demnach in derselben Weise wie zu nichtmoralischen Aussagen auch zu moralischen Aussagen die propositionale Einstellung des Fürwahrhaltens einnehmen.11 Obwohl diese Parallelisierung von vielen Autoren in der Metaethik bestritten wird, ist sie mit unseren normalsprachlichen Intuitionen zur Sprache der Moral gut verträglich. Verdeutlichen wir dies anhand eines Beispiels. Betrachten wir zunächst den nichtmoralischen Fall: Wenn ich davon überzeugt bin, dass heute die Sonne scheint, dann halte ich es für wahr, dass heute die Sonne scheint. Die nichtmoralische Aussage lautet hier „Heute scheint die Sonne“. Wenn ich zu dieser nichtmoralischen (in diesem Fall: empirischen) Aussage die Einstellung des Fürwahrhaltens habe, so bin ich überzeugt, dass heute die Sonne scheint. Der moralische Kognitivist rekonstruiert nun die Beziehung zwischen moralischen Aussagen und moralischen Überzeugungen in genau derselben Weise: Ist eine Person von einer moralischen Aussage p überzeugt, so hält die Person die moralische Aussage p für wahr. Die These, dass es moralische Überzeugungen gibt, ist ein zentraler Bestandteil der kognitivistischen Position.12 Allerdings 10 Ähnliches behauptet Dancy auch an anderer Stelle: „Cognitivism is the claim that moral attitudes are cognitive states rather than noncognitive ones. […] Beliefs […] are the paradigm examples of a cognitive state.“ (Dancy 1998, 534) 11 Ich beziehe mich hier auf die von Bertrand Russell eingeführte und in der analytischen Philosophie gegenwärtig weithin akzeptierte Auffassung, dass es sich bei Überzeugungen generell um propositionale Einstellungen des Fürwahrhaltens handelt (Russell 1918; zitiert nach 1986, 167, 192). S. dazu noch ausführlicher Abschnitt 3.2.1. 12 Wie im dritten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt wird, setzt die nonkognitivistische Kritik am Kognitivismus an genau dieser Stelle

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

ist diese These für sich genommen zu schwach, um die kognitivistische Doktrin adäquat zu explizieren. Sie besagt ja lediglich, dass es moralische Aussagen gibt, die wir für wahr halten. Aus der Tatsache, dass man eine Aussage für wahr hält, folgt aber nicht, dass diese Aussage auch wahr ist. Geht man jedoch davon aus, dass es in der Moral Erkenntnisse gibt, so stellt sich die Frage, wie es um die Wahrheit moralischer Aussagen steht. Wenden wir uns nun diesem Aspekt des Kognitivismus zu. 2.2.2.2. Die Wahrheit moralischer Aussagen Sieht man die gegenwärtige Literatur zur Metaethik nach Charakterisierungen des moralischen Kognitivismus durch, so fällt auf, dass zuweilen die Behauptung der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen als Kernthese des Kognitivismus ausgegeben wird. Betrachten wir zwei Beispiele: Kognitivistische und nichtkognitivistische [Typen ethischer Theorien]: Eine erste metatheoretische Unterscheidung ethischer Theorien – die grundsätzlichste überhaupt – ergibt sich aus der Frage, ob normative Aussagen Behauptungssätze sind […]. Behauptungssätze zeichnen sich vor anderen Sätzen dadurch aus, daß sie entweder wahr oder falsch sind. (von Kutschera 1999, 50–51) Ein erster bedeutender Klassifikationsansatz unterscheidet kognitivistische und nonkognitivistische Ansätze. Diese Unterscheidung orientiert sich an der Frage, ob normative Sätze einen Wahrheitswert haben oder nicht. (Gesang 2000, 21)

Wenn diese Äußerungen als Charakterisierungen der Kernthese des Kognitivismus aufzufassen sind,13 dann geht dabei der an. Die Vertreter des Nonkognitivismus bestreiten die These, dass sich in moralischen Äußerungen Überzeugungen ausdrücken (Abschnitt 3.2.2). 13 Dies geht zugegebenermaßen aus den Formulierungen nicht zweifelsfrei hervor. Beide behaupten lediglich, dass sich die Unterscheidung von Kognitivismus und Nonkognitivismus „aus der Frage ergibt“ bzw. „an der Frage orientiert“, ob moralische Aussagen (die Gehalte

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grundlegende Aspekt verloren, dass es sich beim Kognitivismus um eine erkenntnistheoretische bzw. epistemologische Doktrin in der Metaethik handelt. An dieser Stelle zeigt sich, wie wichtig es ist, die verschiedenen Analyseebenen der Metaethik auseinander zu halten. Die These von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen ist eine These zur Semantik der Moralsprache; sie bezieht sich also auf die semantische Analyseebene. Für sich genommen kann der Verweis auf die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen allein noch keine spezifische Version der moralischen Epistemologie begründen. Allerdings sind die verschiedenen Analyseebenen nicht voneinander unabhängig. Der wahre Kern von Gesangs und von Kutscheras Charakterisierungen liegt darin, dass sich in ihnen eine Implikation der kognitivistischen Kernthese auf semantischer Ebene ausdrückt: Dass es moralisches Wissen gibt, lässt sich nur unter der Voraussetzung verteidigen, dass moralische Aussagen wahrheitswertfähig sind. In diesem Sinn stellt die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen eine notwendige Bedingung für die Verteidigung des Kognitivismus dar, sie sollte aber nicht mit der Kernthese des moralischen Kognitivismus verwechselt werden. Die Formulierungen von Gesang und von Kutschera sind nämlich dafür in zumindest zweierlei Hinsicht zu schwach. Die eine Hinsicht wurde bereits genannt: Die These von der Wahrheitswertfähigkeit stellt eine semantische These dar, während die kognitivistische Kernthese primär eine These zur Epistemologie der Moral ist. Es gibt aber noch eine zweite Hinsicht, in der Gesangs und von Kutscheras Formuliemoralischer Behauptungen bzw. moralischer Sätze) wahrheitswertfähig sind. Sowohl Gesang als auch Kutschera könnten sich gegen die im Folgenden von mir vorgebrachte Kritik mit dem Hinweis wehren, sie hätten nicht behauptet, dass dies die einzige Frage sei, an der sich die Unterscheidung orientiert. Allerdings geht m. E. in beiden Fällen aus dem Kontext eindeutig hervor, dass sowohl Kutschera als auch Gesang mit den jeweiligen Formulierungen intendieren, die kognitivistische Kernthese anzugeben.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

rung zu schwach ist. Die These von der Wahrheitswertfähigkeit erfasst nicht einmal die semantischen Implikationen der kognitivistischen Kernthese vollständig. Mit der These von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen allein legt man sich nämlich noch nicht darauf fest, dass es wahre moralische Aussagen gibt. Nimmt man Gesang und von Kutschera beim Wort, so folgt Letzteres auch nicht aus ihren Charakterisierungen. Nach Gesang haben „normative Sätze einen Wahrheitswert“. Damit ist nur gesagt, dass diese Sätze einen Wahrheitswert haben, und nicht, welchen Wahrheitswert sie haben. Dasselbe gilt für von Kutscheras Formulierung: Die Bedingung, dass moralische Behauptungen „entweder wahr oder falsch“ sind, ist auch dann erfüllt, wenn alle moralischen Behauptungen falsch sind. Dieser Punkt mutet spitzfindig an. Er verdient aber Beachtung, weil die These in der Metaethik vertreten wird, dass moralische Aussagen zwar wahrheitswertfähig aber allesamt falsch sind – und zwar innerhalb der nonkognitivistischen Tradition. Der prominenteste Vertreter einer solchen Fehlertheorie (error theory) in der Metaethik ist John L. Mackie: Nach Mackie wären moralische Aussagen nur dann wahr, wenn es objektive moralische Werte gäbe, auf die sich die entsprechenden Aussagen beziehen würden. Mackie argumentiert nun für eine antirealistische Ontologie der Moral, nach der es solche objektiven Werte (objective values) nicht gibt. Gleichzeitig gesteht er allerdings zu, dass unsere Moralsprache über einen Objektivitätsanspruch verfügt. Wenn wir moralische Sätze äußern, so ist damit der Anspruch verbunden, wahrheitswertfähige Aussagen über das Bestehen oder Nichtbestehen objektiver Werte zu treffen. Mackies Fehlertheorie ergibt sich aus dieser Kombination einer objektivistischen Semantik der Moralsprache und der Leugnung der Existenz objektiver Werte auf ontologischer Ebene: The claim to objectivity, however ingrained in our language and thought, is not self-validating. It can and should be questioned. But the denial of objective values will have to be put forward not as the result of an analytic approach, but as an ‘error theory’, a theory that

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although most people in making moral judgements implicitly claim, among other things, to be pointing to something objectively prescriptive, these claims are all false. It is this that makes the name ‘moral scepticism’ appropriate. (Mackie 1977, 35)14

Wie an dieser Stelle deutlich wird, ist es also möglich, die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen zuzugestehen und gleichzeitig abzulehnen, dass es wahre moralische Aussagen gibt. Da es aber moralisches Wissen nur dann geben kann, wenn es wahre moralische Aussagen gibt, muss man als Kognitivist die folgende Bedingung akzeptieren: K2 (i) Moralische Aussagen sind wahrheitswertfähig und (ii) es gibt moralische Aussagen, die wahr sind. Erst mit dieser verstärkten Bedingung wird die semantische Implikation der kognitivistischen Kernthese vollständig erfasst. Wie leicht ersichtlich ist, impliziert das zweite Konjunkt (ii) das 14 Strenggenommen legt sich Mackie an dieser häufig zitierten Stelle nicht explizit darauf fest, dass alle moralischen Aussagen falsch sind. Er sagt lediglich, dass der mit moralischen Aussagen verbundene Anspruch, dass es objektive Werte gebe, in jedem einzelnen Fall falsch ist. Es gibt einige Autoren, die der Auffassung sind, Mackie habe sich in seiner Fehlertheorie auch nur auf die letztere These festlegen wollen (s. Birnbacher 2003, 356–357). In dieser bescheidenen Interpretation droht aber die entscheidende Pointe der Fehlertheorie verloren zu gehen. Denn dass es keine objektiven Werte gibt, behauptet jeder Antirealist. Die Fehlertheorie kombiniert dagegen den moralischen Antirealismus mit einer objektivistischen Semantik der Moralsprache. Was sollte Mackie mit seiner These, dass unsere Semantik der Moralsprache einen objektivistischen Anspruch inkorporiert, anderes meinen, als dass moralische Aussagen allesamt wahrheitswertfähig sind? Geht man aber von der objektiven Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen aus, so folgt aus der Kombination mit einer antirealistischen Ontologie, dass alle moralischen Aussagen falsch sind. Deshalb wird in dieser Untersuchung diese anspruchsvolle Interpretation der Fehlertheorie zugrunde gelegt, die auch in der Literatur häufig vertreten wird (Copp 2006, 9; Halbig 2004, 280 und 2007, 198; Schaber 1997, 33).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

erste Konjunkt (i). Ich formuliere K2 hier in dieser redundanten Weise, um damit zu veranschaulichen, inwiefern die These von der Wahrheitswertfähigkeit verstärkt werden muss. Denn würde man sich nur auf deren erstes Konjunkt (i) festlegen, so ließe sich die These, dass es moralisches Wissen gibt, mit dem Hinweis zurückweisen, dass es keine wahren moralischen Aussagen gibt. Weil die Existenz moralischen Wissens in diesem Fall durch eine Festlegung auf semantischer Ebene ausgeschlossen wäre, würde eine solche Position den Namen „Kognitivismus“ nicht verdienen. Deshalb ist die Verstärkung von K2 um das zweite Konjunkt eine für den Kognitivisten notwendige Voraussetzung. Diese Verstärkung um das Konjunkt (ii) ändert indes nichts daran, dass K2 nicht die Kernthese des Kognitivismus ist, sondern nur deren Implikation auf semantischer Ebene darstellt. Denn ein Kognitivist, so wurde eingangs festgestellt, vertritt per definitionem eine nicht-skeptische Epistemologie der Moral. Dies aber wird mit K2 allein nicht adäquat erfasst. Auch wenn Mackies Form des moralischen Skeptizismus ausgeschlossen ist, so ist K2 immer noch mit zumindest zwei anderen Formen des Skeptizismus in der Metaethik verträglich.15 K2 fordert ja lediglich, dass es wahre moralische Aussagen gibt. Die kognitivistische Kernthese impliziert jedoch, dass es moralische Überzeugungen gibt, die wahr und epistemisch gerechtfertigt sind. Deshalb ist es ohne weiteres möglich, K2 zu akzeptieren und 15 Es lässt sich bezweifeln, ob Mackies Charakterisierung seiner Position als moral scepticism adäquat ist. Schließlich behauptet Mackie nicht, dass wir nicht um die Wahrheit oder Falschheit moralischer Aussagen wissen. Vielmehr wissen wir gemäß seiner Metaethik ganz genau, dass alle moralischen Aussagen falsch sind. Traditionell wurde die Bezeichnung „Skeptizismus“ aber immer eingesetzt, um Positionen zu charakterisieren, die epistemischen Ansprüchen gegenüber ablehnend gegenüberstehen. Weil dies in Mackies Fall nicht gegeben ist, ist seine Selbstinterpretation als Skeptiker durchaus irreführend (siehe dazu z. B. auch Birnbacher 2003, 355).

2.2 Der moralische Kognitivismus

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gleichzeitig den Kognitivismus zurückzuweisen. Entweder man akzeptiert, dass es wahre moralische Aussagen gibt, lehnt aber ab, dass diese Aussagen zu Gehalten von Überzeugungen werden können.16 Oder aber man vertritt die These, dass es zwar wahre moralische Überzeugungen gibt, dass wir aber keine guten Gründe anführen können, an deren Wahrheit zu glauben, weil uns die epistemischen Fähigkeiten fehlen, diese Überzeugungen zu rechtfertigen. Die oben vorgeschlagene Reformulierung der kognitivistischen Kernthese K1 Es gibt (i) moralische Überzeugungen, die (ii) wahr und (iii) epistemisch gerechtfertigt sind. ist also in zweierlei Hinsicht stärker als K2. Erstens wird darin nicht nur gefordert, dass es wahre moralische Aussagen geben muss, sondern dass diese auch Gehalte moralischer Überzeugungen darstellen. Zweitens müssen einige der wahren moralischen Überzeugungen auch epistemisch gerechtfertigt sein. Wie die Teilbehauptung zu verstehen ist, dass es moralische Überzeugungen gibt, wurde bereits im Abschnitt 2.2.2.1 dargestellt. Kommen wir deshalb auf die Frage der epistemischen Rechtfertigung zu sprechen. 2.2.2.3. Die epistemische Rechtfertigbarkeit moralischer Überzeugungen Damit eine wahre moralische Überzeugung moralisches Wissen darstellt, muss sie epistemisch gerechtfertigt sein. Was aber bedeutet der Begriff epistemischer Rechtfertigung? Fragen wir zunächst danach, wie dieser Begriff in der allgemeinen Epistemologie charakterisiert wird, d. h. zunächst einmal unabhängig von seiner Anwendung auf den Bereich der Moral. William Alston hat in prägnanter Weise einige grundlegende Charakterisierungen zusammengefasst: 16 Wie im dritten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt wird, vertreten moderne Nonkognitivisten wie Blackburn (1984) und Scarano (2001) eine solche Position.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz [Epistemic justification] has to do with a specifically epistemic dimension of evaluation. Beliefs can be evaluated in different ways. One may be more or less prudent, fortunate, or faithful in holding a certain belief. Epistemic justification is different from all that. Epistemic evaluation is undertaken from what we might call the “epistemic point of view.” That point of view is defined by the aim at maximizing truth and minimizing falsity in a large body of beliefs. (Alston 1985, 59)

Alston kennzeichnet den Begriff epistemischer Rechtfertigung hier mit Hilfe von drei Bestimmungen, die in der gegenwärtigen Epistemologie generell akzeptiert sind und auch in dieser Untersuchung vorausgesetzt werden: Erstens handelt es sich bei den Gegenständen, die gerechtfertigt werden, um Überzeugungen (beliefs). Zweitens wird mit der Zuschreibung des epistemischen Gerechtfertigtseins eine Bewertung (evaluation) ausgesprochen. Drittens bezieht sich diese Wertung auf eine epistemische Dimension, d. h. auf eine Bewertung hinsichtlich des Ziels der Wahrheit.17 Überzeugungen sind demnach genau dann epistemisch gerechtfertigt, wenn man sie von einem epistemischen Standpunkt aus als gut bewertet. Wie in den vorigen Abschnitten gezeigt wurde, ist ein in dieser Weise konzipierter Begriff epistemischer Rechtfertigung 17 Alstons Präzisierung des epistemic point of view – es gehe darum, in einem großen Überzeugungssystem möglichst viel Wahres und möglichst wenig Falsches zu glauben – wird durch das folgende Problem bei der Angabe epistemischer Ziele motiviert. Würde man sich auf die Forderung beschränken, möglichst viel Wahres zu glauben, so könnte man dem am besten nachkommen, indem man alles glaubt. Der Maxime, möglichst nichts Falsches zu glauben, kann man dagegen am besten nachkommen, indem man nichts glaubt. Keine dieser Optionen wäre eine adäquate Explikation unserer epistemischen Ziele. Alstons Forderung vermeidet beide Probleme, indem sie die Voraussetzung explizit macht, dass wir den epistemischen Zielen unter der Bedingung gerecht werden wollen, dass wir ein großes Überzeugungssystem haben, in das trotzdem nicht Beliebiges aufgenommen werden soll.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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unter kognitivistischen Vorannahmen auch auf den Bereich der Moral anwendbar. Nach kognitivistischer Auffassung gibt es moralische Überzeugungen, die über wahrheitswertfähige Gehalte verfügen. Unter dieser Voraussetzung können folglich auch moralische Überzeugungen in epistemischer Hinsicht bewertet werden. Deshalb sind innerhalb der kognitivistischen Metaethik zwei verschiedene Rechtfertigungsbegriffe auseinander zu halten. Zum einen ist der Begriff moralischer Rechtfertigung einschlägig. Zum anderen aber ergibt sich aus der kognitivistischen Kernthese, dass auch der Begriff epistemischer Rechtfertigung auf den Gegenstandsbereich der Ethik anwendbar ist. Beide Begriffe weisen erhebliche Analogien auf. So handelt es sich in beiden Fällen um Wertungsbegriffe, d. h. in beiden Fällen geht es darum, Gegenstände in einer bestimmten Hinsicht als gut, in Ordnung oder richtig bzw. als schlecht, defizitär oder falsch zu bewerten. Außerdem entscheidet in beiden Fällen das Vorliegen von Gründen darüber, ob ein Gegenstand x gerechtfertigt ist oder nicht: Fragt man danach, ob x gerechtfertigt ist, wird sich eine adäquate Antwort in beiden Fällen dadurch auszeichnen, dass gute Gründe angeführt werden. Dass aber diese beiden Wertungsbegriffe nicht ohne weiteres miteinander identifiziert werden können, fällt auf, wenn man danach fragt, was hier jeweils in welcher Hinsicht bewertet wird. Ein erster Unterschied ergibt sich in Bezug auf die Gegenstände der Bewertung. Während es sich bei der epistemischen Rechtfertigung um Überzeugungen handelt, werden im Fall der moralischen Rechtfertigung primär Handlungen bewertet. Manchmal spricht man auch Personen den Status des Gerechtfertigtseins zu. In den meisten Fällen ist diese Redeweise jedoch als Abbreviatur für die Zuschreibung zu interpretieren, dass eine Person in ihren Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt bzw. in ihrem Handeln moralisch gerechtfertigt ist. (i) Person A ist epistemisch darin gerechtfertigt, p zu glauben.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

(ii) Person B ist moralisch darin gerechtfertigt, q zu tun. Ein zweiter Unterschied zwischen den beiden Rechtfertigungsbegriffen fällt auf, wenn man nach der Hinsicht oder der Dimension der Bewertung fragt. Während epistemisches Gerechtfertigtsein eine Wertung hinsichtlich des Ziels der Wahrheit ist, bewertet man bei moralischen Rechtfertigungen hinsichtlich der moralischen Richtigkeit. Dass es sich nicht in beiden Fällen um denselben Rechtfertigungsbegriff handeln kann, wird bereits daran deutlich, dass man Handlungen nicht hinsichtlich ihrer Wahrheit bewerten kann. Was sollte das auch heißen? Umgekehrt ist mit der Feststellung, dass eine Person (z. B. aufgrund mangelhafter kognitiver Fähigkeiten) in ihren Überzeugungen nur unzureichend epistemisch gerechtfertigt ist, nicht notwendig eine moralische Bewertung dieser Person verbunden. Die beiden Rechtfertigungsbegriffe stehen in einem komplizierten Verhältnis zueinander.18 An dieser Stelle geht es lediglich darum zu verdeutlichen, dass es sich um zwei distinkte Bewertungsdimensionen handelt, die nicht ohne weiteres aufeinander reduziert werden können. Im Rahmen der vorliegenden Untersuchung ist die Unterscheidung dieser beiden Dimensionen aus zwei Gründen wichtig. Erstens bezieht sich die Rede von Rechtfertigung – zumindest in der kognitivistischen Metaethik – auf zwei verschiedene Begriffe. Dies wird zwar manchmal dadurch verdeckt, dass der Term „Rechtfertigung“ ohne weitere Qualifikation verwendet wird. Es gilt aber stets zu klären, ob der Begriff moralischer oder epistemischer Rechtfertigung gemeint ist.19 Zweitens darf nicht übersehen werden, 18 Roderick Chisholm und Roderick Firth haben eine Debatte angestoßen, in der die Beziehungen zwischen dem moralischen und dem epistemologischen Vokabular umfänglich diskutiert worden sind (Chisholm 1957, Firth 1959). 19 Diese Unterscheidung stellt (neben der Unterbestimmtheit des Urteilsbegriffs) einen zweiten Grund dafür dar, dass der Slogan „Kohärenz trägt zur Rechtfertigung moralischer Urteile bei“ ambig ist.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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dass sich aus dieser Distinktion für den Kognitivisten eine anspruchsvolle theoretische Aufgabe ergibt. Will er die Kernthese des moralischen Kognitivismus zu einer vollständigen Theorie der Metaethik ausbauen, so kann er sich nicht damit zufrieden geben, die Unterscheidung zwischen moralischer und epistemischer Rechtfertigung lediglich zu postulieren. Vielmehr muss er eine Theorie moralischer Rechtfertigung und eine Theorie epistemischer Rechtfertigung vorlegen, in der jeweils erläutert wird, auf welche Kriterien, Methoden oder Fähigkeiten sich die jeweilige Bewertung stützt. Hinsichtlich der moralischen Rechtfertigung leistet dies eine materiale bzw. normative Theorie der Moral, in der erläutert wird, mit Hilfe welcher Kriterien sich moralisch richtige von moralisch falschen Handlungen unterscheiden lassen. Zusätzlich muss ein Kognitivist aber auch angeben, auf welche Weise sich unsere moralischen Überzeugungen epistemisch rechtfertigen lassen. Auf welche Kriterien, Methoden oder Fähigkeiten stützen wir uns, wenn wir moralische Überzeugungen epistemisch rechtfertigen? Die Beantwortung dieser Frage ist gerade im Bereich der Moral mit besonderen Schwierigkeiten verbunden. Der Kognitivist legt sich darauf fest, dass sich moralische Überzeugungen genauso wie nichtmoralische Überzeugungen hinsichtlich des Ziels der Wahrheit bewerten lassen. Daraus folgt aber nicht, dass man der Wahrheit moralischer Überzeugungen mit exakt denselben Methoden oder Fähigkeiten auf die Spur kommen könnte wie z. B. im Falle empirischer Überzeugungen. Während man im Feld empirischen Wissens auf unsere fünf Sinne verweisen kann, die uns einen Zugang zur Erkenntnis empirischer Tatsachen sichern, scheint uns im Feld der Moral eine entsprechende Ressource zu fehlen. Welche Optionen stehen dem Kognitivisten offen, eine befriedigende Theorie epistemischer Rechtfertigung zu entwickeln? Wenn man nicht spezifiziert, ob von epistemischer oder moralischer Rechtfertigung die Rede ist, bleibt offen, welche Art von Rechtfertigung hier gemeint ist.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Wie im Folgenden gezeigt wird, kommt dem Kohärenzbegriff gerade bei der Lösung dieser Aufgabe eine Schlüsselrolle zu. So ist nämlich die Übernahme einer kohärentistischen Position in der moralischen Epistemologie für den Kognitivisten aus mehreren Gründen eine attraktive Option. Bevor ich auf diese Gründe zu sprechen komme, muss die Explikation der metaethischen Position vervollständigt werden. 2.2.3 Der moralische Kognitivismus und der moralische Realismus Warum sind die Beziehungen zwischen dem moralischen Kognitivismus und dem moralischen Realismus im vorliegenden Kontext relevant? Der Grund dafür ist, dass unter kognitivistischen Vorzeichen prinzipiell zwei verschiedene Interpretationen der Kohärenztheorie denkbar sind, von denen die eine aber nur mit antirealistischen Vorannahmen verträglich ist. Somit ergibt sich die Frage, ob man zugleich Kognitivist und moralischer Antirealist sein kann oder ob man sich mit dem moralischen Kognitivismus auch auf den moralischen Realismus festlegt. Erläutern wir diesen Punkt etwas genauer. Grundsätzlich lassen sich unter kognitivistischen Vorzeichen zwei verschiedene Kohärenztheorien vertreten: Eine Kohärenztheorie der Wahrheit und eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung. Diese beiden Kohärenztheorien finden sich auch in der theoretischen Philosophie (vor allem in der Epistemologie empirischen Wissens). Vertreter einer Kohärenztheorie der Wahrheit intendieren, mit Hilfe des Kohärenzbegriffs das Wahrheitsprädikat zu explizieren. Eine Überzeugung p ist demnach genau dann wahr, wenn sie Element in einem perfekt kohärenten Überzeugungssystem ist.20 Daraus ergibt sich, dass die Kohärenztheorie der Wahrheit eine so genannte epistemisch 20 In der Tradition wurde diese Version der Kohärenztheorie primär im britischen Idealismus z. B. von Brand Blanshard (1939) und im Umfeld des Wiener Kreises vertreten (Neurath 1931, 1932).

2.2 Der moralische Kognitivismus

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limitierte Theorie der Wahrheit ist. Wahrheit ist demnach nicht rechtfertigungstranszendent. Das heißt, Wahrheitswertträger können nur Gegenstände wie z. B. Überzeugungen sein, die zumindest prinzipiell einer epistemischen Rechtfertigung zugänglich sind. Trotzdem darf die Kohärenztheorie der Wahrheit nicht mit der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung verwechselt werden. So verfolgen Vertreter einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung das Ziel, mit dem Kohärenzbegriff den Begriff epistemischer Rechtfertigung aufzuklären. Demnach ist die Mitgliedschaft einer Überzeugung p in einem kohärenten Überzeugungssystem ein Garant oder zumindest ein Indikator dafür, dass p epistemisch gerechtfertigt ist.21 Während der Kohärenzbegriff in der Kohärenztheorie der Wahrheit also zur Definition des Wahrheitsbegriffs verwendet wird, dient er in der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung der Definition oder zumindest der Charakterisierung des Rechtfertigungsbegriffs. Bei letzterer ist die Mitgliedschaft einer Überzeugung in einem kohärenten Überzeugungssystem also lediglich ein Indikator für deren Wahrheit. Welcher Typ von Kohärenztheorie sich unter kognitivistischen Vorzeichen überhaupt vertreten lässt, hängt nun von den ontologischen Vorannahmen ab. Die Kohärenztheorie der Wahrheit ist nämlich eine antirealistische Theorie der Wahrheit. Aus dem Grund stellt sich die Frage, ob der moralische Kognitivismus überhaupt mit einer Form des Antirealismus vereinbar ist. Dieser Fragestellung wird im Folgenden nachgegangen. Ich skizziere dabei zunächst die Grundthese des moralischen Realismus (2.2.3.1). Dann wird eine verbreitete aber verfehlte Rekonstruktion der Beziehungen zwischen moralischem Realismus und moralischem Kognitivismus referiert (2.2.3.2). 21 Eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung wird derzeit in der Epistemologie empirischen Wissens von einer ganzen Reihe von Autoren vertreten (z. B. Bartelborth 1996, Bovens & Hartmann 2003, Thagard 2000).

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Und schließlich entwickle ich eine adäquatere Rekonstruktion dieser Beziehungen und erläutere die Konsequenzen, die sich daraus für die Interpretation der Kohärenztheorie im Kognitivismus ergeben (2.2.3.3). 2.2.3.1. Der moralische Realismus: Charakterisierung der Kernthese Der moralische Realismus stellt eine Position dar, die auf der ontologischen Analyseebene der Metaethik angesiedelt ist. Die Kernthese des moralischen Realismus lässt sich wie folgt angeben: R

Es gibt objektive moralische Tatsachen.22

Die Grundzüge dieser Position werden im Folgenden so weit entwickelt, wie es für die hier verfolgten Zwecke (die Darstellung der Beziehungen zwischen moralischem Realismus und moralischem Kognitivismus) erforderlich ist. Strenggenommen stellt nämlich die These R weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für den moralischen Realismus dar. Sie formuliert keine notwendige Bedingung, weil man sich als moralischer Realist nicht darauf festlegen muss, dass es sich bei den Entitäten, denen man Realität zuspricht, um Tatsachen handelt. Realistische Positionen in der Ethik unterscheiden sich darin, wie diese Entitäten inhaltlich genauer charakterisiert werden – ob es Werte, Pflichten, moralische Gründe, Eigenschaften (real properties) oder moralische Tatsachen (moral facts) sind. Allerdings gehen gegenwärtig die meisten Autoren davon aus, dass es sich bei diesen Entitä22 Verwandte Formulierungen der Kernthese des moralischen Realismus sind innerhalb der entsprechenden Debatte in der Metaethik häufig zu finden. Es seien einige Beispiele angeführt: „Moral realism, it seems, is committed to moral facts and truths that are objective in some way.“ (Brink 1989, 14) „For moral realism is simply the metaphysical (or ontological) view that there exist moral facts.“ (Smith 1991, 402) „Moral realists all share the view that there are moral facts […].“ (Sayre-McCord 2006, 40)

2.2 Der moralische Kognitivismus

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ten um Tatsachen handelt.23 Ich diskutiere diese Differenzierungen innerhalb der ontologischen Debatte im Folgenden nicht weiter, sondern passe mich diesbezüglich dem in der Metaethik generell üblichen Sprachgebrauch an. R stellt in dieser allgemeinen Formulierung auch keine hinreichende Bedingung für den moralischen Realismus dar. Der Grund dafür ist, dass mit der Charakterisierung „objektiv“ in der Philosophie unterschiedliche Vorstellungen verbunden werden. Versteht man unter objektiven Tatsachen Dinge, über die wir uns in einer Gesellschaft intersubjektiv einigen oder die wir untereinander aushandeln, so formuliert R nurmehr eine so schwache Doktrin, dass ihr auch viele Relativisten bzw. Konstruktivisten in der Ethik zustimmen können. Derartige Positionen wird man im Allgemeinen nicht als Versionen des moralischen Realismus ansehen. In der gegenwärtigen Debatte um den moralischen Realismus ist umstritten, wie der in R angesprochene Objektivitätsbegriff in angemessener Weise zu präzisieren ist. Eine grundlegende Charakterisierung, der viele moralische Realisten zustimmen, lautet wie folgt: Moralische Tatsachen sind in dem Sinne objektiv, dass sie unabhängig von uns Handelnden existieren.24 Diese Formulierung scheint das Explikationsproblem auf den ersten Blick lediglich zu verschieben: Nun gilt es statt des Objektivitätsbegriffs den Unabhängigkeitsbegriff zu präzisieren. Hier lassen sich jedoch zumindest zwei Bedingungen formulieren, die zentrale Intuitionen der realistischen Position auffangen. Moralische Tatsachen existieren unabhängig von uns, heißt soviel wie: Sie sind rechtfertigungstranszendent und wunschtranszendent. Damit ist nicht gemeint, dass wir prinzipiell unfähig wären, 23 Als Beleg für die weite Verbreitung der Rede von „moralischen Tatsachen“ („moral facts“) sei auf die in der vorigen Fußnote 22 angeführten Zitate von Brink, Smith und Sayre-McCord verwiesen. Auch im deutschen Sprachraum hat sich diese Terminologie etabliert. Siehe z. B. Schaber (1997, 34, 60ff.) und von Kutschera (1999, 213). 24 McNaughton 1988, 7; Dancy 1998, 534.

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epistemisch gerechtfertigte Überzeugungen dazu zu entwickeln, welche moralischen Tatsachen es gibt, oder dass wir nicht in der Lage wären, uns das Bestehen einer moralischen Tatsache zu wünschen. Gemeint ist vielmehr, dass sich moralische Tatsachen nicht allein auf der Grundlage dessen konstituieren, was wir über Moral denken und fühlen.25 Eine moralische Tatsache existiert unabhängig davon, ob wir die Überzeugung haben, dass sie existiert, ob wir dazu in der Lage sind, diese Überzeugung zu rechtfertigen oder ob wir uns wünschen, dass sie existiert. Verdeutlichen wir anhand eines Beispiels, was damit gemeint ist. Nehmen wir eine moralische Aussage, deren Geltung gemeinhin unbestritten ist, z. B. dass es ceteris paribus verboten ist, Unschuldige zu töten. Für einen moralischen Realisten ist es demnach eine moralische Tatsache, dass die Tötung Unschuldiger ceteris paribus moralisch falsch ist. Diese Tatsache, so die zentrale Intuition des Realisten, besteht unabhängig davon, ob wir davon überzeugt sind, dass die Tötung Unschuldiger ceteris paribus moralisch falsch ist, unabhängig davon ob wir gegenwärtig oder jemals in Zukunft in der Lage sind, diese Überzeugung zu rechtfertigen und unabhängig davon, ob wir den Wunsch haben, keine Unschuldigen zu töten. Moralische Tatsachen sind somit weder mit den Gehalten unserer ideal gerechtfertigten moralischen Überzeugungen noch mit den Gehalten unserer ideal informierten Wünsche identifizierbar. 25 Antirealistisch sind demnach alle diejenigen Positionen zu nennen, die den Anspruch erheben, die Moral allein im Rekurs auf unsere Überzeugungen, Wünsche oder Gefühle zur Moral zu rekonstruieren. Die gegenwärtig prominenteste Strömung, die dem so verstandenen moralischen Antirealismus zugeordnet werden kann, ist der Nonkognitivismus, dessen Grundlinien im dritten Kapitel dieser Untersuchung ausführlich thematisiert werden. Außerdem ist in diesem Zusammenhang das Lager des Konstruktivismus oder Relativismus zu nennen. Die unter diesen Etiketten versammelten Positionen sind jedoch vielfältig und deren Beziehungen zum Nonkognitivismus außerordentlich komplex. Daher können sie im vorliegenden Kontext nicht ausführlicher thematisiert werden.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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Einig sind sich moralische Realisten also hinsichtlich der Frage, was moralische Tatsachen nicht sind. Demnach definiert sich der moralische Realismus generell durch eine negative Aussage: die These von der Nicht-Abhängigkeit moralischer Tatsachen von unseren mentalen Einstellungen zur Moral. Wie diese moralischen Tatsachen positiv zu charakterisieren sind, wird in den verschiedenen Versionen des moralischen Realismus sehr unterschiedlich gefasst. Die wichtigste Unterscheidung innerhalb des realistischen Lagers ist diejenige zwischen naturalistischen und nicht-naturalistischen Versionen des Realismus, wobei unter den gegenwärtigen Realisten die naturalistische Strömung dominiert.26 Wie aber ist die Beziehung zwischen Realismus und Kognitivismus zu rekonstruieren? Zunächst einmal lässt sich Folgendes festhalten: Der moralische Realismus impliziert nicht den moralischen Kognitivismus. Denn es ist durchaus möglich, die ontologische These zu akzeptieren, dass es moralische Tatsachen gibt, und gleichzeitig eine skeptische Position zu beziehen, indem man behauptet: Uns fehlt jeder epistemische Zugang zu diesen Tatsachen und deshalb ist es uns unmöglich festzustellen, was moralisch richtig und was moralisch falsch ist. Mit der Annahme einer realistischen Ontologie der Moral ist nicht notwendig die Festlegung auf eine spezifische Epistemologie der Moral verbunden. Aus diesem Grund impliziert Realismus nicht Kognitivismus.27 Wie aber steht es um die Im26 So wird der moralische Naturalismus z. B. von Railton (1986), Brink (1989), Smith (1994) und Schaber (1997) vertreten. Smiths Version des naturalistischen Realismus wird im vierten Kapitel der vorliegenden Untersuchung noch ausführlich thematisiert. 27 Zu anderen Ergebnissen kommt diesbezüglich Halbig (2007, 196– 198), der den moralischen „minimalen Realismus“ als Konjunktion aus moralischem Kognitivismus und der Ablehnung von Mackies Fehlertheorie (d. h. in der hier verwendeten Terminologie: der Akzeptanz der These K2) konzipiert. Folglich ergibt sich nach Halbig per definitionem, dass Realismus Kognitivismus impliziert. Es soll an dieser

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

plikationsbeziehung in umgekehrter Richtung? Welche ontologischen Implikationen ergeben sich für moralische Kognitivisten? Dieser Frage wende ich mich in den beiden folgenden Abschnitten zu. Ich referiere zunächst eine verbreitete aber verfehlte Auffassung und entwickle dann eine adäquate Rekonstruktion der Beziehung zwischen Realismus und Kognitivismus. 2.2.3.2. „Kognitivismus impliziert Realismus“: Eine verfehlte Rekonstruktion der Beziehung zwischen Realismus und Kognitivismus In der Literatur ist häufig zu lesen, dass mit der Festlegung auf den moralischen Kognitivismus die Festlegung auf den moralischen Realismus verbunden sei. Mit anderen Worten: Die Kernthese des Kognitivismus impliziere die Kernthese des Realismus. Betrachten wir ein Beispiel: I construe cognitivism in ethics as the claim that we possess or could possess moral knowledge; so construed, cognitivism implies that there are moral facts and true moral propositions. (Brink 1989, 18, Fn. 6)

Wie aus dem Zitat ersichtlich, wird diese Implikationsthese vorzugsweise von Autoren vertreten, die eine enge Beziehung zwischen der ontologischen und der semantischen Analyseebene sehen. Brink geht ohne weiteren Kommentar von der ontologische These, dass es moralische Tatsachen gibt, zu der semantischen These über, dass es wahre moralische Aussagen Stelle nicht bezweifelt werden, dass es für bestimmte theoretische Zwecke angemessen sein mag, den Realismusbegriff in solch anspruchsvoller Weise zu charakterisieren. Man kann Halbig aber nicht zustimmen, wenn er meint, er habe damit einen „unkontroversen, wenn auch entsprechend inhaltlich armen Begriff des moralischen Realismus“ eingeführt (Halbig 2007, 196). Nach Halbig ist der moralische Realismus vielmehr eine Position, die erhebliche Implikationen auf semantischer und auf sprachpragmatischer Ebene hat. Letzteres ergibt sich aus seiner Charakterisierung des moralischen Kognitivismus, die ich im Abschnitt 3.2.3 noch eingehender diskutieren werde.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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gibt („there are moral facts and true moral propositions“). Andere Autoren fassen die Kernthese des moralischen Realismus sogar explizit als eine These zur Semantik der Moralsprache auf, wie das folgende Beispiel zeigt. Positionen wurden entwickelt, denen zufolge moralische Aussagen genauso wie nicht-moralische Aussagen wahr oder falsch sein können. Das ist die These des sog. moralischen Realismus […]. (Wolf & Schaber 1998, 130)28

Nach Wolf und Schaber besteht also die Kernthese des moralischen Realismus in der Behauptung der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen. Unter dieser Annahme lässt sich an der These „Kognitivismus impliziert Realismus“ natürlich leicht festhalten. Wie gezeigt worden ist, stellt die These der Wahrheitswertfähigkeit eine Implikation der kognitivistischen Kernthese dar.29 Hätten Wolf und Schaber mit ihrer Charakterisierung den moralischen Realismus angemessen erfasst, so ergäbe sich tatsächlich, dass jeder Kognitivist auf den Realismus festgelegt wäre. Gerade Wolf und Schabers Charakterisierung der realistischen Kernthese ist jedoch problematisch. Darin werden nämlich die verschiedenen metaethischen Analyseebenen in inadäquater Weise miteinander vermengt. Während es sich bei der These von der Wahrheitswertfähigkeit um eine These zur Semantik der Moralsprache handelt, ist der moralische Realismus eine These zur Ontologie der Moral. Selbstverständlich bestehen zwischen diesen beiden Analyseebenen – wie Brink andeutet – Beziehungen. Diese Beziehungen sind jedoch nicht so eng, dass sich ohne weiteres annehmen ließe, die These von der Wahrheitswertfähigkeit würde den moralischen Realismus implizieren. Der Realismus bietet zwar eine nahe liegende Option an, die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen zu erklären, je28 In ähnlicher Weise charakterisiert Schaber die Kernthese des moralischen Realismus auch an anderer Stelle (Schaber 1997, 15). 29 Siehe Abschnitt 2.2.2.2.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

doch keineswegs die einzige Option. Es gibt nämlich alternative Möglichkeiten, weil der Wahrheitsbegriff auch unter Voraussetzung des moralischen Antirealismus expliziert werden kann. Aus diesem Grund muss eine realistische und eine antirealistische Version des moralischen Kognitivismus unterschieden werden. Entwickeln wir diese beiden theoretischen Optionen etwas genauer. 2.2.3.3. Realistischer und antirealistischer Kognitivismus Der moralische Realismus stellt für Kognitivisten grundsätzlich eine attraktive ontologische Position dar, weil er eine Grundlage für eine realistische Konzeption der Wahrheit bietet. Kombiniert man eine realistische Ontologie mit der realistischen Konzeption der Wahrheit, so lässt sich die These von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen (und damit auch der Gehalte moralischer Überzeugungen) ohne weiteres erklären. Den Grundgedanken einer solchen Wahrheitskonzeption hat David McNaughton wie folgt charakterisiert: Whether or not our beliefs are true depends on something independent of them, namely reality: the way things are, the way the world is. It follows that our moral beliefs will be true if things are, morally, as we suppose they are. (McNaughton 1988, 7)

Gemäß einer realistischen Konzeption der Wahrheit hängt es demnach vom Bestehen oder Nichtbestehen objektiver moralischer Tatsachen ab, ob moralische Aussagen wahr sind oder nicht. Moralische Aussagen (und damit auch die Gehalte moralischer Überzeugungen) lassen sich unter diesen Vorannahmen im Rahmen einer Semantik erläutern, die in der Metaethik gemeinhin als Deskriptivismus bezeichnet wird.30 Der Deskriptivismus besagt, dass moralische Aussagen als Beschreibungen des Bestehens oder Nichtbestehens moralischer Tatsachen aufgefasst werden können. Moralische Aussagen beschreiben die Welt demnach in derselben Weise wie dies auch nichtmoralische 30 Mackie 1977, 23; Birnbacher 2003, 337.

2.2 Der moralische Kognitivismus

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Aussagen tun – genauso wie z. B. empirische Aussagen empirische Tatsachen beschreiben können. Mit der Aussage, dass die Tötung Unschuldiger moralisch falsch ist, beschreibt man die Tatsache, dass die Tötung Unschuldiger moralisch falsch ist – in derselben Weise, wie man mit der Aussage, dass Schnee weiß ist, die Tatsache beschreibt, dass Schnee weiß ist. Es mag für die intuitive Plausibilität der realistischen Wahrheitskonzeption sprechen, dass die meisten moralischen Kognitivisten diese weitgehend undiskutiert voraussetzen. Sogar einige Nonkognitivisten akzeptieren die realistische Wahrheitskonzeption. So lässt sich die bereits diskutierte Fehlertheorie (error theory) von John L. Mackie,31 der häufig als Nonkognitivist klassifiziert wird, nur unter der Voraussetzung einer realistischen Wahrheitskonzeption vertreten. Die Fehlertheorie ergibt sich ja gerade, weil Mackie die realistische Konzeption der Wahrheit (semantische Ebene) mit dem moralischen Antirealismus (ontologische Ebene) kombiniert. Er braucht beide Annahmen, um folgern zu können, dass alle moralischen Aussagen falsch sind. Denn nur unter der Voraussetzung einer realistischen Wahrheitskonzeption ergibt sich aus dem Nachweis, dass es keine moralischen Tatsachen (in Mackies Terminologie: keine objektiven Werte) gibt, die generelle Falschheit moralischer Aussagen. Die Kombination der realistischen Wahrheitskonzeption mit einer realistischen Ontologie hingegen bietet für den Kognitivisten eine gute und sparsame Erklärung dafür, dass moralische Aussagen wahrheitswertfähig sind und dass einige moralische Aussagen wahr sind. Sparsam ist diese Erklärung, weil sie – wie oben dargestellt – die Wahrheit von Aussagen im Bereich der Moral in genau derselben Weise erklärt wie in anderen Bereichen: durch die Übereinstimmung mit Tatsachen. Aus diesem Grund ist die Übernahme einer realistischen Position für den Kognitivisten naheliegend. Allerdings ist sie 31 S. Abschnitt 2.2.2.2.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

nicht zwingend, denn es gibt durchaus eine Alternative. So impliziert die Kernthese des moralischen Kognitivismus zwar, dass es wahre moralische Aussagen gibt. Damit ist jedoch nichts darüber gesagt, wie der darin thematisierte Wahrheitsbegriff zu explizieren ist. Da es neben den realistischen Ansätzen in der Wahrheitstheorie auch antirealistische Wahrheitskonzeptionen gibt, bietet sich die Möglichkeit, die Wahrheit moralischer Aussagen unter der Voraussetzung des moralischen Antirealismus zu rekonstruieren. Eine antirealistische Konzeption der Wahrheit aber nimmt gerade für sich in Anspruch, die Wahrheit moralischer Aussagen auch ohne die Berufung auf das Bestehen moralischer Tatsachen erklären zu können. Im Rekurs auf eine solche Wahrheitskonzeption kann man also moralischer Antirealist sein, ohne in Konflikt mit der Kernthese des moralischen Kognitivismus zu geraten. Diese theoretische Option wird in der gegenwärtigen Metaethik faktisch nur selten vertreten. Ein Grund dafür mag sein, dass die meisten Antirealisten in der Ethik Nonkognitivisten sind. Es gibt aber einige Ausnahmen. Ein prominentes Beispiel ist Crispin Wright, der eine viel diskutierte antirealistische Wahrheitskonzeption vorgelegt und diese explizit auf den Bereich der Ethik übertragen hat. Wrights Intention ist dabei, eine antirealistische Konzeption der Wahrheit zu vertreten und trotzdem den kognitivistischen Kernintuitionen gerecht zu werden. Ich zitiere eine programmatische Passage, in der diese Intention deutlich wird. We need to win through to a conception of truth which allows us to grant truth-aptitude, and indeed truth, to responsible judgements within a given discourse without thereby conceding a realist view of it. Such a view will hold that to ascribe truth to a statement need not be to ascribe a property of intrinsic metaphysical gravitas, that any sentence is a candidate for truth which is possessed of assertoric content, and that possession of assertoric content is essentially a matter of meeting certain syntactic and disciplinary constraints – essentially, sentences are assertoric which are capable of significant embedding within constructions such as negation, the conditional, and in contexts of propositional attitude, and whose use is subject to

2.2 Der moralische Kognitivismus

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acknowledged standards of warrant. When such standards are satisfied that will then suffice, other things being equal, defeasibly to justify the claim that the sentence in question is true. (Wright 1996, 5)

Wright lehnt hier einerseits eine realistische Konzeption der Wahrheit ab („without thereby conceding a realist view of [truth]“). Andererseits aber geht es ihm darum, allen zentralen kognitivistischen Intuitionen gerecht zu werden. Er beansprucht, eine Konzeption zu vertreten, die es erlaubt, moralischen Aussagen nicht nur Wahrheitswertfähigkeit, sondern auch Wahrheit zuzuschreiben („truth-aptitude, and indeed truth“). Außerdem schreibt er moralischen Äußerungen einen assertorischen Gehalt zu („assertoric content“). Bei diesen Äußerungen soll es sich also um Behauptungen handeln. Und schließlich will er der Intuition gerecht werden, dass die Wahrheit moralischer Aussagen nach anerkannten Standards epistemisch gerechtfertigt werden kann („acknowledged standards of warrant“). Warum ist Wrights Position im vorliegenden Kontext relevant? Seine Kombination aus kognitivistischen Grundannahmen und wahrheitstheoretischem Antirealismus wird gegenwärtig nur von wenigen Autoren vertreten.32 Unabhängig davon, wie aussichtsreich dieses Projekt eines antirealistischen Kognitivismus sein mag, macht es auf einen wichtigen Aspekt bei der Formulierung der kognitivistischen Kernthese aufmerksam, der häufig übersehen wird: Die These des moralischen Realismus kann nicht als Implikation der kognitivistischen Kernthese angesehen werden, wie es z. B. bei der semantischen These von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen der Fall ist. Zwar wird die Auffassung, Kognitivismus impliziere Realismus, in einer Reihe von Darstellungen nahe gelegt (siehe z. B. Brink sowie Wolf und Schaber). Wenn man in dieser Weise vorgeht, übersieht man jedoch nicht nur die diskussionswürdige theoretische Option des antirealistischen Kogni32 Zu nennen ist hier noch John Skorupski (1999), der eine alternative Version eines „irrealist cognitivism“ vorgeschlagen hat.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

tivismus. Problematischer ist vielmehr, dass man die kognitivistische Kernthese in undiskutierter Weise mit Annahmen auflädt, die nicht notwendig mit ihr verbunden sind. Aus den hier angestellten Überlegungen ergibt sich deshalb, dass dem Kognitivisten prinzipiell zwei Möglichkeiten offen stehen, seine Position auszuarbeiten: die realistische oder die antirealistische Version des Kognitivismus. Die Gründe für die Relevanz dieser Unterscheidung im Kontext der vorliegenden Untersuchung werden im folgenden Abschnitt erläutert. 2.2.4 Vorläufiges Fazit und Ausblick auf das weitere Kapitel Warum sind diese Erläuterungen zum Verständnis der Beziehung zwischen moralischem Kognitivismus und moralischem Realismus in einer Untersuchung zum Kohärenzbegriff in der kognitivistischen Metaethik relevant? Die Antwort darauf ist denkbar einfach: Weil in den beiden Versionen des Kognitivismus, die im vorigen Abschnitt voneinander abgegrenzt worden sind, der Kohärenzbegriff mit unterschiedlichen theoretischen Zielsetzungen eingesetzt werden kann. Wie bereits festgestellt wurde, beruft man sich in der Debatte um den Kohärentismus in der theoretischen Philosophie in zwei verschiedenen theoretischen Kontexten auf den Kohärenzbegriff: Einerseits im Kontext einer Theorie der Wahrheit, andererseits im Kontext einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung. Diese beiden Kohärenztheorien lassen sich nun den beiden soeben unterschiedenen Versionen des Kognitivismus zuordnen. Vertritt man den antirealistischen Kognitivismus, so ergibt sich die Möglichkeit, den Kognitivismus mit einer Kohärenztheorie der Wahrheit zu kombinieren. Wie dargestellt wurde, muss man nämlich für eine antirealistische Wahrheitskonzeption votieren, wenn man den moralischen Kognitivismus und zugleich den moralischen Antirealismus vertreten will. Und eine Option für eine antirealistische Wahrheitskonzeption stellt die Kohärenztheorie der Wahrheit dar. Aus drei Gründen wird die Kohärenztheorie der Wahrheit in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels nicht weiter diskutiert. Erstens sprechen gegen die wahrheitstheoreti-

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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sche Interpretation des Kohärenzbegriffs gravierende systematische Gründe. So sind insbesondere in der theoretischen Philosophie erdrückende Argumente gegen die Kohärenztheorie der Wahrheit vorgelegt worden.33 Zweitens hat die Kohärenztheorie der Wahrheit innerhalb des kognitivistischen Lagers in der Ethik faktisch keine Vertreter.34 Weder Wright noch Skorupski sind wahrheitstheoretische Kohärentisten. Drittens aber impliziert dies nicht, dass diese wahrheitstheoretische Option in der Ethik generell bedeutungslos wäre. Die Kohärenztheorie der Wahrheit wird durchaus vertreten – allerdings vorzugsweise von Autoren, die einer nonkognitivistischen Metaethik verpflichtet sind. Die Leistungen und die Probleme einer solchen nonkognitivistischen Konzeption der Wahrheit werden im nächsten Kapitel am Beispiel von Blackburns Kohärenztheorie eingehend diskutiert.35 In der kognitivistischen Metaethik ist die alternative Interpretation der Kohärenztheorie viel prominenter. Der Kohärenzbegriff wird hier meistens im Kontext einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung unter Voraussetzung des realistischen Kognitivismus thematisiert. Wie die Ausführungen zum moralischen Realismus gezeigt haben, akzeptieren die Autoren, die diese theoretische Option vertreten, ein anspruchsvolles Annahmenbündel. Sie akzeptieren nicht nur die kognitivistische Kernthese, dass es moralisches Wissen gibt. Realistische Kognitivisten vertreten außerdem eine realistische Ontologie der Moral (den moralischen Realismus) und eine realistische Konzeption der Wahrheit. Durch die Festlegung auf eine rea33 Eine überzeugende Darstellung dieser Argumente gegen den wahrheitstheoretischen Kohärentismus findet sich z. B. bei Künne (2003, 381–393). 34 Mittlerweile gibt es eine Ausnahme: Neuerdings hat Dorsey (2006) auf diese Option hingewiesen. Die Konzeption, die er in seinem Aufsatz entwickelt, stellt jedoch bisher nur eine erste Skizze dar – keine ausgearbeitete Kohärenztheorie der Wahrheit für die Ethik. 35 S. Abschnitt 3.3.1.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

listische Wahrheitskonzeption entfällt für den realistischen Kognitivisten die Möglichkeit, eine – per definitionem antirealistische – Kohärenztheorie der Wahrheit zu vertreten. Sofern in den folgenden Abschnitten dieses Kapitels von Kohärenz die Rede ist, geht es deshalb immer um die rechtfertigungstheoretische Deutung dieses Begriffs. Wenden wir uns also der Aufgabe zu, die Semantik dieses Kohärenzbegriffs sowie die theoretischen Ziele, mit denen er in die kognitivistische Metaethik eingeführt wird, genauer zu analysieren. Im nächsten Abschnitt wird dabei zunächst die grundsätzliche Frage beantwortet, was den epistemologischen Kohärentismus unter kognitivistischen Vorannahmen überhaupt zu einer attraktiven Option macht (2.3). Daraufhin wird die am weitesten entwickelte Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung in der Ethik eingehend diskutiert (2.4).

2.3 Der Kohärenzbegriff als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung in der Ethik Viele Kognitivisten in der Metaethik vertreten eine Form des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus. Im Folgenden wird gezeigt, aus welchen Gründen diese epistemologische Option für Kognitivisten attraktiv ist. Die Übernahme einer kohärentistischen Position ermöglicht es dem Kognitivisten nämlich, auf eine grundlegende Anfrage an seine Theorie epistemischer Rechtfertigung in einer Weise zu antworten, die mit sparsamen Annahmen auskommt – wenn man den realistischen Kognitivismus erst einmal akzeptiert hat. Im Folgenden skizziere ich zunächst diese grundlegende Anfrage an die kognitivistische Epistemologie (2.3.1) und zeige dann, welche Vorteile sich ergeben, wenn man sich bei der Beantwortung dieser Anfrage auf den epistemologischen Kohärentismus beruft (2.3.2 bis 2.3.4). Schließlich wird die Strategie des weiteren methodischen Vorgehens begründet (2.3.5).

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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2.3.1 Eine grundlegende Anfrage an die kognitivistische Epistemologie der Moral Einige der kognitivistischen Grundannahmen sind – obwohl in der Metaethik umstritten – mit unseren normalsprachlichen Intuitionen zur Semantik der Moralsprache gut verträglich. Betrachten wir einige Beispiele: (1) Es ist moralisch verwerflich, Tiere zu quälen. (2) Es ist moralisch falsch, einen Mord zu begehen. (3) Es ist moralisch richtig, Notleidenden zu helfen. Es ist ohne weiteres mit unseren normalsprachlichen Intuitionen vereinbar, dass es sich hier um Behauptungssätze handelt, in denen sich wahrheitswertfähige moralische Aussagen ausdrücken. Dasselbe gilt auch für einige der oben eingeführten epistemologischen Grundbegriffe. Zumindest an der alltagssprachlichen Oberfläche sind auch der Überzeugungsbegriff und der Wissensbegriff fest in unserer Moralsprache verankert. (4) Ich bin fest davon überzeugt, dass es moralisch falsch ist, Tom zu belügen. (5) Man kann Tina nur dann für ihre Handlungen verantwortlich machen, wenn sie von der moralischen Falschheit dieser Handlungen wusste. Legen wir uns darauf fest, dass die Aussage „Es ist moralisch falsch, Tom zu belügen“ wahr ist, so vertreten wir die entsprechende moralische Überzeugung, d. h. wir nehmen zu dieser Aussage die Einstellung des Fürwahrhaltens ein. Außerdem sprechen wir Personen zuweilen moralisches Wissen zu, wie im Beispiel (5) illustriert. Insoweit belegen die angeführten Beispiele die im vorigen Abschnitt entwickelten kognitivistischen Intuitionen. Offensichtlich sind sie in unserer Moralsprache und im common sense fest verwurzelt.36 36 Für den Nachweis weiterer Übereinstimmungen der kognitivistischen Annahmen mit unseren normalsprachlichen Intuitionen siehe Brink (1989, 25–29).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Ein besonderes Problem für den Kognitivisten ergibt sich allerdings bezüglich der Theorie epistemischer Rechtfertigung. Zwar kann der Kognitivist ohne Probleme eine Antwort auf die Frage geben, was der Begriff der epistemischen Rechtfertigung in der Moral bedeutet: Wie alle anderen Überzeugungen sind auch wahrheitswertfähige moralische Überzeugungen hinsichtlich des Ziels der Wahrheit bewertbar. Ist eine moralische Überzeugung epistemisch gerechtfertigt, so ist sie von einem epistemischen Standpunkt aus gut oder in Ordnung. Es wurde aber bereits darauf hingewiesen, dass sich für den Kognitivisten eine anspruchsvolle theoretische Aufgabe stellt, wenn er seine Kernthese zu einer systematisch begründeten Position in der Metaethik ausbauen will. Es gilt, eine Theorie epistemischer Rechtfertigung zu entwickeln, in der erläutert wird, mit welchen Kriterien, Fähigkeiten oder Methoden sich moralische Überzeugungen epistemisch rechtfertigen lassen.37 Die grundlegende Anfrage, die sich dem Kognitivisten stellt und auf die er mit einer geeigneten Theorie epistemischer Rechtfertigung antworten muss, lautet deshalb wie folgt: Aufgrund welcher Mittel ist es uns möglich, moralische Erkenntnisse zu erwerben? Mit welchen Methoden oder Fähigkeiten können wir die Wahrheit moralischer Überzeugungen rechtfertigen? Spätestens an dieser Stelle kann der Kognitivist sich nicht mehr ohne weiteres auf die Verträglichkeit seiner Theorie mit common sense-Vorstellungen zur Moral berufen. Es wird schwer fallen, hier eine konkrete Fähigkeit zu nennen. Zudem gibt es in der philosophischen Ethik anders als in den empirischen Wissenschaften keine kodifizierte Forschungsmethodik zur Rechtfertigung von Moraltheorien. Da aber der Kognitivist behauptet, dass wir die Wahrheit und Falschheit moralischer Aussagen erkennen können, stellt sich ihm die unabweisbare Aufgabe, eine Epistemologie der Moral zu entwickeln, die eine befriedigende Antwort auf diese Anfrage gibt. 37 S. Abschnitt 2.2.2.3.

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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In der kognitivistischen Tradition lassen sich grundsätzlich zwei verschiedene Strategien unterscheiden, auf diese Herausforderung zu reagieren. Erstens gibt es die Option, die Existenz einer spezifischen Quelle moralischer Erkenntnis zu postulieren. Diese kann man im Kontext einer religiösen Moralbegründung in Offenbarungen von Religionsstiftern, Propheten, Priestern etc. erblicken. Zu begründen wäre hier jedoch, wie sich der privilegierte Zugang dieser auserwählten Persönlichkeiten zu moralischen Wahrheiten herleitet. Alternativ ließe sich auch die Existenz eines genuin moralischen Erkenntnisvermögens postulieren, das sich nicht auf religiöse Vorstellungen beruft und über das grundsätzlich jeder Mensch verfügt. Allerdings müssten hier detaillierte Ideen dazu entwickelt werden, worin dieses Vermögen besteht und wie moralische Überzeugungen aufgrund dieses Vermögens gerechtfertigt werden können.38 Die zweite kognitivistische Option besteht darin, die Möglichkeit moralischer Erkenntnis zu plausibilisieren, indem man gerade nicht ein spezifisch moralisches Erkenntnisvermögen postuliert, sondern vielmehr die Analogien moralischer Erkenntnis zu anderen Bereichen unserer Erkenntnis betont. Aufgrund der Probleme, die mit der Verteidigung eines genuin moralischen Erkenntnisvermögens verbunden sind, beschreiten viele Kognitivisten diesen zweiten Weg. In der moralischen Epistemologie sind verschiedene Analogisierungen moralischen Wissens mit anderen Bereichen unseres Wissens vorgeschlagen worden, so z. B. mit mathematischem Wissen39 oder mit dem Wissen um die Grammatik unserer Muttersprache.40 Besonders 38 Eine Theorietradition, die dieser Option zuzurechnen ist, stellt der moralische Intuitionismus dar. Die Grundlagen dieses Ansatzes, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter anderem von W. D. Ross (1930) formuliert wurden, hat in neuerer Zeit Audi (2004) in seiner Monographie The good in the right untersucht. Das primäre Problem dieses Ansatzes ist darin zu sehen, dass der zentrale Begriff moralische Intuition bisher nur unzureichend aufgeklärt worden ist. 39 Harman 1977, 9–10. 40 Rawls 1971, 47.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

prominent ist dabei die Analogisierung der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen mit der Rechtfertigung empirischer Überzeugungen bzw. die Analogisierung von Moraltheorien mit naturwissenschaftlichen Theorien.41 Anhand eines konkreten Beispiels werde ich im Folgenden zeigen, welches Problem sich für den Kognitivisten im Rahmen solcher Analogisierungsansätze ergibt. So liegt es z. B. nahe, die moralische Bewertung konkreter Ereignisse im Sinne moralischer Beobachtungen aufzufassen. Stellen wir uns vor, eine Person kommt um eine Hausecke und sieht, dass Kinder eine Katze, die bereits verletzt ist, mit Steinen bewerfen. Normalerweise wird man spontan die moralische Überzeugung erwerben, dass dieser Akt von Tierquälerei moralisch verwerflich ist. Man sieht, dass hier etwas moralisch Falsches geschieht. Baruch Brody hat die Auffassung vertreten, dass diese spontan auftretenden moralischen Überzeugungen (Brody nennt sie first intuitions42) eine analoge Rolle bei der Rechtfertigung der Moraltheorien spielen wie Beobachtungsdaten bei der Rechtfertigung empirischer Theorien. The data about which we theorize are those first intuitions; the goal is to find a [moral] theory which systematizes these intuitions, explains them, and provides us with moral judgments about cases for which we have no intuitions. I have deliberately described this […] stage […] of theory-formation to emphasize the analogy which I wish to draw to scientific theory-formation. (Brody 1979, 447)

Ein erstes Argument gegen diese Analogisierung spontaner moralischer Wertungen mit Beobachtungen ergibt sich aus der 41 Blachowicz 1997; Gähde 1993, 1994, 2006; Nida-Rümelin 1994a. 42 Der Begriff Intuition wird von Brody nicht in der anspruchsvollen Weise verwendet, die ihm in der Tradition des moralischen Intuitionismus zugeschrieben wird (s. o. Fn. 38). Brody versteht unter Intuitionen lediglich vortheoretische moralische Überzeugungen, mit deren Erwerb wir spontan auf entsprechende Situationen reagieren. In diesem bescheidenen Sinn wird der Intuitionsbegriff in der gegenwärtigen Ethik und Metaethik häufig verwendet (vgl. Birnbacher 2003, 381).

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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Tatsache, dass wir nicht in derselben Weise über einen moralischen Sinn verfügen wie über unseren visuellen Sinn. Allein aus diesem Grund, so ließe sich argumentieren, sei die Verwendung des Beobachtungsbegriffs inadäquat. Auf diesen Einwand kann man allerdings erwidern, dass wir den Beobachtungsbegriff durchaus in Kontexten verwenden, die sich nicht in direkter Weise auf unseren visuellen Sinn beziehen. David McNaughton argumentiert dafür, dass es auf der Grundlage dieses weiten Verständnisses des Beobachtungsbegriffs möglich sei, in legitimer Weise von moralischer Beobachtung zu sprechen: If I see several children throwing stones at an injured animal I may claim that I can just see that what they are doing is cruel. Similarly, the insolence of a drunken guest’s behaviour seems no less observable than the cut of his suit. If this is correct then moral observation could play a role in justifying our moral beliefs. (McNaughton 1988, 56)

Auch wenn man zugesteht, dass einiges dafür spricht, den Beobachtungsbegriff in der weiten Bedeutung zu verwenden, die McNaughton andeutet, sind der Analogisierung empirischer und moralischer Beobachtungen weiterhin Grenzen gesetzt. Prima facie mag es tatsächlich einige Übereinstimmungen geben, die es legitim erscheinen lassen, spontan generierte moralische Überzeugungen analog zu Beobachtungsüberzeugungen aufzufassen. Es spricht aber auch einiges dafür, dass sich diese beiden Typen von Überzeugungen in einer ganzen Reihe von Merkmalen unterscheiden. Erstens sind moralische Überzeugungen normalerweise bereits intrapersonell über die Zeit weniger stabil als empirische Beobachtungsüberzeugungen. Zweitens existiert bezüglich moralischer Überzeugungen ein erheblich geringeres Ausmaß an interpersoneller Konsensfähigkeit. Drittens spielen bei der Erklärung des mangelnden Konsenses kulturelle, historische und psychologische Faktoren eine wichtige Rolle, die bei der Beschreibung eines Dissenses bezüglich empirischer Beobachtung nicht in diesem Maß einschlägig sind.43 43 Für eine Diskussion der Konsequenzen dieser Unterschiede s. Gähde (2000, 195–197).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Der kognitivistische Ansatz, die Epistemologie der Moral durch Analogisierung zu anderen Bereichen der Epistemologie zu erläutern, mündet also in das folgende Problem: Zwar kann der Kognitivist durchaus auf einige Analogien verweisen. Analogien verfügen jedoch generell nur über eine begrenzte Reichweite. Dies wurde hier am Beispiel der moralischen Beobachtung vorgeführt. In der Moral kann man sich nicht auf eine Fähigkeit berufen, deren Funktion wir genauso erläutern könnten wie die Funktion unserer Sinne und mit der wir moralische Tatsachen in derselben Weise beobachten könnten wie empirische Tatsachen mit unserem visuellen Sinn. Wir nehmen die moralische Richtigkeit einer Situation oder die moralische Falschheit einer Handlung nicht in derselben Weise wahr wie wir wahrnehmen, dass die Sonne scheint oder dass Gras grün ist.44 Die kognitivistischen Bemühungen, eine befriedigende Theorie der epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen vorzulegen, führen deshalb letztlich in ein Dilemma: Entweder stützt sich der Kognitivist auf ein genuines moralisches Erkenntnisvermögen, mit dessen Hilfe wir moralische Tatsachen erkennen können. Die traditionellen Vorschläge, die dieser Option verpflichtet sind – seien es religiös oder nicht-religiös fundierte Begründungsversuche –, werden in der gegenwärtigen Metaethik allerdings größtenteils als nicht befriedigend und als mit gravierenden Mängeln behaftet beurteilt. Oder der Kognitivist stützt sich auf Analogien zwischen dem Bereich moralischer Erkenntnis und anderer Bereiche unserer Erkenntnis. Diese Analogien sind aber allesamt von nur begrenzter Reichweite. Der entscheidende Grund für die Attraktivität des Kohärentismus unter kognitivistischen Vorannahmen besteht darin, dass diese Theorie epistemischer Rechtfertigung einen Ausweg 44 Ähnliches ließe sich für die Analogisierung von moralischem und mathematischem Wissen zeigen und auch für die Analogisierung zu unserem Wissen um grammatische Strukturen unserer Sprache.

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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aus diesem Dilemma bietet. Bezüglich des Kohärenzbegriffs ist der Kognitivist nämlich weder auf das Postulat einer genuinen Ressource moralischer Erkenntnis noch auf bloße Analogiebildungen angewiesen. Der springende Punkt ist, dass im Bereich der Moral genau derselbe Kohärenzbegriff anwendbar ist, der in der Epistemologie empirischen Wissens ausführlich diskutiert worden ist. Diese Behauptung soll im Folgenden eingehend begründet werden. Ich argumentiere dafür in zwei Schritten. Um zu belegen, dass in den beiden Anwendungsbereichen tatsächlich auf denselben Kohärenzbegriff verwiesen wird, muss diesem zunächst Kontur verliehen werden. Ich arbeite deshalb zunächst eine bescheidene Charakterisierung des Kohärenzbegriffs heraus, die gegenwärtig in weiten Teilen der Epistemologie unbestritten ist (2.3.2). In einem zweiten Schritt wird begründet, warum ein in dieser Weise konturierter Kohärenzbegriff unter der Annahme des moralischen Kognitivismus auf den Bereich der Moral anwendbar ist (2.3.3). Schließlich wird gezeigt, auf welche zusätzlichen Annahmen sich ein Kognitivist festlegen muss, wenn er diesen Kohärenzbegriff für die moralische Epistemologie fruchtbar machen will (2.3.4) und wo diesbezüglich die Grenzen liegen (2.3.5). 2.3.2 Der Kohärenzbegriff in der allgemeinen Epistemologie: eine erste intuitive Annäherung Setzt man bei der alltagssprachlichen Bedeutung des Kohärenzbegriffs an, so ist ein Überzeugungssystem genau dann kohärent, wenn dessen Elemente zusammenpassen bzw. zusammenhängen. Wie lässt sich diese sehr allgemeine Charakterisierung im Hinblick auf epistemologische Anwendungen in einem ersten Schritt präzisieren? Unter Kohärentisten in der Epistemologie herrscht gemeinhin darüber Einigkeit, (i) dass Überzeugungen zusammen passen, wenn zwischen ihnen keine oder zumindest möglichst wenige Inkonsistenzen bestehen und (ii) dass Überzeugungen miteinander zusammenhängen, wenn zwischen ihnen inferentielle Beziehungen bestehen. Bereits aus diesen beiden bescheidenen Charakterisierungen ergibt sich, dass es sich beim rechtfertigungstheoretischen Kohärenz-

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

begriff um einen graduellen Begriff handelt, d. h. dass die Kohärenz von Überzeugungssystemen eine Frage des Grades ist. Ich illustriere dies, indem ich einige Beispiele für Überzeugungssysteme miteinander vergleiche. Zur besseren Übersichtlichkeit bestehen diese Überzeugungssysteme aus jeweils nur drei Überzeugungen. [Überzeugungssystem I] (1) Tom kommt morgen zu Besuch. (2) Tom kommt übermorgen zu Besuch. (3) Tom kommt entweder morgen oder übermorgen zu Besuch, aber bestimmt nicht an beiden Tagen. [Überzeugungssystem II] (4) Heute scheint die Sonne. (5) Es ist gerade 14.50 Uhr. (6) Hamburg liegt an der Elbe. [Überzeugungssystem III] (7) Sokrates ist ein Mensch. (8) Wenn Sokrates ein Mensch ist, dann ist er sterblich. (9) Sokrates ist sterblich. Vergleichen wir die ersten beiden Systeme. Welches von ihnen ist kohärenter? Die Antwort liegt auf der Hand. Die drei Überzeugungen im zweiten System passen besser zusammen als die im ersten System, weil letztere nicht alle gemeinsam wahr sein können. Das System ist inkonsistent. Mit dem Prädikat „ist inkonsistent“ wird im Rahmen wahrheitsfunktionaler Semantiken meistens eine Eigenschaft von Aussagensystemen bezeichnet. Inkonsistent ist ein Aussagensystem genau dann, wenn sich aus diesem eine Kontradiktion (eine Aussage, die notwendig falsch ist) folgern lässt. Das Überzeugungssystem I ist demnach inkonsistent, weil sich aus (1) und (3) die folgende Aussage folgern lässt: (10) Es ist nicht der Fall, dass Tom übermorgen zu Besuch kommt.

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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Die Konjunktion aus (2) und (10) hat die aussagenlogische Form a ¬ a und stellt damit den paradigmatischen Fall einer Kontradiktion dar. Da im zweiten Überzeugungssystem keine Inkonsistenzen vorliegen, ist es kohärenter als das erste. Die These, dass Inkonsistenzen den Kohärenzgrad eines Überzeugungssystems senken, ist in der Epistemologie unbestritten. Kontrovers diskutiert wird hingegen, ob Konsistenz eine notwendige Bedingung für Kohärenz darstellt. Diese Frage, die sich in der Debatte um die Explikation des Kohärenzbegriffs als hartnäckiges Problem herausgestellt hat, wird im Kontext der Darstellung von Sayre-McCords Kohärenztheorie noch ausführlicher diskutiert.45 Kommen wir zunächst zur zweiten Charakterisierung des Kohärenzbegriffs. Es besteht nämlich ebenfalls weitgehend Einigkeit darüber, dass Konsistenz allein keine hinreichende Bedingung für Kohärenz ist. Dies lässt sich anhand eines Vergleichs der Überzeugungssysteme II und III illustrieren. Beide Systeme sind gleichermaßen konsistent. Trotzdem wird man dem System III intuitiv einen höheren Kohärenzgrad zusprechen als dem System II. Sie unterscheiden sich nämlich bezüglich der inferentiellen Beziehungen, die zwischen den einzelnen Überzeugungen bestehen. Während die Überzeugungen des Systems II untereinander nicht durch inferentielle Beziehungen verbunden sind, lässt sich im System III die Überzeugung (9) aus den Überzeugungen (7) und (8) folgern. Somit ist gezeigt, dass es sich beim rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff um einen graduellen Begriff handelt. Überzeugungssysteme lassen sich nicht nur qualitativ als entweder kohärent oder inkohärent kategorisieren. Vielmehr können zumindest im Sinne einer ordinalen Ordnung Grade von Kohärenz unterschieden werden. Dies wird durch die drei oben präsentierten Überzeugungssysteme exemplarisch illustriert: System III ist kohärenter als System II und System II ist wiederum 45 Siehe Abschnitt 2.4.1.1.1.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

kohärenter als System I. Diesbezüglich unterscheidet sich der Kohärenzbegriff z. B. vom Begriff logischer Konsistenz. Der Konsistenzbegriff ist nämlich ein qualitativer Begriff, weil ein System von Aussagen nur entweder konsistent oder aber inkonsistent sein kann. Es lassen sich keine Grade von Konsistenz unterscheiden. Damit liegt eine bescheidene Charakterisierung des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs vor, die den folgenden Überlegungen zugrundegelegt wird. Diese Charakterisierung bleibt zwar in verschiedener Hinsicht unterbestimmt. Sie hat aber zwei entscheidende Vorteile. Erstens ist sie in der gegenwärtigen Epistemologie weithin akzeptiert und zweitens ist sie immerhin so stark, dass sich damit die beiden grundlegenden Fragen beantworten lassen, die in dieser Untersuchung die Analyse der Semantik der Kohärenzbegriffe leiten.46 Bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, handelt es sich um Überzeugungen; bei den kohärenzstiftenden Beziehungen um inferentielle Beziehungen. Unter diesen Voraussetzungen ergibt sich, dass es sich bei diesem Kohärenzbegriff um einen graduellen Begriff handelt. Der Kohärenzgrad eines Überzeugungssystems sinkt mit der Zunahme der Anzahl von Inkonsistenzen und er steigt an mit dem Grad der Vernetztheit durch inferentielle Beziehungen. Bevor ich mich der Frage nach der Anwendbarkeit dieses Kohärenzbegriffs auf den Bereich der Moral zuwende, ist noch eine Bemerkung zu den verwendeten Grundbegriffen Konsistenz und inferentielle Beziehung angebracht. In der Logik werden nämlich zwei verschiedene Varianten der Interpretation dieser Begriffe unterschieden: eine Deutung auf syntaktischer Ebene und eine Deutung auf semantischer Ebene.47 Auf rein syntaktischer 46 S. Abschnitt 1.3.2. 47 Die Unterscheidung zwischen einer semantischen und einer syntaktischen Deutung inferentieller Beziehungen findet sich z. B. auch bei Haack (1978, 13–14).

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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Ebene lassen sich inferentielle Beziehungen im Sinne von Ableitbarkeitsbeziehungen in einem Satzsystem unter der Voraussetzung eines bestimmten Kalküls von Ableitbarkeitsregeln auffassen. Diese Deutung ist insofern bescheiden, als keinerlei Annahmen über die Semantik der Sätze gemacht werden. Die Ableitbarkeitsbeziehungen werden vielmehr auf der Grundlage von Regeln definiert, die sich ausschließlich auf die syntaktischen Eigenschaften der Sätze beziehen. Auf semantischer Ebene dagegen werden inferentielle Beziehungen als Folgerungsbeziehungen interpretiert. Lässt sich eine Aussage aus einer Klasse von Aussagen folgern, so ist sie unter der Voraussetzung der Wahrheit dieser Aussagen (der Prämissenklasse) wahr oder wahrscheinlich wahr. Folgerungsbeziehungen können demnach entweder wahrheitsverbürgend oder wahrheitsindikativ sein. Zur ersten Klasse von Folgerungsbeziehungen gehören deduktive Beziehungen, wie sie z. B. im System III vorliegen; wahrheitsindikative Beziehungen sind induktive Beziehungen, welche die Wahrheit der Schlussfolgerung unter Voraussetzung der Wahrheit der Prämissen zwar wahrscheinlich machen, aber nicht garantieren. Im Folgenden wird der Begriff der inferentiellen Beziehung in der zweiten Interpretation, d. h. im Sinne von Folgerungsbeziehungen aufgefasst. Diese Interpretation ist für die hier verfolgte epistemologische Anwendung aus zwei Gründen adäquat. Sie ist zwar zunächst anspruchsvoller als die rein syntaktische Interpretation, weil sie voraussetzt, dass die Gehalte der Sätze, zwischen denen die inferentiellen Beziehungen bestehen, im Rahmen einer wahrheitsdefiniten Semantik interpretierbar sind. Da es sich aber bei dem hier intendierten Anwendungsbereich um Überzeugungssysteme handelt und man in der Epistemologie gemeinhin davon ausgeht, dass Überzeugungen wahrheitswertfähig sind, ist diese semantische Voraussetzung erfüllt. Zudem verfügt die semantische Interpretation inferentieller Beziehungen gerade hinsichtlich epistemologischer Anwendungen über einen entscheidenden Vorteil. So ist sie in einer relevanten Hinsicht schwächer als die syntak-

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tische Interpretation. Syntaktische Ableitbarkeit ist nämlich nur dann wohldefiniert, wenn man die Existenz eines bestimmten Kalküls voraussetzt, in dem die Ableitbarkeitsregeln angegeben sind. Diese Bedingung ist in der Regel nicht erfüllt, wenn epistemische Subjekte aus ihren Überzeugungen Folgerungen ziehen. Man kann daher den Begriff der inferentiellen Beziehungen im Sinne von Folgerungsbeziehungen verwenden, ohne sich auf einen spezifischen Kalkül festzulegen, der die zugrundeliegenden Ableitbarkeitsregeln expliziert. Deshalb ist es möglich, unter dem Oberbegriff inferentieller Beziehungen sowohl wahrheitsverbürgende als auch wahrheitsindikative Folgerungsbeziehungen zu fassen. Wichtig ist im epistemologischen Kontext lediglich, dass diese Beziehungen von einem epistemischen Standpunkt aus als gut oder positiv zu bewerten sind, d. h. dass sie epistemisch rechtfertigend wirken. Nach dieser begrifflichen Klärung wenden wir uns der Frage zu, wie es um die Übertragbarkeit eines in dieser Weise konturierten Kohärenzbegriffs auf den Bereich der Ethik steht. 2.3.3 Die Anwendbarkeit des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs auf die moralische Epistemologie Viele Vertreter des epistemologischen Kohärentismus in der Moraltheorie berufen sich darauf, dass der Kohärentismus in der moralischen Epistemologie analog zur Kohärenztheorie epistemologischer Rechtfertigung in der Theorie empirischen Wissens konzipiert werden kann. Moral coherentism or a coherence theory of justification in ethics represents the application of coherentism to the justification of moral beliefs. (Brink 1989, 103)48 48 Aus diesem Zitat geht nicht hervor, was Brink genau mit „coherentism“ meint. Anhand der Referenzautoren, die er in einer entsprechenden Fußnote angibt, lässt sich jedoch ersehen, dass er die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung meint, die vorzugsweise in der Epistemologie empirischen Wissens entwickelt worden ist (Brink 1989, 103, Fn. 5).

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The coherence method, or at least evidence of its use, shows up throughout the history of moral theorizing. […] The process [of moral theorizing] is at least analogous to the one we rely on in developing our scientific theories, where we start with various observations, hypotheses, and hunches and then work to bring these together within a coherent system. (Sayre-McCord 1996, 141)

Kohärentisten wie Brink und Sayre-McCord sehen den moralischen Kohärentismus demnach als eine Anwendung des epistemologischen Kohärentismus auf moralische Überzeugungen an (Brink), die „zumindest analog“ („at least analogous“) zur Epistemologie empirischen Wissens konzipiert werden kann (SayreMcCord). Sie postulieren also keine für den Bereich der Ethik spezifische Quelle moralischer Erkenntnis. Vielmehr scheinen sie den Versuch zu unternehmen, die moralische Epistemologie in Analogie zur allgemeinen Epistemologie zu konzipieren. Was aber bedeutet hier Anwendung, was Analogie? Im vorliegenden Kontext, so wird im Folgenden gezeigt, ergeben sich nicht die Begrenztheiten von Analogien, die vorhin am Beispiel des Beobachtungsbegriffs vorgeführt worden sind.49 Der entscheidende Vorteil des epistemologischen Kohärentisten liegt gerade darin, dass er nicht auf die Behauptung bloßer Analogien angewiesen ist. Vielmehr kann er sich im Bereich der Moral auf denselben Kohärenzbegriff berufen, der bei empirischen Überzeugungen thematisch ist. Die Identität des Kohärenzbegriffs in den beiden Anwendungsbereichen wird nun anhand der bescheidenen Charakterisierung des Kohärenzbegriffs belegt, die im vorigen Abschnitt 2.3.2 herausgearbeitet worden ist. Dort wurde dem rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff in seiner Anwendung auf empirische Überzeugungen etwas mehr Kontur verliehen. Im Folgenden wird gezeigt, dass sich in der Anwendung auf moralische Überzeugungen in genau demselben Sinn von Kohärenz sprechen lässt. Ich illustriere dies, indem ich drei Überzeu49 S. Abschnitt 2.3.1.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

gungssysteme moralischer Überzeugungen angebe, die analog zu den Systemen empirischer Überzeugungen im vorigen Abschnitt konstruiert sind. [Überzeugungssystem IV] (11) Einen Menschen zu töten, ist ausnahmslos moralisch verboten. (12) Die Tötung eines Menschen ist ausschließlich in Situationen der Notwehr moralisch zulässig. (13) Wäre es Georg Elser 1939 gelungen, Adolf Hitler zu töten, so wäre diese Handlung moralisch zulässig gewesen. [Überzeugungssystem V] (14) Die Taten von Jack the Ripper sind moralisch verwerflich. (15) Es ist moralisch falsch, dass Tim und Tom den Kater Murr gequält haben. (16) Es ist moralisch richtig, alten Menschen über eine vielbefahrene Straße zu helfen. [Überzeugungssystem VI] (17) Lügen ist moralisch falsch. (18) Wenn lügen moralisch falsch ist, dann ist es auch moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. (19) Es ist moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. Auch diese drei Überzeugungssysteme lassen sich nach ihrem Kohärenzgrad ordnen: Das System VI ist kohärenter als das System V und das System V ist wiederum kohärenter als das System IV. Hier wie in der empirischen Anwendung handelt es sich also beim Kohärenzbegriff um einen graduellen Begriff. Wie lässt sich dieser intuitive Befund rekonstruieren? Akzeptiert man den realistischen Kognitivismus, so handelt es sich hier um Systeme von moralischen Überzeugungen, deren Elemente in genau derselben Weise wie im empirischen Fall wahr

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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oder falsch sein können. Aus diesem Grund können die intuitiv bestehenden Unterschiede im Kohärenzgrad in genau derselben Weise rekonstruiert werden wie im empirischen Fall. So liegt im System IV genau wie im System I eine Inkonsistenz vor. Aus den Überzeugungen (12) und (13) folgt, dass sich Situationen angeben lassen, in denen die Tötung eines Menschen moralisch zulässig ist. Deshalb lässt sich die Überzeugung folgern: (20) Es ist nicht der Fall, dass es ausnahmslos moralisch verboten ist, einen Menschen zu töten. Diese Überzeugung stellt in Konjunktion mit der Überzeugung (11) eine Kontradiktion dar. Der Unterschied im Kohärenzgrad von System IV und V lässt sich also in derselben Weise erklären wie im empirischen Fall: IV ist inkonsistent, während in V keine Inkonsistenzen vorliegen. Vergleicht man nun System V und System VI, so besteht der entscheidende Unterschied hier – genau wie schon zwischen den Systemen II und III – bezüglich der Vernetztheit durch inferentielle Beziehungen. Während es zwischen den Elementen von System V keine Folgerungsbeziehungen gibt, lässt sich in System VI aus den Überzeugungen (17) und (18) auf die Überzeugung (19) schließen. Auf der Grundlage der hier vorausgesetzten Charakterisierung des Kohärenzbegriffs ist damit gezeigt, dass unter kognitivistischen Annahmen genau derselbe Kohärenzbegriff auf den Bereich der Moral anwendbar ist, der auch in der Epistemologie empirischen Wissens diskutiert wird. Der einzige Unterschied ergibt sich per definitionem dadurch, dass Überzeugungen im Bereich empirischen Wissens einen empirischen Gehalt haben, während es sich im Bereich der Moral um moralische Überzeugungen handelt. Dies ändert aber nichts daran, dass die herausgearbeiteten Charakterisierungen für die beiden Anwendungsbereiche gleichermaßen einschlägig sind. Hier wie dort handelt es sich bei den Gegenständen um Überzeugungen, die kohärenzstiftenden Beziehungen werden inhaltlich als inferentiel-

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le Beziehungen charakterisiert. Zudem konnte an den Beispielen aus dem Bereich der Moral der intuitive Befund bestätigt werden, (i) dass der Kohärenzgrad beim Vorliegen von Inkonsistenzen sinkt und (ii) beim Vorliegen inferentieller Beziehungen ansteigt. Es ist somit keine bloße Analogie, auf die sich der Kohärentist hier stützt, sondern es ist die Anwendbarkeit des aus der allgemeinen Epistemologie bekannten Kohärenzbegriffs auf den Bereich moralischer Erkenntnis. 2.3.4 Die Attraktivität des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus für die moralische Epistemologie Auf der Grundlage dieses Resultats lässt sich erklären, warum der rechtfertigungstheoretische Kohärentismus für die moralische Epistemologie unter kognitivistischen Voraussetzungen eine attraktive theoretische Option darstellt. Erinnern wir uns: Für Vertreter des realistischen Kognitivismus stellt die Aufgabe, eine angemessene Theorie epistemischer Rechtfertigung vorzulegen, eine besondere Herausforderung dar. Er muss die folgende Frage in befriedigender Weise beantworten: Mit welchen Mitteln, Fähigkeiten oder Methoden können wir unsere moralischen Überzeugungen epistemisch rechtfertigen? Der Kognitivist scheint hier einem Dilemma gegenüber zu stehen. Entweder er muss eine epistemische Fähigkeit oder Ressource sui generis postulieren, die den epistemischen Zugang zu moralischen Tatsachen sichert, oder aber er muss auf Analogien zu nichtmoralischen Anwendungen setzen, in denen wir Erkenntnisse erwerben können. Problematisch sind beide Optionen. Auf der einen Seite wird die Postulierung einer spezifisch moralischen Erkenntnisquelle in der gegenwärtigen Ethik häufig als eher fragwürdig bewertet. Zumindest lädt man sich damit eine erhebliche Begründungslast auf. Auf der anderen Seite sind sämtliche Analogien begrenzt – ob man sie nun zur Epistemologie empirischen Wissens oder zu anderen Bereichen unserer Erkenntnis zieht. Vor diesem Hintergrund stellt die kohärentistische Epistemologie eine attraktive Alternative dar. Die Kohärenztheorie

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epistemischer Rechtfertigung expliziert den Rechtfertigungsbegriff nämlich im Rekurs auf den Kohärenzbegriff. Der Kohärenzbegriff wird seinerseits mit dem theoretischen Ziel in die Theorie eingeführt zu explizieren, unter welchen Bedingungen Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt, d. h. (wahrscheinlich) wahr sind. Alle Kohärentisten sind sich zumindest insofern einig, dass die Mitgliedschaft einer Überzeugung p in einem kohärenten Überzeugungssystem ein Garant oder zumindest ein Indikator dafür ist, dass p epistemisch gerechtfertigt ist. Für den moralischen Kognitivismus ist die Kohärenztheorie folglich deshalb attraktiv, weil diese Theorie der epistemischen Rechtfertigung das oben skizzierte Dilemma vermeidet. Verfolgt der Kognitivist in der moralischen Epistemologie die kohärentistische Option, so muss er weder eine genuine Methode oder Fähigkeit der moralischen Erkenntnis postulieren, noch ist er auf bloße Analogien zu anderen Erkenntnisbereichen angewiesen. Er kann sich vielmehr im Bereich der Moral auf genau denselben Kohärenzbegriff berufen, der auch in anderen Anwendungen einschlägig ist. Wenn er diesen Begriff zum Kernbegriff seiner moralischen Epistemologie macht, so verfügt diese über den entscheidenden theoretischen Vorteil, dass sie weder auf spezifisch moralische Erkenntniskräfte noch auf bloße Analogien zurückgreifen muss. Hat man den realistischen Kognitivismus akzeptiert, handelt es sich hier also um eine Theorie epistemischer Rechtfertigung, die mit vergleichsweise sparsamen Annahmen auskommt. Dieser Vorteil des Kohärentismus stellt einen wichtigen Grund für die Attraktivität und die hohe Akzeptanz dieser Theorie der epistemischen Rechtfertigung in der kognitivistischen Metaethik dar. Dabei gerät zuweilen aus dem Blick, dass der Kognitivist diesen Vorteil allerdings nur dann für sich in Anspruch nehmen kann, wenn er sich auf die starke Version des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus festlegt. Die Unterscheidung zwischen der starken und der schwachen Version des Kohärentismus ist in der Ethik bisher nur wenig diskutiert worden. Sie ist im vorliegenden Kontext aber relevant. Die

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beiden Versionen des Kohärentismus lassen sich wie folgt charakterisieren. Starker Kohärentismus der epistemischen Rechtfertigung: Die Kohärenz eines Überzeugungssystems ist die einzige rechtfertigungsrelevante Eigenschaft. Eine Überzeugung ist demnach genau dann in optimaler Weise epistemisch gerechtfertigt, wenn sie Element eines optimal kohärenten Überzeugungssystems ist. Andere Eigenschaften sind für die epistemische Rechtfertigung von Überzeugungen irrelevant. Schwacher Kohärentismus der epistemischen Rechtfertigung: Die Kohärenz eines Überzeugungssystems ist ein Indikator für die epistemische Rechtfertigung der darin enthaltenen Überzeugungen. Daneben sind jedoch auch andere Indikatoren von Bedeutung (z. B. die Einfachheit des Systems, die Integration von Beobachtungsüberzeugungen etc). Es ist deshalb durchaus möglich, dass auch ein optimal kohärentes System nur unzureichend epistemisch gerechtfertigt ist. Der starke Kohärentismus stellt also die strikte Gegenposition zum sogenannten erkenntnistheoretischen Fundamentalismus dar. Während Fundamentalisten behaupten, dass es neben inferentiell gerechtfertigten Überzeugungen auch Überzeugungen gibt, die nicht aufgrund ihrer inferentiellen Beziehungen zu anderen Überzeugungen gerechtfertigt sind, bestreitet der starke Kohärentist, dass es eine nicht-inferentielle Rechtfertigungsressource gibt. Rechtfertigung gibt es allein aufgrund inferentieller Beziehungen zwischen Überzeugungen. Der Kohärenzbegriff expliziert, in welcher Weise diese inferentiellen Beziehungen rechtfertigend wirken. Legt man sich dagegen lediglich auf die schwache Version der Kohärenztheorie fest, so stellt Kohärenz nur eine Eigenschaft unter anderen dar, die einen Beitrag zur epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen leisten können. Der schwache Kohärentismus impliziert also nicht die Ablehnung der fundamentalistischen Kernthese, dass es nicht-inferentiell gerechtfertigte Überzeugungen gibt. Ein Vertreter des schwachen Kohärentismus wird sich also im Be-

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reich der Moral neben dem Kohärenzbegriff auf andere Quellen moralischer Erkenntnis berufen, so z. B. auf moralische Beobachtung oder auf moralische Intuition. Der soeben dargestellte Vorteil der kohärentistischen Epistemologie ergibt sich in vollem Umfang folglich nur für die starke Version des Kohärentismus. Nur hier nämlich ist die Methode bzw. sind die Mittel der epistemischen Rechtfertigung allein mit Hilfe des Kohärenzbegriffs explizierbar. Für den starken Kohärentismus ergeben sich daher durch die Übertragung auf den Anwendungsbereich moralischer Überzeugungen keine bereichsspezifischen Probleme – wie es z. B. dann der Fall ist, wenn man den Beobachtungsbegriff auf den Bereich der Moral übertragen will. Dies mag der Grund dafür sein, dass viele Kohärentisten in der Ethik auf die starke Version des Kohärentismus festgelegt sind bzw. den Kohärentismus grundsätzlich im Sinne des starken Kohärentismus charakterisieren. Ich führe dafür einige Beispiele an. Coherentism, by contrast [to foundationalism], holds that no beliefs are noninferentially justified. (Brink 1989, 103) I take a coherence theory of justification to hold roughly that the only thing that confers justification or warrant on S’s believing p is the fact that S’s believing p coheres with the rest of S’s beliefs. (Lemos 1994, 161) Coherentists, in contrast, reject [the foundationalist] view, maintaining that whatever justification our moral beliefs enjoy is due to the relations they bear to other things we believe. (Sayre-McCord 1996, 150) A coherentist denies that there are any non-inferentially justified beliefs: all justification is inferential. (Jones 2006, 73)

Dass der Kohärentismus generell im Sinne der starken Version der Kohärenztheorie aufgefasst wird, ist eine Besonderheit im Anwendungsbereich der Ethik. In der Epistemologie empirischen Wissens werden die Beziehungen zwischen Kohärentismus und Fundamentalismus mittlerweile umfangreich disku-

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tiert.50 Keineswegs werden sie mehr als schlichte Opposition konzipiert. Außerdem sind heute viele Vertreter des Kohärentismus zu einer schwachen Version dieser Rechtfertigungstheorie konvertiert.51 Damit ist jedoch noch nichts darüber gesagt, ob der Kohärentismus alles in allem eine attraktive Epistemologie für die Ethik bieten kann. Im Kontext der Diskussion von Sayre-McCords Kohärenztheorie wird noch ausführlich auf die gravierenden Probleme dieser epistemologischen Position eingegangen. An dieser Stelle soll lediglich festgehalten werden, dass sich für die Kohärenztheorie unter kognitivistischen Voraussetzungen keine spezifischen Probleme aufgrund der Anwendung auf den Bereich der Moral ergeben. Die hier verteidigte Kernthese lautet somit: Die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung stützt sich innerhalb wie außerhalb des Anwendungsbereiches der Ethik auf denselben Kohärenzbegriff, verbindet mit dem Kohärenzbegriff dieselben theoretischen Zielsetzungen und ist folglich auch denselben Problemen ausgesetzt. Wenden wir uns einem nahe liegenden Einwand zu.

50 Eine differenzierte Analyse der Beziehungen zwischen Fundamentalismus und Kohärentismus in der Epistemologie hat Audi (1993, 117–164) vorgelegt. 51 Dies gilt insbesondere für Laurence BonJour, der zunächst eine starke Kohärenztheorie vertreten hat (BonJour 1985) und sich mittlerweile zum erkenntnistheoretischen Fundamentalismus bekennt (BonJour 1999). Auch zahlreiche andere Autoren, die im Bereich der Epistemologie empirischen Wissens an der Präzisierung des Kohärenzbegriffs arbeiten, vertreten lediglich eine schwache Version des Kohärentismus (siehe z. B. Bovens & Hartmann 2003, 10–11), die (aufgrund ihrer Verträglichkeit mit dem Fundamentalismus) auch von vielen Fundamentalisten nicht bestritten wird (Alston 2005, 234– 235). Einige Autoren bestreiten allerdings auch die schwache Kohärenztheorie. So versucht Olsson (2005) zu zeigen, dass Kohärenz überhaupt keine epistemische Relevanz zukommt.

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2.3.5 Ein Einwand gegen die Identität des Kohärenzbegriffs in moralischen und nichtmoralischen Anwendungen Gegen die soeben entwickelte These, in der moralischen Epistemologie liege derselbe Kohärenzbegriff vor wie in der Epistemologie empirischen Wissens, lässt sich der folgende Einwand vorbringen: Bisher wurde diese These lediglich anhand einer bescheidenen Charakterisierung des Kohärenzbegriffs nachgewiesen. Diese mag zwar unter Kohärentisten allgemein akzeptiert sein. Für sich genommen aber bleibt sie unterbestimmt und erfasst nur einige notwendige Bedingungen einer vollständigen Definition des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs. Um zu belegen, dass es sich in der Moral und in der Epistemologie empirischen Wissens tatsächlich um denselben Kohärenzbegriff handelt, müsste man aber zeigen, dass sich der Kohärenzbegriff hier wie dort vollständig (d. h. hinsichtlich seiner einzeln notwendigen und gemeinsam hinreichenden Bedingungen) identisch charakterisieren lässt. Zu diesem Einwand ist folgendes zu sagen: Sicherlich wurde in dieser Untersuchung bisher von einer unterbestimmten Charakterisierung des Kohärenzbegriffs ausgegangen. Zum einen darf aber nicht aus dem Blick geraten, dass zumindest für die darin thematisierten Merkmale des Kohärenzbegriffs nicht bloß Analogien, sondern echte Übereinstimmungen zwischen den beiden Anwendungsbereichen nachgewiesen werden konnten. Zum anderen lassen sich methodische Gründe dafür anführen, dass eine bescheidene Charakterisierung beim gegenwärtigen Stand der Debatte durchaus angemessen ist. Ich erläutere dies am Beispiel des Begriffs der inferentiellen Beziehung. Auch dieser Begriff bleibt in der hier vorgeschlagenen bescheidenen Charakterisierung unterbestimmt. Der Grund dafür ist, dass sich in der Epistemologie empirischen Wissens mehrere, inhaltlich anspruchsvolle Rekonstruktionen des Kohärenzbegriffs unterscheiden lassen, die kontrovers diskutiert werden. Besonders umstritten ist dabei genau die Frage, welche Typen inferentieller Beziehungen kohärenzstiftenden Charakter haben. Während die meisten Autoren nicht bestreiten, dass deduktive Beziehun-

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gen hier eine wichtige Rolle spielen, lassen sich in der Debatte hinsichtlich dieser Frage zwei Lager auseinander halten: Auf der einen Seite wird die Auffassung vertreten, bei den kohärenzstiftenden Beziehungen handele es sich primär um Erklärungsbeziehungen. In diesem Lager wird die vordringliche Aufgabe für die Explikation des Kohärenzbegriffs in der Aufklärung des zugrunde liegenden Erklärungsbegriffs gesehen.52 Auf der anderen Seite gibt es die Vertreter probabilistischer Explikationen des Kohärenzbegriffs. Die Grundidee dieser Autoren ist es, die in der bayesianistischen Erkenntnistheorie verbreiteten Methoden zur Explikation induktiver Stützungsbeziehungen einzusetzen, um kohärenzstiftende Beziehungen inhaltlich zu charakterisieren.53 Diese divergierenden Vorschläge werden dabei nicht mit dem Anspruch vorgetragen, verschiedene Kohärenzbegriffe zu explizieren. Vielmehr verstehen sie sich als konkurrierende Ansätze, die alle mit dem Anspruch vertreten werden, den einen Kohärenzbegriff der Epistemologie empirischen Wissens aufzuklären. Dieser Streit ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht entschieden. Alle vorgeschlagenen Explikationsansätze haben Defizite und führen zu jeweils unterschiedlichen Problemen. Aus diesem Grund wurde der Begriff der inferentiellen Beziehung bisher unterbestimmt gelassen. Er wurde allgemein im Sinne einer Folgerungsbeziehung charakterisiert, um sich gegenüber diesen Debatten neutral zu verhalten und zunächst einmal zu etablieren, dass die grundlegenden Intuitionen zum Kohärenzbegriff sich in beiden Anwendungsbereichen wiederfinden und sich unter kognitivistischen Vorannahmen in genau derselben Weise rekonstruieren lassen. Selbstverständlich stellt dies nur einen ersten Schritt dar. Es wurde bereits gesagt, dass die hier zugrunde gelegte Charakterisierung inhaltlich eher schwach konturiert ist und nur einige 52 Harman 1986, Thagard 1989, Bartelborth 1996, 2002, Schoch 2000. 53 Fitelson 2003, Bovens & Hartmann 2003, Olsson 2005.

2.3 Kohärenz als Grundbegriff einer Theorie epistemischer Rechtfertigung

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notwendige Bedingungen zur Definition des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs erfasst. Wie aber lässt sich dann überhaupt die These belegen, dass in der Moral derselbe Kohärenzbegriff einschlägig ist wie in der Epistemologie empirischen Wissens? Aufgrund der soeben skizzierten Darstellung des Diskussionsstands zum Kohärenzbegriff ist deutlich geworden, dass zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt ein strenger Nachweis der Geltung dieser These unter Zugrundelegung notwendiger und hinreichender Bedingungen unmöglich ist. Weder in der moralischen Epistemologie noch in der Epistemologie empirischen Wissens steht eine entsprechende vollständige Definition des Kohärenzbegriffs zur Verfügung, die auch nur annähernd auf allgemeine Akzeptanz stoßen würde. Dies entbindet natürlich nicht von der Aufgabe, nach weiteren Parallelen zwischen den beiden Anwendungsbereichen zu suchen, wenn man die Identität des Kohärenzbegriffs in der moralischen und der empirischen Epistemologie nachweisen will. Wie lässt sich dies methodisch erreichen? Grundsätzlich ergeben sich zwei Strategien für das weitere Vorgehen. Erstens gibt es die Möglichkeit, eine der ausgearbeiteten Kohärenzexplikationen aus der Epistemologie empirischen Wissens auszuwählen und diese auf den Bereich der Moral zu übertragen. Ohne Zweifel ist dies ein interessantes Projekt.54 Allerdings kann auch mit einer solchen Übertragung nicht das gezeigt werden, was hier gezeigt werden soll: Weil jede der in der Epistemologie empirischen Wissens entwickelte Explikation massive Defizite aufweist, wäre selbst dann, wenn man hinsichtlich eines sol54 Einen derartigen Ansatz verfolgt z. B. Botzenhardt (2008). In einer umfangreichen Fallstudie hat er Thagards Kohärenztheorie, die dieser bisher vornehmlich in der Anwendung auf empirische Überzeugungen erprobt hat (s. Thagard 2000), auf den Bereich der Moral übertragen. Auch Botzenhardt bestätigt die hier vertretene These, dass sich bei dieser Übertragung eine Fülle von Übereinstimmungen nachweisen lassen.

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chen Explikationsansatzes eine perfekte Übereinstimmung mit dem Bereich der Moral nachweisen könnte, lediglich gezeigt, dass der entsprechende Explikationsansatz in beiden Bereichen anwendbar ist – und nicht, dass in beiden Bereichen derselbe Kohärenzbegriff vorliegt. Der sichere Nachweis wäre erst dann möglich, wenn der Kohärenzbegriff aufgeklärt wäre, der im Bereich der Epistemologie empirischen Wissens thematisch ist. Und das ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt, wie gesagt, nicht der Fall. Diese Bedenken legen es nahe, eine zweite, alternative Strategie zu wählen: Da der Kohärenzbegriff in der Epistemologie empirischen Wissens zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht aufgeklärt ist, dort allerdings eine Fülle von Material zu diesem Thema vorliegt, scheint es fruchtbarer zu sein, umgekehrt vorzugehen, d. h. von der moralischen Epistemologie auszugehen und Parallelen zur Epistemologie empirischen Wissens zu ziehen. Deshalb wird im Folgenden nicht ein Explikationsansatz aus dem Bereich empirischen Wissens zum Ausgangspunkt genommen, sondern einer der seltenen Ansätze aus der moralischen Epistemologie. Dieses Vorgehen ermöglicht es zum einen, an geeigneter Stelle auf Parallelen zu verschiedenen Kohärenzexplikationen aus der theoretischen Philosophie zu verweisen. Zum anderen kann damit auch gezeigt werden, in welchen Aspekten die zumeist wenig ausgearbeiteten Explikationsansätze in der moralischen Epistemologie von den ausgearbeiteten Explikationen aus der theoretischen Philosophie profitieren können. Es sei dabei gleich zu Beginn eingeräumt, dass mit diesem Vorgehen lediglich beansprucht wird, weitere Belege dafür anzuführen, dass hier wie dort derselbe Kohärenzbegriff vorliegt. Ein perfekter Nachweis dafür könnte erst im Rekurs auf eine befriedigende Definition des Kohärenzbegriffs geleistet werden – und eine solche gibt es gegenwärtig nicht.

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung Geoffrey Sayre-McCord ist ein Vertreter der realistischen Version des moralischen Kognitivismus und hat vor diesem metaethischen Hintergrund nacheinander zwei verschiedene Kohärenztheorien vorgelegt. Dabei hat er sich von einem Kritiker der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung zu einem ihrer Vertreter entwickelt. Sayre-McCords Untersuchungen sind im vorliegenden Kontext aus zwei Gründen interessant. Erstens ist er einer der wenigen Autoren in der Ethik, die sich ausführlich mit der Explikation des Kohärenzbegriffs auseinandergesetzt haben. Zweitens lässt sich anhand seiner Konversion vom Kritiker zum Verteidiger der Kohärenztheorie nachzeichnen, dass die Explikation des Kohärenzbegriffs entscheidend dafür ist, welche theoretischen Ziele mit der Einführung des Kohärenzbegriffs in eine Kohärenztheorie verbunden werden können. In seiner frühen Untersuchung von 1985 hat er einen ersten Explikationsansatz des Kohärenzbegriffs vorgestellt und ein Argument vorgelegt, mit dem er zu zeigen beansprucht, dass eine kohärente Moraltheorie nicht nur nicht wahrscheinlich wahr, sondern sogar wahrscheinlich falsch ist. Sayre-McCord kann diese Schlussfolgerung tatsächlich mit einem schlüssigen Argument belegen. Dabei stützt er sich allerdings auf eine Explikation des Kohärenzbegriffs, die mit massiven Defiziten behaftet ist (2.4.1). 1996 hat er eine zweite Untersuchung vorgelegt, in der er seine Position grundlegend revidiert hat: Im Gegensatz zur früheren Studie vertritt er nun eine starke Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung. Damit stellt sich für ihn die Aufgabe zu begründen, warum Kohärenz der entscheidende Indikator für die Wahrheit moralischer Überzeugungen ist. In dieser zweiten Studie von 1996 stützt er sich auf eine erheblich modifizierte Explikation des Kohärenzbegriffs. Es wird gezeigt, dass diese zweite Explikation, obwohl

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

auch sie unterbestimmt bleibt, gegenüber dem ersten Ansatz eine ganze Reihe von Vorteilen aufweist. Abschließend wird auf die Standardeinwände eingegangen, denen der rechtfertigungstheoretische Kohärentismus generell ausgesetzt ist (2.4.2). 2.4.1 Sayre-McCords frühe Kohärenztheorie Auch wenn Sayre-McCord in seiner frühen Untersuchung nicht von der Kohärenz von Überzeugungssystemen spricht, sondern von der Kohärenz von Moraltheorien, geht aus dem Kontext zweifelsfrei hervor, dass es ihm um die Frage der epistemischen Rechtfertigung solcher Moraltheorien geht, von denen wir überzeugt sind. Sein Ziel ist, ein Modell moralischen Theoretisierens vorzulegen, in dem die Rolle des Kohärenzbegriffs für die Rechtfertigung von Moraltheorien aufgeklärt wird. SayreMcCord selbst schreibt über das Ziel seiner Untersuchung: I articulate the concept of coherence (so often left merely implicit) and propose a model for moral theorizing which […] gives a central place to objective moral truth. (Sayre-McCord 1985, 170)

Dass er dabei nicht von einer wahrheitstheoretischen Konzeption von Kohärenz ausgeht, sondern seine Kritik sich gegen den rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff richtet, geht aus der folgenden Textstelle hervor, in der er die Position skizziert, die er in seiner Untersuchung kritisch hinterfragen will. Ethicists have often taken the coherence of their favored theory as evidence for its correctness, and have held that our working theories […] should be coherent. As a result they have taken coherence as a constraint on the construction of acceptable moral theories. (Sayre-McCord 1985, 170, Herv. M. H.)

Im Folgenden wird zunächst nachgezeichnet, in welcher Weise Sayre-McCord den Kohärenzbegriff innerhalb seiner frühen Theorie expliziert (2.4.1.1) und dann wird das Argument vorgestellt, mit dem er zu zeigen versucht, dass die Kohärenz einer Moraltheorie ein Indikator dafür ist, dass diese wahrscheinlich falsch ist (2.4.1.2).

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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2.4.1.1. Sayre-McCords erste Explikation des Kohärenzbegriffs Sayre-McCord geht von der Intuition aus, dass eine Moraltheorie genau dann kohärent ist, wenn sie den relevanten Anwendungsbereich ohne Lücken und Inkonsistenzen erfasst. Er gibt drei Bedingungen zur Explikation des Kohärenzbegriffs an: Put more precisely, to be coherent a moral theory must meet three necessary and jointly sufficient conditions: (i) the principles of the theory must be fully consistent (the “consistency requirement”), (ii) each principle must either justify or be justified by other principles of the theory (the “connectedness requirement”), and (iii) the theory must provide an answer for every moral question it recognizes as legitimate (the “completeness requirement”). More or less explicitly each of these criteria has played a significant role in moral theory. (Sayre-McCord 1985, 171)

Nach Sayre-McCord stellen die drei Bedingungen einzeln notwendige und gemeinsam hinreichende Bedingungen für die Kohärenz einer Moraltheorie dar. Ich diskutiere die Bedingungen zunächst einzeln und betrachte dann die Konsequenzen, die sich aus ihrer Konjunktion ergeben. 2.4.1.1.1. Konsistenz als notwendige Bedingung für Kohärenz Sayre-McCord geht davon aus, dass eine kohärente Moraltheorie vollständig konsistent („fully consistent“) sein muss. Konsistenz stellt demnach eine erste notwendige Bedingung für Kohärenz dar. Die Erfüllung dieser Bedingung ist wichtig, wenn man die inferentiellen Beziehungen, die zwischen den Aussagen einer Moraltheorie bzw. zwischen moralischen Überzeugungen bestehen, mit den Regeln der klassischen Logik rekonstruieren will. In diesem Fall kann nämlich aus einem System, in dem nur eine einzige Inkonsistenz vorliegt, Beliebiges abgeleitet werden. Es ergäbe sich somit die Konsequenz, dass jede beliebige Überzeugung zu dem resultierenden Überzeugungssystem gehören würde. Diese kontraintuitive Konsequenz lässt sich durch die Konsistenzforderung vermeiden. Unter Voraussetzung der

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klassischen Logik ist die Einführung der Konsistenzforderung also gut begründet.55 Die Auffassung, dass Kohärenz Konsistenz im Sinne einer notwendigen Bedingung voraussetzt, ist in der Ethik weit verbreitet.56 Auch in der Epistemologie empirischen Wissens gibt es einige Autoren, die eine strikte Konsistenzforderung vertreten.57 Diese Auffassung ist allerdings nicht unproblematisch. 55 Nicht weiter diskutiert wird hier die Auffassung, dass Konsistenz und Kohärenz identisch seien, d. h. dass logische Konsistenz zugleich notwendig und hinreichend für Kohärenz sei. Zwar wurde diese Auffassung in der theoretischen Philosophie in der Tradition manchmal vertreten (Neurath 1931, 1932). In der Ethik gibt es sogar in neuerer Zeit einige Autoren, die den Kohärenzbegriff in dieser reduzierten Weise charakterisieren – so z. B. Norman Daniels und Allan Gibbard: […] elementary coherence (here, consistency) […] (Daniels 1979, 257). Coherence as I am using the term is a matter of formal, internal consistency […]. An ideally coherent person could accept the logical consequences of everything he accepts without falling into logical contradiction. […] coherence is simply consistency, whether one’s judgments be well- or ill-founded. (Gibbard 1990, 157) Diese Ansätze werden hier nicht weiter diskutiert, weil ihnen das Problem gemeinsam ist, dass sie eine grundlegende Intuition zum normalsprachlichen Kohärenzbegriff nicht integrieren können. So wurde bereits festgestellt, dass der normalsprachliche Kohärenzbegriff zwar unterbestimmt ist. Es ist aber unstrittig, dass Kohärenz stets etwas mit der Stiftung eines Zusammenhangs zwischen einzelnen Gegenständen (d. h. mit deren Vernetztheit) zu tun hat. Logische Konsistenz dagegen besagt lediglich, dass ein System von Aussagen (bzw. von Überzeugungen) widerspruchsfrei ist; über den Grad der internen Vernetztheit sagt die Konsistenzforderung nichts aus. Deshalb kann der Begriff der logischen Konsistenz allein nicht hinreichend sein, um den Kohärenzbegriff zu explizieren (vgl. dazu das im Abschnitt 2.3.2 diskutierte Beispiel). 56 Brink 1989, 103; Badura 2003, 197; Birnbacher 2003, 93. 57 In der neueren Literatur wurde dies z. B. von Laurence BonJour vertreten: „A system of beliefs is coherent only if it is logically consistent.“ (BonJour 1985, 95)

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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Mittlerweile liegen zwei einschlägige Argumente vor, die dagegen sprechen, dass die strikte Konsistenzforderung ohne weiteres auf epistemische Kontexte anwendbar ist. Erstens lässt sich nämlich bezweifeln, ob überhaupt irgendeine umfangreichere Moraltheorie oder ein System moralischer Überzeugungen logisch konsistent ist. Die Konsistenzforderung bezieht sich auf deduktiv abgeschlossene Systeme: Sie ist per definitionem nur dann für ein bestimmtes System L erfüllt, wenn sich in L keine Kontradiktion findet und aus L keine Kontradiktion ableitbar ist. Der deduktive Abschluss ist uns jedoch im Falle von Moraltheorien nur selten, im Falle von Überzeugungssystemen so gut wie nie bekannt. Deshalb ist zu vermuten, dass sich in derartigen Systemen häufig unentdeckte Kontradiktionen finden oder zumindest Kontradiktionen ableitbar sind. Fordert man Konsistenz als notwendige Bedingung für Kohärenz, so ergibt sich die Konsequenz, dass es kaum eine Theorie und vermutlich kein einziges Überzeugungssystem geben wird, das kohärent ist. Dieses Argument hat Autoren wie Gilbert Harman dazu bewogen, die strikte Forderung nach logischer Konsistenz als zu stark einzuschätzen und diese in angemessener Weise abzuschwächen.58 Ein zweites Argument gegen die Anwendung der Konsistenzforderung als Kriterium epistemischer Rationalität ist noch grundlegender: Es ist nämlich nicht nur denkbar, dass aus den Überzeugungen einer Person bisher unentdeckte Kontradiktionen ableitbar sind. Es gibt auch einige Fälle, in denen Personen sich einer bestehenden Inkonsistenz vollkommen bewusst sind, ohne dass man ihnen deshalb ohne weiteres epistemische Irrationalität vorwerfen könnte. Das prominenteste Beispiel für einen solchen Fall ist die sogenannte Vorwortparadoxie. Stellen wir uns vor, jemand veröffentlicht ein Buch. Er wird alle in diesem Buch niedergelegten Behauptungen gewissenhaft geprüft haben und von jeder einzelnen Behauptung in seinem Buch überzeugt 58 Harman 1986, 11–12.

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sein. Gleichzeitig jedoch hat er die (üblicherweise im Vorwort explizit geäußerte) Überzeugung, dass mindestens eine Behauptung in diesem Buch fehlerhaft sein wird. Auch für diese Überzeugung hat er gute Gründe. Schließlich gibt es kaum ein Buch, in dem nur Wahres steht. Außerdem wird er kaum für sich in Anspruch nehmen wollen, dass ihm beim Schreiben des Buches kein einziger Fehler unterlaufen ist. Demnach aber hat er die Überzeugung, dass eine seiner Überzeugungen falsch ist. Also ist sein Überzeugungssystem inkonsistent – ohne dass wir ihm deshalb unterstellen würden, er sei irrational. Denn schließlich sind die inkonsistenten Überzeugungen im System epistemisch gut begründet.59 Wäre somit Konsistenz eine notwendige Bedingung für Kohärenz, so wäre aufgrund dieser Argumente stark zu bezweifeln, dass es überhaupt ein einziges kohärentes Überzeugungssystem gibt. Es ließe sich nun zunächst erwidern, dass diese Argumente Sayre-McCords Charakterisierung nicht treffen, weil dieser ja nicht über Überzeugungssysteme spricht, sondern lediglich Moraltheorien meint. Selbst wenn man aber zugesteht, dass Sayre-McCord damit den Anwendungsbereich der Forderung in einem gewissen Maß einschränkt, bleiben die Argumente einschlägig, weil auch dieser eingeschränkte Anwendungsbereich immer noch sehr groß ist. Dies lässt sich verdeutlichen, wenn man Sayre-McCords Erläuterung seiner Konsistenzforderung hinzuzieht. The consistency requirement, for instance, demands of a theory that it exhibit both logical and practical consistency. It will be met if and only if the theory is structured in such a way that it will not, even in principle, generate conflicting directives. (Sayre-McCord 1985, 171)

Sayre-McCord sagt hier, dass nicht nur die Prinzipien der Moraltheorie konsistent sein müssen. Vielmehr dürfen aus der Theorie keine konfligierenden Handlungsanweisungen ableitbar sein. 59 Makinson 1965.

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Sayre-McCord votiert deshalb dafür, monistische Theorien vorzuziehen, d. h. Theorien, die nur ein einziges Grundprinzip haben. Coherence […] requires that theories be effectively monistic at the level of first principles. (Sayre-McCord 1985, 172)

Allerdings ist auch diese Forderung nicht geeignet, die Problematik der Konsistenzforderung zu lösen. Erstens handelt es sich um eine sehr restriktive Forderung, die zwar von einigen traditionellen Moraltheorien erfüllt wird, von vielen modernen Moraltheorien jedoch nicht. Diese würden gemäß Sayre-McCords Kriterium grundsätzlich inkohärent sein. Zweitens ist jedoch auch dieses restriktive Kriterium nicht geeignet, die Möglichkeiten von Inkonsistenzen auszuschließen. Betrachten wir, um dies zu illustrieren, ein Beispiel für eine denkbar einfache monistische Moraltheorie, die nur aus einer einzigen moralischen Aussage besteht: TM Du sollst deine Versprechen immer halten! Selbst aus TM können konfligierende Handlungsanweisungen folgen. Dies ist dann der Fall, wenn eine Person zwei Versprechen gegeben hat und durch unabsehbare kontingente Randbedingungen nur in der Lage ist, einem der beiden Versprechen nachzukommen.60 Wie sich also zeigt, ist bereits die Konsistenzforderung für sich genommen so stark, dass kaum eine Moraltheorie diese Forderung de facto wird erfüllen können. Dabei stellt sie nach Sayre-McCord nur eine der drei notwendigen Bedingungen für Kohärenz dar. Wenden wir uns der Diskussion der anderen Kriterien zu.

60 Sayre-McCord markiert dieses Problem sogar selbst, sieht darin aber keine Veranlassung, seine strikte Konsistenzforderung abzuschwächen (Sayre-McCord 1985, 188, Fn. 7).

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2.4.1.1.2. Vernetztheit als notwendige Bedingung für Kohärenz Es wurde bereits im vorigen Abschnitt diskutiert, dass Vernetztheit allgemein als eine grundlegende Charakterisierung des Kohärenzbegriffs angesehen wird. Insofern scheint die Grundidee, Vernetztheit als eine notwendige Bedingung für Kohärenz zu betrachten, mit unseren Intuitionen zum rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff gut verträglich zu sein. Allerdings wirft Sayre-McCords Formulierung der Vernetztheitsbedingung Probleme auf. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, wie Sayre-McCord diese Bedingung fasst: (ii) each principle must either justify or be justified by other principles of the theory (the “connectedness requirement”) […] (SayreMcCord 1985, 171)

Problematisch ist diese Bedingung aus zumindest zwei Gründen. Erstens ist sie sehr stark formuliert: Es wird nicht nur gefordert, dass die Moralprinzipien untereinander durch inferentielle Beziehungen vernetzt sein müssen, sondern sogar, dass jedes einzelne Prinzip entweder durch ein anderes Prinzip gerechtfertigt sein muss oder aber die anderen Prinzipien rechtfertigen muss. Die inferentiellen Beziehungen sollen also so stark sein, dass sie eine hinreichende Bedingung epistemischer Rechtfertigung darstellen.61 Sayre-McCord lässt zwar offen, wie stark inferentielle Beziehungen sein müssen, um hinreichend für die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen zu sein. Trotzdem stellt ein derartig hoher Grad an Vernetztheit wiederum eine so starke Forderung dar, dass es kein Überzeugungssystem und kaum eine Theorie geben dürfte, die 61 In der theoretischen Philosophie wurde eine ähnlich anspruchsvolle Formulierung der Vernetztheitsbedingung z. B. von Brand Blanchard vorgeschlagen: „Fully coherent knowledge would be knowledge in which every judgment entailed, and was entailed by, the rest of the system“ (Blanchard 1939, 264). Blanchard fordert also sogar, dass die Elemente eines kohärenten Systems einander gegenseitig logisch implizieren müssen.

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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sie erfüllt. Selbst das System der Euklidischen Geometrie erfüllt eine solch strikte Forderung reziproker Vernetztheit nicht.62 Ein zweites Problem ergibt sich, wenn man die Vernetztheitsbedingung in Sayre-McCords Formulierung mit seiner Konsistenzbedingung in Beziehung setzt. Dies wird sichtbar, wenn man danach fragt, für welche Gegenstände die Vernetztheitsbedingung erfüllt sein soll: Nimmt man Sayre-McCord hier beim Wort, so bezieht sie sich nur auf die Prinzipien einer Moraltheorie („each principle …“). Um die Anwendbarkeit der Konsistenzforderung überhaupt zu ermöglichen, hatte Sayre-McCord nun allerdings gefordert, dass Moraltheorien monistisch sein müssen, d. h. über ein und nur ein grundlegendes Prinzip verfügen dürfen. Hat aber eine Moraltheorie nur ein Prinzip, so ist die Vernetztheitsbedingung in Sayre-McCords Formulierung grundsätzlich nicht erfüllbar. In diesem Fall existiert nämlich per definitionem kein zweites Prinzip, zu dem eine inferentielle Beziehung bestehen könnte. Auch die Vernetztheitsbedingung ist also bei Sayre-McCord so anspruchsvoll charakterisiert, dass sie normalerweise nicht erfüllt ist. Außerdem ergibt sich ein Konflikt mit den Anwendungsbedingungen, die Sayre-McCord für die Konsistenzbedingung angegeben hat. 2.4.1.1.3. Vollständigkeit als notwendige Bedingung für Kohärenz Mit seiner dritten Bedingung, der Vollständigkeitsbedingung (completeness), scheint Sayre-McCord der Intuition Rechnung tragen zu wollen, dass eine kohärente Theorie über eine gewisse inhaltliche Breite verfügen sollte. Die ersten beiden Bedingungen könnten ja auch bei einer Moraltheorie erfüllt sein, die nur auf eine sehr spezielle Anwendung beschränkt ist (z. B. auf moralische Probleme der Behandlung von frühgeborenen Kindern mit Mukoviszidose). Es lässt sich nun grundsätzlich die Frage 62 Auf diesen Punkt hat z. B. BonJour in seiner Kritik an Blanchard hingewiesen (BonJour 1985, 96–97).

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stellen, ob die inhaltliche Breite einer Theorie eine Bedingung für deren Kohärenz ist. Warum sollte eine Theorie kohärenter werden, wenn sie auf mehr Fragen antwortet? Sayre-McCord begründet nicht näher, wo er die Beziehungen zwischen inhaltlicher Breite und der Kohärenz einer Theorie sieht. Wie noch gezeigt wird, vertritt er in seiner späten Theorie eine erheblich andere Interpretation dieser Bedingung.63 An dieser Stelle geht es darum, auf ein Problem aufmerksam zu machen, dass nicht die Vollständigkeitsbedingung allgemein, sondern nur Sayre-McCords Version dieser Bedingung betrifft. Die completeness-Bedingung ist nämlich in Sayre-McCords Formulierung deshalb problematisch, weil sie nicht – wie die Charakterisierung durch den Begriff Vollständigkeit nahe legt – die Breite einer Theorie in Rechnung stellt, sondern nur fordert, dass eine kohärente Theorie auf jede Frage eine Antwort geben muss, welche sie selbst als legitim auszeichnet („for every moral question it recognizes as legitimate“). Wie anhand des folgenden Beispiels veranschaulicht wird, ergibt sich eine unplausible Konsequenz, wenn man die Vollständigkeit einer Theorie in dieser Weise auf die Ansprüche relativiert, die die Theorie selbst formuliert. Vergleichen wir zwei Moraltheorien: Theorie I ist eine Theorie der Selbsttötung. Diese Theorie klärt eindeutig jede Frage bezüglich der moralischen Legitimität von Selbsttötungen. Theorie II ist dagegen eine Theorie der moralischen Bewertung des Tötens allgemein. Sie klärt über die moralische Legitimität aller möglichen Arten des Tötens auf (z. B. Mord, fahrlässige Tötung, Töten im Krieg, Euthanasie, Selbsttötung, Tötung auf Verlangen, Tötung aus Notwehr etc.), hat jedoch das Problem, dass sie die moralische Frage der Euthanasie nicht eindeutig zu lösen vermag. Folgt man Sayre-McCords Vollständigkeitsbedingung, so ist die Theorie I trotz des engeren Anwendungsbereichs vollständig (complete) und Theorie II nicht. Es widerspricht grundlegenden Intuitionen zum Voll63 S. unten Abschnitt 2.4.2.1.2.

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ständigkeitsbegriff, dass man eine Theorie dadurch vervollständigen kann, dass man die Ansprüche an ihre Leistungsfähigkeit abschwächt. 2.4.1.1.4. Die Konjunktion der drei notwendigen Bedingungen: Eine hinreichende Bedingung für Kohärenz? Sayre-McCord vertritt nicht nur den Anspruch, dass die drei Bedingungen einzeln notwendig sind, sondern auch, dass sie gemeinsam hinreichend für Kohärenz sind („jointly sufficient“). Dies führt zu einem weiteren Problem. Denn auch diese Bestimmung hat die Konsequenz, dass Sayre-McCords Explikationsvorschlag mit einer Intuition zum Kohärenzbegriff, die gemeinhin akzeptiert ist, nicht verträglich ist. Ich meine damit die Intuition, dass Kohärenz ein gradueller Begriff ist.64 In der gegenwärtigen Epistemologie geht man davon aus, dass sich Theorien oder Überzeugungssysteme hinsichtlich ihres Kohärenzgrades vergleichen lassen. Wenn Elemente aus einem System ausgegliedert werden, lässt sich die Kohärenz des Systems steigern oder senken. Zudem wurde in der Diskussion der Konsistenzbedingung darauf hingewiesen, dass es fraglich ist, ob eine einzige Inkonsistenz die Kohärenz eines Überzeugungssystems vollständig zerstört. Eine Inkonsistenz senkt zwar den Kohärenzgrad des Systems; dieses Defizit kann aber in manchen Kontexten durch andere positive Eigenschaften des Systems (z. B. eine gute Vernetztheit) ausgeglichen werden. Folgt man Sayre-McCords Kohärenzexplikation, so handelt es sich bei Kohärenz dagegen um einen qualitativen Begriff. Denn jede der drei Bedingungen ist für sich genommen eine rein qualitative Bestimmung. Dies gilt trivialerweise für die Konsistenzforderung in der hier angegebenen Formulierung. 64 Belege dafür, dass der Kohärenzbegriff in epistemologischen Anwendungen ein gradueller Begriff ist, wurden in den Abschnitten 2.3.2 und 2.3.3 des vorliegenden Kapitels angeführt. Siehe dazu auch Bartelborth (1996, 193) und Bovens & Hartmann (2003, 10–14).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Die Vernetztheitsbedingung ist bereits dann verletzt, wenn auch nur ein einziges Prinzip der Theorie die anderen Prinzipien nicht rechtfertigt oder durch diese nicht gerechtfertigt wird. Die Vollständigkeitsbedingung schließlich ist verletzt, wenn nur eine einzige Frage, die innerhalb der Theorie selbst als legitime Frage klassifiziert wird, mit Hilfe der Theorie nicht eindeutig beantwortet werden kann. Weil die drei Bedingungen außerdem einzeln notwendig und gemeinsam hinreichend sind, ist eine Moraltheorie demnach nur dann kohärent, wenn alle drei Forderungen erfüllt sind. Aus diesem Grund führt auch die Tatsache, dass es drei Bedingungen gibt, nicht dazu, dass der von Sayre-McCord definierte Begriff Grade von Kohärenz abbilden könnte. Eine Theorie ist demnach entweder kohärent oder inkohärent; es ist also nach dieser Explikation unmöglich, Grade von Kohärenz zu unterscheiden. Mit diesem Einwand schließe ich die Diskussion von SayreMcCords erster Explikation des Kohärenzbegriffs ab. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dieser Explikationsvorschlag eine ganze Reihe von Defiziten aufweist. Primär ergeben sich zwei Probleme. Erstens sind die Anforderungen zu stark formuliert, sodass kaum eine Moraltheorie und kein System moralischer Überzeugungen diese erfüllt. Zweitens wird sie basalen Intuitionen zum rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff nicht gerecht, weil Kohärenz von Sayre-McCord als ein lediglich qualitativer Begriff konzipiert wird. 2.4.1.2. Sayre-McCords Argument gegen die Wahrheitsindikativität von Kohärenz Nach diesen begrifflichen Erläuterungen zu Sayre-McCords Explikationsansatz des Kohärenzbegriffs wende ich mich nun dem zentralen Argument aus seiner früheren Untersuchung zu. So hat Sayre-McCord auf der Grundlage seiner Kohärenzexplikation ein Argument gegen Kohärenz als Wahrheitsindikator für Moraltheorien entwickelt. Mit diesem Argument beansprucht er zu zeigen, dass die Kohärenz einer Theorie sogar ein schlagender Grund (overwhelming evidence) für deren Falschheit

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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ist.65 Im Kontext der Debatte um die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung ist dies von erheblichem Interesse. Denn wenn der Kohärenzbegriff in einer Theorie epistemischer Rechtfertigung eine Rolle spielen soll, dann muss sich Kohärenz rechtfertigend auswirken. Kohärenz sollte demnach zumindest ceteris paribus ein Indikator für Wahrheit sein. Könnte Sayre-McCord tatsächlich zeigen, dass kohärente Theorien wahrscheinlich falsch sind, dann hätte er ein grundlegendes Argument gegen jede Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung vorgebracht. Dabei bezweifelt Sayre-McCord nicht, dass die wahre und vollständige Theorie der Moral, d. h. die ideale Moraltheorie, auch vollständig kohärent ist.66 Um die Pointe seines Arguments darstellen zu können, muss deshalb eine weitere begriffliche Distinktion eingeführt werden. So unterscheidet Sayre-McCord zwei verschiedene Rollen oder Funktionen, die man dem Kohärenzbegriff in einem kohärentistischen Modell moralischen Theoretisierens (coherence model of moral theorizing) zuweisen kann: Kohärenz als regulatives Ideal (regulative ideal) und Kohärenz als methodologische Maxime bei der Theoriekonstruktion (operative constraint). Daraus ergibt sich, dass zwei Versionen des coherence model zu unterscheiden sind. Vertritt man die erste, schwächere Version (regulative ideal), so legt man sich lediglich auf die These fest, dass die ideale Moraltheorie vollständig kohärent ist, d. h. dass ein Moraltheoretiker unter idealen Umständen schließlich eine vollständig kohärente Moraltheorie vertritt. The Ideal Theorist, a being of super-human faculties […] will employ the coherence model in constructing a justificatory theory for the general conventions and practices of the appropriate communi65 Sayre-McCord 1985, 173. 66 Sayre-McCord macht sich also nicht die Kritik zu eigen, die von Vertretern des moralischen Partikularismus vertreten wird. Partikularisten behaupten, dass bereits die Vorstellung verfehlt ist, es könnte überhaupt eine kohärente Theorie der Moral geben (so z. B. Dancy 1993, 63–64).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz ty. The theory the Ideal Theorist constructs will, in turn, define the objective standard of morality for that community. (Sayre-McCord 1985, 180)

Diese Version des coherence model betrifft also zunächst nicht unser moralisches Theoretisieren, weil wir nicht in der Position eines idealen Theoretikers sind, der sich durch übermenschliche Fähigkeiten auszeichnet. Sayre-McCord grenzt jedoch eine zweite Version des coherence model ab, in der dem Kohärenzbegriff eine methodologische Rolle bei der Konstruktion von Moraltheorien zugewiesen wird. Auch unter nicht-idealen Umständen ist demnach der methodologischen Maxime zu folgen, dass nach einer kohärenten Moraltheorie zu suchen ist. The second level of theorizing is occupied by real people (who, of course, lack the Ideal Theorist’s super-human talents). Mimicking the Ideal Theorist, we too might use the coherence model to construct the best coherent justificatory theory we can for the conventions and practices we embrace. (Sayre-McCord 1985, 180)

Diese zweite Version des coherence model (operative constraint) ist ohne Zweifel stärker als die erste. Denn sie setzt ihrerseits die Interpretation von Kohärenz als regulatives Ideal voraus. Nur wenn die wahre Theorie der Moral kohärent ist, kann es überhaupt sinnvoll sein, das Streben nach Kohärenz als methodologische Maxime einzuführen. In umgekehrter Richtung besteht dabei kein Implikationsverhältnis zwischen den beiden Versionen des coherence model. Allein aus der Tatsache, dass die ideale Moraltheorie kohärent ist, folgen noch keine methodologischen Maximen. Vielmehr muss mit unabhängigen Gründen gerechtfertigt werden, unter welchen Bedingungen eine nicht-ideale Moraltheorie in Richtung auf höhere Kohärenz hin verändert werden soll. Sayre-McCord legt nun ein Argument vor, mit dem er belegen will, dass es für die Verwendung einer kohärentistischen Methode bei der Konstruktion von Moraltheorien keine guten Gründe gibt. Auch wenn man Kohärenz im Sinne eines regulativen Ideals akzeptiert, sollte man die Interpretation im Sinne

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einer methodologischen Maxime bei der Theoriekonstruktion (eines operative constraint) ablehnen. Der Grund dafür ist nach Sayre-McCord darin zu sehen, dass Kohärenz unter nichtidealen Umständen ein sicherer Indikator für die Falschheit von Moraltheorien ist. Ich zitiere zunächst das Argument und diskutiere dann dessen Implikationen: The argument against imposing coherence as an operative constraint on our theory building contains two premises. The first, the premise of imperfection, simply acknowledges that any moral theory we develop will fall short of the fully correct theory. The second, the incompatibility premise, asserts that any two (non-identical) coherent moral theories covering the same domain are incompatible. If we accept coherence as a regulative ideal – if we assume that the fully correct theory of morality is coherent – then the two premises together entail that any coherent moral theory we develop in practice will be incompatible with the correct theory. (Sayre-McCord 1985, 181–182)

Wie bereits gesagt, besteht die Pointe von Sayre-McCords Argument darin, dass es gegen die Interpretation des Strebens nach Kohärenz im Sinne einer methodologischen Maxime spricht („The argument against imposing coherence as an operative constraint...“), obwohl vorausgesetzt wird, dass die ideale Moraltheorie vollständig kohärent ist („If we accept coherence as a regulative ideal...“). Dass Kohärenz ein regulatives Ideal ist, wird von Sayre-McCord also offensichtlich akzeptiert. Als methodologische Maxime ist Kohärenz für ihn aber untauglich, weil jede kohärente Moraltheorie, die wir entwickeln, mit der wahren Theorie der Moral inkompatibel ist. Kann Sayre-McCord mit diesem Argument sein Argumentationsziel erreichen? Die erste Prämisse ist vergleichsweise unproblematisch. Die premise of imperfection lässt sich einfach als realistische Charakterisierung unserer epistemischen Situation deuten: Weil wir Menschen sind, deren epistemische Fähigkeiten begrenzt sind, ist anzunehmen, dass keine Moraltheorie, die wir jemals entwickeln werden, vollständig korrekt ist. Keine der Moraltheorien, die wir bisher entwickelt haben oder noch entwickeln werden, gibt ausnahmslos auf jede moralische Frage die

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wahre Antwort. Insbesondere, wenn man wie Sayre-McCord unsere epistemische Situation von der des idealen Theoretikers klar abgrenzt (dem er bereits per definitionem übermenschliche Fähigkeiten zuschreibt), ist diese Prämisse plausibel. Wenn man nach dem Gehalt der zweiten Prämisse fragt, wird ein erstes Problem von Sayre-McCords Argument sichtbar. Sayre-McCord behauptet, dass zwei nicht-identische kohärente Moraltheorien, die denselben Anwendungsbereich haben, immer miteinander inkompatibel sind. Prima facie ist dies natürlich schlicht falsch. Zwei nicht-identische Theorien können ohne weiteres miteinander kompatibel sein. Sayre-McCords Behauptung ergibt nur dann einen Sinn, wenn man annimmt, dass er von einem sehr restriktiven Theoriebegriff ausgeht. Offensichtlich meint er, dass verschiedene miteinander kompatible theoretische Beschreibungen desselben Anwendungsbereichs stets nur alternative Formulierungen derselben Theorie darstellen. Dann nämlich ergibt sich per definitionem, das verschiedene Theorien, die denselben Anwendungsbereich beschreiben, miteinander inkompatibel sind. Lassen wir einmal dahingestellt, ob dies ein adäquater Theoriebegriff ist: Wichtig ist für Sayre-McCord in diesem Zusammenhang primär, dass von zwei Theorien, die miteinander inkompatibel sind, höchstens eine wahr sein kann. Und zumindest in Bezug auf diese These kann man ihm ohne weiteres zustimmen. Diskussionswürdiger ist eine weitere Implikation der zweiten Prämisse. Sayre-McCord behauptet hier nämlich, dass es sich bei diesen beiden Theorien um kohärente Theorien handelt, die wir (als nicht-ideale Theoretiker) entwickeln können. Zwar sagt er dies in der Formulierung der zweiten Prämisse nicht explizit. Er muss es jedoch implizit behaupten, wenn er mit ihrer Hilfe die Konklusion ableiten will, in der ausdrücklich von kohärenten Moraltheorien, die wir entwickeln, die Rede ist (any coherent moral theory we develop). Die Festlegung darauf, dass wir kohärente Moraltheorien entwickeln können, überrascht vor dem Hintergrund von Sayre-McCords anspruchsvoller Explikation des Kohärenzbegriffs: Wie gezeigt wurde, ist es uns aufgrund unserer epistemi-

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schen Limitiertheit de facto unmöglich, eine kohärente Moraltheorie zu entwickeln. Mit dem gleichen Recht, wie SayreMcCord seine erste Prämisse einführt, könnte er auch bezüglich der Kohärenz von Moraltheorien eine premise of imperfection einführen: Ebenso wie es uns aufgrund unserer beschränkten epistemischen Fähigkeiten nicht möglich ist, eine vollständig wahre Moraltheorie zu entwickeln, ist es uns auch unmöglich, eine vollständig kohärente Moraltheorie zu entwickeln. Sayre-McCord argumentiert jedoch nicht mit dem Hinweis auf eine solche Prämisse für die Untauglichkeit von Kohärenz als einer methodologischen Maxime. Sein Argument gegen die methodologische Relevanz des Kohärenzbegriffs stützt sich nicht darauf, dass wir faktisch ohnehin keine kohärente Moraltheorie entwickeln können. Würde sich Sayre-McCord darauf festlegen, wäre seine Schlussfolgerung nicht mehr ableitbar, weil in dieser ja ausdrücklich von kohärenten Moraltheorien, die wir entwickeln, die Rede ist. Wie aber lässt sich diese Spannung zwischen Sayre-McCords anspruchsvollem Kohärenzbegriff und seiner Konklusion auflösen? Meines Erachtens kommt es Sayre-McCords Intentionen am nächsten, wenn man den Gehalt seiner Schlussfolgerung auffasst wie folgt: Selbst wenn es uns gelänge, eine kohärente Theorie der Moral zu entwickeln, wäre diese immer noch inkompatibel mit der wahren Theorie. Deshalb ist Kohärenz als methodologische Maxime untauglich. Diese Interpretation von Sayre-McCords Schlussfolgerung ist auch mit seiner Vorannahme verträglich, das coherence model im Sinne eines regulativen Ideals aufzufassen. Denn mit dieser Annahme hatte er sich nicht darauf festgelegt, dass jede kohärente Moraltheorie wahr ist, sondern lediglich darauf, dass die wahre Theorie der Moral auch kohärent ist („the fully correct theory of morality is coherent”). Unter den Voraussetzungen, die Sayre-McCord eingeht, lässt sich die Konklusion also schlüssig ableiten: Jede kohärente Moraltheorie, die wir entwickeln, ist inkompatibel mit der wahren Theorie. Was aber ist damit gezeigt? Entgegen dem ersten Anschein handelt es sich hier um ein sehr bescheidenes Ergeb-

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nis. Verantwortlich dafür ist die Explikation der Grundbegriffe, auf die sich Sayre-McCord innerhalb seiner Argumentation beruft. So ergibt sich nämlich schon aus seiner Charakterisierung der Begriffe Kohärenz und Inkompatibilität, dass der Kohärenzbegriff kein methodologisch fruchtbarer Begriff sein kann. Die begrenzte Aussagekraft von Sayre-McCords Konklusion lässt sich gut verdeutlichen, wenn man sich vor Augen führt, welche Bedingungen der Kohärenzbegriff erfüllen muss, wenn er sinnvoll im Rahmen einer kohärentistischen Methode zur Theoriekonstruktion verwendet werden soll. Eine entsprechende methodologische Forderung müsste nämlich etwa wie folgt formuliert sein: Entwickle die Moraltheorie in einer solchen Weise weiter, dass sie immer kohärenter wird. Auf eine Möglichkeit, diese methodologische Forderung zu rechtfertigen, hat Sayre-McCord selbst verwiesen: Je kohärenter eine Moraltheorie ist, desto wahrscheinlicher ist sie wahr. Kohärenz kann also bereits dann als fruchtbare methodologische Maxime angesehen werden, wenn es einen indikativen Zusammenhang zwischen Kohärenz und Wahrheit gibt, wenn also Kohärenz einen Hinweis auf die wahrscheinliche Wahrheit einer Theorie zu bieten vermag. Sayre-McCords Argument aber zeigt lediglich, dass Kohärenz nicht wahrheitsverbürgend ist. Graduelle Zusammenhänge können nämlich in Sayre-McCords Argumentation gar nicht abgebildet werden, weil er sich sowohl mit dem Inkompatibilitätsbegriff als auch mit seiner Explikation des Kohärenzbegriffs auf lediglich qualitative Begriffe festgelegt hat. Dass also Kohärenz als graduelles Kriterium durchaus eine Rolle dabei spielen könnte, angemessenere Moraltheorien von weniger angemessenen abzugrenzen, kann innerhalb seiner Argumentation schon aufgrund der begrifflichen Anlage nicht berücksichtigt werden. So ist die erste Prämisse unter anderem deshalb ohne weiteres akzeptabel, weil sie keine Aussage darüber zulässt, in welchem Ausmaß die Moraltheorien, die wir entwickeln, von der einzig wahren und vollständigen Moraltheorie abweichen. Es lässt sich leicht zugestehen, dass jede von uns entwickelte Mo-

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raltheorie nicht in allen Details identisch mit der korrekten Theorie der Moral ist. Auch wenn wir nie im Besitz der vollständigen, wahren Moraltheorie sein werden, folgt daraus aber nicht, dass alle unsere epistemischen Bemühungen vergebens wären. Schließlich wäre es möglich, dass wir von sehr inadäquaten Moraltheorien ausgehen und zunehmend bessere Moraltheorien entwickeln, die für eine große Anzahl von moralischen Problemen wahre Lösungen bereitstellen. In ähnlicher Weise bleiben die graduellen Unterschiede, auf die es ankäme, wenn man die methodologische Relevanz von Kohärenz beurteilen will, in der zweiten Prämisse unberücksichtigt. Wiederum wird nur eine qualitative Aussage getroffen: Zwei verschiedene kohärente Moraltheorien sind miteinander inkompatibel. Die Frage, wie stark die Abweichungen kohärenter Moraltheorien untereinander sein können, und die eigentlich relevante Frage danach, wie sich kohärente von nichtkohärenten Moraltheorien hinsichtlich ihrer wahrscheinlichen Wahrheit unterscheiden, wird in Sayre-McCords Prämissen gar nicht thematisiert. Daraus ergibt sich, dass auch in der Konklusion jede graduelle Aussage fehlt. Aus der rein qualitativ formulierten Prämisse ist eine nur qualitative Aussage ableitbar: Jede kohärente Moraltheorie, die wir entwickeln, ist mit der einzig wahren Moraltheorie inkompatibel. Daraus geht aber nicht hervor, wie groß die Abweichungen zur wahren Theorie sind und ob Kohärenz dazu beiträgt, diese Abweichungen zu verringern. Dies wäre aber entscheidend, wenn man über die Wahrheitsindikativität von Kohärenz entscheiden will, d. h. wenn man begründete Aussagen darüber treffen will, ob Kohärenz ein Indikator dafür sein kann, dass eine Theorie wahrscheinlich wahr ist oder dass viele ihrer Aussagen wahr sind. Auf diese Fragen aber hätte man sich eine Antwort erwartet, weil Sayre-McCord ja gerade den Anspruch erhebt, mit seinem Argument ein Argument gegen Kohärenz als methodologische Maxime (operative constraint) vorgelegt zu haben.

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Erst ein gradueller Kohärenzbegriff würde es ermöglichen, konkurrierende Moraltheorien bezüglich ihres Kohärenzgrades zu ordnen, und könnte somit eine Grundlage dafür bieten, die Frage zu beantworten, ob sich besser gerechtfertigte Theorien von schlechter gerechtfertigten Theorien hinsichtlich ihres Kohärenzgrades unterscheiden. Selbst wenn man also zugesteht, dass Sayre-McCord ein schlüssiges Argument vorgelegt hat, muss die Kritik angebracht werden, dass sein Argument nicht das zeigt, was es zeigen sollte. Sayre-McCord hat gezeigt, dass Kohärenz nicht wahrheitsverbürgend ist, d. h. dass die Kohärenz einer Theorie kein hinreichendes Kriterium für deren Wahrheit ist. Dass dem so ist, impliziert aber nicht, dass Kohärenz generell untauglich als methodologische Maxime ist. Damit Kohärenz als eine fruchtbare methodologische Maxime angesehen werden kann, genügt es, wenn ein höherer Kohärenzgrad zumindest ceteris paribus dazu führt, dass die Theorie mit einer höheren Wahrscheinlichkeit wahr ist. Sayre-McCords Argument ist mithin zwar schlüssig. Aufgrund der qualitativen Charakterisierung der Grundbegriffe kann es aber auf die Frage, auf die es antworten soll, keine informative Antwort geben. Zusammenfassend lässt sich sagen: Sayre-McCords erster Vorschlag zur Explikation des Kohärenzbegriffs weist massive Defizite auf. Abgesehen von einer Reihe von Anwendungsproblemen, die sich wegen der anspruchsvollen Formulierung der drei Bedingungen ergeben, besteht sein wichtigstes Defizit darin, dass es sich um einen rein qualitativen Begriff handelt. Dies widerspricht, wie belegt wurde, zunächst einer generell akzeptierten begrifflichen Intuition zum rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriff. Entscheidend ist jedoch, dass vor dem Hintergrund einer qualitativen Explikation aus begrifflichen Gründen ausgeschlossen ist, dass Kohärenz ein Wahrheitsindikator sein könnte. Sayre-McCords Argument ist dabei trotz der soeben aufgezeigten Probleme interessant, weil sich daran zeigen lässt, dass sich aus der Beantwortung der Frage, ob der Kohärenzbegriff ein qualitativer oder ein gradueller

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Begriff ist, Konsequenzen hinsichtlich der theoretischen Ziele ergeben, die man mit dem Kohärenzbegriff verbinden kann. Sayre-McCord hat Folgendes gezeigt: Sein qualitativer Kohärenzbegriff kann kein Indikator für die wahrscheinliche Wahrheit von nicht-idealen Moraltheorien sein. Dieses Resultat interpretiert Sayre-McCord als Argument gegen die Verwendung des Kohärenzbegriffs im Rahmen einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung unserer Moraltheorien. Man kann aus diesem Resultat aber auch den Schluss ziehen, dass eine Explikation, die den Kohärenzbegriff als qualitativen Begriff auffasst, im epistemologischen Kontext verfehlt ist. Wie im Folgenden gezeigt wird, ist Sayre-McCord in seiner späteren Kohärenztheorie selbst zu dieser Einsicht konvertiert. Wenden wir uns damit der Rekonstruktion seiner späten Kohärenztheorie zu. 2.4.2 Sayre-McCords späte Kohärenztheorie In seiner zweiten Untersuchung zur kohärentistischen Epistemologie hat Sayre-McCord (1996) seine Auffassungen erheblich revidiert. Vermutlich unter dem Eindruck der Theorieentwicklung im Gebiet der Epistemologie empirischen Wissens hat er seine kritische Haltung zur Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung aufgegeben. Sein primäres Ziel ist nun die Entwicklung und Verteidigung einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung für die Ethik.67 Um dies zu leisten, widmet er sich in konstruktiver Weise der Explikation eines angemessenen Kohärenzbegriffs. Im Folgenden wird zunächst dargestellt, in welcher Hinsicht Sayre-McCord seinen eigenen Kohärenzbegriff verändert und weiterentwickelt hat. Anschließend wende ich mich der Frage zu, wo er im Rahmen der neuen Konzeption das primäre Problem einer jeden Kohärenztheorie der Rechtfertigung sieht. 67 Sayre-McCord 1996, 177–178.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

2.4.2.1. Sayre-McCords zweite Explikation des Kohärenzbegriffs In seiner Publikation von 1996 präsentiert Sayre-McCord einen erheblich modifizierten Explikationsvorschlag. Dies wird schon in den einleitenden Bemerkungen zu seiner Untersuchung deutlich: I will defend a coherence theory of epistemic justification according to which our beliefs, moral and otherwise, are justified only if, and then to the extent that, they cohere well with the other things we believe. (Sayre-McCord 1996, 140)

Erstens handelt es sich also bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden sollen, nicht mehr um Moraltheorien, sondern um Systeme nichtmoralischer und moralischer Überzeugungen. Zweitens sagt Sayre-McCord explizit, dass es ihm bei der Entwicklung seiner Kohärenztheorie um den Nachweis geht, dass Kohärenz ein Indikator für die epistemische Rechtfertigung von Überzeugungen ist. Drittens schließlich fasst er den Kohärenzbegriff in Abgrenzung zur frühen Konzeption nun als ein Konzept auf, mit dem es möglich ist, verschiedene Grade von Kohärenz zu unterscheiden („to the extent that, they cohere …“). Sayre-McCord übernimmt bezüglich all dieser Punkte den Sprachgebrauch und die Vorstellungen zum Kohärenzbegriff, die in der Kohärenzdebatte innerhalb der theoretischen Philosophie gemeinhin akzeptiert sind. Wie schon in seinem ersten Vorschlag unterscheidet er auch in seiner revidierten Explikation des Kohärenzbegriffs weiterhin drei Bedingungen: evidential consistency, connectedness und comprehensiveness. Er nimmt allerdings bei jeder der drei Bedingungen inhaltliche Modifikationen vor und fasst sie nicht mehr als einzeln notwendig und gemeinsam hinreichend für Kohärenz auf. Vielmehr sieht er evidential consistency jetzt allein als notwendige und hinreichende Bedingung für Minimalkohärenz (minimal coherence) an und fasst die übrigen zwei Bedingungen als graduelle Kriterien auf, die beschreiben, in welchem Ausmaß in dem jeweiligen System relative Kohärenz (relative coherence)

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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verwirklicht ist. Im Folgenden wird dargestellt, inwiefern SayreMcCord die drei Bedingungen gegenüber seinem ersten Explikationsansatz inhaltlich modifiziert hat. 2.4.2.1.1. Die Revision der Konsistenzbedingung Die erste Bedingung, die Sayre-McCord als notwendige und hinreichende Bedingung für Minimalkohärenz konzipiert, wird nicht mehr wie bisher als logische bzw. praktische Konsistenz charakterisiert, sondern als Begründungskonsistenz (evidential consistency). [A] set of beliefs counts as (minimally) coherent if and only if the set is evidentially consistent – that is, if and only if the weight of the evidence provided by the various beliefs in the set don’t tell, on balance, against any of the others. (Sayre-McCord 1996, 166)68

68 Auch hier findet sich in der Debatte innerhalb der theoretischen Philosophie ein Kriterium, dass mit Sayre-McCords Bedingung der evidential consistency eng verwandt ist. So hat C. I. Lewis mit seinem congruence- Konzept einen Explikationsansatz entwickelt, der zu einem der Ausgangspunkte der Debatte um den Kohärenzbegriff in der Epistemologie empirischen Wissens geworden ist (siehe z. B. BonJour 1985, 97; Bovens & Hartmann 2003, 12). Lewis hat den congruence-Begriff definiert wie folgt: A set of statements […] will be said to be congruent if and only if they are so related that the antecedent probability of any one of them will be increased if the remainder of the set can be assumed as given premises. (Lewis 1946, 338) Die enge Verbindung zu Sayre-McCords evidential consistency ist leicht ersichtlich: Die beiden Kriterien unterscheiden sich lediglich darin, dass Lewis fordert, dass der Grad der Stützung einer Überzeugung p durch die anderen Elemente des Systems ansteigen muss, während Sayre-McCord lediglich fordert, dass dieser Stützungsgrad von p durch die anderen Elemente „on balance“ nicht vermindert werden darf. Diese Differenz erklärt sich dadurch, dass Sayre-McCord lediglich beansprucht eine Bedingung für Minimalkohärenz anzugeben und noch zwei graduelle Kriterien hinzunimmt, während Lewis mit dieser Bedingung ein notwendiges und hinreichendes Kriterium für

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Inhaltlich geht es also nicht mehr allein um logische Konsistenz oder die Ableitbarkeit widersprüchlicher Handlungsanweisungen, sondern um die Frage, inwiefern die Überzeugungen einander begründen. Man könnte zunächst denken, dass SayreMcCord seine frühe Konsistenzbedingung revidiert hat, um den oben angeführten Einwänden gegen die strikte Forderung nach logischer Konsistenz zu entgehen. Allerdings gibt er selbst an, dass evidential consistency zwar in gewisser Hinsicht schwächer, in gewisser Hinsicht allerdings auch stärker als logische Konsistenz ist. Ich stelle zunächst diese beiden Modifikationen gegenüber der Bedingung logischer Konsistenz dar, um dann beurteilen zu können, ob es eine realistische Annahme ist, dass die Bedingung der Begründungskonsistenz in Überzeugungssystemen erfüllt sein kann. Begründungskonsistenz ist nach Sayre-McCord stärker als logische Konsistenz, weil sie nicht allein durch deduktive, sondern auch durch induktive inferentielle Beziehungen verletzt werden kann. So ist es durchaus möglich, dass in einem bestimmten Überzeugungssystem zwar keine logischen Inkonsistenzen vorliegen, dass aber trotzdem eine Überzeugung aus diesem System einen Grund gegen die Geltung anderer Überzeugungen darstellt. Es gibt nämlich induktive Beziehungen, die zwar keine logischen Inkonsistenzen generieren, die aber dazu führen, dass verschiedene Überzeugungen im System nicht gut miteinander vereinbar sind. Die Idee, dass nicht nur deduktive, sondern auch induktive inferentielle Beziehungen bei der Bestimmung des Kohärenzgrades eines Überzeugungssystems zu berücksichtigen sind, wird auch innerhalb vieler Kohärenztheorien in der Epistemocongruence bereitstellen will. Ohne Zweifel liegt aber den beiden Bedingungen dieselbe Grundidee zugrunde. Auch an dieser Stelle zeigt sich, welche engen Beziehungen zwischen den Debatten um den Kohärenzbegriff in der Epistemologie empirischen Wissens und der moralischen Epistemologie bestehen.

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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logie empirischen Wissens vertreten.69 Eine sogenannte probabilistische Inkonsistenz liegt z. B. zwischen den Überzeugungen „p“ und „Es ist unwahrscheinlich, dass p“ vor. Diese sind nicht logisch inkonsistent; es lässt sich aus ihrer Konjunktion keine Kontradiktion ableiten. Somit ist es nicht unmöglich, sondern nur unwahrscheinlich, dass beide Überzeugungen zugleich wahr sind. Hier liegt der Einwand nahe, dass die Bedingung probabilistischer Konsistenz nicht ohne weiteres auf Systeme moralischer Überzeugungen angewendet werden kann. Es ließe sich nämlich argumentieren wie folgt: In empirischen Anwendungen lassen sich Wahrscheinlichkeiten z. B. im Sinne von relativen Häufigkeiten interpretieren. Wenn in einer Urne neunzig schwarze und zehn weiße Kugeln liegen, so ist es wahrscheinlich, dass ich eine schwarze Kugel ziehe. Wie aber sollte sich der Wahrscheinlichkeitsbegriff in seiner Anwendung auf moralische Überzeugungen interpretieren lassen? Schließlich kann man in diesem Bereich nicht in paralleler Weise von relativen Häufigkeiten von Ereignissen sprechen. Dazu ist zu sagen, dass die Interpretation im Sinne relativer Häufigkeit zwar eine mögliche, nicht aber die einzige Deutung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs darstellt. Es gibt alternative Deutungen, die ohne weiteres auch auf moralische Überzeugungen bezogen werden können. Ein Beispiel dafür ist die Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs als logische oder subjektive Wahrscheinlichkeit. Gemäß dieser Interpretation lässt sich der Wahrscheinlichkeitsbegriff generell auf Überzeugungen anwenden.70 Einen frühen Ansatz einer logischen Interpretation hat John Maynard Keynes in seiner Theorie der Wahrscheinlichkeit ausgearbeitet. 69 Dass probabilistische Inkonsistenzen kohärenzmindernd wirken, wird in der Epistemologie empirischen Wissens z. B. von BonJour vertreten: „A system of beliefs is coherent in proportion to its degree of probabilistic consistency“ (BonJour 1985, 95). 70 Siehe für einen Überblick über aktuelle Ansätze dieser Interpretation des Wahrscheinlichkeitsbegriffs Kyburg & Teng (2001, 80–93).

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Die grundlegende theoretische Intention von Keynes besteht darin, mittels des Wahrscheinlichkeitsbegriffs zu spezifizieren, in welchem Grad Überzeugungen rational glaubwürdig bzw. gerechtfertigt sind. Nach dem Vorbild der deduktiven Logik wird dabei angestrebt, einen Kalkül zu entwickeln, mit dem sich Argumente formalisieren lassen. Im Unterschied zur deduktiven Logik geht es hier aber nicht um wahrheitsverbürgende, sondern um wahrheitsindikative Schlussfolgerungen, d. h. um solche Schlüsse, die nur zu einem gewissen Grad für die wahrscheinliche Wahrheit unserer Überzeugungen sprechen. Keynes schreibt dazu: The Theory of Probability is concerned with that part [of our knowledge] which we obtain by argument, and it treats of the different degrees in which the results so obtained are conclusive or inconclusive. In most branches of academic logic, such as the theory of the syllogism […], all the arguments aim at demonstrative certainty. They claim to be conclusive. But many other arguments are rational and claim some weight without pretending to be certain. In metaphysics, in science, and in conduct, most of the arguments, upon which we habitually base our rational beliefs, are admitted to be inconclusive in a greater or less degree. Thus for a philosophical treatment of these branches of knowledge, the study of probability is required. (Keynes 1921, 3)

Keynes erwähnt hier zwar den Anwendungsbereich Ethik nicht explizit. Unter kognitivistischen Vorannahmen spricht jedoch nichts dagegen, einen in Keynes’ Weise interpretierten Wahrscheinlichkeitsbegriff auch auf moralische Überzeugungen anzuwenden. Dass es auch im Bereich der Moral eine Fülle induktiver Argumente gibt, lässt sich an vielen Beispielen belegen. Betrachten wir die im common sense akzeptierten Moralprinzipien wie z. B.: Du sollst nicht stehlen! Du sollst nicht lügen! Du sollst deine Versprechen halten! Diese moralischen Forderungen gelten nicht strikt, sondern sie

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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lassen Ausnahmen zu.71 Will man mit dem Verweis auf das Verbot zu stehlen ein Argument für die moralische Falschheit einer entsprechenden Handlung anführen, so handelt es sich deshalb nicht um ein deduktives Argument. Es gibt nämlich Situationen, in denen es moralisch richtig ist zu stehlen. Es ist nur unter normalen Umständen verboten zu stehlen. Der Verweis auf die moralische Regel „Du sollst nicht stehlen!“ kann deshalb bestenfalls einen induktiven Grund für die Falschheit einer entsprechenden Handlung darstellen. Wie dieses Beispiel zeigt, stützen wir uns im Bereich der Ethik nicht nur auf deduktive, sondern auch auf induktive Argumente. Will man diese Argumente rekonstruieren, so legt man sich darauf fest, dass auch zwischen moralischen Überzeugungen induktive inferentielle Beziehungen bestehen. Wie der Verweis auf Keynes verdeutlicht hat, generiert diese Festlegung unter kognitivistischen Vorannahmen keine unüberwindlichen Probleme. Zwar kann der Wahrscheinlichkeitsbegriff in der moralischen Epistemologie nicht in beliebigen Deutungen angewendet werden. Es gibt aber auch hier Optionen, den Wahrscheinlichkeitsbegriff in der Anwendung auf moralische Überzeugungen in sinnvoller Weise zu interpretieren. Entgegen dem ersten Anschein stellt also die Berücksichtung induktiver inferentieller Beziehungen kein Problem für Sayre-McCords Bedingung der Begründungskonsistenz dar. Problematisch ist diese Bedingung aus einem anderen Grund. Dieser ergibt sich aus der Tatsache, dass Sayre-McCord seine Bedingung der Begründungskonsistenz in gewisser Hinsicht auch schwächer konzipiert als den Begriff der logischen Konsistenz. Sayre-McCord verfolgt damit vermutlich die Intention, den Begriff der Begründungskonsistenz leichter an71 In der Ethik und Metaethik wird diese Eigenschaft von Moralprinzipien gemeinhin als „Prima facie-Charakter“ bezeichnet. Den Begriff der Prima facie-Verpflichtung (prima facie duty) hat W. D. Ross (1930, 16–39) in die Debatte eingeführt.

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wendbar auf tatsächlich existierende Überzeugungssysteme zu machen. Dies führt allerdings zu einem Problem, das im Folgenden dargestellt wird. In welchem Sinn ist Begründungskonsistenz schwächer als logische Konsistenz? Blicken wir noch einmal auf Sayre-McCords Formulierung der evidential consistency-Bedingung: [A] set of beliefs […] is evidentially consistent […] if and only if the weight of the evidence provided by the various beliefs in the set don’t tell, on balance, against any of the others. (Sayre-McCord 1996, 166, Herv. M. H.)

Eine Schlüsselrolle spielt hier offensichtlich die Phrase „on balance“. Begründungskonsistenz ist mit dem Vorliegen von logisch oder probabilistisch inkonsistenten Überzeugungen genau dann verträglich, wenn diese „in Balance“ sind. Sayre-McCord erläutert diese Metapher in einer zugeordneten Fußnote so: It [evidential consistency] demands less [than logical consistency] because a set that contained logically inconsistent beliefs that were equally well supported by the evidence provided by the other beliefs would count as evidentially consistent (and so minimally coherent). (Sayre-McCord 1996, 186, Fn. 56)

Demnach ist also auch ein logisch inkonsistentes Überzeugungssystem begründungskonsistent, sofern die logisch inkonsistenten Überzeugungen darin gleich gut gerechtfertigt sind. Sayre-McCords Idee kann man sich hier anhand der Vorwortparadoxie72 gut klarmachen: Tritt in einem Überzeugungssystem eine einzige Inkonsistenz zwischen gleichermaßen gut begründeten Überzeugungen auf, so ist es unplausibel, allein deshalb dem gesamten System jegliche Kohärenz abzusprechen. Gerade in der Anwendung auf Systeme moralischer Überzeugungen lässt sich aber verdeutlichen, dass die Vorwortparadoxie hier durchaus auf ein rationalitätstheoretisches Problem 72 S. dazu Abschnitt 2.4.1.1.1.

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führt. Dies zeigt ein einfaches Beispiel: Stellen wir uns vor, im Überzeugungssystem der Person S finden sich die beiden moralischen Überzeugungen p und q. p und q sind logisch inkonsistent; beide sind aber fest im Überzeugungssystem von S verankert und gleich gut begründet. Nach Sayre-McCord sind sie „in Balance“. Das System ist demnach begründungskonsistent. Dies ist jedoch kontraintuitiv, weil sich diese Person S einem moralischen Konflikt gegenübersieht: Sie verfügt über zwei moralische Überzeugungen, die gleichermaßen gut begründet sind, die aber einander widersprechen. Gerät die Person S in eine Situation, in der sie nach diesen Überzeugungen handeln muss, so befindet sie sich in einem moralischen Entscheidungskonflikt. Sollten die beiden fraglichen Überzeugungen sehr gut begründet sein und die Konsequenzen ihres Handelns gravierend, so kann man sogar von einem moralischen Dilemma sprechen. Die Balance von Begründungen allein kann also kein Merkmal von Kohärenz sein. Im Gegenteil. In einigen Fällen kann das Vorliegen gleich guter Begründungen für einander widersprechende Überzeugungen sogar eine besonders tiefgreifende Inkohärenz generieren. Es ist sicherlich zu berücksichtigen, dass Sayre-McCord mit dieser Bedingung nur Minimalkohärenz, nicht optimale Kohärenz definieren will. Zu Schwierigkeiten führt die evidential consistency-Forderung trotzdem, weil sie zwei divergierende Komponenten zusammenfasst: Einerseits ist sie so streng, dass sie jede probabilistische Inkonsistenz verbietet, die nicht in Balance ist. Andererseits soll sie zugleich so schwach sein, dass sie – wie soeben beschrieben – tiefgreifende Inkohärenzen zulässt. Sayre-McCords Motivation dafür, die Bedingung einerseits so stark, andererseits so schwach zu konzipieren, bleibt ungeklärt. Warum sollte die Minimalkohärenz eines Systems, in dem ja nach Sayre-McCord sogar logische Inkonsistenzen zugelassen sind, durch das Auftreten einer einzigen nicht-ausbalancierten probabilistischen Inkonsistenz zerstört werden? Bei Sayre-McCord wird diese Frage nicht beantwortet. Sein Konzept von Minimalkohärenz scheint also seinerseits nicht „kohärent“ zu sein.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

2.4.2.1.2. Die beiden komparativen Bedingungen für Kohärenz: Vernetztheit (connectedness) und Vollständigkeit (comprehensiveness) Die beiden anderen Bedingungen, die Sayre-McCord als Kriterien für die relative Kohärenz eines Überzeugungssystems einführt, sind vergleichsweise unproblematisch. Ich diskutiere sie deshalb zusammenfassend in einem Abschnitt. Blickt man auf die Formulierungen, in denen Sayre-McCord diese beiden Bedingungen in seiner späten Publikation einführt, so fällt auf, dass ihnen die entsprechenden Bedingungen in seiner ersten Kohärenztheorie Pate gestanden haben. [Connectedness] The stronger and more extensive the support, the more connected, and more coherent, the set. […] [Comprehensiveness] will increase when other beliefs are added to the set, assuming it remains evidentially consistent. (Sayre-McCord 1996, 167)

Positiv ist zunächst anzumerken, dass Sayre-McCord hier einige Schwächen der entsprechenden Bedingungen seiner ersten Kohärenztheorie ausräumt. Erstens wird den beiden Bedingungen ihr Charakter als notwendige Bedingungen genommen; ein System kann auch dann kohärent sein, wenn diese Bedingungen nicht in optimaler Weise erfüllt sind. Zweitens verliert der Kohärenzbegriff bei Sayre-McCord (1996) seinen qualitativen Charakter und wird zu einem graduellen Begriff.73 Folglich ist es auch nach Sayre-McCord jetzt möglich, unterschiedliche Kohärenzgrade von Überzeugungssystemen zu erfassen. Mit der Berücksichtigung dieser Möglichkeit nähert er sich weiter entwickelten Kohärenzkonzeptionen aus der theoretischen Philosophie an und kann einige der unplausiblen Konsequenzen seiner ersten Kohärenzexplikation ausräumen.74 Kritisch anmerken lässt sich, dass Sayre-McCord diese Vorteile zumindest partiell dadurch erzielt, dass er die Formulie73 Bei Sayre-McCord fehlt eine klare Aussage dazu, ob er den Kohärenzbegriff als ordinalen oder sogar als quantitativen Begriff auffasst. 74 Siehe dazu die Abschnitte 2.4.1.1.2 und 2.4.1.1.3 dieses Kapitels.

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rung der Connectedness- und der Comprehensiveness-Bedingung gegenüber seiner frühen Theorie erheblich abschwächt. Beide Bedingungen bleiben deshalb inhaltlich sehr vage. So besagt die Connectedness-Bedingung in der vorliegenden Formulierung lediglich, dass der Kohärenzgrad mit dem Vernetztheitsgrad durch inferentielle Beziehungen zunimmt. Es bleibt unterbestimmt, wie stark eine einzelne inferentielle Beziehung zum Kohärenzgrad des Systems beiträgt, wie deduktive und induktive Beziehungen im Verhältnis zueinander zu gewichten sind und ob weitere Beziehungen kohärenzstiftend wirken. Ähnlich vage ist die Comprehensiveness-Bedingung. Im Unterschied zur Completeness-Bedingung der frühen Theorie konzipiert SayreMcCord damit kein Maß für die inhaltliche Breite des Überzeugungssystems. Bei der Bestimmung der Comprehensiveness wird nur noch die Anzahl der Überzeugungen in einem begründungskonsistenten System berücksichtigt. Damit ergibt sich das Problem, dass per definitionem auch triviale Erweiterungen den Kohärenzgrad des Systems erhöhen. So steigt demnach der Kohärenzgrad, wenn ein System, das aus den Überzeugungen „p“ und „q“ besteht, durch die Überzeugung „p und q“ erweitert wird. Andere Beispiele für triviale Erweiterungen lassen sich leicht anführen. Nehmen wir an, eine Person hat die folgende moralische Überzeugung: (1) Begeht eine Person einen Mord, so ist dies in jedem Fall moralisch verwerflich. Im Normalfall wird eine solche Person auch von der Wahrheit der folgenden drei Aussagen überzeugt sein, die sich deduktiv aus (1) folgern lassen. (2) Wenn die Person S einen Mord begeht, so ist das moralisch verwerflich. (3) Wenn die Person T einen Mord begeht, so ist das moralisch verwerflich. (4) Wenn die Person U einen Mord begeht, so ist das moralisch verwerflich.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Eine Person, die nur von (1) überzeugt ist, hat also nach SayreMcCords Comprehensiveness-Kriterium ein weniger kohärentes Überzeugungssystem als eine Person, die zusätzlich von den Aussagen (2) bis (4) überzeugt ist. Auch an diesem Beispiel wird deutlich, dass wir intuitiv zwischen trivialen und nichttrivialen Erweiterungen von Überzeugungssystemen unterscheiden und dass wir Erhöhungen des Kohärenzgrades intuitiv nur bei nichttrivialen Erweiterungen plausibel finden. Es muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass dieser Kritikpunkt nicht Sayre-McCords Kohärenzexplikation allein trifft. Vielmehr sind alle in der theoretischen Philosophie entwickelten Kohärenzexplikationen diesem Problem ausgesetzt. Solange kein Kriterium vorliegt, mit Hilfe dessen sich triviale von nichttrivialen Erweiterungen von Überzeugungssystemen abgrenzen lassen, ist nicht zu erkennen, wie dieses massive Problem für jede graduelle Explikation des Kohärenzbegriffs ausgeräumt werden könnte. Manche Autoren bestreiten sogar, dass sich Überzeugungen überhaupt zählen lassen. Ist dies nicht gewährleistet, ist es aber eine offene Frage, ob sich der Kohärenzgrad eines Überzeugungssystems überhaupt jemals wird quantitativ erfassen lassen. Die Rekonstruktion von Sayre-McCords später Explikation des Kohärenzbegriffs hat also das folgende Ergebnis: SayreMcCord konzipiert den Kohärenzbegriff genau wie in der theoretischen Philosophie im Sinne eines Grundbegriffs der Theorie epistemischer Rechtfertigung. Anhand einer ganzen Reihe von Beispielen konnte gezeigt werden, dass zwischen seiner Explikation des Kohärenzbegriffs und der Diskussion um die Kohärenztheorie der Rechtfertigung in der Epistemologie empirischen Wissens deutliche Parallelen bestehen. Sayre-McCords Explikationsvorschlag hat genau mit denselben Problemen zu kämpfen wie die in der theoretischen Philosophie vorgelegten Explikationen. Die grundlegende These, dass in der kognitivistischen Metaethik genau derselbe Kohärenzbegriff vertreten wird wie in der Epistemologie empirischen Wissens, konnte somit – über die in Abschnitt 2.3.2 herausgearbeitete

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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Charakterisierung des Kohärenzbegriffs hinaus – an einer ganzen Reihe von Beispielen belegt werden. 2.4.2.2. Die Standardeinwände gegen den rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus. In der Diskussion um die Probleme der Präzisierung des Kohärenzbegriffs ist deutlich geworden, mit welcher theoretischen Zielsetzung dieser bei Sayre-McCord in die Kohärenztheorie eingeführt wird: Die Explikation des Kohärenzbegriffs soll notwendige und hinreichende Kriterien für die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen bereitstellen. Da im Kohärentismus generell unstrittig ist, dass sich Kohärenz nur auf das Bestehen inferentieller Relationen zwischen den einzelnen Überzeugungen eines Überzeugungssystem bezieht, ist mit dieser Version der Kohärenztheorie die Zurückweisung des erkenntnistheoretischen Fundamentalismus verbunden. Coherentists, in contrast, reject [the foundationalist] view, maintaining that whatever justification our moral beliefs enjoy is due to the relations they bear to other things we believe. (Sayre-McCord 1996, 150)75

Wie gezeigt wurde, steht Sayre-McCord mit dieser Interpretation im Rahmen einer starken Kohärenztheorie der Rechtfertigung insbesondere innerhalb der Ethik nicht allein. Es gibt eine ganze Reihe von Autoren, die eine starke Kohärenztheorie vertreten.76 Damit stellt sich natürlich die Frage, ob der Kohärenzbegriff den Ansprüchen, die im Rahmen einer solchen Theorie an ihn gestellt werden, gerecht werden kann. Im Folgenden werden die wichtigsten Einwände gegen die starke Kohärenztheorie genannt und es wird gezeigt, dass sie im moralischen wie im nichtmoralischen Anwendungsbereich genau denselben Standardeinwänden ausgesetzt ist. 75 S. dazu auch Sayre-McCord 1996, 140. 76 Auf diesen Punkt und auf die Gründe, die in der moralischen Epistemologie für eine starke Kohärenztheorie der Rechtfertigung sprechen, wurde in Abschnitt 2.3.4 eingegangen.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Gegen die starke Kohärenztheorie der Rechtfertigung werden generell, d. h. unabhängig davon, ob man sie in ihrer Anwendung auf empirische Überzeugungen oder im Bereich der kognitivistischen Ethik vertritt, die folgenden drei Standardeinwände in Anschlag gebracht: 1. Der Isolationseinwand besagt, dass die Kohärenz eines Überzeugungssystems deshalb nicht hinreichend für dessen epistemische Rechtfertigung sein kann, weil ja der Kohärenzgrad ausschließlich durch interne Beziehungen zwischen Überzeugungen untereinander determiniert wird. Zur Realität – in der empirischen Epistemologie: zur Welt empirischer Tatsachen – besteht keinerlei Verbindung. Das Überzeugungssystem ist „isoliert“. Für den realistischen Kognitivisten, der eine Welt moralischer Tatsachen postuliert, deren Bestehen oder Nichtbestehen über Wahrheit und Falschheit moralischer Überzeugungen entscheidend ist, stellt sich dieser Einwand in genau derselben Weise. 2. Der Viele-Systeme-Einwand geht von der folgenden Intuition aus: Es ist prinzipiell möglich, viele verschiedene Überzeugungssysteme zu konstruieren, die zwar alle gleichermaßen optimal kohärent sind, die aber inhaltlich stark voneinander abweichen und sogar einander Widersprechendes behaupten. Akzpetiert man diese Intuition, so ergibt sich ein Argument gegen die starke Kohärenztheorie. So geht der moralische Realist davon aus, dass es zu jeder moralischen Frage genau eine wahre Antwort gibt. Mithin kann es auch nur ein Überzeugungssystem geben, dass die Welt moralischer Tatsachen adäquat abbildet. Wenn man aber starker Kohärentist ist, so hat man sich darauf festgelegt, dass Kohärenz das alleinige Kriterium für die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen ist. Gibt es aber sehr viele verschiedene optimal kohärente Systeme, die einander widersprechen, so ermöglicht es Kohärenz allein nicht, aus dieser Klasse von Sys-

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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temen das Überzeugungssystem zu ermitteln, das nur wahre Überzeugungen enthält.77 3. Der Einwand der fehlenden Wahrheitsindikativität ist in verschiedenen Varianten diskutiert worden und es gibt auch verschiedene Erwiderungen darauf.78 Grundsätzlich besagt er: Es ist durchaus unklar, warum Kohärenz überhaupt wahrheitsindikativ ist. Um diesen Einwand zu entkräften, müsste der Kohärentist einen guten Grund dafür liefern, dass ein kohärenteres Überzeugungssystem zumindest ceteris paribus mehr wahre oder wahrscheinlich wahre Überzeugungen enthält als ein weniger kohärentes. Eine besonders hartnäckige Variante dieses Einwands bezieht sich dabei auf das epistemologische Regressargument: So wird die epistemische Rechtfertigung von Überzeugungen gemäß der starken Kohärenztheorie allein aufgrund inferentieller Beziehungen konstituiert. Jede Überzeugung ist demnach ausschließlich dadurch gerechtfertigt, dass sie sich auf andere Überzeugungen stützt. Rekonstruiert man aber diese Kette von Rechtfertigungsschritten, so kann jede weitere angeführte Überzeugung wiederum nur durch inferentielle Beziehungen gerechtfertigt sein. Unter dieser Annahme ergeben sich nur zwei Möglichkeiten, die beide unattraktiv sind: Entweder gelangt man irgendwann wieder zu einer Überzeugung, die bereits in der Kette auftritt. In diesem Fall entsteht ein vitiöser Begründungszirkel. Oder es ergibt sich eine unendlich lange Kette von Rechtfertigungsschritten; die Rechtfertigung mündet somit in einen infiniten Regress. Diese Rekonstruktion des Einwands der fehlenden Wahrheitsindikativität findet 77 Sayre-McCord (1996, 170–177) bespricht in seiner späten Publikation sowohl den Isolationseinwand als auch eine Version des Viele-Systeme-Einwands. Vertreter einer starken Kohärenztheorie in der Epistemologie empirischen Wissens setzen sich ebenfalls mit diesen beiden Einwänden auseinander (siehe z. B. BonJour 1985, 106ff; Bartelborth 1996, 231ff). 78 Siehe für einen Überblick BonJour (1998, 257–258).

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sich in zahlreichen Publikationen zur Kohärenztheorie in der Epistemologie empirischen Wissens.79 Wendet man den Kohärentismus auf die Rechtfertigung moralischer Überzeugungen an, stellt er sich auch hier in genau derselben Weise. Sayre-McCord schreibt dazu: The regress argument is by far the most influential argument against both coherentism in general and coherentism as applied to our moral beliefs. As this argument would have it, if any beliefs are justified at all, some must be justified independently of the relations they bear to other beliefs. In other words, coherentism has got to be false. (Sayre-McCord 1996, 153)

Hinsichtlich der Anwendung der Kohärenztheorie auf die Ethik lässt sich Folgendes festhalten: Diese Einwände sind innerhalb wie außerhalb der Ethik umfänglich diskutiert worden. Sie stellen somit unabhängig davon, ob man die Kohärenztheorie auf empirische oder moralische Überzeugungen anwendet, Standardeinwände gegen den starken Kohärentismus epistemischer Rechtfertigung dar. Kohärentisten haben unterschiedliche Strategien entwickelt, um in effizienter Weise auf diese Einwände zu reagieren. Eine Möglichkeit besteht z. B. darin, statt der starken Kohärenztheorie nur noch eine schwache Kohärenztheorie der Rechtfertigung zu vertreten. In diesem Fall ergäbe sich in Bezug auf alle drei Einwände argumentativer Spielraum. Der Isolationseinwand wäre nicht mehr einschlägig, weil ja ausdrücklich eingeräumt wird, dass neben dem Kohärenzgrad auch andere Eigenschaften den Rechtfertigungsgrad eines Überzeugungssystems bestimmen – z. B. eben das Ausmaß, in dem eine Verbindung zu den Tatsachen hergestellt werden kann. Analoges gilt für den Viele-Systeme-Einwand: Da sich der Vertreter des schwachen Kohärentismus nicht auf Kohärenz als alleiniges Kriterium epistemischer Rechtfertigung stützt, kann er auf die anderen Kriterien verweisen, um unter 79 Dancy 1985, 127–130; Audi 1993, 118–130; Bartelborth 1996, 213– 231.

2.4 Sayre-McCords Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung

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mehreren gleich kohärenten Systemen das am besten gerechtfertigte System zu identifizieren.80 Schließlich ist der schwache Kohärentismus auch nicht mehr unbedingt dem Regresseinwand ausgesetzt. Da er mit dem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus verträglich ist, kann hier zugestanden werden, dass es nicht-inferentiell gerechtfertigte Überzeugungen gibt, die den vitiösen Begründungszirkel verhindern bzw. Endpunkte von Ketten inferentieller Rechtfertigungen darstellen.81 Ob es erfolgreiche Verteidigungsstrategien gegen die Standardeinwände gibt oder ob die Einwände letztlich zur Zurückweisung der kohärentistischen Position in der Erkenntnistheorie überhaupt führen – zu dieser Frage gibt es insbesondere in der Epistemologie empirischen Wissens eine äußerst umfangreiche Debatte. So gibt es eine ganze Reihe von Versuchen, auch die starke Kohärenztheorie der Rechtfertigung gegen diese Einwände zu verteidigen.82 80 Selbstverständlich ist es denkbar, dass auch diese anderen Kriterien es noch nicht ermöglichen, das eine am besten gerechtfertigte Überzeugungssystem zu identifizieren. Der Begriff epistemischer Rechtfertigung könnte ja prinzipiell unterbestimmt sein, d. h. es könnte sein, dass unsere epistemischen Mittel prinzipiell nicht ausreichen, um das eine wahre Überzeugungssystem zu identifizieren. Dies mag ein Problem für die Epistemologie darstellen; es handelt sich aber nicht um ein Problem, das spezifisch den Kohärentismus beträfe (s. dazu Bartelborth 1996, 232–233). 81 Prima facie hilft also der Übergang von der starken zur schwachen Kohärenztheorie dem Kohärentisten aus einer Reihe von Problemen. Wie gezeigt worden ist, ist aber diese Abschwächung der kohärentistischen Position dafür mit anderen Problemen verbunden. Der Kohärentist lädt sich stattdessen die Begründungslast auf zu erläutern, auf welche alternativen Rechtfertigungsressourcen er sich außerdem stützt. Und die Beantwortung dieser Frage ist in der moralischen Epistemologie mit massiven Schwierigkeiten behaftet (s. Ab. 2.3.1). 82 Belege dafür wurden bereits genannt (z. B. BonJour 1985, Bartelborth 1996). In neuerer Zeit hat Spohn (1997/98) versucht, die epistemische Rechtfertigung von Beobachtungsüberzeugungen im Rekurs auf eine starke Kohärenztheorie der Rechtfertigung zu rekonstruieren.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

An dieser Stelle geht es lediglich darum zu zeigen, dass in der Anwendung auf die moralische Epistemologie genau dieselbe Kohärenztheorie diskutiert wird wie in den Anwendungen in der Epistemologie empirischen Wissens. Und genau dafür stellt die Tatsache, dass die Debatte hier wie dort durch die Diskussion derselben Standardeinwände strukturiert wird, einen weiteren Beleg dar. Offensichtlich ist die Kohärenztheorie der Rechtfertigung unabhängig davon, ob man sie auf empirische oder auf moralische Überzeugungen anwendet, mit genau denselben Herausforderungen konfrontiert. Mit diesem letzten Beleg dafür, dass in beiden Anwendungsbereichen derselbe Kohärenzbegriff bzw. dieselbe Kohärenztheorie einschlägig ist, schließe ich die Diskussion der Kohärenztheorie unter kognitivistischen Vorannahmen ab.

2.5 Fazit Wie im vorliegenden Kapitel gezeigt worden ist, erfährt der Kohärenzbegriff in der kognitivistischen Metaethik vornehmlich eine epistemologische Deutung. Aus diesem Grund ergibt sich eine enge Parallele zu der Kohärenztheorie, die in der Epistemologie empirischen Wissens seit längerer Zeit kontrovers diskutiert wird. Wie an vielen Stellen belegt werden konnte, wird hier wie dort genau derselbe Kohärenzbegriff und genau derselbe Typ von Kohärenztheorie thematisiert. Der Kohärenzbegriff zeichnet sich in beiden Anwendungsbereichen dadurch aus, (i) dass es sich bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, um Überzeugungen handelt und (ii) dass die kohärenzstiftenden Beziehungen inhaltlich als inferentielle Beziehungen zwischen diesen Überzeugungen charakterisiert werden. Von vereinzelten Ausnahmen abgesehen, in denen der Kohärenzbegriff im Rahmen einer Kohä-

2.5 Fazit

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renztheorie der Wahrheit thematisiert wird,83 wird dieser Kohärenzbegriff in beiden Anwendungsbereichen als Grundbegriff einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung aufgefasst. Der Kohärenzbegriff wird in diese Kohärenztheorie mit der theoretischen Zielsetzung eingeführt, einen Indikator für die Wahrheit der entsprechenden Überzeugungen bereit zu stellen. Schließlich ist die Kohärenztheorie hier wie dort denselben Standardeinwänden ausgesetzt. Beim gegenwärtigen Diskussionsstand ist es nicht möglich, einen strikten Nachweis der Identität der Kohärenzbegriffe in den beiden Anwendungsbereichen zu erbringen. Verantwortlich dafür ist die Tatsache, dass in keinem der beiden Bereiche eine hinreichend präzise Explikation des Kohärenzbegriffs vorliegt. Vielmehr lässt sich generell sagen, dass die Semantik des rechtfertigungstheoretischen Kohärenzbegriffs bisher unzureichend aufgeklärt ist. Zwar wurden Kohärenztheorien epistemischer Rechtfertigung in der Epistemologie empirischen Wissens weitaus stärker diskutiert als in der moralischen Epistemologie. Trotzdem muss festgestellt werden, dass gegenwärtig keine ausgearbeitete und allgemein akzeptierte Explikation des für diese Kohärenztheorie einschlägigen Kohärenzbegriffs vorliegt. Im Gegenteil. Es stehen recht unterschiedliche Explikationsvorschläge nebeneinander und zum gegenwärtigen Zeitpunkt kann nicht begründet entschieden werden, ob ein Vorschlag den anderen klar überlegen ist. Da also keine gemeinhin akzeptierte Explikation des Kohärenzbegriffs vorliegt, konnte die Identitätsthese folglich nicht im strengen Sinne bewiesen werden. Um sie zu begründen, wurde deshalb eine bescheidenere Strategie verfolgt: Anhand der exemplarischen Analyse von Sayre-McCords Kohärenztheorie wurde herausgearbeitet, dass tatsächlich eine Fülle von Parallelen zwischen Sayre-McCords Ansatz zur Explikation des Kohärenzbegriffs in der moralischen Epistemologie und den 83 S. dazu Abschnitt 2.2.4.

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2. Ein kognitivistischer Ansatz

Kohärenzexplikationen in der Epistemologie empirischen Wissens besteht. Eine erste Übereinstimmung ergibt sich bezüglich der grundlegenden Intuition, dass Konsistenz ein wichtiger Bestandteil von Kohärenz ist. Es wurden verschiedene Ansätze zur Explikation der Konsistenzbedingung vergleichend einander gegenübergestellt und die Probleme bei deren Präzisierung diskutiert. Dabei wurde gezeigt, dass die Konsistenzbedingung (in Analogie zur Epistemologie empirischen Wissens) nicht nur auf deduktive Beziehungen bezogen werden kann, sondern dass auch in der Ethik das Vorliegen induktiver inferentieller Beziehungen angenommen werden kann. Außerdem wurde diskutiert, welcher Status der Vernetztheits- und der Vollständigkeitsbedingung bei der Explikation des Kohärenzbegriffs zukommt. Auch in Bezug auf diese beiden Bedingungen konnten enge Parallelen zwischen den beiden Anwendungsbereichen nachgewiesen werden. Unabhängig davon, wie man den dieser Theorie zugrunde liegenden Kohärenzbegriff im Detail ausarbeitet, lässt sich gegenwärtig zumindest Folgendes festhalten: Die Debatte um eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung in der Ethik kann von den Ergebnissen, die in der Epistemologie empirischen Wissens vorgelegt worden sind, erheblich profitieren. Die Fruchtbarkeit der Übertragung dieser Ergebnisse wurde im vorliegenden Kapitel anhand der kritischen Diskussion von Sayre-McCords Explikationsansatz belegt. Anhand der vergleichenden Diskussion dieses wohl am besten ausgearbeiteten Vorschlags in der Ethik konnten die engen Beziehungen zur Kohärenztheorie empirischen Wissens an vielen Stellen stichhaltig nachgewiesen werden. Diese Parallelisierung der Kohärenztheorie in der Ethik mit der Kohärenztheorie in der Epistemologie empirischen Wissens darf jedoch nicht zu voreiligen Schlussfolgerungen führen. Blickt man von der theoretischen Philosophie aus auf die Verwendung des Kohärenzbegriffs in der Ethik, so könnte man leicht den Eindruck gewinnen, in der Ethik werde der Kohärenzbegriff generell in derselben Weise verwendet wie in der all-

2.5 Fazit

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gemeinen Epistemologie üblich. Dies ist jedoch nicht der Fall. Die in diesem Kapitel dargestellte Verwendung des Kohärenzbegriffs und die Interpretation der Kohärenztheorie sind nämlich lediglich unter der Annahme des realistischen Kognitivismus durchführbar. Das Spektrum der Verwendung des Kohärenzbegriffs ist in Ethik und Metaethik aber viel breiter als in der theoretischen Philosophie. So wird der Kohärenzbegriff in der Ethik auch in Kontexten verwendet, die völlig unabhängig von epistemologischen Fragestellungen oder von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Überzeugungen sind. Dies wird in den folgenden Kapiteln ausführlich belegt. Es gibt in der Ethik Verwendungen des Kohärenzbegriffs, bei denen sowohl die fraglichen Gegenstände als auch die kohärenzstiftenden Beziehungen in anderer Weise interpretiert werden. Außerdem werden andere theoretische Ziele mit dem Kohärenzbegriff verbunden, so dass die oben referierten Standardeinwände in diesen Fällen nicht einschlägig, teilweise nicht einmal sinnvoll formulierbar sind. Wenden wir uns, um diesen Nachweis zu erbringen, im Folgenden zunächst der Interpretation des Kohärenzbegriffs im Nonkognitivismus zu.

3. Ein nonkognitivistischer Ansatz: Kohärenz und die Rechtfertigung moralischer Pro-Einstellungen 3.1 Einleitung Kohärenz, so das Ergebnis des vorhergehenden Kapitels, wird innerhalb der kognitivistischen Tradition vornehmlich als Grundbegriff einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen aufgefasst. Das primäre Anliegen dieses Kapitels besteht darin zu zeigen, dass auch in der nonkognitivistisch orientierten Metaethik auf einen Begriff von Kohärenz verwiesen wird. Dabei handelt es sich jedoch um einen anderen Kohärenzbegriff als im Kognitivismus. Dies wird im Folgenden auf der Basis der beiden Fragen gezeigt, die hier die Analyse der Semantik der Kohärenzbegriffe leiten. Nach nonkognitivistischer Lesart werden (i) andere Gegenstände durch (ii) andere kohärenzstiftende Beziehungen in einen kohärenten Zusammenhang gebracht als im kognitivistischen Fall. Diese Tatsache wird durch den Sprachgebrauch vieler Nonkognitivisten verdeckt. Auch Nonkognitivisten gehen von der Existenz von Moralurteilen aus1 und behaupten, eine Theorie moralischer Überzeugungen zu vertreten oder über eine Epistemologie der Moral zu verfügen.2 Übernimmt man diese terminologischen Setzungen in unkritischer Weise, so scheint der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus mit dem Kohärenzbegriff im Rahmen einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung ohne 1 Gibbard 1990. 2 Scarano 2001, 164–180.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

weiteres identifizierbar zu sein. Hier wie dort dient Kohärenz der Rechtfertigung von Moralurteilen bzw. von moralischen Überzeugungen. Hier wie dort handelt es sich bei Kohärenz demnach um einen Grundbegriff der Epistemologie der Moral. Dieser oberflächliche Konsens, so wird im Folgenden gezeigt, entsteht jedoch durch die Ambiguität der verwendeten Grundbegriffe. Bereits im vorigen Kapitel wurde darauf hingewiesen, dass das Wort „Moralurteil“ in der Metaethik in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird.3 Wie im Folgenden gezeigt wird, werden in der Metaethik auch die Terme „moralische Überzeugung“ und „Rechtfertigung“ nicht in einheitlicher Weise verwendet. Sobald die Bedeutung dieser Grundbegriffe stärker konturiert ist, wird deutlich, dass der scheinbare Konsens zerbricht und dass diese Terminologie im Kognitivismus und im Nonkognitivismus in verschiedener Bedeutung verwendet wird. Diese Unterschiede haben massive Konsequenzen für die Semantik des jeweiligen Kohärenzbegriffs. Daher ist eine ausführliche Klärung der basalen Begrifflichkeit erforderlich. Das vorliegende Kapitel gliedert sich wie folgt: Ich beginne mit der Klärung der metaethischen Grundlagen. Im Rekurs auf den Begriff der propositionalen Einstellung wird der zentrale Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus herausgearbeitet und die Kernthese des moralischen Nonkognitivismus formuliert (3.2). Vor diesem Hintergrund werden dann zwei nonkognitivistische Ansätze zur Explikation des Kohärenzbegriffs diskutiert. Es handelt sich dabei um die Konzeptionen von Simon Blackburn und Nico Scarano. Diese beiden Autoren vertreten ähnlich konzipierte Kohärenzbegriffe. Diese werden aber in zwei unterschiedliche Kohärenztheorien eingebettet, d. h. mit der Einführung des Kohärenzbegriffs werden bei Blackburn und bei Scarano jeweils unterschiedliche theoretische Zielsetzungen verbunden. Während Blackburn eine Kohärenztheorie der Wahrheit konzipiert, vertritt Scarano eine 3 S. Abschnitt 2.2.1.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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spezielle Variante des rechtfertigungstheoretischen Kohärentismus (3.3). Abschließend wird nachgewiesen, dass beiden Versionen der Kohärenztheorie im Nonkognitivismus ein grundlegendes Problem inhärent ist. Bei diesem Nachweis ist ein Argument von zentraler Bedeutung, das in der Literatur als Frege-Argument bzw. Frege-Geach-Punkt bekannt ist. Dieses Argument wird häufig als ein genereller Einwand gegen den Nonkognitivismus überhaupt in Anschlag gebracht. Im vorliegenden Kontext wird mit Hilfe dieses Arguments zweierlei gezeigt. Erstens wird es eingesetzt, um die Hauptthese dieses Kapitels zu stützen: Im Kognitivismus und im Nonkognitivismus werden unterschiedliche Kohärenzbegriffe vertreten. Zweitens wird gezeigt, dass der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus nicht den theoretischen Zielen dienen kann, die bei Blackburn und Scarano mit ihm verbunden werden (3.4).

3.2 Der moralische Nonkognitivismus Was ist moralischer Nonkognitivismus? In erster Annäherung kann man sagen, dass die nonkognitivistische Kernthese die Negation der kognitivistischen Kernthese darstellt: In moralischen Äußerungen drücken sich keine moralischen Erkenntnisse aus. Kognitivismus und Nonkognitivismus stellen demnach echte Alternativen dar, d. h. man kann nicht Kognitivist und Nonkognitivist zugleich sein. Nonkognitivisten behaupten also, dass es nicht der Fall ist, dass es moralisches Wissen gibt. Der Nonkognitivismus lässt sich demnach als eine Form des moralischen Skeptizismus auffassen. Nun lassen sich allerdings verschiedene Formen des moralischen Skeptizismus unterscheiden: Ein Skeptiker kann die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen bestreiten oder er kann behaupten, dass uns die epistemischen Ressourcen fehlen, um moralische Überzeu-

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

gungen epistemisch zu rechtfertigen. Schließlich kann er auch die These ablehnen, dass es moralische Überzeugungen gibt.4 Der moralische Nonkognitivismus setzt am letztgenannten Punkt an. Ein Nonkognitivist lehnt die grundlegende kognitivistische Intuition ab, dass es moralische Überzeugungen gibt. In moralischen Äußerungen drücken sich nach nonkognitivistischer Lesart vielmehr Stellungnahmen bezüglich der moralischen Interessen, Gefühle oder Wünsche des Sprechers aus. Generell gibt es zwei verschiedene Optionen, die nonkognitivistische Kernthese begrifflich zu präzisieren. Man kann sie entweder als eine These dazu auffassen, welche Typen propositionaler Einstellungen mit moralischen Äußerungen ausgedrückt werden oder unter welche Klasse von Sprechakten solche Äußerungen zu subsumieren sind. Wie sich zeigen wird, ergibt sich bei der letzteren Option ein Problem. Aus diesem Grund wird die nonkognitivistische These im Folgenden im Rekurs auf den Begriff propositionaler Einstellungen expliziert. Der vorliegende Abschnitt gliedert sich wie folgt: Zunächst wird der Begriff der propositionalen Einstellung im Sinne einer terminologischen Vorklärung präzisiert (3.2.1), dann unter Verwendung dieses Begriffs der zentrale Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus dargestellt (3.2.2) und schließlich wird auf ein Problem der alternativen Formulierung dieses Dissenses auf der Ebene der Sprechakte hingewiesen (3.2.3). 3.2.1 Propositionale Einstellungen Bei propositionalen Einstellungen (propositional attitudes) handelt es sich um Einstellungen oder Haltungen, die eine Person S zu einer Aussage bzw. Proposition p einnehmen kann.5 Die Zu4 S. zur Unterscheidung unterschiedlicher Formen des moralischen Skeptizismus Abschnitt 2.2.2.2. 5 Die hier vertretene Rekonstruktion propositionaler Einstellungen wurde von Bertrand Russell in seiner Schrift The philosophy of logical atomism entwickelt (Russell 1918; zitiert nach 1986, 193–200). In der

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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schreibung einer propositionalen Einstellung hat die folgende Form: S hat die propositionale Einstellung , dass p. Zunächst ist es wichtig, zwischen (a) der Art und (b) dem Gehalt p einer Einstellung zu unterscheiden.6 Verdeutlichen wir die Unterscheidung zwischen Art und Gehalt der Einfachheit halber zunächst am Beispiel einer nichtmoralischen Aussage: Heute Nachmittag scheint die Sonne. Es handelt sich um eine Aussage, die einen empirischen Sachverhalt beschreibt. Diese Aussage (oder: Proposition) wird genau dann zum Gehalt einer propositionalen Einstellung, wenn eine Person S eine Haltung oder Einstellung dazu einnimmt, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. Eine Person S kann dabei verschiedene Arten propositionaler Einstellungen zu diesem Gehalt einnehmen. Veranschaulicht sei dies anhand der folgenden Liste, in der einige Beispiele aufgeführt werden: S hofft, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S wünscht sich, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S glaubt, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S nimmt an, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S ist davon überzeugt, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S befürwortet, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. S befürchtet, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. Während der Gehalt hier stets gleich bleibt, unterscheiden sich diese Beispiele für propositionale Einstellungen bezüglich ihrer gegenwärtigen analytischen Philosophie hat sie sich weithin etabliert. Siehe für eine aktuelle Diskussion der im Folgenden eingeführten Distinktionen z. B. Oppy (1998, 780ff.). 6 In allen folgenden Beispielen wird zur Illustration dieser zentralen Unterscheidung die Art der propositionalen Einstellungen stets kursiv, der Gehalt stets recte gesetzt.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Art. Halten wir zunächst zwei Beobachtungen fest, die im Folgenden von Bedeutung sind. Erstens sind propositionale Einstellungen feiner individuiert als die sie konstituierenden Gehalte, weil man zu ein und demselben Gehalt verschiedene Einstellungen einnehmen kann. Zweitens gibt es, wie die genannten Beispiele zeigen, einen Schwarm unterschiedlicher Einstellungen.7 Diese Vielfalt lässt sich nach verschiedenen Gesichtspunkten kategorisieren. Es ist weitgehend unumstritten, dass die Klasse der propositionalen Einstellungen in zwei große Subklassen eingeteilt werden kann: in die wunschähnlichen und die überzeugungsähnlichen Einstellungen. Diese Unterscheidung wird begrifflich allerdings unterschiedlich gefasst. Oft wird von der Unterscheidung zwischen Überzeugungen und Wünschen gesprochen, andere wiederum unterscheiden kognitive und nichtkognitive Zustände (cognitive and noncognitive states).8 Ich spreche hier zunächst von wunsch- und überzeugungsähnlichen Einstellungen, um zu betonen, dass es sich um zwei Klassen handelt, denen jeweils eine ganze Reihe verschiedener Einstellungen zugeordnet werden können. Gegenwärtig wird kontrovers diskutiert, in welcher Hinsicht sich wunschähnliche von überzeugungsähnlichen Einstellungen unterscheiden. Üblicherweise wird auf den Begriff der direction of fit verwiesen. Die Vor- und Nachteile dieses Konzepts werden in der vorliegenden Untersuchung noch thematisiert.9 Im vorliegenden Kontext ist es jedoch zweckmäßig, eine Abgrenzung vorzunehmen, die man in der nonkognitivistischen Tradi7 Die angeführte Liste erhebt dabei nicht den Anspruch auf Vollständigkeit. 8 So z. B. Dancy (1998, 534). Diese Option halte ich deshalb für tendenziell irreführend, weil auch Wünsche in dem Sinn kognitiv sind, dass sie einen propositionalen Gehalt haben und dass dieser dem Subjekt, das den Wunsch hat, kognitiv zugänglich sein kann. 9 Auf den Begriff der direction of fit wird ausführlich in der Darstellung von Smiths Kohärenztheorie eingegangen (Abschnitt 4.2.1.2).

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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tion häufiger findet als das direction of fit-Konzept. So stammen die beiden in diesem Kapitel diskutierten Kohärenztheorien von Autoren, die einer ganz bestimmten Variante des Nonkognitivismus zuzuordnen sind: dem Emotivismus. Diese Theorietradition, die im 20. Jahrhundert durch die paradigmatischen Positionen von Alfred Ayer und Charles Stevenson in der metaethischen Debatte einflussreich wurde,10 wird gegenwärtig an prominenter Stelle von Simon Blackburn und Allan Gibbard vertreten.11 So unterschiedlich diese Autoren auch sind: Gemeinsam ist ihnen die Auffassung, dass sich in moralischen Äußerungen primär emotive Einstellungen des Sprechers mitteilen. Wie lässt sich die Unterscheidung zwischen überzeugungs- und wunschähnlichen Einstellungen so präzisieren, dass diese Grundthese als Spezialisierung der Kernthese des Nonkognitivismus klar formuliert werden kann? Wenden wir uns zunächst den überzeugungsähnlichen Einstellungen zu. Wie im vorigen Kapitel dargestellt wurde, spielt die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen eine Schlüsselrolle bei der Charakterisierung der kognitivistischen Position: Da sich ein Kognitivist darauf festlegt, dass es moralisches Wissen gibt, folgt daraus, dass er auch die Existenz moralischer Überzeugungen und wahrheitswertfähiger moralischer Aussagen annehmen muss. Geht man davon aus und fragt dann nach der in diesem Kontext signifikanten Eigenschaft von Überzeugungen, so lässt sich festhalten, dass es sich bei diesen um propositionale Einstellungen des Fürwahrhaltens handelt. Die Einstellung des Überzeugtseins lässt sich demnach wie folgt charakterisieren: (1) S ist davon überzeugt, dass p, gdw. gilt: S hält es für wahr, dass p. 10 Ayer 11936, Stevenson 1937, 1944. 11 S. Blackburn (1984, Kap. 5 bis 7; 1998) und Gibbard (1990). Wie noch gezeigt wird, kann auch Scarano (2001) dieser Theorietradition zugerechnet werden.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Illustrieren lässt sich die begriffliche Adäquatheit dieser Charakterisierung anhand des obigen Beispiels: Wenn S davon überzeugt ist, dass heute Nachmittag die Sonne scheint, dann hält S es für wahr, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. Will man diese Charakterisierung in einer Weise verallgemeinern, dass sie für alle überzeugungsähnlichen Einstellungen gilt, so ist sie in einem Punkt zu streng. In die Klasse der überzeugungsähnlichen Einstellungen fallen nämlich auch die folgenden Beispiele: S glaubt, dass p. S meint, dass p. Schreibt man S diese Einstellungen zu, so ist damit nicht immer gemeint, dass S die entsprechende Aussage p strikt für wahr hält. Vielmehr können überzeugungsähnliche Einstellungen unterschiedlich stark sein. Man kann mehr oder minder fest an die Wahrheit bestimmter Aussagen glauben. Oft sprechen wir davon, dass S die Aussage p glaubt (oder dass S meint, dass p), wenn S es nur für wahrscheinlich wahr hält, dass p. Eine generelle Charakterisierung für überzeugungsähnliche Einstellungen erhält man demnach, wenn man (1) in der folgenden Weise abschwächt: (1*) S hat eine überzeugungsähnliche Einstellung , dass p, gdw. gilt: S hält es für wahr oder für wahrscheinlich wahr, dass p. Mit dieser bescheidenen Bestimmung sind nicht nur Überzeugungen, sondern auch andere überzeugungsähnliche propositionale Einstellungen charakterisierbar. S kann glauben, meinen, annehmen oder akzeptieren, dass heute Nachmittag die Sonne scheint oder S kann sich (mittlerweile im abgedunkelten Zimmer sitzend) daran erinnern – immer hält S es für wahr oder für wahrscheinlich wahr, dass heute die Sonne scheint. Die zweite große Klasse propositionaler Einstellungen ist diejenige wunschähnlicher Einstellungen. Neben der paradigmatischen Einstellung des Wünschens fallen z. B. auch die Einstel-

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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lungen des Befürwortens, Billigens und Interessiertseins in diese Klasse. Negativ lässt sich über diese zunächst sagen, dass sie nicht mit Hilfe des Explikationsansatzes (1*) charakterisiert werden können. Wunschähnliche Einstellungen stellen keine Einstellungen des Fürwahrhaltens dar: Wenn S wünscht oder befürwortet, dass heute die Sonne scheint, so ist damit keinerlei Festlegung auf die Wahrheit oder Falschheit dieser Aussage verbunden. Wie bereits gesagt, werden diese Einstellungen in der emotivistischen Tradition des Nonkognitivismus generell als emotive Einstellungen angesehen. Äußert eine Person demnach eine solche Einstellung dazu, dass p, so drückt diese Person ein bestimmtes Gefühl aus. Traditionell werden dabei eine ganze Reihe recht disparater Einstellungen unter dieser Bezeichnung zusammengefasst.12 Wenn eine Person S z. B. wünscht, dass heute die Sonne scheint, dann möchte sie gern, dass dies der Fall ist – unabhängig davon, wie sich das Wetter tatsächlich gerade verhält. Billigt eine Person das Verhalten ihres Freundes, dann heißt sie dieses Verhalten gut. Emotive Einstellungen können auch mit Handlungsmotivationen verbunden sein. Wenn die Person S wünscht oder ein Interesse daran hat, dass ihre Blumen nicht vertrocknen, so ist S dazu motiviert, die Blumen zu gießen. Die Klasse der wunschähnlichen Einstellungen lässt sich demnach allgemein wie folgt charakterisieren: (2) S hat eine wunschähnliche Einstellung O, dass p, gdw. gilt: S empfindet eine emotionale oder motivationale Strebung dazu, dass p. Man kommt hier in eine Vokabelnot, weil die deutsche Normalsprache keinen passenden Begriff bereithält, um wunschähnliche Einstellungen genauer zu charakterisieren. Innerhalb der Debatten in der Metaethik haben sich deshalb die Kunst12 So subsumiert Stevenson unter die Klasse emotiver Einstellungen (emotive attitudes) „purposes, aspirations, wants, preferences, desires, and so on“ (Stevenson 1944, 3).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

wörter „Pro-Einstellung“ bzw. „Contra-Einstellung“ (pro-attitude, contra-attitude) eingebürgert. Für sich genommen sind diese jedoch wenig hilfreich, um überzeugungsähnliche von wunschähnlichen Einstellungen abzugrenzen. Können nicht auch Überzeugungen in einem gewissen Sinn als „Pro-Einstellungen“ bezeichnet werden? Um zu verdeutlichen, inwiefern ProEinstellungen wunschähnlich sind, verwende ich deshalb für den Moment den Begriff der Strebung. Der Strebungsbegriff ist zwar ebenfalls erläuterungsbedürftig. Er ist aber sehr gut dazu geeignet, zwei Bedingungen zu markieren, die wunschähnliche Einstellungen generell auszeichnen und die zudem in der nonkognitivistischen Tradition allgemein anerkannt sind. Erstens handelt es sich bei wunschähnlichen Einstellungen immer um emotional oder motivational gefärbte Einstellungen. Wie noch erläutert werden wird, ist dies für den Nonkognitivisten wichtig, um die Beziehung dieser Einstellungen zu Handlungsmotiven erklären zu können. Zweitens haben diese Einstellungen nach nonkognitivistischer Auffassung insofern immer auch einen wertenden Charakter, als sie in positiver oder negativer Valenz auftreten können. Damit ist gemeint, dass nicht nur Einstellungen positiver Valenz des Wünschens, Billigens oder Befürwortens als wunschähnliche Einstellungen aufzufassen sind, sondern auch solche negativer Valenz (z. B. die des Ablehnens, des Befürchtens oder des Missbilligens). Nachdem dem Begriff der wunschähnlichen Einstellung mit Hilfe des Begriffs der Strebung etwas mehr Kontur verliehen wurde, bleibe ich im Folgenden beim etablierten Sprachgebrauch und verwende zur Bezeichnung dieser Einstellungen die Terme „Pro-Einstellung“ und „Contra-Einstellung“. (2*) S hat eine wunschähnliche Einstellung O, dass p, gdw. gilt: S hat eine Pro- oder Contra-Einstellung dazu, dass p. Das Ziel dieses Abschnitts besteht nun darin, einen Unterschied zwischen wunsch- und überzeugungsähnlichen Einstellungen anzugeben, mit dem der Kognitivismus und der Nonkognitivismus als echte Alternativen expliziert werden können.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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Dies ist mit den beiden hier vorgeschlagenen Charakterisierungen möglich. Mit (1*) und (2*) sind zwei verschiedene Arten propositionaler Einstellungen voneinander abgegrenzt worden, die unabhängig voneinander bestehen können und nicht aufeinander reduzierbar sind. Charakterisiert man überzeugungsähnliche Einstellungen im Sinne von (1*) und wunschähnliche im Sinne von (2*), so ist mit einer Zuschreibung der Form „S hat die wunschähnliche Einstellung, dass p“ keine Festlegung hinsichtlich des Vorliegens einer überzeugungsähnlichen Einstellung verbunden und umgekehrt. S kann eine Pro-Einstellung dazu haben, dass heute die Sonne scheint – unabhängig davon, ob S von der (wahrscheinlichen) Wahrheit dieser Aussage überzeugt ist oder nicht. Oder S kann es für (wahrscheinlich) wahr halten, dass heute die Sonne scheint und sich zu diesem Sachverhalt bezüglich wunschähnlicher Einstellungen sowohl neutral verhalten, als auch eine Pro- bzw. eine ContraEinstellung dazu einnehmen. In diesem Sinn sind überzeugungsähnliche Einstellungen emotiv neutral. Wunsch- und überzeugungsähnliche Einstellungen spannen demnach zwei alternative Dimensionen propositionaler Einstellungen auf, die nicht aufeinander reduzierbar sind. Die Auffassung, dass zwischen diesen beiden Arten von Einstellungen keine notwendigen oder begrifflichen Beziehungen bestehen, war in der philosophischen Tradition im Anschluss an David Humes philosophische Psychologie von großer Bedeutung und sie wird gegenwärtig von vielen Philosophen vertreten. Es handelt sich dabei um die Kernthese einer Theorieströmung in der gegenwärtigen Metaethik und der Rationalitätstheorie, die allgemein als „Neohumeanismus“ bezeichnet wird.13 Kann aber diese These wirklich allgemeine Geltung für sich in Anspruch nehmen? Um zu illustrieren, dass 13 Auf die Bestimmungsstücke dieser Position gehe ich ausführlich im nächsten Kapitel im Rahmen der Diskussion von Michael Smiths Motivationstheorie ein (insbesondere Abschnitt 4.2.1).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

man an einer positiven Antwort auf diese Frage Zweifel haben kann, betrachten wir einige Beispiele: Wenn S wünscht, dass sie das Abitur besteht, dann glaubt S nicht, dass sie das Abitur bereits bestanden hat. Hier scheint es eine notwendige Beziehung zwischen dem Haben eines Wunsches und dem Besitz einer entsprechenden Überzeugung zu geben. Allerdings ergibt sich argumentativer Spielraum, weil in diesem Satz das Wort „nicht“ mehrdeutig ist. So kann man den Satz paraphrasieren wie folgt: Wenn S wünscht, dass sie das Abitur besteht, dann ist es nicht der Fall, dass S glaubt, dass sie das Abitur bereits bestanden hat. Der Vertreter des Neohumeanismus kann nun folgendermaßen argumentieren: Er habe sich lediglich darauf festlegen wollen, dass zwischen dem Haben überzeugungsähnlicher und dem Haben wunschähnlicher Einstellungen keine notwendigen Beziehungen bestehen. Deshalb ergebe sich für ihn kein Problem. Schließlich zeige das Beispiel nur, dass mit dem Haben bestimmter Wünsche die Abwesenheit entsprechender Überzeugungen verbunden sein kann. Auf diese Replik lässt sich jedoch erwidern, dass der ursprüngliche Satz auch folgendermaßen aufgefasst werden kann: Wenn S wünscht, dass sie das Abitur besteht, dann glaubt S, dass sie das Abitur noch nicht bestanden hat. Und in dieser Interpretation belegt der Beispielsatz tatsächlich, dass aus dem Haben eines Wunsches der Besitz einer entsprechenden Überzeugung folgen kann. Denn die Negation steht nun im Gehalt der Überzeugung. Blickt man in den Bereich von Contra-Einstellungen, so lassen sich zudem Beispiele anführen, die gänzlich ohne Negation auskommen: Wenn S sich darüber ärgert, dass sie die Wahl verloren hat, dann glaubt S auch, dass sie die Wahl verloren hat.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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Wiederum scheint hier aus dem Vorliegen der Contra-Einstellung des Ärgerns notwendig zu folgen, dass S die entsprechende Überzeugung hat. Wie sich hier zeigt, gibt es also noch Diskussionsbedarf bezüglich der Frage, ob die prima facie plausible These, es gäbe keinerlei notwendige bzw. begriffliche Beziehungen zwischen überzeugungsähnlichen und wunschähnlichen Einstellungen, einer gewissenhaften Überprüfung standhält. Diese Diskussion soll jedoch an dieser Stelle nicht geführt werden. Der Neohumeanismus, der lange Zeit den Status eines Standardmodells hatte, wird zwar mittlerweile mit fundierten Argumenten angegriffen. Interessanterweise spielen dabei die hier dargestellten Überlegungen auf der Grundlage der normalsprachlichen Semantik konkreter wunschähnlicher Einstellungen jedoch keine große Rolle.14 Offensichtlich ist es zum gegenwärtigen Zeitpunkt unklar, ob die genannten Beispiele tatsächlich die Geltung der neohumeanischen Kernthese in Frage stellen, oder ob es sich eher um partikulare Verwerfungen oder „Unreinheiten“ der Alltagssprache handelt, deren philosophische Relevanz nicht so hoch zu bewerten ist. Bisher jedenfalls wird diese These insbesondere von den Vertretern des moralischen Nonkognitivismus mehrheitlich akzeptiert.15 Weil es mir hier primär um eine Rekonstruktion der Grundlinien dieser metaethischen Position geht, wird die Geltung der These von der analytischen Unabhängigkeit von überzeugungs- und wunschähnlichen Einstellungen im Folgenden vorausgesetzt. Damit ist das begriffliche Rüstzeug bereitgestellt, um zu explizieren, wo der entscheidende Streitpunkt zwischen Kognitivisten und Nonkognitivisten liegt. 14 Siehe für einen knappen Überblick über die zentralen Argumente gegen den Neohumeanismus Gosepath (2002). 15 Dies gilt für die Nonkognitivisten Blackburn (1995) und Jeffrey (1965b), deren Kohärenztheorien im Folgenden noch besprochen werden, ebenso wie für den Kognitivisten Smith (1994, Kap. 4).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

3.2.2 Der zentrale Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus Im zweiten Kapitel dieser Untersuchung wurde ausgeführt, dass die Kernthese des Kognitivismus lautet wie folgt: K Es gibt moralisches Wissen. Diese These impliziert, dass es wahre moralische Aussagen gibt, zu denen wir die Einstellung des Überzeugtseins einnehmen können.16 Zu moralischen Aussagen, so behauptet der Kognitivist, können wir in genau derselben Weise die Einstellung des Überzeugtseins einnehmen wie zu nichtmoralischen Aussagen. Die Explikation des Begriffs der propositionalen Einstellung ermöglicht es, den Gehalt dieser These noch einmal schärfer zu konturieren. Erinnern wir uns: Die erste Distinktion, die bei der Charakterisierung propositionaler Einstellungen von Bedeutung war, war diejenige zwischen Art und Gehalt der Einstellung. Was also ist der Gehalt einer moralischen Überzeugung? Nach kognitivistischer Lesart lässt sich dieser völlig parallel zum Gehalt empirischer Überzeugungen rekonstruieren. Machen wir dies an einem einfachen Beispiel klar. Der Gehalt einer empirischen Überzeugung lässt sich als eine empirisch-deskriptive Aussage angeben („Heute Nachmittag scheint die Sonne.“). Die Zuschreibung, dass die Person S die entsprechende Überzeugung habe, hat dann die folgende Form: S ist davon überzeugt, dass heute Nachmittag die Sonne scheint. Parallel dazu sind die Gehalte moralischer Überzeugungen durch moralische Aussagen, d. h. Aussagen ethisch-normativen 16 Im Folgenden spreche ich der Einfachheit halber nicht von der Klasse überzeugungsähnlicher Einstellungen, sondern greife nur den paradigmatischen Fall der Überzeugung heraus. Analog dazu spreche ich nur von „Pro-Einstellungen“, wenn Pro- und Contra-Einstellungen gemeint sind.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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Gehalts, charakterisierbar. Betrachten wir auch hierzu ein Beispiel. Stehlen ist moralisch falsch. In derselben Weise wie bei empirischen Überzeugungen kann nun diese moralische Aussage zum Gehalt einer propositionalen Einstellung des Fürwahrhaltens werden. Nach kognitivistischer Interpretation ist eine Person S genau dann davon überzeugt, dass Stehlen moralisch falsch ist, wenn S dies für wahr hält. Demnach lässt sich eine moralische Überzeugung wie folgt explizieren: S ist davon überzeugt, dass Stehlen moralisch falsch ist, gdw. gilt: S hält es für wahr, dass Stehlen moralisch falsch ist. Der Kognitivist kann für sich in Anspruch nehmen, dass seine Analyse der Zuschreibung moralischer Überzeugungen im Einklang mit einer ganzen Reihe von Intuitionen zur Sprache der Moral ist: Wenn wir sagen, dass Stehlen moralisch falsch ist, dass es ungerecht ist, andere zu betrügen, dass man zur Nothilfe verpflichtet ist etc., dann scheinen wir uns damit auf die Wahrheit dieser Aussagen festzulegen.17 Allerdings lädt sich der Kognitivist hiermit eine erhebliche Begründungslast auf, wie im vorigen Kapitel bereits gezeigt wurde: Erstens stellt sich die Aufgabe, eine adäquate moralische Epistemologie zu entwickeln. Zweitens legen sich die meisten Kognitivisten zudem auf eine realistische Ontologie fest, um die Wahrheitswertfähigkeit und die Wahrheit moralischer Aussagen zu erklären. Realistische Kognitivisten müssen deshalb begründen, inwiefern es objektive moralische Tatsachen gibt, die unabhängig von den moralischen Überzeugungen handelnder Personen bestehen. Die Vertreter des moralischen Nonkognitivismus wollen diese Schwierigkeiten, die mit dem Kognitivismus verbunden sind, umgehen. Sie verfolgen das Ziel, die Semantik moralischer 17 Siehe dazu Abschnitt 2.3.1 dieser Untersuchung.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Äußerungen ohne den Rekurs auf eine realistische Ontologie und ohne Rekurs auf eine kognitivistische Epistemologie zu rekonstruieren. Wie lässt sich dieses Ziel erreichen? Alfred Ayer hat die zentrale Idee der emotivistischen Variante des Nonkognitivismus formuliert wie folgt: The presence of an ethical symbol in a proposition adds nothing to its factual content. Thus if I say to someone, “You acted wrongly in stealing that money,” I am not stating anything more than if I had simply said, “You stole that money.” In adding that this action is wrong I am not making any further statement about it. I am simply evincing my moral disapproval of it. It is as if I had said “You stole that money,” in a peculiar tone of horror, or written it with the addition of some special exclamation marks. The tone, or the exclamation marks, adds nothing to the literal meaning of the sentence. It merely serves to show that the expression of it is attended by certain feelings in the speaker. (Ayer 21946, 107)18

Worin besteht nun der Dissens zwischen Kognitivisten und Nonkognitivisten? Generell lässt sich sagen, dass die Frage, welcher Typ propositionaler Einstellungen sich in der Äußerung moralischer Wertungen ausspricht, in den beiden Theorietraditionen unterschiedlich beantwortet wird. Der zentrale Dissens lässt sich mit Hilfe der oben eingeführten Unterscheidung zwischen Art und Gehalt propositionaler Einstellungen angemessen auf den Begriff bringen. Nach Ayer ergeben sich durch das Auftreten eines moralischen Wertungsprädikats (moralisch richtig, moralisch falsch) in einer Äußerung keine Konsequenzen bezüglich des Gehalts derselben. Der Gehalt (factual content) entspricht dem einer empirischen Aussage: Du hast das Geld gestohlen. Äußert ein Sprecher eine moralische Wertung der beschriebenen empirischen Tatsache („Es ist moralisch falsch, dass du das Geld gestohlen hast“), verändert sich demnach der Gehalt der 18 In ähnlicher Weise formuliert Stevenson (1937, 23–24) die Grundidee des Emotivismus.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

155

Aussage nicht. Vielmehr ist diese Äußerung als Ausdruck einer spezifischen, wunschähnlichen Einstellung zu rekonstruieren: S bekundet seine moralische Missbilligung der Tatsache, dass du das Geld gestohlen hast. Mit moralischen Äußerungen drückt man demnach keine Überzeugungen über moralische Tatsachen aus, sondern man bekundet, dass man das Bestehen einer empirischen Tatsache billigt oder missbilligt. Nonkognitivistische Theorien zeichnen sich also dadurch aus, dass die Semantik moralischer Äußerungen19 nicht deskriptivistisch rekonstruiert wird (als Beschreibungen moralischer Eigenschaften, Tatsachen etc.), sondern als Ausdruck einer wunschähnlichen Einstellung – in Ayers Fall die Einstellung moralischer Missbilligung (moral disapproval). Der Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus betrifft also sowohl die Art als auch den Gehalt der entsprechenden propositionalen Einstellungen. Der Kognitivist interpretiert den Sinn des moralischen Prädikats (moralisch richtig, moralisch falsch) als Teil der moralischen Aussage (des Gehalts der propositionalen Einstellung). Im Nonkognitivismus dagegen wird ein moralisches Prädikat als sprachliches Zeichen für das Vorliegen einer bestimmten Art propositionaler Einstellungen angesehen. Während also der Kognitivist moralische und nichtmoralische Überzeugungen allein aufgrund ihres unterschiedlichen Gehalts voneinander abgrenzt, lokalisiert der Nonkognitivist den Unterschied zwischen moralischen und nichtmoralischen Äußerungen in der Art der ausgedrückten Einstellung: Bei moralischen Äußerungen handelt es sich um den Ausdruck einer wunschähnlichen, bei nichtmoralischen 19 Der Nonkognitivist erhebt den Anspruch, eine These zur Semantik von moralischen Äußerungen vorzutragen. Prima facie ist dabei unklar, ob es hier um die Semantik oder um die Pragmatik moralischer Äußerungen geht. Dieser Problematik wende ich mich im nächsten Abschnitt 3.2.3 zu.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Äußerungen um den Ausdruck einer überzeugungsähnlichen Einstellung. Illustrieren wir diese konkurrierenden Rekonstruktionen der Semantik moralischer Äußerungen noch einmal anhand eines Beispiels. Die Äußerung, dass Stehlen moralisch falsch ist, wird folgendermaßen rekonstruiert. Kognitivismus: S drückt aus, dass S es für wahr hält, dass Stehlen moralisch falsch ist. Nonkognitivismus: S drückt aus, dass S eine Pro-Einstellung dazu hat, dass nicht gestohlen wird. Mit Hilfe des Begriffs der propositionalen Einstellung lässt sich nun die zentrale These des Nonkognitivismus in Abgrenzung zur kognitivistischen Kernthese folgendermaßen formulieren: N In moralischen Äußerungen drücken sich niemals Überzeugungen, sondern ausschließlich Pro-Einstellungen aus.20 Durch den Rekurs auf diese Kernthese beansprucht der Nonkognitivist nun, die Probleme des realistischen Kognitivismus zu vermeiden. Erstens ist sie die entscheidende Voraussetzung dafür, die zentrale These des Kognitivisten (es gibt moralisches Wissen) abzulehnen. Weil der Nonkognitivist sich darauf festlegt, dass sich in moralischen Äußerungen keine Überzeugungen ausdrücken, ist eine notwendige Bedingung für die Existenz moralischen Wissens nicht erfüllt. Deshalb stellt sich für ihn auch nicht die Aufgabe, eine kognitivistische Epistemologie zu entwickeln. Zweitens kann der Nonkognitivist unter der 20 Damit ist nicht gesagt, dass jede moralische Äußerung Ausdruck einer Pro-Einstellung ist, sondern nur jede ernsthafte moralische Äußerung. Auch der Nonkognitivist wird zugestehen, dass es moralische Äußerungen gibt, in denen sich keine Pro-Einstellungen ausdrücken (z. B. Äußerungen, um ein Mikrophon zu testen). Wichtig ist aber, dass sich in moralischen Äußerungen nie Überzeugungen mitteilen.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

157

Voraussetzung dieser Kernthese einen moralischen Antirealismus auf ontologischer Ebene vertreten. Er verfügt über eine Rekonstruktion der Bedeutung moralischer Äußerungen, die nicht die Existenz moralischer Tatsachen voraussetzt. Diese beiden Aspekte stellen eine wichtige Motivation für die Übernahme einer nonkognitivistischen Position dar. Stellvertretend für viele Nonkognitivisten zitiere ich hier Blackburn. Dieser bezeichnet seine Variante des Nonkognitivismus selbst als „Expressivismus“ (expressivism) und charakterisiert die Vorteile dieser Position gegenüber dem realistischen Kognitivismus wie folgt: The point of expressive theories is to avoid the metaphysical and epistemological problems which realist theories of ethics […] are supposed to bring with them. Again it is important to remember the overall motivation. This is to explain the practice of moralizing, using causal language, and so on, in terms only of our exposure to a thinner reality – a world which contains only some lesser states of affairs, to which we respond and in which we have to conduct our lives. (Blackburn 1984, 169)21

Der Nonkognitivismus zeichnet sich also sowohl in ontologischer als auch in epistemologischer Hinsicht durch eine erhebliche Sparsamkeit aus. Trotzdem beansprucht diese Theorietradition, eine Rekonstruktion der Semantik der Moralsprache anbieten zu können. Die Bedeutung moralischer Äußerungen wird als Ausdruck (Expression) einer spezifischen Form emotiver Einstellungen expliziert. Mithin wird die Semantik moralischer Wertungsprädikate nicht als Element des propositionalen Gehalts, sondern als Ausdruck einer spezifischen Art propositionaler Einstellungen gedeutet. Genau hier liegt der entscheidende Unterschied zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus. Kann aber der Nonkognitivist tatsächlich dem Anspruch gerecht werden, dass er eine These zur Semantik der Moralsprache vertritt? Handelt es sich nicht vielmehr nur um eine These zur Sprachpragmatik? Diese Frage gilt es zu beant21 Ähnlich bei Mackie (1977, 38–42) und Scarano (2001, 113).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

worten, bevor wir zur Explikation des Kohärenzbegriffs im Rahmen des moralischen Nonkognitivismus kommen. 3.2.3 Kognitivismus versus Nonkognitivismus – die Abbildung der Dichotomie auf illokutionärer Ebene Prima facie ist es möglich, den Nonkognitivismus nicht primär als eine These zur Semantik, sondern als eine These zur Pragmatik der Moralsprache aufzufassen. Schließlich schreiben Nonkognitivisten moralischen Äußerungen eine bestimmte pragmatische Funktion zu. Es geht ihnen darum, dass wir diese Äußerungen gebrauchen, um eine moralische Billigung oder eine moralische Missbilligung auszudrücken. Demnach würden Nonkognitivisten nicht die Frage beantworten, was moralische Äußerungen bedeuten, sondern was wir mit diesen Äußerungen beabsichtigen, bzw. was wir mit der Äußerung moralischer Sätze erreichen wollen. Unter dieser Voraussetzung lässt sich der zentrale Dissens zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus auf illokutionärer Ebene, d. h. auf Ebene der Sprechakte, formulieren. Diese Interpretation ist in der aktuellen Literatur zuweilen anzutreffen, so z. B. bei Christoph Halbig (2007, 196): Kognitivismus vs. Nonkognitivismus: Diese grundlegende Opposition betrifft die Bestimmung der illokutionären Rolle moralischer Äußerungen: Der moralische Kognitivist vertritt die These, daß unsere moralischen Äußerungen eine wesentlich deskriptive Funktion erfüllen: Wir stellen mit ihnen Behauptungen, etwa über die moralische Qualität einer Handlung, auf, die wahr oder falsch sein können. Der Nonkognitivist bestreitet dies. […] Die illokutionäre Rolle moralischer Äußerungen wird also durch den Nonkognitivisten als emotive, evokative oder als eine Verbindung von beiden bestimmt.22

Halbigs Rekonstruktion des Dissenses zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus ist zwar nicht unzutreffend, aber sie 22 Weitere Autoren, die dieser Auffassung nahe stehen, sind Birnbacher (2003, 347) und Stoljar (1993, 81–82).

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

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wird zentralen Intentionen der Nonkognitivisten nicht gerecht. Wenn man nämlich die nonkognitivistische Kernthese als eine These zur Sprachpragmatik auffasst, ergeben sich für den Nonkognitivisten zwei Probleme. Erstens ist die rein sprachpragmatische Doktrin, dass wir mit moralischen Äußerungen in bestimmten Kontexten Gefühle ausdrücken oder evozieren, mit dem moralischen Kognitivismus ohne weiteres verträglich. Der Nonkognitivismus würde sich vom Kognitivismus also nur noch durch die schwache These abgrenzen, dass moralische Äußerungen ausschließlich diese Funktionen ausfüllen können. Nonkognitivisten haben aber ein erheblich anspruchsvolleres Anliegen: Sowohl klassische Nonkognitivisten wie Stevenson als auch moderne Nonkognitivisten wie Blackburn stützen sich auf einen weiten Begriff von Semantik, unter den auch Komponenten der sogenannten emotiven Bedeutung (Stevenson) oder expressiven Bedeutung (Blackburn) von Sätzen fallen. Dieser Begriff einer weiten Semantik ist heute umstritten. Gibt man ihn jedoch auf, geht der zentrale Gehalt des Nonkognitivismus verloren, der dann als vergleichsweise schwache These zur Sprachpragmatik erscheint. Entscheidend ist aber ein zweites Problem. Der so verstandene Nonkognitivismus setzt sich nämlich einem gravierenden Einwand aus, der sogenannten speech act fallacy. Diese doppelte Problematik wird im Folgenden aufgezeigt und es wird begründet, warum der Nonkognitivismus nicht primär als eine These zur Pragmatik der Moralsprache verstanden werden sollte. Wenden wir uns zunächst der Frage zu, inwiefern sich die Dichotomie zwischen Kognitivismus und Nonkognitivismus überhaupt auf sprachpragmatischer Ebene reformulieren lässt. Die Grundidee ist, dass es auf der Ebene der Sprechakte Kandidaten gibt, die den beiden unterschiedenen Arten propositionaler Einstellungen entsprechen. Diese Idee findet sich unter anderem bei Blackburn. Dieser beginnt seine Erläuterungen zu Ayers Emotivismus, indem er den Kontrast zwischen der nonkognitivistischen Grundthese Ayers und der kognitivistischen Position wie folgt darstellt.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz The […] contrast can be put in terms of what it is to accept a moral remark; it is to concur in an attitude to its subject, rather than in a belief. (Blackburn 1984, 167)

Blackburn stellt die Dichotomie zunächst in genau der Weise dar wie hier im vorigen Abschnitt geschehen – nämlich mit Verweis auf die propositionalen Einstellungen. Er fährt fort: Alternatively we might say that the speech-act of putting forward a moral opinion is not one of asserting that some state of affairs obtains, but one of evincing or expressing an attitude, or perhaps of exhorting or encouraging others to share an attitude. (Blackburn 1984, 167)

Der Grundgedanke ist also, dass man die Unterscheidung zwischen Überzeugung und Pro-Einstellung durch eine Unterscheidung auf der Ebene der Sprechakte ersetzen kann. Überzeugungen entsprechen auf der illokutionären Ebene Behauptungen (assertions). Parallel dazu werden Pro-Einstellungen entweder durch Akte des Bekundens eigener Pro-Einstellungen (evincing) oder durch Akte des Ermahnens oder Ermutigens anderer (exhorting or encouraging others) ausgedrückt. Tabelle 3.1: Alternative Abbildungen der Kognitivismus/Nonkognitivismus-Dichotomie auf der Ebene propositionaler Einstellungen und auf illokutionärer Ebene propositionale Einstellungen Sprechakte

Kognitivismus

Nonkognitivismus

Überzeugungen Behauptungen

Pro-Einstellungen Bekundungen von ProEinstellungen, Ausdruck von Ermahnungen oder Ermutigungen anderer

Auf den ersten Blick scheint diese Zuordnung unproblematisch zu sein. In der Sprechakttheorie ist es seit langem akzeptiert, dass man mit der Äußerung bestimmter Sprechakte spezifische Einstellungen zum Ausdruck bringt. So schreibt John Searle: A man who states, explains, asserts or claims that p expresses the belief that p; […] a man who orders, commands, requests H to do A ex-

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

161

presses a desire (want, wish) that H do A; a man who apologizes for doing A expresses regret at having done A; etc. In general, in the performance of any illocutionary act with a propositional content, the speaker expresses some attitude, state, etc., to that propositional content. (Searle 1979, 4)

Besonders klar ist die Entsprechung zwischen der Ebene der Sprechakte und der Ebene propositionaler Einstellungen im Fall von Behauptungen. Mit der Äußerung einer Behauptung legt sich ein Sprecher auf die (wahrscheinliche) Wahrheit der geäußerten Aussage fest: The point or purpose of the members of the assertive class [of illocutionary acts] is to commit the speaker (in varying degrees) to something’s being the case, to the truth of the expressed proposition. (Searle 1979, 12)

Diese Explikation assertiver (behauptender) Sprechakte korrespondiert mit der Explikation überzeugungsähnlicher Einstellungen als Einstellungen des Für(wahrscheinlich-)wahrhaltens. Auch wenn diese Zuordnung im Fall der Pro-Einstellungen nicht so klar ist, scheint die nonkognitivistische Kernthese zunächst im Rekurs auf die Ebene der Sprechakte folgendermaßen reformulierbar zu sein. Nprag In moralischen Äußerungen sprechen sich niemals Behauptungen, sondern ausschließlich Bekundungen von Pro-Einstellungen bzw. Ermutigungen oder Ermahnungen aus. In dieser These wird nichts Falsches über den Nonkognitivismus ausgesagt: Weil die im vorigen Abschnitt explizierte These N die nonkognitivistische Kernthese darstellt, ergibt sich sogar, dass ein Nonkognitivist auch Nprag akzeptiert. Fasst man aber statt N allein Nprag als die nonkognitivistische Kernthese auf, gerät das zentrale Anliegen des Nonkognitivisten aus dem Blick. Dies lässt sich daran verdeutlichen, dass im Rekurs auf Nprag allein die Abgrenzbarkeit der nonkognitivistischen Position vom Kognitivismus fragwürdig wird. Erinnern wir uns: Eine Schlüsselrolle bei der Unterscheidung der kognitivisti-

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

schen und der nonkognitivistischen Position spielt der Gehalt der moralischen Äußerungen, insbesondere die Interpretation der Semantik der Wertungsprädikate. Das zentrale Anliegen des Nonkognitivisten besteht darin, sich diesbezüglich durch einen Alternativvorschlag vom Kognitivismus abzugrenzen. Nimmt man nun die Formulierung Nprag beim Wort, so kann der Kognitivist aber dieser rein pragmatischen These zustimmen. Entscheidend ist ja für ihn lediglich, dass moralische Aussagen eine deskriptivistische Semantik haben, so dass es möglich ist, mit ihnen Behauptungen auszusprechen. Der Kognitivist kann ohne weiteres zugestehen, dass ein Sprecher durch die Äußerung solcher Aussagen ebenso gut Pro-Einstellungen oder Ermahnungen zum Ausdruck bringen kann (und aufgrund kontingenter empirischer Umstände eventuell sogar immer nur Pro-Einstellungen zum Ausdruck bringt). Die Bestimmung der illokutionären Rolle einer Äußerung eines Sprechers S ist kontextsensitiv, d. h. sie hängt nicht vom Gehalt der geäußerten Aussage allein ab, sondern auch von anderen Eigenschaften der konkreten Sprechsituation. Deshalb kann man mit der Äußerung ein und derselben Aussage situationsabhängig unterschiedliche Sprechakte ausführen. Illustrieren wir dies zunächst an einem Beispiel aus dem nichtmoralischen Bereich. Äußert ein Sprecher S den Satz „Es ist sehr kalt hier und alle Fenster sind offen.“ so trifft er damit eine wahrheitswertfähige Aussage über das Bestehen empirischer Tatsachen. Es ist möglich, dass Sprecher S damit eine Behauptung äußert, mit der sich S auf die (wahrscheinliche) Wahrheit der Aussage festlegt. Der Sprecher kann mit der Äußerung dieses Satzes aber auch seine eigene Befindlichkeit ausdrücken (Mir ist gerade sehr kalt.) oder eine Bitte an eine andere Person richten (Bitte schließe die Fenster!). Unter der Annahme von Nprag lässt sich Analoges für den Bereich der Moral zeigen. Betrachten wir z. B. die folgende Äußerung des Sprechers S: „Kinder zu misshandeln, ist moralisch verwerflich!“

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

163

Auch hier kann der Kognitivist wieder zugestehen, dass man mit der Äußerung dieser Aussage verschiedene Intentionen verbinden kann. Wiederum ist es zwar möglich, eine Behauptung aufzustellen; die Äußerung kann aber ebenso gut eingesetzt werden, um auf einer Kundgebung Emotionen gegen die Misshandlung von Kindern zu mobilisieren, um zu präventiven Gegenmaßnahmen aufzurufen etc. Zentral für die kognitivistische Position des realistischen Kognitivismus ist lediglich, dass die Bedeutung dieser Aussage deskriptivistisch analysiert wird, dass also der Kindesmisshandlung hier eine realistisch interpretierte moralische Eigenschaft (moralisch verwerflich sein) zugeschrieben wird. Diese Abgrenzungsprobleme zum Kognitivismus illustrieren, wie schwach die Position des Nonkognitivisten in ihrer rein pragmatischen Deutung ist. Der Nonkognitivist würde sich demnach vom Kognitivisten nur noch hinsichtlich der negativen Doktrin unterscheiden, dass sich in moralischen Äußerungen tatsächlich niemals Behauptungen ausprechen können. Das nonkognitivistische Anliegen einer alternativen Interpretation der Semantik der Moralsprache bildet sich in Nprag nicht mehr ab. Es kommt hinzu, dass die These Nprag trotz ihrer Bescheidenheit mit einem massiven Einwand konfrontiert ist. Dieser Einwand, mit dem Nonkognitivisten ein grundlegendes sprachanalytisches Missverständnis nachgewiesen werden soll, wurde von Searle formuliert. Searle vertritt die Auffassung, dass Nonkognitivisten einen bestimmten Fehlschluss, die sogenannte speech act fallacy, begehen.23 Ein Nonkognitivist behauptet nämlich nach Searle Folgendes: Mit moralischen Äußerungen drücken wir typischerweise Bekundungen des Billigens oder Missbilligens, Empfehlens etc. aus. Offensichtlich entspricht dies der These Nprag, weil die nonkognitivistische These hier mit Verweis auf die Ebene der Sprechakte formuliert wird. Diese Beobachtung zur Pragmatik moralischer Äußerungen, so 23 Searle 1969, 136–141.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Searle, wird im Nonkognitivismus angeführt, um die Bedeutung des Prädikats „ist moralisch gut“ mittels dieser Akte des Billigens, Empfehlens etc. zu erklären. Searle hält dies für einen Fehlschluss, weil die Bedeutung eines sprachlichen Zeichens hier durch den Verweis auf die Sprechsituation expliziert werden soll. Kurz gesagt besteht die speech act fallacy darin, dass eine Beobachtung zur Sprachpragmatik als Beleg für eine These zur Semantik der Moralsprache angeführt wird. Dieser Einwand gegen den Nonkognitivismus wäre jedoch nur dann stichhaltig, wenn sich dieser zur Stützung seiner These tatsächlich ausschließlich auf die Beobachtung berufen würde, dass wir mit moralischen Äußerungen typischerweise Billigungen, Ermahnungen oder Empfehlungen aussprechen. Es ist zu recht darauf hingewiesen worden, dass die argumentativen Leistungen und die theoretischen Zielsetzungen des Nonkognitivismus durch diesen Einwand verzeichnet werden.24 Der Nonkognitivist formuliert nicht bloß eine These zur Sprachpragmatik, sondern er verfolgt das Projekt, eine alternative Rekonstruktion der Semantik der Moralsprache vorzulegen. Er nimmt dabei für sich die Vorteile in Anspruch, sich zum einen auf eine sparsame d. h. antirealistische Ontologie stützen zu können und zum anderen die Probleme, die mit einer kognitivistischen Epistemologie der Moral verbunden sind, zu umgehen. Zudem ist darauf hinzuweisen, dass die Unterscheidung zwischen der semantischen und der pragmatischen Ebene der Betrachtung in der nonkognitivistischen Tradition fest etabliert ist. So unterscheidet Stevenson diese beiden Ebenen bereits in einer frühen Publikation von 1937. Einerseits sagt er zum Gebrauch der Sprache: Broadly speaking, there are two different purposes which lead us to use language. On the one hand we use words (as in science) to record, clarify, and communicate beliefs. On the other hand we use words to give vent to our feelings […]. 24 Blackburn 1984, 169–170.

3.2 Der moralische Nonkognitivismus

165

The first use of words I shall call “descriptive”; the second, “dynamic”. Note that the distinction depends solely upon the purpose of the speaker. (Stevenson 1937, 21)

Diese Distinktion ist, aufgrund des expliziten Bezugs auf die Intentionen des Sprechers (purpose of the speaker), zweifellos auf sprachpragmatischer Ebene angesiedelt. Davon grenzt Stevenson andererseits deutlich die Unterscheidung ab, auf die es ihm ankommt. Auch auf semantischer Ebene gibt es eine deskriptive Bedeutung sprachlicher Ausdrücke, aber auch eine emotive Bedeutung: The emotive meaning of a word is a tendency of a word, arising through the history of its usage, to produce (result from) affective responses in people. It is the immediate aura of feeling which hovers about a word. Such tendencies to produce affective responses cling to words very tenaciously. It would be difficult, for instance, to express merriment by using the interjection “alas”. Because of the persistence of such affective tendencies (among other reasons) it becomes feasible to classify them as “meanings”. (Stevenson 1937, 23)

Warum handelt es sich also bei der emotiven Bedeutung um eine semantische und nicht um eine pragmatische Eigenschaft von Worten? Nach Stevenson ist entscheidend, dass emotive Bedeutungen (Interjektionen) nicht abhängig von den Intentionen des Sprechers bestehen, sondern dem Wort bzw. dem Satz kontextunabhängig zukommen. Mit dem Ausruf „Oh, weh!“, so Stevenson, lässt sich keine Fröhlichkeit zum Ausdruck bringen – egal wie auch der Kontext beschaffen ist oder wie es um die Intentionen des Sprechers steht. In diesem Sinn bezieht sich der Emotivist auf Bedeutungen moralischer Äußerungen. Der Emotivismus grenzt sich in kritischer Absicht von Metaethiken ab, die eine deskriptivistische Semantik vertreten, d. h. moralische Aussagen als Beschreibungen moralischer Tatsachen auffassen. Es gibt nach nonkognitivistischer Lesart keine realistisch interpretierte Eigenschaft des Moralisch-verwerflichseins. Das Wertungsprädikat „ist moralisch verwerflich“ hat vielmehr eine emotive Bedeutung, so dass die oben angegebene Äußerung des Sprechers kontextunabhängig wie folgt analysiert werden kann:

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

S bekundet seine moralische Missbilligung der Tatsache, dass Kinder misshandelt werden. Sicherlich ist die Behauptung einer emotiven Semantik der Moralsprache problembehaftet. Geht man von einem – heute weit verbreiteten – wahrheitsdefiniten Verständnis von Semantik aus, wird sogar gänzlich unklar, was „emotive Bedeutungen“ sein sollen. Trotzdem ist ein entsprechend weiter Bedeutungsbegriff für den Nonkognitivismus charakteristisch. Viele Nonkognitivisten sind sich darin einig, dass die Semantik moralischer Äußerungen nicht mittels einer wahrheitsdefiniten Semantik erfasst werden kann und dass moralische Aussagen überhaupt nicht wahrheitswertfähig sind.25 Die Formulierung einer erweiterten, emotivistischen Semantik stellt folglich das zentrale Projekt des Nonkognitivismus dar. Im folgenden Abschnitt wird darauf eingegangen, wie Blackburn dieses Projekt im Rahmen seiner expressivistischen Semantik der Moralsprache auszuarbeiten versucht. Wie immer man zu diesem Projekt stehen mag: Man missversteht das Anliegen des Nonkognitivisten, wenn man ihm vorhält, er würde die Ebenen der Semantik und der Pragmatik verwechseln und lediglich eine These zur Sprachpragmatik vertreten. Man kann skeptisch sein, ob es dem Nonkognitivisten gelingt, eine emotivistische bzw. expressivistische Semantik der Moralsprache 25 Im klassischen Emotivismus wird die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen generell abgelehnt. Ayer schreibt dazu: If I […] say, “Stealing money is wrong,” I produce a sentence which has no factual meaning – that is, expresses no proposition which can be either true or false. (Ayer 21946, 107) In derselben Weise äußert sich Stevenson (1937, 22–23). Auch viele aktuelle Darstellungen sehen in der Leugnung der Wahrheitswertfähigkeit die zentrale nonkognitivistische These (Wedgwood 1997, 73). Wie im Folgenden noch gezeigt wird, stellt Blackburn diesbezüglich eine Ausnahme dar, weil er zwar den Grundsätzen des Nonkognitivismus verpflichtet ist, vor diesem Hintergrund aber einen Wahrheitsbegriff für die Moral anzugeben versucht.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

167

auszuarbeiten; vulnerabel für den speech act fallacy-Einwand ist diese Position in der Metaethik jedoch nicht. Damit ist gezeigt, dass die Reformulierung der Kognitivismus/Nonkognitivismus-Dichotomie auf illokutionärer Ebene zwar grundsätzlich nahe liegt, weil Sprechakte dem Ausdruck propositionaler Einstellungen dienen können. Die Vertreter der pragmatischen Deutung der nonkognitivistischen Kernthese haben auch insofern recht, als Nonkognitivisten der These Nprag ohne weiteres zustimmen können. Dies ändert aber nichts daran, dass Nprag nicht die Kernthese des Nonkognitivismus darstellt, sondern lediglich eine Implikation dieser Kernthese auf Ebene der Sprechakte. Fasst man Nprag anstelle von N als nonkognitivistische Kernthese auf, so missversteht man das zentrale Anliegen des Nonkognitivismus, eine alternative Deutung der Semantik der Moralsprache vorzulegen. In der rein pragmatischen Interpretation wird der Nonkognitivismus zu einer sehr bescheidenen und nur noch schwer vom Kognitivismus abgrenzbaren Position, die sich zudem dem gravierenden Einwand der speech act fallacy aussetzt. Aus diesen Gründen wird die nonkognitivistische Kernthese im Folgenden im Sinne der These N verstanden, die sich auf die Ebene der propositionalen Einstellungen bezieht. Damit steht das begriffliche Inventar zur Verfügung, um sich dem Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus zuzuwenden.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus In einer ganzen Reihe nonkognitivistischer Theorien spielt ein bestimmter Begriff von Kohärenz eine Rolle. Vor dem Hintergrund der Charakterisierung der nonkognitivistischen Kernthese ist bereits ersichtlich, dass es sich dabei nicht um denselben Kohärenzbegriff handeln kann wie im Kognitivismus. Wie gezeigt wurde, vertritt der Kognitivist die Auffassung, dass es sich bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, um moralische Überzeugungen handelt. Da

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

der Nonkognitivist die Auffassung hat, dass sich in moralischen Äußerungen nicht moralische Überzeugungen, sondern moralische Pro-Einstellungen ausdrücken, ergibt sich allein aufgrund dieser begrifflichen Voraussetzung, dass der Nonkognitivist den Kohärenzbegriff in anderer Weise fassen muss als innerhalb der kognitivistischen Tradition üblich. In welcher Weise aber wird der Kohärenzbegriff in nonkognitivistischen Theorien verwendet? Zunächst lässt sich feststellen, dass es in der nonkognitivistischen Tradition keine so breite Auseinandersetzung mit dem Kohärenzbegriff gibt wie im Kognitivismus. Während es dort eine ganze Reihe Autoren gibt, die dem Kohärenzbegriff eine wichtige Rolle im Kontext einer Theorie epistemischer Rechtfertigung zusprechen, gibt es im Nonkognitivismus nur vereinzelte Ansätze der Auseinandersetzung mit dem Kohärenzbegriff. Da die Vorstellungen bezüglich des Kohärenzbegriffs in unterschiedlichen nonkognitivistischen Theorien zudem divergieren, stelle ich in diesem Kapitel zwei Ansätze zur Explikation des Kohärenzbegriffs vor: den Ansatz von Simon Blackburn und den von Nico Scarano. Wie gezeigt werden wird, gibt es in den beiden Ansätzen bei der Explikation des Kohärenzbegriffs viele Gemeinsamkeiten. Unterschiede ergeben sich jedoch hinsichtlich der theoretischen Ziele, die mit dem Kohärenzbegriff verbunden werden. Dabei vertritt keiner der beiden Autoren eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung. Insofern unterscheiden sich beide Ansätze von der Version des Kohärentismus, die im Kognitivismus vornehmlich anzutreffen ist. Blackburn vertritt eine nonkognitivistische Kohärenztheorie der Wahrheit. Damit weicht Blackburn in einem entscheidenden Aspekt von der nonkognitivistischen Tradition ab, in der ja die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen grundsätzlich bestritten wurde. Deshalb stellt sich die Frage, wie Blackburn die Einführung eines Wahrheitsbegriffs in seine nonkognitivistische Metaethik begründet. Scarano folgt in diesem Punkt der nonkognitivisti-

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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schen Tradition und lehnt die Wahrheitswertfähigkeit „moralischer Überzeugungen“26 generell ab. Er erhebt allerdings den Anspruch, durch den Verweis auf den Kohärenzbegriff die rationale Diskutierbarkeit und Kritisierbarkeit dieser moralischen Überzeugungen erklären zu können. Scarano weist dem Kohärenzbegriff also eine rationalitäts- bzw. rechtfertigungstheoretische Rolle zu. Da aber gemäß seiner Theorie moralische Überzeugungen nicht wahrheitswertfähig sind, kann man nicht von einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung sprechen. Es stellt sich somit die Frage, was nach Scarano an moralischen Überzeugungen kritisiert bzw. rational diskutiert werden soll, wenn nicht deren Wahrheit und Falschheit. Diesen Fragen wird im Folgenden nachgegangen. Zunächst wird Blackburns Ansatz dargestellt und kritisch untersucht (3.3.1). Dann wende ich mich Scaranos rechtfertigungstheoretischem Kohärentismus zu und überprüfe auch diesen (3.3.2). Wie sich zeigen wird, ist in beiden Fällen unklar, ob die Kohärenztheorien überhaupt mit den Grundannahmen der nonkognitivistischen Metaethik verträglich sind. Ein besonderes Problem stellt dabei die inhaltliche Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen dar. Dieses Problem wird im letzten Abschnitt dieses Kapitels genauer analysiert (3.4). 3.3.1 Blackburns Kohärenztheorie der Wahrheit für die Ethik Blackburns Position in der Metaethik zeichnet sich durch eine spezifische Ontologie und eine spezifische Semantik aus. Seine ontologische Position bezeichnet Blackburn als Quasi-Realismus, seine semantische Doktrin als Expressivismus. Dabei will er den Grundüberzeugungen des Nonkognitivismus verbunden 26 Den Term „moralische Überzeugung“ setze ich an dieser Stelle in Anführungszeichen, weil Scarano (auch im Titel seines Buches) ankündigt, eine Theorie moralischer Überzeugungen vorzulegen, dann aber Entitäten als moralische Überzeugungen bezeichnet, die keine Überzeugungen sind. Im Abschnitt 3.3.2 wird auf diesen terminologischen Punkt noch genauer eingegangen.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

bleiben. Der Quasi-Realismus ist daher eine Form des Antirealismus und der Expressivismus ist eine Semantik moralischer Pro-Einstellungen. Er will aber auch einige kognitivistische Intuitionen in seine Metaethik integrieren, insbesondere die der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen. Blackburn selbst skizziert den Ausgangspunkt seiner Überlegungen wie folgt: This brings us to [another] point of departure for anti-realism: the attempt to explain the practice of judging in a certain way, by regarding the commitments as expressive rather than descriptive. The commitments in question are contrasted with others – call them judgements, beliefs, assertions, or propositions – which have genuine truth-conditions. Two classic examples of such theories are instrumentalism, as a philosophy of science, and emotivism in ethics. According to this latter, the commitment that a thing is good or bad, right or wrong, permissible or impermissible, is not a judgement with truth-conditions of its own […]. It is a commitment of a different sort, maintained not by believing something but by having an attitude towards it. (Blackburn 1984, 167)

Aus dieser Textstelle geht hervor, dass Blackburn expressivistische Theorien (wie die seinige) in der Tradition des Emotivismus lokalisiert. Erstens teilt er die nonkognitivistische Kernthese, dass sich in moralischen Äußerungen keine Überzeugungen, sondern Pro-Einstellungen ausdrücken („…maintained not by believing something but by having an attitude towards it“).27 Zweitens legt er sich auf eine antirealistische Ontologie fest. 27 Hier muss auf eine terminologische Besonderheit bei Blackburn aufmerksam gemacht werden. Er unterscheidet nicht zwischen „Überzeugungen“ und „Pro-Einstellungen“, sondern zwischen „Überzeugungen“ („beliefs“) und „Einstellungen“ („attitudes“). Für Blackburn sind Überzeugungen keine Einstellungen. Diese Abweichung von der hier bisher eingeführten Terminologie bleibt jedoch inhaltlich weitgehend folgenlos, weil auch Blackburn Überzeugungen und Einstellungen als zwei alternative Haltungen zu propositionalen Gehalten auffasst, wie im Rahmen der Darstellung seiner expressivistischen Semantik in den folgenden Abschnitten noch deutlich werden wird.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Diese erste, nur skizzenhafte Charakterisierung von Blackburns Projekt scheint zunächst eine Konsequenz zu beinhalten, die im klassischen Nonkognitivismus allgemein akzeptiert war. Da moralische commitments auf semantischer Ebene nicht deskriptivistisch, sondern expressivistisch interpretiert werden, fehlen ihnen genuine Wahrheitswertbedingungen („genuine truth-conditions“). Im Unterschied zu anderen Nonkognitivisten sieht Blackburn in dieser fehlenden Wahrheitswertfähigkeit allerdings einen Nachteil der expressivistischen Interpretation moralischer Äußerungen. Andere Nonkognitivisten (Ayers Ablehnung der Wahrheitswertfähigkeit, Mackies Fehlertheorie) haben Blackburn zufolge das Problem, dass sie grundlegende Intuitionen zu unserer Praxis moralischen Urteilens („practice of judging“) nicht erklären können. Ernst zu nehmende Argumente gegen expressivistische Theorien, so Blackburn, betreffen genau diesen Punkt. These [respectable arguments against expressivism] concern the extent to which [expressive theories] can explain the appearance that we are making judgements with genuine truth-conditions. Ultimately it is the attempt to explain this which introduces the need for a wider theory of truth. (Blackburn 1984, 170)

Blackburns Ziel besteht deshalb darin, eine Theorie zu entwickeln, die den Grundlinien des klassischen Nonkognitivismus verpflichtet bleibt und gleichzeitig der Intuition gerecht wird, moralische Aussagen seien wahrheitswertfähig und einige von ihnen seien wahr. Um diesen Anspruch einzulösen, legt er eine eigene Ontologie und eine eigene Semantik der Moral vor. Im vorliegenden Kontext ist Blackburns Version einer expressivistischen Semantik von primärem Interesse, weil hier dem Kohärenzbegriff eine zentrale Funktion zukommt. Blackburns ontologische Präsuppositionen werden im Folgenden so weit skizziert, wie sie zum Verständnis von Blackburns Kohärenztheorie erforderlich sind (3.3.1.1). Danach wende ich mich der Rekonstruktion von Blackburns expressivistischer Semantik zu (3.3.1.2).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

3.3.1.1. Blackburns Ontologie der Moral: Quasi-Realismus und moralische Sensibilität Auf ontologischer Ebene vertritt Blackburn eine Konzeption, die er als Quasi-Realismus oder Projektivismus bezeichnet. Die Grundidee dieser Position lässt sich wie folgt paraphrasieren: Wenn wir moralische Bewertungen ausdrücken, so beschreiben wir damit nicht Eigenschaften der Welt, die unabhängig von uns existieren. Insofern stellt Blackburns Quasi-Realismus eine Version des Antirealismus dar. Nach Blackburn haben wir aber die Fähigkeit, durch unsere moralischen Wertungen unsererseits Wertungseigenschaften auf die Welt zu projizieren. Dies tun wir, indem wir eine bestimmte Form von Pro-Einstellungen entwickeln. Und mit dem Erwerb einer solchen Pro-Einstellung projizieren wir eine moralische Wertungseigenschaft auf die Welt. Deshalb ist es so, als würden wir tatsächlich ein Urteil fällen. Wir urteilen, „als ob“ der Gegenstand die betreffende moralische Eigenschaft tatsächlich hätte: [W]e project an attitude or habit or other commitment which is not descriptive onto the world, when we speak and think as though there were a property of things which our sayings describe, which we can reason about, know about, be wrong about, and so on. (Blackburn 1984, 170–171)

Obwohl diese Wertungseigenschaften nicht unabhängig von uns in der Welt existieren, täuschen wir uns aber nicht über die Welt, wenn wir solche Eigenschaften auf die Welt projizieren. Unsere Aussagen über die projizierten Eigenschaften sind nicht allesamt falsch.28 Vielmehr versetzt uns die Projektion in die 28 An dieser Stelle zeigt sich der Dissens mit Mackie. Auch dieser hat angenommen, dass sich in unserer Moralsprache die Präsupposition abbildet, es gäbe objektive Werte. Da diese Präsupposition aber, wie Mackie mit seiner kritischen Untersuchung zur Ontologie der Moral zu zeigen beansprucht, falsch ist, begehen wir mit dieser Projektion einen Fehler. Blackburn grenzt sein Projekt folgendermaßen von Mackies Fehlertheorie ab:

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Lage, über diese Quasi-Eigenschaften nachzudenken, um ihr Bestehen oder Nichtbestehen zu wissen etc., als ob es sich um tatsächlich bestehende Eigenschaften handelte. Wie aber kann es sein, dass eine wunschähnliche Einstellung die oben genannten kognitivistischen Desiderata erfüllt („…which we can reason about, know about, be wrong about, and so on“)? Der entscheidende Begriff, der all dies erklären soll, ist bei Blackburn der Begriff der moralischen Sensibilität (moral sensibility). Eine moralische Sensibilität (im Folgenden: M) wird als die Gesamtheit der moralischen Pro-Einstellungen einer bestimmten Person S zu einem bestimmten Zeitpunkt t individuiert. Bei den Pro-Einstellungen, die zu M gehören, handelt es sich dabei nicht einfach um die Klasse aller Wünsche oder um die Gesamtheit aller subjektiven emotiven Einstellungen von S. Die Klasse der Pro-Einstellungen, die M ausmachen, wird hier enger definiert. Nach Blackburn sind wir in der Lage, eine ganz bestimmte Form von Pro-Einstellungen zur Welt einzunehmen, nämlich Einstellungen moralischer Billigung und moralischer Missbilligung (moral approval/moral disapproval). Diese Form von Pro-Einstellungen erfüllt nun anspruchsvollere Bedingungen als sonstige emotive Einstellungen. Blackburn rekonstruiert den Prozess der Genese dieser Einstellungen im Sinne einer Input/Output-Funktion: Zunächst haben wir Überzeugungen, die sich auf empirische Ereignisse, Tatsachen und The issue is whether the projection is only explicable if we mistake the origins of our evaluative practices. […] But perhaps there is no mistake. I call the enterprise of showing that there is none – that even on anti-realist grounds there is nothing improper, nothing „diseased“ in projected predicates – the enterprise of quasi-realism. (Blackburn 1984, 171) Auch an dieser Stelle wird noch einmal deutlich, dass Blackburn seinen Quasi-Realismus als eine antirealistische Ontologie der Moral ansieht, mit der der Anspruch verbunden wird, eine Grundlage zur Erklärung der Praxis unseres moralisch-evaluativen Urteilens („evaluative practices“) bieten zu können.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Eigenschaften der Welt beziehen. Die Klasse dieser Überzeugungen stellt das Ausgangsmaterial dar, den input für moralische Bewertungen. Aufgrund unserer moralischen Sensibilität haben wir nun die Fähigkeit, auf diesen input mit einer moralischen Wertung zu reagieren: Wir projizieren – im Sinne eines outputs – eine Einstellung moralischer Billigung bzw. moralischer Missbilligung auf die Welt. Warum hat nun die Genese einer solchen moralischen Einstellung den Charakter einer Projektion auf die Welt? Entscheidend für Blackburns QuasiRealismus ist, dass zwischen dem Input empirischer Überzeugungen und dem Output moralischer Wertungen ein funktionaler Zusammenhang besteht. A moral sensibility […] is defined by a function from input of belief to output of attitude. (Blackburn 1984, 192)

Blackburn vertritt also die Auffassung, dass zwischen unseren Überzeugungen über die Welt (input) und unserer moralischen Wertung (output) ein rechtseindeutiger Zusammenhang besteht. Kraft unserer moralischen Sensibilität verfügen wir demnach über die Fähigkeit, auf die Wahrnehmung einer bestimmten Klasse natürlicher Eigenschaften mit der Genese genau eines (d. h. mit einem und nur einem) moralischen commitment zu reagieren. Auf welcher Grundlage kann ein Expressivist wie Blackburn eine derartig anspruchsvolle Annahme vertreten? Will er den Grundideen des Nonkognitivismus treu bleiben, so muss es sich bei der moralischen Sensibilität schließlich um eine emotive Ressource handeln. Blackburn versucht die These vom funktionalen Zusammenhang zu begründen, indem er zwei Bedingungen einführt, die moralische Sensibilitäten per definitionem erfüllen. Diese Bedingungen hält Blackburn für so schwach, dass sie auch unter nonkognitivistischen Vorannahmen ohne weiteres akzeptabel seien. Die erste Bedingung besagt, dass es moralische Pro-Einstellungen zweiter Ordnung gibt. Das heißt, dass wir moralische Pro-Einstellungen nicht nur zu Ereignissen, Tatsachen etc. der

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Welt einnehmen können, sondern auch zu unseren eigenen moralischen Pro-Einstellungen. Es ist nicht nur möglich, das Eintreten eines Ereignisses (z. B. eine Hilfeleistung) moralisch zu billigen, sondern im Sinne einer Billigung zweiter Ordnung auch die moralische Einstellung zu dieser Hilfeleistung selbst. Blackburn belegt die Akzeptabilität dieser Annahme daran, dass sie mit normalsprachlichen moralischen Äußerungen gut verträglich ist. (1) Ich billige es moralisch, dass du Akte der Hilfeleistung moralisch billigst. (2) Inzwischen missbillige ich es moralisch, dass ich Notlügen früher moralisch gebilligt habe. Auch moralische Einstellungen anderer Menschen (1) oder eigene moralische Einstellungen zu früheren Zeitpunkten (2) können also Gegenstand moralischer Bewertung sein. Diese moralischen Einstellungen bezeichnet Blackburn als Einstellungen zweiter Ordnung. Diese erste Bedingung ist tatsächlich schwach. Auch unter nonkognitivistischen Vorzeichen spricht nichts dagegen, dass wir moralische Pro-Einstellungen nicht nur zu empirischen Ereignissen, Tatsachen etc. einnehmen können, sondern auch zu den moralischen Pro-Einstellungen selbst. Blackburn stellt aber noch eine zweite Bedingung auf, durch die sich moralische Sensibilitäten seiner Meinung nach auszeichnen. Und diese Bedingung ist erheblich anspruchsvoller. So meint er, dass wir bessere moralische Sensibilitäten von schlechteren unterscheiden können. Kurzum: Wir verfügen über einen komparativen Begriff der Verbesserung (improvement) unserer moralischen Sensibilität. Um diese zweite Bedingung zu begründen, verweist Blackburn auf sein Konzept der Einstellungen zweiter Ordnung. Illustrieren wir seine Idee anhand des oben angeführten Beispiels (2): Indem ich eine Einstellung der Missbilligung zu einer früheren moralischen Einstellung von mir entwickle, vertrete ich die Auffassung, dass sich meine gegenwärtige Sensibilität gegenüber meiner früheren verbessert hat. Aus diesem Grund ermög-

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

licht es uns unsere moralische Sensibilität, so Blackburn, zwischen besseren und schlechteren moralischen Reaktionen auf die Welt zu unterscheiden. Now not all such sensibilities are admirable. […] It is extremely important to us to rank sensibilities, and to endorse some and to reject others. (Blackburn 1984, 192)

Blackburns Idee, dass wir kraft unserer moralischen Sensibilität bessere von schlechteren Sensibilitäten unterscheiden können, wäre dann unproblematisch, wenn es dabei um einen rein subjektiven, d. h. persongebundenen Bewertungsmaßstab ginge. Schließlich vertritt Blackburn die Auffassung, dass jede Person über eine jeweils eigene emotive Ressource der moralischen Sensibilität verfügt. Er identifiziert eine moral sensibility M somit nicht mit einer ganz bestimmten, einer einzigen oder der richtigen moralischen Sensibilität. Dies ist vor dem Hintergrund der nonkognitivistischen und antirealistischen Orientierung seines Projekts nur konsequent: Wenn in der Welt keine moralischen Eigenschaften unabhängig von uns existieren und moralische Äußerungen Ausdruck emotiver Pro-Einstellungen sind, dann variieren moralische Sensibilitäten interpersonell und zwischen unterschiedlichen Zeitpunkten.29 Wenn aber moralische Sensibilitäten ausschließlich durch Klassen subjektiver ProEinstellungen individueller Personen zu lokalisieren sind und nirgendwo sonst, dann können wir unsere eigenen Sensibilitäten über die Zeit und die Sensibilitäten anderer Menschen immer wieder nur auf der Grundlage unserer eigenen aktuellen moralischen Sensibilität moralisch billigen oder nicht billigen. Verglichen wird also jeweils nur eine Klasse subjektiver moralischer Einstellungen mit einer anderen solchen Klasse. 29 Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass Blackburn moralische Sensibilitäten M relativ zu verschiedenen Personen S und verschiedenen Zeitpunkten t individuiert.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Würde Blackburn den Begriff der Verbesserung moralischer Sensibilitäten also rein subjektiv auffassen, wäre er im Rahmen seiner Theorie unproblematisch anwendbar. Blackburn aber vertritt einen anderen Anspruch. Moralische Sensibilitäten sollen nicht nur nach einem jeweils subjektiven Standard als besser und schlechter bewertbar sein. Er sagt, dass es wichtig ist, moralische Sensibilitäten in eine Rangfolge zu bringen („to rank sensibilities“). Damit meint er eine und nur eine Rangfolge. Er verbindet also mit dem Verbesserungsmaßstab einen objektivierenden Anspruch. Die Skalierung verschiedener moralischer Sensibilitäten nach ihrer Güte soll es letztlich ermöglichen, objektiv zu sagen, welche moralische Sensibilität die beste Sensibilität darstellt. Warum ist dies für Blackburn wichtig? Blackburn antwortet darauf wie folgt: In effect, quasi-realism is trying to earn our right to talk of moral truth, while recognizing fully the subjective sources of our judgements, inside our own attitudes, needs, desires, and natures. (Blackburn 1984, 197)

Blackburn will in seiner Metaethik zwei Anliegen miteinander versöhnen, die prima facie nicht zueinander passen. Einerseits will er der nonkognitivistischen Intuition gerecht werden, dass die Quellen unserer Moralurteile („sources of our judgements“) ausschließlich in unseren subjektiven moralischen Pro-Einstellungen zu lokalisieren sind. Andererseits will er auch einen Begriff moralischer Wahrheit vertreten („earn our right to talk of moral truth“). Kann sich der Quasi-Realist das Recht verdienen, von moralischer Wahrheit zu sprechen? Bei der Beantwortung dieser Frage kommt dem Kohärenzbegriff eine Schlüsselrolle zu. 3.3.1.2. Blackburns Explikation des Kohärenzbegriffs auf der Grundlage einer expressivistischen Semantik Blackburn geht davon aus, dass unsere moralische Sensibilität ein System moralischer Pro-Einstellungen darstellt. Auf der Grundlage dieses Systems nehmen wir moralische Wertungen

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

vor. In welchem Sinn kann Blackburn nun unter diesen nonkognitivistischen Vorannahmen von moralischer Wahrheit sprechen? The simplest suggestion is that we define a ‘best possible set of attitudes’, thought of as the limiting set which would result from taking all possible opportunities for improvement of attitude. Saying that an evaluative remark is true would be saying that it is a member of such a set, or is implied by such a set. […] Call the set M*. Then if m is a particular commitment, expressing an attitude a: m is true = a is a member of M*. To test this suggestion we must find conditions which truth obeys, and see whether they square with it. (Blackburn 1984, 198)

Wodurch aber zeichnet sich M* aus? Welche Bedingungen muss M* erfüllen, um das bestmögliche System von Pro-Einstellungen (best possible set of attitudes) zu sein? Exakt an dieser Stelle kommt der Kohärenzbegriff ins Spiel. Um seinem Vorschlag mehr Kontur zu verleihen, dass es ein und nur ein bestes System moralischer Pro-Einstellungen gibt, appelliert Blackburn an Intuitionen zum Wahrheitsbegriff, die in der Tradition des wahrheitstheoretischen Kohärentismus verankert sind: Das bestmögliche System ist ein vollkommen kohärentes System moralischer Pro-Einstellungen. Die Kohärenztheorie der Wahrheit ist für seine theoretischen Ziele zunächst deshalb geeignet, weil sie der antirealistischen Tradition verpflichtet ist. Wahrheit gibt es demnach nicht unabhängig von uns. Sie konstituiert sich vielmehr erst auf der Grundlage von propositionalen Einstellungen epistemischer Subjekte. Normalerweise handelt es sich bei propositionalen Einstellungen, die in der Kohärenztheorie der Wahrheit angesprochen werden, um Überzeugungen.30 Blackburns Anliegen ist nun, den wahrheits30 Vgl. dazu Künne (2003, 385) für eine Explikation der Grundthese der Kohärenztheorie der Wahrheit in der theoretischen Philosophie sowie Dorsey (2006, 495–497) zur Grundthese des wahrheitstheoretischen Kohärentismus im moralischen Kognitivismus.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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theoretischen Kohärentismus im Rahmen seiner nonkognitivistischen Metaethik zu vertreten. Die Kernthese seiner Wahrheitstheorie lautet demnach. KohBl Für alle moralischen Pro-Einstellungen m gilt: m ist wahr genau dann, wenn m ein Element eines kohärenten Systems moralischer Pro-Einstellungen M* ist.31 Blackburn muss sich auf Pro-Einstellungen berufen, wenn er von moralischer Wahrheit spricht.32 Denn auf die Kohärenz moralischer Überzeugungen kann er sich nicht berufen. Schließlich geht er als Nonkognitivist davon aus, dass sich in moralischen Wertungen Pro-Einstellungen, nicht Überzeugungen ausdrücken. Er stützt sich in seiner Explikation des Kohärenzbegriffs auf zwei Kriterien. Erstens muss ein kohärentes System M* konsistent sein. Zweitens bringt er ein Argument für die Einzigkeit (uniqueness) von M*, d. h. Blackburn geht davon aus, dass es ein und nur ein kohärentes System M* gibt. Die primäre Begründungslast für Blackburn liegt nicht darin, dass es sich hier um notwendige Bedingungen für Wahrheit handelt. Es ist unstrittig, dass in einem bestmöglichen System, das alle moralischen Wahrheiten und nur moralische Wahrheiten enthält, keine Inkonsistenzen auftreten dürfen und dass es nur ein einziges solches System geben kann. Blackburn muss vielmehr be31 Diese Formulierung findet sich bei Blackburn nicht explizit. Allerdings bekennt er sich an verschiedenen Stellen zu einer Kohärenztheorie der Wahrheit (Blackburn 1984, 197, 248, 256–257). 32 Wie im oben mitgeteilten Zitat von Blackburn (1984, 198) deutlich wird, ist hier nicht ganz klar, ob Blackburn die Pro-Einstellungen, die Element des bestmöglichen Systems M* sind, als Wahrheitswertträger ansieht, oder ob es die Äußerungen („commitments“) sind, die diese Pro-Einstellungen ausdrücken. Da es unplausibel ist anzunehmen, dass die Wahrheitswertfähigkeit der Elemente des bestmöglichen Systems davon abhängig ist, dass diese Elemente faktisch in einer Äußerung ausgedrückt werden, gehe ich davon aus, dass die ProEinstellungen die Wahrheitswertträger sind.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

gründen, dass diese Kriterien auf Systeme moralischer Pro-Einstellungen anwendbar sind bzw. von einem solchen System erfüllt werden. Blackburn begründet seine Variante des wahrheitstheoretischen Kohärentismus deshalb in zwei Argumentationsschritten: Erstens führt er einen Konsistenzbegriff ein, der ihm für seine Zwecke geeignet erscheint (3.3.1.2.1) und zweitens versucht er im Rekurs auf die oben skizzierten Eigenschaften moralischer Sensibilitäten zu begründen, warum es ein und nur ein bestes System M* geben kann (3.3.1.2.2). 3.3.1.2.1. Konsistenz Im Rahmen einer wahrheitsfunktionalen Semantik ist der Konsistenzbegriff befriedigend geklärt. Ein Aussagensystem ist demnach genau dann konsistent, wenn in diesem keine Kontradiktionen auftreten oder aus diesem keine Kontradiktionen ableitbar sind. Eine Kontradiktion zeichnet sich dadurch aus, dass es nicht möglich ist, dass sie wahr ist.33 Ein paradigmatischer Fall einer Kontradiktion ist die Konjunktion von einer Aussage a und ihrer Negation. a

¬a

Auf diesen Konsistenzbegriff kann sich Blackburn in seiner Definition von Konsistenz nicht berufen. Denn hier geht der Wahrheitsbegriff in die Definition des Konsistenzbegriffs ein. Bei Blackburn dagegen stellt der Konsistenzbegriff eine Bedingung für das Vorliegen von Kohärenz dar. Und der Kohärenz33 Auf den hier angesprochenen Konsistenzbegriff wurde bereits im zweiten Kapitel im Rahmen der Darstellung des Kohärenzbegriffs in der allgemeinen Epistemologie eingegangen. Dort wurden auch Gründe dafür angegeben, weshalb Konsistenz in epistemologischen Kontexten semantisch (d. h. unter Verwendung des Wahrheitsbegriffs) und nicht allein mit Bezug auf syntaktische Eigenschaften von Sätzen definiert werden kann (s. die Erläuterungen zu inferentiellen Beziehungen im Abschnitt 2.3.2).

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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begriff soll eingesetzt werden, um den Wahrheitsbegriff zu definieren. Würde sich Blackburn also an dieser Stelle auf den klassischen Konsistenzbegriff berufen, wäre seine kohärentistische Wahrheitskonzeption definitorisch zirkulär. Aus diesem Grund beschreitet er einen alternativen Weg. Er bekennt sich zu der nonkognitivistischen Auffassung, dass es in der Moral zunächst keine Aussagen gibt, die wahr oder falsch sind, sondern nur Pro-Einstellungen des moralischen Billigens oder Missbilligens. Blackburn hat allerdings eine expressivistische Semantik für moralische Pro-Einstellungen entwickelt, die den nonkognitivistischen Vorannahmen insofern verbunden bleibt, als sie auf moralische Pro-Einstellungen anwendbar ist. Mit Hilfe dieser Semantik will er nun zeigen, dass es auch zwischen diesen Pro-Einstellungen Inkonsistenzen sui generis geben kann. Ein entsprechender Konsistenzbegriff, mit dem sich dies zeigen lässt, so meint Blackburn, kann auch ohne Rekurs auf den Wahrheitsbegriff definiert werden. Wie also kommt es zu Inkonsistenzen zwischen Pro-Einstellungen? Blackburn führt zwei Operatoren ein, die für die Einstellungen moralischer Billigung (H! – für „Hooray!“) und moralischer Missbilligung (B! – für „Boo!“) stehen. Um zu erklären, wie solche Einstellungen zu Inkonsistenzen führen können, braucht Blackburn noch einen weiteren Operator, mit dem sich verschiedene Einstellungen verknüpfen lassen: A notation [is needed] with which to endorse or reject various couplings of attitudes. (Blackburn 1984, 193)

Blackburn symbolisiert diese Verknüpfungen durch einen entsprechenden Junktor (;). Um die Bedeutung dieses Junktors zu erklären, verweist er auf ein nichtmoralisches Beispiel: Angenommen wir wollen die Einstellung ausdrücken, dass man auch Arsenal gut finden sollte, wenn man den Fussballclub Tottenham gut findet. Offensichtlich geht es hier um eine Einstellung, die sich auf eine konditionale Verknüpfung von zwei anderen Pro-Einstellungen bezieht. Wie aber lässt sich die konditionale Struktur dieser Verknüpfung mit Hilfe der expressivistischen

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Semantik abbilden? Um dies zu explizieren, verweist Blackburn auf seine Idee der Pro-Einstellungen zweiter Ordnung. Da wir nicht nur zu Fussballclubs, Ereignissen, Handlungen etc. Einstellungen einnehmen können, sondern auch zu unserer moralischen Sensibilität (d. h. zu unserem Einstellungssystem) selbst, lässt sich mit dem zur Verfügung stehenden Material ein Ausdruck konstruieren, der Analogien zu einem Konditional aufweist: H! (|H! (Tottenham)|; |H! (Arsenal)|) Dieser Ausdruck steht für eine Pro-Einstellung, die sich auf die Verknüpfung von zwei Pro-Einstellungen bezieht. Äußert eine Person diese Pro-Einstellung, so äußert sie eine Pro-Einstellung zweiter Ordnung (eine Pro-Einstellung über Pro-Einstellungen). Sie bekundet in diesem Fall, dass sie Einstellungssysteme (Sensibilitäten) gut findet, in denen die beiden Pro-Einstellungen zu Tottenham und Arsenal miteinander verknüpft werden. Blackburn selbst charakterisiert den Gehalt dieses Ausdrucks wie folgt: The [expression] endorses only sensibilities which, if they endorse Tottenham, also endorse Arsenal. (Blackburn 1984, 194)

Damit ist das begriffliche Inventar eingeführt, mit dem Blackburn Inkonsistenzen im System unserer Pro-Einstellungen rekonstruieren will. Diese Möglichkeit ergibt sich, weil in unseren moralischen Sensibilitäten Einstellungen erster und zweiter Ordnung gemeinsam auftreten. Illustrieren wir dies am Tottenham/Arsenal-Beispiel. Nehmen wir an, in einem Einstellungssystem würden die folgenden drei Einstellungen auftreten: (1) H! (Tottenham) (2) H! (|H! (Tottenham)|; |H! (Arsenal)|) (3) B! (Arsenal)

a

a b ¬b

Bei der Einstellung (2) handelt es sich um die schon bekannte Einstellung zweiter Ordnung, (1) und (3) sind Einstellungen erster Ordnung. Zur Veranschaulichung der Intuition, die

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Blackburn mit Verweis auf seine expressivistische Semantik mobilisieren will, werden auf der rechten Seite die aussagenlogischen Analoga zu den links aufgeführten expressivistischen Ausdrücken mitgeteilt. Blackburns Idee ist die folgende: Gegeben sei eine moralische Sensibilität M der Person S, in der diese drei Einstellungen auftreten. Warum ist M inkonsistent? S findet Tottenham gut und findet Sensibilitäten gut, in denen die Billigung von Tottenham mit der Billigung von Arsenal verknüpft ist. Deshalb, so Blackburn, sollte diese Person auch Arsenal gut finden. Wenn sie aber gleichzeitig Arsenal schlecht findet (3), dann ist ihr Einstellungssystem inkonsistent. Warum aber, so stellt sich die Frage, sollen wir solche Inkonsistenzen vermeiden? Warum sind sie, wie es die Praxis unseres moralischen Urteilens nahe legt, kritisierbar? Um dies zu erklären, verweist Blackburn auf die grundlegenden Eigenschaften moralischer Sensibilitäten: Diese wurden mittels der Begriffe der Input/Output-Funktion und der Verbesserung (improvement) definiert. Daraus ergab sich, dass jedem Gegenstand nur eine moralische Bewertung zugeschrieben werden sollte. Blackburn meint deshalb: Eine moralische Sensibilität, in der inkonsistente Einstellungen auftreten, ist deshalb defizitär, weil die sie definierende Input/Output-Funktion fehlerbehaftet (flawed) ist. [C]onsider our different attitudes to our own attitudes. Since I have the concept of improvement and deterioration in a sensibility, I know that I am vulnerable to argument that in forming a particular attitude I am myself falling victim to a flawed input/output function. […] In some cases I can be uncertain not only of the facts of the case, but of how to react to them. I will need to explore the other aspects of my moral commitments, and see whether, when they are brought to bear, one attitude or another begins to settle itself. And when I have taken up an attitude, I might be uncomfortably aware that it may turn out to be vulnerable to criticism. (Blackburn 1984, 194)

Blackburn appelliert hier an die folgende Intuition: Wir würden ein System, in dem eine Inkonsistenz im oben beschriebenen

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Sinn auftritt, zumindest ceteris paribus als moralisch weniger billigenswert ansehen als eines, in dem diese nicht vorliegt. Deshalb ist das inkonsistente System kritisierbar („vulnerable to criticism“). Blackburn beansprucht damit erklärt zu haben, warum moralische Sensibilitäten, in denen unverträgliche moralische Einstellungen auftreten, (a) inkonsistent und (b) aufgrund dieser Inkonsistenz kritisierbar sind. Entsprechend ergeben sich die folgenden beiden kritischen Fragen an seine Theorie: (a) Gelingt es ihm, eine adäquate Explikation eines Begriffs der Inkonsistenz moralischer Einstellungen anzugeben und (b) führt Blackburn einen überzeugenden Grund dafür an, dass die Auflösung dieser Inkonsistenzen zur Verbesserung (improvement) einer moralischen Sensibilität beiträgt? Bevor diese beiden kritischen Fragen diskutiert werden, vervollständige ich zunächst die Darstellung von Blackburns Explikation des wahrheitstheoretischen Kohärenzbegriffs. Blackburn stützt sich nämlich dabei noch auf ein zweites Kriterium, das Kriterium der Einzigkeit. 3.3.1.2.2. Einzigkeit (uniqueness) Akzeptieren wir für den Moment Blackburns Rekonstruktion des Konsistenzbegriffs. Unter dieser Annahme ist ihm zuzugestehen, dass sich mit Hilfe von Konsistenz als Kriterium eine ganze Reihe moralischer Sensibilitäten als wenig billigenswert charakterisieren lassen. Für die Verteidigung von KohBl ist aber der Verweis auf den Konsistenzbegriff allein nicht hinreichend: Immer noch kann es eine umfangreiche Klasse moralischer Sensibilitäten geben, die zwar alle konsistent, untereinander jedoch inkompatibel sind. Blackburn dagegen teilt die objektivistische Intuition, dass es ein und nur ein System moralischer ProEinstellungen geben kann. Ein Begriff moralischer Wahrheit setzt nämlich voraus, dass es genau ein konsistentes System moralischer Einstellungen gibt, dessen Elemente wahr sind. In der Möglichkeit der Koexistenz einer Vielzahl konsistenter und untereinander inkompatibler Einstellungssysteme sieht Black-

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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burn die Herausforderung des Relativismus. Er veranschaulicht dieses Problem anhand einer Baumstruktur.

Abbildung 3.1 Blackburns Veranschaulichung der Herausforderung des Relativismus: die Aufspaltung der moralischen Sensibilität in mehrere gleichwertige aber inkompatible Systeme (Blackburn 1984, 199, Genehmigung von Oxford University Press, http://www.oup.com)

Jede Abzweigung, so Blackburn, steht für eine Entscheidung zwischen zwei Sensibilitäten M1 und M2, die beide konsistent sind. Wäre Konsistenz im oben eingeführten Sinn das einzige Kriterium für Kohärenz, so gäbe es mehrere, gleich billigenswerte moralische Sensibilitäten und KohBl müsste aufgegeben werden, weil die Existenz einer und nur einer besten moralischen Sensibilität nicht verteidigt werden kann. Blackburn erkennt somit an, dass der Konsistenzbegriff allein nicht hinreichend für die Charakterisierung seines kohärentistischen Wahrheitsbegriffs ist. Er führt daher ein weiteres Argument an, um zu begründen, dass mit KohBl ein nichtrelativistischer Wahrheitsbegriff für die Ethik definiert wird. Entscheidend ist für Blackburn also, dass die Gefahr des moralischen Relativismus ausgeräumt wird. Deshalb muss gewährleistet sein, dass es letztlich nicht mehrere inkompatible, aber gleichermaßen akzeptable moralische Sensibilitäten gibt. Dies wäre nämlich nach Blackburn eine relativistische Konsequenz. Sie soll in der Abbildung 3.1 durch die Aufspaltung in

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

verschiedene koexistente moralische Sensibilitäten veranschaulicht werden. Wann kommen wir an solche Abzweigungen, an denen die Gefahr der Aufspaltung in verschiedene inkompatible Sensibilitäten besteht? Meistens ist dies in Situationen der Fall, in denen die moralischen Auffassungen zweier Personen miteinander in Konflikt geraten. Wenn es keine Abzweigungen im oben beschriebenen Sinn geben darf, dann muss jeder Streit um abweichende moralische Auffassungen eindeutig entscheidbar sein. Blackburn meint, dass dies tatsächlich so sei. Dabei beruft er sich wiederum auf die Idee, dass es Pro-Einstellungen zweiter Ordnung gibt. Diesmal ist jedoch nicht die eigene moralische Sensibilität Gegenstand der Bewertung, sondern die moralischen Sensibilitäten anderer Personen. Blackburn illustriert den entscheidenden Punkt an einem Beispiel, das wiederum nicht aus der Moral stammt. Stellen wir uns zwei Literaturkritiker vor, die darüber streiten, ob Ovid oder Tacitus der größere Dichter sei. Der jüngere von ihnen, schwärmerischen Emotionen zugeneigt, favorisiert die leidenschaftlichen Bilder Ovids, der ältere, die Welterfahrenheit und Weisheit von Tacitus über alles stellend, schätzt letzteren mehr.34 Ist dieser Konflikt entscheidbar? Blackburn gibt eine positive Antwort. Seine Pointe ist, dass es ja nicht nur zwei, sondern drei Möglichkeiten der Auflösung des Konflikts gibt: (1) Ovid ist besser als Tacitus. (2) Tacitus ist besser als Ovid. (3) Es gibt keine eindeutige Entscheidung. Die Frage ist zu einfach gestellt, weil die Verdienste von Tacitus und Ovid nicht gegeneinander aufgerechnet werden können. Beide Dichter haben gleichermaßen große Stärken. Die Einführung dieser dritten Alternative legt den Einwand nahe, dass Blackburn es sich hier zu einfach macht: In literarischen Fragen mag es zwar ohne weiteres möglich sein, einen 34 Blackburn 1984, 199–201.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Konflikt in dieser salomonischen Weise zu lösen. Dies ist aber in der Moral nicht immer der Fall, weil wir manchmal durch die Begleitumstände dazu gezwungen sind, eine von zwei Handlungsalternativen wahrzunehmen. Urteilsenthaltung kann nicht generell die richtige Lösung sein. Dieser Einwand greift jedoch zu kurz. Blackburn geht es nicht um Urteilsenthaltung; entscheidend ist für ihn, dass nicht nur der fragliche Gegenstand zu bewerten ist, sondern auch die Sensibilität der zweiten wertenden Person auf dem Prüfstand steht – im Sinne einer Bewertung zweiter Ordnung. David McNaughton hat ein Beispiel angeführt, das gegenüber Blackburns Ovid/Tacitus-Beispiel die beiden Vorzüge hat, dass es auf diese Zweistufigkeit der Entscheidung aufmerksam macht und zudem aus dem Bereich der Moral stammt. McNaughton35 weist zunächst darauf hin, dass sich die Veranlassung, eine dritte Alternative im Sinne von (3) zu erwägen, nur dann ergibt, wenn die moralischen Sensibilitäten der beiden wertenden Personen in genau demselben Maß billigenswert sind. Denn den moralischen Wertungen z. B. eines Nationalsozialisten werde ich nicht folgen (unabhängig davon, wie diese im Detail ausfallen mögen), weil ich seine moralische Sensibilität generell als so minderwertig ansehe, dass sie für die Weiterentwicklung meines Systems moralischer Bewertungen keinerlei Verbindlichkeit hat. Der interessante Fall ergibt sich also erst dann, wenn ich mit moralischen Wertungen eines Gegenübers konfrontiert bin, dessen moralische Sensibilität ich genauso billigenswert finde wie meine eigene. Was geschieht nun, wenn sich mit einem solchen Gegenüber der folgende Konflikt ergibt: Ich bin der Auffassung, dass Monogamie moralisch besser ist als eine polygame Lebensführung; mein Gegenüber ist der Auffassung, dass Polygamie moralisch besser ist als Monogamie. McNaughton appelliert an die Intuition, dass die Möglichkeit einer salomonischen Lösung im Sinn von (3) hier durchaus 35 McNaughton 1988, 185.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

plausibel ist: Wenn ich die moralische Sensibilität meines Gegenübers und meine eigene für gleichwertig halte, seinem Urteil also genauso viel Autorität zuspreche wie meinem eigenen, dann ist es nur nahe liegend zuzugeben, dass es zwischen Monogamie und Polygamie in moralischer Hinsicht keine Rangfolge der moralischen Güte gibt. Vielleicht handelt es sich um zwei in moralischer Hinsicht gleichwertige Formen partnerschaftlichen Zusammenlebens. In diesem Fall sollte man also zu dem Urteil kommen, dass keine der beiden zunächst vertretenen Auffassungen wahr ist und dass eine verbesserte moralische Sensibilität folglich auch keine der beiden enthält. Blackburns Vorstellung ist also, dass uns in Situationen moralischer Konflikte unsere Bewertungen zweiter Ordnung vor der Gefahr des Relativismus schützen: Er leugnet weder, dass es zu moralischen Konflikten kommen kann, noch dass es de facto moralische Sensibilitäten geben kann, die untereinander stark divergieren. Wichtig ist nur, dass es sich hierbei stets um Hinweise auf Defizite der entsprechenden moralischen Sensibilitäten handelt. Eine gute moralische Sensibilität sollte sich so stark der Kritik aussetzen, dass sie Auffassungen revidiert und aufgibt, wenn sie mit moralischen Auffassungen anderer Menschen konfrontiert wird, deren Sensibilität sie als gleichwertig (oder sogar überlegen) ansieht. Blackburn meint damit, einen Begriff von Kohärenz expliziert zu haben, der sicherstellt, dass es ein und nur ein bestes System moralischer Pro-Einstellungen geben kann. Bieten die beiden Kriterien der Konsistenz und die Argumentation für die Einzigkeit des besten Systems wirklich eine Grundlage für einen adäquaten kohärentistischen Wahrheitsbegriff für die Ethik? Dieser Frage wird im nächsten Abschnitt nachgegangen. 3.3.1.3. Kritische Bewertung von Blackburns Explikationsansatz eines wahrheitstheoretischen Kohärenzbegriffs Im Folgenden gehe ich von den drei Standardeinwänden aus, die gegen die Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung vorgebracht werden: der Viele-Systeme-Einwand, der Isolati-

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onseinwand und der Einwand der fehlenden Wahrheitsindikativität.36 Anhand dieser Einwände wird zunächst aufgezeigt, dass es sich bei Blackburns Kohärenztheorie um einen völlig anderen Typ von Kohärenztheorie handelt als im realistischen Kognitivismus. So ist nämlich Blackburns Theorie diesen drei Standardeinwänden nur partiell ausgesetzt. Trotzdem ist die Diskussion dieser Einwände in diesem Kontext sinnvoll. Denn von diesen ausgehend lassen sich die Einwände entwickeln, die speziell Blackburns Ansatz betreffen. Die größte Übereinstimmung ergibt sich noch bezüglich des Viele-Systeme-Einwands. Wie gezeigt wurde, muss auch Blackburn dem Einwand begegnen, es könnte eine Vielzahl miteinander inkompatibler, aber kohärenter Systeme moralischer Pro-Einstellungen geben. Er argumentiert gegen diesen Einwand mit dem Verweis auf die Konstitution moralischer Sensibilitäten. Eine Schlüsselrolle kommt dabei der Vorstellung zu, dass moralische Sensibilitäten in der Form einer Input/Output-Funktion auf jede empirische Ereigniskonstellation mit einer und nur einer moralischen Wertung reagieren.37 Diese Annahme ist für Blackburn unerlässlich, wenn er begründen will, dass die adäquate bzw. fehlerfrei wertende moralische Sensibilität nicht in eine Pluralität konsistenter, aber untereinander inkompatibler Systeme von Pro-Einstellungen zerfällt. Blackburns Begründung birgt aber ein ungelöstes Problem: Einerseits konzipiert Blackburn die moralische Sensibilität als eine emotive Ressource, die affektive Einstellungen zu moralisch relevanten Ereignissen, Tatsachen etc. erfassen soll. Andererseits soll es sich aber bei der moralischen Sensibilität um einen Mechanismus handeln, der auf der Grundlage bestimmter situativer Bedingungen eine und nur eine Reaktion generiert, die spezifisch moralischen Wertungscharakter hat. McNaughton hat dies treffend beschrieben: 36 S. Abschnitt 2.4.2.2. 37 S. Abschnitt 3.3.1.1.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz A sensibility is viewed as a processing mechanism which responds to what it finds in the world with a range of affective reactions which form the basis of its possessor’s [moral] attitudes. […] In other words we understand someone’s sensibility, their moral viewpoint, if we can see a pattern in their affective reactions to what is really there in the world, namely the non-moral properties. (McNaughton 1988, 188–189)

Akzeptiert man die These, dass ein solcher Mechanismus existiert, lassen sich Blackburns Ansprüche an die Konsistenz und Einzigkeit einer besten moralischen Sensibilität M* leicht verteidigen. Erstens muss das beste System M* konsistent sein, denn eine Inkonsistenz würde dem funktionalen Zusammenhang von Input und Output widersprechen und deshalb per definitionem eine „Störung“ der moralischen Sensibilität darstellen. Nimmt man zudem die Vorstellung von Einstellungen zweiter Ordnung mit ins Bild, so lässt sich mit derselben Argumentationsfigur auch die These von der Einzigkeit einer besten moralischen Sensibilität verteidigen, denn diese ergibt sich ebenfalls aus der Annahme des funktionalen Zusammenhangs. Wenn es tatsächlich eine rechtseindeutige Zuordnung von Situationswahrnehmungen und moralischen Reaktionen gibt, so ist prinzipiell jede Inkonsistenz auflösbar. Entweder ist eine der Sensibilitäten der anderen überlegen oder der Situation kann – gemäß der salomonischen Lösung – keine der inkonsistenten Einstellungen zugeordnet werden. Blackburns theoretische Motivation für die Einführung einer Input/Output-Funktion ist also offensichtlich. Es geht ihm darum, den Viele-SystemeEinwand auszuräumen. Problematisch ist Blackburns Argumentationsstrategie, weil er keine Gründe dafür angibt, dass moralische Sensibilitäten, bei denen es sich doch um emotive Ressourcen handeln soll, in dieser Weise funktionieren. Warum sollten die Einstellungssysteme verschiedener Menschen auf ein einziges konsistentes System M* hin konvergieren, wo doch alle empirischen Belege dafür sprechen, dass es zwischen emotiven Einstellungen zu moralischen Fragen ganz erhebliche Divergenzen gibt? Will

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Blackburn den Viele-Systeme-Einwand erfolgreich ausräumen, so müsste er eingehender begründen, warum eine emotive Ressource in einer Weise auf empirische Ereigniskonstellationen reagiert, die sich mit Hilfe einer Input/Output-Funktion beschreiben lässt. Dies stellt aber ein Desideratum in seiner Theorie dar. Der Idee vom funktionalen Zusammenhang ist Blackburn zwar auch in seiner zweiten Monographie treu geblieben.38 Allerdings widmet er der Erläuterung dieses Konzepts in seinen Publikationen jeweils nur wenige Zeilen.39 Solange eine triftige Begründung für das Vorliegen eines funktionalen Zusammenhangs fehlt, bleibt seine Kohärenztheorie deshalb dem VieleSysteme-Einwand ausgesetzt. Hinsichtlich dieses Einwands gibt es also eine erhebliche Übereinstimmung zwischen Blackburns Kohärenztheorie und der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung. Völlig anders hingegen verhält es sich in Bezug auf den Isolationseinwand. So ist dieser im vorliegenden Fall aufgrund der antirealistischen Orientierung von Blackburns Theorie gar nicht sinnvoll formulierbar. Wovon sollte das System wahrer Pro-Einstellungen isoliert sein? Blackburn hatte explizit abgelehnt, dass es moralische Tatsachen geben könnte, die unabhängig von unseren moralischen Sensibilitäten existieren. Es lassen sich natürlich viele Einwände gegen antirealistische Rekonstruktionen des Wahrheitsbegriffs anführen. Diese betreffen jedoch generell die ontologischen Vorannahmen von Blackburns Position und sind nicht spezifisch gegen seine Kohärenztheorie gerichtet. Dem Isolationseinwand ist Blackburns Kohärenztheorie folglich nicht in der Weise ausgesetzt, die für die realistisch interpretierte Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung einschlägig ist. Auch der Einwand der fehlenden Wahrheitsindikativität lässt sich hier nicht in derselben Form anführen wie im Fall der Theorie 38 Blackburn 1998, 4–8. 39 S. Blackburn (1984, 192; 1988, 508; 1993, 377; 1999, 223); am ausführlichsten in Blackburn (1998, 5–7).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

epistemischer Rechtfertigung. Es ist darauf hinzuweisen, dass Blackburn nicht den Anspruch erhebt, einen Indikator für Wahrheit zu formulieren, sondern eine Definition des Begriffs moralischer Wahrheit. Dies hat zwei wichtige Konsequenzen. Erstens handelt es sich bei ihm – wie in Sayre-McCords früher Kohärenztheorie – um einen nur qualitativen und nicht um einen graduellen Begriff von Kohärenz. Blackburn unterscheidet keine Grade von Kohärenz: Es gibt ein und nur ein kohärentes System moralischer Pro-Einstellungen. Dies führt allerdings in diesem Fall nicht zu den Problemen, in die SayreMcCords frühe Theorie gerät.40 Der Grund dafür ist eben, dass Kohärenz hier zur Definition des Wahrheitsbegriffs eingesetzt wird, nicht als Kriterium für epistemische Rechtfertigung. Deshalb genügt ein qualitativer Begriff. Genau so wie eine Aussage entweder wahr oder falsch ist, ist eine Pro-Einstellung entweder Element des einzigen kohärenten Systems oder nicht. Graduelle Abstufungen, wie sie im Falle epistemischer Rechtfertigung unseren Intuitionen entsprechen, gibt es hier nicht. Aus einem verwandten Grund ergibt sich für Blackburn auch nicht die Aufgabe, den Konsistenzbegriff in geeigneter Weise abzuschwächen. Im Rahmen der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung war dies ein Problem, weil Konsistenz dort nicht ohne weiteres als notwendige Bedingung für Kohärenz angesehen werden konnte. Schließlich ist es unplausibel, das Auftreten einer einzigen Inkonsistenz in einem Überzeugungssystem als hinreichenden Grund dafür anzusehen, dass dieses System nicht mehr epistemisch gerechtfertigt ist.41 Im Rahmen einer Kohärenztheorie der Wahrheit verliert jedoch diese Konsequenz ihren kontraintuitiven Charakter: Wenn in einem System auch nur eine einzige Inkonsistenz auftritt, so steht sogar fest, dass es sich dabei nicht um ein System handeln kann, das nur Wahres enthält. Zur Frage, ob überhaupt eine Person fak40 Vgl. Abschnitt 2.4.1.2 dieser Untersuchung. 41 S. dazu die Abschnitte 2.4.1.1.1 und 2.4.2.1.1.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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tisch über das vollständig wahre System moralischer Pro-Einstellungen verfügt oder verfügen wird, kann sich Blackburn neutral verhalten.42 Weil Blackburn also eine Kohärenztheorie der Wahrheit, nicht eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung vertritt, stellen sich ihm bestimmte technische Probleme nicht, die sich bei der Explikation des Kohärenzbegriffs in der Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung stellen. Es ergibt sich noch eine zweite Konsequenz, die prima facie für Blackburns Theorie spricht, bei näherer Betrachtung aber in ein tiefgreifendes Problem führt. Mit der Konsistenzbedingung beansprucht Blackburn nicht nur, eine notwendige Bedingung für die Wahrheit eines Systems M* einzuführen. Zugleich soll Konsistenz die Kritisierbarkeit solcher Einstellungssysteme sichern, weil damit bessere und schlechtere Systeme unterschieden werden können. Mit der Konsistenzbedingung liegt also nach Blackburn ein objektiver Maßstab für die Kritisierbarkeit und für die Verbesserung (improvement) solcher Systeme vor. Wie am Ende des Abschnitts 3.3.1.2.1 ausgeführt wurde, ergeben sich diesbezüglich zwei Fragen: (a) Ist die von Blackburn auf der Grundlage seiner expressivistischen Semantik vorgeschlagene Explikation des Konsistenzbegriffs adäquat? (b) Warum sollte eine Person Inkonsistenzen in ihrem System moralischer Einstellungen (ihrer moralischen Sensibilität M) vermeiden? Nehmen wir für den Moment an, die Frage (a) lasse sich positiv beantworten, d. h. Blackburn habe einen adäquaten Konsistenzbegriff für Pro-Einstellungen vorgelegt. Wie lässt sich auf 42 Blackburn könnte sogar ohne weiteres zugestehen, dass es vielleicht nie eine Person geben wird, die tatsächlich über ein System moralischer Einstellungen verfügt, das nur moralische Wahrheiten und zugleich alle moralischen Wahrheiten enthält.

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Frage (b) antworten? Warum sollte man Inkonsistenzen vermeiden bzw. nach einem kohärenten Einstellungssystem streben? Prima facie liegt die folgende Antwort nahe: Aus einem inkonsistenten System lassen sich Kontradiktionen ableiten und folglich ist mindestens ein Element dieses Systems nicht wahr. Diese Antwort lässt sich im Rahmen einer realistischen Wahrheitskonzeption ohne weiteres vertreten. Denn dort wird der Wahrheitsbegriff ohne Bezug auf den Konsistenzbegriff definiert. Blackburn aber steht diese Antwortmöglichkeit nicht offen. Denn Blackburn beruft sich ja auf den Konsistenzbegriff, um seinen kohärentistischen Wahrheitsbegriff zu definieren. Die Antwort wäre deshalb auch nach Blackburn wahr. Sie würde aber nichts dazu beitragen zu erklären, warum man Inkonsistenzen vermeiden soll, weil sie unter der Annahme von Blackburns Wahrheitstheorie bereits per definitionem wahr ist. Mithin erläutert die Antwort nur eine Bedeutungskomponente des Wahrheitsbegriffs. Auch hilft es nicht weiter, wenn man stattdessen darauf verweist, dass aus einem inkonsistenten System Beliebiges ableitbar und ein solches System aus diesem Grund schlicht uninteressant ist. Denn dann ergibt sich die weiterführende Frage, warum ein solches System uninteressant sei. Darauf kann man wiederum nur antworten, dass in einem solchen System jedes Kriterium fehlen würde, um Wahres und Falsches zu unterscheiden.43 Blackburn antwortet denn auch in anderer Weise: Ein inkonsistentes System ist deshalb kritisierbar („vulnerable to criticism“), weil es weniger bewunderungswürdig („admirable“) bzw. weniger zu befürworten („endorse“) ist als ein konsistentes System. Wenn wir es so verändern, dass es konsistent und letztlich kohärent wird, tragen wir zu seiner Verbesserung

43 Dieses Argument, das gegen den wahrheitstheoretischen Kohärentismus allgemein und nicht nur gegen dessen nonkognitivistische Interpretation bei Blackburn spricht, findet sich bei Künne (2003, 390).

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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(„improvement“) bei.44 In seiner Begründung dafür, dass wir nach Kohärenz streben sollten, stützt sich Blackburn also nicht auf den Wahrheitsbegriff und vermeidet deshalb den drohenden Zirkularitätseinwand. Prima facie ist also die Problematik umgangen. Dafür aber stellt sich eine weitere Frage, die tatsächlich in ein tiefgreifendes Problem führt. Blackburn verwendet zwar ein Wertungsvokabular (admirable, endorse, improve), meidet aber die Begriffe epistemischer Rechtfertigung und – natürlich – den Wahrheitsbegriff. Was hat Kohärenz dann überhaupt mit Wahrheit zu tun? Wie lässt sich begründen, dass sich mit diesem Kohärenzbegriff ein Wahrheitsbegriff für die Moral konstruieren lässt? Blicken wir auf die Gegenstände, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden sollen, so ist dies zunächst völlig unklar. Schließlich schreibt Blackburn als Nonkognitivist nicht Aussagen oder Überzeugungen, sondern moralischen Pro-Einstellungen Wahrheitswertfähigkeit zu. Da es sich jedoch bei diesen per definitionem nicht um Einstellungen des Fürwahrhaltens handelt und diese folglich auch nicht epistemisch gerechtfertigt werden können, ist allein aus begrifflichen Gründen fragwürdig, in welchem Sinn einer Pro-Einstellung ein Wahrheitswert zugeschrieben werden könnte. Bereits McNaughton hat auf dieses grundlegende begriffliche Problem hingewiesen: In so far as moral judgements are expressions of attitude, rather than of belief, they cannot be assessed as true or false. So there still seems to be no room for moral truth; there is no question of a moral attitude being true or false. In trying to decide between conflicting moral attitudes about some moral issue, such as whether abortion is morally permissible, we cannot suppose that one attitude is the true one. (McNaughton 1988, 30)

44 S. dazu Blackburn (1984, 194). Diese Textstelle wurde in der vorliegenden Untersuchung bereits im Abschnitt 3.3.1.2.1 zitiert und besprochen.

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Tatsächlich ist für Blackburn entscheidend, dass er mit Hilfe seiner expressivistischen Semantik gezeigt zu haben glaubt, dass quasi-realistisch interpretierte moralische Pro-Einstellungen Überzeugungen so ähnlich sind, dass es hier kohärenzstiftende Beziehungen gibt, die wie inferentielle wirken. A system of attitude, admirably controlled, is in many ways like a system of belief. It permits argument, inference, improvement, deterioration, assessments of acceptability, and a quasi-realist construction of truth. (Blackburn 1984, 256)

Blackburn beansprucht also mit Hilfe der expressivistischen Semantik gezeigt zu haben, dass es auch im Quasi-Realismus inferentielle Beziehungen („inference“) gibt. Diese Beziehungen wirken nach Blackburn kohärenzstiftend und deshalb rechtfertigen sie eine wahrheitstheoretische Interpretation des Kohärenzbegriffs. Die oben bereits genannte Frage (a), ob der mit der expressivistischen Semantik formulierte Konsistenzbegriff adäquat ist, stellt mithin die entscheidende Frage dar, an der sich Blackburns Kohärenztheorie zu bewähren hat: Kann Blackburn zeigen, dass auch im Nonkognitivismus kohärenzstiftende Beziehungen im Sinne inferentieller Beziehungen charakterisiert werden können? Diese Frage wird im vorliegenden Kapitel im Abschnitt 3.4 noch ausführlich diskutiert. Zuvor wird Scaranos Kohärenztheorie dargestellt, weil diese sich in mehrererlei Hinsicht von Blackburns Theorie unterscheidet, im Ergebnis aber auf genau dieselbe Frage nach der Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen hinausläuft. 3.3.2 Scaranos rechtfertigungstheoretische Kohärenztheorie Wie Blackburns Expressivismus ist auch Scaranos Konzeption des moralischen Antirealismus der Familie nonkognitivistischer Theorien zuzuordnen. Diese Tatsache wird durch Scaranos Terminologie jedoch verdeckt, denn sein Nonkognitivismus kommt (zumindest terminologisch) im kognitivistischen Gewand daher. Einige Bemerkungen zu Scaranos Verwendung des Terms „moralische Überzeugungen“ sollen Missverständnissen vorbeugen.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Obwohl Scarano die nonkognitivistische Auffassung vertritt, dass Personen mit moralischen Äußerungen moralische Pro-Einstellungen und nicht Überzeugungen (im Sinne von Einstellungen des Fürwahrhaltens) ausdrücken, bezeichnet er diese Pro-Einstellungen durchgängig als „moralische Überzeugungen“: Moralische Überzeugungen zu haben heißt, bestimmte Sachverhalte, wie Versprechen halten, ehrlich sein, Notleidenden helfen etc., zu befürworten und andere Sachverhalte, wie etwa lügen, foltern, betrügen usw., abzulehnen. Oder, um es anders auszudrücken: Zu bestimmten Sachverhalten haben wir eine positive, zu anderen haben wir eine negative Einstellung. (Scarano 2001, 112)

Die moralischen Überzeugungen, (1) dass Versprechen zu halten moralisch gut ist und (2) dass Menschen zu foltern moralisch verwerflich ist, lassen sich, so Scarano, „in einer ersten Annäherung folgendermaßen notieren: [1] befürworten (daß Versprechen gehalten werden) [2] ablehnen (daß Menschen gefoltert werden)“.45 Dies ist deshalb eine nonkognitivistische Analyse, weil Scaranos „moralische Überzeugungen“ nicht als überzeugungsähnliche, sondern als wunschähnliche bzw. als Pro- und Contra-Einstel45 So Scarano (2001, 112). Scarano sagt an dieser Stelle, dass diese Notierung nur „in einer ersten Annäherung“ treffend sei, weil er nichtmoralische und moralische Einstellungen des Befürwortens (Ablehnens) dadurch voneinander abgrenzt, dass er letztere als Einstellungen kategorischen Befürwortens (Ablehnens) charakterisiert. Durch die zusätzliche Forderung der Kategorizität beansprucht Scarano, ein kantisches Element in seine Rekonstruktion moralischer Überzeugungen zu integrieren (Scarano 2001, 125–128). Da diese Besonderheit seiner Theorie an deren nonkognitivistischer Ausrichtung jedoch nichts ändert (auch Einstellungen des kategorischen Befürwortens sind Einstellungen des Befürwortens) und sie zudem für die Explikation seines Kohärenzbegriffs folgenlos bleibt, wird sie in dieser Untersuchung nicht weiter diskutiert.

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lungen rekonstruiert werden. Scarano grenzt sich dabei nur in Nuancen von anderen Nonkognitivisten wie Ayer oder Blackburn ab, indem er diese nicht als Einstellungen moralischer (Miss-)Billigung (moral (dis-)approval), sondern als Einstellungen des Befürwortens und Ablehnens charakterisiert. An der grundlegenden nonkognitivistischen Ausrichtung seiner Theorie ändert dieses Detail jedoch nichts, weil auch die Einstellungen des Befürwortens und Ablehnens, wie Scarano selbst bestätigt, zur Familie der Pro- und Contra-Einstellungen gehören.46 Vor diesem Hintergrund wird auch die folgende Aussage Scaranos verständlich: Moralische Überzeugungen [weisen], obwohl sie prinzipiell nicht wahr oder falsch sein können, dennoch die Eigenschaft auf, rational kritisierbar zu sein. (Scarano 2001, 165)

„Moralische Überzeugungen“ können nach Scarano deshalb „prinzipiell nicht wahr oder falsch“ sein, weil es sich bei ihnen eben nicht um Überzeugungen, sondern um Pro-Einstellungen handelt. Wie aus der zitierten Textstelle aber auch hervorgeht, spricht Scarano „moralischen Überzeugungen“ trotzdem die Eigenschaft zu, „rational kritisierbar“ zu sein. Er sieht es als seine Aufgabe an, im Rahmen seiner nonkognitivistischen Konzeption der kognitivistischen Intuition der rationalen Kritisierbarkeit moralischer Überzeugungen gerecht zu werden. Prinzipiell besteht immer die Möglichkeit, unsere [moralischen] Überzeugungen durch die Angabe von Gründen zu verteidigen. […] Dies eröffnet den Raum für eine rationale Argumentation über moralische Fragen. Im Bereich der Moral läßt sich also eine spezifische Form des Kognitivismus kaum leugnen. (Scarano 2001, 164)

Bei der Bewältigung der Aufgabe, diese „spezifische Form des Kognitivismus“ zu begründen, kommt dem Kohärenzbegriff innerhalb von Scaranos Metaethik eine Schlüsselrolle zu. Dies46 Scarano 2001, 101ff.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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bezüglich ergibt sich eine Parallele zu Blackburns Theorie: Hier wie dort wird der Kohärenzbegriff mit dem Ziel eingeführt, kognitivistische Intuitionen in eine grundsätzlich nonkognitivistisch konzipierte Metaethik zu integrieren. Gleichzeitig aber gibt es eine ganze Reihe beachtenswerter Unterschiede zwischen Blackburns und Scaranos Ansatz. Im Folgenden wird herausgearbeitet, wo diese Unterschiede im Detail liegen. 3.3.2.1. Scaranos Vorschlag zur Explikation des Kohärenzbegriffs Zunächst unterscheiden sich Scaranos und Blackburns Kohärenztheorien hinsichtlich der Frage nach der Wahrheitswertfähigkeit. Während Blackburn den Kohärenzbegriff nutzt, um einen Begriff moralischer Wahrheit zu explizieren, führt Scarano den Kohärenzbegriff ein, um zu erklären, in welchem Sinn moralische Pro-Einstellungen „rational kritisierbar“ sind, obwohl diese prinzipiell nicht wahr und falsch sein können. Durch diese Modifikation der theoretischen Zielsetzung (a) gewinnt Scarano zwar argumentativen Spielraum, (b) muss aber auch eine neue Frage beantworten. (a) Argumentativer Spielraum eröffnet sich für Scarano, weil er durch die Ablehnung der Wahrheitswertfähigkeit nicht dazu gezwungen ist, der Intuition gerecht zu werden, dass es nur ein einziges System wahrer moralischer Pro-Einstellungen geben kann. Blackburns Einzigkeitsbedingung für Kohärenz braucht er deshalb nicht zu entsprechen. Von dieser argumentativen Möglichkeit macht Scarano auch Gebrauch. Er legt sich nicht darauf fest, dass es nur ein einziges kohärentes System moralischer Pro-Einstellungen geben kann, sondern bekennt sich zu einer relativistischen Position, die er als metaethischen Relativismus rubriziert und die er durch die folgende These charakterisiert: Zwischen zwei Personen kann es moralische Meinungsunterschiede geben, die sich auch bei Kenntnis aller Tatsachen nicht argumentativ überwinden lassen. (Scarano 2001, 174)

Scarano lässt also interindividuelle Meinungsunterschiede zu, die sich auf der Grundlage rationaler Argumentation nicht auf-

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

lösen lassen. Scarano verfolgt also – sowohl im Vergleich zu kognitivistisch orientierten Kohärenztheorien als auch im Vergleich zu Blackburns Ansatz – in dieser Hinsicht ein bescheideneres Ziel. Illustrieren lässt sich dies daran, dass der Viele-Systeme-Einwand, auf den sowohl Sayre-McCord als auch Blackburn (wenn auch in unterschiedlicher Weise) reagieren mussten, sich in Scaranos Fall gar nicht mehr zu stellen scheint. Scarano geht davon aus, dass die Koexistenz verschiedener Systeme, zwischen denen aufgrund kohärentistischer Kriterien keine Entscheidung möglich ist, mit seiner Kohärenzkonzeption problemlos verträglich ist. (b) Diese Vermeidung des Viele-Systeme-Einwands wirft aber eine neue Frage auf. Denn obwohl Scarano die These von der Wahrheitswertfähigkeit moralischer Pro-Einstellungen fallen lässt, verfolgt er die Grundidee, deren „rationale Kritisierbarkeit“ zu erklären. Damit stellt sich die Frage, was hier kritisiert bzw. gerechtfertigt werden soll, wenn es nicht um Wahrheit oder Falschheit geht. Scarano schreibt dazu: Rechtfertigungen im Bereich der Moral haben es nicht, wie der moralische Realismus annimmt, mit dem Nachweis von Wahrheit zu tun. Vielmehr geht es bei der Rechtfertigung eines moralischen Urteils letztlich immer um die Rationalität unserer Handlungen. (Scarano 2001, 174)47

Im Folgenden wird dargestellt, in welchem Sinn Scarano meint, mit dem Verweis auf den Kohärenzbegriff die „Rationalität unserer Handlungen“ rechtfertigen zu können. Kohärenz ist bei ihm durch zwei Kriterien charakterisiert, Konsistenz und Inklusivität. Zunächst wird nachgezeichnet, was Scarano unter diesen 47 Anhand dieses und des vorigen Zitats lässt sich erkennen, dass Scarano neben dem Überzeugungsbegriff auch andere Begriffe des kognitivistischen Vokabulars verwendet. Wo er sonst von moralischen Überzeugungen spricht, verwendet er im vorliegenden Zitat den Begriff des moralischen Urteils und im Zitat davor spricht er von moralischen Meinungsunterschieden – in allen Fällen sind jedoch moralische Pro-Einstellungen gemeint.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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beiden Begriffen versteht (3.3.2.1.1 und 3.3.2.1.2). Dann werden die wichtigsten Probleme von Scaranos kohärentistischem Ansatz diskutiert (3.3.2.2). 3.3.2.1.1. Konsistenz Scarano beruft sich wie Blackburn darauf, dass ein kohärentes System moralischer Pro-Einstellungen konsistent ist. Was bedeutet Konsistenz bei Scarano? Auf diese Frage antwortet Scarano zunächst genau wie Blackburn: In einem konsistenten System treten keine inkompatiblen Elemente auf, d. h. zu einem Ereignis, einer Handlung etc. darf das System nicht zugleich eine Pro- und eine Contra-Einstellung beinhalten oder diese implizieren.48 Warum aber soll ein kohärentes System moralischer Pro-Einstellungen konsistent sein? Blackburn hat sich diesbezüglich, wie im vorigen Abschnitt dargestellt und kritisch diskutiert wurde, grundsätzlich der kognitivistischen Antwort auf diese Frage angeschlossen. Er appelliert an die Intuition, dass ein System, in dem Inkonsistenzen auftreten, nicht nur Wahres enthalten kann. Scarano kann eine solche Antwort nicht geben, weil er die These von der Wahrheitswertfähigkeit ablehnt. Warum aber sollte ein kohärentes Einstellungssystem dann konsistent sein? Scarano beruft sich darauf, dass Einstellungen des Befürwortens und Ablehnens handlungsleitend sind. Pro-Einstellungen […] haben die Funktion, unsere Handlungsbewertungen und damit auch unser eigenes Handeln anzuleiten. (Scarano 2001, 172)

In dieser Formulierung ist nicht ganz klar, was Scarano damit meint, dass Pro-Einstellungen die Funktion haben, „unsere Handlungsbewertungen anzuleiten“. Wie oben gezeigt wurde, hat er an anderer Stelle die fraglichen Pro-Einstellungen ja mit unseren Handlungsbewertungen identifiziert. Bei Pro-Einstellungen handelt es sich demnach um Handlungsbewertungen. 48 Scarano 2001, 170.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Es scheint ihm hier darauf anzukommen, dass diesen Bewertungen direkt eine handlungsleitende Kraft zukommt. Pro-Einstellungen bewerten Handlungen nicht nur, sie motivieren sie auch. Diese motivierende Kraft deutet Scarano im Falle von Einstellungen des Befürwortens und Ablehnens so stark, dass sie die Funktion erfüllen, „unser eigenes Handeln anzuleiten“. Unter dieser Annahme begründet Scarano die Konsistenzforderung an kohärente Systeme wie folgt: Wenn uns eine Handlungsoption offensteht, zu der unser moralisches Bewertungssystem miteinander inkompatible […] Bewertungen liefert, so gibt es für uns in dieser Situation keine Möglichkeit, uns rational zu entscheiden und entsprechend zu handeln. Ein [inkonsistentes] Bewertungssystem führt also zur Irrationalität des Handelns. (Scarano 2001, 172)

Die Idee, die Konsistenzforderung für moralische Bewertungen mit einem Verweis auf die handlungsleitende Kraft von ProEinstellungen zu begründen, ist nicht neu.49 Im Rahmen einer antirealistischen Metaethik kann sie ohne Zweifel auch einige Plausibilität für sich in Anspruch nehmen. Allerdings setzt Scaranos Argument eine unrealistisch starke Annahme voraus. So will er ja vom Vorliegen inkonsistenter Wertungen auf die Irrationalität unseres Handelns schließen. Mit der Rede von der „Irrationalität unseres Handelns“ meint er dabei, dass wir unfähig sind, uns rational für eine bestimmte Handlung zu entscheiden. Wenn aber das Vorliegen inkompatibler Pro-Einstellungen bereits eine hinreichende Bedingung für Entscheidungsunfähigkeit sein soll, dann muss den Einstellungen des Befürwortens und Ablehnens nicht nur eine handlungsmotivierende Kraft, sondern eine strikt handlungsleitende Kraft zugeschrieben werden. Dies aber widerspricht grundlegenden Intuitionen zur motivierenden Kraft von Pro-Einstellungen.50 49 Ein sehr ähnliches Argument wurde z. B. bereits von Brandt (1979, 21) referiert. 50 Auf motivationstheoretische Fragen wird im folgenden Kapitel im Kontext der Diskussion von Smiths Motivationstheorie noch ausführlicher eingegangen (s. insbesondere Abschnitt 4.2.2).

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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Verdeutlichen wir dies anhand eines Beispiels: Wenn ich heute einerseits ins Theater gehen will (weil dort eine berühmte Schauspielerin auftritt), andererseits aber auch gern ins Kino gehen würde (um dort Freunde zu treffen), so habe ich zwar konfligierende Pro-Einstellungen. Dies aber macht mein Handeln nicht notwendigerweise irrational, weil ich zwischen den verschiedenen motivierenden Strebungen abwägen kann. Analoges gilt auch für Beispiele aus dem Bereich der Moral: Wenn ich einerseits versprochen habe, pünktlich zu Hause zu sein, um mich um mein Kind zu kümmern, andererseits aber aufgehalten werde, weil ich einem guten Freund dringend helfen muss, so bin ich wiederum konfligierenden Pro-Einstellungen, d. h. einander widersprechenden Motiven ausgesetzt. Auch in diesem Fall ist aber nicht Entscheidungsunfähigkeit die unmittelbare Folge. Damit Scarano also schließen kann, dass aus dem Vorhandensein inkompatibler Pro-Einstellungen die Irrationalität unseres Handelns folgt, muss er eine unplausibel starke Annahme machen: Die entsprechenden Pro-Einstellungen wirken nicht nur handlungsmotivierend, sondern strikt handlungsleitend. Das heißt: Wenn ich eine bestimmte Pro-Einstellung habe, so handle ich notwendigerweise entsprechend. Nur unter dieser Annahme wäre beim Vorliegen inkompatibler Pro-Einstellungen Unfähigkeit zu rationalem Handeln die unmittelbare Folge. Diese motivationstheoretische Annahme ist aber unplausibel.51 51 Es sei darauf hingewiesen, dass Blackburns Theorie diesem Einwand nicht ausgesetzt ist. Zwar ist auch Blackburn der Auffassung, dass moralische Pro-Einstellungen notwendig mit Handlungsmotiven verknüpft sind (Blackburn 1984, 188). Er legt sich jedoch nicht darauf fest, dass konfligierende Pro-Einstellungen zu Entscheidungsunfähigkeit führen würden. Nach Blackburn folgt aus einer Inkonsistenz in unserer moralischen Sensibilität M nicht unmittelbar die Irrationalität unseres Handelns; eine Inkonsistenz ist lediglich ein sicherer Indikator dafür, dass mindestens eine der Einstellungen aus M nicht Element des wahren Systems M* ist.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Scaranos Begründung der Konsistenzbedingung stützt sich also auf eine strittige Prämisse betreffs der motivationalen Kraft von Pro-Einstellungen. Bevor ich auf die Implikationen dieser Annahme eingehe, sei zunächst Scaranos zweites Kriterium für Kohärenz vorgestellt. 3.3.2.1.2. Inklusivität Als zweite Bedingung für Kohärenz führt Scarano die Inklusivitätsbedingung ein. Wichtig ist sie, weil ein moralisches Bewertungssystem die Konsistenzbedingung auch dann erfüllen kann, wenn es für keine einzige Handlung eine befürwortende oder ablehnende Einstellung enthält. Würde sich Scarano in seiner Charakterisierung des Kohärenzbegriffs nur auf die Konsistenzbedingung stützen, wäre auch ein handlungsirrelevantes Bewertungssystem kohärent. Um diese kontraintuitive Konsequenz zu vermeiden, fordert Scarano zusätzlich Inklusivität: Ein moralisches Bewertungssystem sollte […] umfassend genug sein, um tatsächlich zu jedem Einzelfall eine eindeutige Beurteilung festzulegen. Jeder mögliche Gegenstand einer moralischen Bewertung sollte zu dem Bewertungssystem der jeweiligen Person in einer eindeutigen Relation stehen. (Scarano 2001, 171)

Scarano will damit der Intuition gerecht werden, dass ein moralisches Bewertungssystem für eine hinreichend breite Klasse von Handlungen eindeutige moralische Wertungen angeben sollte. Es kommt hinzu, dass diese Bedingung zusätzlich eine weitere Prämisse für Scaranos strittige Begründung der Konsistenzbedingung darstellt. Wie soeben diskutiert wurde, spielt dort nämlich der Verweis auf die handlungsleitende Kraft von Bewertungssystemen eine Schlüsselrolle. Wäre die Inklusivität nicht gegeben, könnte es aber kohärente Bewertungssysteme geben, die zwar konsistent sind, aber keine einzige Handlung befürworten oder ablehnen. Folglich würde diesen Bewertungssystemen jede handlungsleitende Kraft fehlen. Deshalb ist Scaranos Begründung der Konsistenzbedingung nur dann durchführbar, wenn auch diese Bedingung – zumindest annähernd – erfüllt ist.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

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3.3.2.2. Probleme von Scaranos Kohärenztheorie Die Einwände gegen Scaranos Kohärenztheorie lassen sich in zwei Klassen aufteilen. Erstens ergeben sich für seine Explikation des Kohärenzbegriffs eine ganze Reihe von Detailproblemen. Zweitens ergibt sich ein fundamentaler Einwand bezüglich des theoretischen Ziels, das Scarano mit der Einführung des Kohärenzbegriffs in eine Theorie verbindet. Kohärenz soll bei Scarano die Rationalität unseres Handelns rechtfertigen. Dabei bleibt aber weitgehend unklar, was genau er unter der Rechtfertigung von Pro-Einstellungen versteht. 1. Beginnen wir mit den Einwänden gegen Scaranos Explikation des Kohärenzbegriffs. Zunächst gilt es, noch einmal festzuhalten, welchen Anspruch Scarano selbst mit den beiden von ihm formulierten Bedingungen für die Kohärenz eines Systems moralischer Pro-Einstellungen verbindet: Von dem moralischen Bewertungssystem einer Person kann nur dann gesagt werden, es habe die Eigenschaft der Kohärenz, wenn es zumindest zwei Bedingungen erfüllt: die eine besteht in der Konsistenz und die andere in der Inklusivität des Systems. (Scarano 2001, 170)

Scaranos Ansatz ist in zweierlei Hinsicht bescheiden. Erstens geht es ihm lediglich um das Bewertungssystem „einer Person“. Dass sein Kohärenzkonzept (anders als Blackburns) keine Ideen dazu bereitstellt, wie Konflikte moralischer Bewertungen verschiedener Personen aufzulösen sind, kann ihm also aus einer internen Perspektive nicht legitimerweise vorgeworfen werden. Zweitens legt er sich nur darauf fest, dass ein kohärentes Bewertungssystem „zumindest“ zwei Bedingungen erfüllen muss. Er behauptet demnach nicht, Konsistenz und Inklusivität seien gemeinsam hinreichend für Kohärenz. Scarano erhebt aber den Anspruch, Konsistenz und Inklusivität seien einzeln notwendig für das Vorliegen von Kohärenz. Deshalb ergeben sich gegen seine bescheidene Charakterisierung des Kohärenzbegriffs zwei Einwände. Diese Einwände werden hier nicht mehr im Detail dargestellt, weil sie bereits im

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Rahmen der Kritik an Sayre-McCords früher Kohärenzexplikation besprochen worden sind.52 Für Scaranos Explikation entstehen nämlich genau dieselben Probleme wie für SayreMcCords frühe Explikation, weil beide eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung vertreten und weil sich beide darauf festlegen, notwendige Bedingungen für Kohärenz anzugeben. Erstens folgt aus der Annahme, dass Konsistenz notwendig für Kohärenz sei, auch in diesem Fall, dass jedes inkonsistente System moralischer Bewertungen inkohärent ist. Da es jedoch realiter kaum ein System moralischer Pro-Einstellungen geben wird, in dem nicht zumindest eine Inkonsistenz auftritt, gibt es faktisch kein Bewertungssystem, das kohärent ist. Wie bei Sayre-McCord ergibt sich diese Problematik auch hier daraus, dass Scarano den Kohärenzbegriff nicht graduell, sondern nur als einen qualitativen Begriff expliziert. Konsistenz und Inklusivität sind als zwei notwendige Bedingungen konzipiert, die keine graduellen Abstufungen zulassen. Dies führt im Rahmen einer Kohärenztheorie der Rechtfertigung zu den bereits besprochenen unplausiblen Konsequenzen.53 Zweitens wird durch diese Kohärenzexplikation ausgeschlossen, dass es genuine moralische Dilemmata geben kann. Allein dies wäre noch kein Problem: Ob es moralische Dilemmata gibt oder nicht, wird in der gegenwärtigen Ethik kontrovers diskutiert. Kontraintuitiv ist allerdings, dass es im Rahmen von Scaranos Theorie möglich ist, die Existenz moralischer Dilemmata allein durch den Verweis auf die Semantik des Kohärenzbegriffs auszuschließen. Zugegebenermaßen betreffen diese Kritikpunkte Detailfragen und sind von begrenzter Reichweite. Zudem ist bereits klar geworden, dass kaum ein kohärentistischer Theorieansatz gegenwärtig über eine befriedigende Explikation des Kohärenzbegriffs verfügt. Außerdem hat Scarano ausdrücklich gesagt, 52 S. Abschnitt 2.4.1.2. 53 Im Abschnitt 3.3.1.3 dieses Kapitels wurde erläutert, dass sich diese Probleme für Blackburns Theorie deshalb nicht ergeben, weil Blackburn eine Kohärenztheorie der Wahrheit, nicht der Rechtfertigung vertritt.

3.3 Der Kohärenzbegriff im Nonkognitivismus

207

dass er nicht den Anspruch vertritt, notwendige und hinreichende Bedingungen für Kohärenz erarbeitet zu haben. Somit sind diese Einwände zwar nicht irrelevant; grundsätzlich ist es aber möglich, dass sie durch die Ausarbeitung der Explikation des Kohärenzbegriffs ausgeräumt werden können. 2. Das zentrale Problem für Scaranos Ansatz ergibt sich auf Grund der theoretischen Zielsetzung, die er mit der Einführung des Kohärenzbegriffs in seine Theorie verbindet. Scarano hatte erklärt, dass Kohärenz die rationale Kritisierbarkeit der „moralischen Überzeugungen“ (gemeint sind: Pro-Einstellungen) gewährleisten soll, bzw. dass es darum geht, die Rationalität unseres Handelns zu rechtfertigen. Einleitend wurde darauf hingewiesen, dass Scaranos Rechtfertigungsbegriff dabei weitgehend unklar bleibt. Entwickeln wir dieses Problem etwas genauer, indem wir noch einmal den Vergleich zu Sayre-McCord ziehen. Es wurde bereits angemerkt, dass es zwischen Scaranos Ansatz und Sayre-McCords erster Kohärenztheorie eine interessante strukturelle Analogie gibt: Tabelle 3.2 Vergleich von Sayre-McCords und Scaranos Kohärenzexplikation Sayre-McCord

Scarano

Konsistenz Vollständigkeit Vernetztheit

Konsistenz Inklusivität ?

Zwei der drei Bedingungen, mit denen Sayre-McCord den Kohärenzbegriff expliziert, finden in Scaranos Ansatz ein Gegenstück. Interessant ist nun, dass Scarano trotz dieser Parallelen kein Analogon zu Sayre-McCords Bedingung der Vernetztheit angibt. Ist die Vernetztheitsbedingung für Scarano unwichtig? Hat er diese Bedingung, die grundlegenden Intuitionen zum Kohärenzbegriff entspricht, vergessen? Keineswegs: Blickt man in Scaranos Text, so wird sehr wohl an die Intuition appelliert, dass moralische Bewertungssysteme, die kohärent sind, intern vernetzt sein sollten.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz Eine moralische Überzeugung läßt sich also immer nur insoweit rechtfertigen, wie sie durch das System gestützt wird, in dem sie auftritt. Nur innerhalb eines Systems sich gegenseitig stützender Pro-Einstellungen lassen sich einzelne Elemente dieses Systems rechtfertigen. Der Grundbegriff der moralischen Epistemologie heißt also „Kohärenz“. (Scarano 2001, 173)

Wie hier deutlich wird, nimmt Scarano an, dass verschiedene Pro-Einstellungen innerhalb eines Systems intern vernetzt sind: Gerechtfertigt wird ein solches System nach Scarano, weil es zwischen den einzelnen Pro-Einstellungen Beziehungen gegenseitiger Stützung gibt. Und wenn ein System durch interne Stützungsbeziehungen vernetzt ist, so ist es kohärent. Ohne Zweifel ist also Scarano der Auffassung, dass es sich bei diesen Stützungsbeziehungen um kohärenzstiftende Beziehungen handelt. In welchem Sinne aber sollten sich Pro-Einstellungen gegenseitig stützen können? Auf diese Frage geht Scarano nicht näher ein. Es findet sich jedoch eine Textstelle, die zeigt, dass er meint, hier genau dieselbe Antwort geben zu können wie der Kognitivist. So beantwortet Scarano die Frage, in welcher Beziehung allgemeine Moralprinzipien zu konkreten Handlungsanweisungen („singuläre moralische Überzeugungen“) stehen, so. Unsere singulären moralischen Überzeugungen können im Normalfall durch Rekurs auf solche allgemeinen Prinzipien gerechtfertigt werden. In unserem praktischen Überlegen nehmen sie typischerweise die Rolle von generellen Prämissen ein, aus denen sich mit Hilfe von diversen Zusatzannahmen die singulären Urteile begründen lassen. Wie bei den singulären handelt es sich auch bei diesen generellen moralischen Überzeugungen um spezifische Pro-Einstellungen. (Scarano 2001, 167)

Obwohl Scarano also – wie sich auch an dieser Stelle wieder zeigt – den Term „Überzeugung“ im Sinne von Pro-Einstellung verwendet, meint er, er könne von der Existenz moralischer Argumente ausgehen, d. h. von Prämissen, aus denen mit Hilfe weiterer Annahmen Konklusionen gefolgert werden können. Scarano vertritt also offensichtlich die Auffassung, dass er auch im Rahmen seiner nonkognitivistischen Metaethik die kohärenzstiftenden Beziehungen in genau derselben Weise inter-

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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pretieren kann wie ein Kognitivist: Es handelt sich dabei um inferentielle Beziehungen, mit denen unter der Voraussetzung einer Prämissenklasse Konklusionen gefolgert werden können. Trotzdem vermeidet es Scarano, sich auf eine Theorie epistemischer Rechtfertigung festzulegen. Schließlich lehnt er die Auffassung explizit ab, dass moralische Pro-Einstellungen wahrheitswertfähig sind. Er meint also, die kognitivistischen Teilthesen – moralische Aussagen seien wahrheitswertfähig und in moralischen Äußerungen drücken sich Überzeugungen aus – bestreiten zu können. Gleichzeitig beruft er sich aber auf einen kognitivistischen Begriff inferentieller Rechtfertigung. Genau in derselben Weise wie der Kognitivist interpretiert er kohärenzstiftende Beziehungen im Sinne inferentieller Beziehungen. Im folgenden, abschließenden Abschnitt dieses Kapitels wird nun begründet, dass Scaranos Interpretation kohärenzstiftender Beziehungen als inferentielle Beziehungen nicht in den Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik integrierbar ist. Vielmehr ergibt sich ein tiefgreifender Konflikt mit den nonkognitivistischen Grundannahmen, die Scarano eingeht.

3.4 Das Problem der inhaltlichen Charakterisierung kohärenzstiftender Beziehungen im Nonkognitivismus Es hat sich herausgestellt, dass sich sowohl bei Blackburn als auch bei Scarano ein Problem bei der Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen ergibt. Zwar sind die Akzentsetzungen unterschiedlich: Erstens meint Blackburn, dass es moralische Wahrheit gibt, Scarano lehnt dies ab. Zweitens entwickelt Blackburn eine eigene expressivistische Semantik, um Folgerungsbeziehungen zwischen Pro-Einstellungen zu rekonstruieren. Scarano dagegen meint, weitgehend undiskutiert von Argumenten und Begründungen sprechen zu können. In beiden Fällen läuft jedoch die Kritik an diesen beiden Ansätzen auf die Schlüsselfrage hinaus: Wie lassen sich kohärenzstiftende Beziehungen in nonkognitivistischen Kohärenztheorien inhaltlich charakterisieren?

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Erinnern wir uns: Unter der Annahme des moralischen Kognitivismus ließ sich auf diese Frage antworten wie folgt. Es handelt sich um inferentielle Beziehungen zwischen Überzeugungen, die zur epistemischen Rechtfertigung dieser Überzeugungen beitragen. Steht dem Nonkognitivisten die Möglichkeit offen, dieselbe oder zumindest eine ähnliche Antwort zu geben? Gibt es auch zwischen Pro-Einstellungen inferentielle Beziehungen oder zumindest Analoga zu inferentiellen Beziehungen, die rechtfertigend wirken? Die beiden diskutierten Versionen nonkognitivistischer Kohärenztheorien scheinen beide eine positive Antwort auf diese Fragen nahe zu legen. Sowohl Blackburn als auch Scarano geht es darum, die rationale Diskutierbarkeit bzw. die Anfälligkeit moralischer Pro-Einstellungen für rationale Kritik nachzuweisen. Beiden geht es darum, die „Praxis unseres moralischen Urteilens“54 adäquat zu rekonstruieren. Und diese Praxis, auch darin sind sich Blackburn und Scarano einig, hat kognitivistische Züge: Wir argumentieren für oder gegen bestimmte Auffassungen von Moral, diskutieren und kritisieren die Richtigkeit und Falschheit moralischer Auffassungen und verweisen auf generelle Prinzipien, um aus diesen konkrete Handlungsanweisungen zu folgern. Sowohl Scarano als auch Blackburn legen sich deshalb auf die folgende These fest: Auch auf der Grundlage einer nonkognitivistischen Metaethik lässt sich die Auffassung vertreten, dass es zwischen moralischen Pro-Einstellungen inferentielle Beziehungen gibt (Scarano) oder dass sich zumindest deren Beziehungen untereinander in enger Analogie zu inferentiellen Beziehungen rekonstruieren lassen (Blackburn). Gemeinsam ist inferentiellen Beziehungen und deren Analoga, dass sie die rationale Kritisierbarkeit moralischer Pro-Einstellungen ermöglichen. Deshalb sind sie innerhalb einer kohärentistischen Rekonstruktion von Rechtfertigung oder Wahrheit im Sinne kohärenzstiftender Beziehungen interpretierbar. 54 Blackburn 1984, 167, 170–171.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

211

Der entscheidende Streitpunkt, ob der Nonkognitivist und der Kognitivist dieselben (oder zumindest analoge) Kohärenzkonzeptionen vertreten können oder nicht, lässt sich somit auf die Frage nach der inhaltlichen Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen zuspitzen. Die These, die im Folgenden begründet wird, lautet: (A) Nonkognitivisten müssen einen grundlegend anderen Kohärenzbegriff als Kognitivisten vertreten. Nicht nur die Gegenstände, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, sind unterschiedlich, sondern Nonkognitivisten sind auch darauf festgelegt, die kohärenzstiftenden Beziehungen inhaltlich anders zu interpretieren als die Kognitivisten. Wie aus dem zuvor Gesagten deutlich geworden ist, vertreten Scarano und Blackburn die Gegenthese: (B) Kognitivisten und Nonkognitivisten berufen sich auf denselben Kohärenzbegriff oder zumindest auf analog konzipierte Begriffe von Kohärenz. Zwar meinen Nonkognitivisten, es gebe keine moralischen Überzeugungen, sondern moralische Pro-Einstellungen. Mit Hilfe des Kohärenzbegriffs lässt sich jedoch zeigen, dass auch zwischen diesen Pro-Einstellungen inferentielle Beziehungen bestehen, die rechtfertigend wirken. Im Folgenden wird gezeigt, aus welchen Gründen diese Auffassung verfehlt ist. Zunächst wird ein in dieser Hinsicht einschlägiges Argument, das in der Literatur als Frege-Geach-Punkt prominent ist, angeführt (3.4.1) und im Hinblick auf das hier vorliegende Problem präzisiert (3.4.2). Dann wird eine nonkognitivistische Erwiderung auf dieses Problem referiert und es wird gezeigt, aus welchen Gründen diese nonkognitivistische Replik im vorliegenden Kontext nicht überzeugen kann (3.4.3). Schließlich wird diskutiert, wie weitreichend die Konsequenzen des Frege-Geach-Punkts für den Nonkognitivismus sind (3.4.4).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

3.4.1 Der Frege-Geach-Punkt Das als Frege-Geach-Punkt bekannte Argument hat ursprünglich Peter Geach in zwei Aufsätzen formuliert.55 Es richtet sich primär gegen eine verfehlte Theorie darüber, wie der propositionale Gehalt von Behauptungen zu rekonstruieren ist. Von der ursprünglichen Grundidee weicht die hier präsentierte Variante des Arguments in zweierlei Hinsicht ab, wobei beide Veränderungen mit Geachs Intentionen verträglich sind. Erstens wird die entscheidende Pointe des Arguments nicht anhand des Behauptungsbegriffs, sondern mit Verweis auf die Ebene der propositionalen Einstellungen (Überzeugungen und Pro-Einstellungen) formuliert.56 Zweitens wird ein bescheidenerer Anspruch verfolgt als bei Geach selbst, weil nur die Konsequenzen seines Arguments für die Debatte um den moralischen Nonkognitivismus diskutiert werden.57 Viele Darstellungen von Geachs Argument – insbesondere im deutschen Sprachraum – sind äußerst knapp gehalten,58 so dass Geachs zentrales Anliegen nur unzureichend klar wird. Die Einwände, die dann gegen den Frege-Geach-Punkt in Anschlag gebracht werden, verfehlen deshalb häufig die eigentliche Pointe des Arguments. Deshalb wird an dieser Stelle etwas mehr Raum darauf verwendet, Geachs Argument darzustellen. Geachs Argumentationsstrategie wird hier in zwei Schritten rekonstruiert: Zunächst wird an drei Intuitionen zur Moralsprache appelliert, die so bescheiden sind, dass sie auch von 55 Geach 1960, 1965. 56 Die Beziehung seines Arguments zur Unterscheidung von Überzeugungen und „emotionalen Einstellungen“ (emotional attitudes) wird auch von Geach (1965, 455) angesprochen. 57 Auch wenn sich Geach nicht schwerpunktmäßig mit diesem Aspekt beschäftigt hat, hat er bereits explizit darauf hingewiesen, dass sein Argument Konsequenzen für den moralischen Nonkognitivismus hat (Geach 1965, 463–464). 58 Czaniera 2001, 186–187; Halbig 2007, 219–220; Scarano 2001, 150– 152.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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den meisten Nonkognitivisten nicht bestritten werden. In einem zweiten Schritt wird dann gezeigt, dass Nonkognitivisten diesen drei Intuitionen im Rahmen ihrer Metaethik nicht gerecht werden können, ohne ihre nonkognitivistischen Grundannahmen aufzugeben. Es gilt also zunächst zu explizieren, auf welche Intuitionen sich Geach beruft. Beginnen wir, indem wir die folgende Klasse von Aussagen betrachten: (1) Lügen ist moralisch falsch. (2) Wenn lügen moralisch falsch ist, dann ist es auch moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. (3) Es ist moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. Geach appelliert nicht primär an die kognitivistische Intuition, dass es sich hier um wahrheitswertfähige Aussagen handelt. Sein Argument ist im gegenwärtigen Kontext gerade deshalb von großem Interesse, weil er von den inferentiellen Beziehungen ausgeht, die zwischen diesen Aussagen bestehen. Er stützt sich dabei auf die intuitive Plausibilität der drei folgenden Annahmen. [I] Es handelt sich hier um ein deduktiv schlüssiges Argument, das der Schlussregel des modus ponendo ponens (im Folgenden: modus ponens) folgt. Die aussagenlogische Form dieses Arguments lässt sich demnach wie folgt angeben: (1) a (2) a b (3) b Fasst man (1) und (2) als Prämissen auf, so ist (3) deduktiv aus diesen Prämissen ableitbar. [II] Nehmen wir an, dass eine Person S von (1) und (2) überzeugt ist und dass sie diese logischen Beziehungen erkannt

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

hat, so ist sie auf dieser Basis epistemisch darin gerechtfertigt, von (1) und (2) auf (3) zu schließen.59 [III]Nehmen wir schließlich an, die Person S ist von (1) und (2) überzeugt, hat die logischen Beziehungen zwischen ihnen erkannt und den Schluss auf (3) gezogen. Nun vertritt sie aber gleichzeitig die folgende Überzeugung: (3*) Es ist nicht der Fall, dass es moralisch falsch ist, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. Die dritte hier relevante Intuition besagt, dass die Person S damit einen Fehler in logischer bzw. epistemischer Hinsicht begeht. Sie verletzt epistemische Normen, weil sie in ihrem Überzeugungssystem wissentlich eine Kontradiktion (b ¬b) zulässt. 59 Es ist zu beachten, dass der Gehalt dieser Intuition in einem spezifischen Sinn bescheiden formuliert ist. Es wird hier nicht behauptet, S sei darin gerechtfertigt, an (3) zu glauben, sondern es wird nur die schwächere Behauptung aufgestellt, dass S darin gerechtfertigt ist, von (1) und (2) auf (3) zu schließen. Entscheidend ist an dieser Stelle die Unterscheidung zwischen der Gültigkeit und der Schlüssigkeit des Arguments. Ob die Prämissen des Arguments wahr oder falsch sind, bzw. ob S darin gerechtfertigt ist, diese Prämissen zu glauben, ist für Geachs Argument irrelevant. Geach kommt es nur darauf an, dass es sich hier um ein schlüssiges Argument handelt. Lediglich der Übergang von (1) und (2) auf (3) muss salva veritate gegeben sein. Damit ist nichts über die Gültigkeit des Arguments, d. h. über die Wahrheit der Prämissen, gesagt: S ist folglich nicht ohne weiteres darin gerechtfertigt, (3) zu ihrer Überzeugung zu machen. Denn dazu müsste S zumindest auch in (1) und (2) gerechtfertigt sein. Für die Durchführbarkeit von Geachs Argumentation ist ausschließlich die Schlüssigkeit des Arguments wichtig. Dies wird in der Rezeption zuweilen missverstanden. So meint Czaniera (2001, 205), Geach müsste sich auf die Gültigkeit von moralischen Argumentationen berufen, um mit dem Frege-Geach-Punkt ein Argument gegen den Nonkognitivismus zu formulieren. Im Folgenden wird gezeigt, warum Geach mit der Schlüssigkeit auskommt.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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Diese drei grundlegenden Intuitionen scheinen prima facie so trivial zu sein, dass sie einer weiteren Diskussion kaum würdig sind. Auch die meisten Nonkognitivisten würden die Wahrheit dieser drei Thesen kaum bestreiten. Im Gegenteil: Die im vorigen Abschnitt deutlich gewordenen Tendenzen zeigen ja, dass auch Vertreter dieser Theorierichtung daran arbeiten, solchen Intuitionen in ihren Theorien gerecht zu werden. Scarano hat sich sogar explizit dazu bekannt, dass er gegen die Annahme nichts einzuwenden hat, dass zwischen moralischen Pro-Einstellungen Folgerungsbeziehungen bestehen können.60 Im gegenwärtigen Kontext sind die Annahmen [I] bis [III] jedoch gerade aus diesem Grund von Interesse: Sie sind in unseren semantischen Intuitionen zur Moralsprache so tief verankert, dass kaum jemand sich die Begründungslast aufbürden will, ihre Wahrheit zu bestreiten. Wie Geach mit seinem Argument jedoch nachzuweisen vermag, legt sich der Nonkognitivist gewollt oder ungewollt auf die Leugnung ihrer Wahrheit fest, wenn er die semantischen Grundannahmen des Nonkognitivismus ernst nimmt.61 Wie führt Geach diesen Nachweis? Dies wird klar, wenn man versucht, das oben angeführte moralische Argument unter Annahme nonkognitivistischer Voraussetzungen zu rekonstruieren. Die Rekonstruktion der ersten Prämisse bringt den Nonkognitivisten noch nicht in Verlegenheit: Wenn eine Person S äußert, „Lügen ist moralisch falsch.“, so wird damit Folgendes ausgedrückt: S missbilligt moralisch, dass gelogen wird. 60 Scarano 2001, 167. 61 Diese semantischen Grundannahmen des Nonkognitivismus wurden im vorliegenden Kapitel in den Abschnitten 3.2.2 und 3.2.3 dargestellt. Zu Beginn der Abschnitte 3.3.1 und 3.3.2 wurde jeweils gezeigt, dass nonkognitivistische Kohärentisten wie Blackburn und Scarano diese Annahmen akzeptieren.

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Erinnern wir uns: Es handelt sich dabei nicht nur um eine Analyse der Pragmatik moralischer Äußerungen, sondern Nonkognitivisten schreiben dem Prädikat „ist moralisch falsch“ eine entsprechende emotive Bedeutung zu. Es steht für den Ausdruck (expression) einer Pro-Einstellung. Die entscheidende Pointe des Frege-Geach-Punkts zeigt sich, wenn der Nonkognitivist die Bedeutung der zweiten Prämisse (2) angeben soll: „Wenn lügen moralisch falsch ist, dann ist es auch moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten.“ Das zentrale Problem stellt die Rekonstruktion des (hier kursiv gesetzten) ersten Vorkommnisses des Prädikats „ist moralisch falsch“ dar. Der Nonkognitivist gerät in Schwierigkeiten, weil er moralische Prädikate als sprachliche Zeichen ansieht, deren emotive Bedeutung nicht durch einen deskriptivistisch interpretierten Gehalt, sondern durch die Art der Einstellung von S dazu, dass gelogen wird, festgelegt wird. Da das Prädikat in (2) jedoch im Antezedens eines Konditionals eingebettet auftritt, wird mit seiner Äußerung keine Pro-Einstellung bekundet. In kognitivistischen Begriffen: Man kann von der Geltung des Konditionals a b überzeugt sein, ohne a für wahr zu halten. In Analogie dazu legt man sich mit der Äußerung von (2) auch nicht darauf fest, moralisch zu missbilligen, dass gelogen wird. Da aber die emotive Bedeutung des moralischen Prädikats „ist moralisch falsch“ nach nonkognitivistischer Lesart erst durch den Ausdruck einer moralischen Missbilligung konstituiert wird, kann ein Nonkognitivist dem sprachlichen Zeichen, wenn es im Antezedens eines Konditionals vorkommt, keine Bedeutung zuschreiben. Daraus folgt, dass es sich bei dem oben angeführten moralischen Argument gemäß der nonkognitivistischen Sichtweise nicht um eine Instanz des modus ponens handeln kann. Für den Nonkognitivisten ergibt sich somit die Konsequenz, dass er die Wahrheit von [I] – so gern er sie anerkennen würde – leugnen muss. Wiederum hat Geach den entscheidenden Punkt klar herausgearbeitet: Das moralische Argument kann nur dann eine Instanz des modus ponens darstellen, wenn die beiden Vor-

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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kommnisse der Aussage a in den Prämissen (1) und (2) dieselbe Bedeutung haben. Dies ist aber, wie gezeigt, nicht der Fall, weil sich die Bedeutung des Satzes „Lügen ist moralisch falsch“ nach nonkognitivistischer Lesart in Abhängigkeit davon ändert, ob mit ihm eine moralische Pro-Einstellung ausgedrückt wird oder nicht. Darin ist auch der Grund dafür zu sehen, dass sich dieses Problem für den Kognitivisten nicht stellt.62 Die kognitivistische Interpretation der Bedeutung moralischer Aussagen ist nämlich in einer wichtigen Hinsicht anders konzipiert als die nonkognitivistische. Die Bedeutung einer moralischen Aussage (Proposition) bleibt davon unberührt, ob eine Person von ihrer Wahrheit überzeugt ist oder nicht.63 Vielmehr wird die Bedeutung einer moralischen Aussage dadurch bestimmt, ob die entsprechenden moralischen Tatsachen bestehen oder nicht bestehen. Deshalb ist der Kognitivist darin gerechtfertigt, der Aussage „Lügen ist moralisch falsch“ in beiden Vorkommnissen dieselbe Bedeutung zuzuschreiben, obwohl S sich in Prämisse (1) auf deren Wahrheit festlegt (von ihr überzeugt ist) und in Prämisse (2) aufgrund ihrer Einbettung in ein Konditional nicht. Im kognitivistischen Fall ist damit eine entscheidende Voraussetzung dafür erfüllt, dass es sich bei dem moralischen Argument um eine Instanz des modus ponens handelt. Der Nonkognitivist dagegen muss dies bestreiten. Der Frege-Geach-Punkt wird häufig als schlagendes Argument gegen den Nonkognitivismus generell angeführt. Hier soll es nur um die Frage gehen, warum er im Kontext der Debatte um den Kohärenzbegriff von zentraler Bedeutung ist. 62 Die folgende Begründung gilt nur für den realistischen Kognitivismus. Wie gezeigt wurde, akzeptieren aber die meisten Kognitivisten auch den moralischen Realismus (Abschnitte 2.2.3 und 2.2.4). 63 Dies ist Freges grundlegende Einsicht, die Geach zu seiner Argumentation inspiriert hat: „A thought may have just the same content whether you assent to its truth or not; a proposition may occur in discourse now asserted, now unasserted, and yet be recognizably the same proposition“ (Geach 1965, 449).

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

3.4.2 Die Relevanz des Frege-Geach-Punkts im vorliegenden Kontext An Scarano und Blackburn habe ich kritisiert, dass sie ihren Anspruch, mit Hilfe des Kohärenzbegriffs kognitivistische Intuitionen in ihre nonkognitivistischen Metaethiken zu importieren, nicht hinreichend begründen. Die bisherige Diskussion hat ergeben, dass der Streit darum, ob wir es hier mit zwei verschiedenen oder doch letztlich demselben Kohärenzbegriff zu tun haben, sich an der Beantwortung der folgenden Frage entscheidet: Kann der Nonkognitivist die These verteidigen, dass moralische Pro-Einstellungen in derselben (oder zumindest in analoger) Weise untereinander durch inferentielle Beziehungen vernetzt sind wie Überzeugungen? Geachs Argument stattet uns nun mit einem Testfall aus, anhand dessen diese Streitfrage entschieden werden kann. Dabei sind zwei Annahmen vorauszusetzen, die aber auch ein Nonkognitivist nur schwerlich wird bestreiten können: 1. 2.

Wenn es überhaupt einen paradigmatischen Fall für das Vorliegen inferentieller Beziehungen gibt, so ist es der deduktive Schluss beim modus ponens. Eine Theorie inferentieller Beziehungen, die bereits an der Rekonstruktion der Schlüssigkeit von Argumenten scheitert, die dem modus ponens folgen, ist abzulehnen.64

Wer also die These vertreten will, dass es zwischen moralischen Pro-Einstellungen inferentielle Beziehungen gibt, dem sollte es 64 Es ist selbstverständlich ohne weiteres möglich, einen Kalkül zu entwickeln, in der die Schlussregel des modus ponens nicht gilt. Ein solcher Kalkül wäre jedoch kaum geeignet, kognitivistischen Intuitionen gerecht zu werden. Deshalb beschreiten auch weder Scarano noch Blackburn den Weg, an der Geltung des modus ponens im Bereich der Moral zu zweifeln. Im Gegenteil: Wie noch gezeigt wird, versucht Blackburn sogar, diese Schlussregel im Rahmen seiner expressivistischen Semantik zu rekonstruieren.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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zumindest gelingen, die Schlüssigkeit des modus ponens in der Anwendung auf diese Pro-Einstellungen nachzuweisen. Wenn selbst die Bewältigung dieses vergleichbar bescheidenen Unternehmens scheitern sollte, dann fehlen gute Gründe, um im Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik von inferentiellen Beziehungen zu sprechen. In diesem Fall könnte der Nonkognitivist also nicht behaupten, bei kohärenzstiftenden Beziehungen handle es sich um inferentielle Beziehungen. Der Frege-Geach-Punkt stellt nun ein schlagendes Argument dafür dar, dass der Nonkognitivist an der Aufgabe scheitert, den modus ponens zu rekonstruieren. Der Grund dafür ergibt sich aus der nonkognitivistischen Kernthese selbst. Die These, dass sich in moralischen Äußerungen nicht Überzeugungen, sondern Pro-Einstellungen ausdrücken, ist nur dann intuitiv plausibel, wenn man sie auf isolierte Äußerungen bezieht. Geach hat jedoch gezeigt, dass sich gravierende Konsequenzen ergeben, wenn man unter dieser Annahme die Beziehungen zwischen verschiedenen moralischen Äußerungen analysiert. Wie im vorigen Abschnitt dargestellt wurde, wird der Nonkognitivismus grundlegenden Intuitionen zur Moralsprache nicht gerecht. Schon die Annahme [I], dass das vorgestellte moralische Argument dem modus ponens folgt, kann der Nonkognitivist im Rahmen seiner Semantik nicht rekonstruieren. Will er nicht seine zentrale These verwerfen, muss er [I] zurückweisen: Das vorgestellte Argument stellt keine Instanz des modus ponens dar. Damit scheint der Streitpunkt zugunsten der hier verteidigten These entschieden zu sein: Der Nonkognitivist kann nicht darauf verweisen, kohärenzstiftende Beziehungen im Sinne inferentieller Beziehungen aufzufassen. Wenn er überhaupt eine Konzeption kohärenzstiftender Beziehungen vertreten will, die in irgendeinem Sinn rechtfertigend wirken, so muss er zu einer alternativen Explikation rechtfertigender Beziehungen Zuflucht nehmen. Wie aber sollte eine solche alternative Explikation aussehen?

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Anders als Scarano hat Blackburn auf diese Anfrage reagiert.65 Deshalb verdient es Blackburns Ansatz, in diesem Zusammenhang diskutiert zu werden. 3.4.3 Blackburns Lösungsansatz Blackburns Grundidee, mit der er das durch den Frege-GeachPunkt aufgewiesene Problem lösen will, wurde schon im Abschnitt 3.3.1.2.1 dieses Kapitels bei der Darstellung seines Konsistenzbegriffs skizziert. Zugegebenermaßen, so Blackburn, handelt es sich bei dem oben exemplarisch präsentierten moralischen Argument nicht um eine Instanz des modus ponens im strikten Sinn. Trotzdem ist es möglich, mit Hilfe einer expressivistischen Semantik Beziehungen zwischen moralischen ProEinstellungen zu rekonstruieren, die inferentiellen Beziehungen in relevanter Hinsicht ähnlich sind. Mit Hilfe dieser von ihm entwickelten Semantik will Blackburn zumindest den zentralen Gehalt der beiden anderen Intuitionen [II] und [III]66 in den 65 Scarano erwähnt den Frege-Geach-Punkt zwar (Scarano 2001, 150– 152), vertritt jedoch die Auffassung, dass seine Theorie dem daraus resultierenden Problem nicht ausgesetzt sei. So bekennt sich Scarano nämlich in seiner Theorie unter anderem zu der Auffassung, dass „moralische Aussagen wahrheitswertfähige semantische Einheiten“ sind (Scarano 2001, 153). Dazu ist Folgendes zu sagen: Auch wenn man zugestehen kann, dass sich für Scaranos Theorie moralischer Aussagen das hier dargestellte Problem nicht ergibt – für seine Theorie moralischer Überzeugungen stellt es sich ganz bestimmt. Dies hängt damit zusammen, dass nach Scarano moralische Aussagen nicht mit den propositionalen Gehalten seiner moralischen Überzeugungen identisch sind. Denn bei Scarano handelt es sich bei moralischen Überzeugungen um Gegenstände, die – wie dargestellt wurde – prinzipiell nicht wahrheitswertfähig sein können. Die Annahme wahrheitswertfähiger moralischer Aussagen hilft Scarano aus diesem Grund bei der Frage danach, wie moralische Überzeugungen zu rechtfertigen sind, nicht weiter. Deshalb ist seine Theorie der Rechtfertigung moralischer Überzeugungen in derselben Weise wie andere nonkognitivistische Theorien dem Problem ausgesetzt, auf das der Frege-Geach-Punkt hinweist. 66 S. Abschnitt 3.4.1.

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Nonkognitivismus integrieren: Wenn eine bestimmte Person S die Pro-Einstellungen (1) und (2) hat und sie die zwischen ihnen bestehenden Beziehungen erkannt hat, so ist sie auf dieser Basis darin gerechtfertigt, von (1) und (2) auf (3) zu schließen, und sie begeht einen logischen bzw. epistemischen Fehler, wenn sie gleichzeitig eine Pro-Einstellung entwickelt, die mit (3) inkonsistent ist. Im Folgenden wird dargestellt, wie Blackburn dies mit den Mitteln seiner expressivistischen Semantik zu zeigen versucht und aus welchen Gründen dieser Versuch scheitert. Wie also rekonstruiert Blackburn den modus ponens? Die Interpretation der ersten Prämisse bringt ihn noch nicht in Schwierigkeiten. Dem Akt des Lügens wird eine Einstellung moralischer Missbilligung zugeschrieben. In Blackburns expressivistischer Semantik lässt sich dies durch den Missbilligungsoperator B! ausdrücken: (1) B! (Lügen) Das Problem der Rekonstruktion des Konditionals löst Blackburn mit Hilfe seiner Idee der moralischen Pro-Einstellungen zweiter Ordnung. Äußert eine Person S „Wenn lügen moralisch falsch ist, dann ist es auch moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten“, dann drückt sie damit eine moralische Pro-Einstellung über moralische Pro-Einstellungssysteme (moralische Sensibilitäten) aus. Sie sagt, dass sie moralische Pro-Einstellungssysteme billigt, in denen die Missbilligung von Akten des Lügens mit der Missbilligung von Akten, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten, verknüpft ist. In Blackburns Kalkül: (2) H! (|B! (Lügen)|; |B! (den kleinen Bruder zum Lügen verleiten)|) In derselben Weise, wie wir Handlungen (z. B. Akte des Lügens) missbilligen können, können wir nach Blackburn schließlich auch die Verknüpfung verschiedener Einstellungen moralischer Missbilligung ihrerseits billigen oder missbilligen. Ob man die Verknüpfung der beiden angeführten Einstellungen billigt oder nicht, ist dabei eine Frage der moralischen Sensibilität:

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3. Ein nonkognitivistischer Ansatz A [moral] sensibility which pairs an attitude of disapproval towards telling lies, and an attitude of calm or approval towards getting your little brother to tell lies, would not meet my endorsement. I can only admire people who would reject the second action as strongly as they reject the first. (Blackburn 1984, 192)

Blackburn ist nun der Auffassung, dass sich enge Analogien zum modus ponens ergeben, wenn man die beiden Ausdrücke (1) und (2) im Sinne zweier Prämissen miteinander kombiniert und sich eine Person vorstellt, die beide Pro-Einstellungen hat. (1) B! (Lügen) a (2) H! (|B! (Lügen)|; |B! (den kleinen Bruder zum Lügen verleiten)|) a b (3) B! (den kleinen Bruder zum Lügen verleiten) b Wenn demnach die Person S Akte des Lügens missbilligt (1) und gleichzeitig billigt, dass man diese Missbilligung mit der Missbilligung, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten, verknüpft (2), so sollte die Person S auch missbilligen, dass man den kleinen Bruder zum Lügen verleitet (3). Wenn also auch nicht die Schlussregel des modus ponens vorliegt, beansprucht Blackburn zumindest gezeigt zu haben, dass sich zwischen moralischen Pro- und Contra-Einstellungen analoge Ableitbarkeitsbeziehungen konstruieren lassen. Die entscheidende Intuition, die mit der Annahme [II] verbunden ist, dass nämlich eine Person S, wenn sie (1) und (2) hat, auch darin gerechtfertigt ist, auf (3) zu schließen, meint Blackburn jedoch mit Hilfe seiner expressivistischen Semantik rekonstruiert zu haben. Blackburns Rekonstruktion des modus ponens hat eine ganze Reihe von kritischen Repliken hervorgerufen. Diese betreffen zu einem erheblichen Anteil technische Probleme, die sich aus seinem Kalkül ergeben.67 Blackburn hat auf diese Kritik reagiert, indem er seine expressivistische Semantik immer wieder erheblich verändert hat.68 Dies hat eine umfangreiche und tech67 Hale 1986, Schueler 1988. 68 Insgesamt liegen drei Versionen von Blackburns Semantik vor, die sich alle erheblich voneinander unterscheiden (Blackburn 1971, 1984,

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

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nisch anspruchsvolle Debatte ausgelöst, in der es um Details der Adäquatheit der Formulierung des Kalküls geht.69 Diese Debatte kann hier nicht dargestellt werden. Ich möchte mich auf die Darstellung eines grundlegenden Problems von Blackburns Ansatz beschränken, das letztlich für jeden nonkognitivistischen Ansatz einschlägig ist. Wie die formalen Detailfragen auch ausgehen mögen: Entscheidend ist für Blackburns Idee, dass er die Schlussregel des modus ponens mit nonkognitivistischen Mitteln, d. h. auf Grundlage seiner expressivistischen Semantik rekonstruieren will. Dass dies zu einem Problem führt, welches innerhalb des nonkognitivistischen Ansatzes nicht auflösbar ist, lässt sich anhand der dritten Annahme [III] illustrieren. Gestehen wir Blackburn für den Moment zu, er wäre der Intuition [II] insoweit gerecht geworden, dass es sich hier um einen Übergang handelt, der relevante Analogien zu einem logischen Schluss aufweist. Die Annahme [III] besagt nun, dass eine Person S, die die Prämissen (1) und (2) akzeptiert, um die Ableitbarkeitsbeziehung zu (3) weiß und trotzdem eine mit (3) unverträgliche Einstellung vertritt – in Blackburns Terminologie: H! (den kleinen Bruder zum Lügen verleiten) – einen logischen bzw. epistemischen Fehler begeht. Wie aber erklärt Blackburn, dass eine Person sich durch die Festlegung auf (1) und (2) auch auf (3) festlegt? Er reagiert auf diese Frage folgendermaßen: Anyone holding this pair [of attitudes (1) and (2)] must hold the consequential disapproval: he is committed to disapproving of getting little brother to lie, for if he does not his attitudes clash. He has a fractured sensibility which cannot itself be an object of approval. (Blackburn 1984, 195)

Blackburn meint also, dass die Person S deshalb auf (3) festgelegt ist, weil ihre moralische Sensibilität andernfalls gebrochen 1988). Ich habe mich hier auf die Darstellung der Version von 1984 beschränkt, die Blackburn im Kontext der Formulierung seines wahrheitstheoretischen Kohärenzbegriffs vertreten hat. 69 Siehe z. B. Hale (1993, 2002).

224

3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

(fractured) wäre und deshalb (durch eine Pro-Einstellung zweiter Ordnung) nicht gebilligt werden kann. Blackburn erklärt die Tatsache, dass es sich um einen Fehler handelt, also im Rekurs auf die Eigenschaften unserer moralischen Sensibilität. Diese zeichnet sich, wie wir gesehen haben, dadurch aus, dass sie einen funktionalen Zusammenhang zwischen einer spezifischen Ereigniskonstellation und einer moralischen Reaktion herstellt.70 Deshalb ist einer jeden solchen Konstellation eine und nur eine moralische Reaktion zugeordnet. Würde S (1) und (2) akzeptieren und gleichzeitig (3) zurückweisen, so wäre dies ein Hinweis darauf, dass ihre moralische Sensibilität durch eine fehlerbehaftete Input/-Output-Funktion (flawed input/output function) definiert ist.71 Wenn aber der Fehler, den die Person S begeht, durch eine irregeleitete moralische Sensibilität generiert wird, dann handelt es sich dabei nicht um einen logischen, sondern um einen moralischen Fehler.72 Kritikwürdig sind demnach nicht die mangelnden logischen oder epistemischen Fähigkeiten der Person, sondern ein Defizit ihrer moralischen Sensibilität. Aus diesem Grund kann Blackburn die in Annahme [III] ausgedrückte Intuition in seine Theorie nicht integrieren. Diese Zurückweisung von [III] ist aber ohne Zweifel unplausibel. Eine Person, die einen Schluss nicht zieht bzw. eine Inkonsistenz nicht bemerkt, begeht einen logischen bzw. epistemischen Fehler – aber sie ist nicht in moralischer Hinsicht zu kritisieren. Wie sich also zeigt, kann man auf der Grundlage von Blackburns „Logik der Pro-Einstellungen“ nicht zwischen moralischer Rechtfertigung und epistemischer Rechtfertigung unterscheiden. Will man aber kognitivistische Intuitionen in den Nonkognitivismus integrieren, so wäre gerade dies die Aufgabe 70 Siehe dazu die Darstellung von Blackburns Theorie der moralischen Sensibilität im Abschnitt 3.3.1.1 dieses Kapitels. 71 Blackburn 1984, 194. 72 Auf dieses Problem haben auch Hale (1993, 344) und Wright (1996, 4) hingewiesen.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

225

gewesen. Indirekt hat dieses Ergebnis auch Implikationen für die Annahme [II]. Soeben hatten wir Blackburn zugestanden, dass er mit seiner expressivistischen Semantik eine Schlussregel rekonstruiert hat, die zumindest analog zum modus ponens interpretiert werden kann. Vor dem Hintergrund des letzten Arguments ist jedoch auch dies fragwürdig. Denn wie sich zeigt, sind die Analogien zu logischen Beziehungen begrenzt. Die Unfähigkeit, einen logischen Schluss korrekt zu ziehen, würde man einer Person nicht als moralisches Versagen anrechnen. Dass uns nach Blackburn unsere moralische Sensibilität dazu befähigen soll, korrekt zu schließen, ist ein sicherer Hinweis darauf, dass sich die von ihm konstruierten Beziehungen zwischen Pro-Einstellungen in signifikanter Weise von inferentiellen Beziehungen unterscheiden. Stellt man nun die Beziehung zu Blackburns Explikation des Kohärenzbegriffs her, so zeigt sich die folgende Konsequenz: Eine Inkohärenz im System moralischer Einstellungen würde ein moralisches Problem darstellen. Kohärenz wäre demnach ein moralischer Wert. Auch diese Konsequenz macht wiederum darauf aufmerksam, dass der Rechtfertigungsbegriff, auf den sich Blackburn hier zu berufen scheint, nicht vom Begriff moralischer Rechtfertigung abgrenzbar ist. Es muss also festgehalten werden, dass Blackburn tatsächlich keine überzeugende Antwort auf die Frage zu geben vermag, wie im Rekurs auf seinen Kohärenzbegriff der Wahrheitsbegriff definiert werden könnte. Wie im Rahmen der kritischen Bewertung seiner Theorie im Abschnitt 3.3.1.3 gezeigt wurde, ist für seine Kohärenztheorie der Wahrheit die Annahme entscheidend, dass es auch im Nonkognitivismus kohärenzstiftende Beziehungen gibt, die zumindest in Analogie zu inferentiellen Beziehungen charakterisiert werden können. Die Diskussion von Blackburns Lösungsvorschlag zeigt meines Erachtens, dass der Versuch, den modus ponens mit Hilfe einer expressivistischen Semantik zu rekonstruieren, massiven Einwänden ausgesetzt ist. Es ist nicht erkennbar, wie diese auf der Grundlage des Nonkognitivismus ausgeräumt werden

226

3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

könnten.73 Für das gegenwärtige Argumentationsziel folgt daraus, dass der Nonkognitivist in seine Metaethik keine Theorie der Verknüpfung moralischer Pro-Einstellungen durch inferentielle Beziehungen inkorporieren kann. Will er einen Kohärenzbegriff vertreten, so ist er deshalb dazu gezwungen, die kohärenzstiftenden Beziehungen zwischen Pro-Einstellungen (so es sie denn gibt) in anderer Weise zu rekonstruieren. Wie die Diskussion zeigt, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erkennen, wie eine expressivistische „Logik der Pro-Einstellungen“ grundlegende kognitivistische Intuitionen zu inferentiellen Beziehungen integrieren soll. Zum Abschluss des Kapitels wende ich mich der Frage nach der theoretischen Reichweite der Implikationen des Frege-Geach-Punkts zu. 3.4.4 Der Frege-Geach-Punkt: Ein schlagender Einwand gegen den Nonkognitivismus? Es wurde bereits erwähnt, dass der Frege-Geach-Punkt häufig als schlagender Einwand gegen den Nonkognitivismus angesehen wird. Auf den ersten Blick mag einiges für eine so starke Interpretation dieses Arguments sprechen. So macht der FregeGeach-Punkt auf eine Eigenschaft nonkognitivistischer Ansät73 Es gibt zwar aktuelle Ansätze, in denen versucht wird, den FregeGeach-Punkt mit den Mitteln einer expressivistischen Semantik zu entkräften. So vertritt z. B. Ridge (2006) einen „ökumenischen Expressivismus“ (ecumenical expressivism), mit dem er die Problematik des Frege-Geach-Punkts umgehen will. Die Kernthese von Ridges ökumenischem Expressivismus besagt aber, dass sich in moralischen Äußerungen Pro-Einstellungen und Überzeugungen ausdrücken: „Ecumenical Views insist that moral utterances express both beliefs and desires“ (Ridge 2006, 333). Ridges Strategie besteht also darin, die zentrale These des Nonkognitivismus aufzugeben. Kognitivismus und Nonkognitivismus stellen nach Ridge keine echten Alternativen dar; seiner Meinung nach handelt es sich um eine verfehlte Dichotomie (Ridge 2006, 305). Aus diesem Grund stellt Ridges Vorschlag keine Erwiderung auf den Frege-Geach-Punkt dar, die innerhalb der nonkognitivistischen Tradition zu lokalisieren ist.

3.4 Das Problem des Inhalts kohärenzstiftender Beziehungen

227

ze in der Metaethik aufmerksam, die auch vielen Nonkognitivisten selbst nicht akzeptabel erscheint. Er zeigt, dass der Nonkognitivismus eine bei weitem stärker revisionistisch ausgerichtete Theorie ist, als es viele ihrer Vertreter annehmen wollen. Ein Nonkognitivist, so hat sich gezeigt, geht davon aus, dass uns unsere Intuitionen zur Moralsprache systematisch in die Irre führen, wenn wir sie daraufhin befragen, was moralische Argumente bzw. was moralische Schlussfolgerungen sind. Wenn dies aber stimmt, dann gibt es zwischen moralischen Aussagen keine inferentiellen Beziehungen. Mit moralischen Äußerungen stellen wir weder Behauptungen auf noch drücken wir mit ihnen Überzeugungen aus. Wie der Frege-Geach-Punkt zeigt, kann sich ein Nonkognitivist nicht ohne weiteres auf dieses kognitivistische Vokabular berufen. Es ist also durchaus unklar, in welchem Sinn ein Nonkognitivist wie Blackburn von moralischer Wahrheit sprechen kann. Letztlich muss er sich die Frage gefallen lassen, auf welcher Grundlage und mit welchem Ziel er überhaupt für oder gegen moralische Auffassungen argumentiert, Gründe anführt, Kritik anbringt und Rechtfertigungen verlangt. Dies ist eine berechtigte Frage, auf die, wie gezeigt worden ist, nur schwerlich eine überzeugende Antwort gegeben werden kann. Trotzdem ist der Nonkognitivismus dadurch meines Erachtens nicht endgültig widerlegt. Für einen Vertreter des Nonkognitivismus, der zu dieser Form des Revisionismus steht, stellt sich die Problematik des Frege-Geach-Punkts nicht. Dieser richtet sich ja lediglich gegen Nonkognitivisten, die kognitivistische Intuitionen in ihre Metaethik integrieren wollen. Der Frege-Geach-Punkt bezieht seine Schlagkraft daraus, dass er von drei kognitivistischen Intuitionen ausgeht, die auch die meisten Nonkognitivisten nicht bestreiten. Die dargestellte Argumentation hat aber gezeigt, dass ein Nonkognitivist mit seiner Rekonstruktion der Moralsprache – ob er will oder nicht – darauf festgelegt ist, die Annahmen [I] bis [III] abzulehnen. Es bleibt jedoch dahingestellt, ob dies schon einen hinreichenden Grund dafür darstellt, den Nonkognitivismus als Theorie der Metaethik gänzlich zu verwerfen. So darf nicht übersehen

228

3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

werden, dass der Nonkognitivist auch auf Stärken seiner Theorie verweisen kann, die trotz dieses starken Revisionismus ungemindert bestehen bleiben. Zu nennen wären hier die ontologische Sparsamkeit dieser Metaethik und deren Fruchtbarkeit für die Lösung des Problems moralischer Motivation. Da der Nonkognitivist annimmt, dass es sich bei moralischen Pro-Einstellungen um wunschähnliche Einstellungen handelt, kann er die Frage danach, ob diese grundsätzlich ein Motiv für moralisches Handeln darstellen können, leichter beantworten als ein Kognitivist. Dieser geht ja von der Existenz moralischer Überzeugungen aus, die motivational zunächst neutral sind.74 Wichtig für die kritische Auseinandersetzung mit nonkognitivistischen Theorien wird der Frege-Geach-Punkt genau dann, wenn deren Vertreter den Anspruch erheben, in ihre Theorien kognitivistische Elemente integrieren zu können. Dieser Anspruch allerdings, das hat die bisherige Argumentation belegt, ist im nonkognitivistischen Lager durchaus verbreitet. Dem Kohärenzbegriff wird bei diesem Unternehmen nicht selten eine Schlüsselrolle zugeschrieben. Hier setzt der Frege-Geach-Punkt nonkognitivistischen Intentionen enge Grenzen, die in der gegenwärtigen Debatte oft übersehen werden.

3.5 Fazit Die Diskussion nonkognitivistischer Rekonstruktionen des Kohärenzbegriffs hat gezeigt, dass es sich dabei um einen inhaltlich grundlegend anders konzipierten Begriff handelt als im Kognitivismus. Zwar hat dieser Kohärenzbegriff oberflächlich betrachtet einiges mit dem kognitivistischen Kohärenzbegriff der Theorie epistemischer Rechtfertigung gemeinsam: Hier wie dort spricht man von Konsistenz und Rechtfertigung, verweist auf das Ziel der Wahrheit, appelliert an die Intuition, dass die Kohärenz eines Systems mit dem Grad ihrer Vernetztheit an74 Siehe dazu z. B. Scarano (2001, 134–139).

229

3.5 Fazit

steigt etc. Trotzdem hieße es zwei verschiedene Kohärenzbegriffe miteinander zu verwechseln, würde man davon ausgehen, dass im Kognitivismus und im Nonkognitivismus letztlich derselbe Kohärenzbegriff vertreten wird. Eine solche Verwechslung liegt prima facie durchaus nahe. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Bei den Kriterien, die den Kohärenzbegriff definieren, gibt es oberflächlich betrachtet tatsächlich Parallelen. Bei näherer Analyse stellt sich jedoch heraus, dass diese zumindest teilweise nur scheinbar bestehen. Der Eindruck von Übereinstimmung ergibt sich dabei wiederum durch die Mehrdeutigkeit der verwendeten Terme. Dies sei am Beispiel des Wortes „Konsistenz“ illustriert: Zwar berufen sich sowohl Blackburn als auch Scarano auf einen Konsistenzbegriff. Keiner dieser Begriffe aber kann mit dem Konsistenzbegriff, der im Kognitivismus einschlägig ist, identifiziert werden. Blackburn rekonstruiert ihn vielmehr mit Hilfe seiner expressivistischen Semantik, Scarano mit dem Verweis auf die handlungsleitende Kraft von Pro-Einstellungen. Diese Äquivokation vererbt sich auf die Semantik des hier thematischen Kohärenzbegriffs, der mit Hilfe dieses Konsistenzbegriffs definiert werden soll. Dass es sich aber tatsächlich um einen Kohärenzbegriff handelt, der vom kognitivistischen Kohärenzbegriff zu unterscheiden ist, lässt sich anhand der beiden Leitfragen nachweisen, die in dieser Untersuchung zugrundegelegt werden. Ein Nonkognitivist ist, sofern er die Grundannahmen der von ihm vertretenen Theorie ernst nimmt, auf einen Kohärenzbegriff festgelegt, der sich sowohl hinsichtlich der Gegenstände, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, als auch hinsichtlich der kohärenzstiftenden Beziehungen von dem im Kognitivismus vertretenen Begriff unterscheidet. Tabelle 3.3 Vergleich des kognitivistischen und des nonkognitivistischen Kohärenzbegriffs Gegenstände Beziehungen

Kognitivismus Überzeugungen inferentielle Beziehungen (deduktive und induktive)

Nonkognitivismus Pro-Einstellungen ? (Blackburns Projekt?)

230

3. Ein nonkognitivistischer Ansatz

Der kognitivistische Kohärenzbegriff ist somit im Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik nicht auf den Bereich der Moral anwendbar. Erstens behaupten Nonkognitivisten, dass es keine moralischen Überzeugungen gibt, sondern dass sich in moralischen Äußerungen Pro-Einstellungen ausdrücken. Zweitens gelingt es ihnen nicht zu zeigen, dass zwischen diesen ProEinstellungen inferentielle Beziehungen oder entsprechende Analoga existieren. Diese Unterschiede rechtfertigen es, hier von zwei unterschiedlichen Kohärenzbegriffen zu sprechen. Dabei ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt offen, wie sich die kohärenzstiftenden Beziehungen im Nonkognitivismus adäquat charakterisieren lassen. Nonkognitivisten wie Blackburn und Scarano legen zwar den Eindruck nahe, als könnten mit dem Kohärenzbegriff ähnliche oder gar dieselben theoretischen Ziele verbunden werden wie im Kognitivismus. Wie gezeigt worden ist, kann dieses Projekt jedoch nicht überzeugen. Anhand des Frege-GeachPunkts wurde nachgewiesen, dass diese theoretischen Zielsetzungen bei der Einführung des Kohärenzbegriffs zumindest bisher nicht befriedigend begründet werden können. Die Diskussion der beiden Rekonstruktionsansätze von Blackburn und Scarano hat auch gezeigt, dass die Explikation des nonkognitivistischen Kohärenzbegriffs noch nicht so weit entwickelt ist wie die des kognitivistischen Kohärenzbegriffs. Hierfür mag es verschiedene Gründe geben. Ein wichtiger Aspekt ist bestimmt, dass die Explikation des kognitivistischen Kohärenzbegriffs aufgrund von dessen Verankerung in einer Theorie der epistemischen Rechtfertigung erheblich von Ergebnissen aus der theoretischen Philosophie profitieren kann. Ein weiterer Aspekt besteht darin, dass manche Nonkognitivisten die Defizite in der Explikation nicht erkennen, weil sie meinen, sich in legitimer Weise auf die Debatten innerhalb des Kognitivismus und in der theoretischen Philosophie berufen zu können. Ein besonderes Desideratum bleibt deshalb die inhaltliche Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen im

3.5 Fazit

231

Nonkognitivismus. Auch wenn mit Blackburns Projekt einer expressivistischen Semantik ein erster Ansatz dazu vorliegt, muss festgestellt werden, dass die Entwicklung seiner „Logik der Pro-Einstellungen“ zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch in den Kinderschuhen steckt und ihre Erfolgsaussichten vor dem Hintergrund der starken Einwände zurückhaltend zu bewerten sind. Wenn zwischen Pro-Einstellungen Beziehungen existieren, die im Sinne von inferentiellen Beziehungen gedeutet werden können, so müssen diese formal anders konzipiert werden, als es von Expressivisten bisher vorgeschlagen worden ist. Blackburns erklärtes Ziel besteht darin, mit seinem quasirealistischen Programm dem Kognitivisten „die Kleider zu stehlen“, d. h. die kognitivistischen Oberflächeneigenschaften der Moralsprache in einer antirealistischen Metaethik zu rekonstruieren. Gegenwärtig gerät das Projekt der expressivistischen Semantik aber in Schwierigkeiten, sobald es für sich in Anspruch nimmt, die kognitivistischen Anleihen zu rechtfertigen. Zudem ergibt sich der Verdacht, dass Nonkognitivisten wie Scarano faktisch an den kognitivistischen Kohärenzbegriff appellieren, ohne dessen Anwendbarkeit im Rahmen des Nonkognitivismus zu begründen. Eine einfache Übertragung des kognitivistischen Kohärenzbegriffs in den Nonkognitivismus ist aus den angeführten Gründen nicht möglich. Mit diesem skeptischen Fazit schließe ich die Diskussion der rechtfertigungstheoretischen Kohärenzkonzeptionen im Kognitivismus und im Nonkognitivismus ab. Diese beherrschen einen erheblichen Anteil der Debatte um den Kohärenzbegriff in der Ethik. Es handelt sich aber bei weitem nicht um die einzigen Verwendungen des Kohärenzbegriffs. Ein weiterer Kohärenzbegriff wird im Kontext der Theorie moralischer Motivation diskutiert. Wenden wir uns nun diesem dritten Kohärenzbegriff in der Ethik zu.

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz: Kohärenz als notwendige Bedingung für die motivierende Kraft moralischer Gründe 4.1 Einleitung Die Theorie moralischer Motivation stellt eine dritte Theorietradition innerhalb der Ethik dar, in der ein Kohärenzbegriff entwickelt wurde. Der Grundbegriff der Theorie moralischer Motivation ist der Begriff des Handlungsgrundes1 und die leitende Problemstellung der Theorie moralischer Motivation besteht in der Aufklärung der Beziehung zwischen unseren moralischen Gründen und unserem Handeln. Es ist weithin unbestritten, dass moralische Gründe eine praktische Relevanz haben: Moralische Gründe sind Gründe zu handeln. Wenn aber moralische Gründe Handlungsgründe sind, dann muss mit diesen Gründen eine motivierende Kraft verbunden sein. Diesbezüglich unterscheiden sich moralische Gründe von anderen Gründen, z. B. von epistemischen Gründen. Illustrieren wir diese Differenz an einem Beispiel: Epistemische Gründe stellen Gründe für die Übernahme von Überzeugungen dar. Sehe ich, dass draußen die Sonne scheint, so 1 Ich orientiere mich hier an dem Sprachgebrauch, der in der Theorie moralischer Motivation üblich ist. Dies stellt in Bezug auf die bisher in dieser Untersuchung verwendete Terminologie einen Kontrast dar. Die Beziehungen des Begriffs des Handlungsgrundes zu dem bisher verwendeten Vokabular werden jedoch an geeigneter Stelle erläutert. Insbesondere die Beziehungen zwischen Handlungsgründen und propositionalen Einstellungen werden im Abschnitt 4.2 ausführlich dargestellt.

234

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

habe ich einen epistemischen Grund zu glauben, dass draußen die Sonne scheint – dies muss mich aber nicht zu einer Handlung motivieren. Vielmehr kann ich mich gegenüber dieser Erkenntnis (wie gegenüber vielen anderen Erkenntnissen) motivational indifferent verhalten. Bei moralischen Gründen ist dies anders. Wenn wir anerkennen, dass es für die Rettung Schiffbrüchiger einen moralischen Grund gibt, so ist dies ein Handlungsgrund – in diesem Fall eben ein Grund dafür, die Schiffbrüchigen zu retten. Deshalb muss es eine Verbindung zwischen dem moralischen Grund und dem entsprechenden Motiv zu handeln geben. Dass eine solche Verbindung zwischen moralischen Gründen und Handlungsmotiven besteht, wird in der gegenwärtigen Theorie moralischer Motivation allgemein akzeptiert. Dagegen ist umstritten, wie der Status dieser Beziehung aussieht. Wie ist die Beziehung zwischen moralischen Gründen und unseren Handlungsmotiven zu charakterisieren? In der Theorie moralischer Motivation lassen sich hinsichtlich dieser Streitfrage grundsätzlich zwei Positionen unterscheiden: der motivationstheoretische Internalismus und der motivationstheoretische Externalismus. Internalisten vertreten die Auffassung, dass zwischen moralischen Gründen und Handlungsmotiven eine notwendige bzw. begriffliche Beziehung besteht. Dies wird von Externalisten bestritten. Externalisten versuchen, der oben angeführten Intuition gerecht zu werden, indem sie annehmen, es gebe einen empirisch vermittelten Mechanismus, der die Verbindung zwischen moralischen Gründen und Handlungsmotiven herstelle. Ein Vertreter dieser Position ist z. B. Peter Schaber: Moralische Urteile haben nicht notwendigerweise einen praktischen Charakter. […] Dasselbe gilt auch für die Gründe, die wir haben, moralisch zu handeln. Wir haben solche Gründe, weil wir […] die entsprechenden moralischen oder nicht-moralischen Wünsche oder Interessen haben. […] Der Externalist unterstellt nicht, daß alle Menschen solche Wünsche haben. Im Gegenteil. […] Es wäre […] durchaus auch eine Welt denkbar, in der niemand die erwähnten Wünsche hätte. Wir leben ganz offensichtlich nicht in einer solchen Welt. Dafür mag die soziale Umwelt oder ein natürliches Mitleid verantwortlich sein. (Schaber 1997, 186–187)

4.1 Einleitung

235

Die praktische Kraft moralischer Gründe verdankt sich demnach nicht begrifflichen Beziehungen, sondern dem Bestehen bestimmter kontingenter Randbedingungen in unserer Welt. Zur Verteidigung dieser Behauptung kann der Externalist darauf verweisen, dass moralische Gründe notwendig normative Gründe, d. h. gute Gründe zu handeln sein müssen und dass analytisch zwischen motivierenden Gründen und normativen Gründen zu unterscheiden ist. Diese Unterscheidung ist für die Debatte um Internalismus und Externalismus grundlegend. Um diese Differenz zu verdeutlichen, wird ein zunächst nicht-moralisches Beispiel vorgestellt, das Bernard Williams entlehnt ist.2 Wir nehmen an, eine Person sitzt an einem Tisch und vor ihr steht ein gefülltes Glas. Die Person hat Durst und sie glaubt, dass es sich bei der Flüssigkeit in dem Glas um Apfelsaft handelt. Somit ist die Person ceteris paribus motiviert (hat die Person einen motivierenden Grund) aus dem Glas zu trinken. Tatsächlich aber handelt es sich bei der Flüssigkeit im Glas nicht um Apfelsaft, sondern um Benzin. Von einer externen Perspektive würde man also sagen, dass eine Person zwar glauben mag, dass sie einen Grund habe, aus dem Glas zu trinken. Tatsächlich aber hat sie keinen Grund dazu. Im Gegenteil: Die Tatsache, dass in dem Glas Benzin ist, stellt einen guten Grund (einen normativen Grund) dafür dar, nicht aus dem Glas zu trinken.3 2 Williams 1981, 102. 3 In der Debatte sind verschiedene Präzisierungen dieser grundlegenden Unterscheidung prominent: Williams unterscheidet zwischen internen und externen Gründen. Eine Person mag intern Gründe dafür haben, aus dem Glas zu trinken, obwohl aus einer externen Perspektive Gründe vorliegen, die dagegen sprechen (Williams 1981). Alternativ lässt sich die Unterscheidung durch den Verweis auf die Begriffe Erklärung und Rechtfertigung präzisieren: Es mag in diesem Fall Gründe geben, die erklären, dass die Person aus dem Glas trinkt, aber keine Gründe, die diese Handlung rechtfertigen (Dancy 2000, 8– 10). Im Folgenden wird Michael Smiths Terminologie verwendet, der zwischen motivierenden Gründen und normativen Gründen unterscheidet (Smith 1994, 94–98).

236

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Dem Externalisten spielt diese Distinktion zwischen motivierenden und normativen Gründen in die Hände. Er besteht ja gerade darauf, dass es normative Gründe zu handeln geben kann, die aber aufgrund bestimmter kontingenter Randbedingungen nicht motivierend wirken. Versteht man moralische Gründe als normative Gründe, so ist es demnach keineswegs ausgemacht, dass mit diesen notwendig eine motivierende Kraft verbunden sein muss. Empirisch kontingente Umstände (hier das fehlende Wissen um den Inhalt des Glases) können dazu führen, dass gute Gründe zu handeln vorliegen, die aber nicht motivierend wirken. Michael Smith hat eine Kohärenztheorie moralischer Motivation entwickelt, um dieser externalistischen Herausforderung zu begegnen. Seine Argumentationsstrategie lässt sich dabei wie folgt zusammenfassen: Er akzeptiert zunächst die Unterscheidung zwischen motivierenden und normativen Gründen und versucht dann durch den Verweis auf einen spezifischen Kohärenzbegriff zu zeigen, dass auch normative Gründe4 notwendig motivierend wirken. In seinem Buch The moral problem hat er die Grundlinien dieser Argumentation entwickelt.5 Bereits dort verwies er auf einen Kohärenzbegriff; allerdings spielte dieser in The moral problem noch keine tragende Rolle. Mittlerweile hat Smith seine Theorie ausgearbeitet und verändert, so dass in seinen aktuellen Arbeiten eine Kohärenztheorie motivierender Gründe und eine Kohärenztheorie normativer Gründe zu unterscheiden sind. In beiden Theorieteilen lässt sich ein Kohärenzbegriff identifizieren, den Smith jedoch nicht sehr ausführlich entwickelt. Dieses Kapitel dient der Rekonstruktion der 4 In Smiths Theorie stellen moralische Gründe eine Subklasse normativer Gründe dar. Im Anschluss an Smith verwende ich den Term „normative Gründe“ hier in genau diesem Sinn: Alle Aussagen, die über normative Gründe getroffen werden, gelten auch für moralische Gründe. 5 Smith 1994.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

237

beiden Kohärenztheorien und der darin eingeführten Kohärenzbegriffe. Ich untersuche dabei zunächst Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe und analysiere ihre metaethischen Voraussetzungen (4.2). Danach wird Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe diskutiert. Es wird nachgezeichnet, wie Smith den Kohärenzbegriff einsetzt, um den motivationstheoretischen Internalismus zu verteidigen (4.3). Wie sich dabei zeigen wird, lassen sich bei Smith zwei verschiedene Kohärenzbegriffe unterscheiden. Keiner von diesen ist mit dem Kohärenzbegriff der Theorie epistemischer Rechtfertigung oder mit dem im nonkognitivistischen Ansatz vertretenen Begriff identifizierbar. Als Ergebnis zeigt sich, dass Smiths anspruchsvolles Projekt, den motivationstheoretischen Internalismus kohärentistisch zu begründen, letztlich allerdings nicht überzeugen kann.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe Mit der Analyse motivierender Gründe hat sich Michael Smith in einer ganzen Reihe seiner Untersuchungen zur Metaethik und zur Handlungstheorie auseinandergesetzt.6 Allerdings hat er erst in neuerer Zeit seine Theorie motivierender Gründe zu einer Theorie instrumenteller Rationalität ausgebaut.7 Diese Ausarbeitung ist im vorliegenden Kontext deshalb von Interesse, weil darin ein Kohärenzbegriff eine tragende Rolle spielt. Smiths aktuelle Theorie instrumenteller Rationalität bleibt dabei seiner Analyse motivierender Gründe verpflichtet, die er bereits in früheren Publikationen dargestellt hat und die im Grundsatz auf Humes Motivationstheorie aufbaut. Deshalb wird zunächst Smiths Interpretation der Grundthesen von Humes Theorie dargestellt (4.2.1). Dann wird auf Smiths neuerdings entwickelte Theorie instrumenteller Rationalität eingegangen, wobei vor 6 Smith 1987, 1994, Kap. 3, 2003, 2004b. 7 Smith 2004a.

238

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

allem gezeigt wird, welche Rolle der Kohärenzbegriff in dieser Theorie spielt (4.2.2). Besonders unscharf bleibt bei Smith dabei die Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen. Vor dem Hintergrund seiner früheren Publikationen zur Theorie motivierender Gründe wird ein Vorschlag dazu entwickelt, wie diese Beziehungen inhaltlich zu charakterisieren sind (4.2.3). 4.2.1 Smiths Ausgangspunkt: Humes Motivationstheorie Smiths Analyse motivierender Gründe ist den Grundideen von Humes Motivationstheorie verpflichtet. In den gegenwärtigen Debatten um praktische Rationalität und um den Begriff der Handlungserklärung wird die Grundthese dieser Theorie gemeinhin folgendermaßen aufgefasst: Vernünftige Überlegung allein vermag nicht zum Handeln zu motivieren. Eine Person ist nur dann zum Handeln motiviert, wenn sie auch über einen handlungsrelevanten Wunsch (desire) verfügt. Diese Grundannahme kann man in unterschiedlicher Weise interpretieren. Deshalb wird im Folgenden zunächst Smiths Interpretation dieser Kernannahme dargestellt (4.2.1.1). Eine Schlüsselrolle spielt dabei der Begriff des handlungsrelevanten Wunsches, weshalb noch einige Bemerkungen zu Smiths Deutung des Wunschbegriffs angefügt werden (4.2.1.2). 4.2.1.1. Smiths Interpretation der Kernthese von Humes Motivationstheorie Smith selbst formuliert die Kernthese von Humes Theorie,8 auf die er sich im Rahmen seiner Analyse motivierender Gründe festlegt, wie folgt: 8 Smith erhebt nicht den Anspruch, dass seine Interpretation Humes Intentionen in allen Aspekten entspricht: „We are less interested in Hume’s view than in a Humean view […]“ (Smith 1994, 113). Smiths Interpretation von Humes Theorie ist dabei aber keineswegs idiosynkratisch. Vielmehr entspricht seine Interpretation der Position, die in der gegenwärtigen Debatte um praktische Rationalität meistens mit Hume verbunden wird. Railton (2006) hat die Divergenzen zwischen Humes Ansichten zu Motivation und dem rationalitätstheoretischen Humeanismus herausgearbeitet und vorgeschlagen, zwischen Humes

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

239

An agent is motivated to act in a certain way just in case she has an appropriate desire and a means-end belief, where beliefs and desire are, in Hume’s terms, distinct existences. (Smith 1994, 12)

Zu einer bestimmten Handlung motiviert ist eine Person demnach nur dann, wenn sie über einen entsprechenden Wunsch und eine Mittel-Ziel-Überzeugung verfügt. Es ist zu beachten, dass sich Smith damit nicht darauf festlegt, dass die Person die Handlung auch tatsächlich ausführt. Nicht jedes Handlungsmotiv ist direkt handlungswirksam. Wenn Smith davon spricht, dass eine Person motiviert ist zu handeln, so meint er damit lediglich, dass die Person einen motivierenden Grund hat zu handeln. Und nicht jeder motivierende Grund muss ein handlungswirksamer bzw. ein handlungsleitender Grund sein. Was aber sind motivierende Gründe, wenn nicht jeder motivierende Grund ein Handlungsauslöser ist? Dies lässt sich an Smiths Charakterisierung motivierender Gründe verdeutlichen: The distinctive feature of a motivating reason to is that, in virtue of having such a reason, an agent is in a state that is explanatory of her -ing, at least other things being equal – other things must be equal because an agent may have a motivating reason to without that reason’s being overriding. Given that an agent who has a motivating reason to is in a state that is in this way potentially explanatory of her -ing, it is thus natural to suppose that her motivating reason is itself psychologically real. […] [M]otivating reasons would seem to be psychological states, states that play a certain explanatory role in producing action. (Smith 1994, 96)

Motivierende Gründe sind also nach Smith mentale Zustände. Jeder motivierende Grund existiert demnach in dem Sinn, dass er in der Psychologie des Handelnden repräsentiert ist (psychologically real). Diese mentalen Zustände spielen nun eine Schlüsselrolle in Handlungserklärungen. Wenn aber Smith sagt, dass Theorie und dem neohumeanischen Rationalitätsmodell zu unterscheiden. Obwohl Smiths Ansatz letzterem entspricht, übernehme ich im Folgenden Smiths Terminologie und bezeichne das neohumeanische Rationalitätsmodell vereinfachend als „Humes Motivationstheorie“.

240

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

motivierende Gründe nur potentiell handlungserklärend (potentially explanatory) sind, dann bezieht er sich auf die bereits erwähnte Einschränkung, dass nicht jeder motivierende Grund handlungswirksam ist. Eine Person kann einen motivierenden Grund haben zu , ohne dass sie die Handlung faktisch ausführt. Motivierende Gründe sind also notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen für Handlungen. Damit ergibt sich die Frage, wie sich motivierende Gründe, die die Durchführung einer Handlung bewirken (producing action), von solchen unterscheiden lassen, bei welchen dies nicht der Fall ist. Eine Antwort auf diese Frage wird im obigen Zitat nur angedeutet: Ein motivierender Grund wird z. B. dann nicht handlungswirksam, wenn es andere Gründe gibt, die stärker sind. Offensichtlich müssen also weitere Bedingungen erfüllt sein, damit ein motivierender Grund faktisch eine Handlung auslöst. Wie aber sind diese Bedingungen zu spezifizieren? Genau auf diese Frage will Smith mit seiner Theorie instrumenteller Rationalität eine Antwort geben. Bevor wir uns jedoch dieser Frage zuwenden können, ist es nötig, Smiths Interpretation von Humes Motivationstheorie noch etwas eingehender darzustellen. Wichtig ist für Smith nämlich ein weiteres Element von Humes Theorie, das er in seiner Formulierung der Kernthese nur im Nebensatz erwähnt: Wünsche und Überzeugungen sind unterschiedliche Gegenstände (distinct existences). Damit will er nicht leugnen, dass Wünsche und Überzeugungen kontingenterweise gemeinsam auftreten können oder dass es vor dem Hintergrund bestimmter Überzeugungen rational sein kann, bestimmte Wünsche zu entwickeln. Vielmehr bezieht er sich damit auf ein Merkmal, das die Unterscheidung von Überzeugungen und Wünschen betrifft und das in dieser Untersuchung schon im Rahmen der Darstellung der begrifflichen Grundlagen des Nonkognitivismus angesprochen wurde:9 Wünsche und Überzeugungen sind nicht durch notwendige bzw. begriff9 Abschnitt 3.2.1.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

241

liche Beziehungen miteinander verbunden. Sie können unabhängig voneinander vorliegen und sind nicht aufeinander reduzierbar. Mit dem Erwerb einer Überzeugung geht niemals notwendig eine Festlegung auf einen Wunsch einher und mit dem Erwerb eines Wunsches ist nie notwendig die Festlegung auf eine Überzeugung verbunden.10 Smith erläutert die distinct existences-These durch den Verweis auf das Konzept der direction of fit. Dieses gegenwärtig breit diskutierte Konzept lässt sich in erster Annäherung folgendermaßen paraphrasieren. Während Überzeugungen darauf zielen, in Übereinstimmung mit der Welt zu sein, zielen Wünsche darauf, die Welt zu verändern. Was aber ist mit der Rede davon, dass Wünsche darauf zielen, die Welt zu verändern, genauer gemeint? Smith räumt selbst ein, dass das Konzept der direction of fit metaphorisch ist.11 Er meint aber, dass dieses Konzept in befriedigender Weise präzisiert werden kann und sich dann fruchtbar zur Explikation der distinct existences-These einsetzen lässt. Er beansprucht, dies durch die Entwicklung seiner dispositionalen Auffassung von Wünschen zu zeigen. Was also verbirgt sich bei Smith hinter dem Konzept der direction of fit? Um diese Frage zu klären, wenden wir uns Smiths Explikation des Wunschbegriffs ausführlicher zu. 4.2.1.2. Einige Bemerkungen zu Smiths Wunschbegriff Smith unterscheidet eine phänomenologische und eine dispositionale Auffassung von Wünschen. Ich skizziere zunächst die phänomenologische Auffassung und referiere Smiths Kritikpunkte an dieser Auffassung. Dann stelle ich dar, warum Smith meint, dass die von ihm vertretene dispositionale Auffassung von Wünschen diesen Problemen nicht ausgesetzt ist. 10 S. dazu Smith (1994, 119–120). Auf die Zweifel, die man hinsichtlich der strikten Geltung dieser These haben kann, wurde bereits im Abschnitt 3.2.1 dieser Untersuchung eingegangen. 11 Smith 1994, 112.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Gemäß der phänomenologischen Auffassung sind Wünsche mit Gefühlen und Sinnesempfindungen identifizierbar und sie sind wie diese durch einen „phänomenologischen Gehalt“ gekennzeichnet.12 Wünsche wären demnach (vergleichbar z. B. dem Gefühl des Ärgers oder einer Schmerzempfindung) wesentlich durch eine für ihren Inhaber direkt wahrnehmbare emotionale Qualität charakterisiert. Im Rahmen dieser Auffassung wird auf diese emotionale Qualität verwiesen, um die motivierende Kraft von Wünschen zu erklären: Wer einen Wunsch hat, empfindet eine Leidenschaft (passion) und strebt deshalb danach, in bestimmter Weise zu handeln. Die phänomenologische Auffassung von Wünschen ist in der Tradition ohne Zweifel prominent. Smith selbst schreibt sie Hume zu. Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, ist sie in der Metaethik innerhalb der emotivistischen Strömung des Nonkognitivismus weit verbreitet. Dort wurden Wünsche in die Klasse emotiver Pro-Einstellungen eingeordnet. Diese Einstellungen zeichnen sich per definitionem durch eine emotional gefärbte Erlebnisqualität aus, die in entsprechenden Situationen handlungsmotivierend wirksam werden kann.13 Smith hält die phänomenologische Auffassung von Wünschen nun aus mindestens drei Gründen für inadäquat: Erstens meint er, sie sei unverträglich mit der allgemein (auch unter Emotivisten) akzeptierten Idee, dass es sich bei Wünschen um propositionale Einstellungen handelt. Denn Sinnesempfindungen 12 So charakterisiert Smith selbst die phänomenologische Auffassung, die er manchmal auch als starke phänomenologische Auffassung (strong phenomenological conception of desire) bezeichnet, folgendermaßen: „Desires are, like sensations, simply and essentially states that have a certain phenomenological content“ (Smith 1994, 105). 13 So meint Ayer, dass der Ausdruck moralischer Billigung (moral approval) immer von einem bestimmten Gefühl begleitet ist („attended by certain feelings“, Ayer 21946, 107), das handlungsmotivierend wirken kann. Und Stevenson ordnet – unter anderem – auch Wünsche (desires) der Klasse emotiver Einstellungen (emotive attitudes) zu (Stevenson 1944, 3).

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

243

(wie Schmerz) oder Gefühle haben keinen propositionalen Gehalt. Ascriptions of desires, unlike ascriptions of sensations, may be given in the form ‘A desires that p’, where ‘p’ is a sentence. Thus, whereas A’s desire to may be ascribed to A in the form ‘A desires that she s’, A’s pain cannot be ascribed to A in the form ‘A pains that ’. (Smith 1994, 107)

Zweitens, so Smith, ist die phänomenologische Auffassung auch phänomenologisch inadäquat. Er will damit sagen, dass sie die im common sense akzeptierte Auffassung von Wünschen nicht angemessen wiedergibt. Normalerweise gehen wir nämlich davon aus, dass ein Wunsch nicht notwendigerweise mit dem Vorliegen eines Gefühls verbunden ist. So können Wünsche langfristig bestehen, ohne dabei ständig durch ein entsprechendes Gefühl begleitet zu sein. Ein Vater kann z. B. den Wunsch haben, dass es seinen Kindern gut gehen möge. Dieser Wunsch kann selbstverständlich zur Genese von Gefühlen führen (z. B. wenn den Kindern etwas zustößt oder der Vater sich ihre Verletzlichkeit oder Gefährdung bewusst macht). Wir würden aber nicht sagen, dass der Vater den Wunsch verliert, sobald er diese Gefühle aktuell nicht mehr empfindet.14 Es kommt hinzu, dass selbst in Situationen, in denen ein Wunsch aktualisiert und handlungsmotivierend wirksam wird, nicht notwendig eine emotionale Qualität mit ihm verbunden sein muss. Man denke an Fälle kühler, nicht-emotionaler Handlungsmotive, wie z. B. an den Wunsch, eine Straße zu überqueren oder einen Satz in den Computer zu tippen.15 Drittens schließlich ist nach Smith mit der phänomenologischen Auffassung die Festlegung auf eine unplausible Epistemologie von Wünschen verbunden. So ist zwar unstrittig, dass Gefühle und Empfindungen demjenigen, der sie hat, epistemisch unmittelbar zugänglich sind: Schmerzen hat man genau dann, wenn 14 Smith 1994, 109. 15 Smith 1987, 48.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

man glaubt, Schmerzen zu haben. Ärgerlich ist man genau dann, wenn man glaubt, ärgerlich zu sein. Für Wünsche aber, so Smith, gilt dies nicht. Das Prinzip „Eine Person wünscht, dass p, genau dann, wenn eine Person glaubt zu wünschen, dass p“ ist schlicht falsch. Wir können uns vielmehr über den Gehalt unserer Wünsche täuschen. Es lassen sich sowohl Beispiele dafür anführen, dass Personen Wünsche haben können, ohne sich diese bewusst zu machen (z. B. den Wunsch, sich bei seinem Vorgesetzten beliebt zu machen, weil dies der beruflichen Karriere förderlich sein könnte), und es gibt Beispiele dafür, dass Personen glauben, sich einen Wunsch zuschreiben zu können (z. B. mit dem Rauchen aufhören, mehr Zeit für Freunde haben, mehr Sport treiben), ohne dass sie diesen Wunsch tatsächlich haben. Diese Argumente mögen kontrovers sein. Sie geben jedoch einen ersten Hinweis darauf, welche Vorstellung Smith selbst mit Wünschen verbindet: Er bezeichnet seine Explikation des Wunschbegriffs als dispositionale Auffassung von Wünschen. Wünsche sind demnach Dispositionen dazu, in seinem Handeln bestimmte Ziele anzustreben. Den Grundgedanken der dispositionalen Auffassung entwickelt Smith nun aus der Idee der direction of fit. Erinnern wir uns: In der Erläuterung des Konzepts der direction of fit war der Begriff des Ziels bereits aufgetreten. Während Überzeugungen darauf zielen, in Übereinstimmung mit der Welt zu sein, zielen Wünsche darauf, die Welt zu verändern. Nach Smith lässt sich diese metaphorische Erläuterung explizieren, indem man Überzeugungen und Wünsche als zwei verschiedene Typen von Dispositionen auffasst, die sich in unserer Psychologie jeweils durch eine spezifische funktionale Rolle auszeichnen. For the difference between beliefs and desires in terms of direction of fit can be seen to amount to a difference in the functional roles of belief and desire. Very roughly, and simplifying somewhat, it amounts, inter alia, to a difference in the counterfactual dependence of a belief that p and a desire that p on a perception with the content that not p: a belief that p tends to go out of existence in the pre-

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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sence of a perception with the content that not p, whereas a desire that p tends to endure, disposing the subject in that state to bring it about that p. (Smith 1994, 115)

Wünsche und Überzeugungen stellen demnach zwei verschiedene Dispositionen eines Handelnden dar, auf die Wahrnehmung (perception) von Tatsachen zu reagieren. Eine Person würde eine Überzeugung aufgeben, wenn sie feststellt, dass diese nicht in Übereinstimmung mit den Tatsachen ist. Die Nichtübereinstimmung mit den Tatsachen würde aber keinen Grund dafür darstellen, einen Wunsch aufzugeben. Im Gegenteil. Hat eine Person einen Wunsch, so ist sie disponiert das Ziel anzustreben, die Welt ihrem Wunsch gemäß zu verändern. Nimmt die Person wahr, dass sich die Welt nicht in Übereinstimmung mit dem Wunsch befindet, so verfolgt sie in ihrem Handeln das Ziel, die Welt in entsprechender Richtung zu verändern. Der Begriff des Handlungsziels spielt somit in Smiths Explikation des Wunschbegriffs eine Schlüsselrolle: Eine Person hat den Wunsch, dass p, genau dann, wenn sie disponiert ist, nach einem Ziel, dass p, zu streben. Diese dispositionale Analyse von Wünschen stellt nach Smith eine tragfähige Grundlage für die Interpretation und Ausarbeitung von Humes Motivationstheorie dar. Erstens bietet die dispositionale Auffassung eine überzeugende Erklärung für die strikte Geltung der distinct existences-These. Zweitens erklärt sie, warum Wünsche ein notwendiger Bestandteil motivierender Gründe sind. Drittens schließlich ist sie keinem der drei Einwände ausgesetzt, die gegen die phänomenologische Auffassung von Wünschen sprechen. 1. Die dispositionale Auffassung erklärt, warum Wünsche und Überzeugungen verschiedene Gegenstände (distinct existences) sind. Gäbe es eine Disposition, die zugleich Überzeugung und Wunsch ist, so müsste zwischen der Überzeugung, dass p, und dem Wunsch, dass p, eine notwendige Beziehung bestehen. Legt man die dispositionale Auffassung zugrunde, so lässt sich zei-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

gen, dass die Annahme einer solchen Misch-Einstellung aus Wunsch und Überzeugung zu unplausiblen Konsequenzen führt. Stellen wir uns eine Person vor, die eine solche MischEinstellung aus Wunsch und Überzeugung hat, dass p. Diese Person wird mit der Tatsache konfrontiert, dass non-p. Der Überzeugungsanteil dieser Einstellung würde nun darauf zielen, in Übereinstimmung mit der Welt zu sein, der Wunschanteil darauf, die Welt zu verändern. Nach der dispositionalen Auffassung müsste der Zustand einer Person, die über diese MischEinstellung verfügt, beschrieben werden wie folgt: Die Person müsste einerseits dazu tendieren, die Misch-Einstellung, dass p, aufzugeben, weil sie feststellt, dass non-p (Überzeugungsanteil); gleichzeitig müsste sie die Misch-Einstellung mit dem Ziel, die Welt in Richtung auf p zu verändern, beibehalten (Wunschanteil). Es ist schwer verständlich zu machen, wie ein derartig merkwürdiger Zustand inhaltlich charakterisiert werden sollte.16 Insofern bietet die dispositionale Auffassung eine Erklärung dafür, warum es sich bei Wünschen und Überzeugungen um verschiedenartige und analytisch unabhängige Einstellungen handeln muss. 2. Die dispositionale Auffassung erklärt, warum Wünsche ein notwendiger Bestandteil motivierender Gründe sind. Ohne Wünsche gäbe es keine Handlungsziele. Ein Ziel zu haben bedeutet nichts anderes, als danach zu streben, dass sich die Welt in Richtung auf dieses Ziel ändern möge. Erwirbt man außerdem die Überzeugung, dass die Welt de facto in einem anderen Zustand als dem angestrebten ist, so generiert der Wunsch einen motivierenden Grund, den Weltzustand in entsprechender Richtung zu verändern. For becoming apprised of the fact that the world is not as the content of your goal specifies suffices not for giving up that goal, it suffices rather for changing the world. (Smith 1994, 116–117) 16 Smith 1994, 118.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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Deshalb spielen Wünsche in der Analyse motivierender Gründe eine Schlüsselrolle, die ihrerseits eine notwendige Bedingung für die Erklärung von Handlungen darstellen. 3. Die dispositionale Auffassung ist keinem der drei Einwände ausgesetzt, die gegen die phänomenologische Auffassung von Wünschen sprechen.17 Erstens lässt sich mit Hilfe der dispositionalen Auffassung erklären, in welchem Sinn ein Wunsch einen propositionalen Gehalt hat. Dieser Gehalt wird eben genau durch die funktionale Rolle determiniert, die Wünsche in unserer Psychologie einnehmen. Nach Smith entspricht der propositionale Gehalt eines Wunsches dem durch den Wunsch gesetzten Ziel. Hat ein Handelnder den Wunsch, dass p, so strebt dieser Handelnde nach dem Ziel, dass p. Zweitens wird die kontraintuitive Konsequenz vermieden, dass Wünsche notwendig mit Gefühlen verbunden sind bzw. sogar wesentlich durch Gefühle konstituiert werden. Ein Wunsch stellt eine Disposition dar. Diese Disposition kann unter bestimmten Bedingungen aktualisiert werden und bestimmte Gefühle, Handlungen etc. verursachen. So kann mein Wunsch, dass es meinem Kind gut gehen möge, in einer Situation, in der mein Kind krank ist und ich ihm nicht helfen kann, zu Gefühlen der Angst, der Ohnmacht etc. führen. Der Wunsch selbst besteht aber als Disposition unabhängig von diesen temporär variierenden Emotionen. Drittens schließlich bietet die dispositionale Auffassung eine plausiblere Epistemologie von Wünschen als die phänomenologische Auffassung. Mit ihr lässt sich nämlich erklären, warum wir uns in Bezug auf unsere Wünsche täuschen können. Gemäß der dispositionalen Auffassung hat die Person S den 17 Ich beziehe mich im Folgenden auf die drei Einwände, die Smith gegen die phänomenologische Auffassung vorgebracht hat und die zu Beginn dieses Abschnitts referiert worden sind.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Wunsch, dass p, genau dann, wenn das folgende kontrafaktische Konditional wahr ist: Wenn die Person S wahrnehmen würde, dass non-p, dann würde sie das Ziel haben, die Welt so zu verändern, dass p. So wie sich eine Person bezüglich anderer Dispositionen täuschen kann, kann sie sich aufgrund kontingenter Randbedingungen auch in Bezug darauf täuschen, ob sie diese Disposition tatsächlich hat. Vielleicht ist sie lange nicht mehr mit der Situation, dass non-p, konfrontiert worden, und verfügt deshalb nur über unzureichende Informationen darüber, wie sie auf die Wahrnehmung, dass non-p, reagieren würde. Daher kann die Person durchaus die Überzeugung haben, dieses kontrafaktische Konditional sei wahr, ohne dass es tatsächlich wahr ist. Auch umgekehrt kann das Konditional wahr sein, ohne dass die Person davon überzeugt wäre. Die dispositionale Auffassung bietet somit auch einen Erklärungsansatz dafür, dass wir uns in Bezug auf unsere Wünsche täuschen können. Mit diesem Exkurs zu Smiths Explikation des Wunschbegriffs schließe ich die Darstellung seiner Interpretation der Humeschen Motivationstheorie ab. Wie sich zeigen wird, ist sowohl die Analyse motivierender Gründe als auch die Analyse des Wunschbegriffs wichtig für die Interpretation von Smiths Theorie instrumenteller Rationalität. Wenden wir uns nun der Frage zu, wie Smith seine Theorie instrumenteller Rationalität konzipiert. 4.2.2 Smiths Theorie instrumenteller Rationalität Smiths Theorie instrumenteller Rationalität lässt sich als Ausarbeitung bzw. Präzisierung seiner Theorie motivierender Gründe deuten. Wie Smith bereits in seiner Theorie motivierender Gründe festgestellt hatte, sind motivierende Gründe nur potentiell handlungserklärend.18 Nicht jeder motivierende Grund wird handlungswirksam. Motivierende Gründe sind demnach 18 Smith (1994, 96). Siehe dazu Abschnitt 4.2.1.1 dieses Kapitels.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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notwendige, aber nicht hinreichende Bedingungen für Handlungen. Damit stellt sich die Frage, welche Zusatzbedingungen ein motivierender Grund im einzelnen erfüllen muss, damit er handlungswirksam wird. Smith will mit seiner Theorie instrumenteller Rationalität genau diese Frage beantworten. Die engen Beziehungen zwischen seiner Theorie motivierender Gründe und der Theorie instrumenteller Rationalität werden zwar durch die Wahl der Terminologie zunächst verdeckt. Anhand des folgenden Zitats lassen sie sich jedoch ohne weiteres belegen: Actions are the product of instrumental desires that are complexes of suitably related non-instrumental desires and means-end beliefs of a particular kind. (Smith 2004a, 101, Herv. M. H.)

Vergleicht man das hier Gesagte mit der im vorigen Abschnitt dargestellten Interpretation von Humes Motivationstheorie, so fallen die engen Übereinstimmungen zwischen der Charakterisierung instrumenteller Wünsche (instrumental desires) und der Analyse motivierender Gründe auf. Zunächst sind instrumentelle Wünsche bei Smith keine reinen Wünsche. Vielmehr werden instrumentelle Wünsche – genau wie Smiths motivierende Gründe – durch Wünsche und Mittel-Ziel-Überzeugungen gebildet. Außerdem bewirken diese instrumentellen Wünsche wie motivierende Gründe Handlungen, spielen also ebenfalls eine Rolle in Handlungserklärungen. Und schließlich ist auch nicht jeder instrumentelle Wunsch unmittelbar handlungswirksam. Zwar sagt Smith im obigen Zitat, dass eine Handlung das Produkt eines instrumentellen Wunsches sei. Er spricht an dieser Stelle aber nicht über die Klasse aller instrumentellen Wünsche. Vielmehr deutet er zumindest zwei Zusatzbedingungen an, die erfüllt sein müssen, damit ein instrumenteller Wunsch eine Handlung erklärt. Erstens ist in der zitierten Textstelle nur von Mittel-Ziel-Überzeugungen einer bestimmten Art (of a particular kind) die Rede und nicht von beliebigen Mittel-Ziel-Überzeugungen. Zweitens entsteht ein handlungswirksamer instrumenteller Wunsch nur auf der Grundlage einer Klasse adäquat

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

miteinander in Beziehung gesetzter nicht-instrumenteller Wünsche (complexes of suitably related non-instrumental desires). Die Theorie instrumenteller Rationalität geht nun insofern über die Analyse motivierender Gründe hinaus, als Smith darin diese beiden Zusatzbedingungen expliziert, mit deren Hilfe sich direkt handlungswirksame instrumentelle Wünsche von solchen unterscheiden lassen, die nicht unmittelbar Handlungen erklären. Der zentrale Begriff, der dies leisten soll, ist dabei der Begriff der Kohärenz. Instrumental rationality is best understood as a requirement of coherence on an agent’s non-instrumental desires and means-end beliefs. (Smith 2004a, 93)

Smith spricht an dieser Stelle davon, dass Kohärenz eine Forderung (requirement) instrumenteller Rationalität darstelle. Auf den ersten Blick scheint sich damit ein Unterschied zur Analyse motivierender Gründe zu ergeben. Während es dort allein um die Erklärung von Handlungen ging, so wird hier mit Kohärenz plötzlich eine Bedingung eingeführt, die in einem noch näher zu spezifizierenden Sinn als normativ aufzufassen ist. Um Missverständnisse zu vermeiden, sei darauf hingewiesen, dass Smith damit nicht intendiert, von seiner strikten Unterscheidung von motivierenden und normativen Gründen abzuweichen. Im Folgenden wird gezeigt, dass die hier angesprochene Form von Normativität nur in einem bescheidenen Sinn aufzufassen ist und dass es ihm im Kontext seiner Theorie instrumenteller Rationalität nicht darum geht gute bzw. normative Gründe für Handlungen zu rekonstruieren.19 Was aber versteht Smith hier unter einer Forderung nach Kohärenz? Fragen wir zunächst wieder nach den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden sollen. Nach Smith lassen sich diesbezüglich zwei Arten von 19 Smiths Theorie normativer Handlungsgründe wird dann im Abschnitt 4.3 rekonstruiert.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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Kohärenz voneinander abgrenzen: lokale Kohärenz und globale Kohärenz. 4.2.2.1. Lokale Kohärenz Smith unterscheidet – in Humescher Tradition – zwischen instrumentellen und nicht-instrumentellen Wünschen. Er illustriert diese Unterscheidung an einem Beispiel: Manche Wünsche lassen sich durch die Existenz anderer Wünsche erklären. Fragt man eine Person, warum sie den Wunsch hat Sport zu treiben, so könnte sie antworten: Weil ich gesund bleiben möchte. Der Wunsch Sport zu treiben wäre deshalb ein instrumenteller Wunsch. Er besteht aufgrund der Tatsache, dass die Person wünscht, gesund zu bleiben. Wodurch aber wird die Beziehung zwischen diesen beiden Wünschen hergestellt? Die Person wird auf die Frage, warum sie Sport treibe, nur dann in der beschriebenen Weise antworten, wenn sie außerdem die Überzeugung hat, dass sie (wahrscheinlich) gesund bleibt, wenn sie Sport treibt, und wenn sie diese Überzeugung außerdem mit dem Wunsch, gesund zu bleiben, in Beziehung setzt. Deutet man den Wunsch, gesund zu bleiben, als einen nichtinstrumentellen Wunsch, so lässt sich die Beziehung zwischen nicht-instrumentellen und instrumentellen Wünschen mit dem folgenden Analyseschema abbilden: [Analyseschema lokaler Kohärenz]20 Nicht-instrumenteller Wunsch: Ich habe den Wunsch, gesund zu bleiben (bzw. dass ich gesund bleibe). Mittel-Ziel-Überzeugung: Ich bin davon überzeugt, dass man gesund bleibt, wenn man Sport treibt. Instrumenteller Wunsch: Ich habe den Wunsch, Sport zu treiben. 20 Wie schon im vorigen Kapitel wird auch in den folgenden Beispielen die Art der propositionalen Einstellungen immer kursiv und der Gehalt immer recte gesetzt.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Smith setzt dieses Schema ein, um die Bedingung lokaler Kohärenz zu explizieren: Ein System von Wünschen und Mittel-ZielÜberzeugungen ist genau dann lokal kohärent, wenn es in diesem für jedes Paar aus einem nicht-instrumentellen Wunsch und einer passenden Mittel-Ziel-Überzeugung einen entsprechenden instrumentellen Wunsch gibt. Die Gegenstände, die durch lokale Kohärenz miteinander in Beziehung gesetzt werden, sind also bei Smith Paare von nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen auf der einen Seite und instrumentelle Wünsche auf der anderen Seite. Dabei stellen instrumentelle und nicht-instrumentelle Wünsche keine disjunkten Klassen dar. Diese Eigenschaften von Wünschen sind vielmehr kontextsensitiv aufzufassen: Der Wunsch, gesund zu bleiben ist im oben beschriebenen Schema ein nicht-instrumenteller Wunsch. Bezieht man größere Teile des WunschÜberzeugungssystems der fraglichen Person mit in die Betrachtung ein, kann es sich bei diesem jedoch auch um einen instrumentellen Wunsch handeln. Vielleicht will die Person allein deshalb gesund bleiben, weil sie Schmerz vermeiden will und der Überzeugung ist, dass man Schmerz vermeiden kann, indem man gesund bleibt. Ein und derselbe Wunsch (z. B. der Wunsch, gesund zu bleiben) kann also zugleich ein instrumenteller Wunsch und ein nicht-instrumenteller Wunsch sein. Deshalb kann ein einziger nicht-instrumenteller Wunsch (in diesem Fall der Wunsch, Schmerz zu vermeiden) lange Ketten (chains) instrumenteller Wünsche generieren. Wo diese Ketten ihren Ursprung haben, kann nach Smith interindividuell variieren: In some people, some of the time, the chain might come to an end with the desire to avoid pain, but in others it might come to an end with the desire for health, and in some people, some of the time, it might come to an end with the desire to exercise, or even with the desire to move their body. (Smith 2004a, 95)

Mit welchem Wunsch die Ketten instrumenteller Wünsche beginnen oder wie lang diese Ketten sind, ist demnach eine empirische Frage, deren Beantwortung keinen Einfluss auf die lokale Kohärenz eines Wunsch-Überzeugungssystems hat. Für

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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die Erfüllung der Bedingung lokaler Kohärenz ist lediglich entscheidend, dass für jeden Wunsch im System, sofern er mit einer passenden Mittel-Ziel-Überzeugung kombiniert werden kann, ein instrumenteller Wunsch existiert. 4.2.2.2. Globale Kohärenz Tatsächlich bestehen Einstellungssysteme von Handelnden nicht nur aus einem Tripel von zwei Wünschen und einer Mittel-Ziel-Überzeugung, das durch lokale Kohärenz strukturiert wird. Handelnde Personen verfügen normalerweise über ein großes System verschiedener Wünsche und Mittel-Ziel-Überzeugungen. Diese können, wie soeben gezeigt wurde, Wunschketten bilden. Es kommt jedoch hinzu, dass diese Ketten nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern auch untereinander vernetzt sein können. Um dieser Tatsache gerecht zu werden und um diese Vernetzungen adäquat zu beschreiben, führt Smith den Begriff globaler Kohärenz ein. Aufgrund der Vernetzung der Wunschketten untereinander ergibt sich nämlich das Problem, dass verschiedene instrumentelle Wüsche miteinander in Konflikt geraten können. Auch dazu ein Beispiel: Der nicht-instrumentelle Wunsch, gesund zu bleiben, kann mit zwei verschiedenen Mittel-ZielÜberzeugungen kombiniert werden. Man kann der Überzeugung sein, dass man durch Sport treiben gesund bleibt. Zugleich kann man aber auch der Überzeugung sein, dass Sport gesundheitsgefährdend ist, weil mit dem Ausmaß, in dem man Sport treibt, das Unfallrisiko wächst. Damit ergibt sich die Frage, wie ein System unter diesen Voraussetzungen kohärent gemacht werden kann. Smith beantwortet diese Frage zunächst wie folgt: The answer, I think, is that coherence requires me to put my non-instrumental desire to be healthy together with each of these beliefs. (Smith 2004a, 99)

Smith folgt also zunächst konsequent der Forderung nach lokaler Kohärenz: Für jede Kombination aus einem Wunsch und einer passenden Mittel-Ziel-Überzeugung gibt es in einem ko-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

härenten System demnach auch einen instrumentellen Wunsch. In diesem Fall ergibt sich jedoch das Problem, dass die beiden resultierenden instrumentellen Wünsche miteinander unverträglich sind. Die Person wünscht, zugleich mehr und weniger Sport zu treiben, um gesund zu bleiben. Wie lässt sich dieser Konflikt in Smiths Theorie instrumenteller Wünsche auflösen? Offensichtlich reicht dazu das Konzept lokaler Kohärenz nicht aus. Deshalb ergänzt Smith sein Analyseschema um die Idee der globalen Kohärenz: Um diesen Konflikt aufzulösen, so Smith, muss man einen graduellen Begriff der Stärke der instrumentellen Wünsche einführen. In die Bestimmung der Stärke instrumenteller Wünsche gehen sowohl die Stärke der nicht-instrumentellen Wünsche als auch das Vertrauen (confidence) der handelnden Person in die Glaubwürdigkeit der jeweiligen Mittel-Ziel-Überzeugungen ein. Diese Einführung eines graduellen Begriffs instrumenteller Wünsche soll es dem Handelnden ermöglichen, in solchen Fällen trotzdem eine Entscheidung zwischen den beiden konfligierenden Wünschen zu treffen. Selbst wenn (wie im erwähnten Beispielfall) nur ein nicht-instrumenteller Wunsch vorliegt (der Wunsch, gesund zu bleiben), der also mit derselben Stärke in die beiden konfligierenden instrumentellen Wünsche eingeht, besteht immer noch die Möglichkeit, dass die beiden Mittel-Ziel-Überzeugungen unterschiedlich stark sind. Diese unterschiedlichen Überzeugungsgrade können den Handelnden in diesem Fall in die Lage versetzen, konfligierende instrumentelle Wünsche gegeneinander abzuwägen, um somit den stärkeren von ihnen zu ermitteln. If, for example, I am equally confident about the two [means-end beliefs] then coherence requires me to be indifferent between the two options: my instrumental desires will have to be equally strong. But if I am more confident of one than the other then it seems that, in order to satisfy the demands of coherence, my instrumental desire for the one about which I am more confident will have to be stronger. (Smith 2004a, 99)

Die Forderung nach globaler Kohärenz besagt demnach: Bei der Genese instrumenteller Wünsche ist auch die Stärke der rele-

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4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

vanten nicht-instrumentellen Wünsche und das Ausmaß des Vertrauens (confidence) der handelnden Person in die entsprechenden Mittel-Ziel-Überzeugungen zu berücksichtigen.

Nicht-instrumenteller Wunsch

Mittel-ZielÜberzeugung

Nicht-instrumenteller

Nicht-instrumenteller Wunsch

Mittel-ZielÜberzeugung

Mittel-ZielÜberzeugung

Instrumenteller Wunsch

Instrumenteller Wunsch

Instrumenteller Wunsch Abbildung 4.1 Nicht-instrumentelle Wünsche, Mittel-Ziel-Überzeugungen und instrumentelle Wünsche, die durch kohärenzstiftende Beziehungen verbunden sind.

An Smiths Forderung nach globaler Kohärenz ist nun zweierlei auffällig. Erstens führt Smith hier scheinbar ad hoc einen graduellen Begriff der Wunschstärke und des Überzeugtseins ein, ohne dies genauer zu begründen oder gar eine Idee davon zu geben, wie man diese Wunsch- bzw. Überzeugungsgrade messen könnte. Zweitens lässt Smith Fälle zu, in denen es mit den Forderungen globaler Kohärenz verträglich ist, dass eine Person sich gegenüber zwei Handlungsalternativen indifferent verhält. Auch ein global kohärentes Wunsch-Überzeugungssystem gibt also nicht in allen Fällen eine und nur eine handlungslei-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

tende Empfehlung: Es ist nach Smith durchaus zulässig, dass zwei miteinander unverträgliche instrumentelle Wünsche gleich stark motivierend wirken. Diese beiden Aspekte stellen prima facie ein Problem für Smiths Begriff globaler Kohärenz dar. Tatsächlich findet sich in seinen Texten kein Hinweis darauf, wie diesen Problemen begegnet werden kann. Allerdings verweist Smith darauf, dass seine Theorie instrumenteller Rationalität als alltagssprachliche Reformulierung der Grundsätze der rationalen Entscheidungstheorie aufgefasst werden kann.21 Und in der rationalen Entscheidungstheorie gibt es durchaus detaillierte Ideen dazu, wie die beiden Probleme (Einführung eines quantitativen Maßes für Wunsch- und Überzeugungsstärken, Umgang mit Indifferenz) gelöst werden können. Diese beiden Aspekte werden im nächsten Kapitel diskutiert, in dem es um die Grundlagen der rationalen Entscheidungstheorie geht.22 Hier soll zunächst die Rekonstruktion von Smiths Kohärenzbegriff abgeschlossen werden. Nachdem in diesem und im vorigen Abschnitt geklärt worden ist, welche Gegenstände bei Smith in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, stellt sich jetzt die Frage nach der inhaltlichen Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen. 4.2.3 Zur Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen Smith (2004a) sagt zur inhaltlichen Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen nur wenig. Eine erste grobe Charakterisierung dieser Beziehungen ergibt sich jedoch aufgrund der primären Intention, die er mit seiner Theorie instrumenteller Rationalität verbindet. Schließlich handelt es sich dabei um eine Weiterentwicklung seiner Analyse motivierender Gründe. Somit ist anzunehmen, dass auch hier zwischen den verschiedenen Wünschen Erklärungsbeziehungen bestehen. Smith geht 21 Smith 2004a, 93. 22 S. Abschnitt 5.2.2.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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nämlich davon aus, dass Handlungen das Produkt instrumenteller Wünsche sind. Die Genese von Handlungen ist demnach durch den Verweis auf bestimmte instrumentelle Wünsche erklärbar. Da Smith außerdem die These vertritt, dass instrumentelle Wünsche durch Wunsch-Überzeugungspaare gebildet werden, kann man annehmen, dass auch zwischen den Wunsch-Überzeugungspaaren und den entsprechenden instrumentellen Wünschen Erklärungsbeziehungen bestehen. Diese Interpretation lässt sich zumindest durch den Verweis auf einen Nebensatz auch anhand von Smiths Text stützen. Instrumental desires are […] better thought of as being nothing over and above the non-instrumental desires and means-end beliefs that explain them. (Smith 2004a, 96, Herv. M. H.)

Beim Erklärungsbegriff (insbesondere beim Begriff der Handlungserklärung) handelt es sich jedoch um einen Begriff, mit dem in Abhängigkeit von den jeweils angenommenen theoretischen Vorannahmen sehr unterschiedliche Vorstellungen verbunden werden. Da Smith die Handlung als Produkt von nichtinstrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen bezeichnet, liegt zunächst die Interpretation nahe, es handele sich bei diesen Erklärungen um Kausalerklärungen. Diese Interpretation lässt sich an verschiedenen Stellen in Smiths Text stützen. Allerdings vertritt Smith außerdem die These, dass es sich bei Kohärenz um eine Forderung (requirement) instrumenteller Rationalität handelt. Es gilt deshalb eine Erläuterung dazu zu geben, in welchem Sinne diese Erklärungsbeziehungen normativ sein können. Der Verweis auf Kausalbeziehungen hilft dabei nicht weiter, weil Ursache-Wirkungsbeziehungen als rein deskriptiv charakterisierbare Beziehungen zwischen zwei raumzeitlich lokalisierten Gegenständen anzusehen sind. Was also macht das normative Element kohärenzstiftender Beziehungen aus? Im Folgenden wird rekonstruiert, was Smith unter der Normativität instrumenteller Rationalität versteht. Ich gehe dabei in der Darstellung so vor, dass ich zunächst einen Vorschlag diskutiere, der in der Debatte praktischer Rationalität prominent ist, den Smith aber ablehnt. Dies ist der Vor-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

schlag, die Beziehungen zwischen instrumentellen Wünschen und Wunsch-Überzeugungspaaren als praktischen Schluss, also im Sinne inferentieller Beziehungen aufzufassen. Obwohl Smith diese Option explizit zurückweist, verdient sie hier diskutiert zu werden. Es lässt sich nämlich daran zeigen, aus welchen Gründen Smiths Kohärenzbegriff mit keinem der in den Kapiteln 2 und 3 dieser Untersuchung diskutierten Kohärenzbegriffe identifiziert werden kann. 4.2.3.1. Kohärenzstiftende Beziehungen als inferentielle Beziehungen? Auf den ersten Blick weist Smiths Analyseschema für lokale Kohärenz große Ähnlichkeit zu einem Argumentschema auf. Verdeutlichen wir dies anhand des oben eingeführten Beispiels: [Analyseschema lokaler Kohärenz] Nicht-instrumenteller Wunsch: Ich habe den Wunsch, gesund zu bleiben. Mittel-Ziel-Überzeugung: Ich bin davon überzeugt, dass man gesund bleibt, wenn man Sport treibt. Instrumenteller Wunsch: Ich habe den Wunsch, Sport zu treiben. Man könnte nun den nicht-instrumentellen Wunsch und die Mittel-Ziel-Überzeugung im Sinne von Prämissen auffassen, aus denen sich der instrumentelle Wunsch folgern lässt. Rekonstruiert man die Beziehung von nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen nach diesem Modell, so lässt sich deren normativer Charakter gut verständlich machen: Die Beziehung ist demnach normativ, weil ein instrumenteller Wunsch aus den beiden Prämissen korrekt gefolgert worden ist. Diese Auffassung wurde und wird in der Theorie praktischer Rationalität vertreten. Ausgehend von der aristotelischen Idee des praktischen Syllogismus gibt es verschiedene Ansätze, mit denen zu zeigen beansprucht wird, wie ein praktischer Schluss

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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in enger Analogie zu einem deduktiven Argument rekonstruiert werden kann.23 Wie weit diese Analogien reichen, wird gegenwärtig kontrovers diskutiert.24 Nach Smith sind diesen Analogien allerdings enge Grenzen gesetzt. Er zieht eine strikte Grenze zwischen instrumenteller Rationalität (instrumental rationality) und instrumenteller Überlegung (instrumental reasoning). Bei seiner Kohärenztheorie handelt es sich – wie im oben dargestellten Analyseschema für lokale Kohärenz veranschaulicht – um eine Kohärenztheorie instrumenteller Rationalität. Wenn instrumentelle Wünsche und MittelZiel-Überzeugungen miteinander in Beziehung gesetzt werden, so kann es sich bei diesen Beziehungen nach Smith nicht um inferentielle Beziehungen handeln. Our defence of the normativity of instrumental rationality […] didn’t presuppose any deep nexus between instrumental rationality and instrumental reasoning. Nor should this be surprising. For whereas reasoning is a process that takes an agent from one set of beliefs to another set of beliefs, the transitions with which we have been concerned take an agent from non-instrumental desires and means-end beliefs to instrumental desires. (Smith 2004a, 105)

Smith meint also, dass inferentielle Beziehungen nur zwischen Überzeugungen – genauer gesagt, zwischen den propositionalen 23 Angestoßen wurde die neuerliche Debatte um den praktischen Schluss (practical inference) durch den prominenten Explikationsansatz von G. H. von Wright (1963). 24 Siehe z. B. Nida-Rümelin (1990) und Schueler (1995, 97–114). Auch Blackburns Projekt einer expressivistischen Semantik kann man in dieser Theorietradition lokalisieren. Diesem geht es ja gerade darum zu zeigen, dass auch zwischen Pro-Einstellungen Beziehungen bestehen, die zumindest analog zu inferentiellen Beziehungen interpretiert werden können (s. die Abschnitte 3.3.1.2.1 und 3.4.3 dieser Untersuchung). Allerdings ergibt sich ein nicht zu vernachlässigender Unterschied zu Blackburns Analyseschema: Während bei Blackburn aus zwei Pro-Einstellungen eine dritte Pro-Einstellung gefolgert werden soll, soll hier von einer Pro-Einstellung und einer Überzeugung auf eine Pro-Einstellung (einen Wunsch) geschlossen werden.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Gehalten von Überzeugungen – bestehen können. Deshalb darf man instrumentelle Rationalität nicht mit instrumentellem Überlegen bzw. instrumentellem Nachdenken verwechseln. Diese Verwechslung liegt nahe, weil man sich natürlich im Rahmen rationaler Überlegungen auch mit den eigenen Wünschen beschäftigen kann. Trotzdem dürfen Akte rationaler Überlegung nicht mit der von Smith konzipierten Form instrumenteller Rationalität identifiziert werden. Verdeutlichen wir diese Unterscheidung, indem wir Smiths Kohärenztheorie instrumenteller Rationalität (s. Analyseschema lokaler Kohärenz) ein Beispiel für eine instrumentelle Überlegung gegenüberstellen: [Analyseschema instrumenteller Überlegung]25 Überzeugung 1: Ich bin davon überzeugt, dass ich den Wunsch habe, gesund zu bleiben. Mittel-Ziel-Überzeugung: Ich bin davon überzeugt, dass man gesund bleibt, wenn man Sport treibt. Überzeugung 2: Ich bin davon überzeugt, dass ich den Wunsch habe, Sport zu treiben. Nach Smith kann man durchaus davon ausgehen, dass hier inferentielle Beziehungen vorliegen. Überzeugung 1 und die Mittel-Ziel-Überzeugung lassen sich als Prämissen auffassen, aus denen die Überzeugung 2 gefolgert werden kann. Verdeutlichen lässt sich dies, wenn man sich daran erinnert, dass Smith Wünsche mit Hilfe des Konzepts der direction of fit expliziert hat. Wünsche zielen auf eine Veränderung der Welt. Vor dem Hintergrund dieser Idee lässt sich das im Analyseschema instrumenteller Überlegung formulierte Argument wie folgt paraphrasieren: Wenn ich fest davon überzeugt bin, den Wunsch (das Ziel) zu haben, meine Gesundheit zu erhalten, und wenn ich ebenfalls glaube, dass Sport hierzu das adäquate Mittel ist, 25 Ein sehr ähnliches Beispiel für eine instrumentelle Überlegung (instrumental reasoning) findet sich bei Smith selbst z. B. in Smith (2004b, 85).

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so resultiert die Überzeugung, dass ich auch auf den Wunsch (das Ziel) festgelegt bin, Sport zu treiben. Diese Instanz einer instrumentellen Überlegung (instrumental reasoning) kann demnach ohne weiteres als ein praktischer Schluss gedeutet werden. Ein solcher Schluss ist insofern normativ, als von den Prämissen korrekt auf die Konklusion geschlossen worden ist. Diese logische bzw. epistemische Normativität ließe sich allerdings nur dann zur Erklärung der Normativität instrumenteller Rationalität heranziehen, wenn eine notwendige Beziehung zwischen dem Wunsch bestünde, dass p, und der Überzeugung, p zu wünschen. Dies ist aber nach Smith gerade nicht der Fall. Wie in der Darstellung der dispositionalen Auffassung von Wünschen gezeigt wurde, leugnet Smith nämlich die Geltung des Prinzips „Eine Person wünscht, dass p, genau dann, wenn eine Person glaubt zu wünschen, dass p“. Hinsichtlich unserer Wünsche können wir uns vielmehr täuschen. Deshalb ist es möglich, dass eine Person den Wunsch hat, gesund zu bleiben, ohne dass diese Person auch über Überzeugung 1 verfügt. Außerdem ist es möglich, dass eine Person die im Analyseschema skizzierte instrumentelle Überlegung anstellt und Überzeugung 2 erwirbt und trotzdem nicht den Wunsch hat, Sport zu treiben. Genau darin ist nach Smith der Grund dafür zu erblicken, warum praktische Überlegung und instrumentelle Rationalität in unterschiedlicher Weise zu rekonstruieren sind. Der Wunsch, dass p, und die Überzeugung, p zu wünschen, können auch extensional auseinanderfallen. Smiths strikte Abgrenzung von instrumenteller Rationalität und instrumenteller Überlegung ergibt sich aus seiner dispositionalen Auffassung von Wünschen. Deshalb kann das Vorliegen inferentieller Beziehungen bei instrumentellen Überlegungen nicht der Grund für die Normativität instrumenteller Rationalität sein. 4.2.3.2. Smiths Lösung: Kohärenzstiftende Beziehungen als teleologische Erklärungsbeziehungen Smith erklärt die Normativität instrumenteller Rationalität auf Grundlage seiner dispositionalen Auffassung von Wünschen. Einen Wunsch zu haben, bedeutet nach Smith, ein Ziel zu ha-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

ben, m. a. W. disponiert zu sein, die Welt in einer bestimmten Richtung zu verändern. Aber nur wenn die verschiedenen Wünsche einer Person in adäquater Weise – eben: kohärent – miteinander in Beziehung gesetzt werden, lässt sich eine Handlung aufgrund der Ziele, die die Person anstrebt, erklären. Sowohl bei der Erklärung von Handlungen als auch bei der Erklärung der Genese von instrumentellen Wünschen spielt dieser zielsetzende Charakter von Wünschen eine Schlüsselrolle. Smith charakterisiert die kohärenzstiftenden Beziehungen deshalb inhaltlich als teleologische Erklärungsbeziehungen. Im Folgenden wird dargestellt, was genau Smith unter Erklärungsbeziehungen versteht und was mit der Qualifikation dieser Beziehungen als teleologische Erklärungsbeziehungen gemeint ist. Wie schon mehrfach angeklungen ist, ist Smith grundsätzlich dem Kausalmodell der Handlungserklärung verpflichtet. Bei instrumentellen Wünschen handelt es sich demnach um mentale Zustände mit dem Potential, Handlungen zu verursachen. Vergegenwärtigen wir uns noch einmal, wie Smith den Zusammenhang zwischen Handlungen und instrumentellen Wünschen rekonstruiert: Actions are the product of instrumental desires that are complexes of suitably related non-instrumental desires and means-end beliefs of a particular kind. (Smith 2004a, 101)

Mit der Rede davon, dass Handlungen das Produkt instrumenteller Wünsche sind, spielt Smith offensichtlich auf die kausale Rolle dieser mentalen Zustände bei der Handlungsverursachung an.26 Wie gezeigt wurde, impliziert dies nicht, dass jeder 26 Auch an anderer Stelle wird deutlich, dass Smith dem Kausalmodell der Handlungserklärung verpflichtet ist. So verweist er wiederholt auf Davidson (1963), der die These vertreten hat, dass ein Wunsch-Überzeugungspaar eine Handlung zu verursachen und als rational zu erklären vermag (Smith 1994, 92; 2004a, 107). Davidsons klassische Charakterisierung „cause and rationalize“ wird von Smith an verschiedenen Stellen aufgenommen (Smith 1999, 46; 2001, 264; 2004a, 101). Im Abschnitt 4.3.3.1 dieses Kapitels komme ich im Rahmen der Ex-

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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instrumentelle Wunsch direkt handlungsverursachend wirken würde. Die bisherigen Erläuterungen zu lokaler und globaler Kohärenz haben verdeutlicht, wie Smith die Bedingungen spezifiziert, unter denen instrumentelle Wünsche handlungswirksam werden. Dabei lassen sich drei Bedingungen unterscheiden. Erstens wird ein instrumenteller Wunsch zu einem bestimmten Zeitpunkt t nur dann handlungswirksam, wenn er der stärkste instrumentelle Wunsch der handelnden Person zu t ist. Schwächere Wünsche, die mit diesem Wunsch konfligieren, mögen zwar auch Handlungsmotive darstellen, werden aber nicht handlungswirksam.27 Zweitens muss die in den instrumentellen Wunsch eingehende Mittel-Ziel-Überzeugung Tatsachen betreffen, die innerhalb der Einflussmöglichkeiten des Handelnden liegen. Diese Einschränkung meint Smith, wenn er von Mittel-Ziel-Überzeugungen „of a particular kind“ spricht. Illustrieren wir auch dies an einem Beispiel. Nehmen wir an, ich habe den Wunsch, dass mein Urgroßvater nicht darunter gelitten haben möge, dass mein Großvater eine Straftat begangen hat. Gleichzeitig habe ich die Überzeugung, dass dies nur dann möglich war, wenn mein Urgroßvater von den Straftaten, die mein Großvater tatsächlich begangen hat, nichts erfahren hat. Nach Smith kann ich auf der Grundlage dieses Wunsches und dieser Mittel-Ziel-Überzeugung ohne weiteres den instrumentellen Wunsch entwickeln, dass mein Urgroßvater nie etwas von den Straftaten meines Großvaters gehört haben möge.28 Dieser instrumentelle Wunsch wird selbstverständlich niemals handlungswirksam – einfach deshalb, weil ich durch plikation der kohärenzstiftenden Beziehungen in Smiths Analyse normativer Gründe auf diesen Gesichtspunkt seiner Theorie zurück. 27 Implizit findet sich in Smiths Explikation instrumenteller Rationalität also ein Maximierungsprinzip: Handle so, dass der zu einem bestimmten Zeitpunkt t jeweils stärkste Wunsch befolgt wird! Im Rahmen der Darstellung der rationalen Entscheidungstheorie im Kapitel 5 komme ich auf diesen Punkt zurück. 28 Smith 2004a, 106–107.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

keine meiner Handlungen beeinflussen kann, ob mein Urgroßvater von einer solchen Straftat erfahren hat oder nicht. Deshalb werden nur die instrumentellen Wünsche handlungswirksam, die sich auf Tatsachen beziehen, die vom Handelnden verwirklicht werden können.29 Drittens schließlich muss die handelnde Person die Mittel-Ziel-Überzeugung mit den entsprechenden nicht-instrumentellen Wünschen in Beziehung setzen, damit der zugehörige instrumentelle Wunsch gebildet wird: Die Wünsche und Überzeugungen müssen laut Smith „in adäquater Weise“ miteinander in Beziehung gesetzt („suitably related“) sein. Diese suitably-relatedness von nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen konstituiert nun die Normativität instrumenteller Rationalität. Instrumentelle Rationalität fordert zwar nicht, dass Handelnde bestimmte instrumentelle Wünsche ausbilden sollten, aber sie sollten ihre faktisch vorhandenen Wünsche und Mittel-Ziel-Überzeugungen adäquat miteinander in Beziehung setzen. Prima facie ist nicht unmittelbar klar, woher hier dieses normative Element kommt. Smith hatte deren Verknüpfung ja zunächst einfach als Kausalbeziehung beschrieben. Der nicht-instrumentelle Wunsch und die Mittel-Ziel-Überzeugung sind zwei mentale Zustände, zwei verschiedene Typen mentaler Dispositionen, die die Entstehung eines komplexen mentalen Zustands verursachen. Smith geht in manchen Formulierungen sogar so weit, den instrumentellen Wunsch mit diesem Wunsch-Überzeugungspaar zu identifizieren. We should therefore suppose that an instrumental desire is nothing over an above a suitably related non-instrumental desire and meansend belief. (Smith 2004a, 97)

Auch in dieser Formulierung wird aber wiederum deutlich, dass Wunsch und Überzeugung nicht nur vorliegen, sondern auch 29 Smith 2004a, 101.

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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adäquat miteinander in Beziehung gesetzt werden müssen, um einen instrumentellen Wunsch zu generieren. Es ist also nach Smith möglich, gleichzeitig über den nicht-instrumentellen Wunsch und die Mittel-Ziel-Überzeugung zu verfügen und den instrumentellen Wunsch nicht zu haben. Woraus aber ergibt sich nun das normative Element, das ein inkohärentes WunschÜberzeugungssystem von einem kohärenten unterscheidet? Was macht eine Person falsch, wenn sie die Wünsche und Überzeugungen, über die sie faktisch verfügt, nicht in adäquater Weise miteinander kombiniert? Der Grund dafür ergibt sich direkt aus der dispositionalen Analyse von Wünschen: Würde eine Person ihre handlungsrelevanten Einstellungen nicht in befriedigendem Ausmaß miteinander in Beziehung setzen, so könnte sie nicht zielgerichtet handeln. Sie wäre nicht dazu in der Lage, die Ziele, auf die sie sich mit ihren Wünschen selbst festgelegt hat, in ihrem Handeln zu verfolgen. Deshalb erklärt Smith das normative Element in der Theorie instrumenteller Rationalität mit dem zielsetzenden Charakter von Wünschen. Verdeutlichen wir auch dies noch einmal an einem Beispiel. Hat z. B. eine Person den Wunsch, dass q, so hat sie auch das Ziel, dass q. Glaubt sie gleichzeitig, dass sie q nur erreichen kann, wenn sie auch p erreicht, und setzt Wunsch und Überzeugung in adäquater Weise miteinander in Beziehung, dann hat sie ebenfalls das Ziel, dass p. Entscheidend ist die deskriptive Formulierung: Die Person sollte nicht etwa das Ziel haben, dass p, sondern sie hat das Ziel, dass p. Sie würde ihren eigenen Wunsch, dass q, missverstehen, wenn sie nicht wünschen würde, dass p. Genau diese Festlegung von Handlungszielen aufgrund der eigenen Wünsche meint Smith, wenn er sagt, dass nicht-instrumenteller Wunsch und Mittel-Zielüberzeugung die Genese des instrumentellen Wunsches teleologisch erklären. Was hat dies mit Kohärenz zu tun? Dies kann man sich nach Smith klarmachen, wenn man noch einmal danach fragt, was genau eine Person falsch macht, wenn sie unter diesen Bedingungen nicht den instrumentellen Wunsch ausbildet, dass p.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz For this person to fail to desire that the world be the p way is, it seems to me, quite literally for them to be in an incoherent state of mind. It is for them to fail to put the original desire and belief together in the way in which they are committed to putting them together. For, given their belief, their original desire is already, so to speak, targeted on the world’s being the p way. (Smith 2004a, 98)

Eine Person, die den instrumentellen Wunsch, dass p, nicht ausbildet, ist also deshalb inkohärent, weil sie die in ihren eigenen nicht-instrumentellen Wünschen festgelegten Handlungsziele nicht verfolgt. Ein Handelnder, der einen entsprechenden instrumentellen Wunsch nicht ausbildet, unterlässt es also, die Ziele zu konkretisieren, auf die er sich mit seinen nicht-instrumentellen Wünschen und seinen Mittel-Ziel-Überzeugungen ohnehin schon festgelegt hat. Insofern erklärt sich die Normativität instrumenteller Rationalität allein durch den Verweis auf die dispositionale Auffassung von Wünschen. Wünsche zu haben bedeutet nach Smith, ein Ziel zu haben. Aufgrund von Wünschen handelt man folglich genau dann, wenn man im Hinblick auf ein Ziel handelt. Eine Handlung erklärt man, indem man aufdeckt, mit welcher Zielsetzung die Handlung ausgeführt wurde. Und hier liegt der Kern von Smiths Theorie: Handlungserklärungen sind nach Smith Erläuterungen zur Zielgerichtetheit von menschlichem Verhalten. Sie stellen damit einen besonderen Typ von Erklärungen dar. Es handelt sich bei ihnen um teleologische Erklärungen. Mit der These, dass Handlungserklärungen teleologische Erklärungen sind, hat man sich nach Smith nicht darauf festgelegt, dass Handlungen durch mentale Zustände verursacht werden.30 Schon in The moral problem hatte Smith diese Unab30 Obwohl Smith selbst sich an vielen Stellen zum Kausalmodell der Handlungserklärung zu bekennen scheint, betont er, dass seine eigene Humesche Motivationstheorie die Annahme des Kausalmodells nicht voraussetzen muss. Man kann sein Konzept teleologischer Erklärungsbeziehungen auch dann akzeptieren, wenn man das Kausalmodell der Handlungserklärung ablehnt (Smith 1994, 101–104).

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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hängigkeit seiner teleologischen Handlungserklärungen vom Kausalmodell der Handlungserklärung klar markiert. Den zentralen Gehalt von Handlungserklärungen, die man durch den Verweis auf motivierende Gründe gibt (bei Smith: reason explanations), erläutert Smith dort folgendermaßen: The causal and non-causal theorist can both accept that reason explanations are teleological explanations without enquiring further into what it is about the nature of reasons that makes it possible for reason explanations to be teleological explanations – that is, explanations that explain by making what they explain intelligible in terms of the pursuit of a goal. (Smith 1994, 104)

Entscheidend ist dabei die Tatsache, dass der Handelnde ein Ziel anstrebt, und nicht, dass er dieses Ziel faktisch erreicht – die Person kann in ihrem Handeln scheitern. Vielleicht gelingt es der Person nicht, durch intensiven Sport ihre Gesundheit zu erhalten. Trotzdem ist ihr Handeln auf Grundlage der von ihr selbst verfolgten Ziele erklärbar. Aufgrund dieser Relativierung auf die faktischen Ziele der handelnden Person ist der resultierende Normativitätsbegriff sehr schwach. Die entsprechenden normativen Forderungen bestehen immer nur in Abhängigkeit zu den Zielen, die sich eine Person selbst setzt. Die Erfüllung der Forderungen instrumenteller Rationalität sagt also nichts darüber aus, ob die verfolgten Ziele vernünftig oder erstrebenswert sind. Außerdem ergeben sich aus diesen Forderungen keine Ansprüche an die epistemische Rechtfertigung der relevanten Mittel-ZielÜberzeugungen. Deshalb kann es ohne weiteres sein, dass der Handelnde seine Ziele nicht verwirklichen kann, weil seine Überzeugungen über die Welt falsch sind oder weil ihm relevantes Wissen zur kompetenten Durchführung der betreffenden Handlung fehlt. Die Standards instrumenteller Rationalität würde er auch dadurch, dass er aufgrund falscher oder ungerechtfertigter Überzeugungen in seinem Handeln scheitert, nicht verletzen. Diese Standards fordern lediglich, dass er sein Wunsch-Überzeugungssystem in einer Weise organisiert, die es ermöglicht, sein Handeln aufgrund seiner Ziele vollständig zu erklären.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Und dies ist genau dann gegeben, wenn der Handelnde über ein kohärentes System instrumenteller Wünsche verfügt. Bei den kohärenzstiftenden Beziehungen handelt es sich somit um teleologische Erklärungsbeziehungen. 4.2.4 Ein vorläufiges Fazit Die Theorie instrumenteller Rationalität versteht Smith als eine Präzisierung seiner Theorie motivierender Handlungsgründe. Instrumentelle Wünsche stellen motivierende Gründe dar, durch welche die Handlungen einer Person teleologisch erklärt werden können. Diese Handlungserklärungen sind nur in einem sehr bescheidenen Sinn normativ: Sie bewerten die Rationalität einer Handlung allein auf der Grundlage der Wünsche und Überzeugungen, die die Handelnde faktisch hat. Die Theorie instrumenteller Rationalität expliziert, wie im Rekurs auf das Korpus der Wünsche und der Überzeugungen einer Person teleologische Handlungserklärungen angegeben werden können. Diese enthalten keine Informationen darüber, ob die motivierenden Gründe der handelnden Person gute – in Smiths Terminologie: normative – Gründe sind. Smith liefert hier also eine reine Theorie der Handlungserklärung. Ein notwendiger Bestandteil einer jeden solchen Erklärung ist immer ein instrumenteller Wunsch, der seinerseits durch einen nicht-instrumentellen Wunsch und eine passende Mittel-Ziel-Überzeugung erklärt werden kann. Insofern handelt es sich bei Smiths Theorie um eine Analyse motivierender Gründe auf der Grundlage von Humes Motivationstheorie. Der Kohärenzbegriff wird von Smith mit dem theoretischen Ziel eingeführt, die Forderungen instrumenteller Rationalität an Handlungsgründe zu explizieren: Die Standards instrumenteller Rationalität sind genau dann erfüllt, wenn eine Person ein Wunsch-Überzeugungssystem hat, das lokal und global kohärent ist. Verfügt eine Person über ein lokal und global kohärentes Wunsch-Überzeugungssystem, so führt sie genau die Handlung aus, die durch denjenigen ihrer instrumentel-

4.2 Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe

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len Wünsche motiviert wird, der sich im kohärenten Verbund des Wunsch-Überzeugungssystems als der stärkste erweist. Er räumt dabei ein, dass der Idealzustand vollständiger lokaler und globaler Kohärenz empirisch kaum zu erreichen ist. Deshalb handelt es sich bei diesem Kohärenzbegriff (und folglich auch bei diesem Begriff instrumenteller Rationalität) um graduelle Begriffe. Man kann nicht nur entweder rational oder irrational sein, sondern es gibt Grade instrumenteller Rationalität, die durch das Ausmaß der Verwirklichung von Kohärenz bestimmt werden. Agents meet the standards of instrumental rationality to the extent that they satisfy the requirements of local and global coherence on their non-instrumental desires and means-end beliefs. (Smith 2004a, 104, Herv. M. H.)

Es ist für Smith eine empirische Frage, in welchem Maß eine Person den Forderungen instrumenteller Rationalität entspricht. Dies hängt davon ab, wie sehr eine Person sich mit ihren instrumentellen und nicht-instrumentellen Wünschen auseinandersetzt. Der Grad der Verwirklichung instrumentell rationalen Handelns kann somit interindividuell und intraindividuell (zwischen verschiedenen Zeitpunkten) variieren. Damit ist gezeigt, wie Smith den Kohärenzbegriff im Rahmen seiner Theorie instrumenteller Rationalität verwendet. Eingangs wurde jedoch gesagt, dass Smith außerdem das Ziel verfolgt, den Internalismus moralischer Motivation zu verteidigen. Mit den bisherigen argumentativen Mitteln ist dies nicht möglich: Die bisher rekonstruierte Theorie stellt allein eine Präzisierung der Theorie motivierender Gründe dar. Die Frage, ob es sich bei diesen motivationalen Handlungsgründen unter moralischen (oder anderen) Wertungsgesichtspunkten um gute bzw. normative Gründe handelt, blieb dabei unbeantwortet. Wie aber steht es um die motivierende Kraft normativer Gründe? Wie im nächsten Abschnitt gezeigt wird, gibt Smith diesbezüglich eine radikal andere Antwort, die nicht mehr den Grundannahmen von Humes Theorie verpflichtet ist. Dabei bezieht er sich aber wiederum auf einen Kohärenzbegriff.

4.1 Einleitung

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4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe Smith zieht eine strikte Grenze zwischen motivierenden und normativen Gründen, d. h. zwischen Handlungsmotiven und guten Gründen zu handeln. Trotzdem ist er kein Vertreter des motivationstheoretischen Externalismus. Er will vielmehr die Konsequenz vermeiden, dass es gute Gründe zu handeln geben kann, denen gegenüber wir uns motivational völlig indifferent verhalten können. Seine Auffassung ist, dass auch normative Gründe notwendig motivierend wirken – mithin vertritt er die Kernthese des motivationstheoretischen Internalismus.31 In Smiths Metaethik entsteht dadurch aber ein internes Problem: Prima facie führt die Verteidigung des Internalismus vor dem Hintergrund seiner sonstigen metaethischen Vorannahmen nämlich in ein tiefgreifendes Trilemma. Smiths zentrales Ziel besteht deshalb darin, eine Analyse normativer Gründe vorzulegen, die dieses Trilemma auflöst. Im Rahmen dieses Projekts kommt wiederum einem Kohärenzbegriff eine Schlüsselrolle zu. Dieser Kohärenzbegriff, der sich von dem im vorigen Abschnitt entwickelten Kohärenzbegriff in einigen Aspekten unterscheidet, wird im Folgenden rekonstruiert und diskutiert. Zunächst wird die zentrale Problemstellung skizziert, vor deren Hintergrund Smith seine Kohärenztheorie normativer Gründe entfaltet (4.3.1). Dann wird Smiths Analyse normativer Handlungsgründe vorgestellt und es wird gezeigt, mit welcher theoretischen Zielsetzung Smith einen Kohärenzbegriff in seine Analyse einführt (4.3.2). Es folgt eine ausführliche Rekonstruktion des verwendeten Kohärenzbegriffs (4.3.3) und die 31 Die Unterscheidung zwischen motivierenden und normativen Handlungsgründen sowie die Kernthese des motivationstheoretischen Internalismus wurden bereits im Abschnitt 4.1 dieses Kapitels eingeführt.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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Diskussion des primären Problems von Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe (4.3.4). 4.3.1 Die Problemstellung: Smiths Trilemma Wie bereits festgestellt wurde, will Smith eine Begründung für den motivationstheoretischen Internalismus vorlegen. Diese Begründung soll zum einen mit der Kernannahme von Humes Motivationstheorie, zum anderen mit dem moralischen Kognitivismus verträglich sein. Diese drei Grundannahmen zusammengenommen führen nun nach Smith scheinbar in ein Trilemma. Nachdem Humes Motivationstheorie bereits im vorigen Abschnitt eingeführt wurde, wird nun nachgezeichnet, wie Smith die Kernannahmen der beiden anderen metaethischen Positionen charakterisiert und wie er das scheinbare Trilemma konstruiert, das er durch seine Analyse normativer Gründe aufzulösen beansprucht. Der moralische Kognitivismus lässt sich nach Smith durch die folgende Annahme charakterisieren: Moral judgements of the form ‘It is right that I ’ express a subject’s beliefs about an objective matter of fact, a fact about what it is right for her to do. (Smith 1994, 12)32

Smith legt sich damit auf die These fest, dass sich in den moralischen Äußerungen33 eines Sprechers dessen moralische Überzeugungen ausdrücken. Mit der Annahme, dass die entsprechenden Gehalte sich auf objektive Tatsachen (objective matter of fact) beziehen, legt er sich außerdem auf eine realisti32 Für die Variable ist ein Verb einzusetzen, mit dem eine Handlung beschrieben wird. 33 Auch Smith verwendet hier den vieldeutigen Begriff Moralurteil, der in dieser Untersuchung aus den in Abschnitt 2.2.1 dargestellten Gründen nicht verwendet wird. Da Smith davon spricht, dass Urteile Überzeugungen ausdrücken (express), ist anzunehmen, dass er Urteile als Verbalisierungen dieser Überzeugungen auffasst. Bei Urteilen handelt es sich also gemäß dieser Deutung um die ernsthaft (mit behauptender Kraft) ausgesprochenen Äußerungen eines Sprechers.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

sche Interpretation moralischer Wahrheit fest. Ob es Personen gibt, die außerdem in ihren wahren moralischen Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt sind, geht aus dieser Charakterisierung nicht hervor. Wie wir noch sehen werden, vertritt Smith jedoch auch diese Auffassung. Er lässt sich deshalb im oben definierten Sinn34 als moralischer Kognitivist einordnen. Die Kernthese des motivationstheoretischen Internalismus formuliert Smith in erster Annäherung folgendermaßen: If someone judges that it is right that she s then, ceteris paribus, she is motivated to . (Smith 1994, 12)

Liest man diese Charakterisierung im Zusammenhang mit Smiths Bekenntnis zum Kognitivismus, so sagt er damit: Erwirbt oder aktualisiert eine Person die moralische Überzeugung, dass es richtig ist zu , dann ist sie ceteris paribus auch motiviert zu . Demnach wird moralischen Überzeugungen eine motivierende Kraft zugeschrieben. Unterbestimmt bleibt diese Formulierung dabei aufgrund der eingefügten Ceteris paribusKlausel. Der Erwerb einer moralischen Überzeugung motiviert nur ceteris paribus. Warum fügt Smith diese Klausel ein? Dafür gibt es zwei Gründe. Erstens ist die Einführung der Ceteris paribus-Klausel der Bedeutungsambiguität des Ausdrucks „motiviert zu handeln“ (motivated to ) geschuldet. Mit der Festlegung darauf, dass eine Person motiviert ist zu handeln, ist an dieser Stelle nicht gesagt, dass sie tatsächlich im Sinne der entsprechenden moralischen Überzeugung handelt. Gemeint ist lediglich, dass eine solche Person einen motivierenden Grund zu handeln hat, d. h. dass die Person aufgrund der moralischen Überzeugung notwendig einen Wunsch entwickelt, in entsprechender Weise zu handeln. Smith will sich also nicht auf die starke These festlegen, dass dieser das aktuell stärkste Handlungsmotiv darstellt. Diese Abschwächung der Internalismusthese wird in der Debatte kaum bestrit34 Abschnitt 2.2.2.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

273

ten. Schließlich haben wir nicht nur eine moralische Überzeugung, sondern eine Vielzahl von moralischen Überzeugungen. Wenn jede dieser Überzeugungen notwendig einen motivierenden Grund generiert, so kann nicht jeder dieser motivierenden Gründe unmittelbar handlungswirksam werden. Smiths internalistische Kernthese besagt deshalb lediglich, dass eine Person, die normative Gründe zu handeln hat, notwendig auch entsprechende motivierende Gründe hat.35 Damit ist nichts über die Stärke der motivierenden Gründe gesagt und zudem nichts darüber, in welchen Situationen sie überhaupt direkt handlungswirksam werden. Dies ist die erste Abschwächung, die sich in der Ceteris paribus-Klausel ausdrückt. Sie ist nicht nur plausibel, sondern durch die Annahme, dass wir über eine Vielzahl moralischer Überzeugungen verfügen, die konfligierende Handlungen nahe legen können, sogar gut begründet. Es gibt für Smith noch einen zweiten Grund, die Ceteris paribus-Klausel einzuführen. Dieser zweite Grund, der zu einer weiteren Abschwächung seiner Internalismusversion führt, hat durchaus problematische Konsequenzen. Durch diese Abschwächung droht nämlich die internalistische Kerndoktrin, nach der es eine notwendige Verbindung zwischen normativen Gründen und Handlungsmotiven gibt, verloren zu gehen. Ich erläutere dieses Problem, indem ich zunächst das oben zitierte Konditional, mit dem Smith seine Version des Internalismus charakterisiert, so reformuliere, dass darin der für Smith entscheidende Begriff des normativen Grundes verwendet wird. Mit Hilfe dieser Reformulierung wird dann genau herausgearbeitet, 35 Smith macht diese Abschwächung bereits in einer frühen Formulierung der Internalismusthese deutlich: „There is some sort of a necessary connection between being in the state the judgement ‘It is right that I ’ expresses and having a motivating reason, not necessarily overriding, to .“ (Smith 1989, 89). Hier sagt Smith explizit, dass der durch die moralische Überzeugung notwendig generierte Wunsch nicht unbedingt der stärkste ist („not necessarily overriding”) und folglich nicht notwendig eine Handlung verursacht.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

inwiefern die Internalismusthese durch die Einführung der Ceteris paribus-Klausel abgeschwächt wird. Glaubt eine Person, dass es richtig ist, zu tun, so glaubt sie nach Smith, dass sie einen normativen Grund hat, zu tun. Damit zu diesem normativen Grund ein motivierender Grund hinzutritt, muss die Person außerdem einen entsprechenden Wunsch generieren. Demnach lässt sich Smiths These reformulieren wie folgt: Wenn eine Person glaubt, einen normativen Grund dafür zu haben zu , dann hat sie notwendigerweise auch einen Wunsch zu . In dieser Formulierung ist der mehrdeutige Term „ist motiviert“ durch die schwächere Charakterisierung „hat einen Wunsch“ ersetzt. Auf die Einfügung der Ceteris paribus-Klausel wurde hier verzichtet. Wenn sich in dieser Klausel nur die bereits diskutierte erste Abschwächung ausdrücken würde, dann wäre dies eine adäquate Präzisierung von Smiths Internalismusthese. In diesem Fall würde mit der Ceteris paribus-Klausel ja nur gesagt, dass ein Wunsch nicht unmittelbar handlungswirksam werden muss, weil er von stärkeren Wünschen überlagert werden kann. Tatsächlich aber will Smith seine Internalismusthese noch in einer zweiten Hinsicht abschwächen. Dies lässt sich an einer seiner eigenen Reformulierungen der Internalismusthese zeigen, die dem von mir eingeführten Vorschlag ähnelt. Sie weicht allerdings in einer charakteristischen Hinsicht von diesem ab: If an agent believes that she has a normative reason to , then she rationally should desire to . (Smith 1994, 148)

Interessanterweise rubriziert Smith selbst diese These nicht explizit als These des motivationstheoretischen Internalismus. Es handelt sich aber um die Formulierung, mit der er im Rahmen seiner Analyse normativer Gründe arbeitet. Und in dieser Formulierung wird offensichtlich, dass sich in der Ceteris paribus-Klausel in der oben zitierten „offiziellen“ Version der Inter-

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nalismusthese eine weitere Abschwächung verbirgt: Wenn eine Person glaubt, einen normativen Handlungsgrund zu haben, dann hat sie nicht notwendigerweise einen Wunsch, sie sollte lediglich einen entsprechenden Wunsch haben. Damit die Person den Wunsch also tatsächlich entwickelt, genügt es nicht, dass sie die entsprechende Überzeugung hat. Es muss außerdem noch eine Rationalitätsforderung erfüllt sein. Smith sagt zunächst nicht viel dazu, wie diese Rationalitätsforderung genau aufzufassen ist. Wiederholt weist er darauf hin, dass es sich um eine Forderung nach praktischer Rationalität handelt. Zu der Frage, was Smith in diesem Zusammenhang unter praktischer Rationalität versteht, findet sich in The moral problem nur eine knappe Auskunft: Agents who judge it right to act in various ways are so motivated, and necessarily so, absent the distorting influences of weakness of the will and other similar forms of practical unreason on their motivations. (Smith 1994, 61)

Handelt es sich bei einer in dieser Weise abgeschwächten These noch um eine These des motivationstheoretischen Internalismus? Smith vertritt diese Auffassung offensichtlich, weil er behauptet, dass gemäß dieser These eine notwendige Beziehung zwischen moralischer Überzeugung und Handlungsmotivation besteht („… and necessarily so …“). Trotzdem müsste er jedoch die Frage „Ist es möglich, dass eine Person eine moralische Überzeugung hat, ohne gleichzeitig in entsprechender Weise motiviert zu sein?“ bejahen. Dies ist nämlich nach Smith genau dann möglich, wenn die fragliche Person praktisch irrational (z. B. willensschwach) ist. Die Diskussion der beiden Abschwächungen, die sich in der Ceteris paribus-Klausel verbergen, hat deutlich gemacht, dass Smith de facto eine sehr schwache Version des Internalismus vertritt.36 Trotzdem meint Smith, dass sich auf der Grundlage die36 Aus diesem Grund bezeichnet z. B. Shafer-Landau Smiths Version des Internalismus lediglich als „hybrid judgment internalism“ (ShaferLandau 2003, 144).

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

ser Position ein Trilemma ergibt, das den Ausgangspunkt für seine weiteren metaethischen Überlegungen darstellt. Ich schließe diesen Abschnitt mit einer Skizze von Smiths Trilemma ab. Wie bereits gesagt wurde, beansprucht Smith, eine Begründung des motivationstheoretischen Internalismus vorzulegen. Smith will diese Begründung allerdings im Rahmen einer Metaethik formulieren, die neben dem Internalismus auch den moralischen Kognitivismus und Humes Motivationstheorie integriert. Damit ergibt sich das Problem, dass diese drei Positionen prima facie miteinander unverträglich sind. Smith rekonstruiert das scheinbar bestehende Trilemma wie folgt: Mit dem moralischen Kognitivismus ist die Festlegung auf die These verbunden, dass normative Gründe von handelnden Personen durch Überzeugungen (und nicht durch wunschähnliche Einstellungen) erfasst werden. Folgt man dem motivationstheoretischen Internalismus, so ergibt sich außerdem, dass diese Personen durch den Erwerb einer solchen Überzeugung – zumindest ceteris paribus – auch notwendig motiviert sind, entsprechend zu handeln. Der Erwerb der Überzeugung ist demnach notwendig mit der Genese eines motivierenden Grundes verbunden. Diese Konsequenz ist nun aber nicht mit der Kernthese von Humes Motivationstheorie verträglich: Diese besagt ja gerade, dass ein motivierender Grund nur unter Voraussetzung einer Überzeugung und eines entsprechenden Wunsches besteht und dass dieser Wunsch und diese Überzeugung nicht durch notwendige Beziehungen miteinander verknüpft sind. Wie will Smith diese Spannung lösen? Eine einfache Möglichkeit bestünde darin, eine der drei skizzierten Positionen aufzugeben, d. h. entweder den Nonkognitivismus, den Externalismus oder den Anti-Humeanismus zu vertreten. Smith findet keine dieser Optionen attraktiv.37 Er verfolgt deshalb das 37 Dies ist der entscheidende Grund dafür, dass die Spannung zwischen den drei Positionen in ein Trilemma führt. Die Spannung ließe sich leicht lösen, wenn man eine dieser drei Positionen aufgäbe. Aller-

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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Projekt, mittels einer versöhnenden Argumentationsstrategie zu zeigen, dass das Trilemma nur scheinbar besteht und dass die drei Positionen, so wie er sie konzipiert, miteinander verträglich sind. Seine Begründung stützt sich dabei auf zwei Elemente: einerseits auf seine Analyse normativer Gründe und andererseits auf eine Explikation der erwähnten Rationalitätsforderung. Insbesondere bei der Explikation dieser Rationalitätsforderung spielt der Kohärenzbegriff eine Schlüsselrolle. Mit Hilfe des Kohärenzbegriffs will Smith erklären, warum tatsächlich eine notwendige Beziehung zwischen normativen Gründen und Handlungsmotiven besteht. Bevor Smiths Kohärenztheorie thematisiert wird, wenden wir uns zunächst seiner Analyse normativer Gründe zu. 4.3.2 Smiths Analyse normativer Gründe Um das soeben skizzierte Trilemma aufzulösen, muss Smith eine Analyse normativer Gründe vorlegen, die sowohl mit dem moralischen Kognitivismus als auch mit dem motivationstheoretischen Internalismus verträglich ist. Ich stelle Smiths Analyse in zwei Schritten vor, wobei das Gewicht auf der Rekonstruktion seiner Kohärenztheorie normativer Gründe liegt. Zunächst wird knapp skizziert, aus welchen Gründen Smiths Ansatz einer kognitivistischen Metaethik verpflichtet ist (4.3.2.1). Dann wird ausführlich dargestellt, wie Smith durch den Verweis auf seine Kohärenztheorie zu zeigen versucht, dass die von ihm rekonstruierten normativen Gründe notwendig motivierend wirken (4.3.2.2). 4.3.2.1. Normative Gründe und moralischer Kognitivismus Mit ernsthaften moralischen Äußerungen – Es ist richtig, dass ich . – sprechen wir moralische Wertungen aus. Wenn wir also dings drücken sich in den drei Positionen laut Smith so grundlegende Intuitionen aus, dass eine Metaethik, die eine dieser Intuitionen nicht integriert, zu revisionistisch wäre, sodass sie letztlich nicht erfolgreich verteidigt werden könnte (so z. B. Smith 1989, 90–91).

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

über eine Handlung sagen, sie sei moralisch richtig, dann bewerten wir sie in moralischer Hinsicht. Als moralischer Kognitivist legt sich Smith nun zunächst darauf fest, dass mit der Äußerung solcher Wertungen moralische Überzeugungen ausgedrückt werden. Als moralischer Realist geht Smith außerdem davon aus, dass sich wahre moralische Überzeugungen auf objektive Gegebenheiten beziehen (objective matter of fact). Was aber sind dies für objektive Gegebenheiten? In seiner Charakterisierung des Kognitivismus gibt Smith einen Hinweis darauf, was er sich unter diesen Gegebenheiten vorstellt: Es sind objektive moralische Tatsachen, die determinieren, welche Handlung für einen Handelnden die richtige Handlung ist (a fact about what it is right for her to do). Wenn eine Handlung also für eine Person die richtige Handlung ist, so Smith, dann hat diese Person auch einen normativen Grund, entsprechend zu handeln. If it is right for agents to in circumstances C, then there is a reason for those agents to in C. (Smith 1994, 62)

Diese Doktrin wird in der metaethischen Debatte generell als moralischer Rationalismus bezeichnet: Wenn für eine Person S die Durchführung der Handlung richtig ist, dann hat S notwendig einen normativen Grund, zu tun.38 Mit der Behauptung dieser engen Beziehung zwischen objektiven moralischen Tatsachen und normativen Handlungsgründen ergibt sich für Smith die für moralische Realisten attraktive Möglichkeit, dem notorisch unterbestimmten Begriff der objektiven moralischen Tatsache mehr Kontur zu verleihen. Allerdings gilt es, die folgende Frage zu beantworten: Wie lässt sich erklären, dass diese objektiven Wert-Tatsachen normative Handlungsgründe darstellen? Diese Frage versucht Smith in seiner Analyse normativer Gründe zu beantworten. Eine solche Analyse hat Smith bereits in einer frühen Aufsatzpublikation unter dem Titel einer dispositionalen Theorie 38 Siehe z. B. Dancy (1996, 175) und Halbig (2007, 23–25).

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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moralischer Werte (dispositional theory of value) entwickelt.39 Die grundlegende Intuition dieses Ansatzes lässt sich wie folgt formulieren: Eine Handlung ist in einer bestimmten Situation für eine Person die richtige Handlung genau dann, wenn die Person diese Handlung unter der Bedingung idealer Rationalität wünschen würde. Wertungen sind demnach der Ausdruck von Wunschdispositionen (desirabilities) ideal rationaler Personen.40 Diese Grundidee, die Smith in seinen späteren Publikationen weitgehend unverändert beibehalten hat,41 wird im Folgenden so weit rekonstruiert, wie dies zum Verständnis seiner Kohärenztheorie normativer Gründe notwendig ist. In seiner Analyse normativer Gründe in The moral problem hat Smith den Grundgedanken ausführlich entwickelt. [W]hat it is desirable for us to do in certain circumstances – let’s call these circumstances the ‘evaluated possible world’ – is what we, not as we actually are, but as we would be in a possible world in which we are fully rational – let’s call this the ‘evaluating possible world’ – would want ourselves to do in those circumstances. […] [F]acts about the desirability of acting in certain ways in the evaluated world are constituted by facts about the desires we have about the evaluated world in the evaluating world. (Smith 1994, 151)

Smith unterscheidet zwei verschiedene mögliche Welten, um der Idee der Wunschdisposition unter idealen Rationalitätsbedingungen mehr Kontur zu verleihen. So gibt es die bewertete 39 Smith 1989. 40 Die Übersetzung von desirability mit Wunschdisposition kommt Smiths Intentionen am nächsten. Die wörtliche Übersetzung „Wünschbarkeit“ ist ungeeignet, weil dies im Deutschen ein äußerst vieldeutiges Wort ist. Die ansonsten nahe liegende Möglichkeit, desirable mit wünschenswert zu übersetzen, ist ebenfalls problematisch. Denn in dem Term „wünschenswert“ tritt der Wertungsbegriff bereits auf, der ja durch die dispositionale Analyse von Wertungen erst expliziert werden soll. Deshalb wird desirability hier mit dem Wort „Wunschdisposition“ übersetzt. 41 Smith 1994, 151–157; 1997, 88–90; 1999, 45–46; 2002, 329; 2007, 136.

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Welt; dabei handelt es sich um die Welt, in der wir faktisch leben. Und es gibt die bewertende Welt, die sich von der bewerteten dadurch unterscheidet, dass die Bewerter vollständig rational (fully rational) sind. Sprechen wir eine Wertung aus, so Smith, so sagen wir etwas darüber, was wir unter Voraussetzung der empirischen Rahmenbedingungen der bewerteten, also unserer Welt wünschen würden, wenn wir vollständig rational (also von der bewertenden Welt aus) auf die bewertete Welt blicken. Smiths Kernidee lautet demnach wie folgt: Immer wenn wir eine Wertung aussprechen, d. h. wenn wir uns auf einen normativen Grund zu handeln beziehen, denn versetzen wir uns in die Lage des Handelns unter der Bedingung vollständiger Rationalität und treffen eine Aussage darüber, was wir unter dieser Bedingung wünschen würden. Illustrieren wir diese Idee anhand einiger Beispiele – zunächst wiederum aus dem nicht-moralischen Bereich. Erinnern wir uns an das eingangs referierte Beispiel der durstigen Person, die vor einem mit Benzin gefüllten Glas sitzt. Die Person hat die Überzeugung, im Glas sei Apfelsaft; sie hat also aufgrund dieser Überzeugung und des Wunsches, etwas zu trinken, einen motivierenden Grund, aus dem Glas zu trinken. Eingangs wurde an die Intuition appelliert, dass diese Person gleichzeitig einen normativen Grund hat, nicht aus dem Glas zu trinken. Dies lässt sich nun mit Smiths Analyse normativer Gründe rekonstruieren: Wäre die Person vollständig rational, so hätte sie nur wahre Überzeugungen. Sie würde also glauben, im Glas sei Benzin. Unter Voraussetzung dieser Überzeugung hätte sie den festen Wunsch, nicht aus dem Glas zu trinken. In Smiths Terminologie: Der normative Grund besteht in der Tatsache, dass die fragliche Person unter der Bedingung vollständiger Rationalität den Wunsch hätte, nicht aus dem Glas zu trinken. Analoge Beispiele lassen sich für Fälle konstruieren, in denen der Person handlungsrelevante Überzeugungen fehlen. Eine Person wünscht, einen echten Picasso zu kaufen. Tatsächlich steht sie in einer Galerie, in der ein bezahlbares Bild hängt, das so aussieht, als sei es von Picasso. Die Person ist

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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aber davon überzeugt, dass es sich nicht um einen echten Picasso handeln kann. Nehmen wir an, es handelt sich tatsächlich um ein Bild von Picasso. In diesem Fall hat die Person einen normativen Grund, das Bild zu kaufen. Und dies lässt sich wiederum in Smiths Analyse rekonstruieren: Unter den Bedingungen idealer Rationalität hätte die Person gewusst, dass es sich um ein Gemälde von Picasso handelt und hätte das Bild in der Galerie kaufen wollen. Diese Beispiele verdeutlichen, inwiefern Smith normative Gründe als Wunschdispositionen rekonstruiert: Ein normativer Grund zu handeln liegt für eine Person genau dann vor, wenn sie disponiert ist, unter idealen Rationalitätsbedingungen den Wunsch zu haben, die entsprechende Handlung auszuführen. Wie aber passt diese Rekonstruktion normativer Gründe zum moralischen Kognitivismus? Entscheidend für die Beantwortung dieser Frage ist die Charakterisierung der Beziehung zwischen dem Bestehen normativer Gründe und den Wertungen einer Person. Smith gibt die folgende Antwort: Sprechen wir eine Wertung aus (es ist richtig, zu tun), dann sagen wir, dass wir glauben, einen normativen Handlungsgrund zu haben. Wir drücken also eine Überzeugung aus. Im Folgenden soll die Verträglichkeit von Smiths dispositionaler Theorie der Werte mit dem moralischen Kognitivismus plausibilisiert werden, indem ich vier nahe liegende Einwände entkräfte. Erster Einwand: Wie begründet Smith, dass sich in moralischen Wertungen Überzeugungen ausdrücken? Desirabilities scheinen doch eher wunschähnliche als überzeugungsähnliche Einstellungen darzustellen. Mit desirabilities sind keine Wünsche, sondern Wunschdispositionen gemeint. Hat eine Person eine Wunschdisposition, so impliziert dies zunächst nicht, dass sie einen entsprechenden Wunsch hat; vielmehr hätte sie diesen Wunsch nur dann, wenn sie vollständig rational wäre. Diese Feststellung ist zunächst mit unserem alltäglichen Verständnis von Wertungen verträglich. Denn dass es sich bei Wertungen nicht um Wünsche handeln

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

kann, lässt sich auch daran erkennen, dass man etwas als richtig bewerten kann, ohne es zu wünschen und umgekehrt. Smith verweist auf einen Süchtigen, der es als richtig bewertet, die Droge nicht mehr einzunehmen, gleichzeitig aber den intensiven Wunsch nach eben dieser Droge verspürt.42 Wertungen drücken demnach keine Wünsche aus. Was aber spricht dafür, dass sich in Wertungen stattdessen Überzeugungen ausdrücken? Smith bietet dafür mit Verweis auf seine dispositionale Theorie der Werte die folgende Erklärung an. Ein normativer Grund zu handeln liegt für eine Person genau dann vor, wenn sie über eine bestimmte Wunschdisposition verfügt. Diese Wunschdisposition (die Disposition, unter idealen Rationalitätsbedingungen einen bestimmten Wunsch zu haben) stellt eine objektive Eigenschaft dieser Person dar. Spricht nun die Person eine Wertung aus, so drückt sie die Überzeugung aus, diese Eigenschaft zu haben, d. h. über diese Wunschdisposition zu verfügen. Dies lässt sich wiederum am Beispiel des Süchtigen illustrieren: Dieser mag aktuell den intensiven Wunsch nach seiner Droge haben. Gleichzeitig kann er aber die Überzeugung haben, dass er – wäre er vollständig rational – nicht mehr wünschen würde, die Droge zu nehmen. Die These, dass sich in Wertungen Überzeugungen ausdrücken, ist also verträglich mit der dispositionalen Theorie der Werte. Zudem kann sie erklären, warum Wertungen und Wünsche auseinander treten können: Wenn wir werten, drücken wir nicht Wünsche aus, sondern wir sprechen eine Überzeugung über unsere Wunschdispositionen aus – d. h. darüber, was wir unter idealen Bedingungen wünschen würden. Zweiter Einwand: Wir gestehen zu, dass sich in Wertungen Überzeugungen ausdrücken. Wie aber können wir in diesen Überzeugungen epistemisch gerechtfertigt sein? Diese beziehen sich ja nicht auf Wünsche, die wir faktisch haben, 42 Smith 1994, 148.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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sondern auf Wünsche, die wir unter bestimmten Rahmenbedingungen hätten. Diese Rahmenbedingungen sind aber so gut wie nie erfüllt. Es bleibt unklar, wie hier ein epistemischer Zugang bestehen soll. Zunächst ist zu konstatieren, dass sich Smith nicht darauf festlegt, dass alle unsere Überzeugungen über Wunschdispositionen gerechtfertigt sind. Wenn eine Person glaubt, einen normativen Grund zu handeln zu haben, so impliziert dies nicht, dass sie tatsächlich einen normativen Grund zu handeln hat. So wie wir uns bezüglich unserer Wünsche täuschen können,43 können wir uns auch bezüglich unserer Wunschdispositionen täuschen. Diese Implikation von Smiths Theorie spricht jedoch eher für als gegen ihre Verträglichkeit mit den Grundannahmen des moralischen Kognitivismus. Dass sich nämlich Wertungsüberzeugungen als falsch herausstellen können, wird niemand im kognitivistischen Lager bestreiten. Smith muss deshalb lediglich zeigen, dass es epistemisch gerechtfertigte Wertungsüberzeugungen gibt. Und dies lässt sich bereits an den oben angegebenen Beispielen belegen. Es scheint unproblematisch zu sein anzunehmen, dass die fragliche Person, würde sie wissen, dass in dem Glas kein Apfelsaft, sondern Benzin ist, nicht daraus trinken wollen würde. Außerdem ist sicher davon auszugehen, dass der Picasso-Liebhaber wünschen würde, das Bild in der Galerie zu kaufen, wenn er nur wüsste, dass es tatsächlich von Picasso ist. Andere Beispiele ließen sich leicht hinzufügen. Fast jede längerfristige Handlungsplanung setzt voraus, dass wir nicht nur ein Wissen über unsere aktuellen Wünsche haben, sondern dass wir auch gerechtfertigte Vorhersagen über Wünsche treffen können, über die wir zur Zeit nicht verfügen. Unser Wissen um unsere aktu43 Auch im Rahmen seiner dispositionalen Auffassung von Wünschen hatte sich Smith darauf festgelegt, dass wir uns in Bezug auf unsere Wünsche täuschen können (s. Abschnitt 4.2.1.2).

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ellen Wünsche, Bedürfnisse und deren Zusammenhang untereinander versetzt uns in die Lage, zumindest partiell gerechtfertigte Überzeugungen dazu zu entwickeln, was wir unter kontrafaktischen Bedingungen wünschen würden. Ein genereller Skeptizismus bezüglich kontrafaktischer Wünsche scheint somit eine unplausible Position zu sein. Es ließe sich natürlich einwenden, dass die Bedingung vollständiger Rationalität eine so stark kontrafaktische Annahme sei, dass uns die Fähigkeiten fehlen, uns in diese Position zu versetzen. Smith würde hier entgegnen, dass damit zunächst nur gezeigt ist, dass wir kein vollständiges Wissen über Werte haben, nicht aber, dass wir gar keine gerechtfertigten Überzeugungen dazu entwickeln können. Dritter Einwand: Smith spricht allgemein von normativen Gründen. Wie ist das Verhältnis zwischen normativen Gründen und moralischen Gründen zu verstehen? Smith meint, dass moralische Gründe eine Subklasse normativer Gründe darstellen. Auch moralische Gründe entsprechen demnach Wunschdispositionen ideal rationaler Akteure. Deshalb erhebt Smith den Anspruch, auch moralische Gründe mit Hilfe seiner dispositionalen Theorie adäquat analysieren zu können. Dies impliziert nicht, dass jeder normative Grund ein moralischer Grund ist. Die Klasse der normativen Gründe ist größer. Die Unterschiede zwischen moralischen Gründen und normativen Gründen hält Smith jedoch für vernachlässigbar: Wenn gezeigt werden kann, dass normative Gründe allgemein motivierend wirken und moralische Gründe eine Subklasse normativer Gründe darstellen, dann ist auch die motivierende Kraft moralischer Gründe nachgewiesen. Im folgenden Abschnitt wird anhand eines Beispiels aus der Moral gezeigt, wie Smith moralische Wertungen im Rahmen seiner dispositionalen Theorie erläutert. Vierter Einwand: Smith ist nicht nur moralischer Kognitivist. Er bekennt sich auch zum moralischen Realismus. Er

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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behauptet also, dass normative Gründe objektive moralische Tatsachen sind.44 Ist diese Behauptung aber tatsächlich mit seiner dispositionalen Theorie der Werte verträglich? Schließlich bestehen doch normative Gründe dieser Theorie zufolge nicht unabhängig von uns, sondern sind nichts anderes als unsere Wunschdispositionen bzw. unsere Wünsche unter der Bedingung vollständiger Rationalität. Dieser Einwand wurde ursprünglich von Jonathan Dancy (1996) formuliert. Er argumentiert dafür, dass Smith letztlich daran gescheitert ist, eine vertretbare Form des moralischen Realismus vorzulegen.45 Den entscheidenden Grund dafür erblickt Dancy darin, dass Smith die Unterscheidung zwischen motivierenden und normativen Gründen so konzipiert, dass normative Gründe niemals als Handlungsgründe wirken können. Bei Smiths normativen Gründen, so Dancy, kann es sich schon aus begrifflichen Gründen nicht um solche Gründe handeln, die eine Handlung motivieren. Denn normative Gründe sind bei Smith objektive Wert-Tatsachen und motivierende Gründe sind mentale Zustände; dies sind zwei so unterschiedliche Typen von Gegenständen, dass ein normativer Grund niemals ein motivierender Grund sein kann.46 Smith hat auf diese Anfrage zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedlich reagiert. Seine Kernidee scheint jedoch die folgende zu sein: Wenn Smith meint, dass unsere normativen Gründe im Bereich der Moral objektive Tatsachen darstellen, dann setzt er dabei – wie 44 Smith lehnt zwar die These ab, dass normative Gründe immer mit objektiven Tatsachen identifiziert werden können. Dies bezieht sich aber nur auf nicht-moralische normative Gründe. Moralische normative Gründe stellen dagegen nach Smith sehr wohl moralische Tatsachen dar (Smith 1994, 183–184). 45 Nach Dancy (1996, 178–183) hat Smiths Theorie normativer Gründe eher konstruktivistische Züge. 46 So Dancy (1996, 172). Eine ähnliche Argumentation gegen Smiths Theorie findet sich bei Enoch (2007).

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Frege – einen „dünnen“ Tatsachenbegriff voraus. Diese Tatsachen und damit auch diese normativen Gründe sind für ihn identisch mit wahren Propositionen.47 Damit eine Person einen normativen Grund zu handeln hat, muss sie diesen Grund erfassen – und dies tut sie, wie bereits dargestellt wurde, durch eine Wertungsüberzeugung. Den ontologischen Unterschied zwischen objektiven Tatsachen auf der einen Seite und mentalen Zuständen auf der anderen Seite will Smith nun mit der folgenden Annahme überbrücken: Eine vollständig rationale Person verfügt über alle handlungsrelevanten normativen Gründe. Denn unter der Bedingung vollständiger Rationalität sind die normativen Gründe einer Person (das sind wahre Propositionen) notwendig mit den propositionalen Gehalten ihrer Wertungsüberzeugungen identisch. Außerdem tritt unter dieser Bedingung vollständiger Rationalität laut Smith noch das entsprechende Handlungsmotiv hinzu, weshalb normative Gründe auch motivieren können. Wie an dieser Stelle deutlich wird, ist der Begriff der vollständigen Rationalität das Konzept, mit dem Smiths Metaethik steht und fällt. Auf dieses Konzept sowie die damit verbundenen Probleme wird in den nächsten Abschnitten eingegangen. Mit der – zumindest partiellen – Entkräftung von vier Einwänden wurde gezeigt, in welcher Weise Smith seine Analyse normativer Gründe im Rahmen einer kognitivistischen Position interpretiert und inwiefern er meint, eine realistische Rekonstruktion normativer Gründe vorzulegen. Damit stellt sich die Frage, wie vor dem Hintergrund dieser Analyse der motivationstheoretische Internalismus verteidigt werden kann. Bei der Beantwortung dieser Frage verweist Smith auf den Kohärenzbegriff.

47 So Smith in The moral problem: „Normative reasons are thus best thought of as truths“ (Smith 1994, 95).

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4.3.2.2. Normative Gründe und motivationstheoretischer Internalismus: Kohärenz als Erklärung für die motivierende Kraft normativer Gründe Bisher ist unexpliziert geblieben, was Smith unter vollständiger Rationalität versteht. Nach Smith hat eine Person genau dann einen normativen Handlungsgrund, wenn sie die Überzeugung hat, dass sie unter der Bedingung vollständiger Rationalität (full rationality) den Wunsch hätte, dem Grund entsprechend zu handeln. Der Begriff vollständiger Rationalität spielt in Smiths Argument für die motivierende Kraft normativer Gründe also eine Schlüsselrolle. Was aber versteht Smith unter full rationality? Eine Person handelt nach Smith vollständig rational, wenn ihre Gründe zu handeln nicht mit rationalen Mitteln kritisiert werden können. Für den vollständig rational Handelnden fallen demnach motivierende und normative Gründe zusammen: Jeder motivierende Grund einer solchen Person ist auch ein guter Grund zu handeln. Wie aber kann der Idee der vollständigen Rationalität mehr Kontur verliehen werden? Smith hat seinen Explikationsvorschlag mehrfach revidiert.48 In der bisher letzten Version seiner Theorie charakterisiert er eine vollständig rationale Person durch die Zuschreibung eines optimal informierten, kohärenten und vereinheitlichten Systems von Wünschen. Die Formel „maximally informed and coherent and unified desire set“ findet sich häufig in Smiths aktuellen Publikationen.49 Was verbirgt sich hinter dieser Formel? Wie lässt sich durch den Rekurs auf diese Charakterisierung des Begriffs der vollständigen Rationalität die motivierende Kraft normativer Gründe erklären? Betrachten wir die drei Bedingungen, die in dieser Formel zusammengefasst sind, etwas genauer: 48 Den ersten Vorschlag hat Smith (1994, 156) vorgelegt. Unter dem Einfluss der Kritik von Swanton (1996), Copp (1997) u. A. hat er ihn jedoch mehrfach modifiziert. Den folgenden Überlegungen wird die aktuelle Version seiner Theorie zugrunde gelegt. 49 Smith 1999, 45, 54; 2001, 259; 2002, 332–333.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Eine Person ist vollständig rational, wenn sie ein Wunschsystem hat, das [i] optimal informiert, [ii] optimal kohärent und [iii] optimal vereinheitlicht ist.50 Bedingung [i] besagt, dass das Wunschsystem einer vollständig rationalen Person auf einer adäquaten epistemischen Grundlage beruhen muss. Eine vollständig rationale Person darf demnach keine falschen und sie muss alle wahren handlungsrelevanten Überzeugungen haben. Vor dem Hintergrund der Idee, dass eine vollständig rationale Person in ihrem Handeln nicht rational kritisierbar sein darf, lässt sich der Status von [i] als notwendige Bedingung für vollständige Rationalität leicht plausibilisieren: Wenn eine Handlung unter defizitären epistemischen Bedingungen ausgeführt wird, so ist sie rational kritisierbar, weil der Handelnde seine Ziele in diesem Fall normalerweise nicht erreicht. Hat ein Handelnder entweder falsche Überzeugungen (der Durstige vor dem Glas mit Benzin) oder fehlen ihm handlungsrelevante wahre Überzeugungen (der PicassoLiebhaber), so handelt er nicht aus normativen Gründen. Vielmehr glaubt er lediglich, normative Gründe für seine Handlung zu haben. Hätte er das relevante Vorwissen, würden sich seine Motive ändern. 50 Diese Bedingungen sind gemeinsam nicht hinreichend für vollständige Rationalität. Smith diskutiert noch weitere Bedingungen. So hat er im Rahmen seiner Reaktion auf die Kritik von Swanton (1996) zusätzlich gefordert, dass eine vollständig rationale Person auch unter keiner physischen oder psychischen Beeinträchtigung leiden darf (Smith 1997, 89). Die Relevanz einer derartigen Bedingung ist leicht zu plausibilisieren: Dass jemand, der unter einer physischen oder psychischen Beeinträchtigung (wie z. B. massiven Schmerzen, Depression, Durst, Erschöpfung etc.) nicht zur optimalen Ausübung seiner Fähigkeit zu rationaler Überlegung in der Lage ist, kann ohne weiteres zugestanden werden. Die drei genannten Bedingungen sind also auch nach Smith nicht hinreichend für vollständige Rationalität. Ich diskutiere an dieser Stelle nur die oben genannten drei Bedingungen, weil insbesondere diese für die Verteidigung des motivationstheoretischen Internalismus relevant sind.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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Mit dem Verweis auf Bedingung [i] kann auch erklärt werden, warum eine vollständig rationale Person inadäquate motivierende Gründe aufgibt: Ohne Zweifel würde der Durstige nicht mehr aus seinem Glas trinken, sobald er erfährt, dass in dem Glas Benzin ist. Smith will jedoch die weitergehende These vertreten, dass die vollständig rationale Person außerdem einen Wunsch generiert, der ihren normativen Gründen entspricht. Warum sollte dem so sein? Hier kommt die zweite Bedingung [ii] ins Spiel: Die vollständig rationale Person verfügt auch über ein maximal kohärentes Wunschsystem. Smiths Idee ist, dass eine vollständig rationale Person alle Wünsche aufgibt, die sich nicht kohärent in die optimal informierte Klasse von Wünschen einfügen lassen, und durch einen adäquaten Wunsch ersetzt. Diese Idee sei zunächst an einem einfachen Beispiel illustriert. Stellen wir uns eine Person vor, die zwar den Wunsch hat, Süßigkeiten zu essen, aber auch die wahre Überzeugung, dass zu viele Süßigkeiten ihrer Gesundheit schaden und sie deshalb weniger Süßigkeiten essen sollte. Die Person hat somit eine Wertungsüberzeugung: Sie glaubt, dass es richtig ist, weniger Süßigkeiten zu essen. Wenn diese Überzeugung wahr ist, dann verfügt diese Person nach Smiths dispositionaler Theorie der Werte über eine Wunschdisposition. Wäre sie vollständig rational, hätte sie den Wunsch, weniger Süßigkeiten zu essen. Smith appelliert an die folgende Intuition: Wenn die Person auf Grundlage dieser Überzeugung auch den Wunsch entwickeln würde, keine Süßigkeiten mehr zu essen, würde der Kohärenzgrad ihres Wunsch-Überzeugungssystems steigen. Es wäre demnach inkohärent, einerseits der Überzeugung zu sein, dass das Essen von Süßigkeiten schlecht ist, andererseits aber den Wunsch nach Süßigkeiten zu haben. Diese Form der Inkohärenz ist mit Bedingung [ii] unvereinbar. Eine vollständig rationale Person, die die Wertungsüberzeugung hat, dass es richtig

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ist, keine Süßigkeiten zu essen, entwickelt auch den entsprechenden Wunsch.51 Wie aber steht es um die motivierende Kraft moralischer Gründe? Erinnern wir uns: Smith primäres Argumentationsziel besteht darin, die Verträglichkeit des moralischen Kognitivismus mit dem motivationstheoretischen Internalismus nachzuweisen. Wie im vorigen Abschnitt gezeigt wurde, hat sich Smith darauf festgelegt, dass moralische Gründe eine Subklasse normativer Gründe darstellen. Folgerichtig vertritt er die These, dass moralische Gründe aufgrund genau desselben Mechanismus motivierend wirken wie andere normative Gründe auch. Die motivierende Kraft moralischer Gründe lässt sich demnach in analoger Weise zum SüßigkeitenBeispiel durch den Verweis auf die Kohärenz von Wünschen begründen. Dieser Anspruch legt nun vor dem Hintergrund des bisher Gesagten den folgenden Einwand nahe: Sowohl beim Süßigkeiten-Beispiel als auch beim Durstigen und beim Picasso-Liebhaber befand sich das resultierende Handeln immer im Einklang mit dem wohlinformierten Eigeninteresse. Der Picasso-Liebhaber würde das Bild in der Galerie kaufen, wenn er einen echten Picasso kaufen will. Der Durstige würde kein Benzin trinken, weil er sich damit vergiften würde; wer auf seine Gesundheit achten will, würde auf den übermäßigen Konsum von Süßigkeiten verzichten. Dieser Rekurs auf das wohlinformierte Eigeninteresse ist bei moralischen Gründen nicht generell möglich. Zeichnen sich diese doch gerade dadurch aus, dass sie nicht immer Handlungen empfehlen, die im Eigeninteresse liegen. Smith könnte auf 51 So Smith (2002, 335). Es sei noch einmal darauf hingewiesen, dass Smith sich damit nicht darauf festlegt, dass die Person auch gemäß dieses Wunsches handeln muss, d. h. dass sie sich dafür entscheidet, keine Süßigkeiten mehr zu essen. Wie jeder andere Wunsch kann selbstverständlich auch dieser durch konkurrierende Wünsche überlagert werden und deshalb letztlich nicht handlungswirksam werden. Entscheidend ist für Smith, dass das Vorliegen der Wertungsüberzeugung überhaupt einen Wunsch generiert.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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dieses Problem reagieren, indem er eine Version des moralischen Egoismus vertritt. Dies tut er jedoch nicht. Stattdessen führt er die Bedingung [iii] ein, um dem besonderen Charakter moralischer Gründe gerecht zu werden: Wer nur im wohlinformierten Eigeninteresse handelt, so Smith, ist in dem Sinne irrational, dass sein Wunschsystem nicht optimal vereinheitlicht ist. Was aber haben moralische Gründe mit Vereinheitlichung zu tun? In Smiths Arbeiten findet sich nur ein einziges etwas ausführlicher dargestelltes Beispiel, an dem dieser Zusammenhang erläutert wird.52 An diesem Beispiel lässt sich erstens verdeutlichen, was Smith unter der Vereinheitlichungsbedingung [iii] versteht, und zweitens kann daran auch illustriert werden, wie er den Kohärenzbegriff einsetzt, um die motivierende Kraft moralischer Gründe zu erklären. Wenden wir uns deshalb diesem Beispiel ausführlicher zu. Tom hat versprochen, einem Freund am nächsten Sonntag beim Umzug zu helfen. Später fällt ihm ein, dass er für Sonntagabend Gäste zum Essen eingeladen hat. Würde er beim Umzug helfen, so müsste er früh aufstehen, um die Wohnung aufzuräumen und das Essen vorzubereiten. Er könnte nicht ausschlafen, wie er es sonntags am liebsten tut. Er überlegt, sein Versprechen nicht zu halten, stellt am Samstagabend seinen Wecker nicht und geht zu Bett. Doch dann kommen Tom Zweifel, ob ein solches Verhalten als richtig zu bewerten ist. But let’s suppose that you then reflect and try to figure out […] what you would want yourself to do if you had a set of desires that is maximally informed and coherent and unified. (Smith 1999, 45)

Wenn wir darüber nachdenken, welches Verhalten richtig ist, so versetzen wir uns nach Smith in die Lage einer vollständig rationalen Person. Gemäß der dispositionalen Theorie der Werte kann Tom seine Zweifel ausräumen, indem er herausfindet, welche Wünsche er hätte, wenn er vollständig rational 52 Smith 1999, 45–47.

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wäre, d. h. wenn sein Wunschsystem die drei Bedingungen erfüllen würde. Im Rekurs auf diese drei Bedingungen will Smith nun begründen, dass Tom trotz widerstreitender Wünsche zu dem Ergebnis kommt, dass es einen moralischen Grund gibt, sein Versprechen zu halten. Warum aber ist es richtig, das Versprechen zu halten? Zunächst sollte wiederum Bedingung [i] erfüllt sein. Demnach dürfen Toms Überlegungen nicht auf falschen Überzeugungen beruhen und alle handlungsrelevanten Tatsachen müssen Gegenstand seiner Überzeugungen sein. Nun ist es aber so, dass Tom Gäste eingeladen hat und die Hilfe beim Umzug nicht in seinen Zeitplan passt. Smiths Begründung dafür, dass Tom trotzdem zur richtigen Lösung kommt, stützt sich an zentraler Stelle auf die Vereinheitlichungsbedingung [iii]. Tom erinnert sich nämlich daran, wie verletzend es war, als ein Freund einmal ein Versprechen ihm gegenüber gebrochen hat. Aus diesem Grund hat Tom den Wunsch, dass man gegebene Versprechen halten sollte. Deshalb muss auch dieser Wunsch in der Wertung berücksichtigt werden. You cannot think of any other case in which you desire others to live up to standards you don’t desire yourself to live up to, so this desire looks to be quite out of keeping with the rest of your desires. It doesn’t make any sense, given what you’re like. You therefore conclude that, your actual aversion to keeping your promise notwithstanding, if you had a maximally informed and coherent and unified desire set, you would want yourself to keep your promise in the circumstances of action you now face. (Smith 1999, 46)

Smith nennt hier wiederum alle drei Bedingungen für vollständige Rationalität („maximally informed and coherent and unified desire set“). Entscheidend für sein Argument ist aber die Vereinheitlichungsbedingung: Eine vollständig rationale Person hat nach Smith nicht nur ein optimal informiertes und kohärentes Wunschsystem, sondern auch ein solches, das optimal vereinheitlicht ist. Fragt sich eine Person, welche Wünsche sie hätte, wenn sie vollständig rational wäre, so sollte sie diese Frage beantworten, indem sie einen generellen Wunsch angibt, der ihr Wunschsystem in optimaler Weise vereinheitlicht:

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As you try to answer this question what you will look for is a general desire which is such that, if only you possessed it, you would be able to make the best sense of all the more specific desires you actually have. (Smith 1999, 46)

Welches Ziel verfolgt Smith mit der Einführung der Bedingung [iii] und der Forderung nach „generellen Wünschen“ (general desires)? Es geht ihm darum, eine zentrale Intuition zum Begriff moralischer Gründe zu integrieren. Seine Argumentation verläuft dabei folgendermaßen. Er geht davon aus, dass im Wunschsystem einer Person nicht nur Wünsche vorkommen, die das eigene Handeln betreffen, sondern auch solche Wünsche, die das Handeln anderer betreffen. Wenn Smith nun davon spricht, dass man diese Wünsche vereinheitlichen sollte, so meint er damit, dass die Wünsche, die man in Bezug auf das Handeln anderer hat, mit denen übereinstimmen sollten, die man in Bezug auf das eigene Handeln hat. Dies ist genau das, was die Goldene Regel fordert: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu! An diesen allgemein akzeptierten moralischen Grundsatz scheint Smith zu denken, wenn er schreibt: „You cannot think of any other case in which you desire others to live up to standards you don’t desire yourself to live up to…“.53 Allerdings rubriziert er diesen moralischen Grundsatz als allgemeine Rationalitätsforderung. An dieser Stelle wird deutlich, dass Smith einen sehr weiten Rationalitätsbegriff verwendet. Wie bereits erläutert wurde, sieht er moralische Gründe als eine Subklasse normativer Gründe an. Seiner Rationalitätskonzeption zufolge ergibt sich daraus, dass eine Person, die einer moralischen Forderung nicht entspricht, nicht nur unmoralisch, sondern sogar irrational handelt.54 Für Smith ist Rationalität demnach eine generelle 53 Smith 1999, 46. 54 In The moral problem hat Smith seine weite Rationalitätskonzeption, die auch moralische Forderungen einschließt, etwas genauer ausgeführt: „Our concept of a moral requirement thus turns out to be the concept of a categorical requirement of rationality after all.“ (Smith 1994, 87)

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Ansprechbarkeit für gute bzw. normative Gründe.55 Vor diesem Hintergrund ist sein Hinweis im soeben angeführten Zitat zu verstehen, dass andere Wünsche „keinen Sinn hätten“. Denn hätte Tom den Wunsch, dass andere Personen ihre Versprechen ihm gegenüber halten, und hätte er gleichzeitig den Wunsch, seine eigenen Versprechen zu brechen, so wäre sein Wunschsystem nicht sinnvoll („doesn’t make any sense“), weil seine speziellen Wünsche nicht unter einen generellen Wunsch subsumiert werden können. Es ist demnach irrational, von anderen die Erfüllung von Wünschen zu fordern, die man selbst nicht erfüllen würde. Smith beansprucht mit der Einführung der Vereinheitlichungsbedingung also offensichtlich, dem spezifischen Charakter moralischer Gründe im Rahmen einer weiten Rationalitätskonzeption gerecht zu werden. Deshalb führt er die Goldene Regel nicht als moralisches Prinzip ein, sondern fasst sie als eine notwendige Bedingung vollständiger Rationalität auf.56 Diese Problematik bei der systematischen Verortung der Vereinheitlichungsbedingung soll jedoch hier nicht ausführlich diskutiert werden, weil im vorliegenden Kontext die Analyse von Smiths Kohärenzbegriff im Mittelpunkt steht. Gestehen wir für den Augenblick zu, es würde Smith durch den Verweis auf Bedingung [iii] gelingen, dem besonderen Charakter moralischer Gründe in angemessener Weise gerecht zu werden. Hat man nämlich diesen Argumentationsschritt erst einmal akzeptiert, so lässt sich die motivierende Kraft moralischer Gründe nach Smith in genau derselben Weise erklären wie die motivierende Kraft normativer Gründe allgemein. Smith appelliert dabei wiederum an die Bedingung [ii] (optimale Kohärenz). Er ist der Auffassung, dass genau derselbe 55 Smith 1994, 194–196. 56 Smith bezeichnet seine Vereinheitlichungsbedingung selbst an keiner Stelle als Goldene Regel. Wie gezeigt wurde, hat seine Bedingung [iii] aber de facto genau denselben Gehalt wie dieser moralische Grundsatz.

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Kohärenzbegriff, auf den er sich im Kontext nichtmoralischer normativer Gründe beruft, auch geeignet ist, die motivierende Kraft moralischer Gründe zu erklären. In genau derselben Weise, wie die Überzeugung, dass man keine Süßigkeiten essen soll, bei der vollständig rationalen Person den entsprechenden Wunsch generiert, wirkt Kohärenz auch im moralischen Fall. Hat man die Überzeugung, dass man ein Versprechen halten soll, ist es wiederum nur kohärent, auch einen entsprechenden Wunsch zu haben. Hat man sich erst einmal klargemacht, dass man als vollständig rationale Person wünschen würde, seine Versprechen zu halten, so ist es schlicht rational, auch dazu motiviert zu sein. If you are rational, in the sense of displaying a tendency towards this sort of coherence, then you will end up having a desire that matches your belief about what you would want yourself to do if you had a maximally informed and coherent and unified desire set. In this particular case, if you are rational, in the sense of displaying this sort of tendency you will therefore end up losing your aversion to keeping your promise, and acquiring a desire to keep it instead. (Smith 1999, 47)

Der Grund dafür liegt wiederum darin, dass ein Wunsch-Überzeugungssystem, in dem die Überzeugung, dass es richtig ist, Versprechen zu halten, gemeinsam mit dem entsprechenden Wunsch auftritt, kohärenter ist als ein System, in dem diese Überzeugung gemeinsam mit dem Wunsch auftritt, Versprechen nicht zu halten. Smith appelliert also an die Intuition, dass eine bestimmte Art von Kohärenz eine notwendige Bedingung für vollständige Rationalität ist. Was aber verbirgt sich hinter dieser bestimmten Art von Kohärenz („this sort of coherence“)? Um diese Frage zu beantworten und somit entscheiden zu können, ob Smiths Argument für die motivierende Kraft normativer Gründe letztlich erfolgreich ist, muss aufgeklärt werden, was hier mit Kohärenz gemeint ist. Wenden wir uns also der Explikation des Kohärenzbegriffs zu.

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4.3.3 Der Kohärenzbegriff in Smiths Theorie normativer Gründe Im vorigen Abschnitt ist deutlich geworden, dass Smith seinen Kohärenzbegriff mit dem theoretischen Ziel einführt, den motivationstheoretischen Internalismus zu begründen. Es stellt sich für ihn somit die Aufgabe zu zeigen, dass zwischen normativen Gründen und Handlungsmotiven notwendige bzw. analytische Beziehungen bestehen. Im Folgenden wird geklärt, wie Smith den Kohärenzbegriff, der dies leisten soll, expliziert (4.3.3.1). Dann wird dargestellt, wie er seine Version des Internalismus im Rekurs auf diesen Kohärenzbegriff begründet (4.3.3.2). Zum Abschluss des Kapitels wird das primäre Problem seiner Kohärenztheorie normativer Gründe diskutiert (4.3.4). 4.3.3.1. Zur Explikation des Kohärenzbegriffs in Smiths Theorie normativer Gründe Zunächst fragen wir danach, welche Objekte Smith in einen kohärenten Zusammenhang bringen will. Smith weist dem Kohärenzbegriff in seiner Theorie normativer Gründe eine doppelte Rolle zu. Erstens können unsere Wünsche untereinander durch kohärenzstiftende Beziehungen verbunden sein; zweitens gibt es diese Beziehungen auch zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen. Zum ersten Aspekt von Kohärenz sagt Smith nicht sehr viel: Our desires, taken together as a whole, are capable of displaying relations of coherence with one another. Because they are capable of displaying such relations it follows that individual desires are susceptible to rational criticism in so far as they contribute towards the incoherence of a set to which they belong. (Smith 1999, 48)

Zwischen unseren Wünschen bestehen demnach kohärenzstiftende Beziehungen, die in dem Sinne normativ relevant sind, dass eine Inkohärenz rational zu kritisieren ist. Wie lässt sich diese Forderung nach vollständiger Kohärenz des Wunschsystems explizieren? Smith sagt dazu sehr wenig, so dass man nur Spekulationen anstellen kann. Man kann vermuten, dass er sich

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an dieser Stelle auf die in Abschnitt 4.2 dargestellten Forderungen nach lokaler und globaler Kohärenz bezieht. Ein vollständig kohärentes Wunschsystem muss demnach zumindest diesen beiden Forderungen instrumenteller Rationalität genügen. Versteht man dies als Minimalbedingung, so ist das ohne weiteres plausibel: Man kann nur dann vollständig rational handeln, wenn man zumindest instrumentell rational handelt. Allerdings ist anzunehmen, dass die Bedingung optimaler Kohärenz über die Forderungen instrumenteller Rationalität hinausgehen muss: Im optimal kohärenten Wunschsystem sollen sich ja nur noch Wünsche finden, die normative Gründe zu handeln darstellen. Im Bereich instrumenteller Rationalität konnten dagegen durchaus rational kritisierbare instrumentelle Wünsche (die z. B. aufgrund falscher Überzeugungen zustande gekommen sind) kohärent in ein System aus nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen eingebettet werden. Wenn Smith in seiner Theorie normativer Gründe davon spricht, dass ein optimal kohärentes Wunschsystem nicht mehr rational kritisierbar ist, dann legt er strengere Maßstäbe an. Smith weist Kohärenz aus diesem Grund noch eine zweite Rolle zu und diese ist für seine Erklärung der motivierenden Kraft normativer Gründe entscheidend: Nicht nur Wünsche untereinander, sondern auch Wertungsüberzeugungen und die entsprechenden Wünsche können durch kohärenzstiftende Beziehungen miteinander verbunden sein. Furthermore, because desires are capable of displaying relations of coherence with one another, and because we can form beliefs about which desires we would have if we were more coherent, there is a further dimension of coherence that can be displayed between desires and these beliefs. (Smith 1999, 48)57

An dieser Stelle zeigt sich, in welcher Weise der Kohärenzbegriff in Smiths Theorie dazu beitragen soll, die motivierende 57 Smith spricht hier abkürzend nur von „more coherent“; strenggenommen müsste er auch an dieser Stelle die Formel „maximally informed and coherent and unified“ einsetzen.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Kraft normativer Gründe zu erklären. Smith geht davon aus, dass wir in der Lage sind, Wertungsüberzeugungen zu erwerben. Bei diesen Wertungsüberzeugungen handelt es sich gemäß der dispositionalen Theorie der Werte um Überzeugungen, die Wunschdispositionen betreffen. Eine Person glaubt, dass x richtig ist, genau dann, wenn sie glaubt, dass sie unter den Bedingungen vollständiger Rationalität x wünschen würde. Aufgrund der Bedingung [ii] (optimale Kohärenz) garantiert die Forderung nach vollständiger Rationalität demnach zusätzlich, dass eine Person, die die Überzeugung hat, dass es richtig ist, x zu tun, auch über den entsprechenden Wunsch verfügt. Die entscheidende Intuition hat Smith auch in einer späteren Publikation noch einmal ausgeführt. Wenn eine Person die Wertungsüberzeugung hat, x zu tun sei richtig, und gleichzeitig nicht den Wunsch hat, x zu tun, dann ist sie irrational und zwar aus dem folgenden Grund: There is irrationality because the pair of psychological states that comprises S’s belief (true or false) that if he had a maximally informed and coherent and unified desire set he would want himself to do x in C, together with his desire to do x in C, is a more coherent pairing of psychological states than either of the following pairings: the pairing that comprises S’s belief (true or false) that if he had a maximally informed and coherent and unified desire set he would want himself to do x in C, together with his indifference to doing x in C; or the pairing that comprises S’s belief (true or false) that if he had a maximally informed and coherent and unified desire set he would want himself to do x in C, together with his aversion to doing x in C. (Smith 2001, 259)

Entscheidend ist hier die Phrase: „is a more coherent pairing of psychological states“. Hier wird ersichtlich, dass der Kohärenzbegriff die motivierende Kraft normativer Gründe erklären soll. Die Bedingung optimaler Kohärenz soll dabei begründen, warum allein die Überzeugung, einen normativen Handlungsgrund zu haben, das entsprechende Handlungsmotiv generiert. Verantwortlich dafür sind die kohärenzstiftenden Beziehungen zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen. Wie werden nun diese Beziehungen inhaltlich charakterisiert? Smith zieht

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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diesbezüglich eine enge Parallele zu seiner Humeschen Theorie motivierender Gründe. Wie gezeigt wurde, hatte Smith dort die Auffassung vertreten, dass es sich bei kohärenzstiftenden Beziehungen um teleologische Erklärungsbeziehungen handelt.58 Das Vorliegen eines Wunsches und einer passenden MittelZiel-Überzeugung, so hatte er dort festgestellt, hat das Potential, eine Handlung zu verursachen und in rationaler Weise (in Bezug auf die angestrebten Ziele des Handelnden) zu erklären: I have already alluded to the standard story of action explanation that we have inherited from David Hume.[…] According to this story, actions are caused and rationalised by a pair of mental states: a desire for some end […] and a belief of the agent. (Smith 2004a, 101)

In dieser Skizze von Humes These charakterisiert Smith die Beziehung zwischen dem Wunsch-Überzeugungspaar und dem zu erklärenden Handlungsmotiv mit Davidsons Formel: „cause and rationalize“. Die entsprechende Relation charakterisiert Smith hier, in seiner Theorie normativer Gründe mit genau derselben Formel. Eine Wertungsüberzeugung zeichnet sich demnach durch einen ganz bestimmten Gehalt (a particular content) aus und hat deshalb die folgende Eigenschaft: Once it is agreed that you have a belief with this particular content, it seems to me that there is no difficulty at all in seeing how it could both cause and rationalize your having a desire to keep your promise. (Smith 1999, 46, Herv. M. H.)

Im Unterschied zu seiner Theorie motivierender Gründe ist es hier allein die Wertungsüberzeugung, die die Entstehung eines entsprechenden Wunsches verursacht und in rationaler Weise erklärt. Die kohärenzstiftenden Beziehungen werden dabei aber in beiden Fällen in genau derselben Weise mit Hilfe der Formel „cause and rationalize“ charakterisiert. Es handelt sich nach Smith um Kausalrelationen, die im Rahmen einer teleologischen Handlungserklärung angeführt werden können, um das 58 S. Abschnitt 4.2.3.

300

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Handeln einer Person unter Maßgabe der von ihr angestrebten Ziele zu erklären. Smiths Kohärenzbegriff normativer Gründe lässt sich also in erster Näherung explizieren wie folgt: Kohärenzstiftende Beziehungen bestehen sowohl zwischen Wünschen untereinander als auch zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen. Diese kohärenzstiftenden Beziehungen lassen sich genauso wie in der Theorie motivierender Gründe bzw. instrumenteller Rationalität als teleologische Erklärungsbeziehungen auffassen. Wertungsüberzeugung

Wertungsüberzeugung

Wertungsüberzeugung

Wunsch

Wunsch

Wunsch

Abbildung 4.2 Eine vorläufige Rekonstruktion der kohärenzstiftenden Beziehungen zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen

Diese Explikation ist jedoch noch in einer wichtigen Hinsicht unvollständig. Smith will nämlich mit dem Verweis auf diesen Kohärenzbegriff den motivationstheoretischen Internalismus begründen. Mit dem bis hierher rekonstruierten Modell gelingt dies jedoch nur, wenn man den Anwendungsbereich seiner Theorie auf vollständig rationale Personen beschränkt. Denn nur diese verfügen ja per definitionem über die Eigenschaft der vollständigen Rationalität, was die Erfüllung der Bedingung [ii] nach optimaler Kohärenz impliziert. Im nächsten Abschnitt

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

301

wird gezeigt, warum die bisher gelieferte Rekonstruktion nur für diesen sehr begrenzten Anwendungsbereich einschlägig ist und in welcher Weise Smith seine Kohärenztheorie normativer Gründe ergänzt, um deren Anwendbarkeit auf nicht vollständig rationale Personen zu gewährleisten. 4.3.3.2. Smiths kohärentistische Begründung des motivationstheoretischen Internalismus Wie im Rahmen der Darstellung von Smiths Internalismusthese gezeigt wurde, vertritt er eine in zweierlei Hinsicht abgeschwächte Version des Internalismus. Eine notwendige Beziehung zwischen normativen Gründen und Handlungsmotiven wird nur für Personen postuliert, die praktisch rational sind. Aus Smiths eigenen Formulierungen der internalistischen Kernthese geht nun nicht klar hervor, wie stark er diese Rationalitätsforderung auffasst.59 Vor dem Hintergrund seiner Theorie normativer Gründe ergibt sich eine prima facie nahe liegende Interpretationsmöglichkeit: Man könnte die Rationalitätsforderung als Forderung nach vollständiger Rationalität auffassen. Unter dieser Prämisse ließe sich der Internalismus mit dem Verweis auf den soeben rekonstruierten Kohärenzbegriff folgendermaßen begründen. Da eine vollständig rationale Person optimal informiert ist, d. h. über alle handlungsrelevanten Überzeugungen verfügt und alle ihre Überzeugungen wahr sind, sind ihr auch alle normativen Gründe zugänglich, die für sie handlungsrelevant sind. Wenn eine vollständig rationale Person also glaubt, einen normativen Handlungsgrund zu haben, dann hat sie auch einen normativen Grund zu handeln. Dasselbe gilt auch umgekehrt: Wenn eine vollständig rationale Person glaubt, dass kein Handlungsgrund vorliegt, dann gibt es auch keinen solchen Grund. Wie lässt sich unter dieser Annahme erklären, dass mit den normativen Gründen einer voll59 Dort hatte er lediglich erläutert, dass keine Willensschwäche oder „andere Formen praktischer Irrationalität“ vorliegen dürfen. S. für Details Abschnitt 4.3.1 dieses Kapitels.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

ständig rationalen Person notwendig die entsprechenden Wünsche verbunden sind? Nach Smiths Analyse normativer Gründe handelt es sich bei diesen um Wunschdispositionen. Aus dieser Analyse ergibt sich somit: Wenn ein normativer Grund zu handeln vorliegt, dann verfügt jede Person (sei sie vollständig rational oder nicht) per definitionem über die entsprechende Wunschdisposition. Für eine vollständig rationale Person gilt zusätzlich (aufgrund ihrer optimalen Informiertheit), dass ihr jeder normative Grund auch zugänglich ist und sie sich niemals betreffs ihrer normativen Gründe irrt. Wenn eine vollständig rationale Person also die Überzeugung hat, einen normativen Grund zu haben, so hat sie notwendig auch die entsprechende Wunschdisposition. Deshalb kann man argumentieren wie folgt: Die notwendige Beziehung zwischen Wertungsüberzeugung und Wunsch ergibt sich, weil bei der vollständig rationalen Person jede Wertungsüberzeugung notwendig mit der entsprechenden Wunschdisposition verbunden ist. Die Wertungsüberzeugung aktualisiert die Wunschdisposition. Aus diesem Grund stellen Wertungsüberzeugung und Wunschdisposition gemeinsam die Ursache für die Genese des jeweils passenden Wunsches dar.60 Genau dies wird durch die Forderung nach optimaler Kohärenz als Bedingung vollständiger Rationalität explizit gemacht: Eine Person, die auf der Grundlage ihrer optimal informierten Wertungsüberzeugungen ihre Wunschdispositionen nicht aktualisiert (d. h. den entsprechenden Wunsch nicht entwickelt), ist per definitionem nicht vollständig rational. Deshalb hat eine vollständig rationale Person, die überzeugt ist, einen normativen Grund zu haben, notwendig auch einen motivierenden Grund, in entsprechender Weise zu handeln. 60 Hier lässt sich eine enge Analogie zu Smiths Theorie instrumenteller Rationalität ziehen: Während dort ein nicht-instrumenteller Wunsch und eine Mittel-Ziel-Überzeugung gemeinsam einen instrumentellen Wunsch verursachen und rational erklären (s. Abschnitt 4.2.2), verursachen und erklären hier eine Wunschdisposition und eine Wertungsüberzeugung gemeinsam die Genese eines entsprechenden Wunsches.

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

303

Damit wäre eine notwendige Beziehung zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen nachgewiesen. Das primäre Problem dieses Nachweises ist allerdings darin zu sehen, dass mit dieser Argumentation nur ein motivationstheoretischer Internalismus für vollständig rationale Personen begründet werden kann. Da die Forderung vollständiger Rationalität unter empirischen Bedingungen nie erfüllt sein wird, ergeben sich aus dieser Begründung des Internalismus keine Konsequenzen für faktisch handelnde Personen. Dieses Resultat will Smith vermeiden. Daher fasst er die Rationalitätsforderung, auf die er sich in seiner Formulierung der Internalismusthese bezieht, nicht als Forderung nach vollständiger Rationalität auf. Es gibt bei ihm einige Textstellen, die implizit darauf hinweisen, dass er die Rationalitätsforderung nicht in so anspruchsvoller Weise verstanden wissen will. Er spricht in seinen Formulierungen der internalistischen These grundsätzlich davon, dass die entsprechende Person urteilt, dass die Handlung richtig sei, bzw. dass die Person glaubt, einen normativen Grund zu haben. Würde er ausschließlich an vollständig rationale Personen denken, so könnte er stattdessen einfacher formulieren, dass die Person einen normativen Grund zu handeln hat. In seinen Publikationen findet sich zudem an einer Stelle sogar ein expliziter Hinweis darauf, dass Kohärenz nicht nur bei vollständig rationalen Personen zur Genese eines Handlungsmotivs führt. Diese Textstelle wurde bereits im vorigen Abschnitt im Kontext der Explikation des Kohärenzbegriffs angeführt. Hier der relevante Ausschnitt: There is irrationality because the pair of psychological states that comprises S’s belief (true or false) that if he had a maximally informed and coherent and unified desire set he would want himself to do x in C, together with his desire to do x in C, is a more coherent pairing of psychological states than either of the following pairings: […] (Smith 2001, 259, Herv. M. H.)

Smith sagt hier explizit, die Irrationalität entstehe, weil es inkohärent sei, zu einer Wertungsüberzeugung, sei sie wahr oder falsch, nicht den passenden Wunsch auszubilden. Auch falsche Wer-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

tungsüberzeugungen entwickeln also nach Smith eine motivierende Kraft. Entscheidend für die Genese eines Wunsches ist demnach nicht, dass eine Person einen normativen Grund hat, sondern lediglich, dass sie davon überzeugt ist, einen normativen Grund zu haben. Smith beansprucht somit, dass sein Internalismus nicht nur auf vollständig rationale Personen anwendbar ist. Deshalb kann die oben angeführte Argumentation den Internalismus nicht mehr begründen. Diese setzte nämlich die Annahme voraus, dass die Wertungsüberzeugung des Handelnden notwendig mit der entsprechenden Wunschdisposition verbunden ist. Auf diese Annahme kann man sich aber bei der Ausweitung des Anwendungsbereichs nicht mehr berufen. Schließlich können die entsprechenden Überzeugungen bei nicht vollständig rationalen Personen auch falsch sein. Die Überzeugung, dass man einen normativen Grund habe, mag zwar eine notwendige Bedingung dafür sein, tatsächlich einen normativen Grund zu haben. Wenn eine Person einen normativen Grund hat, muss sie schließlich zumindest die Tatsache erfasst haben, dass ein normativer Grund vorliegt. Diese Überzeugung stellt aber keine hinreichende Bedingung dafür dar, dass die Person wirklich einen normativen Grund hat. Vielmehr ist es auch möglich, dass eine nicht vollständig rationale Person zwar glaubt, einen normativen Grund zu haben, tatsächlich aber gar nicht über die entsprechende Wunschdisposition verfügt, weil ihre Überzeugung falsch ist. Will Smith den Anwendungsbereich seiner Internalismusthese ausweiten, so muss er also die entsprechende Rationalitätsforderung schwächer konzipieren als die Forderung nach vollständiger Rationalität. Trotzdem muss sie stark genug sein, um erklären zu können, warum auch falsche Wertungsüberzeugungen notwendig motivierend wirken, sofern die Forderung erfüllt ist. Worin aber liegt dann die Ursache für die Entstehung eines entsprechenden Wunsches? Wie lässt sich begründen, dass eine Wertungsüberzeugung allein – sei sie wahr oder falsch – einen Wunsch generiert? Smith beantwortet diese Frage, in-

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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dem er eine zusätzliche Annahme in seine Kohärenztheorie integriert. Diese Annahme soll eine Erklärung dafür bereitstellen, dass das Vorliegen einer Wertungsüberzeugung einen entsprechenden Wunsch nicht nur rechtfertigt, sondern auch dessen Verursachung erklären kann. The explanation is that since anyone who believes that doing x in C is right either desires to do x in C or is practically irrational, in the sense of being in an incoherent psychological state, it follows that all we need to posit, in order to explain the transition from the belief that doing x in C is right to desiring to do x in C, is the tendency a rational creature has towards having a coherent psychology. (Smith 2001, 264)

Was also muss zur Wertungsüberzeugung hinzutreten, damit der entsprechende Wunsch verursacht wird? Smith postuliert die Existenz einer Tendenz zur Kohärenz. Eine solche Tendenz muss eine kausale Rolle bei der Erklärung von Wünschen übernehmen, damit sie zur Erklärung der Genese eines Wunsches beitragen kann.61 In dieser Hinsicht besteht ein Unterschied zwischen Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe und seiner Kohärenztheorie motivierender Gründe. Illustrieren wir dies noch einmal, indem wir die beiden Theorien direkt miteinander vergleichen. Wie gezeigt wurde, geht Smith in beiden Kohärenztheorien davon aus, dass es sich bei den kohärenzstiftenden Beziehungen um teleologische Erklärungsbeziehungen handelt. Damit endet jedoch die Übereinstimmung. Denn in seiner Theorie instrumenteller Rationalität wurde die Rede von teleologischen Erklärungen so motiviert, dass es um die Erklärung von Handlungen ging, deren Ziele der Handelnde aufgrund seiner nicht-instrumentellen Wünsche anstrebt. Ausgehend von einer dispositionalen Auffassung von Wünschen wurde dafür argumentiert, dass es 61 An anderer Stelle sagt Smith explizit, dass der Tendenz zur Kohärenz eine kausale Kraft zukommt: „the causal power of the tendency toward coherence […]“ (Smith 1997, 100, Fn. 18).

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

eben das Vorhandensein von Wünschen ist, das diese Ziele setzt. Kohärenz war demnach ein Indikator dafür, wie weit ein Handelnder seine Ziele, die durch die nicht-instrumentellen Wünsche ohnehin schon gesetzt sind, in seinem Handeln verwirklicht. Praktisch irrational ist ein Handelnder demnach genau dann, wenn er konkrete Handlungsziele nicht verfolgt, auf die er durch seine übrigen Wünsche und seine Mittel-ZielÜberzeugungen bereits festgelegt ist. In der Kohärenztheorie normativer Gründe kommt der Kohärenz dagegen eine stärkere Rolle zu. Kohärenz koordiniert hier nicht nur die Handlungsziele, die durch die nicht-instrumentellen Wünsche ohnehin schon gesetzt sind. Vielmehr gewinnt hier Kohärenz selbst eine zielsetzende Kraft. Denn der Kohärenzbegriff soll ja keine Rolle bei der Rechtfertigung der normativen Gründe spielen, sondern bei der Erklärung der Genese der diesen Gründen entsprechenden Wünsche. Anders als in der Theorie instrumenteller Rationalität soll hier gelten: Hat man sich erst einmal klargemacht, was man für richtig hält, ist man dank der Tendenz zur Kohärenz auch entsprechend motiviert. Genau darin liegt die Pointe von Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe. Die zielsetzende Funktion, die bei der Erklärung instrumenteller Wünsche durch nicht-instrumentelle Wünsche übernommen wurde, übernimmt hier die von Smith postulierte Tendenz zur Kohärenz (s. Abbildung 4.3). Smith führt die Tendenz zur Kohärenz ein, um die motivierende Kraft auch falscher Wertungsüberzeugungen erklären zu können, die nicht mit einer entsprechenden Wunschdisposition verknüpft sind. Praktisch rational zu sein bedeutet demnach nicht lediglich, in kohärenter Weise den Zielen zu folgen, auf die man sich festgelegt hat, sondern das, was man richtig findet, faktisch auch zu seinem Handlungsziel zu machen. Warum aber sollte man der Tendenz zur Kohärenz folgen? Wenn Smith den Anspruch erhebt, dass seine Kohärenztheorie die motivierende Kraft normativer Gründe erklären soll, dann reicht das Postulat einer Tendenz zur Kohärenz nicht aus. Er muss diese auch begründen. Um die Erklärungskraft des Kohä-

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4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe Nicht-instrumenteller Wunsch

Mittel-ZielÜberzeugung

Instrumenteller Wunsch

Tendency towards Coherence

Wertungsüberzeugung

Wunsch

Abbildung 4.3 Vergleichende Darstellung der Rekonstruktion von Smiths humeanischer Theorie instrumenteller Wünsche und von Smiths Theorie der motivierenden Kraft normativer Gründe

renzbegriffs wäre es nicht gut bestellt, wenn Smith nicht sagen könnte, warum wir nach der Kohärenz von Wertungsüberzeugungen und Wünschen streben. Wenden wir uns zum Abschluss der Frage zu, ob Smith eine Begründung präsentiert. 4.3.4 Das zentrale Problem in Smiths Theorie normativer Gründe: Warum kohärent sein? Warum also kohärent sein? Smiths kurze Antwort auf diese Frage lautet: Es gibt eine Tendenz zur Kohärenz. Wie aber kommt es zu dieser Tendenz? Während Smith in früheren Publikationen diese Tendenz schlicht postuliert hat,62 hat er in neueren Arbeiten versucht, die Existenz einer solchen Tendenz zur Kohärenz argumentativ zu untermauern. Einige seiner Äußerungen in früheren Publikationen lassen sich dahingehend deuten, dass er die Tendenz zur Kohärenz 62 „The pressure toward coherence is not so much explained as assumed.“ (Smith 1997, 97)

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

selbst als motivierenden Grund (als Wunsch, Bedürfnis, Trieb etc.) auffasst. Diese Lösung mag auf den ersten Blick nahe liegen: Wie in Abbildung 4.3 veranschaulicht, würde der nicht-instrumentelle Wunsch, der in der Theorie motivierender Gründe den instrumentellen Wunsch verursacht, in der Theorie normativer Gründe einfach durch einen anderen Wunsch (die Tendenz zur Kohärenz) ersetzt. In diesem Fall ließe sich argumentieren, dass die Verursachung von Wünschen in beiden Theorien nach genau demselben Mechanismus abläuft. Die Tendenz zur Kohärenz wäre in diesem Fall nichts anderes als eine rein deskriptive, empirisch feststellbare psychologische Eigenschaft handelnder Personen. Für die Existenz einer solchen Eigenschaft gibt es zwar in der Psychologie tatsächlich eine ganze Reihe von Belegen. Die Kernthese der von Leon Festinger in die Sozialpsychologie eingeführten Dissonanztheorie besagt genau dies: Generell streben Personen nach einem kohärenten (in Festingers Terminologie: konsonanten) psychischen Zustand und tendieren dazu, Dissonanzen zu vermeiden. The existence of dissonance, being psychologically uncomfortable, will motivate the person to try to reduce the dissonance and achieve consonance. (Festinger 1957, 3)

In einer Reihe von Experimenten hat Festinger gezeigt, dass die meisten Menschen einen konsonanten psychischen Zustand als angenehmer empfinden als einen dissonanten Zustand. Allgemein kann also davon ausgegangen werden, dass es eine Tendenz gibt, einen konsonanten Zustand zu erreichen. Under certain circumstances there are […] strong and important tendencies to avoid increases of dissonance or to avoid the occurrence of dissonance altogether. (Festinger 1957, 29–30)63 63 Worin diese Tendenzen genau bestehen, macht Festinger nicht sehr deutlich. Es lässt sich aber aus seinem Text entnehmen, dass er sie für nicht-kognitive, motivierende psychische Zustände hält: „Dissonance acts in the same way as a state of drive or need or tension.“ (Festinger 1957, 18)

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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Eine solche Deutung der Tendenz zur Kohärenz als Wunsch kommt jedoch Smiths theoretischen Zielen nicht entgegen: Erstens hat er sich auf die These festgelegt, dass die motivierende Kraft normativer Gründe nicht aufgrund des Vorliegens eines Wunsches besteht. Die Pointe seiner Kohärenztheorie normativer Gründe bestand vielmehr gerade darin, deren motivierende Kraft nachzuweisen, ohne sich dabei auf die Existenz eines entsprechenden Wunsches berufen zu müssen. Es wäre kaum in Smiths Sinn, wenn nun im Kontext seiner Kohärenztheorie gleichsam durch die Hintertür wieder ein Wunsch in seine Begründung einflöße. Ein zweiter Aspekt ist systematisch noch gravierender: Der Tendenz zur Kohärenz soll eine rationalitätstheoretische Rolle zukommen. Nach Smith ist es rational, kohärent zu sein. Eine wunschähnliche, rein empirisch begründete Tendenz zur Kohärenz muss jedoch keineswegs immer in einer Richtung wirken, die unseren Intuitionen zur Rationalität von Handlungen entspricht: Attempts to reduce dissonance […] may take any or all of three forms. The person may try to change one or more of the beliefs, opinions, or behaviors involved in the dissonance; to acquire new information or beliefs that will increase the existing consonance and thus cause the total dissonance to be reduced; or to forget or reduce the importance of those cognitions that are in a dissonant relationship. (Festinger et al. 1956, 26)

Eine empirisch konzipierte Tendenz zur Kohärenz würde demnach nicht (nur) die zu Wertungsüberzeugungen passenden Wünsche verursachen. Ebenso gut kann sie dazu führen, dass die betreffende Person ihre Überzeugungen, ihre Einstellungen oder ihr Handeln modifiziert oder gar Überzeugungen vergisst oder deren Relevanz gering einschätzt – immer im Sinne der Dissonanzreduktion. Welche Mechanismen also wirken, um Kohärenz zu erreichen, wäre eine rein empirische Frage. Eine derartig konzipierte Tendenz zur Kohärenz könnte die rationalitätstheoretische Rolle, die Smith ihr zuschreiben will, keineswegs mehr übernehmen. Welche Begründung bietet Smith stattdessen für die Tendenz zur Kohärenz? Er verfolgt die übrig gebliebene Alterna-

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

tive: Wenn diese Tendenz zur Kohärenz von Wertungsüberzeugungen und Wünschen selbst kein Wunsch sein kann, dann muss hier derselbe Mechanismus wirken, der auch bei der Genese der Kohärenz von Überzeugungen wirkt. Auch wenn eine Person ihre Überzeugungen kohärenter macht (d. h. sich die inferentiellen Beziehungen zwischen diesen Überzeugungen bewusst macht), so geschieht dies nach Smith durch die Wirkung derselben Tendenz zur Kohärenz. Bei den Wertungsüberzeugungen handelt es sich eben lediglich um besondere Überzeugungen, die aufgrund genau dieser Tendenz nicht nur andere Überzeugungen, sondern auch Wünsche verursachen können. [The belief to have a normative reason to is] an example of a belief that can both cause and rationalize a desire in much the way in which beliefs cause and rationalize other beliefs. (Smith 1999, 48)

Wiederum versucht Smith, sein Argument anhand eines Beispiels zu plausibilisieren. Betrachten wir die drei folgenden Aussagen: (1) Bill ist mein Nachbar. (2) Mein Nachbar fährt ein Motorrad. (3) Bill fährt ein Motorrad. Nehmen wir an, ich bin von (1) und (2) überzeugt. Allein die Tatsache, dass zwischen den drei Aussagen inferentielle Beziehungen bestehen, bietet keine Erklärung dafür, dass ich auch von (3) überzeugt bin. Ich sollte auch von (3) überzeugt sein, wenn ich von (1) und (2) überzeugt bin. Es ist aber ohne weiteres möglich, dass ich die Überzeugung (3) de facto nicht habe, weil ich die deduktive Folgerung nicht durchgeführt habe. Wie also kann man den Übergang von (1) und (2) auf (3) erklären? Smith fährt fort: Something extra is therefore needed in order to explain the causal transition. But what? What is it that corresponds to my disposition to make an inference? The answer is: the very tendency towards coherence that I described above. For consider the set of psychological states comprised by the belief that Bill is the man next door, the belief that the man next

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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door rides a motorcycle and the belief that Bill rides a motorcycle, and compare this set with that comprised by the belief that Bill is the man next door, the belief that the man next door rides a motorcycle and the complete lack of belief as regards who that man is. Which set of beliefs is more coherent? The first is plainly more coherent than the second. Possession of the same tendency towards coherence is thus once again the needed extra element that explains why, when someone believes that Bill is the man next door and that the man next door rides a motorcycle, they come to acquire the belief that Bill rides a motorcycle. (Smith 1999, 54)

Ähnliche Argumente für die Tendenz zur Kohärenz finden sich bei Smith an verschiedenen Stellen.64 Smiths Parallelisierung der Kohärenz verschiedener Überzeugungen mit der Kohärenz von Wertungsüberzeugungen und Wünschen ist problematisch. Zunächst sind in den beiden Fällen unterschiedliche Kohärenzbegriffe einschlägig. Vor dem Hintergrund der im Kapitel 2 und im vorliegenden Kapitel dieser Untersuchung durchgeführten Analysen kann dieser Unterschied expliziert werden. Wenn Smith an der soeben zitierten Stelle fragt „Which set of beliefs is more coherent?“, dann bezieht sich das Prädikat „is more coherent“ nicht auf den von ihm entwickelten und hier rekonstruierten Kohärenzbegriff, sondern auf den Kohärenzbegriff aus der Theorie der epistemischen Rechtfertigung. Daraus ergibt sich aber eine wichtige Differenz. Versteht man Smiths These von der Tendenz zur Kohärenz als eine Antwort auf die Frage „Warum kohärent sein?“, so lässt sich im Rahmen der Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung darauf eine klare Antwort geben. Der Kohärenztheoretiker epistemischer Rechtfertigung kann nämlich antworten: Weil Kohärenz epistemisch rechtfertigend wirkt, anders gesagt, weil die Kohärenz eines Überzeugungssystems zumindest ceteris paribus ein Indikator dafür ist, dass die Überzeugungen wahrscheinlich wahr sind. Weil Smith hier einen anderen Kohärenzbegriff vertritt, ist es ihm nicht 64 Smith 2001, 260; 2002, 334; 2004b, 87–88.

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

möglich, in dieser Weise zu antworten. Die Parallele zwischen der Kohärenz von Überzeugungen und der Kohärenz von Wertungsüberzeugungen und Wünschen lässt sich also nicht in der Weise ziehen, wie Smith es hier suggeriert. Deshalb kann die Tendenz zur Kohärenz auch nicht durch diese Analogisierung begründet werden. Smith könnte nun erwidern, dass dieser Einwand seinen Intentionen nicht gerecht werde: Schließlich hat er explizit festgestellt, dass zwischen Überzeugungen inferentielle Beziehungen bestehen, nicht aber zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen. Es geht ihm also nicht darum zu behaupten, hier läge derselbe Kohärenzbegriff vor. Im Gegenteil. Er hat im Rahmen seiner Theorie instrumenteller Rationalität ja sogar betont, dass zwischen inferentiellen Beziehungen und teleologischen Erklärungsbeziehungen zu unterscheiden ist.65 Er will an dieser Stelle vielmehr sagen, dass die Erklärung dafür, dass eine Person diese kohärenzstiftenden Beziehungen erfasst, in beiden Fällen dieselbe ist. Dies ist jedoch eine sehr unplausible These. Die empirische Fähigkeit (oder Tendenz), das Bestehen inferentieller Beziehungen zwischen Überzeugungen zu erkennen und deduktive Schlussfolgerungen durchzuführen, ist von der Tendenz zu unterscheiden, aufgrund einer Wertungsüberzeugung einen entsprechenden Wunsch zu generieren. So kann z. B. eine Person ihre Fähigkeit zum logischen Schließen extrem trainiert und darin aufgrund einer zusätzlichen Begabung eine hohe Kompetenz erworben haben – und gleichzeitig völlig unfähig sein, auf der Grundlage ihrer Wertungsüberzeugungen Handlungsmotive zu entwickeln. Veranschaulichen wir die Tatsache, dass es sich hier um zwei völlig unterschiedliche Fähigkeiten handelt, anhand eines weiteren, bereits wohlbekannten Beispiels: 65 Im Kontext seiner Theorie instrumenteller Rationalität hatte Smith selbst streng zwischen instrumental rationality und instrumental reasoning unterschieden (s. Abschnitt 4.2.2.3).

4.3 Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe

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(1) Lügen ist moralisch falsch. (2) Wenn lügen moralisch falsch ist, dann ist es auch moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. (3) Es ist moralisch falsch, den kleinen Bruder zum Lügen zu verleiten. Als moralischer Kognitivist erkennt Smith an, dass dies ein deduktives Argument ist und dass (3) aus (1) und (2) folgt. Außerdem wird Smith auch nicht bestreiten, dass wir in der Lage sind, diese inferentiellen Beziehungen zwischen Wertungsüberzeugungen zu erkennen und entsprechende Schlussfolgerungen zu ziehen. Man kann, wie Smith es tut, diese Fähigkeit als Tendenz zur Kohärenz bezeichnen: Sind wir in den Überzeugungen (1) und (2) gerechtfertigt und aktualisieren wir ihren Gehalt, so mag es eine Tendenz geben, auf die Folgerung (3) zu schließen. Diese Fähigkeit, auf der Grundlage von Wertungsüberzeugungen andere Wertungsüberzeugungen zu generieren, muss aber von der Tendenz unterschieden werden, aufgrund des Erwerbs einer Wertungsüberzeugung einen Wunsch auszubilden. Es ist gut vorstellbar, dass eine Person die Fähigkeit hat, ihr System von Wertungsüberzeugungen in optimaler Weise durch das Durchführen von Schlussfolgerungen kohärent zu machen, ohne dass diese Person dabei eine einzige entsprechende Handlungsmotivation entwickelt. Willensschwäche ist etwas anderes als eine Schwäche im korrekten Schließen. Dies spricht gegen Smiths These, dass es sich in beiden Fällen um dieselbe Fähigkeit handelt. Das primäre Problem von Smiths Argumentation entsteht also dadurch, dass er zwei verschiedene Kohärenzbegriffe miteinander parallelisiert, die sich erheblich voneinander unterscheiden. Zwar sind beide Kohärenzbegriffe in seine Metaethik integrierbar. Als moralischer Kognitivist kann Smith ohne weiteres auch eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung vertreten. Für seine Begründung des motivationstheoretischen Internalismus beruft er sich jedoch auf einen anderen

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4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

Kohärenzbegriff. Wichtig ist, dass diese beiden Begriffe mit verschiedenen theoretischen Zielsetzungen in die entsprechenden Kohärenztheorien eingeführt werden. Daraus ergibt sich die Konsequenz, dass die Genese von Kohärenz in den beiden Fällen nicht durch ein und dieselbe Tendenz zur Kohärenz erklärt werden kann. Letztlich stützt sich Smiths Argumentation also auf die Identifikation von zwei verschiedenen Fähigkeiten, die der Sache nach nicht miteinander identifiziert werden dürfen. Aus diesem Grund kann seine Begründung des motivationstheoretischen Internalismus nicht überzeugen. Dieses Ergebnis hat auch Folgen für seine Kohärenztheorie normativer Gründe allgemein. Es ist festzustellen, dass am Ende nur der Appell an die Intuition bleibt, dass es rational sei, gemäß seiner Wertungsüberzeugungen zu handeln. Dieser Intuition ist gewiss zuzustimmen: Was man richtig findet, das sollte man rationalerweise auch wünschen. Die Kohärenztheorie normativer Gründe sollte jedoch nicht nur mit dieser Intuition verträglich sein. Smiths Anspruch besteht ja darin, diese Kernintuition des motivationstheoretischen Internalismus mit seiner Theorie verständlich zu machen und zu begründen. Solange seine Kohärenztheorie jedoch keine befriedigende rationalitätstheoretische Begründung für die Tendenz zur Kohärenz zu bieten vermag, kann er diesem Anspruch im Rahmen seiner Metaethik nicht gerecht werden.

4.4 Fazit Die Analyse hat verdeutlicht, dass Smith zwei verschiedene Kohärenztheorien vorgelegt hat: eine Kohärenztheorie motivierender Gründe und eine Kohärenztheorie normativer Gründe. Auf der Grundlage der in dieser Untersuchung zugrunde gelegten beiden Leitfragen lassen sich die jeweils thematischen Kohärenzbegriffe charakterisieren wie folgt: In seiner Theorie motivierender Gründe handelt es sich bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, um nicht-

4.4 Fazit

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instrumentelle Wünsche und Mittel-Ziel-Überzeugungen sowie instrumentelle Wünsche. In seiner Theorie normativer Gründe dagegen sind es Wertungsüberzeugungen und die entsprechenden Wünsche. In beiden Fällen charakterisiert Smith die kohärenzstiftenden Relationen als teleologische Erklärungsbeziehungen.66 Damit ist gezeigt, dass Smiths Kohärenzbegriffe jeweils eigenständige Konzepte darstellen. Zudem ist keiner von diesen Begriffen auf einen der in den Kapiteln 2 und 3 diskutierten Kohärenzbegriffe reduzierbar. Während die Grundlinien von Smiths Kohärenztheorie motivierender Gründe im Neohumeanismus in der Theorie praktischer Rationalität weithin akzeptiert sind, ist seine Kohärenztheorie normativer Gründe massiven Einwänden ausgesetzt. Smiths theoretisches Ziel bei der Einführung des Kohärenzbegriffs in seine Theorie motivierender Gründe besteht darin zu erklären, in welcher Weise es gelingt, die Ziele, die sich ein Handelnder durch seine Wünsche setzt, auch in seinem Handeln zu verwirklichen. Das theoretische Ziel der Einführung des Kohärenzbegriffs in seine Theorie normativer Gründe besteht dagegen darin, den motivationstheoretischen Internalismus zu begründen. Es muss festgestellt werden, dass Smiths Argumente in der Summe nicht überzeugen können. Stellt man sich die Frage, ob hier eine Verwendung des Kohärenzbegriffs vorliegt, die in theoretisch fruchtbarer Weise in der Ethik weiter verfolgt werden kann, so ist aus mehreren Gründen Skepsis angebracht. Erstens muss sich Smith auf eine Tendenz zur Kohärenz berufen, wenn er den Internalismus auch in der Anwendung auf 66 Trotz dieser Übereinstimmung im Hinblick auf die kohärenzstiftenden Beziehungen sind bei Smith zwei Kohärenzbegriffe zu unterscheiden, die sogar extensional auseinanderfallen: In der Theorie motivierender Gründe werden andere Gegenstände in einen kohärenten Zusammenhang gebracht als in seiner Theorie normativer Gründe. Von diesen beiden Kohärenzbegriffen bezieht sich nur der zweite direkt auf die Ethik, weil Smith moralische Gründe als eine Subklasse normativer Gründe auffasst.

316

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

nicht vollständig rationale Personen verteidigen will. Wie gezeigt wurde, kann er jedoch keine überzeugende Auskunft darüber geben, was genau diese Tendenz zur Kohärenz ist und in welcher Weise der Internalismus durch diese stichhaltig begründet werden könnte. Zweitens stützt sich Smiths Kohärenztheorie normativer Gründe auf ein ganzes Bündel kontroverser metaethischer Annahmen. Zunächst legt er sich auf den moralischen Kognitivismus fest. Denn nur im Rahmen einer kognitivistischen Metaethik ergibt sich überhaupt die von Smith beschriebene Problematik des Nachweises der motivierenden Kraft normativer Gründe.67 Insofern ergibt sich bezüglich dieser metaethischen Voraussetzung eine Parallele zur Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung. Allerdings muss Smith einige anspruchsvolle zusätzliche Annahmen machen. Er muss sich nämlich außerdem auf eine naturalisierte Metaethik, auf eine dispositionale Auffassung von Wünschen und eine dispositionale Theorie der Werte festlegen, wenn seine Argumentation durchführbar sein soll. Jede einzelne dieser Annahmen ist umstritten. Dies ist zwar kein interner Grund gegen seine Kohärenztheorie. Es ist jedoch kritisch, wenn eine Theorie von anspruchsvollen Vorannahmen abhängt, die für sich genommen bereits problematisch sind oder die zumindest kontrovers diskutiert werden. Es kommt hinzu, dass Smiths Theorie selbst unter metaethischen Naturalisten umstritten ist: Gerade hier finden sich nämlich die seltenen Vertreter des motivationstheoretischen Externalismus in der Metaethik.68 Drittens ist zu bezweifeln, dass Smith mit seiner Theorie normativer Gründe überhaupt eine befriedigende Theorie mo67 Für Nonkognitivisten entsteht das Motivationsproblem in dieser Form nicht, weil diese davon ausgehen, dass sich in moralischen Äußerungen bereits wunschähnliche Einstellungen ausdrücken. Anders als bei Überzeugungen kann deren motivierende Kraft kaum in Zweifel gezogen werden (s. Abschnitt 3.4.4 dieser Untersuchung). 68 Railton 1986, Brink 1989, Schaber 1997.

4.4 Fazit

317

ralischer Gründe vorgelegt hat. Smith vertritt die Auffassung, dass moralische Gründe eine Subklasse normativer Gründe darstellen. Um die Intuition zu belegen, dass moralische Gründe (wie z. B. ein Versprechen zu halten) im Rahmen seiner Theorie adäquat erfasst werden, hatte er ein Vereinheitlichungsprinzip eingeführt: Die Wünsche einer vollständig rationalen Person sind per definitionem optimal vereinheitlicht. Diese Forderung entspricht inhaltlich der Goldenen Regel. Smith rubriziert also ein Prinzip, das eine moralische Regel darstellt, als allgemeine Rationalitätsforderung an normative Gründe. Daher ist fraglich, ob moralische Gründe in seiner Analyse angemessen erfasst werden. Ob Smith also tatsächlich eine Version des motivationstheoretischen Internalismus begründet, die mit dem moralischen Kognitivismus vereinbar ist, muss auch aufgrund dieser Unklarheit seiner Theorie eine offene Frage bleiben. Viertens schließlich vertritt Smith den Anspruch, den motivationstheoretischen Internalismus im Rahmen seiner Metaethik nicht nur mit dem moralischen Kognitivismus, sondern auch mit Humes Motivationstheorie zu versöhnen. Bleibt er aber in seiner Analyse normativer Gründe tatsächlich noch den Grundsätzen von Humes Motivationstheorie verpflichtet? Smith selbst beansprucht, Humes Theorie treu geblieben zu sein, weil seine Version des Internalismus mit der These verträglich sei, dass es sich bei Überzeugungen und Wünschen um verschiedene Gegenstände (distinct existences) handele und beide dazu beitragen würden, die Entstehung einer Handlungsmotivation zu erklären.69 Dies stimmt insofern, als Smith die Strategie verfolgt, die notwendigen Beziehungen zwischen Wertungsüberzeugungen und Wünschen nicht auf der Grundlage des Überzeugungsbegriffs, sondern durch den Verweis auf eine spezifische Rationalitätskonzeption zu rekonstruieren. Trotzdem lässt sich bezweifeln, ob man tatsächlich noch der Kernannahme einer humeanischen Motivationstheorie gerecht wird, 69 Smith 1994, 185.

318

4. Ein motivationstheoretischer Ansatz

wenn die Entstehung des handlungsmotivierenden Wunsches auf der Grundlage einer Überzeugung und einer spezifischen Analyse normativer Gründe (also ohne die Annahme eines anderen Wunsches) erklärt wird. Ob sich Smith allerdings die Kernthesen der humeanischen Motivationstheorie tatsächlich in idiosynkratischer Weise zurechtlegt, um das Trilemma aufzulösen, kann an dieser Stelle offen bleiben. Ich habe mich auf die Rekonstruktion seiner Begründung des motivationstheoretischen Internalismus konzentriert, weil darin ein spezifischer Kohärenzbegriff eine Schlüsselrolle spielt. Dabei hat sich gezeigt, dass diese Begründung – unabhängig davon, ob man sie als humeanische oder als antihumeanische Motivationstheorie rubriziert – gravierenden Einwänden ausgesetzt ist. Wenden wir uns einer Theorietradition zu, die ebenfalls beansprucht, den Grundsätzen von Humes Motivationstheorie verpflichtet zu sein. Es handelt sich um die rationale Entscheidungstheorie. Auch hier ist ein Begriff von Kohärenz von zentraler Bedeutung.

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz: Kohärenz von Präferenzen als notwendige Bedingung der Rationalität moralischer Entscheidungen 5.1 Einleitung In der Theorie praktischer Rationalität gibt es ein Paradigma, das auch in der Ethik und der Metaethik eine wichtige Rolle spielt: das Paradigma der rationalen Entscheidungstheorie. Die Entscheidungstheorie bietet ein formal präzises und begrifflich sparsames Instrumentarium zur Beschreibung, Erklärung und Rechtfertigung von rationalen Entscheidungen. Damit spielt sie eine wichtige Rolle bei der Erklärung und Rechtfertigung von Handlungen individueller Personen, jedoch nicht nur dort. Generell wird der Entscheidungsbegriff in der Entscheidungstheorie weiter interpretiert, so dass auch die Wahl zwischen verschiedenen Theorien bzw. Überzeugungen1 oder die Wahl zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Zuständen mit den begrifflichen Mitteln der Entscheidungstheorie modelliert werden kann.2 Aus welchem Grund aber ist dieses breit gefächerte Paradigma in dieser Untersuchung von Interesse, deren Gegenstand doch die Klärung des Kohärenzbegriffs in der Ethik ist? Auf diese Frage gibt es eine denkbar einfache Antwort. Erstens 1 Siehe z. B. Weintraub (1990). 2 Dies gilt für z. B. Anwendungen der Entscheidungstheorie auf den Bereich der Wohlfahrtsökonomie (siehe z. B. Feldman 1980, Hausman & McPherson 2006, Kap. 7 und 8).

320

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

spielt in der Entscheidungstheorie ein bestimmter Kohärenzbegriff eine Schlüsselrolle. Dabei geht es um die Kohärenz von Präferenzen. Zweitens wird diese Theorie in fruchtbarer Weise für die Untersuchung moraltheoretischer Problemstellungen eingesetzt. Bei dem präferenztheoretischen Kohärenzbegriff, der in der Entscheidungstheorie vorgeschlagen und präzisiert worden ist, handelt es sich um einen Begriff, der mit keinem der drei bisher diskutierten Kohärenzbegriffe aus dem Bereich der Ethik identifiziert werden kann. Dies bedeutet aber nicht, dass keinerlei Beziehungen zu den anderen Kohärenzbegriffen und theorien bestünden. Die stärksten Parallelen ergeben sich zu Michael Smiths Theorie instrumenteller Rationalität.3 (a) Die Entscheidungstheorie lässt sich wie Smiths Theorie motivierender Gründe als Präzisierung und Ausarbeitung des neohumeanischen Rationalitätsmodells auffassen. Inhaltlich kann sie folglich als eine Explikation der Theorie instrumenteller Rationalität angesehen werden. Außerdem (b) tritt hier wie dort an zentraler Stelle ein Kohärenzbegriff auf. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob der hier einschlägige präferenztheoretische Kohärenzbegriff tatsächlich einen eigenständigen Begriff darstellt oder ob es sich nicht letztlich um Smiths Kohärenzbegriff handelt. Und schließlich (c) weist die Entscheidungstheorie in ihrer Standardinterpretation keine direkten Beziehungen zu einer bestimmten Theorie der Ethik auf. Genau so wie Smiths Theorie instrumenteller Rationalität verhält sie sich zunächst neutral zu moraltheoretischen Fragestellungen und Positionen. Will man nun die Eigenständigkeit des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs belegen und zudem die Beziehungen der Entscheidungstheorie zu moraltheoretischen Problemstellungen aufklären, so ergeben sich aus diesen Parallelen zu Smiths Theorie instrumenteller Rationalität drei argumentative Aufgaben. Erstens ist zu zeigen, inwiefern die Entscheidungs3 Siehe die Abschnitte 4.2.2 und 4.2.3.

5.1 Einleitung

321

theorie in ihrer Standardinterpretation als formale Präzisierung des neohumeanischen Rationalitätsmodells bzw. als Theorie instrumenteller Rationalität aufgefasst werden kann. Zweitens ist der präferenztheoretische Kohärenzbegriff zu explizieren und es ist nachzuweisen, dass er mit keinem der drei in den vorigen Kapiteln besprochenen Kohärenzbegriffe identifiziert werden kann. Drittens ist zu klären, in welcher Weise die Entscheidungstheorie ein fruchtbares Instrument zur Untersuchung moraltheoretischer Problemstellungen darstellt. In diesem Kapitel werden diese drei Aufgaben erfüllt. Von besonderem Interesse ist die dritte Aufgabe – die Aufklärung der Beziehungen zwischen Entscheidungstheorie und Ethik –, weil die Entscheidungstheorie in ihrer Standardinterpretation für sich genommen keine Beziehungen zur Ethik hat. Trotzdem hat sie in den letzten Jahrzehnten als ein formales Modell zur Präzisierung moraltheoretischer Problemstellungen erhebliche Bedeutung erlangt.4 Wie lässt sich dies erklären? In diesem Zusammenhang spielt gerade der präferenztheoretische Kohärenzbegriff eine wichtige Rolle. Dabei stellt es sich gerade als ein Vorteil heraus, dass dieser Begriff zunächst frei von ethischen Implikationen ist. Aus diesem Grund kann er im Rahmen unterschiedlicher, miteinander inkompatibler Metaethiken angewendet werden. Um dies zu verdeutlichen, werden zwei exemplarische Anwendungen des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik diskutiert, die hinsichtlich ihrer metaethischen Grundorientierungen divergieren. Hierbei handelt es sich um Richard Jeffreys Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik und um die Kohärenztheorie von Julian Nida-Rümelin.5 4 Siehe dazu den umfassenden Aufsatzband von Fehige & Wessels (1998), in dem sich viele Beiträge finden, die die Fruchtbarkeit des Präferenzbegriffs für die Lösung moraltheoretischer Problemstellungen belegen. 5 Hierbei handelt es sich nur um eine Auswahl. Weitere wichtige Anwendungen des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf den

322

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Dieses Kapitel strukturiert sich wie folgt: Zunächst wird die Begrifflichkeit und die Axiomatik des entscheidungstheoretischen Standardmodells in ihren Grundzügen skizziert. Es wird gezeigt, dass die Entscheidungstheorie tatsächlich als Präzisierung der Theorie instrumenteller Rationalität aufgefasst werden kann und dass der präferenztheoretische Kohärenzbegriff als ein eigenständiger vierter Kohärenzbegriff anzusehen ist (5.2). In einem zweiten Schritt wird der Bezug zur Ethik hergestellt (5.3). Anhand der beiden Theorien von Jeffrey und NidaRümelin wird illustriert, dass der präferenztheoretische Kohärenzbegriff mit unterschiedlichen theoretischen Zielen und in miteinander inkompatiblen Metaethiken angewendet werden kann.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff in der Entscheidungstheorie 5.2.1 Einführende Bemerkungen zum Präferenzbegriff Bevor wir auf die Definition des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs zu sprechen kommen, sind zunächst einige Bemerkungen zum grundlegenden Begriff der Präferenz angebracht. Eine Präferenz, insofern besteht innerhalb des Paradigmas der Entscheidungstheorie Einigkeit, ist eine dreistellige Relation. Man kann – auch dies wird generell nicht bestritten – einer Person S genau dann eine Präferenz zuschreiben, wenn S zwei Gegenstände a und b hinsichtlich ihrer Vorzugswürdigkeit miteinander in eine Beziehung setzt. Auf dieser Grundlage lässt sich ein starkes und ein schwaches Verständnis von Präferenzen unterscheiden: Bereich der Ethik finden sich z. B. in den Werken von Susan Hurley (1989, Kap. 10–12), John Broome (1991, Kap. 6 und 7) und Amartya Sen (1992, 2002).

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

323

Prstark Eine Person S hat eine Präferenz für a gegenüber b (S präferiert a vor b) genau dann, wenn S a gegenüber b vorzieht. Prschwach Eine Person S hat eine Präferenz für a gegenüber b (S präferiert a vor b) genau dann, wenn S entweder a gegenüber b vorzieht oder wenn S hinsichtlich a und b indifferent ist. Prstark und Prschwach unterscheiden sich darin, dass man S auch dann eine schwache Präferenz (nicht aber eine starke Präferenz) für a gegenüber b zuschreiben kann, wenn S a genauso sehr schätzt wie b. Technisch ausgedrückt: Konstruiert man mit Prstark eine Rangordnung der Vorzugswürdigkeit, so ist es unmöglich, dass zwei Gegenstände a und b denselben Rang belegen, während dies im Fall von Prschwach zulässig ist. Symbolisch wird Prstark häufig durch a > b, Prschwach durch a # b ausgedrückt. In den Standardaxiomatisierungen der Entscheidungstheorie wird üblicherweise der schwache Präferenzbegriff zugrunde gelegt. Diese Charakterisierung verdankt ihre allgemeine Akzeptanz ihrer inhaltlichen Blässe. So bleibt unterbestimmt, was mit dem Verb vorziehen oder indifferent sein genau gemeint ist. In der Tradition lassen sich diesbezüglich eine objektivistische und eine subjektivistische Interpretation unterscheiden. In der objektivistischen Tradition wird die These vertreten, dass Präferenzen Verhaltensdispositionen seien. Präferenzen sind demnach nicht lediglich am faktisch gezeigten Verhalten einer Person erkennbar. Sie werden vielmehr aufgrund des Verhaltens gegenüber Wahlalternativen konstituiert.6 In der subjektivisti6 Von dieser Deutung abgrenzbar ist noch eine sehr spezielle „ultraobjektivistische“, nur zweistellige Interpretation des Präferenzbegriffs von Franz von Kutschera (1999, 14–19). Dieser fasst „normative Präferenzen“ nämlich als komparative Wertaussagen auf. Im Rahmen von Kutscheras kognitivistischer Metaethik impliziert diese Konzeption von Präferenzen allerdings, dass es Präferenzen gibt, die niemand hat – genauso wie es Wertungsaussagen gibt (x ist gut), von

324

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

schen Tradition dagegen wird vorziehen im Sinne einer mentalen Einstellung der Person S interpretiert. Eine breite Strömung innerhalb der subjektivistischen Tradition vertritt dabei die These, dass es sich bei diesen mentalen Einstellungen um wunschähnliche propositionale Einstellungen handelt. Schreibt man einer Person demnach zu, a gegenüber b zu präferieren, so sagt man damit, dass S a mehr wünscht als b. Demnach stellen also Präferenzen komparative wunschähnliche Einstellungen dar. Anders als beim einfachen Wunsch, der sich auf lediglich einen Gegenstand bezieht – S wünscht, dass a –, werden mit Präferenzen grundsätzlich zwei Gegenstände einander vergleichend gegenübergestellt und in eine Rangfolge gebracht. Dies bringt uns auf eine weitere Unterbestimmtheit von Prstark und Prschwach. In beiden Formulierungen bleibt offen, welche Gegenstände mit a und b gemeint sind. Zu welchen Objekten nimmt S hier eine komparative wunschähnliche Einstellung ein? Darauf sind bisher sehr unterschiedliche Antworten gegeben worden: Es seien Handlungen, Handlungskonsequenzen, Wahlalternativen, Propositionen, materielle (physikalische) Gegenstände, mögliche Welten, ideale Welten, Güter, Güterbündel etc.7 denen niemand überzeugt sein muss, ja die nicht einmal einem Menschen zugänglich sind. Trapp (1997, 411) hat bereits darauf hingewiesen, dass eine derartig stark objektivistische Deutung des Präferenzbegriffs, die jeden Bezug auf eine Person als Träger der Präferenz vermissen lässt, grundlegenden Intuitionen zum normalsprachlichen Präferenzbegriff widerspricht und deshalb allein aus sprachanalytischen Gründen problematisch ist. Kutscheras „ultra-objektivistische“ Interpretation entspricht nicht dem generell in der Debatte vertretenen objektivistischen Präferenzbegriff. Dieser ist kein personunabhängiger Wertungsbegriff in Kutscheras Sinn, sondern ein Konzept, das zutreffender als anti-psychologistisch charakterisiert werden kann. 7 Es gibt auch Autoren, die die Entscheidungstheorie als eine allgemeine Wertlogik auffassen und die sich zu der Frage, welche Gegenstände durch Präferenzrelationen miteinander in Beziehung gesetzt werden, neutral verhalten (s. Hansson 2001, 15).

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

325

Wie dieser kursorische Überblick zeigt, gibt es keine allgemein akzeptierte Deutung des Präferenzbegriffs und damit auch keine allgemein akzeptierte Interpretation der Entscheidungstheorie. Ich gehe deshalb so vor, dass ich eine ganz bestimmte Interpretation der Entscheidungstheorie auswähle. Im Folgenden geht es um die Version des entscheidungstheoretischen Grundmodells, das Richard Jeffrey in seinem Buch The logic of decision8 entwickelt hat. Für diese Wahl sprechen mehrere Gründe. Erstens handelt es sich dabei um eine einflussreiche Interpretation der Entscheidungstheorie und des Präferenzbegriffs, die sowohl klassischen Vorläufern wie Frank Ramsey verpflichtet ist als auch in der gegenwärtigen Debatte intensiv diskutiert wird.9 Zweitens lassen sich an Jeffreys Version der rationalen Entscheidungstheorie besonders gut die Beziehungen aufzeigen, die zwischen dieser formalen Theorie der Entscheidungsrationalität und der Theorie instrumenteller Rationalität bestehen. Drittens schließlich hat Jeffrey selbst eine Idee dazu entwickelt, welche Rolle der präferenztheoretische Kohärenzbegriff für die Ethik spielen könnte.10 Im Folgenden werden also die Grundlinien des entscheidungstheoretischen Modells entwickelt, wie Jeffrey sie interpretiert. Dabei wird sich zeigen, dass die Entscheidungstheorie als eine Präzisierung der Theorie instrumenteller Rationalität mit formalen Mitteln gedeutet werden kann (5.2.2). Dann wird gezeigt, wie der präferenztheoretische Kohärenzbegriff im Rahmen dieses Modells definiert wird (5.2.3). Und schließlich wird nachgewiesen, dass es sich bei diesem um einen vierten, eigenständigen Kohärenzbegriff handelt (5.2.4 und 5.2.5).

8 Jeffrey (11965a, 21983). Ich zitiere The logic of decision im Folgenden nach der zweiten Auflage von 1983, die in einigen Details von der ersten Auflage abweicht. 9 Ramsey 1931, Spohn 1994. 10 Dieser Idee von Jeffrey wende ich mich im Abschnitt 5.3 zu.

326

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

5.2.2 Jeffreys Interpretation des entscheidungstheoretischen Grundmodells: eine neohumeanische Theorie instrumenteller Rationalität In diesem Abschnitt wird gezeigt, dass die Entscheidungstheorie als eine formale Präzisierung des neohumeanischen Modells instrumenteller Rationalität aufgefasst werden kann. Die Grundsätze dieses Modells von Entscheidungsrationalität wurden bereits im vorigen Kapitel im Zusammenhang mit der Darstellung von Smiths Theorie instrumenteller Rationalität entwickelt.11 Smith hatte dabei den Weg eingeschlagen, seine Theorie instrumenteller Rationalität im Vokabular der Alltagspsychologie zu formulieren. Demnach lässt sich instrumentelle Rationalität ausgehend von Humes Motivationstheorie als kohärentes Zusammenstimmen von nicht-instrumentellen Wünschen, instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen beschreiben. Diese Beschreibung kann den Vorteil für sich in Anspruch nehmen, hinsichtlich der verwendeten Begrifflichkeit von unseren normalsprachlichen Intuitionen auszugehen. Wie bei der Darstellung von Smiths Theorie deutlich wurde, ist jedoch bereits die Beschreibung einfacher alltäglicher Entscheidungssituationen in alltagspsychologischer Terminologie recht aufwändig und wenig übersichtlich.12 11 S. Abschnitt 4.2. 12 Smith selbst verweist mehrfach auf die engen Parallelen, die zwischen seiner Theorie und den Grundlagen der Entscheidungstheorie bestehen. Bereits in The moral problem weist er darauf hin, dass die funktionale Rolle von Wünschen in teleologischen Handlungserklärungen weiter ausgearbeitet werden muss und dass in der Entscheidungstheorie ein allgemeiner und formal präzisierter Vorschlag dazu vorliegt (1994, 208, Fn. 7). Für seine Theorie instrumenteller Rationalität beansprucht er aus genau diesem Grund keinerlei Originalität: „I do not claim any originality, as the ideas on offer will be familiar from standard accounts of decision theory“ (2004a, 93). Wie im vorigen Kapitel gezeigt wurde, ist Smith hier allzu bescheiden. Er bietet eine spezielle Rekonstruktion instrumenteller Rationalität an, auf die keineswegs alle Standardversionen der Entscheidungstheorie festgelegt sind.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

327

Man kann die Entscheidungstheorie nun als ein alternatives Begriffsinventar zur Beschreibung des komplexen Geflechts unserer Mittel-Ziel-Überzeugungen, unserer instrumentellen und unserer nicht-instrumentellen Wünsche auffassen. Zwar hat dieses Inventar den Nachteil, sich auf eine Begrifflichkeit zu berufen, die in der Normalsprache nicht verankert ist. Es eröffnet jedoch die Möglichkeit, komplexe Entscheidungssituationen in unanschaulicher, dafür aber sparsamer und formal eleganter Weise zu rekonstruieren. An die Stelle der Begriffe Wunsch und Überzeugung tritt in der Entscheidungstheorie eine alternative, technische Begrifflichkeit. Jeffrey verwendet die Grundbegriffe der subjektiven Wahrscheinlichkeit (subjective probability), der subjektiven Wünschbarkeit (subjective desirability)13 und natürlich den Präferenzbegriff. Inhaltlich aber, dies betont Jeffrey, verfolgt auch er das Ziel, mit Hilfe dieser Begriffe die Belange alltäglicher praktischer Rationalität („ordinary practical concerns“) zu beschreiben.14 Wenden wir uns zunächst den beiden Begriffen subjektiver Wahrscheinlichkeit und subjektiver Wünschbarkeit zu. Jeffrey rekonstruiert die Beziehungen zwischen dem alltagspsychologischen und dem entscheidungstheoretischen Vokabular wie folgt: 13 Der vieldeutige und in der deutschen Normalsprache wenig gebräuchliche Term „Wünschbarkeit“ wird hier als deutsche Übersetzung von Jeffreys Term „desirability“ ausgewählt. Auf die Problematik, die sich bei der Übersetzung dieses englischen Terms ins Deutsche ergibt, wurde bereits im vorigen Kapitel eingegangen (s. Abschnitt 4.3.2.1, Fn. 40). Während sich desirability im Kontext von Michael Smiths Theorie mit Wunschdisposition übersetzen ließ, meint jedoch Jeffrey – wie noch gezeigt wird – damit inhaltlich etwas anderes. Ich entscheide mich hier zum einen deshalb dazu, desirability mit dem Term „Wünschbarkeit“ zu übersetzen, um den Unterschied zu Smiths Verwendung des desirability-Terms zu markieren. Zum anderen schließe ich mich damit der Konvention an, die Thomas Cornides in seiner deutschen Übersetzung von Jeffreys Buch vorgeschlagen hat (s. Jeffrey 1967). 14 Jeffrey 21983, 64.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz Now in the technical sense, subjective estimates of desirability are to be degrees of desire, just as subjective probabilities are to be degrees of belief. This makes for conflict with ordinary usage, for I am ordinarily said to think desirable not only things I desire but also various things that I have and know I have. (Jeffrey 21983, 63)15

Die technischen Konzepte sind also als formal präzisierte Ersetzungen der Grundbegriffe des alltagspsychologischen Vokabulars zu interpretieren. Bei den subjektiven Wahrscheinlichkeiten (im Folgenden prob) handelt es sich um eine Quantifizierung von Graden des Überzeugtseins, d. h. von Graden des Fürwahrhaltens. Diese Überzeugungsgrade erfüllen nach Jeffrey die Axiome des Wahrscheinlichkeitskalküls. Wie alle Wahrscheinlichkeiten variieren auch Jeffreys subjektive Wahrscheinlichkeiten zwischen 0 und 1. Dabei bedeutet prob=0, dass S von der Falschheit, und prob=1, dass S von der Wahrheit der fraglichen Proposition p fest überzeugt ist. Beträgt prob=0,5, so spricht gleich viel für und gegen p; in diesem Fall kann man auch sagen, dass sich S über p im Zweifel befindet. prob spannt somit eine Skala von Überzeugungs- bzw. Glaubensgraden auf, die es erlaubt, die Gesamtheit von S’s überzeugungsähnlichen Einstellungen quantitativ zu beschreiben.16 In analoger Weise handelt es sich bei Jeffreys subjektiven Wünschbarkeiten – im Folgenden des – um quantifizierte Repräsentationen von Wunschstärken. Wie Überzeugungsstärken ha15 Diese Passage findet sich in der ersten Auflage von Jeffreys Buch The logic of decision noch nicht. Vgl. dazu Jeffrey (11965a, 52–53). 16 Wie bereits im dritten Kapitel dieser Untersuchung spreche ich auch hier von „überzeugungsähnlichen Einstellungen“ und nicht von Überzeugungen. Damit soll angezeigt werden, dass prob eine weitere Extension hat als unser normalsprachlicher Überzeugungsbegriff. So würden wir wohl kaum von einer Überzeugung sprechen, wenn S eine Proposition nur mit prob=0,55 glaubt. Im normalen Sprachgebrauch wenden wir den Überzeugungsbegriff nur in Fällen an, in denen eine Person eine Proposition für wahr hält, d. h. über einen Glaubensgrad von annähernd prob=1 verfügt. Trotzdem handelt es sich aber auch bei prob=0,55 um eine überzeugungsähnliche Einstellung, weil S die fragliche Proposition zumindest zu einem gewissen Grad für wahr hält.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

329

ben auch diese einen echten Nullpunkt. Allerdings ist dieser Nullpunkt bei Wünschbarkeiten anders zu interpretieren als bei Überzeugungstärken: des=0 bedeutet, dass sich S der fraglichen Proposition gegenüber in Bezug auf ihre Wünsche indifferent verhält. In Abgrenzung von prob verbinden sich damit zwei Besonderheiten. Erstens erfüllt die Quantifizierung von Wunschstärken nicht alle Axiome des Wahrscheinlichkeitskalküls. So können Wunschstärken nicht nur Werte zwischen 0 und 1 annehmen, sondern zum einen auch negative Werte (wunschähnliche Einstellungen der Ablehnung) und zum anderen Werte, die größer als 1 sind. Anders als bei den subjektiven Wahrscheinlichkeiten gibt es in diesem Fall keine feste Obergrenze. Jeffrey will damit der Intuition gerecht werden, dass wir uns (unabhängig davon, wie sehr wir uns etwas wünschen) immer einen Wunsch vorstellen können, der noch stärker ist. Dies ist ein Unterschied zur Skala des Überzeugtseins. Sind wir von etwas zutiefst überzeugt (prob=1), so können wir diese Überzeugung zwar revidieren bzw. aufgeben; es ist aber nicht denkbar, von etwas „mehr als“ fest überzeugt zu sein. Die zweite Besonderheit betrifft die Abgrenzung des technischen Konzepts der subjektiven Wünschbarkeit vom alltagssprachlichen Wunschbegriff. Jeffrey spricht diese Besonderheit im oben angeführten Zitat an: Wünschen kann man sich gemäß unserem alltäglichen Sprachgebrauch in der Regel nur Dinge, die man nicht hat oder zumindest glaubt, nicht zu haben. Subjektive Wünschbarkeiten dagegen können sich auch auf Gegenstände beziehen, die ich zwar habe, aber trotzdem weiterhin „für wünschbar halte“ (think desirable).17 17 Auf die hier erwähnte Eigenschaft des normalsprachlichen Wunschbegriffs wurde bereits im Abschnitt 3.2.1 eingegangen. Schon dort wurde festgestellt, dass sich daraus eine Spannung zur Kernthese des Neohumeanismus ergibt, die besagt, es gebe keine notwendigen Beziehungen zwischen Wünschen und Überzeugungen. Jeffrey räumt diese Spannung nun aus, indem er sein technisches Konzept der Wünschbarkeit (desirability) um die entsprechende Bedeutungskomponente des normalsprachlichen Wunschbegriffs bereinigt.

330

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Ansonsten aber entfernt sich Jeffrey in seiner Interpretation des technischen Vokabulars nicht weit von der alltagspsychologischen Begrifflichkeit. Hier ergibt sich die erste Parallele zur Theorie instrumenteller Rationalität, wie Smith sie konzipiert. Wie bei Überzeugungen und Wünschen handelt es sich auch bei subjektiven Wahrscheinlichkeiten und subjektiven Wünschbarkeiten um propositionale Einstellungen. Die Unterscheidung in des und prob unterteilt die Klasse propositionaler Einstellungen genau in die beiden Subklassen wunsch- und überzeugungsähnlicher Einstellungen. Auch Jeffrey beruft sich also auf diese grundlegende begriffliche Unterscheidung, die sowohl in der Humeschen Tradition der Theorie praktischer Rationalität allgemein als auch in Smiths Interpretation der Theorie instrumenteller Rationalität fest verankert ist. Wie aber kommt man nun von der Unterscheidung zwischen des und prop bzw. zwischen Wünschen und Überzeugungen zum Präferenzbegriff? Dies wird im Folgenden anhand eines Beispiels gezeigt. Stellen wir uns eine konkrete Entscheidungssituation vor: Eine Person steht vor der Wahl, entweder weiterhin zu rauchen (R) oder mit dem Rauchen aufzuhören (non-R). Sie berücksichtigt bei dieser Entscheidung den Faktor der Lebenserwartung und unterscheidet zwischen den beiden Optionen, älter als 65 Jahre alt zu werden (L) oder vor Vollendung des 65. Lebensjahrs zu sterben (non-L). Nehmen wir für den Moment an, S’s Welt bestünde nur aus dieser einen Entscheidungssituation, dann ließen sich in S’s Welt genau die vier Optionen unterscheiden, die in der Tabelle 5.1 dargestellt sind. In Jeffreys Modell werden diese vier Optionen als vier mögliche Welten individuiert, in denen jeweils unterschiedliche Kombinationen der beiden Propositionen R und L wahr oder falsch sind. Wahloptionen und Handlungskonsequenzen werden dabei in vereinheitlichender Weise als Propositionen repräsentiert.18 Zu 18 Diese vereinheitlichende Betrachtung von Handlungen bzw. Wahloptionen und Handlungskonsequenzen ist eine Besonderheit von Jeffreys Version der Entscheidungstheorie. In anderen Axioma-

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

331

diesen Propositionen hat die Person S nun propositionale Einstellungen, und zwar sowohl Einstellungen subjektiver Wahrscheinlichkeit als auch Einstellungen subjektiver Wünschbarkeit. Tabelle 5.1 Die aus R, non-R (symbolisiert durch die Belegung falsch (f) in der Spalte R), L und non-L sich ergebenden vier Optionen für mögliche Welten sowie die subjektiven Wahrscheinlichkeiten (prob) und die subjektiven Wünschbarkeiten (des), die die Person S diesen Optionen zuordnet 1 2 3 4

R

L

prob

des

w w f f

w f w f

0,3 0,2 0,4 0,1

100 - 90 70 - 100

Besteht S’s Welt, wie hier angenommen, allein aus dieser Entscheidungssituation, so ist der Raum von Alternativen (der Raum möglicher Welten) mit diesen vier Optionen vollständig beschrieben. Man kann auch sagen, dass sich die vier Optionen einander gegenseitig ausschließen (d. h. sie überlappen einander nicht) und dass sie gemeinsam erschöpfend sind. Aus diesem Grund ergibt die Summe der subjektiven Wahrscheinlichkeiten für alle Optionen zusammen prob=1. prob1 + prob2 + prob3 + prob4 = 0,3 + 0,2 + 0,4 + 0,1= 1 Genauso, wie S jeder möglichen Welt einen Wert für deren subjektive Wahrscheinlichkeit zuordnet, ordnet S jeder der vier tisierungen wird zwischen Handlungen und Konsequenzen sehr wohl unterschieden (so z. B. Savage 1954, 13–17). Jeffrey rechtfertigt dies mit dem Hinweis, dass man durch eine Handlung eine Proposition wahrmachen kann (Jeffrey 21983, 83–85). Problematisch ist dabei, dass auf begrifflicher Ebene nicht zwischen Handlungen, direkten Handlungskonsequenzen und Aussichten, die nur indirekt mit unserem Handeln verknüpft sind (z. B. Lebenserwartung) unterschieden wird. Bei Jeffrey handelt es sich durchweg um Propositionen.

332

5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

möglichen Welten auch einen Wert für ihre subjektive Wünschbarkeit zu. Diese Wünschbarkeiten haben in Jeffreys Theorie den Status von grundlegenden bzw. von basalen Wünschbarkeiten. Erstens zeichnen sich basale Wünschbarkeiten in Jeffreys Theorie dadurch aus, dass sie sich ausschließlich auf vollständige mögliche Welten beziehen.19 Zweitens gehen in diese keine Wahrscheinlichkeitserwägungen ein. In Jeffreys Modell handelt es sich bei den basalen Wünschbarkeiten also um solche, die nicht-probabilistisch sind und allein aufgrund von S’s individuellen Wunschstärken determiniert werden. Mit dem Verweis auf die basalen Wünschbarkeiten lässt sich bereits eine Grundidee davon vermitteln, wie Jeffrey den Präferenzbegriff konstruiert. Auf Grundlage der vier Werte für die basalen Wünschbarkeiten lassen sich nämlich zunächst einmal die vollständigen möglichen Welten in eine Rangfolge bringen: 1. R L 2. non-R L 3. R non-L 4. non-R non-L Damit liegt eine erste, unvollständige Präferenzordnung von S vor. Erinnern wir uns: Eine Präferenz ist eine dreistellige Relation, mit der S zwei Gegenstände hinsichtlich ihrer Vorzugs19 Die Entscheidung, basale Wünschbarkeiten allein vollständigen möglichen Welten („complete consistent novels“) zuzuschreiben, ist für Jeffreys Version der Entscheidungstheorie charakteristisch (Jeffrey 21983, 210). Grundsätzlich findet sich die Unterscheidung zwischen basalen und daraus abgeleiteten Wünschbarkeiten (bzw. basalen und abgeleiteten Präferenzen) in jeder Version der Entscheidungstheorie. Allerdings besteht bis heute keine Einigkeit darüber, wie diese Unterscheidung am zweckmäßigsten zu treffen ist (s. dazu Lumer 1998). Wie noch ausgeführt wird, lässt sich diese Distinktion in Analogie zur Unterscheidung instrumenteller und nichtinstrumenteller Wünsche in der Theorie instrumenteller Rationalität deuten.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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würdigkeit miteinander in eine Beziehung setzt. Die vier möglichen Welten sind nach der Reihenfolge geordnet, in der S ihre Aktualisierung wünscht. Deshalb lässt sich auf der Grundlage dieser Rangfolge für jedes Paar möglicher Welten eine Präferenz von S angeben. So gilt für jede mögliche Welt x: S präferiert x gegenüber jeder möglichen Welt, die in der Ordnung auf einem niedrigeren Rang steht. Insgesamt ergeben sich bei diesen vier Optionen also sechs starke Präferenzen: S präferiert 3 gegenüber 4, 2 gegenüber 3 und 4 sowie 1 gegenüber 2, 3 und 4. Allerdings lassen sich auf der Grundlage dieser basalen Wünschbarkeiten, wie bereits erwähnt wurde, nur Präferenzen zwischen vollständigen möglichen Welten konstruieren. Dies ist natürlich zu wenig, wenn Präferenzen auch in konkreten Entscheidungssituationen handlungsleitend sein sollen. Denn meistens entscheiden wir nicht zwischen zwei vollständigen, einander ausschließenden möglichen Welten, sondern zwischen feiner individuierten Alternativen. So bestand hier die Ausgangsfrage z. B. darin, ob S mit dem Rauchen aufhören sollte oder nicht. S soll sich also zwischen R und non-R entscheiden. Bei diesen beiden Optionen handelt es sich nun nicht um vollständige mögliche Welten, sondern nur um Komponenten möglicher Welten. Wie lassen sich derartige Entscheidungen in Jeffreys Modell berücksichtigen? Dies gelingt, indem – ausgehend von den basalen Wünschbarkeiten und mit Hilfe der subjektiven Wahrscheinlichkeiten – abgeleitete Wünschbarkeiten berechnet werden. Diese abgeleiteten Wünschbarkeiten können sich dann auch auf einzelne Propositionen beziehen, die lediglich „Weltzustände“ beschreiben. Ermöglicht wird dies durch die Anwendung einer geeigneten Berechnungsvorschrift für abgeleitete Wünschbarkeiten. Dieses Vorgehen sei anhand des eingeführten Beispiels illustriert. Zur Berechnung der abgeleiteten Wünschbarkeiten verweist Jeffrey auf die Bayessche Regel. Er schlägt vor, die Wünschbarkeit einer einzelnen Proposition als wahrscheinlichkeitsgewichteten Durchschnitt der basalen Wünschbarkeiten der möglichen Welten zu berechnen, in denen diese Propositi-

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

on wahr ist.20 In die Berechnung der abgeleiteten Wünschbarkeiten gehen also auch S’s überzeugungsähnliche Einstellungen (prob) ein. Für die beiden Alternativen, weiterhin zu rauchen (R) oder mit dem Rauchen aufzuhören (non-R), ergeben sich somit die folgenden abgeleiteten Wünschbarkeiten: des R = [prob1 S des1 + prob2 S des2]/[ prob1 + prob2] =[0,3 S 100 + 0,2 S (- 90)]/[0,3 + 0,2] = [30 - 18]/ 0,5 = 24. des non-R = [prob3 S des3 + prob4 S des4]/[ prob3 + prob4] =[0,4 S 70 + 0,1 S (- 100)]/[0,4 + 0,1] = [28 - 10]/ 0,5 = 36. Die abgeleiteten Wünschbarkeiten für L und non-L, die verbleibenden beiden Komponenten möglicher Welten, lassen sich vollkommen analog berechnen. des L = [prob1 S des1 + prob3 S des3]/[ prob1 + prob3] =[0,3 S 100 + 0,4 S 70]/[0,3 + 0,4] = [30 + 28]/ 0,7 = 82,9. des non-L = [prob2 S des2 + prob4 S des4]/[ prob2 + prob4] =[0,2 S (- 90) + 0,1 S (- 100)]/[0,2 + 0,1] = [- 18 - 10]/ 0,3 = -93,3. Damit liegt das Material vor, um die oben vorgestellte Präferenzordnung zu vervollständigen. In der in Tabelle 5.2 dargestellten Rangfolge finden sich nicht nur die basalen Wünschbarkeiten. Auch die abgeleiteten Wünschbarkeiten für einzelne Propositionen sind in die Rangfolge eingefügt. Damit stellt die Tabelle 5.2 die vollständige Präferenzordnung für S dar. Jede mögliche Welt bzw. jede Komponente einer möglichen Welt ist mit Hilfe der vorgeschlagenen Berechnungsvorschrift in eine Rangfolge gebracht worden. Mithin besteht zwischen jedem Paar, das sich aus jeweils zwei dieser acht 20 Ich gehe hier nicht auf die technischen Details von Jeffreys Kalkül ein, sondern illustriere sein Vorgehen im Folgenden lediglich anhand des Raucher-Beispiels. Für eine ausführliche Darstellung der Berechnungsvorschrift s. Jeffrey (21983, 78–80).

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Optionen bilden lässt, eine Präferenzrelation. S präferiert 7 gegenüber 8, 6 gegenüber 7 und 8, 5 gegenüber 6, 7 und 8 etc. Die basalen Wünschbarkeiten und die subjektiven Wahrscheinlichkeiten ermöglichen es also, Präferenzen zu rekonstruieren, die für jede Entscheidungsoption, in die S überhaupt geraten kann, eine klare Handlungsorientierung bieten. Tabelle 5.2 Vollständige Präferenzordnung von S aufgrund der in Tabelle 5.1 mitgeteilten Werte für des und prob Rangordnung

des

Weltzustand

1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8.

100 82,9 70 36 24 - 90 - 93,3 - 100

R L L non-R L non-R R R non-L non-L non-R non-L

Somit lässt sich nun auch die Ausgangsfrage beantworten, mit der dieses Beispiel eingeführt worden ist: Sollte S nun mit dem Rauchen aufhören oder nicht? Die beiden relevanten Alternativen finden sich auf den Rängen 4 und 5. Legt S ihre basalen Wünschbarkeiten und ihre subjektiven Wahrscheinlichkeiten zugrunde, so muss die Antwort lauten, dass S die Präferenz hat, mit dem Rauchen aufzuhören. S präferiert 4 gegenüber 5. Mit diesem Material lässt sich nun die These belegen, dass man die rationale Entscheidungstheorie als formale Präzisierung des neohumeanischen Modells praktischer Rationalität auffassen kann. Diesem Rationalitätsmodell ist auch Smiths Theorie instrumenteller Rationalität verpflichtet. Vor dem Hintergrund der auf den vorigen Seiten entwickelten Darstellung des entscheidungstheoretischen Grundmodells lassen sich die engen Parallelen gut sichtbar machen, die zwischen der Entscheidungstheorie und Smiths Theorie instrumenteller Rationalität bestehen. Fassen wir die wichtigsten Übereinstimmungen zusammen.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

1. Die grundlegende Unterscheidung zwischen überzeugungsund wunschähnlichen propositionalen Einstellungen spielt in beiden Theorien eine Schlüsselrolle. Wie in Kapitel 4 dargestellt wurde, ist die Unterscheidung zwischen Überzeugungen und Wünschen in der Humeschen Theorie praktischer Rationalität fest verankert. Während Smith von nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen ausgeht, werden bei Jeffrey die Skalen des und prob eingeführt. 2. In beiden Fällen handelt es sich um Theorien ausschließlich instrumenteller Rationalität. Dies lässt sich daran festmachen, dass nicht nach der Berechtigung oder der rationalen Vertretbarkeit der jeweils basalen propositionalen Einstellungen gefragt wird. Weder die epistemische Rechtfertigung oder gar die Wahrheit der relevanten Überzeugungen noch die Vernünftigkeit der jeweils basalen Wünschbarkeiten ist Gegenstand dieser Theorie. Dies gilt für Smiths nichtinstrumentelle Wünsche und seine Mittel-Ziel-Überzeugungen genauso wie für die in Tabelle 5.1 eingesetzten Werte für des und prob. Gegenstand beider Theorien ist lediglich die rein instrumentelle Fragestellung, wie auf der Grundlage dieses Materials im einen Fall instrumentelle Wünsche, im anderen Fall abgeleitete Wünschbarkeiten zu erschließen sind. 3. Die Unterscheidung zwischen nicht-instrumentellen und instrumentellen Wünschen bei Smith findet hier in der Distinktion von basalen und abgeleiteten Wünschbarkeiten ihre Entsprechung. Während die nicht-instrumentellen Wünsche genau wie die basalen Wünschbarkeiten als arationale wunschähnliche Einstellungen einfach vorliegen und keiner rationalen Kritik unterzogen werden, bieten diese in beiden Fällen den Ausgangspunkt für die Ableitung instrumentell rationaler wunschähnlicher Einstellungen. In Smiths Theorie instrumenteller Rationalität handelt es sich dabei um instrumentelle Wünsche, hier um eine Präferenzordnung, deren Präferenzen handlungswirksam werden können. 4. Eine weitere Parallele ist darin zu sehen, dass instrumentelle Wünsche wie auch Präferenzen zwar handlungswirksam

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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werden können, dass aber nicht jede Präferenz (nicht jeder instrumentelle Wunsch) handlungswirksam sein muss. Da wir nach Jeffrey auch über Präferenzen verfügen, die sich auf vollständige mögliche Welten beziehen oder auf Weltzustände, die wir nicht direkt durch eine konkrete Handlung beeinflussen können (z. B. eine hohe Lebenserwartung zu haben), ergeben sich sogar sehr viele Präferenzen, die niemals direkt handlungswirksam werden. Smith hat seine Theorie instrumenteller Rationalität auch hinsichtlich dieses Aspekts in analoger Weise konzipiert. Auch nach Smith gibt es viele instrumentelle Wünsche, die nicht handlungswirksam sind und sogar einige, die bei einer handelnden Person niemals handlungswirksam werden können. 5. Schließlich liegt beiden Ansätzen als zentrale formale Rationalitätsforderung ein Maximierungsprinzip zugrunde. Ging es bei Smith darum, dass der Handelnde dem jeweils stärksten seiner instrumentellen Wünsche folgt, so konzipiert Jeffrey rationales Entscheiden als Befolgung der Handlungsoption, der in der vollständigen Präferenzordnung der höchste Wert für des zugeordnet ist. Gemäß den beiden Ansätzen handelt also eine Person genau dann instrumentell rational, wenn sie zu jedem Zeitpunkt t die Realisierung des jeweils maximal gewünschten Weltzustands verfolgt.21 Diese zahlreichen Parallelen legitimieren es, die Entscheidungstheorie – zumindest in der von Jeffrey vorgelegten Interpretation – als formale Präzisierung einer Theorie instrumenteller Rationalität anzusehen, die den Grundsätzen von Humes Motivationstheorie verpflichtet ist. Nach Smith stellt es eine grundlegende Forderung instrumenteller Rationalität dar, dass wir unsere instrumentellen Wünsche ihrer Stärke nach ordnen können, um dadurch handlungsirrelevante von handlungswirksamen Wünschen zu unterscheiden. Diese Forderung findet in 21 Vgl. zu den letzten beiden Punkten Abschnitt 4.2.3.2 dieser Untersuchung.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

der Konstruktion einer Präferenzordnung ihre formal präzisierte Explikation. Smith hatte nun versucht, Bedingungen für die Kohärenz instrumenteller Wünsche anzugeben. Wo findet dieses Projekt im Rahmen der rationalen Entscheidungstheorie seine Entsprechung? Wenden wir uns daher der Frage zu, was unter der Kohärenz von Präferenzen zu verstehen ist. 5.2.3 Die Kohärenz von Präferenzen: die Axiome des Standardmodells Blickt man auf den vorigen Abschnitt, so könnte man vermuten, der Präferenzbegriff sei in der Entscheidungstheorie von eher marginaler Bedeutung. So schien es sich bei Präferenzen um lediglich abgeleitete wunschähnliche Einstellungen zu handeln, die aus den grundlegenden Konzepten des und prob unter Annahme einer geeigneten Berechnungsvorschrift erschlossen werden. Zugegebenermaßen liegt dieser Eindruck aufgrund der gewählten Darstellungsform nahe. Diese Form der Darstellung wurde jedoch allein aus dem Grund gewählt, um zeigen zu können, dass sich die Entscheidungstheorie tatsächlich als Präzisierung der Theorie instrumenteller Rationalität in Humescher Tradition deuten lässt. Das Argumentationsziel im vorigen Abschnitt bestand darin, die engen Parallelen zu Smiths Theorie instrumenteller Rationalität herauszuarbeiten. Deshalb war es sinnvoll, zunächst von den Konzepten des und prob auszugehen. Will man jedoch die Entscheidungstheorie als ein Instrument einsetzen, um die instrumentelle Rationalität von Entscheidungen zu begründen, so verläuft die Begründungsrichtung genau in umgekehrter Richtung. Ausgegangen wird von den Präferenzen einer Person. Und von dieser Grundlage aus werden die Werte für die beiden Skalen des und prob erschlossen. Oder in der Terminologie der Entscheidungstheorie gesprochen: Eine Person ist genau dann instrumentell rational, wenn die Klasse der Präferenzen dieser Person eine Skala des und eine Skala prob repräsentiert.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Wählt man nämlich die Präferenzen – und nicht die beiden Skalen des und prob – als Ausgangspunkt für den Nachweis der instrumentellen Rationalität von Entscheidungen, so ergeben sich mehrere Vorteile. Zunächst sind uns die konkreten, quantitativen Werte, die eine Person verschiedenen Weltzuständen für des und prob zuordnet, zum großen Teil nicht bekannt – insbesondere wenn es sich um basale Wünschbarkeiten handelt, die sich auf vollständige mögliche Welten beziehen. In der bisherigen Darstellung wurde die Bekanntheit dieser Werte einfach begründungsfrei vorausgesetzt (s. Tabelle 5.1). Im Gegensatz dazu stehen gleich mehrere Möglichkeiten zur Verfügung, die Präferenzen einer Person zu ermitteln. So kann man z. B. das Wahlverhalten einer Person zwischen alternativen Wahlmöglichkeiten beobachten, man kann eine Person befragen, welchen von zwei Gegenständen sie vorzieht oder man kann ihr Wetten mit unterschiedlichen Einsätzen anbieten. Somit spricht also zunächst die bessere epistemische Zugänglichkeit dafür, von den Präferenzen einer Person und nicht von Wunschstärken oder Überzeugungsgraden auszugehen. Es kommt hinzu, dass auch die Begriffe des und prob sowie die Berechnungsvorschrift in der obigen Darstellung ohne weitere Begründung eingeführt worden sind. Bei diesen handelt es sich aber um inhaltlich anspruchsvolle Konzepte. Damit die Präferenzen überhaupt mit Hilfe der Bayesschen Berechnungsvorschrift ermittelt werden können, müssen die beiden Skalen des und prob zwei Eigenschaften erfüllen. Erstens müssen sich die Wunsch- und Überzeugungsstärken quantitativ metrisieren lassen.22 Zweitens muss ein funktionaler Zusammenhang zwischen den Propositionen auf der einen Seite und den zugeordneten Werten für Wunschund Überzeugungsstärken auf der anderen Seite vorliegen. Jeder Proposition muss demnach jeweils ein und darf nur ein 22 Diese Annahme wurde bereits bei Smith kritisiert. Zur Rekonstruktion seines Kohärenzbegriffs geht er ohne weitere Begründung davon aus, dass Wunschstärken und Überzeugungsgrade graduelle Begriffe darstellen, die quantitativ metrisierbar sind (s. Abschnitt 4.2.2.2).

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Wert für des und prob zugewiesen werden. Kurzum: Sowohl bei des als auch bei prob muss es sich um Funktionen handeln. Nur wenn man diese beiden Annahmen voraussetzt, können die Präferenzen einer Person in der Weise erschlossen werden, die im vorigen Abschnitt dargestellt worden ist. Es ist jedoch problematisch, wenn man die beiden Annahmen ohne weitere Begründung einführt. Dann bleibt nämlich ungeklärt, wieso diese anspruchsvollen Voraussetzungen für des und prob erfüllt sein sollten. Diese Probleme lassen sich dadurch in den Griff bekommen, dass man bei der Begründung der Entscheidungstheorie statt von des und prob von den Präferenzen einer Person ausgeht. Und genau an dieser Stelle kommt der Kohärenzbegriff ins Spiel. Die Pointe der Entscheidungstheorie besteht nämlich darin, dass mit ihr die Existenz einer des-Funktion und einer prob-Funktion bewiesen werden kann, wenn die Präferenzen einer Person eine bestimmte Klasse von Bedingungen erfüllen. Bei diesen Bedingungen handelt es sich um die Axiome der Entscheidungstheorie. Erfüllen die Präferenzen einer Person diese Axiome, so wird in der Terminologie der Entscheidungstheorie davon gesprochen, dass die Präferenzen der entsprechenden Person kohärent seien. Coherence thus consists in conformity with the logic of decision (the theory of preferences) […]. (Jeffrey 1965b, 533)23

Die Übereinstimmung mit der „Logik der Entscheidungen“ besteht in der Erfüllung der Axiome für rationale Präferenzen: Eine Person entscheidet demnach genau dann instrumentell rational, wenn ihre Präferenzen kohärent sind. Außer der Tatsache, dass uns die Präferenzen einer Person epistemisch leichter zugänglich sind als die Werte ihrer des- und ihrer prob-Funktion, kann diese Begründung noch einen weiteren, entscheidenden Vorteil für sich in Anspruch nehmen: Bei den Axiomen handelt es sich durchweg nicht um quantitative, 23 Vgl. auch Broome (1991, 18–19) und Nida-Rümelin (2002, 174).

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

341

sondern lediglich um qualitative Forderungen. D. h. diese Anforderungen sind in formaler Hinsicht schwächer als die anspruchsvolle Annahme, es würde zwei quantitative Skalen des und prob geben. Außerdem entsprechen die Axiome entweder inhaltlich bescheidenen rationalitätstheoretischen Intuitionen oder sie ergeben sich sogar direkt aus der Semantik des Präferenzbegriffs. Die Attraktivität des Beweises liegt also darin, dass ausgehend von lediglich qualitativen, rationalitätstheoretisch einleuchtenden Annahmen auf die Existenz einer quantitativen des- und einer quantitativen prob-Funktion geschlossen werden kann. Dieser Beweis, die sogenannte Lösung des Existenzproblems für des und prob, wird hier nicht vollständig dargestellt.24 Im vorliegenden Kontext ist dies nicht notwendig. Das primäre Anliegen besteht an dieser Stelle lediglich darin, die Eigenständigkeit des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs zu belegen. Für dieses Unternehmen reicht es aus, drei grundlegende Axiome der Entscheidungstheorie anzuführen. Diese Beschränkung dient zum einen der Übersichtlichkeit. Außerdem zeichnen sich die drei Axiome dadurch aus, dass sie unter den klassischen Vertretern der Standardinterpretation der Entscheidungstheorie unstrittig sind.25 Sie können somit als weithin akzeptierte Kernbestandteile der Definition des präferenz24 S. dafür Jeffrey (21983, Kap. 9). 25 Nicht nur bei Jeffrey (21983, 145), sondern in so gut wie allen Varianten der klassischen Entscheidungstheorie wird von der Geltung dieser drei Axiome ausgegangen (Savage 1954, 18; Luce & Raiffa 1957, 25; Nida-Rümelin 1993, 37f.; vgl. auch die Darstellung von Hampton 1998, 94). Dass sich in Bezug auf die anderen Axiome Unterschiede zwischen den klassischen Versionen der Entscheidungstheorie ergeben, ist z. B. der Tatsache geschuldet, dass Jeffrey einen Monismus von Gegenständen vertritt (Präferenzen beziehen sich allein auf Propositionen), während in anderen klassischen Varianten der Entscheidungstheorie zwischen Handlungen, die Gegenstand der Wahl sind, und Handlungskonsequenzen, auf die sich die Präferenzen des Handelnden beziehen, unterschieden wird (so z. B. Savage 1954, 13ff).

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theoretischen Kohärenzbegriffs angesehen werden. Schließlich genügen diese drei grundlegenden Axiome, um den präferenztheoretischen Kohärenzbegriff von den drei anderen Kohärenzbegriffen abzugrenzen. Dies wird im folgenden Abschnitt 5.2.4 eingehend gezeigt. Wenden wir uns aber zunächst der Darstellung der drei Axiome zu. Diese beziehen sich, wie in der Standardinterpretation der Entscheidungstheorie üblich, auf schwache Präferenzen. Prschwach Eine Person S hat eine Präferenz für a gegenüber b (S präferiert a vor b) genau dann, wenn S entweder a gegenüber b vorzieht oder wenn S hinsichtlich a und b indifferent ist. Die schwachen Präferenzen einer Person S sind nur dann kohärent, wenn sie (unter anderem) die drei folgenden Bedingungen erfüllen: Jede Präferenz von S muss (1) reflexiv, (2) konnex und (3) transitiv sein. Es handelt sich dabei um drei relationale Eigenschaften, die jeder Präferenz zukommen muss. Ich präsentiere zunächst die übliche formale Darstellung dieser drei Bedingungen und erläutere dann, was sich hinter den Fachtermen, die aus der Relationentheorie stammen, verbirgt. 1) Reflexivität: a AS: a WS a. 2) Konnexität (Vollständigkeit): a, b AS: [a WS b b WS a]. 3) Transitivität: a, b, c AS: [a WS b

b WS c

a WS c].

Die schwachen Präferenzen der Person S werden hier durch das Zeichen „WS“ symbolisiert. Die mit „WS“ bezeichnete Relation besteht zwischen Paaren von Propositionen, zu denen S eine zweistellige wunschähnliche Einstellung hat. AS steht für die Klasse aller dieser Propositionen; a, b und c sind Elemente aus dieser Klasse. Die Reflexivitätsbedingung ist für eine Relation genau dann erfüllt, wenn jedes Element einer Klasse zu sich selbst in der betreffenden Relation steht. Diese Bedingung ist z. B. für die Relation „ist genauso groß wie“ erfüllt, weil jeder Gegenstand

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genauso groß ist wie er selbst. Im Fall von WS ergibt sich die Erfüllung der Reflexivitätsbedingung direkt aus der Semantik des Begriffs der schwachen Präferenz. Präferiert die Person S a schwach gegenüber b, dann zieht S entweder a gegenüber b vor oder S ist zwischen a und b indifferent. Da man grundsätzlich zwischen einem Gegenstand a und demselben Gegenstand a indifferent ist, ist die Bedingung bereits per definitionem erfüllt. Sie ergibt sich direkt aus der Charakterisierung Prschwach. Die beiden anderen Bedingungen entsprechen dagegen grundlegenden rationalitätstheoretischen Intuitionen. Die Konnexitätsbedingung besagt, dass für alle Paare a und b aus AS gilt: Entweder zieht die Person S a gegenüber b vor, oder sie zieht b gegenüber a vor, oder aber sie ist zwischen beiden indifferent. Die dritte Option gibt es wiederum deshalb, weil es sich hier um schwache Präferenzen handelt. Es wird also nicht gefordert, dass die handelnde Person grundsätzlich eine der beiden Alternativen vorziehen muss. Sie kann auch indifferent sein. Gefordert ist lediglich, dass sie jede Paarung aus AS in Bezug auf die Stärke ihrer wunschähnlichen Einstellungen miteinander in Beziehung setzen kann. Wären Präferenzklassen nicht konnex (unvollständig), so hätte dies eine partielle Handlungsunfähigkeit zur Folge. Es gäbe dann nämlich Fälle, in denen S zwei alternative Optionen nicht hinsichtlich ihrer Vorzugswürdigkeit miteinander in Beziehung setzen könnte. Dies hätte zur Konsequenz, dass für S keine vollständige Präferenzordnung generiert werden könnte. In diesem Fall aber wäre es unmöglich zu bestimmen, welche Handlungsoption den Grad von S’s Wunscherfüllung maximiert. Deshalb wäre eine Person, deren Präferenzen nicht konnex sind, instrumentell irrational.26 26 Man sieht an dieser Stelle, warum es wichtig ist, die Option zuzulassen, zwischen zwei Alternativen indifferent zu sein. Wäre dem nicht so, d. h. würde man von einem starken Präferenzbegriff ausgehen, so wäre die Konnexitätsbedingung unrealistisch stark: Es gibt immer wieder Situationen, in denen wir keine eindeutige Aussage dazu treffen können, welche von zwei Alternativen wir vorziehen. Indifferenz

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Die Transitivitätsbedingung stellt schließlich sicher, dass es in der Präferenzordnung keine Zirkel gibt. Ein Zirkel liegt in einer Präferenzordnung genau dann vor, wenn eine Option a aus AS zugleich einen höheren und einen tieferen Rang in der Präferenzordnung belegt. Im Folgenden wird gezeigt, warum genau dies eintritt, wenn Präferenzen nicht transitiv sind. Die Transitivitätsbedingung ist genau dann erfüllt, wenn für jedes Tripel von Elementen aus AS gilt: Hat S für a gegenüber b und für b gegenüber c eine schwache Präferenz, so hat sie auch eine schwache Präferenz für a gegenüber c. Warum führt die Verletzung der Transitivitätsbedingung dazu, dass die resultierende Präferenzordnung im oben beschriebenen Sinn zirkulär ist? Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel.27 Zieht eine Person a gegenüber b vor, so hat a einen höheren Rang in ihrer Präferenzordnung als b. Zieht sie gleichzeitig b gegenüber c vor, so steht b höher als c. Daraus ergibt sich nun, dass a auch auf einem höheren Rang stehen muss als c. Verfügt die Person aber über nicht-transitive Präferenzen, dann präferiert sie z. B. zusätzlich c gegenüber a. Daraus ergibt sich aber, dass a gleichzeitig über und unter c in der Rangordnung stehen würde. Genau dies ist damit gemeint, wenn hier von einem Zirkel von Präferenzen gesprochen wird. Zirkuläre Präferenzordnungen können keine eindeutige Handlungsanleitung geben, weil zwei Präferenzen vorliegen, die sich auf identische Gegenstände ist jedoch von der Unfähigkeit, zwei verschiedene Weltzustände hinsichtlich ihrer Vorzugswürdigkeit zu bewerten, zu unterscheiden. Dies ist wahrscheinlich der Grund dafür, dass auch Smith es in seiner Theorie instrumenteller Rationalität zulässt, dass zwei instrumentelle Wünsche genau gleich stark sein können (Abschnitt 4.2.2.2). Nicht Indifferenz zwischen zwei Optionen, sondern erst die Unfähigkeit, diese Optionen hinsichtlich ihrer Vorzugswürdigkeit miteinander in Beziehung zu setzen, führt zur (partiellen) Entscheidungsunfähigkeit und damit zur instrumentellen Irrationalität. 27 Aus Gründen der Einfachheit formuliere ich das Beispiel nur für starke Präferenzen. Selbiges gilt aber auch für schwache Präferenzen; man muss lediglich immer die Ergänzung „oder ist indifferent“ einfügen.

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beziehen (hier a und c), aber entgegengesetzt gerichtet sind. Demnach müsste die Person S einem bestimmten Element aus AS (der Proposition a) zwei verschiedene Werte für des zuordnen. Aus diesem Grund existiert beim Vorliegen nicht-transitiver Präferenzen keine des-Funktion. Wenn aber die Präferenzen einer Person nicht in einer des-Funktion repräsentiert werden können, dann ist diese Person gemäß der rationalen Entscheidungstheorie per definitionem nicht rational. Dass es tatsächlich irrational ist, sich bewusst auf nichttransitive Präferenzen festzulegen, lässt sich leicht anhand eines Szenarios illustrieren, das in der Literatur unter dem Titel money pump-Argument bekannt ist. Der Grundgedanke ist dabei, dass eine Person, die eine Präferenz für b gegenüber c hat, immer bereit wäre, c gegen b zu tauschen und noch einen bestimmten Geldbetrag dazu zu geben.28 Hat aber eine Person S nichttransitive Präferenzen, so ist sie mit dem folgenden Problem konfrontiert. In diesem Fall gibt sie bei der Wahl zwischen b und c einen Geldbetrag dazu, um b zu erhalten. Bei der Wahl zwischen a und b gibt sie wiederum einen Geldbetrag dazu, um a zu erhalten. Verfügt S nun außerdem über eine – nicht-transitive – Präferenz und zieht gleichzeitig c gegenüber a vor, so würde sie wiederum Geld investieren, um c zu erhalten. Das Spiel würde von vorne beginnen, denn S präferiert ja auch b gegenüber c. Es ergäbe sich also ein Kreislauf, in dem S ad infinitum Geld entzogen werden kann – oder zumindest solange Geld entzogen werden kann, bis S’s Ressourcen erschöpft sind. Die Intuition, die für das money pump-Argument entscheidend ist, besagt nun, dass es irrational wäre, für andere als „Geldpumpe“ zu fungieren. Da diese Konsequenz jedoch, wie das Szenario illustriert, beim Vorliegen nicht-transitiver Präferenzen unvermeidlich ist, stellt die Transitivität von Präferenzen eine notwendige Bedingung instrumenteller Rationalität dar. 28 Auch dieses Argument lässt sich in formal aufwändigerer Weise für schwache Präferenzen formulieren. Wiederum aus Einfachheitsgründen präsentiere ich hier nur die Version für starke Präferenzen.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Mit dem Appell an diese drei grundlegenden, teils semantisch, teils rationalitätstheoretisch begründeten Intuitionen ist gezeigt worden, warum kohärente Präferenzen die Bedingungen der Reflexivität, der Konnexität und der Transitivität erfüllen müssen. Alle drei Bedingungen haben somit den Status von notwendigen Bedingungen für die Kohärenz von Präferenzen. Gemeinsam hinreichend sind sie dagegen nicht. Wie bereits gesagt, ist die Axiomatik der Entscheidungstheorie mit diesen drei Bedingungen nicht vollständig dargestellt. Es kann aber bereits auf der Basis dieser drei notwendigen Bedingungen gezeigt werden, dass der präferenztheoretische Kohärenzbegriff als eigenständiger Kohärenzbegriff von den anderen drei Kohärenzbegriffen abgrenzbar ist. 5.2.4 Zur Abgrenzung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs von den anderen drei Kohärenzbegriffen Im Folgenden wird gezeigt, dass der präferenztheoretische Kohärenzbegriff als ein eigenständiger, vierter Kohärenzbegriff angesehen werden muss. Bei diesem Nachweis orientiere ich mich wiederum an den beiden Fragen, die hier die Analyse der Semantik des Kohärenzbegriffs leiten: (i) Welche Gegenstände werden in einen kohärenten Zusammenhang gebracht und (ii) wie sind die kohärenzstiftenden Beziehungen inhaltlich charakterisiert?29 Zur ersten Frage: Bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden sollen, handelt es sich um Präferenzen. Diese Interpretation scheint auf den ersten Blick problematisch zu sein. Schließlich stellen Präferenzen Relationen dar, d. h. bei diesen handelt es sich bereits um Beziehungen. Dazu ist zu sagen, dass in dem weiten Sinn, in dem in dieser Untersuchung von Gegenständen gesprochen wird, auch Beziehungen als Gegenstände bezeichnet werden können. Folgt man der Interpretation des Präferenzbegriffs, die in den 29 Abschnitt 1.3.2.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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vorigen Abschnitten herausgearbeitet worden ist, so lässt sich zudem genauer angeben, um welche Gegenstände es sich dabei handelt: Es sind wunschähnliche propositionale Einstellungen, die jeweils zwei Relata in eine komparative Beziehung zueinander setzen. Dies führt zur zweiten Frage: Welche Beziehungen wirken kohärenzstiftend? Auch auf diese Frage lässt sich vor dem Hintergrund der hier gegebenen Charakterisierung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs eine klare Antwort geben: Präferenzen sind genau dann kohärent, wenn sie die entscheidungstheoretischen Standardaxiome erfüllen. Ganz allgemein können Klassen von Präferenzrelationen demnach entweder inkohärent oder kohärent sein. Diese Relationen wirken nur dann kohärenzstiftend, wenn es sich um rationale Präferenzen handelt – d. h. wenn sie zumindest reflexiv, konnex und transitiv sind. Nachdem somit die grundlegende Frage geklärt ist, was beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff die relevanten Gegenstände und was die kohärenzstiftenden Beziehungen sind, kann nun danach gefragt werden, ob es sich hier um einen Kohärenzbegriff handelt, der gegenüber den anderen drei Begriffen eigenständig ist. In Bezug auf die Gegenstände ist dieser Nachweis schnell erbracht: Zwar handelt es sich hier – wie in den anderen drei Fällen auch – um propositionale Einstellungen. Allerdings sind Präferenzen eine besondere Art propositionaler Einstellungen, die mit keiner der Einstellungen zusammenfällt, die in den anderen Theorien thematisch waren. Zunächst handelt es sich um wunschähnliche Einstellungen. Dies unterscheidet den präferenztheoretischen Kohärenzbegriff von Sayre-McCords Ansatz, der moralische Überzeugungen beschreibt, und Smiths Ansatz, der die Kohärenz von Wünschen und Wertungsüberzeugungen erklären will. Damit bleibt der nonkognitivistische Ansatz übrig. Dort allerdings ging es um einen Typ spezifisch moralischer Einstellungen der Billigung oder Missbilligung. Hier dagegen geht es ganz generell um wunschähnliche Einstellungen, die keine moralische Wertung implizieren müssen, die aber immer zwei Relata in ein komparatives Verhältnis zueinander

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

setzen. Daraus folgt, dass hier tatsächlich andere Gegenstände in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden als bei den anderen drei Begriffen.30 Wenden wir uns der Frage nach den kohärenzstiftenden Beziehungen zu. Kann der präferenztheoretische Kohärenzbegriff auch hinsichtlich seiner kohärenzstiftenden Beziehungen von den drei anderen Begriffen abgegrenzt werden? Relativ leicht lässt sich noch Smiths Interpretation der kohärenzstiftenden Beziehungen abgrenzen. Smith deutet diese Beziehungen als teleologische Erklärungsbeziehungen. Diese können auf keinen Fall mit Präferenzrelationen identifiziert werden. Man kann zwar davon sprechen, dass das entscheidungstheoretische Grundmodell rationales Entscheiden erklären will. Dies impliziert aber nicht, dass die einzelne Präferenzrelation eine Erklärungsbeziehung darstellen würde. Präferenzrelationen erklären nicht, warum eine Person a gegenüber b vorzieht, sondern sie geben lediglich eine Beschreibung davon. Weiterhin scheint auch die Interpretation der kohärenzstiftenden Beziehungen im nonkognitivistischen Ansatz uneinschlägig zu sein. Weder scheint es sich hier um Begründungsbeziehungen zu handeln (Scarano), noch um Beziehungen, die im Rahmen einer expressivistischen Semantik der Moralsprache zu explizieren sind (Blackburn). Schwieriger dagegen gestaltet sich die Abgrenzung zum Kohärenzbegriff im kognitivistischen Ansatz: Dort wurden die kohärenzstiftenden Beziehungen als inferentielle Beziehungen ge30 Dieses Resultat ergibt sich zunächst nur dann, wenn man – wie z. B. Jeffrey – davon ausgeht, dass Präferenzen propositionale Einstellungen sind. Allerdings ist anzumerken, dass die beschriebenen Unterschiede unter der Annahme anderer Präferenzbegriffe aus konkurrierenden Versionen der Entscheidungstheorie noch gravierender ausfallen. Präferenzen werden dort häufig als Verhaltenstendenzen gedeutet; als Relata werden Handlungen, Handlungskonsequenzen, mögliche oder ideale Welten angenommen. Auch in diesen Interpretationen wäre also die hier vertretene These begründet, dass der präferenztheoretische Kohärenzbegriff andere Gegenstände thematisiert als die anderen drei in dieser Untersuchung unterschiedenen Kohärenzbegriffe.

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deutet. Viele Entscheidungstheoretiker rücken Präferenzen in die Nähe inferentieller bzw. logischer Beziehungen. So spricht Jeffrey explizit von einer „Logik der Entscheidungen“ und analogisiert seinen Kohärenzbegriff mit dem Konsistenzbegriff in der Logik: Coherence thus consists in conformity with the logic of decision (the theory of preferences), just as consistency lies in conformity with deductive logic. (Jeffrey 1965b, 533)

Auch Nida-Rümelin interpretiert die Relationen, die in der Standardinterpretation der Entscheidungstheorie definiert werden, im Sinne von logischen Beziehungen: Die Bayessche Entscheidungstheorie kann daher als eine Theorie der logischen Beziehung von motivierenden Absichten und vorausgehenden Absichten (bzw. Handlungszielen und Entscheidungen) verstanden werden. (Nida-Rümelin 1990, 215–216, Herv. M. H.)

Dass rationale Präferenzrelationen aber nicht ohne weiteres mit logischen Beziehungen identifiziert werden können, lässt sich anhand der Eigenschaften von kohärenten Präferenzen zeigen, die im vorigen Abschnitt expliziert worden sind. Erinnern wir uns: Es handelt sich dabei um Axiome der rationalen Entscheidungstheorie. Die drei Bedingungen stellen also notwendige Bedingungen dar, die jede rationale Präferenz erfüllen muss. Dass sich rationale bzw. kohärente Präferenzrelationen von inferentiellen Beziehungen fundamental unterscheiden, lässt sich nun zeigen, wenn man die beiden Typen von Beziehungen in Bezug auf ihre relationalen Eigenschaften vergleicht. Da wir den präferenztheoretischen Kohärenzbegriff vom Kohärenzbegriff aus der Theorie epistemischer Rechtfertigung abgrenzen wollen, gehen wir dabei von dem dort zugrunde gelegten Begriff inferentieller Beziehungen aus. Inferentielle Beziehungen wurden dort nicht als rein syntaktisch definierte deduktive Ableitbarkeitsbeziehungen verstanden. Vielmehr wurde der Begriff inferentieller Beziehungen in einer Weise charakterisiert, die für

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epistemologische Kontexte geeigneter ist.31 Der Klasse inferentieller Beziehungen wurden dort auch solche Beziehungen zugeschlagen, die nicht wahrheitsverbürgend, sondern nur wahrheitsindikativ sind. Neben deduktiven Beziehungen wurden also auch induktive Beziehungen als inferentielle Beziehungen angesehen. In dieser Hinsicht ist die Klasse inferentieller Beziehungen, die kohärenzstiftend wirken können, größer als eine allein durch deduktive Ableitbarkeitsbeziehungen charakterisierte Klasse. In einem anderen Sinn ist die Klasse kohärenzstiftender Beziehungen jedoch auch kleiner: So sollte sie in einer Theorie epistemischer Rechtfertigung auf solche Beziehungen begrenzt sein, die epistemisch rechtfertigend wirken. Geht man von einem in dieser Weise konzipierten Begriff – epistemisch relevanter – inferentieller Beziehungen aus, so kann man zeigen, dass diese Beziehungen keine der drei relationalen Eigenschaften mit Präferenzen teilen Diese Beziehungen sind zunächst einmal irreflexiv. D. h. es ist nicht der Fall, dass jede Aussage in einer inferentiellen, also epistemisch rechtfertigenden Beziehung zu sich selbst steht. Dies lässt sich intuitiv leicht plausibilisieren: Man kann den Grad der Rechtfertigung einer Aussage nicht durch den Verweis auf sie selbst steigern („a, weil a“). Genau dies aber müsste notwendig der Fall sein, wenn inferentielle Beziehungen reflexiv wären. Jede Aussage stünde in diesem Fall in einer Rechtfertigungsbeziehung zu sich selbst und würde somit zur Erhöhung ihres eigenen Rechtfertigungsgrades beitragen. Um diese unplausible Konsequenz zu vermeiden, muss man annehmen, dass epistemisch relevante inferentielle Beziehungen irreflexiv sind.32 31 Auf die Gründe, die im epistemologischen Kontext gegen die Annahme eines rein syntaktisch definierten Begriffs inferentieller Beziehungen sprechen, wurde in dieser Untersuchung im Abschnitt 2.3.2 eingegangen. 32 Das mit dieser Irreflexivitätsannahme eingeführte Verbot der Selbstrechtfertigung darf nicht als Argument gegen den erkenntnistheoretischen Fundamentalismus aufgefasst werden. So wird in fundamenta-

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Weiterhin sind inferentielle Beziehungen auch nicht konnex: In einer Klasse zu rechtfertigender Aussagen wird in der Regel nicht jede Aussage mit jeder anderen durch inferentielle Beziehungen verknüpft sein. Selbst wenn dies in Ausnahmefällen (z. B. bei sehr kleinen Aussagesystemen) einmal gegeben sein sollte, hat diese Konnexitätsbedingung nicht den Charakter einer Rationalitätsforderung – wie es bei Präferenzrelationen der Fall ist. Während dort gute Gründe dafür angegeben wurden, dass rationale Präferenzen konnex sein sollten, ist bei inferentiellen Beziehungen nicht einzusehen, warum eine Klasse von Überzeugungen nur dann gerechtfertigt sein sollte, wenn jede mit jeder anderen inferentiell verknüpft ist. Schließlich sind inferentielle Beziehungen auch nicht generell transitiv. Der entscheidende Grund dafür ist darin zu sehen, dass hier nicht allein deduktive Beziehungen, sondern auch induktive Beziehungen zu den inferentiellen Beziehungen gezählt werden. Verdeutlichen wir dies anhand eines Beispiels, das in der Epistemologie viel diskutiert worden ist: (1) Thomas ist ein guter Philosoph, aber er weiß nicht viel über Erkenntnistheorie. (2) Thomas ist ein guter Philosoph. (3) Thomas weiß viel über Erkenntnistheorie.33 Hier folgt (2) deduktiv aus (1), und (3) wird durch (2) induktiv gestützt. Zwischen (1) und (3) besteht dagegen keine inferenlistischen Theorien ja nicht behauptet, bestimmte Überzeugungen könnten durch rechtfertigende, inferentielle Beziehungen zu sich selbst gerechtfertigt werden. Fundamentalisten führen vielmehr Argumente dafür an, dass eine bestimmte Subklasse von Überzeugungen nicht-inferentiell gerechtfertigt ist. Die hier vertretene Irreflexivitätsannahme kann mithin jeder Fundamentalist akzeptieren. Sie besagt nur, dass rechtfertigende Beziehungen, d. h. inferentielle Rechtfertigungen niemals zur Selbstrechtfertigung von Überzeugungen beitragen können. 33 Analoge Beispiele finden sich z. B. bei Black (1988, 431), Barnes (1990, 80) und Grundmann (2003, 139).

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

tielle Beziehung. Die Transitivitätsbedingung ist somit verletzt: Sowohl zwischen (1) und (2) als auch zwischen (2) und (3) besteht eine inferentielle Beziehung. Wären inferentielle Beziehungen transitiv, dann müsste auch zwischen (1) und (3) eine solche Beziehung bestehen. Dies ist aber nicht der Fall. Im Gegenteil. Die beiden Aussagen widersprechen einander sogar. Tabelle 5.3 Vergleichende Darstellung der relationalen Eigenschaften von schwachen Präferenzrelationen und rechtfertigend wirkenden inferentiellen Beziehungen Präferenzrelationen

Inferentielle Beziehungen

reflexiv konnex transitiv

irreflexiv nicht konnex nicht transitiv

Die angeführten Überlegungen machen deutlich, dass die kohärenzstiftenden Beziehungen beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff inhaltlich anders konzipiert sind als diejenigen beim Kohärenzbegriff aus der Theorie epistemischer Rechtfertigung. Wie aus Tabelle 5.3 ersichtlich wird, stimmen diese beiden Typen von Beziehungen in keiner der drei diskutierten relationalen Eigenschaften überein.34 34 Um Missverständnisse zu vermeiden, sei explizit darauf hingewiesen, dass dieses Ergebnis nur für den Begriff inferentieller Beziehungen gilt, der in Kapitel 2 als für epistemologische Kontexte einschlägig eingeführt worden ist. Versteht man unter logischen Beziehungen stattdessen rein syntaktisch definierte deduktive Ableitbarkeitsbeziehungen, so ergeben sich andere Resultate: Diese Beziehungen sind reflexiv, weil jede Aussage aus sich selbst ableitbar ist. Zudem ist für deduktive Beziehungen auch die Transitivitätsbedingung erfüllt: Lässt sich b aus a ableiten und c aus b, dann ist immer auch c aus a ableitbar. Trotzdem sind auch diese Beziehungen nicht mit Präferenzrelationen identifizierbar. Dies lässt sich anhand der Konnexitätsbedingung illustrieren: Deduktive Beziehungen bestehen – genauso wie die hier diskutierten inferentiellen Beziehungen – nicht zwischen beliebigen Aussagen einer Aussagenmenge. Auch diese Beziehungen sind somit nicht generell konnex, wodurch sie sich von rationalen Präferenzen unterscheiden.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Zusammenfassend lässt sich also sagen: Nicht allein die Gegenstände, sondern auch die kohärenzstiftenden Beziehungen sind beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff anders charakterisiert als bei den anderen drei Kohärenzbegriffen. Damit ist gezeigt, dass es sich beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff um einen eigenständigen, vierten Kohärenzbegriff handelt. 5.2.5 Die Offenheit der Entscheidungstheorie für alternative Interpretationen Dieses Ergebnis scheint nun in Opposition zu Autoren wie Jeffrey und Nida-Rümelin zu stehen. Wie im vorigen Abschnitt zitiert, spricht Jeffrey von einer „Logik der Entscheidungen“; Nida-Rümelin interpretiert die Entscheidungstheorie als eine Theorie der „logischen Beziehungen“ zwischen verschiedenen Typen von Absichten. Bei näherem Hinsehen handelt es sich jedoch nicht um eine Opposition. Man kann nämlich die hier vertretene These aufrecht erhalten, dass Präferenzrelationen und inferentielle Beziehungen voneinander zu unterscheiden sind, und letzteren trotzdem einen systematischen Ort in der Entscheidungstheorie zuschreiben. Dies liegt daran, dass die Axiomatik der Entscheidungstheorie insofern unterbestimmt ist, als dass sie für verschiedene Interpretationen offen bleibt. Die scheinbare Opposition hat sich nur deshalb ergeben, weil zwei verschiedene Interpretationen der Entscheidungstheorie bisher unzureichend voneinander getrennt worden sind. Die Spannung lässt sich auflösen, indem man diese zwei Interpretationen voneinander abgrenzt. Dann zeigt sich nämlich, dass Jeffreys und Nida-Rümelins Äußerungen mit der hier vertretenen These kompatibel sind und dass sich dabei keine weiteren Widersprüche oder Probleme ergeben. Die beiden im Folgenden unterschiedenen Interpretationen sind nämlich untereinander kompatibel und sie sind beide gleichermaßen mit den Standardaxiomen der Entscheidungstheorie verträglich. Zudem nehmen beide Bezug auf den präferenztheoretischen Kohärenzbegriff. Sie unterscheiden sich lediglich darin, dass in

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

der einen Interpretation zusätzlich ein Begriff „logischer Beziehungen“ eine Rolle spielt, in der anderen hingegen nicht. Die beiden Interpretationen lassen sich mit Hilfe einer begrifflichen Distinktion voneinander abgrenzen, die in dieser Untersuchung bereits im Rahmen der Darstellung von Smiths Theorie instrumenteller Rationalität eingeführt wurde. Es handelt sich dabei um die Unterscheidung zwischen instrumenteller Rationalität und instrumenteller Überlegung (instrumental rationality/instrumental reasoning).35 Smith hat dafür argumentiert, dass man diese beiden Aspekte praktischer Rationalität aus dem folgenden Grund unterscheiden sollte. Die Theorie instrumenteller Rationalität erläutert, wie verschiedene instrumentelle Wünsche in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden. Da instrumentelle Wünsche aus nicht-instrumentellen Wünschen und Mittel-Ziel-Überzeugungen bestehen, handelt es sich dabei um eine Motivationstheorie, die den Grundsätzen des neohumeanischen Rationalitätsmodells verpflichtet ist. Mit dieser Theorie ist es möglich, motivierende Gründe für Handlungen zu rekonstruieren und Handlungen konkreter Personen zu erklären. Im Abschnitt 5.2.2 dieses Kapitels wurde bereits herausgearbeitet, dass man die Entscheidungstheorie nach Jeffrey ohne weiteres als eine solche Humesche Theorie der Motivation bzw. der Handlungserklärung interpretieren kann.36 Dies ist eine mögliche, nicht aber die einzige Interpretation der rationalen Entscheidungstheorie. Sie lässt sich ebenso als eine Theorie instrumenteller Überlegung deuten. Smith hat einen 35 Abschnitt 4.2.3. 36 In der Tradition der Entscheidungstheorie ist diese Interpretationsmöglichkeit auch unter dem Namen theory of revealed preferences prominent. Die Präferenzen werden in diesem Ansatz als aufgedeckte (revealed) Präferenzen angesehen, d. h. als die Präferenzen, die sich im Verhalten einer Person faktisch zeigen. In dieser Deutung kann die Entscheidungstheorie folglich zur Erklärung von Handlungen eingesetzt werden. Probleme dieser Deutung der Entscheidungstheorie werden z. B. bei Grüne (2004) diskutiert.

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Vorschlag dazu gemacht, wie man den Unterschied zwischen instrumenteller Rationalität und instrumenteller Überlegung begrifflich präzisieren kann. Entscheidend ist dabei, zwischen Wünschen auf der einen Seite und Überzeugungen betreffs dieser Wünsche auf der anderen Seite zu unterscheiden. Wir können uns (a) wünschen, gesund zu bleiben, und (b) die Überzeugung vertreten, wir hätten den Wunsch, gesund zu bleiben. Inhaltlich bedeutsam ist die Unterscheidung zwischen instrumenteller Rationalität und instrumenteller Überlegung deshalb, weil (a) und (b) nicht notwendigerweise zusammenfallen müssen. Wenn wir instrumentell überlegen, dann denken wir über unsere Wünsche nach, d. h. wir machen unsere Wünsche zum Gegenstand unserer Überzeugungen.37 Da es sich bei Präferenzen nun um wunschähnliche Einstellungen handelt, können wir in paralleler Weise Überzeugungen betreffs unserer Präferenzen entwickeln. Ein Beispiel: Einerseits kann S Pizza gegenüber Pasta präferieren. Diese Präferenz kann S’s Handeln (als wunschähnliche Einstellung) in geeigneten Situationen motivieren bzw. erklären. Andererseits kann S auch die Überzeugung haben, dass sie Pizza gegenüber Pasta präferiert. Dies impliziert nicht, dass sie die Präferenz tatsächlich hat. Schließlich kann sich die betreffende Überzeugung – wie jede andere Überzeugung auch – als falsch herausstellen. Es ist also nur der Gehalt einer Überzeugung von S, dass sie Pizza gegenüber Pasta präferiert. Und über diese Überzeugungsgehalte kann S nun – wie über alle ihre Überzeugungsgehalte – nachdenken; sie kann diese Überzeugungen eventuell revidieren und sie durch inferentielle Beziehungen mit anderen Überzeugungen verknüpfen. Dieser Punkt ist entscheidend dafür, dass inferentielle bzw. logische Beziehungen auch in der Entscheidungstheorie eine Rolle spielen können. Interpretiert man die Entscheidungstheorie als Modell instrumentellen Überlegens, so lassen sich die Präferenzen als Überzeugungsgehalte rekonstruieren. Und zwischen 37 Für Details dazu s. Abschnitt 4.2.3.1.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Überzeugungsgehalten können selbstverständlich ohne weiteres inferentielle Beziehungen bestehen. Jeffreys Version der Entscheidungstheorie ist für beide Interpretationen offen. So wurde im Abschnitt 5.2.2 belegt, dass sich seine Version der Entscheidungstheorie einerseits im Sinne einer neohumeanischen Theorie instrumenteller Rationalität ausbuchstabieren lässt. Präferenzen sind demnach wunschähnliche Einstellungen, die Handlungsmotive generieren und durch die Handlungen erklärt werden können. Andererseits finden sich bei ihm einige Textstellen, die nahe legen, dass er auch die zweite Interpretation anerkennt. Ich führe exemplarisch eine solche Textstelle an. So stellt Jeffrey an einer Stelle fest, dass er im Rahmen der motivationstheoretischen Interpretation seiner Theorie massive idealisierende Annahmen macht. Realiter, so gibt er zu, können wir Kohärenz immer nur in sehr kleinen Bereichen unseres gesamten Systems von Präferenzen herstellen. Die Gesamtheit der Präferenzen einer Person ist also faktisch niemals perfekt kohärent. Jeffrey meint aber, dass wir uns einem kohärenten System von Präferenzen – zumindest in lokal begrenzten Teilbereichen – annähern können. Mit welchen Mitteln können wir dieses Ziel erreichen? Jeffrey antwortet auf diese Frage wie folgt: In practice, we achieve coherence only for preference rankings that involve small numbers of propositions: for small fragments of what our total preference rankings would be, had we the time, intelligence, experience, sensitivity, and patience to work them out. To deliberate is to try for local coherence in the face of local and temporary conflict. […] To believe in reason is to think we do better to the extent […] that we can integrate the fragmentary preference rankings that emerge from our several deliberations into a single coherent structure. (Jeffrey 1965b, 533–534, Herv. M. H.)

Jeffrey verweist hier auf den Begriff deliberation. Er meint damit, dass wir uns kritisch nachdenkend auf unsere Präferenzen beziehen können. Hier thematisiert er genau die Interpretation, die soeben unter der Bezeichnung „Theorie instrumenteller Überlegung“ besprochen worden ist. Wir können über unsere

5.2 Der Präferenzbegriff und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff

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Präferenzen nachdenken; das heißt zunächst, dass wir Überzeugungen betreffs unserer Präferenzen entwickeln können. Haben wir Präferenzen zu den Gehalten unserer Überzeugungen gemacht, so können wir Gründe angeben, d. h. wir können Argumente formulieren und Schlussfolgerungen dazu ziehen, welche Präferenzen wir haben sollten. Demnach können Aussagen über Präferenzen in den Prämissen eines Arguments auftreten und mittels inferentieller Beziehungen können daraus Schlussfolgerungen betreffs anderer Präferenzen gezogen werden. So können wir uns z. B. anhand des oben angeführten money pump-Arguments klarmachen, dass wir transitive Präferenzen haben sollten, obwohl wir eventuell empirisch zunächst auch nicht-transitive Präferenzen haben.38 Es zeigt sich also, dass es eine Interpretation der Entscheidungstheorie gibt, hier die „Theorie instrumenteller Überlegung“ genannt, in welcher inferentiellen Beziehungen eine wichtige Funktion zukommt. Deshalb ist es durchaus legitim, wenn Jeffrey im Rahmen seiner deliberativen Deutung der Entscheidungstheorie von einer „Logik der Entscheidungen“ spricht. Dies widerspricht nicht der hier vertretenen These, dass es sich beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff um einen eigenständigen, vierten Kohärenzbegriff handelt. Es bleibt dabei, dass auch Präferenzen – und vor allem: die Kohärenz von Präferenzen – in beiden der hier unterschiedenen Interpretationen der Entscheidungstheorie auftreten. In der Theorie instrumenteller Rationalität sind Präferenzen als wunschähnliche Einstellungen wichtig für die Erklärung von Handlungen; in der Theorie instrumenteller Überlegung werden sie als Überzeugungsgehalte von Personen angesehen, die kritisch über ihr Handeln nachdenken. Diese Überzeugungen können untereinander durch inferentielle Beziehungen ver38 Dass die Transitivitätsbedingung für Präferenzen empirisch nicht immer erfüllt ist, ist in einer ganzen Reihe empirischer Studien nachgewiesen worden (siehe z. B. Tversky 1969).

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

knüpft werden. Dies ändert aber nichts daran, dass die Präferenzen, auf die in den Gehalten der Überzeugungen Bezug genommen wird, ihrerseits nicht mit inferentiellen Beziehungen identifiziert werden können. Der präferenztheoretische Kohärenzbegriff behält also auch in der deliberativen Interpretation seine Eigenständigkeit. Denn die relationalen Eigenschaften von Präferenzen spielen auch hier (z. B. im money pump-Argument) eine Schlüsselrolle. Dass Jeffrey beide Interpretationen zu vertreten scheint, bereitet deshalb keine Probleme, weil sie ohne weiteres miteinander kompatibel sind. Man kann gleichzeitig der Auffassung sein, dass Präferenzen im Sinne wunschähnlicher Einstellungen eine motivierende Funktion in unserem Handeln zukommt und dass wir uns mit unseren Überzeugungen auf unsere Präferenzen beziehen können. Das Nachdenken über unsere Präferenzen kann dabei dazu beitragen, die Kohärenz unserer Präferenzen zumindest lokal begrenzt zu verwirklichen und so rationales Entscheiden zu ermöglichen. Inhaltlich relevant ist die Unterscheidung der beiden Interpretationen unter anderem deshalb, weil nur die erste Interpretation (die Theorie instrumenteller Rationalität) eine Motivationstheorie darstellt, die den Grundsätzen des neohumeanischen Rationalitätsmodells verpflichtet ist. Nur hier stellen Präferenzen wunschähnliche Einstellungen dar und nach Hume sind Wünsche ein notwendiger Bestandteil motivierender Gründe. 5.2.6 Ein vorläufiges Fazit Der präferenztheoretische Kohärenzbegriff kann als ein eigenständiger Kohärenzbegriff von den anderen drei in dieser Untersuchung analysierten Kohärenzbegriffen abgegrenzt werden. Sowohl die Gegenstände, die in einen kohärenzstiftenden Zusammenhang gebracht werden sollen, als auch die kohärenzstiftenden Beziehungen sind hier inhaltlich anders charakterisiert. Dem prima facie nahe liegenden Eindruck, dass es sich bei Präferenzrelationen letztlich doch um inferentielle Beziehungen handelt, konnte dadurch entgegen getreten werden, dass zwei

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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alternative Interpretationen der Entscheidungstheorie unterschieden worden sind. Diese beiden Interpretationen sind zwar der Sache nach voneinander abzugrenzen, sie sind aber miteinander kompatibel. Dieses Resultat weist auf eine Eigenschaft der Entscheidungstheorie hin, die im Folgenden noch von Bedeutung sein wird: So ist nämlich festzustellen, dass die Axiomatik der Entscheidungstheorie – trotz ihrer axiomatischen Präzisierung – unterbestimmt ist. Die Entscheidungstheorie ist somit offen für verschiedene, inhaltlich voneinander abweichende Interpretationen, die allesamt mit den Standardaxiomen verträglich sind. Zwei dieser Interpretationen sind im vorigen Abschnitt voneinander abgegrenzt worden. Allerdings hat keine dieser Interpretationen moraltheoretische Implikationen. Wenden wir uns im Folgenden der Frage zu, wie das entscheidungstheoretische Grundmodell – und insbesondere der präferenztheoretische Kohärenzbegriff – auf die Ethik angewendet werden kann.

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik Im Rahmen der Darstellung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs haben ethische oder metaethische Problemstellungen bisher keinerlei Rolle gespielt. Diese Tatsache macht darauf aufmerksam, dass dieser Kohärenzbegriff offenbar ohne jeden Verweis auf die Ethik expliziert werden kann. Bezüglich seiner definitorischen Bestimmungen verhält sich der präferenztheoretische Kohärenzbegriff gegenüber ethischen und metaethischen Vorannahmen also zunächst neutral. Er ist demnach – wenn überhaupt – nur indirekt für moraltheoretische Problemstellungen relevant. D. h. er gewinnt nur dann für die Ethik Bedeutung, wenn man ihn mit entsprechenden ethischen bzw. metaethischen Annahmen kombiniert. In der Kombination mit solchen Annahmen kann dieser Kohärenzbegriff dann im Rahmen verschiedener Metaethiken eingesetzt werden, um

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

unterschiedliche moraltheoretisch motivierte Argumentationsziele zu erreichen. Dies wird nun im Folgenden anhand von zwei ausgewählten Beispielen gezeigt. Zunächst wird dabei Jeffreys Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik thematisiert. Jeffrey will zeigen, dass die Kohärenz von Präferenzen nicht nur eine Forderung instrumenteller Rationalität darstellt, sondern dass allein mit Hilfe des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs zugleich eine hinreichend starke normative Basis für moralisches Entscheiden formuliert werden kann. Es wird rekonstruiert, mit welchen argumentativen Mitteln Jeffrey diesen starken Anspruch an den präferenztheoretischen Kohärenzbegriff zu begründen versucht (5.3.1). Dann wird NidaRümelins Anwendung diskutiert. Es wird gezeigt, dass NidaRümelins primäre theoretische Zielsetzung in einer Verteidigung des moralischen Nicht-Konsequentialismus besteht. Er will dabei nicht nur begründen, dass eine nicht-konsequentialistische Ethik mit der Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs verträglich ist. Vielmehr legt er eine Interpretation des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs vor, mit welcher der moralische Nicht-Konsequentialismus auch positiv gestützt werden soll (5.3.2). Die beiden Beispiele Jeffrey und Nida-Rümelin stellen nur zwei von vielen Anwendungen des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik dar. Sie werden deshalb ausgewählt und einander gegenübergestellt, weil sich an ihnen zeigen lässt, dass dieser Kohärenzbegriff mit untereinander inkompatiblen Metaethiken kombiniert werden kann – in diesem Fall einerseits mit einer konsequentialistischen, andererseits mit einer nicht-konsequentialistischen Metaethik. 5.3.1 Jeffreys Anwendung des entscheidungstheoretischen Grundmodells auf die Ethik: Die Logik moralischer Entscheidungen Jeffrey hat seine Anwendung des entscheidungstheoretischen Grundmodells auf die Ethik nicht detailliert ausgearbeitet. Interessant ist sie trotzdem. Erstens nämlich ist Jeffreys Zugang zur

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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Ethik repräsentativ für die tradierte Anwendung der klassischen Entscheidungstheorie auf moraltheoretische Problemstellungen. Wie viele Vertreter der klassischen Entscheidungstheorie steht Jeffrey dem moralischen Nonkognitivismus nahe und vertritt eine konsequentialistische Auffassung von Ethik. Zweitens verfolgt er mit der Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik ein ehrgeiziges Ziel, das in konsequentialistischen und insbesondere in utilitaristischen Ethiken viel diskutiert worden ist. Es geht ihm nämlich darum, die Frage zu beantworten, wie stark die normativen Forderungen sind, die an die Moralität von Entscheidungen geknüpft werden müssen. Bisher wurde lediglich davon ausgegangen, dass die Kohärenz von Präferenzen ein Kriterium für instrumentelle Rationalität ist. Jeffreys Ziel besteht nun darin zu begründen, dass die Forderung nach der Kohärenz von Präferenzen darüber hinaus eine hinreichend starke normative Basis („a sufficient basis“39) für moralisches Entscheiden darstellt. Im Folgenden wird gezeigt, mit welchen metaethischen Annahmen Jeffrey seinen präferenztheoretischen Kohärenzbegriff kombinieren muss, um dieses anspruchsvolle theoretische Ziel zu erreichen. Zunächst gilt es zu klären, wie Jeffrey den Bezug zur Ethik herstellt. Die grundlegende Frage lautet dabei: An welcher Stelle genau lokalisiert Jeffrey in seinem Entscheidungsmodell moralische Wertungen? In erster Näherung lässt sich sagen, dass er moralische Wertungen als wunschähnliche Einstellungen charakterisiert. Deshalb kann er als ein Vertreter des moralischen Nonkognitivismus angesehen werden. Erinnern wir uns: Der zentrale Streitpunkt zwischen kognitivistischen und nonkognitivistischen Metaethikern entzündet sich an der Frage, ob sich in moralischen Wertungen wunsch- oder überzeugungsähnliche Einstellungen ausdrücken. Diesen beiden Typen propositionaler Einstellungen entsprechen in Jeffreys Modell die beiden Dimensionen des und prob. Jeffrey ist Nonkognitivist, weil er die 39 S. Jeffrey (1965b, 535).

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Auffassung vertritt, dass moralische Wertungen in der desFunktion repräsentiert werden. Daraus ergibt sich, dass auch Präferenzen, sofern sie kohärent sind, d. h. eine des-Funktion repräsentieren, moralische Wertungen darstellen. Diese Interpretation legt jedoch einen Einwand nahe. Deutet man den Präferenzbegriff wie im Abschnitt 5.2 dargestellt wurde, so sind nicht alle Präferenzen moralische Präferenzen. Es gibt zum einen Präferenzen, die mit moralischen Wertungen inhaltlich gar nichts zu tun haben (z. B. die Präferenz, lieber später als früher zu sterben, die Präferenz, schönes Wetter regnerischem Wetter vorzuziehen etc.). Zum andern gibt es auch unmoralische Präferenzen, die eine antisoziale (eine sadistische, rassistische etc.) Handlung einer moralisch überlegenen Handlung vorziehen. Diesen Einwand lässt Jeffrey nicht unkommentiert. Er reagiert auf ihn folgendermaßen: Nicht in allen Präferenzen einer Person drücken sich moralische Wertungen aus. Wie bereits festgestellt wurde, folgt aus der Verwirklichung der Kohärenz innerhalb der Klasse von Präferenzen einer Person S lediglich, dass S’s Handeln instrumentell rational ist. Wie vernünftig oder wie moralisch die Handlungsziele von S sind, wird dabei nicht bewertet. The Bayesian model seems as applicable to the deliberations of a knave or a fool as to those of good and wise man, for numerical probabilities and desirabilities are taken to be subjective in the sense of reflecting the agent’s beliefs and preferences, regardless of whether these are factually or morally justified. (Jeffrey 1965b, 535)

An dieser Stelle wird deutlich, wo Jeffrey den Grund dafür sieht, dass wir de facto nicht nur über moralische, sondern auch über unmoralische Präferenzen verfügen: In viele unserer Präferenzen gehen Überzeugungen ein, die nicht hinreichend gerechtfertigt sind. Wenn wir also die Präferenzen identifizieren wollen, in denen sich tatsächlich moralische Wertungen ausdrücken, so müssen wir nach solchen Präferenzen Ausschau halten, die nicht durch ungerechtfertigte oder gar falsche Über-

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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zeugungen beeinflusst sind. Wo aber gibt es diese „reinen“ wunschähnlichen Einstellungen, die frei von der Beeinflussung durch die Überzeugungsgrade prob sind? Wie aus der Darstellung von Jeffreys Version der Entscheidungstheorie deutlich geworden ist, gibt es in seinem Modell eine Klasse wunschähnlicher Einstellungen, in deren Bestimmung keine prob-Werte eingehen. Es handelt sich dabei um die basalen Wünschbarkeiten. To separate belief from valuation we must think of propositions as disjunctions of basic cases. […] In general, the probabilities of the basic cases may be any set of non-negative numbers that add up to 1, and the desirabilities of the basic cases may be any set of numbers whatever, quite independently of the probabilities. (Jeffrey 1965b, 533)

Um diese knappe Erläuterung adäquat zu interpretieren, muss noch einmal darauf eingegangen werden, wie Jeffrey den Begriff der basalen Wünschbarkeit definiert hat.40 Wenn er an dieser Stelle von „propositions as disjunctions of basic cases“ spricht, dann denkt er genau an diese basalen wunschähnlichen Einstellungen, die sich per definitionem nur auf vollständige mögliche Welten beziehen, die untereinander disjunkt sind. Eine rationale Person weist zwar – wie in Tabelle 5.1 dargestellt wurde – jeder vollständigen möglichen Welt auch eine Wahrscheinlichkeit prob zu und diese Wahrscheinlichkeiten summieren sich für die Klasse aller möglichen Welten zu prob=1. Entscheidend ist aber in diesem Zusammenhang, dass diese Wahrscheinlichkeiten nicht in die Bestimmung der basalen Wünschbarkeiten eingehen: Basale Wünschbarkeiten bestehen vielmehr unabhängig von den Werten für prob („independently of the probabilities“). Jeffrey sagt damit, dass sich Wertungen (valuations) in den basalen Wünschbarkeiten einer Person ausdrücken. Jeffrey stellt damit den Bezug seines entscheidungstheoretischen Modells zur Ethik her. Die basalen Wünschbarkeiten haben nicht nur den Status beliebiger Wertungen, es handelt sich dabei um moralische Wertungen. Nach Jeffrey haben diese basalen Wünschbar40 S. Abschnitt 5.2.2.

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keiten nämlich zwei grundlegende Eigenschaften mit moralischen Wertungen gemeinsam. 1. Sie genügen den Ansprüchen an Objektivität, die wir nach Jeffrey normalerweise mit moralischen Wertungen verbinden. Obwohl basale Wünschbarkeiten per definitionem in den Wünschen des einzelnen Individuums gründen und in diesem Sinn rein subjektiv sind, schreibt er ihnen einen objektivierenden Charakter zu, weil man sich intersubjektiv auf sie einigen kann. Auf den Einwand, dass verschiedene Menschen häufig unterschiedliche Wünschbarkeiten und Präferenzen haben, erwidert Jeffrey, dass er intersubjektive Übereinstimmung ja ausschließlich für basale Wünschbarkeiten behaupte. Diese unterscheiden sich, wie soeben gezeigt wurde, von nicht-basalen Wünschbarkeiten dadurch, dass sie unabhängig von Überzeugungen sind. Und nach Jeffrey führen allein unzureichend gerechtfertigte oder sogar falsche Überzeugungen zu divergierenden Präferenzen. Mit diesem Hinweis meint Jeffrey sowohl die Existenz von divergierenden Präferenzen bei verschiedenen Personen als auch bei ein und derselben Person über verschiedene Zeitpunkte hinweg erklären zu können. Wie sich Präferenzwechsel bei einer Person durch Überzeugungswechsel erklären lassen, erläutert Jeffrey an einem Beispiel: Nehmen wir an, ich blicke aus dem Fenster und sehe, dass draußen die Sonne scheint. Während ich vorher präferiert habe, im Haus zu bleiben, präferiere ich nun, einen Spaziergang zu machen. Für diesen Wechsel in meinen Präferenzen ist der Erwerb der neuen Überzeugung verantwortlich, dass draußen die Sonne scheint. Die basale Wünschbarkeit, dass ich in einer möglichen Welt, in der die Sonne scheint, gern spazieren gehen möchte, ist dagegen unverändert geblieben. Mit solchen Beispielen will Jeffrey die These plausibilisieren, dass nur nichtbasale Wünschbarkeiten intraindividuell (über verschiedene Zeitpunkte hinweg) variieren, nicht aber basale Wünschbar-

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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keiten.41 Interindividuelle Unterschiede von Präferenzen lassen sich Jeffrey zufolge nach genau demselben Muster erklären – d. h. auf der Grundlage einander widersprechender Überzeugungen.42 2. Jeffrey glaubt zudem, dass die Gehalte unserer basalen Wünschbarkeiten inhaltlich unseren grundlegenden moralischen Intuitionen entsprechen. Während antisoziale Präferenzen, Hass, Sadismus etc. sich in diesen nicht finden, sondern nur durch verfehlte Überzeugungen verursacht werden (d. h. grundsätzlich nicht-basale Wünschbarkeiten darstellen), sind basale Wünschbarkeiten inhaltlich durch soziale Präferenzen, Wohlwollen, Sinn für Gerechtigkeit etc. charakterisiert. Diese beiden Charakterisierungen basaler Wünschbarkeiten sind anspruchsvoll und nicht ohne weiteres akzeptabel. Um sie zu begründen, führt Jeffrey eine Annahme ein, die er als radikalen Optimismus bezüglich der menschlichen Natur bezeichnet. Dieser radikale Optimismus umfasst zwei Aspekte, die Jeffreys ethisch-normative Interpretation der basalen Wünschbarkeiten plausibilisieren sollen. Erstens besagt der radikale Optimismus nämlich, es sei eine empirische Tatsache, dass wir einander in Bezug auf unsere menschliche Natur wesentlich ähneln. Als Ursachen dieser grundlegenden interindividuellen Ähnlichkeit beruft sich Jeffrey dabei zunächst auf interindividuelle Übereinstimmungen bezüglich unserer physiologischen und neurologischen Ausstattung. [N]eurologically and in other important physical ways, men seem strikingly similar, and life and maturation are possible for men under a rather narrow range of conditions. (Jeffrey 1965b, 536)

Diese physischen Übereinstimmungen haben nach Jeffrey Folgen für unsere psychischen Eigenschaften. Zwar versorge uns die gegenwärtige Psychologie diesbezüglich bisher nur mit ei41 Jeffrey 1965b, 536. 42 So Jeffrey (1965b, 537). Allerdings gibt er für den Fall interindividueller Unterschiede kein konkretes Beispiel.

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nem rudimentären Grundwissen. Der radikale Optimist vertraut aber darauf, dass sich seine Erwartungen empirisch belegen lassen. To adopt the optimistic view is to have a certain sort of expectation about what the science of psychology will reveal, if we live long enough to develop it. (Jeffrey 1965b, 536)

Die entscheidende Annahme über die menschliche Natur, die nach Jeffrey durch die fortschreitende Psychologie mehr und mehr bestätigt wird, betrifft die Struktur unserer basalen Wünschbarkeiten. In Jeffreys technischer Terminologie lässt sich diese Annahme formulieren wie folgt: KohJeffrey Es gibt eine und nur eine des-Funktion auf der Grundlage basaler Wünschbarkeiten, die sowohl intraindividuell (über verschiedene Zeitpunkte hinweg) als auch interindividuell invariant ist. Der zweite Aspekt von Jeffreys radikalem Optimismus der menschlichen Natur besagt, dass die in dieser basalen desFunktion repräsentierten Wünsche inhaltlich den Wünschen entsprechen, die wir als moralisch gut bzw. wertvoll empfinden. In des finden sich nur soziale Wünsche, keine antisozialen, sadistischen oder rassistischen Wünsche. Vor dem Hintergrund dieser Annahme wird deutlich, warum Jeffrey meint, dass die Forderung nach der Kohärenz von Präferenzen nicht nur die Basis instrumenteller Rationalität, sondern zudem eine hinreichende Basis unserer Moralität sein kann. Ist man radikaler Optimist bezüglich der menschlichen Natur, kommt man mit der Forderung nach Kohärenz aus. To accept coherence as a sufficient basis for all morality, one must side with the optimists […]. As far as I know, optimism [about human nature] may be right. (Jeffrey 1965b, 535)

Neben der Forderung nach Kohärenz stützt sich Jeffrey also auf die Annahme des radikalen Optimismus KohJeffrey. Um die Begründungsidee, die Jeffrey hier verfolgt, vollständig zu rekonstruieren, muss noch eine dritte Annahme explizit genannt werden. Zusätzlich muss Jeffrey noch annehmen, dass alle be-

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teiligten Handelnden vollständig informiert sind. Denn nur in diesem Fall sind den Handelnden die Anwendungsbedingungen ihrer basalen Wünschbarkeiten auch bekannt. Akzeptiert man dieses Tripel von Annahmen, so lässt sich folgendermaßen argumentieren: Wenn der Optimismus bezüglich der menschlichen Natur gerechtfertigt ist, dann verfügen alle Menschen zu allen Zeitpunkten über dieselbe des-Funktion. Sollten wir zusätzlich noch optimal informiert sein, so sind uns auch alle Anwendungsbedingungen dieser basalen Wünschbarkeiten bekannt. D. h. wir können aus den basalen Wünschbarkeiten, die sich ja lediglich auf mögliche Welten beziehen, die Wünschbarkeiten erschließen, die in der aktualen Welt zu den erwünschten Konsequenzen führen.43 Und wie erschließen wir diese abgeleiteten Wünschbarkeiten? Folgt man den Grundannahmen der rationalen Entscheidungstheorie, stellt die Kohärenz von Präferenzen nun tatsächlich die einzige Forderung dar, die zu erfüllen ist: Es gilt, mit Hilfe der Bayesschen Berechnungsvorschrift die einzelnen Wünschbarkeiten in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen, damit eine vollständige Präferenzordnung generiert wird, die die Standardaxiome der rationalen Entscheidungstheorie erfüllt. Denn erst diese Präferenzordnung erlaubt es, die Entscheidungsoption auszuwählen, welche die Maximierung der Wunscherfüllung ermöglicht. Die Bedingung, gemäß den Vorgaben dieser Ordnung rationaler 43 Obwohl Jeffrey selbst seine Ethik nicht explizit als konsequentialistische Ethik rubriziert, zeigt sich an dieser Stelle seine konsequentialistische Orientierung: Der Grund für die Anwendung basaler Wünschbarkeiten auf die jeweils aktuellen Situationen liegt in der Optimierung der Erfüllung dieser Wünschbarkeiten – also in der maximalen Verwirklichung der erwünschten Konsequenzen: „To deliberate is to evaluate available lines of action in terms of their consequences.“ (Jeffrey 21983, 1) Außerdem sorgt auch sein Prinzip KohJeffrey für eine konsequentialistische Ausrichtung seiner Ethik. Dieser Aspekt wird im Kontext von Nida-Rümelins Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus thematisiert (Abschnitt 5.3.2.2).

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Präferenzen zu handeln, stellt mithin die einzige normative Forderung dar, die vom rational Handelnden zu erfüllen ist.44 Dies scheint Jeffrey zu meinen, wenn er davon spricht, dass die Kohärenz von Präferenzen eine hinreichende Basis für Moralität ist. Er stützt sich bei diesem Nachweis zwar noch auf die anderen beiden Annahmen (vollständige Informiertheit, KohJeffrey). Nach Jeffrey stellen aber diese beiden Annahmen keine normativen Forderungen dar. Vielmehr handelt es sich in beiden Fällen um empirisch-deskriptive Annahmen, deren Wahrheit oder Falschheit mit den Mitteln naturwissenschaftlicher Forschung erkannt werden kann. Die einzige normative Forderung, die bleibt, ist die Forderung nach der Kohärenz von Präferenzen. Jeffreys Begründung seiner These, die Kohärenz von Präferenzen stelle eine hinreichende Basis für moralisches Entscheiden dar, ist intern schlüssig. Wie fruchtbar diese Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik ist, hängt demnach primär davon ab, ob die bei der Begründung der These vorausgesetzten Prämissen akzeptabel sind. Hinsichtlich der beiden zentralen Prämissen gibt es allerdings zwei gravierende Einwände. Zum einen spricht gegen Jeffreys Argumentation, dass sie für moralische Entscheidungen tatsächlich handelnder Personen uneinschlägig zu sein scheint, weil die Prämisse vollständiger 44 Im Ergebnis zeigt sich hier eine bemerkenswerte Parallele zu Michael Smiths Rekonstruktion normativer Gründe. Beide stützen ihre Rekonstruktion normativer bzw. moralischer Handlungsgründe auf wunschähnliche Einstellungen unter der Bedingung vollständiger Information. Trotzdem darf eine wichtige Disanalogie nicht übersehen werden. Diese wird deutlich, wenn man nach der Deutung des Begriffs desirability bei den beiden Autoren fragt. Während Smith desirabilities als Wunschdispositionen auffasst, die die handelnde Person mittels ihrer Überzeugungen erfasst, interpretiert Jeffrey desirabilities als wunschähnliche Einstellungen zu möglichen Welten. Hierin liegt der entscheidende Unterschied, der Jeffrey in die Tradition des Nonkognitivismus stellt, Smith dagegen in der Tradition eines Naturalismus beheimatet, der dem moralischen Realismus verpflichtet ist.

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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Informiertheit faktisch fast nie erfüllt ist. Jeffrey würde nicht bestreiten, dass uns in den meisten Fällen nicht das gesamte handlungsrelevante Wissen zur Verfügung steht. Er würde allerdings erwidern, dass es sich bei dem fehlenden Wissen immer um fehlendes Wissen bezüglich empirischer Tatsachen handelt. Dies ist der rationalitätstheoretisch entscheidende Punkt: Jeffrey leugnet nicht, dass es de facto intra- und interindividuell Konflikte zwischen widerstreitenden Präferenzen gibt. Alle diese Konflikte werden jedoch nach Jeffrey durch falsche oder unzureichend gerechtfertigte Überzeugungen generiert. Demnach können sie immer aufgelöst werden, sobald das relevante empirische Wissen verfügbar ist. Fraglich ist, was diese Annahme für moralisches Entscheiden austrägt, wenn das relevante empirische Wissen normalerweise nicht vorliegt. Auch Jeffreys zweite Prämisse – das Prinzip KohJeffrey – lässt sich mit guten Gründen in Zweifel ziehen. Stimmt es tatsächlich, dass es eine basale des-Funktion gibt, die inter- und intraindividuell invariant ist? Jeffrey begründet dieses Prinzip letztlich nur mit seinem radikalen Optimismus in Bezug auf die menschliche Natur. Ob allein dieser Optimismus eine überzeugende Begründung für eine derartig starke Annahme bieten kann, ist fragwürdig. Trotzdem spielt KohJeffrey in Jeffreys moraltheoretischer Anwendung des Kohärenzbegriffs eine Schlüsselrolle. Lässt man dieses Prinzip fallen, so ergeben sich erheblich andere moraltheoretische Folgerungen. Auf die Rechtfertigung des Prinzips KohJeffrey werden wir deshalb im nächsten Abschnitt noch einmal zurückkommen. Die Zurückweisung dieses Prinzips spielt nämlich eine entscheidende Rolle in der Kohärenztheorie von Nida-Rümelin. Wenden wir uns dieser alternativen Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik zu. 5.3.2 Nida-Rümelins Verwendung des Kohärenzbegriffs zur Verteidigung des moralischen Nicht-Konsequentialismus Für Nida-Rümelin besteht ein wichtiges theoretisches Ziel bei der Einführung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs in der Begründung des moralischen Nicht-Konsequentialismus.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

Um die Position hinreichend genau zu beschreiben, die NidaRümelin mit Hilfe seiner Kohärenztheorie verteidigen will, sind zunächst zwei begriffliche Unterscheidungen einzuführen. Die eine betrifft die Abgrenzung der konsequentialistischen von der nicht-konsequentialistischen Position; die andere betrifft die Unterscheidung zwischen dem moralischen und dem rationalen (Nicht-)Konsequentialismus. Den Konsequentialismus und den Nicht-Konsequentialismus begreift Nida-Rümelin als zwei konkurrierende Begründungsmodelle im Gebiet praktischer Rationalität.45 Demnach formulieren Konsequentialisten und Nicht-Konsequentialisten einander widersprechende Thesen über gute Handlungsgründe. Der Konsequentialist akzeptiert allein solche Handlungsgründe als gute Handlungsgründe, die sich auf die Konsequenzen von Handlungen beziehen. Der Nicht-Konsequentialist wehrt sich nicht gegen die These, dass es Handlungsgründe gibt, die sich auf Konsequenzen beziehen. Er lehnt lediglich die These ab, dass sich alle guten Handlungsgründe auf Handlungskonsequenzen beziehen. Bisher wurde in der Charakterisierung des (Nicht-)Konsequentialismus lediglich unspezifisch von guten Handlungsgründen gesprochen. Für Nida-Rümelin ist es aber wichtig, dass der Anwendungsbereich des Nicht-Konsequentialismus46 in zweierlei Weise spezifiziert werden kann. Zum einen kann er auf moralische Handlungsgründe eingeschränkt werden, zum anderen kann er auf rationale Handlungsgründe allgemein ausgeweitet werden. NKmor Es gibt moralische Handlungsgründe, die sich nicht auf Handlungskonsequenzen beziehen. 45 Nida-Rümelin 1993, 47–48. 46 Ich beziehe mich im Folgenden nur noch auf den Nicht-Konsequentialismus, weil dies die für Nida-Rümelin entscheidende Position ist. Die dargestellten Unterscheidungen lassen sich aber in analoger Weise auch auf den Konsequentialismus anwenden.

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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NKrat Es gibt rationale Handlungsgründe, die sich nicht auf Handlungskonsequenzen beziehen. Nida-Rümelin vertritt beide Thesen. Für das Verständnis seiner theoretischen Zielsetzungen ist jedoch wichtig, wie diese beiden Thesen miteinander in Beziehung gesetzt werden. So wird NKmor in der Konsequentialismusdebatte häufig von Autoren vertreten, die eine Kantische bzw. eine strikt deontologische Position einnehmen. Unter deontologisch orientierten Ethikern finden sich eine ganze Reihe Autoren, die eine strenge Aufteilung praktischer Gründe in moralische und nichtmoralische Handlungsgründe vornehmen: Während im nichtmoralischen Bereich prudentielle, pragmatische und instrumentelle Gründe anzusiedeln sind, machen die moralischen Handlungsgründe eine ganz eigene Klasse von Handlungsgründen auf, die nichts mit den Forderungen der Klugheit, der technischen Eignung etc. gemeinsam haben. Unter der Voraussetzung einer solchen Konzeption von moralischen Handlungsgründen sind NKmor und NKrat logisch voneinander unabhängig. Sie beziehen sich auf zwei getrennte Bereiche praktischer Rationalität. Man kann gleichzeitig NKmor vertreten und NKrat ablehnen. Nida-Rümelin findet diese strikte Abgrenzung moralischer und nicht-moralischer Handlungsgründe unplausibel. Entweder folge daraus, dass moralische Gründe nicht rational seien. Dies sei aber kontraintuitiv, weil man dann über Handlungen sagen könne: „Du hast zwar moralisch gehandelt, aber irrational“. Oder aber die Theorie praktischer Rationalität wäre in zwei Bereiche zu gliedern. Es gäbe die Forderungen moralischer Rationalität einerseits und die Forderungen nicht-moralischer Rationalität andererseits, die nicht miteinander übereinstimmen.47 Nida-Rümelin vertritt dagegen die These von der „Einheitlichkeit der praktischen Rationalität“. Moralische Gründe sind 47 Nida-Rümelin 2005, 399.

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demnach in genau demselben Sinn rationale Gründe wie die nicht-moralischen Gründe.48 Daraus folgt, dass NKmor und NKrat nicht logisch voneinander unabhängig sind. Vielmehr gilt: NKmor impliziert NKrat. Anders formuliert: Wenn es einen nicht-konsequentialistischen moralischen Handlungsgrund gibt, so impliziert dies, dass es einen nicht-konsequentialistischen rationalen Handlungsgrund gibt. Nida-Rümelin beansprucht in seiner Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus, NKmor und NKrat zu begründen. Dass Nida-Rümelin auf der einen Seite den Nicht-Konsequentialismus, auf der anderen Seite die Einheitlichkeit praktischer Rationalität vertritt, führt dazu, dass er eine interessante Zwischenposition bezieht. So kann er weder in das Lager der Konsequentialisten noch in das Lager der Vertreter einer strikt deontologischen Ethik eingeordnet werden. Er verfolgt zwei theoretische Intentionen, die prima facie widersprüchlich sind: Erstens führt seine Auffassung von der Einheitlichkeit der praktischen Rationalität dazu, dass er die Grundsätze der rationalen Entscheidungstheorie – als der am weitesten ausgearbeiteten Rationalitätstheorie – akzeptiert. Dabei ist festzustellen, dass diese Theorie traditionell mit einer konsequentialistischen Rekonstruktion von Rationalität und Moral verbunden ist. Zweitens argumentiert er vor diesem Hintergrund für eine nicht-konsequentialistische Position. Um diese Spannung zu lösen, beruft er sich auf den Kohärenzbegriff. Mit Hilfe des Kohärenzbegriffs will Nida-Rümelin zeigen, dass eine richtig verstandene Theorie praktischer Rationalität nicht-konsequentialistische Handlungsgründe integrieren muss. Im Folgenden wird dargestellt, wie Nida-Rümelin das begriffliche Inventar der rationalen Entscheidungstheorie einsetzt, um den Nicht-Konsequentialismus zu verteidigen. Ich konzentriere mich dabei auf die Rekonstruktion seines Kohärenzbegriffs. Bei Nida-Rümelin sind ein schwacher und ein 48 Nida-Rümelin 1996; 1997b, 296.

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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starker Kohärenzbegriff zu unterscheiden. Zunächst wende ich mich dem schwachen Kohärenzbegriff zu. Dieser entspricht Jeffreys präferenztheoretischem Kohärenzbegriff. Nida-Rümelin sieht darin eine notwendige Bedingung für praktische Rationalität. Deshalb muss er zunächst zeigen, dass schwache Kohärenz kompatibel mit der Existenz nicht-konsequentialistischer Handlungsgründe ist (5.3.2.1). In einem zweiten Argumentationsschritt führt Nida-Rümelin unter Verwendung der begrifflichen Mittel der Entscheidungstheorie seinen eigenen, starken Kohärenzbegriff ein. Die Forderung nach starker Kohärenz, so will er zeigen, ist mit dem Nicht-Konsequentialismus nicht nur verträglich, sondern NKmor und NKrat werden durch sie sogar positiv gestützt (5.3.2.2). Abschließend wird auf eine Bedeutungsambiguität in Nida-Rümelins Begriff starker Kohärenz hingewiesen (5.3.2.3). 5.3.2.1. Schwache Kohärenz: Nida-Rümelins Integration des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs in seine Kohärenztheorie Nida-Rümelin geht davon aus, dass die rationale Entscheidungstheorie grundsätzlich ein adäquates Modell praktischer Rationalität bietet. D. h. sowohl rationale als auch moralische Handlungsgründe müssen die Rationalitätsforderungen der Entscheidungstheorie erfüllen. Er akzeptiert deshalb die für die Entscheidungstheorie einschlägige Bedingung, dass eine Person nur dann rational ist, wenn ihre Präferenzen kohärent sind. Die Präferenzen einer vollständig rationalen Person sind kohärent – d. h., sie erfüllen die entscheidungstheoretischen Standardaxiome. (Nida-Rümelin 2002, 174)

Was versteht Nida-Rümelin hier unter Kohärenz? Er beruft sich auf denselben Kohärenzbegriff wie Jeffrey. Genau wie Jeffrey geht auch Nida-Rümelin davon aus, dass Präferenzen genau dann kohärent sind, wenn sie die entscheidungstheoretischen Standardaxiome erfüllen. Die kohärenzstiftenden Bezie-

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hungen werden also hier wie dort auf gleiche Weise charakterisiert.49 Außerdem kann Nida-Rümelin wie Jeffrey der subjektivistischen Interpretation der Entscheidungstheorie zugeordnet werden. D. h. er rekonstruiert Präferenzordnungen im Rekurs auf die propositionalen Einstellungen einer handelnden Person. Wie Jeffrey ordnet auch Nida-Rümelin Präferenzen den wunschähnlichen Einstellungen zu: Wünsche richten sich auf Propositionen. Ich wünsche, dass etwas der Fall ist; ich habe eine Präferenz für eine Proposition gegenüber einer anderen Proposition; ich ziehe es vor, dass dieses der Fall ist, wenn die Alternative ist, dass jenes der Fall ist, etc. (Nida-Rümelin 1997a, 181)

Außerdem spielen auch überzeugungsähnliche Einstellungen (also Wahrscheinlichkeiten) bei der Bestimmung von Präferenzen dieselbe Rolle wie bei Jeffrey: Wir können […] Propositionen Mengen von Welten (Weltzuständen) zuordnen bzw. Propositionen mit Mengen von möglichen Welten identifizieren. Die Proposition, dass es morgen regnet, wird dann durch die Menge aller möglichen Welten, in denen es morgen regnet, repräsentiert. […] Mit unseren Präferenzen vergleichen wir Mengen möglicher Weltzustände miteinander, und dies können wir tun, wenn wir diesen Mengen möglicher Welten Wahrscheinlichkeiten zuordnen können. (Nida-Rümelin 1997a, 182)

Der präferenztheoretische Kohärenzbegriff wird also bei NidaRümelin tatsächlich nach dem Verfahren rekonstruiert, das Jeffrey vorgeschlagen hat. Eine Differenz zu Jeffrey ergibt sich allerdings hinsichtlich der theoretischen Zielsetzung, die NidaRümelin mit diesem Kohärenzbegriff verbindet. In Abgrenzung von Jeffrey interpretiert Nida-Rümelin diese Forderung nach Kohärenz nämlich nicht als hinreichende Basis für Rationa49 Von einigen kleineren Unterschieden in der Formalisierung der entscheidungstheoretischen Axiomatik sehe ich hier ab. Nida-Rümelin geht wie Jeffrey davon aus, dass rationale Präferenzen reflexiv, konnex und transitiv sind (Nida-Rümelin 1993, 37–38).

5.3 Zwei exemplarische Anwendungen auf die Ethik

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lität (oder Moralität), sondern lediglich als eine notwendige Bedingung vollständiger Rationalität. Deshalb bezeichnet Nida-Rümelin diese Forderung auch als Forderung nach schwacher Kohärenz.50 Auf die Abgrenzung zur Forderung nach starker Kohärenz gehe ich im nächsten Abschnitt ein. Konzentrieren wir uns zunächst darauf, die Verträglichkeit dieser Forderung nach schwacher Kohärenz mit dem Nicht-Konsequentialismus nachzuzeichnen. Legt man die klassische Interpretation der Entscheidungstheorie zugrunde, so ergibt sich an dieser Stelle ein Konflikt. Der Grund dafür liegt darin, dass in den klassischen Versionen der Entscheidungstheorie die konsequentialistische Orientierung bereits in die Axiomatik einging. Nida-Rümelin verweist in diesem Zusammenhang auf die Versionen der Entscheidungstheorie von Savage (1954) und Luce & Raiffa (1957), die er folgendermaßen charakterisiert: In der einfachsten Lesart stellt die Entscheidungstheorie einen Zusammenhang her zwischen Wünschen, die sich auf Konsequenzen von Handlungen beziehen, und Handlungen. Genauer gesagt bestimmt sie rationale Präferenzen über Handlungen bei gegebenen Präferenzen über Handlungskonsequenzen. (Nida-Rümelin 1997a, 179)51

Legt man bereits in der Axiomatik fest, dass sich gegebene Präferenzen ausschließlich auf Handlungskonsequenzen beziehen, so ist die rationale Entscheidungstheorie selbstverständlich per definitionem eine konsequentialistische Theorie praktischer Rationalität. Nida-Rümelin wendet nun ein, dass diese konsequentialistische Orientierung durch die Standardaxiome der Entscheidungstheorie allein nicht impliziert wird. Wie in Abschnitt 5.2.3 dargestellt wurde, thematisieren diese lediglich qualitative Anforderungen an Präferenzrelationen. Vor dem Hintergrund von Jeffreys Version der Entscheidungstheorie liegt auf der Hand, 50 Nida-Rümelin 2002, 177. 51 Nida-Rümelin thematisiert Savages Modell ausführlich in Nida-Rümelin (1993, 16–23, 46ff.).

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wie sich die Verträglichkeit der Entscheidungstheorie mit dem Nicht-Konsequentialismus begründen lässt: Man kann die Entscheidungstheorie auch so rekonstruieren, dass sich die wunschähnlichen Einstellungen nicht lediglich auf Konsequenzen, sondern ganz allgemein auf Propositionen beziehen. In diesen Propositionen können dann auch Handlungskonsequenzen repräsentiert sein; ebenso gut können sie sich aber auf Weltzustände beziehen, die keine Handlungskonsequenzen darstellen, die aber trotzdem von der handelnden Person gewünscht oder präferiert werden. Genau diesen Weg beschreitet Nida-Rümelin.52 Er argumentiert, dass man die Forderung nach der Maximierung der des-Funktion, die der Entscheidungstheorie zugrunde liegt, nicht mit der Forderung nach Optimierung von Handlungskonsequenzen verwechseln darf. Es ist mit den Axiomen der Entscheidungstheorie ohne weiteres vereinbar, Handlungen in einer umfassenderen Weise zu beschreiben, die sich nicht allein auf Handlungskonsequenzen bezieht. Weshalb also sollten in dieser Handlungsbeschreibung nicht auch nicht-konsequentialistische Handlungsgründe berücksichtigt werden? Es ist nicht zu erkennen, warum die Standardaxiome der Entscheidungstheorie durch diese Vervollständigung der Handlungsbeschreibung verletzt werden sollten. Nida-Rümelin verdeutlicht dies am Beispiel der Transitivitätsbedingung. Nehmen wir an, wir beschreiben eine Handlung 52 Es ist bemerkenswert, dass Nida-Rümelin kaum explizit auf Jeffrey verweist, obwohl dessen Axiomatisierung mit seinen theoretischen Zielen grundsätzlich kompatibel ist. Während er Jeffrey meistens unkommentiert unter die Vertreter einer konsequentialistischen Interpretation der Entscheidungstheorie einordnet (s. Nida-Rümelin 2004, 257), stellt er erst in einer aktuellen Publikation zum Thema fest, dass Jeffreys Interpretation der Entscheidungstheorie nicht zwingend dem Konsequentialismus verpflichtet ist. Er schreibt dazu: „The standard conception of decision theory is indeed consequentialist […]. Conceptually, this consequentialism is made explicit in Savages model, not however in Jeffrey’s holistic account“ (Nida-Rümelin 2005, 398).

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nicht ausschließlich hinsichtlich ihrer Konsequenzen, sondern wählen eine umfassendere Beschreibung. Wir berücksichtigen z. B. zusätzlich ihre Eigenschaft, ein Diebstahl zu sein. In vielen nicht-konsequentialistischen Ethiken stellt diese Eigenschaft einen guten Grund dafür dar, diese Handlung nicht auszuführen – nämlich einen deontologischen Grund, der ohne Ansehung der Konsequenzen gegen die Handlung spricht. Gesteht man zu, dass es einige Extremfälle geben mag, in denen dieser Grund von anderen Gründen überwogen wird (z. B. Mundraub), so lässt sich der Wunsch, keinen Diebstahl begehen zu wollen, nach Nida-Rümelin ohne Probleme in eine transitive Präferenzordnung einfügen: This requirement of Transitivity should be met not only in case the rational person’s preferences are based on consequentialist, but also if they are based on deontological reasons. Why should deontological reasons go against transitivity? Why should a rational agent develop intransitive preferences only because he is motivated by deontological reasons? […] I think that there are no reasonable answers to these questions. (Nida-Rümelin 2005, 402)

Akzeptiert man diese Argumentation, so ist die Verträglichkeit des Nicht-Konsequentialismus mit der rationalen Entscheidungstheorie nachgewiesen. Die Forderung nach schwacher Kohärenz kann auch in eine nicht-konsequentialistische Rationalitäts- und Moralitätskonzeption integriert werden. Allerdings ermöglicht die Forderung nach schwacher Kohärenz allein keine begründete Entscheidung zwischen Konsequentialismus und Nicht-Konsequentialismus. Zwar führt Nida-Rümelin an, dass es eine Schwäche des Konsequentialismus sei, sich auf eine reduzierte Beschreibung von Handlungen zu berufen, die nicht-konsequentialistische Handlungsgründe bereits per definitionem ausschließe. Er versucht an verschiedenen Beispielen zu zeigen, dass eine adäquate Handlungsbeschreibung umfassender sein muss.53 Ein Konsequentialist aber wird darauf erwidern, dass eben in dieser reduzierten Handlungsbeschreibung, 53 Nida-Rümelin 2002, 186; 2005, 400.

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die sich nicht auf den intrinsischen Wert von Handlungen beruft, eine Stärke der konsequentialistischen Rationalitäts- und Moraltheorie liegt. Ohne die Berücksichtigung weiterer Aspekte droht hier ein argumentatives Patt zwischen Konsequentialisten und Nicht-Konsequentialisten. Nida-Rümelin versucht deshalb mit Hilfe des Kohärenzbegriffs ein weiteres Argument anzugeben, mit dem der Nicht-Konsequentialismus positiv gestützt werden kann. Wenden wir uns nun diesem Argument zu. 5.3.2.2. Starke Kohärenz: Nida-Rümelins Reinterpretation der rationalen Entscheidungstheorie Nida-Rümelin grenzt sich von einer Annahme ab, die für Jeffreys Anwendung des Kohärenzbegriffs auf die Ethik von zentraler Bedeutung ist. Ich stelle diese Annahme noch einmal dar und rekonstruiere von ihr ausgehend Nida-Rümelins Argumentation gegen den Konsequentialismus. In Jeffreys moraltheoretischer Anwendung des Kohärenzbegriffs spielte das Prinzip KohJeffrey eine Schlüsselrolle. KohJeffrey Es gibt eine und nur eine des-Funktion auf der Grundlage basaler Wünschbarkeiten, die sowohl intraindividuell (über verschiedene Zeitpunkte hinweg) als auch interindividuell invariant ist. Jeffrey hatte dieses Prinzip mit seinem radikalen Optimismus in Bezug auf die menschliche Natur begründet. Auch wenn diese naturalisierende Begründung nur für Jeffrey charakteristisch ist: Die Annahme, dass es eine und nur eine des-Funktion gibt (in der entsprechenden Literatur häufig Nutzen-, Wert- oder Bewertungsfunktion genannt), die interindividuell und intraindividuell invariant ist, ist in der moraltheoretischen Anwendung der Entscheidungstheorie weit verbreitet.54 Einige Gründe für 54 Dies gilt insbesondere für axiomatische Präzisierungen des Utilitarismus – und zwar sowohl in ihrer klassischen Form (Harsanyi 1982) als auch in aktuellen Versionen des Utilitarismus, die basale Intuitionen zur Gerechtigkeit inkorporieren (Trapp 1988; 1999, 31).

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die Attraktivität dieser Annahme wurden schon in der Darstellung von Jeffreys Theorie genannt. Geht man von einer und nur einer invarianten Bewertungsfunktion aus, so lassen sich alle auftretenden Koordinationsprobleme als Folge unvollständiger Informiertheit auffassen. In einer Gesellschaft vollständig informierter Handelnder, die alle zu allen Zeitpunkten dieselbe Bewertungsfunktion maximieren (d. h. die alle so handeln, als wären sie Utilitaristen), gibt es keine Koordinationsprobleme. Entscheidungskonflikte lassen sich in diesem Fall nur konstruieren, wenn man annimmt, dass einige Personen falsche Überzeugungen haben und aus diesem Grund eine mit der basalen Bewertungsfunktion konfligierende Präferenzordnung haben. Daher ist KohJeffrey insbesondere für utilitaristische Moraltheorien, aber auch für konsequentialistische Rationalitätstheorien generell ein attraktives Prinzip. Auch Nida-Rümelin verweist auf dieses Prinzip; er bezeichnet es als Kriterium des „strikten ethischen Konsequentialismus“: Dieses Kriterium verlangt, daß die subjektive Wertfunktion des moralisch Handelnden unparteilich ist. Unabhängig davon, wie dieses Kriterium konkret formuliert ist, legt es eine einzige moralische Rangordnung möglicher Welten fest. Diese Rangordnung ist nicht abhängig von der handelnden Person – sie ist invariant gegenüber den Umständen der Entscheidung, den Handlungsoptionen und den Handelnden. (Nida-Rümelin 1993, 54)

Nida-Rümelins Argumentation für den Nicht-Konsequentialismus setzt mit einer Kritik an diesem Grundprinzip vieler konsequentialistischer Theorien an. Dieses Prinzip ist nach Nida-Rümelin faktisch einfach nicht erfüllt. Es widerspricht grundlegenden Intuitionen zur Struktur unserer moralischen Wertungen und zur Moral überhaupt. Nida-Rümelin stützt sich primär auf drei Kritikpunkte: 1. Das Prinzip stellt eine moralische Überforderung handelnder Personen dar. Weil es als rationalitätstheoretische Forderung auf einem Maximierungsprinzip basiert, kann es keine supererogatorischen Handlungen geben. Nur Handlungen, welche die basale Bewertungsfunktion maximieren, sind gut und jede dieser Handlungen ist moralisch geboten.

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2. Die interindividuelle Invarianz der Bewertungsfunktion widerspricht unseren Vorstellungen von Individualität und Humanität. Es ist unklar, wie es unter der Voraussetzung des Prinzips noch moralisch legitim sein sollte, persönliche Projekte, individuelle Lebenspläne, aus persönlichen Beziehungen resultierende Verpflichtungen etc. zu verfolgen. Diese wären ja, sofern sie nicht von allen Personen geteilt werden, Abweichungen von der basalen Bewertungsfunktion. 3. Schließlich widerspricht die Annahme intraindividueller Invarianz unseren psychologischen und anthropologischen Kenntnissen. Menschen ändern ihre Ziele, Hoffnungen, Lebenspläne und persönlichen Verpflichtungen im Laufe ihres Lebens und nicht alle diese Veränderungen können durch Überzeugungswechsel erklärt werden. Sie haben ihre Ursache auch häufig in grundlegenden Neubewertungen, die nicht konkrete Situationen, sondern wirklich die basalen Werte betreffen, die man für sich als verbindlich anerkennt.55 Nida-Rümelin plädiert deshalb dafür, die Annahme einer interund intraindividuell invarianten Bewertungsfunktion aufzugeben. Und damit kommt sein Argument gegen den Konsequentialismus in Gang. Wenn man nämlich nicht davon ausgeht, dass alle Personen zu allen Zeitpunkten dieselbe Bewertungsfunktion maximieren, dann ergeben sich genau die Koordinationsprobleme, die Konsequentialisten vermeiden wollen. Ich erläutere die Struktur dieser Koordinationsprobleme an einem einfachen Beispiel von Nida-Rümelin, das den intraindividuellen Wechsel von Wertungen über die Zeit hinweg illustriert.56 Ein Kidnapper bekommt Angst, weil er von der Polizei verfolgt wird, und will sein Opfer freilassen. Das Opfer verspricht, nach seiner Freilassung die Ergreifung des Täters nicht zu unterstützen. Geht man von einer über die Zeit hinweg variierenden Bewertungsfunktion aus, so kann das Problem entste55 S. Nida-Rümelin 1997b, 300; 2004, 258. 56 Nida-Rümelin 1997a, 177–178.

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hen, dass die subjektiven Präferenzen des Opfers zu einem Handeln führen, das im Ergebnis nicht rational ist. So hat das Opfer vor der Freilassung zwar Angst um sein Leben, möchte aber auch, dass der Täter für seine Tat die gerechte Strafe bekommt. Dies führt dazu, dass das Opfer zwar den Wunsch hat, das Versprechen zu geben, jedoch nicht den Wunsch, das Versprechen zu halten. Nach der Freilassung wäre das Opfer außer Gefahr; hätte also weder den Wunsch, ein entsprechendes Versprechen zu geben noch es zu halten. In einer solchen Situation könnte sich der Täter dazu gezwungen sehen, das Opfer zu töten. Dabei wäre es im rationalen Eigeninteresse beider Parteien gewesen, sich auf die Strategie „Versprechen geben und Versprechen halten“ zu einigen: das Opfer hätte überlebt, der Kidnapper wäre nicht zum Mörder geworden. Nida-Rümelin will mit diesem Beispiel zeigen, dass die punktuelle Maximierung der subjektiven Bewertungsfunktion zu Lösungen führen kann, die dem rationalen Eigeninteresse des Opfers widersprechen. Wenn das Opfer den Täter bei der Polizei beschreibt, dann erfüllt es die Forderung nach schwacher Kohärenz, weil es zu jedem Zeitpunkt seine subjektive Bewertungsfunktion maximiert. Weil diese jedoch über die Zeit hinweg variiert, kommt das Opfer mit diesem Verfahren nicht zu der Lösung, die alles in allem in seinem rationalen Eigeninteresse liegt. Diese Inkohärenz ist nach Nida-Rümelin innerhalb des Konsequentialismus, der auf die Maximierung der subjektiven Bewertungsfunktion ausgerichtet ist, prinzipiell nicht auflösbar. Die Inkohärenz macht deshalb auf das Problem der „Selbstaufhebung des Konsequentialismus“ aufmerksam: Gerade die Befolgung der Norm, zu jedem Zeitpunkt die vorhandenen Präferenzen optimal zu erfüllen (d. h. die Erfüllung der Bewertungsfunktion zu maximieren), führt dazu, dass die Strategie verfehlt wird, welche – auch von einem konsequentialistischen Standpunkt aus – die optimale gewesen wäre.

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Nida-Rümelin folgert, dass bei intra- und interindividuell57 variierenden Bewertungsfunktionen schwache Kohärenz allein keine hinreichende Bedingung für rationales und moralisches Handeln sein könne. Seine Lösung besteht darin, neben dem schwachen Kohärenzbegriff, den er als notwendige Bedingung für rationales und moralisches Handeln anerkannt hat, einen starken Kohärenzbegriff einzuführen. Starke Kohärenz erfordert es, die punktuelle Maximierungsstrategie aufzugeben und die Optimierung über längere Zeiträume hinweg anzustreben. Dabei ist es unvermeidlich, gegen eine Vielzahl jeweils aktueller subjektiver Wertungen zu verstoßen. Wer z. B. eine Dissertation abschließen möchte, muss während dieser Zeit gegen viele einzelne Wünsche verstoßen (sich mit Freunden treffen, Sport treiben etc.), um dieses Ziel zu erreichen. Bestünde Rationalität grundsätzlich in der Maximierung der jeweils aktuellen subjektiven Bewertungsfunktion, wären alle längerfristigen Zielsetzungen per definitionem irrational. Nida-Rümelin appelliert an die Intuition, dass es aber gerade die Fähigkeit zur Verfolgung persönlicher, längerfristiger Projekte ist, die uns als rational und moralisch handelnde Personen auszeichnet. Aus diesem Grund können rationale und moralische Handlungsgründe nach Nida-Rümelin nicht konsequentialistisch rekonstruiert werden. Die Forderung nach starker Kohärenz besagt vielmehr, dass über variierende Bewertungsfunktionen zu reflektieren und nach geeigneten Strategien zu suchen ist, die die Erfüllung der variablen und oftmals konfligierenden Bewertungsfunktionen über langfristige Zeiträume hinweg optimieren. Die Idee ist, daß […] unsere Handlungen auf ein umfangreiches System subjektiv akzeptierter Gründe verweisen, die miteinander 57 Nida-Rümelin hat auch aufwändigere spieltheoretische Beispiele vorgelegt, um interindividuelle Unterschiede in der Wertungsfunktion zu veranschaulichen (Nida-Rümelin 1994b, 1997b). Ein berühmtes Beispiel für solche Konflikte ist das so genannte prisoner’s dilemma.

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eng zusammenhängen. Um einem solchen strukturierten System von Gründen in unseren Handlungen gerecht zu werden, müssen wir diese so wählen, daß sie mit dem Gesamtsystem zusammenpassen. (Nida-Rümelin 2002, 193)

Dies hat zur Folge, dass die Anwendung des Begriffs starker Kohärenz in eine holistische und gradualistische Rationalitätskonzeption mündet. Der Begriff starker Kohärenz lässt sich dabei nur schwer explizieren, weil ein guter Handlungsgrund, der die Forderung nach starker Kohärenz erfüllt, optimal in das gesamte System zeitlich variierender Bewertungen, Überzeugungen und Lebensbedingungen einer handelnden Person eingepasst sein muss. Aus dieser Rekonstruktion guter Handlungsgründe ergibt sich, dass Nida-Rümelin einen moralischen Kognitivismus vertritt. Wie ist seine nicht-konsequentialistische Doktrin mit dem moralischen Kognitivismus verknüpft? Nida-Rümelin geht zwar von der Existenz subjektiver Bewertungsfunktionen aus, die auf wunschähnlichen Einstellungen basieren (Präferenzen). Im Unterschied zu Jeffrey meint er jedoch, dass diese subjektiven Bewertungsfunktionen uns nicht unsere rationalen bzw. moralischen Handlungsgründe liefern. Vielmehr könnten wir diese Handlungsgründe nur erschließen, indem wir uns kritisch nachdenkend auf unsere Präferenzen und subjektiven Bewertungen, aber auch auf unser sonstiges Wissen um unsere Lebenszusammenhänge, Beziehungen etc. beziehen. Dies tun wir nach NidaRümelin aber nicht, indem wir uns mit wunschähnlichen Einstellungen auf diese Tatsachen beziehen. Wenn wir einen praktischen Grund erfassen, dann tun wir dies ebenso wie bei theoretischen Gründen mittels Überzeugungen.58 Die Trennung von subjektiven Bewertungsfunktionen und praktischen Gründen stellt also für Nida-Rümelin eine zentrale Motivation dar, nicht den Nonkognitivismus, sondern den moralischen Kognitivismus zu vertreten. Auch in dieser Hinsicht begibt er sich dabei in Opposition zur tradierten Anwendung 58 Nida-Rümelin 2000, 93.

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der rationalen Entscheidungstheorie auf moraltheoretische Problemstellungen. 5.3.2.3. Eine Ambiguität in Nida-Rümelins Charakterisierung des starken Kohärenzbegriffs Nida-Rümelin hat ohne Zweifel gezeigt, dass die Standardaxiome der rationalen Entscheidungstheorie für sich genommen keine Festlegung auf eine konsequentialistische Rationalitätstheorie oder eine konsequentialistische Moraltheorie implizieren. Ist aber auch seine Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus erfolgreich? Die Erfolgsaussichten dieses Projekts hängen daran, ob der starke Kohärenzbegriff die ihm zugewiesene Begründungslast tragen kann. Was aber bedeutet starke Kohärenz bei Nida-Rümelin? Wenden wir uns abschließend noch einmal der Frage nach der Semantik dieses Begriffs zu. Problematisch ist an Nida-Rümelins Kohärenzbegriff nicht, dass seine Explikation erheblich unterbestimmt bleibt. Dies teilt sie mit vielen anderen Ansätzen zur Explikation des Kohärenzbegriffs in der Ethik. Das primäre Problem dieses Ansatzes besteht vielmehr darin, dass dem starken Kohärenzbegriff bei Nida-Rümelin eine tiefgreifende Ambiguität anhaftet. So liegt die Vermutung nahe, dass in Nida-Rümelins Konzeption starker Kohärenz zwei der Sache nach unterschiedliche Kohärenzbegriffe miteinander vermengt werden. Während nämlich Nida-Rümelin den starken Kohärenzbegriff – wie hier dargestellt wurde – auf der einen Seite als eine Weiterentwicklung und Ausarbeitung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs konzipiert, gibt es andere Stellen, an denen er ihn in die Nähe des Kohärenzbegriffs aus der Theorie epistemischer Rechtfertigung rückt. Letzteres ist immer dann der Fall, wenn er sich zu den kognitivistischen Grundlagen seiner Metaethik äußert. In diesen Kontexten zieht er eine enge Parallele zwischen der kohärentistischen Rechtfertigung empirischer und (ethisch-)normativer Überzeugungen. Eine kohärentistische Konzeption theoretischer Vernunft ist geeignet, die Einheitlichkeit der rationalen Begründung von Überzeugun-

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gen, seien sie empirischer oder normativer Natur, deutlich zu machen […]. Die kohärentistische Konzeption rationaler Begründung ist selbstreferentiell, und sie stützt sich selbst. Die kohärentistische Konzeption rationaler Begründung ist eine epistemologische […] Theorie zweiter Ordnung. (Nida-Rümelin 1994c, 744)

Wenn Nida-Rümelin hier von kohärentistischer Begründung spricht, denkt er offensichtlich an die Theorie epistemischer Rechtfertigung von Überzeugungen.59 Lässt sich daraus folgern, dass er sich, wenn er vom starken Kohärenzbegriff spricht, generell auf den epistemologischen Kohärenzbegriff bezieht? Das kann kaum sein. Dann wäre nämlich unklar, was der starke Kohärenzbegriff mit dem schwachen Kohärenzbegriff zu tun hätte. Und es wäre unverständlich, wie im Rekurs auf den epistemologischen Begriff eine normative Position wie der Nicht-Konsequentialismus verteidigt werden könnte. An vielen anderen Stellen vertritt er denn auch eine andere Auffassung. Dort geht er, wie gerade gezeigt wurde, davon aus, dass starke Kohärenz eine Forderung nach strategischer Optimierung von umfassenden Handlungsplänen darstellt, die mit der grundlegenden Forderung nach schwacher Kohärenz (die er hier als „Humesches Konzept“ einführt) kompatibel ist. [D]amit haben wir – zugegebenermaßen nur im Rahmen eines theoretischen Modells – eine Kohärenzforderung, die weit über das zunächst eingeführte Humesche Konzept hinausgeht: Das gesamte Geflecht unserer bedingten (und interdependenten) Präferenzen, auf was immer diese sich beziehen – auf Handlungen, Handlungsweisen, Lebensformen, Gesellschaftsformen, auf Handlungskonsequenzen, handlungsunabhängige Umstände oder Weltzustände –, muß – idealiter – [mit der Forderung nach schwacher Kohärenz] kompatibel sein. (Nida-Rümelin 1997a, 183)

Was also meint Nida-Rümelin genau, wenn er von starker Kohärenz spricht? Die letztgenannte Textstelle sowie die hier rekonstruierte Argumentation sprechen dafür, dass er den star59 Deren Anwendung auf die Ethik wurde in dieser Untersuchung in Kapitel 2 besprochen.

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

ken Kohärenzbegriff als holistische Reinterpretation des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auffasst. Wie lassen sich die beiden soeben abgegrenzten divergierenden Tendenzen in seiner Konzeption starker Kohärenz miteinander vereinbaren? In neueren Publikationen scheint er die These zu vertreten, dass seine holistische Reinterpretation der Kohärenz von Präferenzen auch Bedeutungskomponenten des epistemologischen Kohärenzbegriffs inkorporiert. So schreibt er: Konative und epistemische Systeme sind nicht nur unauflöslich miteinander verbunden, sondern unterliegen vergleichbaren Kohärenzbedingungen. (Nida-Rümelin 2007, 8)

Gemäß dieser Interpretation werden also kohärente Zusammenhänge zwischen wunschähnlichen Einstellungen und zwischen überzeugungsähnlichen Einstellungen in „vergleichbarer“ Weise gestiftet. Wie aber die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung zeigen, bezieht sich Nida-Rümelin mit dem Wort „starke Kohärenz“ auf zwei verschiedene Begriffe von Kohärenz, deren Bedeutung und deren theoretische Zielsetzungen in Kohärenztheorien klar voneinander abgegrenzt werden können. Dies wirft eine ganze Reihe von Fragen auf: Wie hängen die verschiedenen Bedeutungskomponenten, die NidaRümelin im Konzept starker Kohärenz kombiniert, miteinander zusammen? In welchem Verhältnis stehen dabei Präferenzrelationen und inferentielle Relationen? Haben noch andere Beziehungen eine kohärenzstiftende Wirkung? Diese weiterführenden Fragen zur Semantik der Konzeption starker Kohärenz sind in Nida-Rümelins Publikationen bisher unbeantwortet geblieben. Solange aber nicht geklärt ist, wie der epistemologische und der präferenztheoretische Kohärenzbegriff in einer integrativen Kohärenztheorie vereint werden können, weist die Charakterisierung von „starker Kohärenz“ eine erhebliche Ambiguität auf. Es ist eine interessante Frage, ob sich die Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus durch eine Präzisierung des starken Kohärenzkonzepts weiter stützen ließe.

5.4 Fazit

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5.4 Fazit Es wurde gezeigt, dass es sich beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff um einen vierten Kohärenzbegriff handelt, der sich klar von den anderen drei Kohärenzbegriffen abgrenzen lässt. Dabei handelt es sich bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, um Präferenzen; kohärenzstiftend wirken Präferenzrelationen genau dann, wenn sie die Standardaxiome der Entscheidungstheorie erfüllen. Anhand einer Analyse der relationalen Eigenschaften konnte nachgewiesen werden, dass sich diese Präferenzrelationen tatsächlich in relevanter Weise von Rechtfertigungsbeziehungen unterscheiden. Außerdem lässt sich der präferenztheoretische Kohärenzbegriff noch in zwei weiteren Hinsichten von den anderen drei in dieser Untersuchung diskutierten Kohärenzbegriffen abgrenzen. Erstens ist dieser der einzige Kohärenzbegriff, der so weit expliziert ist, dass man von einer Definition sprechen kann. Die Axiome der Entscheidungstheorie stellen einzeln notwendige und gemeinsam hinreichende Bedingungen für die Kohärenz von Präferenzen dar. Zweitens ist der präferenztheoretische Kohärenzbegriff zwar häufig auf die Ethik angewendet worden. Wie gezeigt wurde, kann die Entscheidungstheorie aber zunächst als eine reine Theorie instrumenteller Rationalität interpretiert werden. Der darin auftretende Kohärenzbegriff verhält sich folglich neutral zu spezifisch moraltheoretischen Vorannahmen. Aus dieser Tatsache ergibt sich die Konsequenz, dass er sowohl mit unterschiedlichen theoretischen Zielsetzungen als auch unter Voraussetzung divergierender metaethischer Positionen auf die Ethik angewendet werden kann. Dies wurde an zwei Anwendungen des Kohärenzbegriffs auf moraltheoretische Problemstellungen exemplarisch belegt. Während Jeffrey in der kohärenten Präferenzordnung auf der Grundlage basaler Wünschbarkeiten eine hinreichende normative Basis für die Moralität von Entscheidungen sieht, verweist Nida-Rümelin auf den Kohärenzbegriff, um zu belegen, dass

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5. Ein entscheidungstheoretischer Ansatz

auch eine nicht-konsequentialistische Interpretation der Ethik mit den Grundannahmen der Entscheidungstheorie verträglich ist. Insofern kann ein und derselbe präferenztheoretische Kohärenzbegriff mit unterschiedlichen theoretischen Zielsetzungen verbunden werden. Um den Nicht-Konsequentialismus argumentativ zu stützen, entwickelt Nida-Rümelin zudem einen starken Kohärenzbegriff. Obwohl dieser unzureichend expliziert ist, kann er grundsätzlich als holistische Reinterpretation des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs angesehen werden. Der präferenztheoretische Kohärenzbegriff kann demnach im Rahmen von verschiedenen metaethischen Positionen angewendet werden, die untereinander inkompatibel sind. Dies lässt sich gerade an den beiden Theorien von Jeffrey und NidaRümlin gut belegen, weil diese deutlich divergierende Grundpositionen in der Metaethik voraussetzen. So ist Jeffrey in der nonkognitivistischen Tradition der Metaethik zu lokalisieren, während sich Nida-Rümelin klar zum moralischen Kognitivismus bekennt. Außerdem bleibt Jeffrey der konsequentialistischen Orientierung der Standardinterpretation der Entscheidungstheorie verbunden – obwohl er, wie gezeigt werden konnte, aufgrund seiner Axiomatik nicht zwingend auf eine konsequentialistische Auslegung der Entscheidungstheorie festgelegt ist. Nida-Rümelin dagegen verweist auf den Kohärenzbegriff, um die Existenz nicht-konsequentialistischer moralischer Handlungsgründe zu belegen.60 Diese Flexibilität der Anwendungsmöglichkeiten stellt dabei kein Problem dar. Vielmehr scheint darin einer der Gründe für den erheblichen Einfluss zu liegen, den entscheidungstheoretische Modellierungen in der Ethik und Metaethik gewonnen haben. Heute ist es weitgehend unstrittig, dass die Kohärenz 60 Einen weiteren Unterschied zwischen Jeffrey und Nida-Rümelin gibt es auf der Ebene der Motivationstheorie. Während Jeffrey eine Theorie instrumenteller Rationalität vertritt, die dem neohumeanischen Rationalitätsmodell verpflichtet ist, lehnt Nida-Rümelin dieses Modell ab (Nida-Rümelin 2000).

5.4 Fazit

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von Präferenzen zumindest eine notwendige Bedingung praktischer Rationalität ausmacht. Wie das Beispiel Nida-Rümelins zeigt, kann man dies auch als Vertreter einer nicht-konsequentialistischen Ethik akzeptieren. Es ist lediglich wichtig, die Neutralität der Entscheidungstheorie gegenüber der Ethik zu konstatieren und bei der Interpretation der Ergebnisse zu berücksichtigen.

6. Analyse der Beziehungen zwischen den unterschiedlichen Kohärenztheorien und Zusammenfassung der Ergebnisse 6.1 Einleitung In den vorangehenden Kapiteln wurden einige Theorieansätze aus der Ethik und aus der Metaethik dargestellt, die sich sämtlich auf einen Begriff von Kohärenz berufen. Das Ziel dieser Untersuchung bestand darin, die relevanten Bedeutungskomponenten der verschiedenen Kohärenzbegriffe herauszuarbeiten und zu rekonstruieren, mit welchen theoretischen Zielsetzungen diese Begriffe jeweils eingeführt werden. Als Ergebnis kann festgehalten werden, dass es weder den Kohärenzbegriff noch die Kohärenztheorie in der Ethik gibt. Vielmehr werden in Ethik und Metaethik verschiedene Kohärenzbegriffe mit unterschiedlichen theoretischen Zielen vertreten. In diesem Schlusskapitel sollen insbesondere die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kohärenzbegriffen und -theorien klargestellt werden. In den vier vorangehenden Kapiteln wurden die einzelnen Kohärenzkonzeptionen jeweils für sich rekonstruiert und diskutiert. Eine abschließende Analyse der Beziehungen zwischen diesen Kohärenzkonzeptionen ist aber unerlässlich, um die Inkompatibilitätsthese, eine der zentralen Thesen dieser Untersuchung, zu begründen.1 Diese These besagt, dass die verschiedenen, bisher voneinander abgegrenzten Kohärenztheorien nicht in eine einheitliche, umfassende Kohärenz1 Die Inkompatibilitätsthese wurde bei der Präzisierung der Kernthese dieser Untersuchung als Teilthese (II) eingeführt (s. Abschnitt 1.3.2).

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

konzeption integriert werden können, sondern dass diese miteinander inkompatibel sind – sowohl hinsichtlich ihrer metaethischen Vorannahmen als auch hinsichtlich der theoretischen Ziele, mit denen der Kohärenzbegriff jeweils eingeführt wird. Der Nachweis dieser Inkompatibilität und der Aufweis der Gründe dafür sind für die systematische Relevanz der Ergebnisse dieser Untersuchung von entscheidender Bedeutung. Denn wenn sich die bisher unterschiedenen Kohärenzbegriffe letztlich in eine einheitliche Kohärenztheorie für die Ethik überführen ließen, wäre deren Unterscheidung hinsichtlich der theoretischen Implikationen wenig brisant. In diesem Fall ließe sich argumentieren wie folgt: Es mag zwar sein, dass es in der Explikation des Kohärenzbegriffs bisher Unterbestimmtheiten gegeben hat und dass man diesen Begriff bei näherer Betrachtung in unterschiedlicher Weise präzisieren kann. Hierbei aber handele es sich eher um Detailfragen. Letztlich könnten die unterschiedlichen Präzisierungen des Kohärenzbegriffs in eine und nur eine umfassendere Kohärenztheorie für die Ethik integriert werden. Deshalb gebe es – entgegen dem ersten Anschein – doch genau eine bescheidene kohärentistische Kernposition, die mit verschiedenen metaethischen Vorannahmen verträglich sei und auf die sich alle Kohärentisten in der Ethik einigen könnten. Diese Auffassung, deren Falschheit im Folgenden durch die Begründung der Inkompatibilitätsthese nachgewiesen werden soll, wird von einer ganzen Reihe von Kohärentisten in der Ethik vertreten oder zumindest nahe gelegt. In der Einleitung dieser Untersuchung wurde bereits angeführt, dass eine solche Kompatibilitätsbehauptung z. B. von Nida-Rümelin vertreten wird. Eine Kohärenztheorie ist nach Nida-Rümelin eine theoretische Option zur Rekonstruktion sowohl theoretischer als auch praktischer rationaler Gründe. Die metatheoretische Lokalisation eines solchen kohärentistischen Ansatzes charakterisiert er in einer beachtenswerten Fußnote wie folgt: Eine Kohärenzkonzeption theoretischer und praktischer Rationalität ist mit so gut wie allen Theorien zweiter Ordnung (metaphysischen

6.1 Einleitung

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und ontologischen Annahmen) vereinbar. So wie eine Kohärenzkonzeption theoretischer Rationalität eine Korrespondenztheorie der Wahrheit und eine realistische Interpretation unserer Überzeugungsinhalte nicht ausschließt, so ist auch eine Kohärenzkonzeption praktischer Rationalität mit normativem Objektivismus (Kognitivismus), d. h. mit der Auffassung, auch normative Urteile seien wahrheitsfähig, vereinbar. (Nida-Rümelin 1997a, 175, Fn. 1)

An dieser knappen Begründung seiner prima facie weitreichenden Kompatibilitätsbehauptung fällt zunächst auf, dass NidaRümelin unzureichend zwischen den verschiedenen metaethischen Analyseebenen unterscheidet.2 Er spricht von metaethischen Positionen auf epistemologischer Ebene („Kognitivismus“), auf ontologischer Ebene („realistische Interpretation unserer Überzeugungsinhalte“, „Objektivismus“) und auf semantischer Ebene („normative Urteile seien wahrheitsfähig“) – allerdings ohne genauer zu spezifizieren, welche Positionen im einzelnen mit diesen Schlagworten markiert werden. Wie gezeigt wurde, müssen die verschiedenen metaethischen Analyseebenen jedoch deutlich voneinander unterschieden werden, wenn man die Kernannahmen verschiedener metatheoretischer bzw. metaethischer Positionen (bei Nida-Rümelin „Theorien zweiter Ordnung“) präzise angeben und voneinander abgrenzen will. Das primäre Problem an Nida-Rümelins Begründung ist also darin zu sehen, dass relevante metaethische Unterscheidungen nicht berücksichtigt werden. Wenn man – wie in dieser Untersuchung geschehen – die verschiedenen Analyseebenen differenziert und die den unterschiedlichen Kohärenztheorien zugrunde liegenden Kohärenzbegriffe genauer expliziert, dann wird deutlich, dass sich Nida-Rümelins starke Kompatibilitätsbehauptung nur schwerlich aufrechterhalten lässt. Will man Nida-Rümelins These, eine Kohärenzkonzeption sei mit „so gut wie allen“ Theorien zweiter Ordnung vereinbar, retten, so gibt es nur die Möglichkeit, sie in einer abgeschwächten Form 2 S. Abschnitt 1.3.1.

394

6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

zu interpretieren. Meines Erachtens gibt es zwei Interpretationsmöglichkeiten. Erstens kann man Nida-Rümelins These wie folgt lesen: Mit so gut wie jeder Theorie zweiter Ordnung ist irgendeine (von vielen möglichen) Kohärenzkonzeption verträglich. Dies besagt lediglich, dass sich mit so gut wie jeder metaethischen Position eine Version von Kohärentismus kombinieren lässt. Dies kann kaum die Interpretation sein, in der Nida-Rümelin seine These verstanden wissen will. Denn in diesem Fall wäre seine Kompatibilitätsbehauptung zwar ohne Zweifel wahr, aber auch nahezu trivial. Eine zweite Interpretationsmöglichkeit ist nahe liegender: Nida-Rümelin bezieht sich mit der Rede von „einer Kohärenzkonzeption theoretischer und praktischer Rationalität“ nicht auf irgendeine oder gar auf jede Kohärenztheorie, sondern nur auf seine Kohärenztheorie. Die von ihm vertretene Kompatibilitätsthese besagt in dieser abgeschwächten Form dann lediglich Folgendes: Eine Kohärenztheorie auf Grundlage der rationalen Entscheidungstheorie (die sich also auf die Kohärenz von Präferenzen beruft) ist mit der Annahme verschiedenster metaethischer Positionen verträglich. Ob dies wirklich für fast alle metatheoretischen bzw. metaethischen Positionen gilt, müsste genauer geprüft werden.3 Wie die im vorigen Kapitel vorgelegte Rekonstruktion der Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik gezeigt hat, lässt sich diese abgeschwächte These aber zumindest insofern vertreten, als eine solche Kohärenztheorie sowohl mit einer kognitivistischen als auch mit einer nonkognitivistischen Metaethik vereinbar ist. Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass sich die Axiome der rationalen Entscheidungstheorie und der auf dieser Grundlage eingeführte Präferenzbegriff neutral zu kognitivistischen bzw. nonkognitivistischen 3 Schließlich wird ja Nida-Rümelin zumindest die Verträglichkeit seiner Kohärenztheorie mit dem Konsequentialismus ausschließen wollen.

6.1 Einleitung

395

Vorannahmen verhalten. Deshalb kann eine solche Rationalitätskonzeption sowohl vor dem Hintergrund einer kognitivistischen als auch einer nonkognitivistischen Metaethik interpretiert werden. Nida-Rümelins abgeschwächte Kompatibilitätsthese ist mit den in dieser Untersuchung erzielten Resultaten und auch mit der von mir vertretenen Inkompatibilitätsthese ohne weiteres verträglich. Die Geltung dieser schwachen Kompatibilitätsbehauptung beschränkt sich auf Kohärenztheorien, in denen ein präferenztheoretischer Kohärenzbegriff zugrunde gelegt wird. Bei diesem Kohärenzbegriff handelt es sich aber lediglich um einen von mindestens vier verschiedenen Kohärenzbegriffen, die in der Ethik verwendet werden. Berücksichtigt man auch die anderen Kohärenzbegriffe, so wird sichtbar, dass tiefgreifende Inkompatibilitäten zwischen den zugehörigen Kohärenztheorien bestehen. Selbstverständlich soll hier nicht behauptet werden, ausnahmslos alle in dieser Untersuchung unterschiedenen Kohärenztheorien wären miteinander unverträglich. Um die Reichweite der Inkompatibilitätsthese genau auszuleuchten, müssen eben die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kohärenztheorien in einer systematischen Zusammenschau analysiert werden. Diese Zusammenschau ist nach der einleitend vorgenommenen Präzisierung der Kernthese mittels dreier Teilthesen4 gegliedert und erfolgt deshalb in drei Schritten. Zunächst werden die verschiedenen Kohärenzbegriffe voneinander abgegrenzt (6.2). Daraufhin werden in einem zweiten Schritt die unter Verwendung dieser Kohärenzbegriffe formulierbaren Kohärenztheorien und deren Beziehungen untereinander zusammenfassend dargestellt (6.3). Dadurch wird es möglich, die Inkompatibilitäten zwischen den verschiedenen Theorien im Detail nachzuweisen. Allerdings wird die in der zweiten Teilthese aufgestellte Inkompatibilitätsthese hier nicht nur konstatiert, son4 S. Abschnitt 1.3.2.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

dern es wird auch danach gefragt, ob und wenn ja, wie sich fruchtbare Ansätze von problematischen Kohärenztheorien abgrenzen lassen. Deshalb werden im dritten Schritt die Einwände, die gegen die verschiedenen Kohärenztheorien vorgebracht werden, einander vergleichend gegenübergestellt (6.4). Abschließend wird diskutiert, wie die Fruchtbarkeit der Auseinandersetzung mit dem Thema Kohärenz in der Ethik generell zu bewerten ist (6.5).

6.2 Die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik Die erste Teilthese, die in dieser Untersuchung belegt werden sollte, besagt, dass das Wort „Kohärenz“ in der Ethik in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. In der Ethik gibt es demnach mindestens vier verschiedene Kohärenzbegriffe – und nicht lediglich Spezialisierungen ein und desselben Kohärenzbegriffs. Im Folgenden wird gezeigt, dass die in den vorangehenden Kapiteln untersuchten Kohärenztheorien sich tatsächlich auf verschiedene Kohärenzbegriffe beziehen (6.2.1). Im Lichte dieses Ergebnisses werden dann einige Hypothesen dazu aufgestellt, warum die Mehrdeutigkeit in der Rede von Kohärenz in der Ethik bislang häufig übersehen oder zumindest unzureichend berücksichtigt wurde (6.2.2). 6.2.1 Die Individuation der vier verschiedenen Kohärenzbegriffe Der normalsprachliche Kohärenzbegriff, so wurde eingangs festgestellt, besagt zunächst nicht mehr, als dass eine Vielheit von Gegenständen in einem nicht näher bestimmten Sinn zusammenhängt bzw. dass die Gegenstände in einer nicht genauer spezifizierten Hinsicht zueinander passen. Damit liegt eine Charakterisierung vor, die zwar inhaltlich unterbestimmt ist, die aber einen Ausgangspunkt bietet, um verschiedene fachsprachlich explizierte Kohärenzbegriffe in der Ethik zu indivi-

6.2 Die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik

397

duieren. Es lassen sich nämlich zwei Merkmale angeben, die bei der Individuierung verschiedener fachsprachlicher Kohärenzbegriffe auf jeden Fall zu berücksichtigen sind: (i) die Gegenstände, die in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, und (ii) die inhaltliche Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen. In dieser Untersuchung sind die Fragen nach diesen beiden Merkmalen die methodische Grundlage für die vorgenommene Rekonstruktion der verschiedenen Explikationsansätze. Im Ergebnis, so hat die Analyse gezeigt, lassen sich in der Ethik vier Kohärenzbegriffe voneinander abgrenzen. Wie aus der Tabelle 6.1 ersichtlich ist, unterscheiden sich diese vier Begriffe sowohl hinsichtlich der Gegenstände als auch hinsichtlich der inhaltlichen Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen. Tabelle 6.1 Vier Kohärenzbegriffe Ansätze zur Explikation des Kohärenzbegriffs

Gegenstände

Kohärenzstiftende Beziehungen

(1) Kognitivistischer Ansatz (2) Nonkognitivistischer Ansatz

Moralische Überzeugungen Einstellungen moralischer Billigung / Missbilligung Moralische Überzeugungen – Wünsche Präferenzen

Inferentielle Beziehungen (deduktive und induktive) bisher liegt keine befriedigende inhaltliche Charakterisierung vor Teleologische Erklärungsbeziehungen Erfüllung der Standardaxiome der rationalen Entscheidungstheorie

(3) Motivationstheoretischer Ansatz (4) Entscheidungstheoretischer Ansatz

Diese Übersicht macht unmittelbar klar, dass die erste Teilthese dieser Untersuchung wohlbegründet ist. Schließlich bezieht sich jeder der Kohärenzbegriffe auf eine andere Mannigfaltigkeit von Gegenständen: einmal moralische Überzeugungen, im zweiten Fall Einstellungen moralischer Billigung bzw. Missbilligung, dann Paarungen von moralischen Überzeugungen und korrespondierenden Wünschen und schließlich Präferenzen.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

Mithin stimmen die vier unterschiedenen Begriffe nicht einmal hinsichtlich ihrer Extension überein. Dabei ist weithin unbestritten, dass Extensionsgleichheit eine notwendige Bedingung für die Identität von Begriffen ist. Bereits mit der Beantwortung der Frage, welche Gegenstände in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden, ist also der Nachweis erbracht, dass es sich hier um vier verschiedene Begriffe handelt. Die inhaltliche Divergenz dieser vier Begriffe wird zusätzlich dadurch belegt, dass auch die kohärenzstiftenden Beziehungen jeweils in unterschiedlicher Weise charakterisiert werden. Dieser Befund legt die Frage nahe, ob die vier Begriffe überhaupt allesamt Kohärenzbegriffe darstellen oder ob es sich nicht vielmehr um – teils mit technischen Mitteln formalisierte – Konzepte handelt, die mit Kohärenz nur wenig zu tun haben. Dieser potentielle Einwand betrifft die hier unterschiedenen Begriffe jedoch nicht und dies aus dem folgenden Grund: Die Bezeichnung „Kohärenzbegriff“ ist in allen Fällen legitim, weil alle Begriffe der alltagssprachlichen Charakterisierung von Kohärenz genügen. Diese Charakterisierung ist zwar, wie bereits ausgeführt wurde, nur schwach konturiert. Das heißt aber nicht, dass diese Bestimmung trivial sei, weil sich Beliebiges unter dem Titel Kohärenz fassen lasse. Die inhaltliche Klammer, welche die hier unterschiedenen Begriffe eint, besteht darin, dass in jedem Fall der Anspruch erhoben wird, es gebe kohärenzstiftende Beziehungen, also Beziehungen, die einen Zusammenhang zwischen den entsprechenden Gegenständen herstellen.5 Diese Bedingung ist zwar vergleichsweise schwach. Sie 5 Wie die Tabelle 6.1 zeigt, liegen bei den Ansätzen (1), (3) und (4) klare inhaltliche Charakterisierungen dieser kohärenzstiftenden Beziehungen vor. Auch im Nonkognitivismus wird der Kohärenzbegriff (2) mit dem Anspruch verwendet, von der Existenz kohärenzstiftender Beziehungen ausgehen zu können – obgleich dieser Anspruch in diesem Fall nicht in befriedigender Weise eingelöst werden kann. Denn wie anhand der Theorien von Blackburn und Scarano gezeigt wurde, ist die Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen unter

6.2 Die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik

399

ist aber nicht für jede beliebige Explikation des Kohärenzbegriffs erfüllt. Dies verdeutlicht das folgende Beispiel: Kohärenz wird zuweilen mit bloßer logischer Konsistenz (Widerspruchsfreiheit) identifiziert.6 Dieser Definitionsvorschlag gerät bereits mit dem schwachen Alltagsbegriff von Kohärenz in Konflikt, weil eine Aussagenklasse auch dann logisch konsistent sein kann, wenn zwischen ihren Elementen keine Beziehungen bestehen, die einen Zusammenhang stiften.7 Dieses grundlegende Defizit einiger, sehr reduzierter Explikationen des Kohärenzbegriffs kommt keinem der hier unterschiedenen Explikationsansätze zu: In allen vier Fällen handelt es sich um solche Begriffe, die sich durch den Verweis auf die Semantik des normalsprachlichen Kohärenzbegriffs als fachsprachliche Kohärenzbegriffe identifizieren lassen. Gegen die hier vorgeschlagene Individuation von genau vier verschiedenen Kohärenzbegriffen lassen sich primär zwei Einwände formulieren, die im Folgenden entkräftet werden. Erstens lässt sich einwenden, dass hier zu viele Kohärenzbegriffe unterschieden werden. Die behauptete Pluralität bestehe nur oberflächlich, weil die unterschiedenen Kohärenzbegriffe aufeinander reduzierbar seien. So ist das von Blackburn und Scarano vertretene Projekt mit dem Anspruch verbunden, sich im Rahmen ihrer nonkognitivistischen Metaethiken auf denselben nonkognitivistischen Vorannahmen mit starken Problemen behaftet (s. dazu Abschnitt 3.4 dieser Untersuchung). 6 Diesen Definitionsansatz – logische Konsistenz sei zugleich eine notwendige und eine hinreichende Bedingung für Kohärenz – hat z. B. Neurath (1932) vorgeschlagen. Im Bereich der Ethik wurde eine solch rudimentäre Explikation des Kohärenzbegriffs auch in späterer Zeit noch vertreten. Beispiele dafür sind Daniels (1979, 257) und Gibbard (1990, 157). Siehe dazu Abschnitt 2.4.1.1.1, Fn. 55. 7 So ist z. B. die Aussagenklasse {Heute scheint die Sonne. Ich heiße Martin. Gras ist grün.} zwar logisch konsistent (widerspruchsfrei), aber nicht kohärent in dem Sinne, dass die darin befindlichen Elemente untereinander durch Beziehungen verbunden sind, die einen Zusammenhang stiften oder eine Passung zwischen diesen herstellen.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

Begriff von Kohärenz berufen zu können, den auch Kognitivisten annehmen. Wäre dieses Projekt erfolgreich, so ließe sich der in Tabelle 6.1 unter (2) aufgeführte Begriff auf den unter (1) genannten Begriff reduzieren. Einen weiteren reduktiven Ansatz kann man formulieren, wenn man die rationale Entscheidungstheorie als Theorie des rationalen Überzeugungswechsels interpretiert. Epistemische Rechtfertigungen von Überzeugungen würden im Rahmen einer solchen Interpretation als epistemische Präferenzen rekonstruiert werden, auf deren Grundlage eine „epistemische Nutzenfunktion“ erschlossen werden soll.8 Ziel eines solchen Projekts wäre, die Kohärenzbegriffe (1) und (4) aufeinander zu reduzieren. Zu diesem Einwand ist zu sagen, dass die Undurchführbarkeit zumindest einiger dieser reduktionistischen Projekte in der vorliegenden Untersuchung nachgewiesen worden ist. So ist für den Ansatz von Blackburn und Scarano gezeigt worden, dass es nicht möglich ist, sich im Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik auf denselben Kohärenzbegriff zu berufen, der im moralischen Kognitivismus einschlägig ist. Weiterhin ist nicht zu erkennen, wie der motivationstheoretische Kohärenzbegriff von Smith auf einen der anderen Begriffe reduziert werden könnte. Sicher betrifft dies nur einige Möglichkeiten der Reduktion. Damit ist noch nicht generell gezeigt, dass kein solches Reduktionsprogramm erfolgreich sein könnte. Dies gilt z. B. für eine entscheidungstheoretische Interpretation der Epistemologie, zu der mittlerweile eine unübersichtliche Vielfalt von Ansätzen vorliegt.9 Allerdings hat die vergleichende Analyse der relationalen Eigenschaften von Präferenzen und inferentiellen Beziehungen gezeigt, dass auch hier erhebliche inhaltliche Unterschiede bestehen.10 Auch ein solches Reduktionsprogramm stellt demnach ein anspruchsvolles Projekt dar, das sich 8 Ein solches Projekt deuten z. B. Lehrer (1977) und Paxson (1980) an. 9 S. die Arbeiten zur so genannten „Bayesianistischen Epistemologie“ (z. B. Bovens & Hartmann 2003). 10 S. Abschnitt 5.2.4.

6.2 Die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik

401

auf eine Reihe kontroverser Annahmen stützen muss. Also lassen sich die hier unterschiedenen Kohärenzbegriffe nicht ohne weiteres auf jeweils einen der anderen reduzieren. Ein zweiter Einwand gegen die hier vorgeschlagene Individuation kann aus genau der entgegengesetzten Richtung formuliert werden: Hier würden nicht zu viele, sondern zu wenige Kohärenzbegriffe unterschieden. Der Sache nach müssten weitere Kategorien und Differenzierungen berücksichtigt werden, die hier unbeachtet geblieben seien. Auf diesen Einwand ist zu erwidern, dass sich der in dieser Untersuchung entwickelte Vorschlag als eine erste, grundlegende Systematisierung des Begriffsfeldes Kohärenz in der Ethik versteht. Es ging mir primär darum zu etablieren, dass in der Ethik mindestens vier verschiedene Kohärenzbegriffe verwendet werden. Damit soll keineswegs ausgeschlossen werden, dass es gute Gründe geben kann, die Systematik auszudifferenzieren. Zum Beispiel lässt sich bezweifeln, ob im Rahmen des kognitivistischen Ansatzes kohärenzstiftende Beziehungen notwendig als inferentielle Beziehungen interpretiert werden müssen. So liegen innerhalb der bayesianistischen Epistemologie mittlerweile Explikationsansätze vor, die den Kohärenzbegriff auch im epistemologischen Kontext ohne die direkte Bezugnahme auf inferentielle Beziehungen definieren. Manche Ansätze richten sich dabei sogar grundsätzlich gegen die These, dass der Kohärenz von Überzeugungssystemen ein epistemischer Wert zukommt.11 Außerdem ist es insbesondere beim präferenztheoretischen Kohärenzbegriff plausibel, eher von einer Familie von Kohärenzbegriffen zu sprechen. Denn zum einen besteht über die Definition des für diesen Kohärenzbegriff grundlegenden Präferenzbegriffs gegenwärtig keine Einigkeit12 und zum anderen gibt es mittlerweile eine ganze Reihe von Varianten der Entscheidungstheorie, in denen Modifikati11 S. für Details Olsson (2005, 97–101, 112–140). 12 S. Abschnitt 5.2.1.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

onen der Standardaxiomatik vorgenommen werden. Auch bei den anderen beiden Kohärenzbegriffen sind entsprechende Ausdifferenzierungen der hier vorgelegten Analyse denkbar. Zusätzlich gibt es noch einen weiteren Grund, warum zu den vier analysierten Ansätzen weitere Kohärenzbegriffe hinzukommen könnten. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass die Analyse von kohärentistischen Ansätzen in der Ethik auf eine exemplarische Auswahl begrenzt werden musste. Deshalb kann allein aufgrund dieser restringierten Ausgangsbasis nicht ausgeschlossen werden, dass in der Ethik noch weitere Kohärenzbegriffe unterscheidbar sind, die sich auf noch andere Vielheiten von Gegenständen beziehen. Auch aus diesem Grund ist die hier vorgeschlagene Systematisierung offen für Erweiterungen. Sie kann somit einen fruchtbaren methodischen Ausgangspunkt für die Explikation und Abgrenzung weiterer Kohärenzbegriffe bieten. Eine Ausdifferenzierung und Erweiterung der in dieser Untersuchung vorgeschlagenen Systematik ist mit den hier vertretenen Absichten also nicht nur verträglich, sondern liegt sogar nahe. Der hier entwickelte Vorschlag ist als ein begrifflicher Bezugsrahmen anzusehen, der geeignet ist, in nachfolgenden Untersuchungen weiterentwickelt zu werden. In dieser Untersuchung wurde zunächst der Nachweis erbracht, dass es überhaupt unterschiedliche Kohärenzbegriffe in der Ethik gibt. 6.2.2 Warum die Mehrdeutigkeit der Rede von Kohärenz in der Ethik bisher häufig übersehen wurde Für die bisher unzureichende Beachtung der Pluralität verschiedener Kohärenzbegriffe in der ethischen und metaethischen Debatte ist generell die Tatsache verantwortlich, dass auf der sprachlichen Oberfläche ein Konsens nahe gelegt wird, der in der Sache nicht besteht. Fragt man etwas detaillierter nach, so lassen sich zwei Gründe voneinander abgrenzen. Erstens ist die starke Unterbestimmtheit der Semantik des normalsprachlichen Kohärenzbegriffs relevant. Anders als bei in der Alltagssprache stärker konturierten Begriffen (z. B. den Begriffen moralischer Wahrheit oder des moralischen Sollens) ist der Ko-

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

403

härenzbegriff deshalb sehr interpretationsfähig. Wie in der Einleitung bereits dargestellt wurde, führt dies dazu, dass man in der Alltagssprache Unterschiedliches mit dem Kohärenzbegriff verbinden kann und dass man ihn in verschiedenen Fachsprachen in divergierender Weise spezifizieren kann13 – ohne dass dabei Konflikte mit der alltagssprachlichen Kernbedeutung auftreten würden. Diese wenig reflektierte Übereinstimmung mit der unterbestimmten Semantik des Alltagsbegriffs von Kohärenz ist ein erster Grund dafür, dass die Tatsache der Unterscheidbarkeit einer Pluralität fachsprachlicher Begriffe von Kohärenz in der Ethik bisher weitgehend unentdeckt geblieben ist. Ein zweiter Grund liegt in der mehrdeutigen Verwendung von grundlegenden Termen wie „Urteil“ oder „Rechtfertigung“, die für die Explikation des Kohärenzbegriffs in der Ethik wichtig sind. Dies bringt es mit sich, dass z. B. die häufig anzutreffende und gemeinhin akzeptierte Aussage, Kohärenz sei relevant für die Rechtfertigung von Moralurteilen, in verschiedenen Ansätzen unterschiedlich gedeutet wird. Dies allerdings wird durch die mehrdeutige Verwendung der grundlegenden Terme verdeckt. Ich illustriere diese Problematik anhand des Urteilsbegriffs. Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass der Begriff Moralurteil bereits innerhalb des Kognitivismus in verschiedenen Bedeutungen verwendet wird. Urteile können als Instanzen moralischer Äußerungen, als mentale Akte des Überzeugungserwerbs bzw. der Überzeugungsaktualisierung oder als propositionale Gehalte aufgefasst werden.14 Damit sind aber die Verwendungsweisen des Urteilsbegriffs in der Metaethik noch nicht erschöpft. Auch Nonkognitivisten wie Blackburn verwenden diesen Begriff, beziehen ihn aber auf moralische Pro-Einstellungen: [The arguments so far] may give us […] some right to a notion of the coherence and consistency of a [set of attitudes]. But do they suffice to build all that we need from a conception of truth, applicable to moral judgements? (Blackburn 1984, 197, Herv. M. H.) 13 S. Abschnitt 1.2. 14 S. Abschnitt 2.2.1.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

Wenn Blackburn danach fragt, ob sein Kohärenzbegriff stark genug ist, um eine Wahrheitskonzeption für Moralurteile zu bieten, dann meint er damit den Erwerb bzw. die Aktualisierung von Einstellungen moralischer Billigung.15 Dieser Sprachgebrauch ist in der Metaethik weit verbreitet. So findet sich z. B. auch bei McNaughton im Rahmen einer Zusammenfassung der Kernthesen des klassischen Nonkognitivismus die folgende Formulierung: In so far as moral judgements are expressions of attitude, rather than of belief, they cannot be assessed as true or false. (McNaughton 1988, 30, Herv. M. H.)

Auch hier wird der Begriff des Moralurteils ohne kognitivistische Konnotationen aufgefasst: Urteile werden an dieser Stelle vielmehr mit ernsthaften moralischen Äußerungen identifiziert, die nicht nur Überzeugungen, sondern auch Pro-Einstellungen zum Ausdruck bringen können und deshalb nicht wahrheitswertfähig sein müssen. Eine ähnliche Ambiguität kommt dem Rechtfertigungsbegriff in der Ethik zu, sofern nicht näher geklärt ist, ob die moralische Rechtfertigung (von Handlungen) gemeint ist oder die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen.16 Nicht nur das Wort „Kohärenz“ selbst, auch die für die Definition des Kohärenzbegriffs herangezogenen Terme „Rechtfertigung“ und „Moralurteil“ werden also in der Metaethik in konkurrierenden Theorien mehrdeutig verwendet. Dies ist ein Grund dafür, weshalb Theoretiker unterschiedlicher Lager gleichermaßen der Aussage zustimmen können, Kohärenz diene der Rechtfertigung von Moralurteilen. Der oberflächliche Konsens verdankt sich schlicht der Mehrdeutigkeit der ver15 Auch an anderer Stelle verwendet Blackburn den Urteilsbegriff in dieser nonkognitivistischen Deutung: „In effect, quasi-realism is trying to earn our right to talk of moral truth, while recognizing fully the subjective sources of our judgements, inside our own attitudes, needs, desires, and natures.” (Blackburn 1984, 197, Herv. M. H.) 16 S. Abschnitt 2.2.2.3.

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

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wendeten Terme. Er zerbricht, sobald man danach fragt, auf welche Begriffe mit den verwendeten Termen Bezug genommen wird. Aus diesem Grund war es unerlässlich, die metaethischen Vorannahmen in der ausführlichen Weise zu klären, wie es zu Beginn der vorangehenden Kapitel jeweils geschehen ist. Erst vor dem Hintergrund dieser begrifflichen Klärung ließ sich zeigen, dass mit dem Verweis auf Kohärenz in konkurrierenden Metaethiken Unterschiedliches gemeint ist, kurzum: dass verschiedene Kohärenzbegriffe vorliegen.

6.3 Die Unmöglichkeit der Einbettung der verschiedenen Kohärenzbegriffe in eine umfassende Kohärenztheorie für die Ethik Im Folgenden wird die zweite Teilthese der Untersuchung, die Inkompatibilitätsthese diskutiert und begründet. Es wird im Detail nachgezeichnet, aus welchen Gründen sich die verschiedenen Kohärenzbegriffe nicht in eine umfassende Kohärenztheorie für die Ethik einbetten lassen. Zudem wird erläutert, an welcher Stelle die Inkompatibilitäten vorliegen und in welchem Sinn die entsprechenden Kohärenztheorien miteinander inkompatibel sind (6.3.1). In diesem Zusammenhang werden auch einige Implikationen der Untersuchung der Kohärenzbegriffe für die Idee des Überlegungsgleichgewichts thematisiert. Insbesondere wird noch einmal darauf eingegangen, aus welchen Gründen das Überlegungsgleichgewicht trotz seiner Popularität in der ethischen und metaethischen Literatur hier nur eine marginale Rolle gespielt hat (6.3.2). 6.3.1 Theoretische Zielsetzungen und metaethische Voraussetzungen bei der Einführung von Kohärenzbegriffen in verschiedene Kohärenztheorien Bereits in der Einleitung dieser Untersuchung wurde die Relevanz der Unterscheidung zwischen Kohärenzbegriff und Kohärenztheorie betont. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Cha-

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

rakterisierung einer Kohärenztheorie für die Ethik inhaltlich anspruchsvoller ist als die Definition eines Kohärenzbegriffs. Zum einen müssen spezifische metaethische Vorannahmen erfüllt sein, damit eine bestimmte Kohärenztheorie auf den Bereich der Ethik anwendbar ist. Zum anderen ist die Einführung eines Kohärenzbegriffs in eine Kohärenztheorie immer mit der Formulierung einer theoretischen Zielsetzung verbunden. Will man eine Kohärenztheorie also in angemessener Weise charakterisieren, muss man nicht nur die definierenden Merkmale des verwendeten Kohärenzbegriffs angeben, sondern darüber hinaus die mit diesem Kohärenzbegriff verbundenen theoretischen Zielsetzungen. Dabei lassen sich mit manchen Kohärenzbegriffen auch unterschiedliche theoretische Ziele verbinden. Deshalb ist es möglich, ein und denselben Kohärenzbegriff in verschiedenen Kohärenztheorien einzusetzen. Aus diesem Grund sind Kohärenztheorien feiner zu individuieren als Kohärenzbegriffe. Verdeutlichen wir dies an einem Beispiel. Ich greife exemplarisch den dem kognitivistischen Ansatz verpflichteten Kohärenzbegriff heraus. Bei den Gegenständen, die in einen kohärenten Zusammenhang zu bringen sind, handelt es sich in diesem Fall um moralische Überzeugungen, bei den kohärenzstiftenden Beziehungen um inferentielle Beziehungen.17 Dieser Kohärenzbegriff ist zunächst nicht an eine bestimmte theoretische Zielsetzung gebunden. Er kann unter kognitivistischen Vorannahmen sowohl in einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung als auch in einer Kohärenztheorie des Wissens oder der Wahrheit eingesetzt werden. Für den im Folgenden geführten Nachweis der Inkompatibilität von verschiedenen Kohärenztheorien in der Ethik spielen nun diese divergierenden theoretischen Ziele eine entscheidende Rolle. Erst diese theoretischen Zielsetzungen nämlich führen – teilweise im Zusammenspiel mit metaethischen Vorannahmen – zu Inkompatibilitäten. Zwischen Kohärenzbegriffen allein gibt es keine Unverträglichkeiten. 17 S. Tabelle 6.1, Kohärenzbegriff (1).

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

407

Auch dies kann man sich wiederum am Beispiel des oben unter (1) angeführten kognitivistischen Kohärenzbegriffs klarmachen. So ist dieser Kohärenzbegriff für sich genommen auch mit einem nonkognitivistischen Ansatz in der Metaethik ohne weiteres vereinbar. Ein Nonkognitivist könnte nämlich – ohne in Konflikt mit seinen metaethischen Annahmen zu geraten – zugestehen, dass ein solcher Kohärenzbegriff existiert. Er könnte sogar eine Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung für empirisches Wissen vertreten. Denn als konsequenter moralischer Nonkognitivist hat er sich lediglich auf die These festgelegt, dass dieser Kohärenzbegriff in Bezug auf die Ethik leer ist, weil es keine moralischen Überzeugungen gibt.18 Würde man sich also allein auf die im vorigen Abschnitt begründete These stützen, dass es verschiedene Kohärenzbegriffe gibt, so ließe sich nicht verständlich machen, in welchem Sinn es überhaupt zu Unverträglichkeiten kommen sollte. Erst die Einbettung eines Kohärenzbegriffs in eine Kohärenztheorie ermöglicht das Auftreten von Inkompatibilitäten. Denn erst dadurch legt man sich auf die Behauptung fest, dass diese Begriffe wichtig für die Ethik sind, weil sie auf diesen Bereich angewendet werden können und darin bestimmte theoretische Zielsetzungen erfüllen. Die hier vertretene Inkompatibilitätsthese besagt: Es gibt keine umfassende Kohärenztheorie für die Ethik, die die vier verschiedenen Kohärenzbegriffe alle inte18 Auch wenn der Nonkognitivist annehmen würde, dass der Kohärenzbegriff (1) in gar keinem Anwendungsbereich (also auch nicht in der Theorie empirischen Wissens) erfüllt wäre, käme es immer noch nicht zu irgendeiner Unverträglichkeit. Insbesondere müsste er nicht die Existenz dieses Kohärenzbegriffs leugnen. Denn aus der Behauptung, dass ein Begriff leer ist (in dem Sinn, dass es keine Gegenstände gibt, die darunter fallen), folgt nicht, dass dieser Begriff nicht existiert. So sind auch die Begriffe Einhorn oder goldener Berg in dem Sinn leer, dass ihre Extension der leeren Menge entspricht. Dies kann man zugestehen, ohne sich damit auf die Folgerung festlegen zu müssen, es gebe diese Begriffe nicht. Wie könnte auch andernfalls die Aussage, dass es keine Einhörner gibt, wahr sein?

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

grieren könnte. Vielmehr sind die verschiedenen Kohärenztheorien miteinander inkompatibel, (a) weil die theoretischen Ziele, mit denen der jeweilige Kohärenzbegriff in die Theorie eingeführt wird, nicht miteinander verträglich sind und (b) weil die Theorien nur unter der Annahme einander widersprechender metaethischer Vorannahmen bzw. konkurrierender metaethischer Positionen vertreten werden können. Ausgehend von den sechs in dieser Untersuchung rekonstruierten Kohärenztheorien werden im Folgenden verschiedene Formen von Inkompatibilität nachgewiesen. Denn Inkompatibilitäten ergeben sich teilweise auf der Ebene der theoretischen Zielsetzungen, teilweise auf der Ebene der metaethischen Vorannahmen und schließlich durch ein Zusammenspiel von Zielen und Vorannahmen. Ich beginne meine Begründung der Inkompatibilitätsthese mit einer Auflistung der Kohärenztheorien für die Ethik, die in dieser Untersuchung rekonstruiert worden sind. 1. 2.1. 2.2. 3. 4.1. 4.2.

Eine Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung (Sayre-McCord) Eine Kohärenztheorie der Wahrheit (Blackburn) Eine Kohärenztheorie der Rechtfertigung moralischen Handelns (Scarano) Eine Kohärenztheorie des motivationstheoretischen Internalismus (Smith) Eine Kohärenztheorie moralischer Präferenzen (Jeffrey) Eine Kohärenztheorie nicht-konsequentialistischer Handlungsgründe (Nida-Rümelin)

Wie diese Übersicht illustriert, lassen sich in der Ethik mindestens sechs verschiedene Kohärenztheorien unterscheiden. In jeder dieser Theorien wird der jeweils verwendete Kohärenzbegriff mit einer anderen theoretischen Zielsetzung verknüpft. Dabei wird in zwei Fällen derselbe Kohärenzbegriff mit verschiedenen Zielen auf den Bereich der Ethik angewendet. So verbinden zum einen Jeffrey und Nida-Rümelin mit dem Ver-

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

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weis auf ein und denselben (nämlich den präferenztheoretischen) Kohärenzbegriff verschiedene theoretische Ziele. Zum anderen verweisen Blackburn und Scarano in inhaltlich divergierenden Kohärenztheorien auf denselben Begriff von Kohärenz.19 Der letztere Fall führt uns zur ersten Inkompatibilität, die sich zwischen den verschiedenen Kohärenztheorien identifizieren lässt. Diese Inkompatibilität ergibt sich, obwohl Blackburn und Scarano gleichermaßen auf den moralischen Nonkognitivismus festgelegt sind, d. h. in Bezug auf ihre metaethische Grundposition übereinstimmen. Entscheidend sind hier die theoretischen Zielsetzungen ihrer Kohärenztheorien. Blackburns Ziel besteht darin, mit Hilfe des Kohärenzbegriffs einen Wahrheitsbegriff zu rekonstruieren, ohne von epistemischer Rechtfertigung, moralischen Überzeugungen und moralischem Wissen im strikten Sinn sprechen zu müssen. Scarano dagegen kann diese theoretische Zielsetzung nicht in seine Kohärenztheorie inkorporieren, ohne in Widerspruch mit einer für sein theoretisches Ziel wichtigen Voraussetzung zu geraten. Denn im Unterschied zu Blackburn verfolgt er in seiner Kohärenztheorie gerade das Ziel, die rationale Diskutierbarkeit moralischer Pro-Einstellungen ohne Rekurs auf den Wahrheitsbegriff zu begründen. Deshalb verneint Scarano die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Pro-Einstellungen (in Scaranos Terminologie: „moralischer Überzeugungen“)20 und bleibt somit – anders als Blackburn – der traditionellen nonkognitivistischen 19 Dies ist zumindest insofern richtig, als Scarano wie Blackburn moralische Pro-Einstellungen als diejenigen Gegenstände ansehen, die in einen kohärenten Zusammenhang gebracht werden sollen. Weil ihre Charakterisierung der kohärenzstiftenden Beziehungen sich in dieser Untersuchung allerdings als stark unterbestimmt und problembehaftet herausgestellt hat, soll an dieser Stelle nicht grundsätzlich ausgeschlossen werden, dass eine weitere Analyse der Kohärenztheorien von Scarano und Blackburn eventuell auch Unterschiede hinsichtlich der Semantik der verwendeten Kohärenzbegriffe ergeben könnte. 20 S. Abschnitt 3.3.2.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

Doktrin verpflichtet, dass moralische Pro-Einstellungen nicht wahrheitswertfähig sind. Diese erste Inkompatibilität ergibt sich also primär durch die theoretischen Zielsetzungen, die in den beiden Kohärenztheorien jeweils mit dem Kohärenzbegriff verbunden werden. Um die weiteren Inkompatibilitäten zwischen den verschiedenen Kohärenztheorien nachzuweisen, muss die Divergenz der metaethischen Grundpositionen in die Überlegung einbezogen werden. Betrachten wir zunächst die beiden Oppositionen moralischer Kognitivismus versus Nonkognitivismus und motivationstheoretischer Internalismus versus Externalismus. Beide Gegenüberstellungen stehen für Paare miteinander unverträglicher metaethischer Positionen. Gleichzeitig sind die beiden Distinktionen insofern voneinander unabhängig, als mit der Festlegung auf den Internalismus noch keine Festlegung bezüglich der Alternative Kognitivismus versus Nonkognitivismus verbunden ist.21 Die verschiedenen Kohärenztheorien lassen sich in das entstehende Raster metaethischer Positionen folgendermaßen einordnen:

21 In umgekehrter Richtung trifft dies nicht zu. Zwar kann man als Kognitivist sowohl eine internalistische als auch eine externalistische Position in der Motivationstheorie beziehen. Mit der Festlegung auf den Nonkognitivismus aber hat man sich auch auf den motivationstheoretischen Internalismus festgelegt. Einen „externalistischen Nonkognitivismus“ kann es nicht geben, weil die Kernthese des Nonkognitivismus besagt, dass sich in moralischen Äußerungen ProEinstellungen ausdrücken. Und Pro-Einstellungen (seien es Wünsche, Einstellungen moralischer Billigung, Einstellungen des Befürwortens, emotiv gedeutete Präferenzen etc.) kommt per definitionem eine motivierende Kraft zu. Die Vorstellung eines externalistischen Nonkognitivismus wäre auch deshalb abwegig, weil ja gerade einer der Vorteile der nonkognitivistischen Position darin besteht, die handlungsmotivierende Rolle moralischer Wertungen zwanglos erklären zu können. Deshalb bleibt der vierte Quadrant in Tabelle 6.2 leer.

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

411

Tabelle 6.2 Metaethische Vorannahmen der verschiedenen Kohärenztheorien Internalismus Kognitivismus

Nonkognitivismus

Externalismus

1. Sayre-McCord 3. Smith 4.2 Nida-Rümelin 2.1 Blackburn 2.2 Scarano 4.1 Jeffrey

Wie in der Tabelle 6.2 verdeutlicht wird, bestehen aufgrund der beiden Oppositionen von metaethischen Grundpositionen in mehrererlei Hinsicht Inkompatibilitäten zwischen den verschiedenen Kohärenztheorien. So ist Sayre-McCords Kohärenztheorie ausschließlich auf der Grundlage einer kognitivistischen Metaethik vertretbar, weil es nur unter dieser Annahme epistemische Rechtfertigungen moralischer Überzeugungen gibt. Dagegen können sowohl Blackburns als auch Scaranos theoretische Ziele nur unter nonkognitivistischen Vorzeichen sinnvoll gedeutet werden. Der Kohärenzbegriff soll es ja in diesen beiden Kohärenztheorien gerade ermöglichen, kognitivistische Intuitionen in eine ansonsten nonkognitivistische Metaethik zu inkorporieren.22 Auch Jeffreys Zielsetzungen bei der Einführung des Kohärenzbegriffs lassen sich nur vor dem Hintergrund einer nonkognitivistischen Metaethik verständlich machen. Nur unter dieser Voraussetzung kann er davon ausgehen, dass sich in wunschähnlichen Einstellungen moralische Wertungen ausdrücken. Und nur unter nonkognitivistischen Vorzeichen ist es ein sinnvolles theoretisches Ziel, die Kohärenz wunschähnlicher Einstellungen als alleinige und hinreichende normative Basis für moralisches Entscheiden zu etablieren. Die verschiedenen Kohärenztheorien lassen sich also in miteinan22 In dieser Hinsicht gleichen die beiden – wie soeben gezeigt wurde, miteinander ebenfalls inkompatiblen – Theorien von Blackburn und Scarano einander.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

der inkompatible Klassen aufteilen, weil die eine Klasse von Theorien nur im Rahmen einer kognitivistischen, die andere nur im Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik vertreten werden kann. Diese zweite Form von Inkompatibilität ergibt sich somit primär aus der Unverträglichkeit der metaethischen Vorannahmen. In Bezug auf die Dichotomie Internalismus versus Externalismus gestaltet sich die Lage komplizierter. So verhält sich Sayre-McCords Theorie gegenüber dieser Unterscheidung neutral. Da sie nur die epistemische Rechtfertigung moralischer Überzeugungen thematisiert, wird die Frage moralischer Motivation im Rahmen dieser Kohärenztheorie gar nicht berührt. Alle anderen Theorien sind dem Internalismus verpflichtet,23 so dass es auf den ersten Blick so scheinen könnte, als wären sie zumindest in dieser Hinsicht miteinander kompatibel. Dass dieser Eindruck täuscht, wird aber klar, wenn man wiederum die mit der Einführung des Kohärenzbegriffs verbundenen Zielsetzungen berücksichtigt. Dann zeigt sich nämlich, dass Smiths Kohärenztheorie mit den internalistischen Theorien des nonkognitivistischen Lagers inkompatibel ist, weil ja der Kohärenzbegriff bei ihm eingeführt wird, um den Internalismus im Rahmen einer ansonsten kognitivistischen Metaethik zu begründen. In einer nonkognitivistischen Metaethik dagegen besteht erst gar nicht die Notwendigkeit, zur Begrün23 Die Tatsache, dass der Externalismus in dieser Übersicht viel weniger vertreten ist als der Internalismus, stellt keine Einseitigkeit der Auswahl dar, sondern ist der Tatsache geschuldet, dass in der gegenwärtigen Debatte nur wenige Theoretiker eine externalistische Position vertreten. Die Klasse prominenter externalistischer Ansätze erschöpft sich im Wesentlichen in den Theorien von Railton (1986), Brink (1989, Kap. 3) und Schaber (1997, Kap. 2). Von diesen vertritt nur Brink eine Kohärenztheorie. Bei dieser handelt es sich jedoch um eine Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung, die sich – genau wie im Falle von Sayre-McCords Kohärenztheorie – zur Unterscheidung zwischen Internalismus und Externalismus neutral verhält (s. dazu Brink 1989, Kap. 5).

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

413

dung des Internalismus auf einen Kohärenzbegriff zu verweisen. Die motivierende Kraft ernsthaft geäußerter moralischer Stellungnahmen muss hier nicht erst durch deren Kohärenz begründet werden, weil sie sich bereits aufgrund der Tatsache ergibt, dass sich in ihnen moralische Pro-Einstellungen ausdrücken. Erst vor dem Hintergrund einer kognitivistischen Metaethik (moralische Wertungen drücken sich in Überzeugungen, nicht in Pro-Einstellungen aus), lässt sich Smiths Zielsetzung bei der Einführung seines Kohärenzbegriffs verstehen. Für einen Nonkognitivisten wären Smiths subtile Überlegungen zum Kohärenzbegriff überflüssig, weil er die motivierende Kraft moralischer Wertungen viel einfacher erklären kann. So vertreten zwar sowohl Smith als auch die Nonkognitivisten eine internalistische Position, verteidigen diese jedoch mit untereinander inkompatiblen Begründungen. Diese dritte Form von Inkompatibilität ergibt sich also durch ein komplexes Zusammenspiel von theoretischen Zielsetzungen und metaethischen Vorannahmen. Eine weitere Inkompatibilität schließlich besteht zwischen den verschiedenen Varianten der Anwendung des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs auf die Ethik. So berufen sich Jeffrey und Nida-Rümelin auf denselben Kohärenzbegriff und stimmen auch beide hinsichtlich der Auffassung überein, dass die Forderung nach der Kohärenz von Präferenzen eine notwendige Bedingung für rationales und moralisches Handeln sei. Gleichzeitig gehen sie von metaethischen Grundannahmen aus, die miteinander inkompatibel sind. Während Jeffrey den Nonkognitivismus vertritt, ist Nida-Rümelin auf eine kognitivistische Position festgelegt. Und während Jeffrey grundsätzlich eine konsequentialistische Orientierung verfolgt, spielt die Forderung nach Kohärenz bei Nida-Rümelin eine Schlüsselrolle in seiner Verteidigung des Nicht-Konsequentialismus. Wie im vorhergehenden Kapitel rekonstruiert wurde, lässt sich der Grund für diese einander entgegengesetzten Auffassungen letztlich an dem Streitpunkt festmachen, ob es eine intra- und interindividuell invariante moralische Bewertungsfunktion gibt

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

oder nicht. Letztlich hängt es von der Beantwortung dieser Streitfrage ab, ob die Forderung nach der Kohärenz von Präferenzen eher eine Prämisse in einem Argument für oder eine Prämisse in einem Argument gegen den moralischen Konsequentialismus darstellt. Unter Berufung auf ein und denselben Kohärenzbegriff werden in diesem Fall also – mit Hilfe konkurrierender Kohärenztheorien – miteinander inkompatible metaethische Grundpositionen begründet. Damit ist nachgewiesen, dass die Beziehungen zwischen den verschiedenen Kohärenztheorien komplex sind und dass eine Vielzahl von Inkompatibilitäten besteht. Die Inkompatibilitätsthese ist somit durch eine Fülle von Instanzen bestätigt worden. Wie schon im Fall der Systematisierung der Kohärenzbegriffe sei auch an dieser Stelle eingeräumt, dass hiermit kein vollständiger Überblick über alle Optionen für die Formulierung von Kohärenztheorien geboten werden kann. Es wird nicht beansprucht, den kognitivistischen, den nonkognitivistischen Ansatz etc. zur Explikation des Kohärenzbegriffs bzw. zur Formulierung einer Kohärenztheorie besprochen zu haben. Es zeigt sich vielmehr, dass diese metaethischen Grundpositionen in unterschiedlicher Weise ausdifferenziert und folglich mit verschiedenen Kohärenztheorien kombiniert werden können. In Abhängigkeit von der Ausformulierung der metaethischen Grundposition modifizieren sich dann die (In-)Kompatibilitäten zwischen den entsprechenden Kohärenztheorien. Welche Implikationen hat dieses Ergebnis für die Debatte um das Überlegungsgleichgewicht? Gehen wir noch einmal darauf ein, welche Konsequenzen sich aus dieser Untersuchung für dieses populärste kohärentistische Rechtfertigungsmodell in der Ethik ergeben. 6.3.2 Die Abhängigkeit des Überlegungsgleichgewichts vom Kohärenzbegriff In der Einleitung dieser Untersuchung wurde die These begründet, dass das Überlegungsgleichgewicht keinen geeigneten Ausgangspunkt für die Explikation des Kohärenzbegriffs bie-

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

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ten kann.24 Dies ist deshalb der Fall, weil es grundsätzlich nur zwei Möglichkeiten gibt, die Beziehung zwischen dem Kohärenzbegriff und dem Überlegungsgleichgewicht zu rekonstruieren. Entweder handelt es sich beim Überlegungsgleichgewicht um eine bereits unter bescheidenen Voraussetzungen anwendbare Rechtfertigungsmethode, die sich zu metaethischen Vorannahmen neutral verhält. In diesem Fall kann das Überlegungsgleichgewicht mit beliebigen Kohärenzbegriffen kombiniert werden. Oder aber es gibt verschiedene Versionen des Überlegungsgleichgewichts, die sich jeweils auf einen bestimmten Kohärenzbegriff beziehen, und der Eindruck von Neutralität verdankt sich lediglich der Tatsache, dass der dem Überlegungsgleichgewicht zugrunde gelegte Kohärenzbegriff bisher weitgehend unexpliziert geblieben ist. Bevor die Methode des Überlegungsgleichgewichts ausgearbeitet und präzisiert werden kann, gilt es in diesem Fall, zunächst den je vorausgesetzten Kohärenzbegriff zu klären. Blickt man vor dem Hintergrund der Resultate dieser Untersuchung noch einmal auf die Debatte um das Überlegungsgleichgewicht, so spricht vieles dafür, dass die zweite Vermutung richtig ist: Der Kohärenzbegriff ist nicht irrelevant für die Präzisierung der Idee des Überlegungsgleichgewichts. Vielmehr korrespondieren den verschiedenen Kohärenztheorien verschiedene Varianten des Überlegungsgleichgewichts, in denen auf jeweils unterschiedliche Kohärenzbegriffe Bezug genommen wird. Diese Behauptung einer Pluralität von divergierenden Konzeptionen des Überlegungsgleichgewichts wird im Folgenden exemplarisch belegt. Ein klares Beispiel für die Interpretation des Überlegungsgleichgewichts im Sinne einer Theorie epistemischer Rechtfertigung findet sich bei Tersman: I will assume that the extent to which a person A is justified in holding a moral belief at a certain time t, according to the idea of re24 S. Abschnitt 1.4.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung flective equilibrium, is determined by its coherence with the [belief] system of A at t. (Tersman 1993, 37)

Tersman identifiziert das Überlegungsgleichgewicht mit einer starken Kohärenztheorie der epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen.25 Eine solche Interpretation des Überlegungsgleichgewichts setzt, wie im dritten Kapitel dieser Untersuchung gezeigt wurde, die Festlegung auf den moralischen Kognitivismus voraus. Rawls selbst schwankt in seiner eigenen Deutung des Überlegungsgleichgewichts zwischen einer rechtfertigungstheoretischen und einer wahrheitstheoretischen Interpretation. So schlägt er zwar vor, dass man im Rahmen seiner Metaethik des „kantischen Konstruktivismus“ nicht von der Wahrheit, sondern eher von der Vernünftigkeit von Moralprinzipien sprechen sollte. [I]t seems better to say that in [Kantian] constructivism first principles are reasonable (or unreasonable) than that they are true (or false) […]. (Rawls 1980, 569)

Dies spricht dafür, dass Rawls eher an eine rechtfertigungstheoretische Deutung des Überlegungsgleichgewichts denkt. Gleichzeitig gesteht er jedoch zu, dass es eine „natürliche Verwendung“ des Wahrheitsbegriffs in der Moral gibt. [P]articular judgments and secondary norms may be considered true when they follow from, or are sound applications of, reasonable first principles. These first principles may be said to be true in the sense that they would be agreed to if the parties in the original position were provided with all the relevant true general beliefs. (Rawls 1980, 569)

Wahr sind Moralurteile nach Rawls genau dann, wenn sie – nach den Maßgaben seiner Theorie – ideal gerechtfertigt sind. Rawls votiert an dieser Stelle für eine kohärentistische Interpretation von Wahrheit im Sinne idealer Rechtfertigung, wie sie 25 Diese Interpretation des Überlegungsgleichgewichts findet sich auch bei Brink (1989, 103–104), bei Sayre-McCord (1996, 141–145) und bei Arras (2007, 55–66).

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

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in manchen antirealistisch orientierten Wahrheitstheorien vertreten wird. Den Kohärenzbegriff, den Rawls mit dem Überlegungsgleichgewicht verbindet, scheint er an dieser Stelle wahrheitstheoretisch zu interpretieren: Of course, it is always possible to say, if we ever do reach general and wide reflective equilibrium, that now at last we intuit the moral truths fixed by a given moral order. (Rawls 1980, 570, Herv. M. H.)

Obwohl Rawls selbst die Anwendung des Wahrheitsbegriffs in der Moral kritisch bewertet, gesteht er demnach zu, dass Moralurteile wahr und falsch sein können, wenn man diese Prädikate kohärentistisch deutet. Das Überlegungsgleichgewicht bietet in dieser Interpretation also eine Begründung für die Legitimität der Rede von Wahrheit in der Moral. Dies ist nur möglich, weil sich Rawls an dieser Stelle auf Intuitionen einer wahrheitstheoretischen Deutung von Kohärenz beruft. Susanne Hahn schließlich ordnet das Überlegungsgleichgewicht in einen gänzlich anderen Theoriehintergrund ein. Sie setzt in ihrer Analyse bei Goodmans Arbeiten an und interpretiert es als eine Rechtfertigungsidee im Rahmen des Pragmatismus. Gemäß Hahns Interpretation besteht die Gleichgewichtsrelation (… befindet sich im Überlegungsgleichgewicht mit …) zwischen Handlungen auf der einen Seite und Regeln (bzw. Regelsystemen) auf der anderen Seite.26 Diese Beispiele für einige in der Debatte diskutierte Varianten des Überlegungsgleichgewichts machen hinreichend deutlich, dass sich diese gegenüber konkurrierenden Rekonstruktionen des Kohärenzbegriffs nicht neutral verhalten. Vielmehr wird das Überlegungsgleichgewicht mit verschiedenen theoretischen Zielsetzungen kombiniert und findet unter der Voraussetzung unterschiedlicher (und auch hier: teilweise inkompatibler) metaethischer Annahmen Anwendung. Zwar stimmen alle zitierten Ansätze insofern überein, als dass das Überlegungsgleichgewicht eine Methode darstellt, mit der in ei26 Hahn 2000, 231.

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

nem iterativen Prozess ein kohärentes System erreicht werden kann und soll. Sobald man aber versucht zu explizieren, was mit der Rede vom „kohärenten System“ gemeint ist, gerät man in genau die Probleme, die in den vorangehenden Kapiteln ausführlich entwickelt worden sind. Aus diesem Grund lässt sich für die Debatte um das Überlegungsgleichgewicht aus den Resultaten dieser Untersuchung die folgende Schlussfolgerung ziehen: Die Rede von dem Überlegungsgleichgewicht ist genauso irreführend wie die Rede von dem Kohärenzbegriff oder dem Kohärentismus in der Ethik. Hinter der Rechtfertigungsidee des Überlegungsgleichgewichts, das Hahn zu Recht eher als Metapher denn als ausgearbeitete Methode charakterisiert,27 verbirgt sich eine Pluralität von Ansätzen, die der Pluralität der vorausgesetzten Kohärenzbegriffe korrespondiert. Sofern der Kohärenzbegriff in die Bestimmung dessen eingeht, was als Überlegungsgleichgewicht anzusehen ist, kommt die Präzisierung eines Überlegungsgleichgewichts nicht ohne einen befriedigend explizierten Kohärenzbegriff aus. Deshalb stellt die hier vorgelegte Untersuchung einen wichtigen Beitrag für die Explikation und Weiterentwicklung der Idee des Überlegungsgleichgewichts dar. Gegen diese Schlussfolgerung kann man den folgenden Einwand vorbringen: Auch wenn exemplarisch gezeigt worden ist, dass das Überlegungsgleichgewicht in der Debatte mit verschiedenen Kohärenzbegriffen verbunden wird und somit faktisch eine Pluralität verschiedener Überlegungsgleichgewichte vorliegt – welcher systematische Grund spricht eigentlich dagegen, eine bescheidene, vereinheitlichte Konzeption des Überlegungsgleichgewichts zu entwickeln, die mit allen hier unterschiedenen Kohärenzbegriffen und Kohärenztheorien verträglich ist? Auf diesen Einwand ist zu erwidern: Selbst wenn es möglich wäre, eine solche minimale Konzeption des Überlegungsgleichgewichts zu entwickeln, wäre diese in theoretischer 27 Hahn 2000, 243–248.

6.3 Die Inkompatibilität der verschiedenen Kohärenzbegriffe

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Hinsicht aus demselben Grund uninteressant, wie es der normalsprachliche Kohärenzbegriff ist. Genau wie jener wäre eine solche Minimalkonzeption zu unterbestimmt, um im Rahmen einer Rechtfertigungstheorie für die Ethik eine tragende Rolle spielen zu können. Denn aus einem inhaltlich so schwach konturierten Konzept ließen sich keine anspruchsvollen Konsequenzen ableiten. Greifbar wird dies gerade anhand der Eigenschaft, die den größten Vorteil dieses minimalen Überlegungsgleichgewichts darstellen soll: dass es nämlich mit allen hier rekonstruierten Kohärenztheorien verträglich wäre. Wie im vorigen Abschnitt nachgewiesen wurde, bestehen zwischen den Kohärenztheorien tiefgreifende und inhaltlich bedeutsame Inkompatibilitäten. Dies schließt zwar nicht grundsätzlich aus, dass man eine bescheidene Variante des Überlegungsgleichgewichts formulieren könnte, die tatsächlich mit allen hier vorgestellten Kohärenztheorien verträglich ist. Allerdings müsste diese Konzeption inhaltlich so unterbestimmt sein, dass in ihr die begrifflichen Unterscheidungen, die zu den Inkompatibilitäten führen, keine Rolle spielen. Da es sich bei diesen Unterscheidungen aber um solche handelt, die die Debatte in der Metaethik in elementarer Weise strukturieren, lässt sich ermessen, wie konturlos eine solche minimale Version des Überlegungsgleichgewichts in theoretischer Hinsicht konzipiert werden müsste. Anders gewendet: Eine befriedigend präzisierte und theoretisch fruchtbare Version des Überlegungsgleichgewichts wird auf eine gehaltvolle Explikation des zugrundegelegten Kohärenzbegriffs nicht verzichten können. Diese Überlegung bestätigt die systematische Bedeutung dieser Untersuchung (auch) für die Weiterentwicklung des Überlegungsgleichgewichts: Die erhebliche Unterbestimmtheit des Überlegungsgleichgewichts ist ein Defizit und kein Vorteil dieser Rechtfertigungsidee. Ein wichtiges Unterfangen bei der Explikation und Präzisierung des Überlegungsgleichgewichts ist die Klärung der mehr oder minder implizit vorausgesetzten Vorstellungen zum Kohärenzbegriff. Die hier vorgelegten Ergebnisse können einen Ausgangspunkt dafür bieten, diese Ex-

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6. Beziehungen der Kohärenztheorien und Zusammenfassung

plikationsprobleme zu beheben. Hat man das Ziel, die „Rechtfertigungsmetapher Überlegungsgleichgewicht“ zu präzisieren, so ist zunächst anzugeben, welcher Begriff von Kohärenz zugrunde gelegt wird. Erst auf dieser Grundlage wird sich Genaueres dazu sagen lassen, inwiefern das Überlegungsgleichgewicht eine Methode zur Rechtfertigung von Moralprinzipien darstellen kann. Dies aber wäre das Thema eines weiteren Projekts.28

6.4 Vergleichende Bewertung der Einwände gegen die verschiedenen Kohärenztheorien Mit dem Nachweis der Pluralität der Kohärenzbegriffe und der Inkompatibilität verschiedener Kohärenztheorien in der Ethik stellt sich die Frage, inwiefern sich erfolgversprechende von weniger verfolgenswerten kohärentistischen Ansätzen unterscheiden lassen. Aus der Inkompatibilität der Kohärenztheorien ergibt sich nämlich, dass es keine Einwände gibt, die gegen den Kohärentismus in der Ethik in seiner Gesamtheit sprechen. Die konkurrierenden Kohärenztheorien sind vielmehr auch divergierenden Einwänden ausgesetzt, die sich hinsichtlich ihrer Schwere und ihrer Relevanz unterscheiden. Daher ist für weitere Untersuchungen zum Thema Kohärenz in der Ethik vor allem die folgende Frage von Interesse: Lassen sich die unterschiedenen kohärentistischen Positionen in der Ethik bezüglich ihrer theoretischen Fruchtbarkeit in eine Rangfolge bringen? Im Folgenden werden die Einwände gegen die verschiedenen Kohärenztheorien einander vergleichend gegenübergestellt, um diese Frage zu beantworten. Gegen die in dieser Untersuchung rekonstruierten Kohärenztheorien lassen sich auf drei Ebenen Einwände vorbringen. 28 So hat z. B. Botzenhardt (2008) die komplexen Beziehungen, die zwischen der Kohärenztheorie von Paul Thagard (2000) und dem Überlegungsgleichgewicht bestehen, anhand konkreter Fallstudien eingehend analysiert.

6.4 Vergleichende Bewertung der Einwände gegen die Kohärenztheorien

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Zunächst geht es um die Einwände gegen die Explikationen der hier vorgestellten Kohärenzbegriffe (6.4.1), dann um die Einwände gegen die mit diesen Begriffen jeweils verbundenen theoretischen Zielsetzungen (6.4.2) und schließlich um die Einwände gegen die metaethischen Vorannahmen (6.4.3). Abschließend wird zusammenfassend dargestellt, welche Schlussfolgerungen sich aus dem Vergleich ergeben (6.4.4). 6.4.1 Einwände gegen die Explikationen der Kohärenzbegriffe Generell lässt sich bezüglich der Explikation der Kohärenzbegriffe zweierlei festhalten. Erstens kann keiner der Explikationsansätze schon deshalb als inadäquat ausgeschlossen werden, weil er basalen Intuitionen zum normalsprachlichen Kohärenzbegriff widersprechen würde. Dieses grundlegende Adäquatheitskriterium wird von allen vier in dieser Untersuchung vorgestellten Ansätzen erfüllt. Zweitens kann sich keine der erwähnten Theorietraditionen auf eine hinreichend präzisierte und allgemein akzeptierte Explikation des Kohärenzbegriffs stützen. Auf die Probleme der Explikation des Kohärenzbegriffs in der Theorie epistemischer Rechtfertigung, zu der es in der theoretischen Philosophie eine umfangreiche Debatte gibt, wurde am Beispiel von Sayre-McCords Explikationsansätzen eingegangen. Zudem wurde gezeigt, dass sowohl die nonkognitivistischen Ansätze als auch Smiths Explikationsideen sich noch in einem frühen Stadium befinden und weiter ausgearbeitet werden müssen. Auf den ersten Blick scheint die Explikation des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs den anderen Ansätzen überlegen zu sein. So liegt in der Entscheidungstheorie eine formal präzise Axiomatisierung vor, die eine exakte Spezifikation der notwendigen und hinreichenden Bedingungen für Kohärenz bietet: Kohärent ist eine Klasse von Präferenzen genau dann, wenn sie die entscheidungstheoretischen Standardaxiome erfüllt. Die engen Grenzen, in denen diese Form der Präzision gesichert ist, werden aber sichtbar, wenn man nach der Seman-

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tik des Präferenzbegriffs fragt. Wie gezeigt wurde, gibt es unterschiedliche Möglichkeiten, den Präferenzbegriff in seiner Anwendung auf ethische Problemstellungen zu deuten. Diese unterschiedlichen Charakterisierungen des Präferenzbegriffs haben Folgen für die inhaltliche Interpretation auch der Axiome. Entgegen dem ersten Anschein sind auch hier bezüglich der angemessenen Interpretation des präferenztheoretischen Kohärenzbegriffs für den Bereich der Ethik noch viele Fragen offen. Obwohl es also im Detail Unterschiede hinsichtlich der Stärken und Schwächen der bisher vorgelegten Ansätze gibt, bietet die Explikation des Kohärenzbegriffs allein keinen klaren Hinweis darauf, welcher der auf dem jeweiligen Begriff aufbauenden Theorien stärkere und welcher schwächere Erfolgsaussichten zugeschrieben werden kann als anderen. 6.4.2 Einwände gegen die theoretischen Zielsetzungen Auch wenn keine der Kohärenztheorien frei von Problemen ist, lässt sich hinsichtlich der Frage nach den mit dem Kohärenzbegriff verbundenen Zielsetzungen ein klarer Verlierer ausmachen: Im nonkognitivistischen Ansatz können die Ziele, die mit der Einführung des Kohärenzbegriffs verbunden werden, nicht angemessen begründet werden. Gegen die Kohärenztheorien von Blackburn und Scarano sprechen gravierende Gründe, wie anhand der Diskussion des Frege-Geach-Punktes belegt wurde. Sowohl Blackburn als auch Scarano berufen sich auf Intuitionen, die man in legitimer Weise nur dem kognitivistisch interpretierten Kohärenzbegriff zuschreiben kann. Es gelingt ihnen aber nicht zu zeigen, wie sich diese Intuitionen in den Rahmen einer nonkognitivistischen Metaethik integrieren lassen, ohne in Konflikt mit den Kernannahmen des Nonkognitivismus zu geraten. Dass diese Autoren trotzdem versuchen, kognitivistische Intuitionen in ihre Theorien zu integrieren, ist ein Beleg dafür, dass sie selbst

6.4 Vergleichende Bewertung der Einwände gegen die Kohärenztheorien

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den starken Revisionismus, der mit der nonkognitivistischen Position in der Metaethik verbunden ist, nicht vertreten wollen.29 Selbst wenn man zugesteht, dass Blackburn mit seiner Entwicklung einer expressivistischen Semantik ein verfolgenswertes Projekt vertritt, ist zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zu erkennen, wie eine solche Semantik grundlegenden Intuitionen zur Interpretation inferentieller Beziehungen gerecht werden könnte. Es wurde gezeigt, dass dieses Projekt bereits daran scheitert, ein so basales Schlussschema wie den modus ponendo ponens zu rekonstruieren. Dieser Einwand spricht nicht generell gegen die Annahme eines Kohärenzbegriffs im Nonkognitivismus. Er macht jedoch die Schlussfolgerung unvermeidlich, dass der Verweis auf den Kohärenzbegriff ungeeignet ist, kognitivistische Intuitionen in eine nonkognitivistische Metaethik zu integrieren. Daher müssen die Projekte von Blackburn und Scarano als nicht durchführbar betrachtet werden. 6.4.3 Einwände gegen die jeweiligen metaethischen Voraussetzungen der verschiedenen Kohärenztheorien Auch wenn die Einwände, die sich nicht gegen die Kohärenztheorien selbst, sondern gegen die jeweils vorausgesetzten metaethischen Vorannahmen richten, nicht im Mittelpunkt der Untersuchung standen, sollen diese in einer abschließenden Abwägung der theoretischen Fruchtbarkeit nicht unberücksichtigt bleiben. Vergleicht man die vier verschiedenen Ansätze miteinander, so fällt nämlich auf, dass in einen von diesen erheblich stärkere Vorannahmen einfließen als in die übrigen Theorien. Dies ist bei Michael Smiths motivationstheoretischem Ansatz der Fall. Wie in dieser Untersuchung nachgewiesen wurde, ist Smiths Theorie primär mit dem grundlegenden Problem behaftet, dass eine Tendenz zur Kohärenz (tendency towards coherence) 29 S. Abschnitt 3.4.4.

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postuliert werden muss, deren Genese Smith nicht weiter erklären kann. Ein weiteres Problem stellen aber seine anspruchsvollen metaethischen Vorannahmen dar. Damit seine Argumentation überhaupt durchführbar ist, muss er sich dabei nicht nur auf den Kognitivismus festlegen.30 Sein Projekt ist nur dann sinnvoll, wenn er sich – als Kognitivist – zusätzlich auf die Annahme des motivationstheoretischen Internalismus verpflichtet. Und schließlich muss er eine bestimmte naturalisierte Theorie moralischer Werte einführen und ist auf eine spezifische dispositionale Deutung von Wünschen und Überzeugungen festgelegt. Dies allein muss nicht unbedingt gegen seine Kohärenztheorie sprechen. Es zeigt aber, dass sie nur unter der Annahme eines anspruchsvollen Bündels von Voraussetzungen zu verteidigen ist, die in der gegenwärtigen Metaethik allesamt kontrovers diskutiert werden. Insbesondere bei Theoretikern, die Smiths metaethische Voraussetzungen ansonsten teilen, d. h. die auch einen kognitivistisch interpretierten moralischen Naturalismus vertreten, wird Smiths Argumentation für den Internalismus häufig nicht akzeptiert.31 Aus diesem Grund ist die Bedeutung von Smiths Kohärenztheorie für die weitere Debatte um Kohärenz in der Ethik vorsichtig einzuschätzen. Selbst wenn sich Smiths Argumentation für den Internalismus auf der Grundlage seiner naturalisierten Metaethik als durchführbar erweisen sollte (wogegen einiges spricht, wie in dieser Untersuchung gezeigt wurde), so nur unter der Annahme anspruchsvoller metaethischer Vor30 In diesem Fall wären Smiths Vorannahmen nicht anspruchsvoller als diejenigen anderer Autoren: Die Festlegung auf den Kognitivismus ist ja auch bei Sayre-McCord und Nida-Rümelin notwendig, wie die Festlegung auf den Nonkognitivismus bei Blackburn, Scarano und Jeffrey. 31 Dies lässt sich auch daran belegen, dass sich gerade in diesem Lager (Kombination des Kognitivismus mit einer naturalistischen Position) die wenigen Externalisten in der Metaethik finden: Railton (1986) und Brink (1989).

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aussetzungen, gegen die sich Vieles einwenden lässt und die in der gegenwärtigen Metaethik nur von einer Minderheit von Autoren akzeptiert werden. 6.4.4 Schlussfolgerungen Fasst man diese Überlegungen zusammen, so ergibt sich daraus zwar keine starke Rangordnung der vier verschiedenen kohärentistischen Ansätze. Es zeigt sich aber, dass die nonkognitivistischen Ansätze und der motivationstheoretische Ansatz besonders gravierenden Einwänden ausgesetzt sind. Warum aber sind diese Ansätze durch schwerwiegendere Probleme gekennzeichnet als der kognitivistische und der entscheidungstheoretische Ansatz? Lässt sich ein gemeinsamer Grund angeben, der diese Ähnlichkeit erklärt? Einen solchen Grund gibt es durchaus. Vergleicht man nämlich die nonkognitivistischen Ansätze mit dem Ansatz von Smith, so fällt eine interessante Gemeinsamkeit auf: Beide Ansätze versuchen – wenn auch aus unterschiedlichen Richtungen kommend – die Kluft zwischen dem moralischen Kognitivismus und dem moralischen Nonkognitivismus zu überbrücken. Während Blackburn und Scarano das Projekt verfolgen, mit dem Verweis auf den Kohärenzbegriff basale kognitivistische Intuitionen in den Nonkognitivismus zu inkorporieren (die Wahrheitswertfähigkeit moralischer Aussagen bzw. die Rechtfertigbarkeit moralischer Überzeugungen), verfolgt Smith in komplementärer Richtung ein analoges Projekt. Ausgehend von einer kognitivistischen Position, die sich außerdem dem moralischen Realismus verpflichtet sieht, versucht er, eine motivationstheoretische Intuition zu integrieren, die ansonsten insbesondere in nonkognitivistischen Metaethiken stark gemacht wird – nämlich die zentrale These des Internalismus, d. h. die Intuition von der notwendig motivierenden Kraft moralischer Überzeugungen. In beiden Fällen wird der Kohärenzbegriff eingesetzt, um ein intuitiv attraktives Element der jeweils konkurrierenden Metaethik in den eigenen Ansatz zu integrieren. Diese theoretischen Intentionen sind gut verständlich: Wenn sich zwei konkurrierende Grundpositionen gegenüber

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stehen, die beide gleichwohl für sich in Anspruch nehmen können, grundlegende Intuitionen zur Sprache der Moral zu integrieren, so liegt es nahe, im Sinne einer versöhnenden Argumentationsstrategie einen Brückenschlag zwischen den beiden Positionen zu unternehmen. Wie die Rekonstruktion der entsprechenden Kohärenztheorien jedoch gezeigt hat, scheint dieses theoretische Unterfangen in beiden Richtungen nur wenig erfolgversprechend zu sein. Ein negatives Ergebnis dieser Untersuchung lautet somit wie folgt: Der Verweis auf eine bestimmte Version von Kohärentismus ist nicht geeignet, die Kluft zu schließen, die zwischen der kognitivistischen und der nonkognitivistischen Position in der Metaethik besteht. Dieses negative Ergebnis ist vor allem deshalb theoretisch bedeutsam, weil insbesondere Blackburns Version des Nonkognitivismus und Smiths Version eines naturalistischen Kognitivismus in ihrer theoretischen Konzeption keineswegs weit auseinanderliegen. Beide lehnen die ontologische These ab, dass es nicht-natürliche Gegenstände sui generis gibt, die moralische Tatsachen darstellen. Und während ein Projektivist wie Blackburn annimmt, dass wir durch unsere moralische Sensibilität dazu disponiert sind, moralische Wertungen auf der Grundlage der Wahrnehmung nicht-moralischer Eigenschaften auf eine an sich wertneutrale Welt zu projizieren, geht Smith davon aus, dass es in der Welt dispositionale Eigenschaften (Wunschdispositionen) gibt, die wir zum Gegenstand unserer Wertungsüberzeugungen machen können.32 Die Antipoden Kognitivismus und Nonkognitivismus rücken also in Smiths und Blackburns Metaethik inhaltlich eng zusammen. Dass selbst diese in ihrer begrifflichen Anlage ähnlichen Positionen durch einen kohärentistischen Integrationsvorschlag nicht 32 Diese Feststellung findet sich bei Johnston (2001, 183–184, Fn. 3). Zwar zählt Johnston selbst Blackburn nicht zu den Vertretern des Projektivismus (Johnston 2001, 187, Fn. 8). Wie im dritten Kapitel dieser Untersuchung rekonstruiert worden ist, trifft aber die hier angegebene Charakterisierung des Projektivismus ohne weiteres auch auf Blackburns Quasi-Realismus zu (s. dazu Abschnitt 3.3.1.1).

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miteinander versöhnt werden können, bestätigt, dass die Dichotomie von Kognitivismus versus Nonkognitivismus tatsächlich eine der grundlegenden, einander ausschließenden Oppositionen in der Metaethik darstellt, und dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht erkennbar ist, wie eine integrative Theorie aussehen könnte. Auf jeden Fall ist der Verweis auf Kohärenz ungeeignet, um diese Kluft zu schließen. Wenden wir uns den konstruktiven Ergebnissen der Untersuchung zu. Es bleiben zwei theoretische Ansätze übrig. Der kognitivistische und der entscheidungstheoretische Ansatz sind zwar ebenfalls nicht frei von Problemen. Diese sind aber bei weitem nicht so schwerwiegend wie im Falle der beiden soeben diskutierten Ansätze. Im kognitivistischen Ansatz ist der Kohärenzbegriff primär als Grundbegriff einer Kohärenztheorie epistemischer Rechtfertigung gedeutet worden. Wie gezeigt wurde, lässt sich der epistemologische Kohärentismus nur dann auf die Ethik anwenden, wenn man sich auf den moralischen Kognitivismus festlegt. Hat man dessen Grundannahmen aber einmal akzeptiert, so ergeben sich abgesehen von den Standardeinwänden, die gegen den epistemologischen Kohärentismus allgemein sprechen, keine weiteren Probleme. Innerhalb wie außerhalb der Ethik kann man sich unter kognitivistischen Vorzeichen auf genau denselben epistemologisch gedeuteten Kohärenzbegriff berufen. Und als wichtigste Alternative zum epistemologischen Fundamentalismus hat der Kohärentismus eine theoretische Relevanz, die auch durch die in der Epistemologie kontrovers diskutierten Standardeinwände nicht endgültig erschüttert werden kann. Im Kapitel 2 dieser Untersuchung wurde anhand von Sayre-McCords Vorschlag gezeigt, wie die Intuition, dass Kohärenz zur epistemischen Rechtfertigung moralischer Überzeugungen beiträgt, im Rahmen einer solchen Theorie rekonstruiert werden kann. Schließlich stellt auch der entscheidungstheoretische Ansatz einen Kohärenzbegriff bereit, der für die Ethik fruchtbar gemacht werden kann. Dieser Kohärenzbegriff ist primär deshalb

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interessant, weil mit seiner Anwendung auf die Ethik nicht schon eine bestimmte metaethische Position vorausgesetzt werden muss. Im Gegenteil: Wie gezeigt wurde, verhält sich die Entscheidungstheorie zunächst gegenüber konkurrierenden metaethischen Positionen neutral. Deshalb kann dieser Kohärenzbegriff im Rahmen sehr unterschiedlicher und sogar konkurrierender Metaethiken auf moralische Problemstellungen angewendet werden. Z. B. kann dieser Kohärenzbegriff – als einziger der vier hier diskutierten Begriffe – sowohl in kognitivistischen als auch in nonkognitivistischen Positionen für die Diskussion moraltheoretischer Problemstellungen eingesetzt werden. In dieser Untersuchung wurden zwei Beispiele diskutiert, die aus den entsprechenden Lagern stammen, um die große Anwendungsbreite zu illustrieren. Vor dem Hintergrund verschiedenster metaethischer Positionen stellt dieser Kohärenzbegriff ein Modell bereit, mit dem Eigenschaften moralischer Entscheidungssituationen in formal präziser Weise beschrieben und auf ihre moraltheoretischen Implikationen hin überprüft werden können.

6.5 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik? Vieles spricht dafür, dass Kohärenz in der Ethik eine wichtige Rolle spielt. Geht es um Fragen der Begründung moralischer Normen, Prinzipien oder Überzeugungen, so wird in der einschlägigen Literatur häufig auf die Kohärenz des entsprechenden Norm- oder Überzeugungssystems verwiesen. Deskriptiv, so ist festzustellen, ist Kohärenz in der Ethik ein prominentes Konzept. Popularität allein kann jedoch kein hinreichender Grund für die systematische Relevanz eines Begriffs sein. Fragt man aber danach, was sich hinter der Rede von einer kohärentistischen Moralbegründung bzw. von einer kohärentistischen Rechtfertigung von Moralprinzipien verbirgt, so zeigt sich überraschenderweise, dass es sich um ein vergleichsweise wenig ausgearbeitetes Konzept handelt. Auch das prominenteste ko-

6.5 Kohärenz: ein wichtiges Thema in der Ethik und Metaethik?

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härentistische Begründungsmodell, das Überlegungsgleichgewicht, ist bisher erheblich unterbestimmt geblieben. Zwischen diesen beiden Beobachtungen – häufige Erwähnung einerseits, mangelhafte Präzisierung andererseits – besteht zwar kein direkter Widerspruch, zumindest aber eine Spannung. Diese Spannung war der Anlass dafür, eine Untersuchung vorzulegen, die zum einen die Semantik des Kohärenzbegriffs in der Ethik thematisiert, zum anderen aber auch die theoretischen Zielsetzungen analysiert, die in der Ethik mit der Einführung des Kohärenzbegriffs verbunden werden. Zum Abschluss wird noch einmal die Frage gestellt, ob die Resultate dieser Untersuchung die Spannung zwischen dem ubiquitären Verweis auf den Kohärenzbegriff und dessen mangelhafter Explikation erklären können. Dass die Resultate hier einen Beitrag leisten, lässt sich zeigen, indem wir uns noch einmal der Ausgangsfrage zuwenden: Kann der Eindruck, Kohärenz sei wichtig für die Ethik, im Licht der durchgeführten Untersuchung bestätigt werden? Die Antwort auf diese Frage fällt zweiteilig aus. Zunächst legen es die Ergebnisse nahe, keine zu großen systematischen Vorteile von der Einführung eines Kohärenzbegriffs in die Ethik zu erhoffen. Wenn man mit dem Kohärenzbegriff die Hoffnung verbunden hat, es könnte sich daraus ein kohärentistisches Begründungsmodell für die Ethik ergeben, das sich auf der Grundlage bescheidener Vorannahmen präzise formulieren lässt, so legt die Untersuchung ein pessimistisches Fazit nahe: Es ist nicht möglich, eine fruchtbare Version des Kohärentismus in der Ethik zu konzipieren, die diesen Ansprüchen genügen könnte. Es ist nicht einmal möglich, eine Klasse (noch so bescheidener) theoretischer Annahmen anzugeben, die eine gemeinsame Grundlage einer Position des moralischen Kohärentismus darstellen könnten. Kohärentistische Positionen in der Moral zerfallen vielmehr in eine Pluralität divergierender Ansätze, die miteinander teilweise inkompatibel sind und auf unterschiedlich starken metaethischen Vorannahmen aufbauen. Keine der in dieser Untersuchung

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diskutierten Versionen des Kohärentismus ist hinsichtlich dieser Vorannahmen bescheiden oder gar konsensuell akzeptabel. Damit kommen wir zum zweiten, konstruktiven Teil der Antwort. Aus der soeben getroffenen Feststellung folgt nämlich nicht, dass der Kohärenzbegriff keinerlei Relevanz für die Ethik hätte. Der Kohärenzbegriff kann sehr wohl dazu beitragen, moraltheoretische Problemstellungen ihrer Lösung näher zu bringen. Dies wurde in dieser Untersuchung an einer ganzen Reihe von Beispielen belegt. Es gibt nicht die eine kohärentistische Position in der Metaethik, sondern die Anwendungen des Kohärenzbegriffs in der Ethik und der Metaethik sind in mehrererlei Hinsicht theorierelativ. Dies zeigt sich, wenn man die Fragen stellt, denen ich in dieser Untersuchung nachgegangen bin: Welche Gegenstände werden jeweils in einen kohärenten Zusammenhang gebracht und wie sind die kohärenzstiftenden Beziehungen zu charakterisieren? Welche theoretischen Zielsetzungen werden verfolgt und welche metaethischen Vorannahmen müssen dabei eingegangen werden? Erst wenn die häufig nur implizit vorausgesetzten Annahmen kohärentistischer Positionen klargelegt sind, kann der Rede von Kohärenz in der Ethik mehr Substanz verliehen werden. Diese Fragen wurden in dieser Untersuchung anhand ausgewählter Beispiele beantwortet; die oft verdeckt bleibenden Annahmen von konkurrierenden kohärentistischen Positionen wurden expliziert. Wenn man sich dieser Aufgabe nicht stellt, ist der Kohärenzbegriff nicht mehr als eine begriffliche Etikette, die in ihrer Verwendung notorisch unklar bleibt.

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1. Personenindex Alston, W. P. 53, 54, 92 Arras, J. D. 5, 31, 416 Audi, R. 75, 92, 132 Ayer, A. J. 145, 154, 155, 159, 166, 171, 198, 242 Badura, J. 100 Barnes, J. 351 Bartelborth, Th. 59, 94, 107, 131, 132, 133 Beauchamp, T. L. 4, 5 Beckermann, A. 46 Bieri, P. 46 Birnbacher, D. 41, 43, 51, 52, 66, 76, 100, 158 Blachowicz, J. 76 Black, O. 351 Blackburn, S. 71, 169, 171, 172, 174, 176-178, 183-185, 187-191, 193, 194, 196, 199, 200, 203, 205, 206, 220-225, 229, 231, 259, 409, 411, 426 Blanshard, Br. 58 BonJour, L. 12, 92, 100, 105, 119, 121, 131, 133 Botzenhardt, T. 31, 95, 420 Bovens, L. 59, 92, 94, 107, 119, 400 Brandt, R. 202 Brink, D. O. 5, 15, 30, 60, 61, 63-65, 69, 73, 84, 85, 91, 100, 316, 412, 416, 424 Brody, B. A. 76 Broome, J. 322, 340 Childress, J. F. 4, 5

Chisholm, R. M. 56 Copp, D. 51, 287 Czaniera, U. 43, 212, 214 Dancy, J. 15, 40, 41, 46, 47, 61, 109, 132, 144, 235, 278, 285 Daniels, N. 4, 11, 29, 100, 399 Davidson, D. 262, 299 DePaul, M. R. 27 Dorsey, D. 71, 178 Ebertz, R. 31 Enoch, D. 285 Fehige, Chr. 321 Feinberg, J. 3, 11 Feldman, A. 319 Festinger, L. 308, 309 Firth, R. 56 Fitelson, Br. 94 Gähde, U. 76, 77 Geach, P. T. 141, 211-220, 226-228, 230, 422 Gesang, B. 48, 49, 50 Gettier, E. L. 45 Gibbard, A. 15, 100, 139, 145, 399 Goodman, N. 28, 417 Gosepath, St. 151 Grundmann, Th. 351 Grüne, T. 354 Haack, S. 82 Hahn, S. 1, 27, 30, 32, 417, 418 Halbig, Chr. 51, 63, 158, 212, 278 Hale, B. 222-224 Hampton, J. 341

444

Personenindex

Hansson, S. O. 324 Hare, R. M. 14, 15, 31 Harman, G. 75, 94, 101 Harsanyi, J. C. 378 Hartmann, St. 59, 92, 94, 107, 119, 400 Hausman, D. M. 319 Hecht, E. 7, 8 Hurley, S. L. 322 Jeffrey, R. C. 26, 151, 321, 322, 325-334, 336, 337, 340, 341, 348, 349, 353, 354, 356-358, 360-369, 373-376, 378, 383, 387, 388, 408, 411, 413, 424 Johnston, M. 426 Jones, K. 91 Keynes, J. M. 121-123 Künne, W. 71, 178, 194 Kutschera, F. von 48, 49, 50, 61, 323 Kyburg, H. E. 121 Lehrer, K. 12, 400 Lemos, N. M. 91 Lewis, C. I. 119, 436 Luce, R. D. 341, 375 Lumer, Chr. 332 Mackie, J. L. 50-52, 63, 66, 67, 157, 171, 172 Makinson, D. C. 102 McNaughton, D. 61, 66, 77, 187, 189, 190, 195, 404 McPherson, M. S. 319 Neurath, O. 58, 100, 399 Nida-Rümelin, J. 13, 14, 26, 76, 259, 321, 322, 340, 341, 349, 353, 360, 367, 369, 370389, 392-395, 408, 411, 413, 424 Olsson, E. J. 92, 94, 401 Oppy, Gr. 143 Paxson, Th. D. 400 Raiffa, H. 341, 375

Railton, P. 63, 238, 316, 412, 424 Ramsey, F. P. 325 Rawls, J. 1-3, 11, 27-32, 75, 416, 417 Raz, J. 16 Ridge, M. 226 Ross, W. D. 15, 75, 123 Russell, B. 47, 142 Sartwell, Cr. 46 Savage, L. J. 331, 341, 375, 376 Sayre-McCord, G. 24, 38, 60, 61, 81, 85, 91, 92, 97-99, 102-120, 123-126, 128, 129, 131, 132, 135, 136, 192, 200, 206, 207, 347, 408, 411, 412, 416, 421, 424, 427 Scarano, N. 5, 14, 24, 26, 44, 53, 139, 140, 145, 157, 168, 169, 196-212, 215, 218, 220, 228-231, 348, 398-400, 408, 409, 411, 422, 423, 424, 425 Schaber, P. 15, 51, 61, 63, 65, 69, 234, 316, 412 Schade, U. 7, 9 Schoch, D. 94 Schöne-Seifert, B. 5 Schueler, G. F. 222, 259 Searle, J. R. 160, 161, 163 Sen, A. K. 322 Shafer-Landau, R. 15, 275 Sinnott-Armstrong, W. 16 Skorupski, J. 42, 69, 71 Smith, M. 16, 25, 31, 60, 61, 63, 144, 149, 151, 202, 235307, 309-318, 320, 326, 327, 330, 335-339, 344, 347, 348, 354, 368, 400, 408, 411, 412, 421, 423, 424-426 Spohn, W. 133, 325 Stegmüller, W. 29

Personenindex Stevenson, Ch. L. 145, 147, 154, 159, 164-166, 242 Stoljar, D. 158 Swanton, Chr. 287, 288 Teng, Ch. M. 121 Tersman, F. 12, 13, 27, 415, 416 Thagard, P. 59, 94, 95, 420 Timmons, M. 16 Trapp, R. W. 324, 378

Tversky, A. 357 Wahrig 8 Wedgwood, R. 166 Weintraub, R. 319 Wessels, U. 321 Williams, B. 235 Wolf, J.-C. 65, 69 Wright, Cr. 68, 69, 71, 224 Wright, G. H. von 259

445

2. Sachindex Antirealismus 5, 15, 22, 39, 50, 51, 58, 59, 62, 66-70, 72, 157, 164, 170, 172, 173, 176, 178, 191, 196, 202, 231, 417 moralischer 5, 15, 22, 39, 50, 51, 62, 157, 164, 170, 172, 173, 176, 196, 202, 231 wahrheitstheoretischer 59, 68-70, 72, 178, 191, 417 und moralischer Kognitivismus 39, 58, 69, 70 und moralischer Nonkognitivismus 5, 62, 157, 164, 176, 196 Beziehungen inferentielle 79, 81-84, 87, 88, 104, 105, 120-123, 127, 131, 134, 196, 209211, 218, 226, 229, 230, 258-261, 310, 312, 348353, 355, 357, 358, 397, 400, 401, 406, 423 kohärenzstiftende 9, 18-19, 21, 82, 87-88, 93-94, 127, 134, 137, 139, 169, 196, 207-226, 229-230, 238, 255-268, 296-301, 305, 312, 315, 346-353, 358, 373-374, 386, 387, 397398, 401, 406, 409, 430

teleologische Erklärungs~ 261-263, 268, 299-301, 305, 312, 315, 348, 397 Einwand der fehlenden Wahrheitsindikativität 131132, 189, 191-196 Einzigkeit (uniqueness) 179, 184-188, 190, 199 Entscheidungstheorie 26, 256, 263, 318, 319-389, 394, 397, 400-402, 421, 425, 427, 428 als formales Modell instrumenteller Rationalität 256, 326, 335-338 Axiomatik 322, 338-346, 353, 359, 373-375 Grundmodell (nach Jeffrey) 26, 322, 326-338 Offenheit für alternative Interpretationen 353359, 375-378, 388-389, 427-428 Expressivistische Semantik der Moralsprache 157, 166, 169-171, 174, 177-183, 193, 196, 209, 218, 220-223, 225, 226, 229, 231, 259, 348, 423 Frege-Geach-Punkt 141, 211228, 230, 422 Kernthese 212-217 und Kohärenzbegriff 218226

448

Sachindex

und Nonkognitivismus 226228 Goldene Regel 293-294, 317 Handlungsgründe 233, 234, 250, 268-270, 275, 278, 281, 285, 287, 298, 301, 368, 370373, 376, 377, 382, 383, 388, 408 motivierende vs. normative 233-237, 268 und Internalismus 275, 287, 298 und Konsequentialismus 370-373, 376, 377, 382, 383, 388 und moralischer Kognitivismus 281-282, 383 und moralischer Realismus 284-286 Inkompatibilitätsthese 19-22, 391-392, 395, 405-414 Instrumentelle Rationalität 248-268, 307, 326, 335-338, 354-358 und instrumentelle Überlegung 258-261, 354-358 Internalismus, motivationstheoretischer 22, 25, 234-237, 269, 270277, 286, 287-293, 296, 300, 301-307, 313, 314, 317, 318, 408, 410-413, 423-425 Isolationseinwand 130, 131, 132, 188-189, 191 Kognitivismus, moralischer 12-13, 14, 15-16, 22-24, 3772, 79, 86, 88, 89, 97, 137, 139-142, 148, 152-161, 163, 167, 168, 178, 189, 198, 210, 217, 226, 228-231, 271, 272,

276-278, 281, 283, 290, 316, 317, 383, 388, 393, 400, 403, 410, 411, 416, 424-427 Kernthese 43-46 und moralischer Realismus 58-70, 71 und motivationstheoretischer Internalismus 271-277, 287-290 vs. moralischer Nonkognitivismus 152167 Kohärenzbegriff in der Epistemologie empirischen Wissens 7982 in der rationalen Entscheidungstheorie 338-346 in der Theorie instrumenteller Rationalität 250-268 in der Theorie normativer Handlungsgründe (Smith) 296-307 kognitivistischer 84-88, 118129 nonkognitivistischer 177188, 201-205 normalsprachlicher vs. fachsprachlicher 6-11 schwacher vs. starker 373384 Kohärenztheorie 13, 14, 17, 19-26, 30, 31, 37-39, 58-60, 70-72, 81, 88-92, 97, 117134, 140, 141, 144, 145, 151, 168, 169, 178, 179, 188-196, 199, 200, 205-209, 210, 225, 236, 237, 259, 260, 261-268, 270, 277, 287-295, 301-314,

Sachindex 315, 321, 369-386, 391-396, 405-414, 415, 419, 420-428 der epistemischen Rechtfertigung 59-60, 71-72, 117-134, 192, 311, 406-408, 412, 416, 427 der epistemischen Rechtfertigung, starke vs. schwache 88-92 der Wahrheit 37, 58-59, 7071, 140, 168, 169, 178, 179, 188-196, 225, 408 instrumenteller Rationalität 259, 260, 261-268 vs. Kohärenzbegriff 19-21 Konsistenz Begründungs~ 119-125 expressivistisch definierte 180-188, 193-196, 229 logische 81-84, 99-103, 105, 107, 120, 180, 399 moral sensibility 173-177, 183, 190, 222-223 Moralurteil 1, 2, 4, 5, 28, 37-43, 139-140, 271, 403-404 Naturalismus, moralischer 5, 63, 316, 368, 378, 424, 426 Neohumeanismus 149-151, 238-248, 315, 317-318, 320321, 326, 329, 335, 354, 356, 358, 388 Kernthese 238-241 Probleme 149-151, 315-318 und Humes Motivationstheorie 238239 Nicht-Konsequentialismus 26, 360, 367, 369-384, 387-389, 408, 413-414 Kernthese 369-373 rationaler vs. moralischer 370-372

449

Nonkognitivismus, moralischer 5, 13, 15, 22, 23, 24-25, 37, 40, 41, 44, 47, 48, 50, 53, 62, 67, 68 ,71, 137, 139, 140, 141-167, 168, 169-177, 196201, 226-228, 229-231, 237, 240, 242, 276, 316, 347, 348, 361-362, 368, 383, 388, 394, 395, 397-400, 403, 404, 407, 409, 410-414, 420-426, 428 Kernthese 156 und Sprachpragmatik 158167 vs. moralischer Kognitivismus 152-158 Nutzenfunktion (Bewertungsfunktion, desFunktion) 339-346, 362, 366, 367, 369, 376, 378-383, 400, 413 Präferenzen 26, 319, 320, 322326, 332-353, 394-395, 397, 400-401,408, 410, 413-414, 421-422 Propositionale Einstellungen 47, 68, 142-158, 160, 178, 212, 233, 242-243, 247, 251, 259, 286, 324, 330-331, 336, 347-348, 361, 374 wunschähnliche vs. überzeugungsähnliche 145-151, 155, 336, 361 Quasi-Realismus 169-177, 196, 426 Rationalität Entscheidungs~ 325, 326338 instrumentelle 250-268, 326-338, 339 und Moralität 369-373

450

Sachindex

Realismus, moralischer 14-15, 22, 39, 58-70, 71, 200, 217, 284-286, 368, 425 Kernthese 60-61 und moralischer Kognitivismus 58-70, 71 Rechtfertigung, epistemische 12, 20, 24, 53-58, 73-92, 117-134, 168-169, 191-196, 209-210, 214, 221-225, 228, 230, 233-234, 237, 282-284, 311-314, 316, 349-352, 384386, 400, 404, 406-408, 415416, 421, 427 epistemische vs. moralische 53-58, 223-225, 404 Smiths Trilemma 270, 271277, 318 Standardeinwände gegen den epistemologischen Kohärentismus 98, 129-134, 135, 137, 188-196, 427 Tatsachen, moralische 15, 6066, 67, 68, 78, 88, 130, 153, 155, 157, 165, 191, 217, 271, 278, 285-286, 426 tendency towards coherence 295, 305-314, 423

Überlegungsgleichgewicht 1, 2, 4, 6, 11, 12, 13, 27-35, 405, 414-420, 429 und Kohärenzbegriff 27-35, 414-420 weites vs. enges 4 Viele-Systeme-Einwand 130131, 132, 188, 189-191, 200 Wahrheit 9, 10, 20, 24, 44-46, 48-53, 58-59, 66-70, 137, 170-171, 177-179, 193-196, 199-200, 271-272, 393, 402, 404, 406, 408, 409-410, 416417, 425 Wahrheitswertfähigkeit 15-17, 24, 48-52, 65-66, 69, 137, 170, 171, 179, 195, 199-201, 404, 409-410, 425 Wünsche 62, 144, 146-149, 238-248, 261-268, 305-306, 316, 328-330, 374, 397, 424 dispositionale Auffassung (Smith) 244-248, 261268, 305, 316, 424 phänomenologische Auffassung 242-244