Ethik der Neuzeit 9783486755404, 9783486755398


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German Pages 184 [196] Year 1976

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INHALTSÜBERSICHT
I. DIE LAGE AM AUSGANG DES MITTELALTERS
II. DIE ANSÄTZE DER RENAISSANCE
III. DIE ENGLISCHE MORALPHILOSOPHIE
IV. DIE NIEDERLANDE UND FRANKREICH BIS ZUR REVOLUTION
V. LEIBNIZ UND SEINE NACHFOLGER
VI. KANT UND HERDER
VII. DER DEUTSCHE IDEALISMUS
VIII. POSITIVISMUS UND EVOLUTIONISMUS
IX. DIE PHILOSOPHISCHE ERNEUERUNG
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Ethik der Neuzeit
 9783486755404, 9783486755398

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THEODOR LITT ETHIK DER NEUZEIT

THEODOR LITT

ETHIK DER NEUZEIT

1976

R . O L D E N B O U R G V E R L A G MÜNCHEN WIEN

2., u n v e r ä n d e r t e r reprografischer N a c h d r u c k der Ausgabe M ü n c h e n u n d Berlin 1931 (aus dem H a n d b u c h der Philosophie, Abteilung I I I , Beitrag D), v e r m e h r t u m ein von Friedhelm Nicolin b e a r b e i t e t e s Register

© 1968 R . Oldenbourg Verlag G m b H , M ü n c h e n D r u c k u n d E i n b a n d : Wissenschaftliche Buchgesellschaft, D a r m s t a d t P r i n t e d in G e r m a n y

ISBN 3-486-47082-5

INHALTSÜBERSICHT I . Die Lage am Ausgang des Mittelalters I I . Die Ansätze der Renaissance 1. Die Erneuerung der „natürlichen" E t h i k 2. Montaigne 3. Bacon 4. Machiavelli 5. Grotius I I I . Die englische Moralphilosophie 1. Hobbes 2. Die Cambridger und ihre Gesinnungsgenossen 3. Die psychologische Wendung 4. Locke 5. Shaftesbury 6. Die schottische Schule 7. H u m e 8. Smith IV. Die Niederlande und Frankreich bis zur Revolution 1. Die geistige Lage 2. Spinoza 3. Die französische Aufklärung 4. Rousseau V. Leibniz und seine Nachfolger 1. Die deutsche Lage 2. Leibniz 3. Die deutsche Aufklärung 4. Sturm und Drang VI. K a n t und Herder 1. Herder 2. K a n t VII. Der deutsche Idealismus 1. Jacobi und Schiller 2. Fichte 3. Die R o m a n t i k . Schleiermacher 4. Hegel 5. Herbart 6. Schopenhauer VIII. Positivismus und Evolutionismus 1. Comte 2. Bentham. Mill 3. Darwin. Spencer 4. Feuerbach. Marx

3 9 9 13 16 18 21 25 25 33 38 40 43 49 51 55 60 60 62 67 69 74 74 76 82 85 88 89 96 108 109 114 123 132 138 141 144 144 147 150 154

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INHALTSÜBERSICHT Seite

I X . Die philosophische Erneuerung 1. Lotze 2. W u n d t 3. Die Neukantianer 4. Nietzsche und die Philosophie des „ L e b e n s " 5. Die Kulturphilosophie 6. Die Phänomenologie Register

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I. DIE LAGE AM AUSGANG DES MITTELALTERS.

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enn wir in der Reihe von äußeren u n d inneren Geschehnissen, die m a n herkömmlicherweise als den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit deutet, auch einem neuen Einsetzen der ethischen Gedankenbewegung zu begegnen glauben, so ist die darin liegende Scheidung u n d Gliederung in demselben Sinne und innerhalb derselben Grenzen sinnvoll u n d berechtigt, wie diese Periodisierung des abendländischen Werdens ü b e r h a u p t , j a wie im Grunde jeder Versuch, die K o n t i n u i t ä t einer geschlossenen Entwicklung gleichsam in A k t e und Szenen abzuteilen. Gewiß gewinnt der Gesamtprozeß f ü r den Betrachter erst in dem Augenblick einen nachzuerlebenden Sinn, da in der Unendlichkeit der strömenden Bewegung feste P u n k t e hervortreten, Stationen gleichsam, an denen der Geist einhält u n d sich sammelt, u m d a n n , ein gewandelter, die Welt m i t neuen T a t e n zu erfüllen; gewiß ist in solchem Sinne der Blick f ü r „ R e n a i s s a n c e n " die entscheidende Gabe des Historikers, d e m die Fülle des Überlieferten sich zum Bild zusammenordnet. Aber niemals darf der K u n s t des Scheidens u n d Abteilens die andere Wahrheit zum Opfer fallen: d a ß auch das scheinbar Unerhörte, das vermeintlich n u r sich selbst Gehörende d e r Zeit im tiefsten verpflichtet ist, die es nach Absicht u n d Gestalt überwindet. Gilt dieser Satz von allen Wendungen der geschichtlichen Bewegung, die das Zeitalter der Renaissance entweder d u r c h f ü h r t oder wenigstens einleitet, so t r i f f t er die Entwicklung der e t h i s c h e n Idee mit verstärkt e m Nachdruck. Denn in der Durchforschung und dem Ausbau der ethischen Wertsphäre h a t t e es die Neuzeit nicht etwa, wie an mancher anderen Stelle, mit einer Dimension des Geistes zu t u n , die im R a h m e n des mittelalterlichen Lebenssystems u n d der zugehörigen Weltanschauung u n b e a c h t e t oder v e r k ü m m e r t geblieben wäre, die mithin dem Willen des neuen Menschen ein vollkommen freies Feld eröffnet h ä t t e — im Gegenteil, jenes Lebenssystem war, obwohl keineswegs in der ethischen Idee als solcher zentriert, gleichwohl voll von mächtigen Antrieben und gedanklichen Gestaltungen, die, auf ihre reine Form zurückgeführt, sich als der ethischen Erlebnissphäre zugehörig erwiesen. Damit s t a n d von vornherein, vor dem Einsetzen aller Versuche einer Neubegründung, eines f e s t : nicht n u r h a t t e alles Bemühen auf diesem Gebiete sich gegen den äußeren Widerstand einer weitverzweigten u n d wirkungskräftigen

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Überlieferung durchzusetzen, sondern es lebte auch in der Brust der Vorkämpfer des Neuen selbst zu viel von Wesen und Wille der bestrittenen Mächte, als daß nicht jeder Sieg, gerade wenn er aus der ganzen Fülle des inneren Seins heraus errungen wurde, auch zu einem unbemerkten Triumph, zu einem Auferstehen des vermeintlich Niedergeschlagenen hätte werden sollen. Ein weiterer Umstand kam hinzu, der die damit angedeuteten Verwicklungen ganz besonders begünstigte. Wie alle Bemühungen der angehenden Neuzeit suchte und fand auch das ethische Nachdenken, zu völlig gelöster Eigenbewegung weder stark noch zuversichtlich genug, Anregungen, Gedankenformen, Begründungen in der zu einer reichen Mannigfaltigkeit von Systemen ausgebreiteten Ethik des Altertums. Aber diese ideelle Macht, in der man den stärksten Bundesgenossen wider den Geist des Mittelalters gewonnen zu haben meinte, sie lieh doch nicht minder dem Gegner ihre wirksame Hilfe. Denn das, was das Mittelalter an gedanklich durchgeformter Ethik hervorgebracht hatte — es war ja doch nichts anderes als ein System sittlicher Normen, zwar erlebt und entworfen aus dem Zentrum des christlich-katholischen Gedankens heraus, aber zur Form gebracht mit den aus dem Altertum überkommenen Mitteln der ethischen Reflexion und deshalb notwendig auch von dem Geiste dieser Ethik mannigfach getönt und durchwirkt. Gehörte doch die Ethik für das mittelalterliche Denken zu denjenigen Bezirken des Geistes, die der Einverleibung des antiken Erbes am wenigsten Schwierigkeiten und Bedenken entgegenzustellen hatten. Mit dem Zurückgreifen auf die antike Ethik führte also die ethische Reflexion der werdenden Neuzeit unbewußt und ungewollt eine Nahrung zu, deren Aufnahme sie der zu überwindenden Gedankenwelt an vielen Stellen wieder nahebringen, zu neuen Vermittlungen und Anpassungen geneigt machen mußte. Wo man scharfe Grenzen ziehen, Gegensätze festlegen wollte, da bewegte man sich in Wahrheit in einer geistigen Atmosphäre, die Altes und Neues, Christliches und Antikes bis zur Ununterscheidbarkeit verfließen ließ. Nur insoweit war der Gegensatz mit einiger Klarheit festzuhalten, wie der moderne Geist bei den von der Kirche ausdrücklich verworfenen Denkern des Altertums Anlehnung suchte — und selbst hier fehlte es nicht an gedanklichen Wendungen, die die Zugehörigkeit zu der bekämpften Welt dem Kundigen nur allzu deutlich verrieten. Im Lichte dieser Betrachtung rückt die ethische Idee geradezu in einen Knotenpunkt der geistigen Bewegung, die Altertum, Mittelalter und Neuzeit verbindet. Wenn sie auf der einen Seite die Stelle bezeichnet, an der das aus der vorherrschenden Weltimmanenz der Antike hervorgebrachte Gedankengut am ehesten mit der christlich-transzendenten Erlebniswelt des Mittelalters eine positive und fruchtbare Verbindung eingehen konnte, so findet andererseits in ihrem Zeichen mannigfache

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DIE LAGE AM AUSOANG DES

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Berührung statt zwischen dieser und der von neuem der diesseitigen Welt sich zuwendenden Sehnsucht der neuen Menschheit; und endlich verknüpft sie unmittelbar und wie über den Kopf der mittelalterlichen Gedankenwelt hinweg Antike und Neuzeit in dem Suchen nach einer Gestaltung dieses Weltlebens aus den ihm immanenten Kräften heraus. Man wird kaum eine Region des Geistes finden, die Gegensatz und Abhängigkeit so eng und zugleich bis in die Schicht des gedanklich Formulierten hinein verschlungen zeigt — ein Verhältnis, das der historischen Zergliederung ebensoviel Anreiz wie Schwierigkeiten bietet. 10

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Der angedeutete Zusammenhang wird es verständlich machen, wenn wir an dieser Stelle zunächst die in dem mittelalterlichen Denk- und Lebenssystem beschlossene E t h i k hinsichtlich derjenigen Wesenszüge charakterisieren, die nicht n u r f ü r jede positive Fortbildung und Erweiterung maßgebend bleiben mußten, sondern auch f ü r die Kritiker und Gegner, die Schöpfer und Verkünder neuer ethischer Prinzipien eben k r a f t jener innerer Verbundenheit der sich Befehdenden irgendwie bestimmend gewesen sind. Es gibt etwas, was m a n die „ S t r u k t u r " einer ethischen Lebensbetrachtung nennen konnte, d. h . einen Inbegriff von allgemeinen Sätzen über den B a u und die Gliederung der ethischen Gesamtwirklichkeit, über Beschaffenheit und Gewicht der sittlichen Forderungen, der in abstracto von dem Vollgehalt eines ethischen Normsystems abgetrennt werden kann und der sich d a n n in dieser Abgelöstheit unter Umständen als das gemeinsame gedankliche Medium erweist, innerhalb dessen auch der Gegner dieses Systems seine Positionen entwickelt — j a , m a n wird es als allgemeine Wahrheit voranstellen dürfen, d a ß es einen Gegensatz und Widerstreit sich bekämpfender Ideen ü b e r h a u p t nur d a n n geben kann, wenn ein gewisser Bestand an gemeinsamen Voraussetzungen den Boden f ü r die Begegnung bereitet. Es ist dementsprechend zu erwarten, d a ß innerhalb der ethischen Ideenbewegung, die sich im Gegensatz gegen das mittelalterliche Lebenssystem entwickelte, gleichwohl manche von diesen Strukturprinzipien der mittelalterlichen Lebensansicht fortlebten, sei es auch n u r in derjenigen F o r m der Anpassung, zu der der Angriff schon durch das Eingehen auf die Stellung des Gegners genötigt wird.

Als solche allgemeine Formprinzipien des ethischen Gedankens heben sich an der vollentwickelten m i t t e l a l t e r l i c h e n W e l t a n s i c h t folgende heraus.

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Diejenigen N o r m e n des mittelalterlichen Lebens, die gemäß der späteren Abgrenzung der Wertsphären als ethische anzusprechen sind, bilden einen Ausschnitt aus einer universalen Gesetzgebung, die zunächst einmal schlechthin alle Verhältnisse und Beziehungen des menschlichen Daseins einem einheitlichen und widerspruchslosen Normsystem unterstellt, die als solches insbesondere alle über den Kreis der persönlichen Existenz hinausgreifenden Zusammenhänge des staatlichen, gesellschaftlichen, wirtschaftlichen Lebens von einem zentralen Prinzip aus zu regeln u n t e r n i m m t . Die durchgreifende Bedeutung, deren es zu einer so umfassenden Leistung bedarf, gewinnt dieses Prinzip seinerseits aus dem Umstand, d a ß es überhaupt nicht innerhalb des zu regelnden Erdendaseins, inmitten seiner Anfechtungen und Verwirrungen seine S t ä t t e hat, sondern in einer ihm übergeordneten Sphäre, einem Überbau gleichsam dieser Erdenwirklichkeit, heimisch ist: aus der Welt des T r a n s z e n d e n t e n ergehen die Gebote, in ihr liegen die Ziele, nach denen alles irdische T u n und Lassen im Großen wie im Kleinen sich auszurichten h a t . Damit werden alle Normen, denen das menschliche Treiben u n t e r s t e h t , unter ihnen auch die in engerem Sinne als ethisch zu bezeichnenden, hergeleitet aus einer zentralen Wertsetzung von religiös-transzendentem Charakter.

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N u n wird aber diese religiöse Sphäre erlebt nicht als eine solche der bloßen I d e e , des geglaubten und erst zu realisierenden Wertes, sondern als eine Wirklichkeit höheren Grades. I n d e m das Erdendasein sich als Vorbereitung und Unterbau dieser Überwirklichkeit des Göttlichen unterstellt, empfängt es den Abglanz der wertgesättigten Wirklichkeit, zu welcher es in stufenweisem A u f b a u emporführt. Das Reich der „ N a t u r " und das Reich der „ G n a d e " , obzwar voneinander geschieden wie Unvollkommenheit und Vollkommenheit, sind trotzdem durch Überleitungen und Abstufungen des Wertes so miteinander verbunden, d a ß jene scheinbar so radikale Entgegensetzung sich erheblich mildert und auch das diesseitige Leben sich mit einem Wertgehalt füllt. Die Wirklichkeit des Irdischen und die Überwirklichkeit des Göttlichen schließen sich zu ein,em Lebens- und Sinnganzen zusammen, das der Gläubige als ein stets Gegenwärtiges, als eine sein Dasein lenkende und erhaltende Macht, als eine ihn umfangende und tragende Realität unmittelbar erlebt und verehrt. Diese Gesamtauffassung schließt eine f ü r die ethische Wertsphäre bedeutsame Folgerung in sich: der ethische Wertgehalt t r i t t nicht — in der Sprache späterer Zeiten gesprochen — als reine „ I d e e " einer als solcher wertentleerten Erfahrungswirklichkeit gegenüber, es gibt nicht die schroffe Disjunktion von „ S e i n " und „Sollen", sondern unbeschadet aller Spannungen zwischen sündiger Menschennatur und göttlichem Gebot wird doch schließlich die Erdenwirklichkeit erlebt als durchzogen von Wertmotiven, geregelt, geordnet und aufgebaut nach sinnvollen Prinzipien, in die der Mensch sich nur einzufügen b r a u c h t , u m den Weg des Heils zu wandeln. Ein System überpersönlicher Sinnzusammenhänge, ein geisterfülltes Gesamtleben n i m m t ihn als sittlich Strebenden in sich auf und f ü h r t ihn der göttlichen Gnade entgegen. Wenn aber im Zusammenhang dieser Betrachtung Welt und Überwelt, Sein und Sinn zusammenrücken, so behauptet sich doch andererseits ihre Scheidung und E n t gegensetzung in einer gerade f ü r die E t h i k sehr bedeutsamen Form. Weil jede Forderung und so auch die Summe der sittlichen Gebote aus einer Sphäre des Transzendenten entfließt, also einer Dimension entstammt, die menschlichem Wünschen, Wollen und Eingreifen grundsätzlich verschlossen ist, so behauptet sich mit unverbrüchlicher Sicherheit dasjenige, was man die „ O b j e k t i v i t ä t " der sittlichen Forderung nennen kann. Obwohl ihre Ausstrahlungen in die Erdenwelt entsendend, k a n n doch diese Wertwirklichkeit niemals sich so weit mit dem Menschendasein einlassen, d a ß sie der Subjektivität, dem Wähnen und Meinen suchender und irrender Erdensöhne ausgeliefert würde. Gegründet in dem unangreifbaren Gegenüber des Transzendenten, verharrt die sittliche Forderung zugleich in einer i d e e l l e n Objektivität, einer Unbedingtheit der „ G e l t u n g " , an die kein subjektives Wollen heranreicht. E s entspricht dieser Unangreifbarkeit des Gebotenen, daß sie völlig gleichgültig ist gegen die Mannigfaltigkeit individueller Artung und persönlicher Bedürfnisse wie auch gegen den Wandel der Zeiten, der Menschen, der Gemeinschaften. Es sind immer die gleichen Sterne, die das Dunkel des Erdendaseins erhellen. So wird die Objektivität der sittlichen Forderung zur A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t .

Kraft der hiermit angedeuteten Cedankenverschlingungen gelingt es der mittelalterlichen Weltansicht, Motive in sich zu vereinigen, die im späteren Verlauf der Ideenbewegung immer wieder auseinander und gegeneinander getreten sind. Sie zeigt eine Einheit des natürlichgeistigen Kosmos, ohne die ihr immanenten Spannungen und Dualismen zu bestreiten oder zu beschönigen; sie sieht den Wert mit der Wirklichkeit sich einen, ohne ihn in diese Wirklichkeit schlechthin zergehen zu lassen; sie stellt die Objektivität der sittlichen Forderung sicher gegen den Wandel des Seienden, ohne sie deshalb in eine Sphäre des Unwirkliehen, der bloßen Idee zu verbannen.

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DIE LAGE AM AUSGANG

DES

MITTELALTERS

A b e r diese allumfassende E i n h e i t , überwältigend u n d erhebend f ü r das D e n k e n , das sich ihr h i n g a b , beseligend f ü r das Leben, das sich v o n ihr g e t r a g e n w u ß t e , k o n n t e n u r solange B e s t a n d h a b e n , wie die einende Zentralidee, der religiöse K e r n g e d a n k e , seine seelenbannende W i r k u n g u n g e s c h w ä c h t b e h a u p t e t e ; n u r ihm war die K r a f t gegeben, deren es b e d u r f t e , u m alle Daseinsprobleme aus einem Prinzip aufzulösen, u m so viele Gegensätze i m schwebenden Gleichgewicht zu erhalten. J e d e s E r l a h m e n der Glaubensinnigkeit m u ß t e die zusammengezwungenen Motive, des Lebens wie des Denkens, zur E r h e b u n g anreizen, das Einheitsgefüge sprengen u n d den K a m p f der verselbständigten Ideenrichtungen entfesseln. E s ist n i c h t unsere Sache, den E n t w i c k l u n g e n nachzugehen, in d e n e n diese A u f l ö s u n g sich vollzog. E s würde gleichfalls ü b e r unsere A u f g a b e h i n a u s f ü h r e n , den A n s t ö ß e n , F o r d e r u n g e n u n d Verwicklungen n a c h zugehen, die das Erlebnis der R e f o r m a t i o n , die V e r k ü n d u n g der Ref o r m a t o r e n u n d der Zwist der Konfessionen f ü r die ethische Sphäre m i t sich b r a c h t e n . Wir haben n u r n a c h der Situation zu fragen, in die das ethisch gerichtete D e n k e n sich bei diesem Zerfall des mittelalterlichen Lebenssystems gestellt f a n d , n a c h den Problemen, die sich mit sachlicher Notwendigkeit a u s der so geschaffenen Lage ergaben. Z u n ä c h s t h a t t e die ethische Reflexion m i t allen anderen R i c h t u n g e n des Geistes die A u f g a b e gemeinsam, die der Verlust der alles umfassenden Sinneinheit der religiösen D a s e i n s d e u t u n g unabweisbar m a c h t e : sich aus d e m eigenen Wesen heraus n e u zu begründen, den Boden zu suchen u n d abzugrenzen, d e n sie in der Verfolgung ihrer eigenen Sonderb e s t i m m u n g zu b e b a u e n h a t t e . Die Differenzierung der W e r t s p h ä r e n , die m i t d e m Auseinanderfallen der mittelalterlichen Lebenseinheit u n vermeidlich w u r d e , b r a c h t e hier wie a n d e r w ä r t s ebensowohl N ö t e u n d Schwierigkeiten wie F ö r d e r u n g u n d inneren G e w i n n : n u r durch die Unsicherheit u n d Ratlosigkeit des Ringens u m eine N e u b e g r ü n d u n g h i n d u r c h k o n n t e die A u t o n o m i e der ethischen Problemstellung gewonnen werden. I n der hierzu erforderlichen Selbstbesinnung u n d Selbstbegrenzung lag die zentrale A u f g a b e f ü r die ethische D e n k b e w e g u n g der Neuzeit. N u n k a n n es n a c h oben Gesagtem nicht W u n d e r n e h m e n , wenn diese Verselbständigung f ü r die ethische Idee m i t größeren Schwierigkeiten v e r b u n d e n w a r als f ü r a n d e r e Sonderrichtungen der geistigen Bewegung. B e d e u t e t e doch f ü r den mittelalterlichen Menschen die e t h i s c h e Ges t a l t u n g des E r d e n d a s e i n s das u n m i t t e l b a r s t e Ü b e r s t r ö m e n des G ö t t lichen ins I r d i s c h e ; gab doch gerade sie d e m Irdischen seinen Z u s a m m e n h a n g m i t der W e r t f ü l l e d e r t r a n s z e n d e n t e n Welt a m greifbarsten zu erkennen. D a r u m m u ß t e es hier schwerer fallen als a n d e r w ä r t s , der abzulösenden W e r t r e g i o n ihr eigenes Prinzip zu sichern u n d doch nichts von d e m e r l e b t e n Gehalt zu entziehen, d e n ihr die enge V e r b i n d u n g

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mit dem religiösen Zentrum zugeführt hatte. So hat denn auf Jahrhunderte hin das Verhältnis der ethischen zu der religiösen Erlebnissphäre ein immer v o n neuem erwachendes, zu immer neuen Antworten einladendes Problem gebildet. I n dieser Diskussion n a h m das Problem vielfach eine über die spezifisch religiöse Fragestellung hinausführende Gestalt an. Ethische Normen an religiöse Glaubenssätze anknöpfen, das heißt, philosophisch gesprochen, nichts anderes als: E t h i k auf Metaphysik gründen. Das oben gekennzeichnete Ineinandergreifen von Wert und Sein, das der mittelalterlichen Lebensansicht eigentümlich war, ist der prinzipielle Ausdruck dieses Begründungsverhältnisses. Wo man in der Folgezeit der ethischen Fragestellung ein Sonderrecht zu sichern bemüht war, da hieß vielfach der Leitgedanke: Ablösung der E t h i k nicht etwa n u r von der religiösen, sondern von jeder Metaphysik. Klarheit der Zielsetzung, Sicherheit der Begründung schien davon abzuhängen, daß m a n jeden Zusammenhang m i t dieser Region der unbeweisbaren Behauptungen oder gar der trügerischen Illusionen löste. Keineswegs war, wo diese Ablösung erfolgt war, auch schon die Form eindeutig entschieden, in der die abgelöste sich ihre Verfassung zu geben h a t t e . Zum mindesten zwei gedankliche Möglichkeiten standen zur Wahl. Denkbar war auf der einen Seite die Auffassung u n d Lehre, es könne nur dann die sittliche Gesetzgebung in ihrer Reine und Eigenheit sich entfalten, wenn sie in völliger Unabhängigkeit von a l l e n Aussagen und Erkenntnissen, die auf ein S e i e n d e s sich beziehen, in der unwirklichen, jeder denkbaren E r f a h r u n g überlegenen Region der I d e e als eine Lehre v o m S e i n s o l l e n d e n sich konstitutiere. Oder aber es konnte die Forderung auftreten, die E t h i k solle, befreit aus der Abhängigkeit von metaphysischen Seinsbehauptungen, nicht etwa jede Verbindung m i t der E r k e n n t n i s dessen, was ist, lösen, vielmehr den Ersatz f ü r das preisgegebene F u n d a m e n t in einer Erkenntnis des Seienden von n i c h t metaphysischem Charakter suchen, also sich durch die „ E r f a h r u n g " , die voraussetzungslose Erforschung des Gegebenen, über die Grundlagen und Aufgaben des sittlichen Lebens belehren lassen. So t r e t e n also, indem die E t h i k der Neuzeit sich ausbaut, zwei neue Grundformen der ethischen Systembildung der metaphysisch gegründeten zur Seite. Zu der Frage der letzten gedanklichen Begründung gesellten sich, ebenfalls d u r c h die Auflösung des mittelalterlichen Lebenssystems heraufbeschworen, weitere Ungewißheiten hinzu. K r a f t ihrer allumfassenden Spannweite h a t t e die religiöse Idee schlechthin alle Normierungen des Menschenlebens aus sich zu entwickeln, in widerspruchsloser Einheit zusammenzufassen und einwandfrei gegeneinander abzugrenzen vermocht. Grenzstreitigkeiten, Kompentenzkonflikten gab ihre regelnde und verteilende Obergewalt keinen R a u m . Als aber mit dem Verblassen der leitenden Idee die Einzelsphären sich angewiesen fanden, in sich selbst ihr begründendes Prinzip zu suchen, da wurde notwendig der Anteil an der Wirklichkeit des Geistes, der den einzelnen zukam, zweifelhaft u n d damit ihr wechselseitiges Verhältnis, die Abgrenzung ihrer Gerechtsame der Gegenstand des Meinungsstreites. Wiederum m u ß t e gerade die ethische Reflexion von der hier entstehenden Unsicherheit mit am stärksten betroffen werden. Erblickte sie ihren Beruf darin, das diesseitige Leben der Menschen als solches zu normieren, so war die Frage nicht zu umgehen, in welchem Umfange denn eigentlich das menschliche T u n ihrem Richterspruch unterstehe, welche menschlichen Verhaltungsweisen als sittlich relevant anzusehen seien. Am empfindlichsten machte sich diese Frage f ü h l b a r i m Hinblick auf denjenigen Kreis von menschlichen Handlungen, der auf der einen Seite, weil über die Unmittelbarkeit der persönlichen Antriebe u n d interpersonalen Beziehungen weit hinausgreifend, eine sittliche Beurteilung abzuweisen schien u n d der doch auf der anderen Seite nur mit schweren Bedenken den außersittlichen Lebenstrieben überlassen werden k o n n t e : im Hinblick auf das organisierte Weltleben in Arbeit, Wirtschaft, sozialer Gliederung, zuhöchst in der Form des S t a a -

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DIE ERNEUERUNG

DER „NATÜRLICHEN"

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t e s . Auf der einen Seite fohlte man, eigenen Bedürfnissen u n d Erlebnissen wie auch maßgebenden antiken Denkrichtnngen Folge gebend, starke Neigung, der selbständig gewordenen E t h i k den Bezirk des p e r s ö n l i c h e n Lebens als solchen zuzuweisen. Aber auf der anderen Seite mußte m a n sich fragen, ob es angängig war, die ganze breite Wirklichkeit des organisierten Gemeinschaftslebens, n a c h d e m sie sich v o n der Vormundschaft des religiösen Prinzips emanzipiert hatte, n u n auch noch aus der Aufsicht der sittlichen Idee zu entlassen. Und wenn es etwa s t a t t h a f t , j a geboten war, die Ansprüche der sittlichen Idee auch über diese Region auszubreiten — von welcher Art war das Verhältnis zwischen der sittlichen Norm und der i n ihr selbst einheimischen Form der „Gesetzgebung", d. h. der r e c h t l i c h e n Ordnung des gemeinsamen Lebens? Auch der hier sichtbar werdende Kreis von Fragen gab einer Vielheit möglicher Antworten R a u m : reinliche Scheidung der staatlich-rechtlichen u n d der sittlichen Sphäre, völlige Gleichsetzung beider Normsysteme, Unterordnung des einen oder des anderen, Annahme einer Wechselbeziehung oder auch eines Widerstreites gleichberechtigter Mächte. Kurzum, man erkennt: nicht nur die letzte Verankerung der E t h i k , auch ihre Abgrenzung, ihre Einordnung in das Ganze des entfalteten Lebens m u ß t e in demselben Augenblick fraglich werden, da das einheitliche Gefüge der mittelalterlichen Lebensnormierung sich auflöste. Es war in dem Wesen und Sinne, i n dem eigentümlichen L e b e n s bezng der ethischen Reflexion begründet, d a ß sie mehr als manche andere Richtungen des sich emanzipierenden Geistes fort und f o r t u m ihr Selbstbewußtsein zu ringen h a t t e . F . J o d l , Geschichte der E t h i k als philosophischer Wissenschaft. I . I I . ' S t u t t gart 1920. F. V o r l ä n d e r , Geschichte der philosophischen Moral-, Rechts- u n d Staatslehre der Engländer u n d Franzosen. Marburg 1855. J . H . F i c h t e , Die philosophischen Lehren von Recht, Staat und Sitte seit der Mitte des 18. J a h r h u n d e r t s . Leipzig 1850. S c h l e i e r m a c h e r , Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre. Berlin 1803.

II. DIE ANSÄTZE DER RENAISSANCE. 1. D I E E R N E U E R U N G D E R „ N A T Ü R L I C H E N " E T H I K . Es ist natürlich keine Rede davon, daß die hier in ihrer Unvermeidbarkeit entwickelten Prinzipienfragen mit einem Schlage dem Blick der „wiedergeborenen" abendländischen Menschheit offen gelegen hätte. Es ist im Gegenteil eine über die Jahrhunderte sich erstreckende Diskussion, in der ganz allmählich das Grundsätzliche sich aus dem Hin und Her des Meinungsstreites, aus den mancherlei Verschlingungen und Fehlgängen der Gedankenbewegung herausgeschält hat. Zunächst zeigt uns, wie in allem philosophischen Denken, so auch in der ethischen Reflexion die werdende Neuzeit das Bild eines ziemlich richtungs- und prinzipienlosen Erprobens der verschiedensten gedanklichen Möglichkeiten, dazu die eigentümliche Unsicherheit von Menschen, die, herangewachsen in dem Banne eines gedanklich durchgearbeiteten, in Jahrhunderten erprobten und tief in die Seelen eingesenkten Lebenssystems, nur mit Zagen die ersten Schritte auf dem Boden eines vermeintlich voraussetzungslosen Denkens zu tun wagen. Dabei bringt es die Sachlage mit sich, daß gerade die Sphäre der Ethik besonders früh und nachhaltig

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die Geister a n sich zieht u n d ihre Unsicherheit spüren l ä ß t . W a r einmal der Lebenssinn der mittelalterlichen W e l t a n s c h a u u n g unsicher geworden oder gar verloren, wo sollte eine Menschheit, die, gewohnt n a c h festen N o r m e n ihr Leben auszurichten, sich n u n v o n den S t ü r m e n eines zügellosen Trieblebens b e d r o h t sah — wo sollte sie E r s a t z f i n d e n f ü r den verlorenen H a l t der Seelen, wenn nicht in einer an die K r ä f t e u n d Antriebe des diesseitigen Lebens appellierenden E t h i k ! D a die h e r a u f k o m m e n d e Ära in einer n e u e n A u f f a s s u n g des M e n s c h e n u n d seines diesseitigen Lebens ihre eigentliche Seele h a t t e , so m u ß t e n ihr die ethischen Daseinsf r a g e n zu einem Anliegen v o n zentraler B e d e u t u n g werden. E b e n hier geschah es d a n n , d a ß den in u n g e w o h n t e r Freiheit sich Regenden eine n e u e A u t o r i t ä t a n Stelle der gestürzten sich d a r b o t u n d m i t Leidenschaft ergriffen w u r d e : die A n t i k e . D a h e r sehen wir in diesem Zeitalter der g ä h r e n d e n U n r u h e die verschiedensten L e h r m e i n u n g e n des A l t e r t u m s auf ethischem Gebiete ihre A u f e r s t e h u n g feiern. Keine w a r u n t e r ihnen, die so s t a r k die Geister angesprochen, so wirkungskräftige I m p u l s e den Seelen mitgeteilt h a t , wie diejenige der S t o a . Wie kein anderes ethisches S y s t e m b o t sie der Zeit dasjenige, was sie b r a u c h t e . Nicht n u r d a ß sie, hierin m i t anderen ethischen Systemen der Antike wetteifernd, d e r ganz auf sich selbst gestellten, aus d e m eigenen W e s e n s z e n t r u m ihr Leben gestaltenden P e r s ö n l i c h k e i t den festen Boden geben u n d die R i c h t u n g des Strebens weisen wollte — sie p f l a n z t e auch in den Menschen gerade diejenigen E i g e n s c h a f t e n ein, auf denen die nicht zu e r s c h ü t t e r n d e Sicherheit der inneren H a l t u n g , die Überlegenheit gegenü b e r allen Gewalten des äußeren u n d des inneren Schicksals b e r u h t . D a s Ideal der „ A u t a r k i e " des Weisen — diese Lehre gab i h m , so schien es, die vollkommenste E r f ü l l u n g . E t w a s v o n der R u h e u n d Sicherheit, die m a n im Schöße der Kirche u n d ihres Glaubens e m p f u n d e n h a t t e , schien aus dieser Lehre in die Seelen einzuströmen, u n d dies doch o h n e alles Zurückgreifen auf t r a n s z e n d e n t e Quellen des Trostes u n d der G n a d e n s p e n d u n g , rein aus d e n eigensten K r ä f t e n des eingeborenen Menschent u m s heraus. Aus der ausgebreiteten moralphilosophischen L i t e r a t u r j e n e r T a g e , die i m einzelnen zu erörtern nicht dieses Ortes ist, klingt u n s i m m e r wieder die stolze G e n u g t u u n g entgegen ü b e r die neue u n d sichere Stellung in den S t ü r m e n des Lebens, die der m ü n d i g gewordene Mensch n u n aus den ureigensten K r ä f t e n des Selbst h e r a u s e r r u n g e n h a t . Das Recht solchen Selbstbewußtseins mußte indessen fraglich erscheinen, wenn m a n die gedanklichen Grundlagen dieser Lebenshaltung auf ihren Sinn und ihre H e r k u n f t befragte. Den Mut zum eigenen Selbst, j a auch die Fähigkeit, es zu entdecken und auszusprechen, das Vertrauen, daß in ihm Sinn und Ziel des Lebens beschlossen sei — dies alles dankte m a n nicht weniger der antiken Verkündigung des Ideals der freien Persönlichkeit als der Durchforschung und Erprobung des eigenen Herzens. Und wiederum: was diese letztere zur Eroberung des neuen Lebensstandes beigetragen h a t t e — wie h a t t e es so wirksam und triebkräftig sein können, h a t t e nicht dies Herz das Erbteil des mittelalterlich-christlichen Seelenschicksals in sich getragen.

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DIE ERNEUERUNG

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Noch zitterten in den Seelen die Erschütterungen von Bußkampf und Gotteserlebnis nach, als die Botschaft von dem Selbstwert der Persönlichkeit Zugang suchte. Nicht umsonst hatte das religiöse Erlebnis den Blick immer mehr nach innen gelenkt, das Werden der Seele in einem der Antike verschlossenen Sinne mit schicksalsvoller Bedeutung erfüllt. Eine Menschheit, in deren Rücken das seelische Geschehen des Mittelalters lag, mochte immerhin mit ihrem bewußten Wollen die Rückkehr rar geistigen und ethischen Haltung der Antike erstreben — aus ihrem Sein war nicht mehr auszutilgen, was sie in SOndennot und Heilsgewißheit erfahren hatte. Und so war die Seele, die den Aufruf der antiken Ethik als an sich gerichtet empfand, eine ganz und gar andere als diejenige, der sie gleich zu werden strebte, gleich zu sein glaubte. Die alten Formeln füllte ein neuer Erlebnisgehalt.

Man braucht nur seinen Blick auf einen von denen zu richten, die an der Schwelle des neuen Zeitalters stehen, auf P e t r a r c a , u m zu erkennen, wie seltsam der neue Mensch gerade in seiner ethischen Haltung die Mächte der Vergangenheit zusammenführt und gegeneinanderstellt, wie zwiespaltreich die Einheit ist, die er in seinem neuen Menschentum darzustellen sich befleißigt. Schon bei ihm zeigt sich, was v o n der ganzen Gefolgschaft stoischer E t h i k gilt: d e r Stoa, von der man sich den neuen Lebenssinn verkünden ließ, hatte die in das mittelalterliche Denksystem vielfältig eingewachsene Stoa unvermerkt die Wege gebahnt. Die Begriffswelt, die den neuen Lebensdrang in sich aufnehmen sollte — man denke etwa an den bedeutungsreichen Begriff der „ N a t u r " — war durch das Mittelalter bereits mit einem Sinn erfüllt worden, den ihre Neubelebung auch durch den R ü c k g a n g auf den antiken Ursprung nicht einfach austilgen konnte. I m Zeichen dieser Yerschränkungen stand die ganze werdende E t h i k der Neuzeit. I m Zusammenhange der gleichen E n t w i c k l u n g treten alsbald auch die neuen Q u e l l e n e t h i s c h e r E i n s i c h t hervor, die man aufsucht, n a c h d e m die transzendenten Herleitungen hinfällig geworden sind. W e n n wir oben sahen, daß gerade die Verankerung in der Überwirklichkeit des „ J e n s e i t s " die sicherste Gewähr für die O b j e k t i v i t ä t der sittlichen Forderung bildet, so ist ohne weiteres verständlich, in welche entscheidende Krisis die ethische Gedankenwelt, rein ihrer ideellen S t r u k t u r und Verbindlichkeit nach, durch den Zerfall dieses ihres F u n d a m e n t e s hineingezogen wird. Es geht um nichts geringeres als u m die Frage, ob an die Stelle der verlorenen eine F o r m der Begründung treten wird, die der sittlichen Norm die gleiche Unangreifbarkeit sichert, die das S u b j e k t ebenso wirksam an eine überlegene Ordnung bindet. Die Frage gewinnt dadurch ihr neues Gesicht, daß die neue Quelle für die ethische Normierung des Subjektes — i m S u b j e k t gesucht wird. A u c h in dieser Bindung wirken eigene Lebenstendenzen mit den Anregungen des Altertums zusammen. Die Ethik der autarken Persönlichkeit zu begründen oder zu erneuern war nicht möglich ohne einen Einblick in das Wesen derjenigen Wirklichkeit, aus der diese Persönlichkeit herauszugestalten war: das Wesen des M e n s c h e n , seine Möglichkeiten, seine Antriebe, die Formen seiner seelischen Bewegung. So hatte denn schon die antike Ethik und ganz besonders die E t h i k der für das Zeitalter so maßgebenden Stoa in einem eingehenden Studium der seelischen Wirklichkeit die Grundlage für die Normierung des persön-

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liehen Lebens gesucht. Das Mittelalter seinerseits hatte, wie bemerkt, die Kontinuität dieser Überlieferung nicht abreißen lassen, weil ihm, freilich in einem ganz anderen und nenen Sinne, das Innenschicksal des Menschen En einem Gegenstand von zentraler Wichtigkeit werden mußte. Nnmnehr, als der transzendente Hintergrand dieses Seelenstudinms verblaßte, konzentrierte sich von nenem die Teilnahme ganz and gar auf das Drama der Seele, das nunmehr nicht als Reflex eines transzendenten Herganges, sondern rein n m s e i n e r s e l b s t w i l l e n , im Hinblick auf eine ethische Gestaltung dieser Innenwelt, erforscht und analysiert wnrde. Wie sehr der Mensch selbst zum Gegenstand eines leidenschaftlichen Interesses wurde, das bezeugt die Fülle der moralphilosophischen Traktate, die den Gehalt der antiken Seelenerforschung der Zergliederung des eigenen Ich dienstbar zu machen und zugleich den Zeitgenossen zuzuführen wetteifernd bemfiht waren.

Und nun war es, als ob die Entwicklang des Geistes gleich an der Schwelle dieses Zeitalters wie die Möglichkeiten so auch die Gefahren dieser Wendung zum Ich recht deutlich ans Licht bringen wollte — Gefahren, die in erster Linie gerade die Region des Ethischen bedrohten. Solange sich die Seele selbst erforschte in frommer Scheu und Ehrfurcht vor dem Übersinnlichen, in gläubiger Hingabe an einen Zusammenhang höheren Lebens, der über das beschränkte, der Erlösung bedürftige Ich weit hinausreichte, solange war der Versuchung gewehrt, daß aus der Selbstbetrachtung selbstherrliche Überheblichkeit wurde. Glaubte sich aber die Seele, abgelöst von solchen transpersonalen Bindungen, ganz der eigenen Führung überlassen und nur dem eigenen Genius verpflichtet, so konnte nur allzu leicht die Einkehr in das Ich in Selbstverliebtheit, Selbst Vergötterung umschlagen. Und in der Tat führt uns bekanntlich die Renaissance, angefangen mit dem sein Ich so unmittelalterlich zur Schau stellenden P e t r a r c a , eine Reihe von Persönlichkeiten vor Augen, die nicht etwa nur in der Lebenspraxis die Souveränität des losgesprochenen Subjekts zum Wahlspruch nehmen, sondern auch mit dem ästhetisch-litterarischen Kultus des Ich in der unbedenklichsten Form den Anfang machen. Welch wirksamen Rückhalt die mittelalterliche Weltansicht dem sittlichen Gedanken geboten hatte, dafür zeugt nichts so nachhaltig wie die Tatsache, daß der Zerfall dieser Weltansicht vielfach den Umschlag in einen schrankenlosen ethischen Subjektivismus, ja Libertinismus zur unmittelbaren Folge hatte. Nicht als ob a l l e die, die damals im Menschen selbst die Prinzipien der Lebensführung aufsuchten, gleich das Ganze seiner vorgefundenen Anlagen, Möglichkeiten und Wollungen wahllos kanonisiert hätte. Im Gegenteil: die fortwirkende Gewöhnung an ein dem Einzelwesen überlegenes Normsystem zeigt sich allerorts in dem redlichen Bemühen, die Grundsätze des sittlichen Lebens zwar im Herzen des Menschen, nicht aber als ein auf den einzelnen Menschen Beschränktes und jeder höheren Sanktion Ermangelndes aufzufinden. Eine höhere Instanz soll auch jetzt über dem vereinzelten Menschendasein walten. Und auch hier lagen in der antiken Ethik, wiederum ganz besonders in derjenigen der Stoa, die Gedanken bereit, die es möglich machten, den Ergebnissen der Seelenanalyse die Gewichtigkeit einer überlegenen Norm zu verleihen. Es war der stoische Zentralbegriff der „ N a t u r " , der, wie er schon im mittelalterlichen Denksystem als Prinzip sinnvoller Vereinheitlichung gedient hatte, nun in einem veränderten, antiker Bedeutung sich wiederum annähernden Sinne die Einordnung der

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Menschenseele in einen weiteren Zusammenhang möglich machte. In ihrer Reflexion über die Seele glaubte die Stoa allerdings zunächst einmal die Natur des M e n s c h e n , mit and in ihr zugleich die Möglichkeiten ihrer sittlichen Organisation, zu ergründen; aber diese Natur bedeutete ihr von vornherein weit mehr als das Lebensprinzip dieses Einzelwesens oder auch dieser Gattung: sie war ihr der Teilausdruck einer Daseinsordnung, die schlechthin das G a n z e d e r W i r k l i c h k e i t umfaßte, Offenbarung jenes „Logos", der, das Universum in der ganzen Ausdehnung seines Lebensprozesses durchwirkend und beseelend, in der Vernunft des Menschen sich zum BewuStsein seiner selbst und damit zur höchsten Gestalt seines Wirkens durcharbeitet. Die Stimme des eigenen Herzens recht verstehen bedeutete also nicht Geringeres als der Weltvernunft im Ich GehOr geben. Wir übergehen hier einstweilen die Schwierigkeiten und Widersprüche, in die sich diese Theorie von Anbeginn an verwickelt gefunden hatte — Schwierigkeiten, die sich in der ethischen Theorie der Neuzeit immer von neuem zur Geltung bringen sollten — und stellen nur dies eine fest: mit dieser Einbettung der menschlichen Seele in einen weltumspannenden Lebensprozeß war wenigstens grundsätzlich die Thronerhebung des einzelnen Subjekts, seiner Willkür und Partikularität, mit ihren für die Sittlichkeit so bedrohlichen Wirkungen vermieden; in ihr lag die Möglichkeit, ja die Forderung eingeschlossen, in dem vielspältigen und vielschichtigen Aufbau der menschlichen Existenz diejenigen Züge zu finden, in denen ihr Teilhaben an dem Zusammenhang und Zusammenklang alles Seins sich äußert. Der Inbegriff dieser Züge ergab dann eben zugleich den Hinweis auf die N o r m e n , nach denen das Menschenwesen seinen Zusammenhang mit dem Kosmos zu regeln hatte; seine „Natur", verstanden als der Umkreis der den Einzelnen mit dem Kosmos verbindenden Erlebnisse, Impulse und Einsichten, wird damit zugleich zum Kanon einer wahrhaft sittlichen Lebensgestaltung. So glaubte man ein System von Normen gewonnen zu haben, nicht von einer tiberweit her über den Menschen verhängt und durch übernatürliche Offenbarung ihm zur Kenntnis gegeben, sondern mit dem innersten Kern der Menschennatur schlechthin eins und deshalb auch für die menschliche Vernunft mit einer unmittelbar einleuchtenden Evidenz ausgestattet — dabei doch auch ein Normsystem, das kraft seiner das Universum umspannenden Weite dem Einzelwesen mit derselben Majestät und Allgültigkeit gegenüber zu stehen schien, wie nur irgendeine im Transzendenten gegründete Lebensordnung. Es sei nicht versäumt, daran zu erinnern, daß bereits die scholastische Ethik in der Gestalt, die ihr T h o m a s v o n A q u i n o gab — und zwar auch sie in Fortbildung stoischer Gedanken — der Annahme einer „natürlichen" Erkenntnis des Sittlichen Raum gegeben und damit ungewollt bereits ihrer Ablösung von transzendenten Begründungen vorgearbeitet hatte. Fr. P e t r a r c a , De contemptu mundi 1342; De vita solitaria 1346; De remedio utriusque fortunae.

2. MONTAIGNE. Die Ethik der Renaissance und des Humanismus hat, soweit in ihr das Bedürfnis nach einer Neubegründung des sittlichen Lebens lebendig war, die im stoischen Naturbegriff gipfelnden Reflexionen vielfach variiert — nicht selten in eigentümlicher Verbindung mit jenem ästhetischen Selbstgenuß der individuellen Persönlichkeit. In der zweifellos reizvollsten und literarisch anmutigsten Form verkörpert der Franzose M o n t a i g n e das Zusammenwirken dieser Grundmotive. Im ersten Augenblick möchte man sich versucht fühlen, diesen wandlungsreichen, niemals sich selbst und die Welt ganz ernst nehmenden, niemals sich selbst endgültig festlegenden Skeptiker aus einer Geschichte des ethi-

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sehen D e n k e n s zu v e r b a n n e n . W a s i h m t r o t z alles Spielens m i t sich selbst u n d d e m L e b e n den A n s p r u c h gibt, auch in diesen Z u s a m m e n h a n g eingereiht zu werden, das ist der h i n t e r dem f l i m m e r n d e n Spiel seiner Einfälle f a s t verschwindende H i n t e r g r u n d einer Lebensansicht, der die Satze der Stoa Festigkeit u n d t r o t z allem ein gewisses Schwergewicht verleihen. W e n n er es a b l e h n t , sich m i t den D i n g e n dieser Welt allzu tief einzulassen, wenn er Familie, Gesellschaft, S t a a t zwar keineswegs v e r n e i n t , wohl aber a n der Peripherie seines Lebens h ä l t , so spricht d a r a u s nicht Schwäche oder Leichtsinn des V e r a n t w o r t u n g s l o s e n , sondern die Sorge u m das, was i h m höchste V e r a n t w o r t u n g b e d e u t e t : u m den B u r g f r i e d e n , die innere U n a b h ä n g i g k e i t des Selbst, die er u n weigerlich verloren g l a u b t , w e n n der Mensch sich vorbehaltlos m i t einem a u ß e r h a l b seiner Liegenden solidarisch e r k l ä r t . Diese W e r t u n g des persönlichen Lebens h e b t auch die unbefangen-offenherzige E n t hüllung seines beweglichen I c h , die auch alle rein sachlichen Darlegungen gleichsam in sich auflöst, ü b e r das N i v e a u bloßer Gefallsucht h i n a u s : es ist die „forme maîtresse" seiner individuellen E x i s t e n z , das Lebensprinzip dieses einmaligen u n d einzigartigen Daseins, v o n d e m er sich wie d e m Leser R e c h e n s c h a f t gibt. U n d dieses S t u d i u m seiner selbst wiederum — es r e c h t f e r t i g t sich in der T a t s a c h e , d a ß n u r d u r c h eine solche einwärts gekehrte A u f m e r k s a m k e i t der Mensch es d a h i n bringen k a n n , aus der Mannigfaltigkeit v o n R e g u n g e n u n d A n t r i e b e n , die in b u n t e m Wechsel d u r c h seine Seele gehen, die m a h n e n d e S t i m m e der N a t u r h e r a u s z u h ö r e n oder, was dasselbe b e d e u t e t , die zur L e i t u n g berufene I n s t a n z i m Spiel des inneren Geschehens, d a s ^ye/iovix6v der stoischen E t h i k , zur H e r r s c h a f t zu bringen. Die E r k e n n t n i s des Selbst bereitet die O r d n u n g des Selbst vor, die n u r durch die O b e r h e r r s c h a f t jenes zentralen Prinzips möglich wird. Ausführlich b e r i c h t e t u n s Montaigne, wie sein Selbst das Spiel der A f f e k t e auf G r u n d v e r n ü n f t i g e r Überlegung regelt, dieses Motiv v e r s t ä r k t , jenes d ä m p f t oder auslöscht, auf d a ß das Gleichgewicht der inneren E x i s t e n z vor E r s c h ü t t e r u n g e n bew a h r t bleibe. Ziel u n d I n h a l t des sittlichen Lebens, zugleich Quelle jedes w a h r h a f t e n Glückes ist f ü r i h n geradezu diese b e w u ß t e L e n k u n g u n d Disziplinierung des inneren Triebwerkes. E i n e f ü r die E n t w i c k l u n g der E t h i k grundlegende E i n s i c h t t r i t t hier aus d e m G r u n d e dieser d u r c h a u s u n m e t h o d i s c h e n S e l b s t b e t r a c h t u n g h e r v o r : sittliche L e b e n s g e s t a l t u n g h a t zur V o r a u s s e t z u n g das eigentümliche Vermögen des I c h , sich gleichsam ü b e r sich selbst zu erheben, den Gesamtgehalt seines Erlebens zum O b j e k t p r ü f e n d e r Ü b e r schau u n d regelnden Eingreifens zu m a c h e n . E s ist der T a t b e s t a n d der „ R e f l e x i o n " , des „ S e l b s t b e w u ß t s e i n s " i m p r ä g n a n t e n Sinne, dessen B e d e u t u n g f ü r die E t h i k hier a u f l e u c h t e t . E s ist die S t r u k t u r d e s I c h - E r l e b n i s s e s , die einem f ü h r e n d e n Denker dieses Zeitalters i m Suchen n a c h einer A u s r i c h t u n g des freigelassenen Eigenlebens z u m Be-

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wnßtsein kommt. Die Einsichten, die sich in den hiermit angedeuteten systematischen Zusammenhang einordnen, geben dem glitzernden Farbenspiel von Montaignes Einfällen eine zunächst schwer bemerkbare Bedeutung. J a , der prinzipielle Gehalt der Essays ist mit dem Ausgeführten nicht erschöpft. Die Analyse des Ich bildet, wie bereits bemerkt, das Glied eines weitergreifenden Zusammenhanges: jene fahrende Seelenkraft, auf die die Selbstanalyse stößt, ist weit mehr als ein in das konkrete Ich gleichsam eingelagertes höheres Selbst; in ihr offenbart sich die Lebensmacht, die, ein weltumspannendes ^ytpovtxdv, wie dies eine beschränkte Ich so das All in geordnetem Gange erhält. Die Reflexion auf das Selbst ist also der Weg zum Logos der Welt; die „ N a t u r " des Menschen ist Manifestation der Weltvernunft, eben deshalb das Belauschen und Befolgen ihrer Weisungen zugleich willige Einfügung in das Ganze des geordneten Lebens. Wenn dieser Gedanke der Selbstbetrachtung der Person erst ihren tiefsten Sinn verleiht, so bringt er andererseits Verwicklangen mit sich, Ober deren Tragweite sich freilich die sprunghafte Betrachtungsweise eines Montaigne nicht von ferne klar werden konnte — Verwicklungen, die hier gleich klargestellt werden mOgen, weil anch sie der Ethik auf Jahrhunderte hinaus, ja in gewissem Sinne bis zum heutigen Tage zu schaffen gemacht haben. Das Labyrinth der Seele zu durchforschen hatte diese ganze Generation von Denkern sich nicht zum wenigsten deshalb entschlossen, weil sie hier zu finden hoffte, was die religiöse Metaphysik des kirchlichen Lehrgebäudes flberflflssig machte. Glaubte man sich doch hier auf dem Boden einer E r f a h r u n g , die an Verläßlichkeit alle erdenklichen Aussagen Ober Wesen und Zusammenhang des Seienden hinter sich ließ und vor der vollends alle Sitze einer nicht nachprüfbaren Offenbarung zur phantastischen Illusion werden maßten. Montaigne, ebenso wie sein mit größerer systematischer Gründlichkeit, mit geringerer Anmut den gleichen Gedanken verfolgender Freund C h a r r o n , werden nicht mflde, alle Argumente, die nur dem Arsenal der antiken Skepsis entnommen werden konnten, wider die Glaubwfirdigkeit oder gar Beweisbarkeit jener religiösen Metaphysik ins Feld zu fahren. Nun aber beschr&nkt sich diese Skepsis keineswegs auf die in religiöser Form niedergelegte Metaphysik; sie erstreckt sich auf schlechthin alle die Lehren, die, die Unmittelbarkeit der Erfahrung aberschreitend, durch metaphysische Behauptungen das Wirkliche zu erklären beanspruchen. Und diese universale Skepsis entsprang wiederum keineswegs dem Bedürfnis nach restloser Losbindung des Subjektes: sie glaubte gerade der Ethik den besten Dienst zu erweisen. Solange die Ethik — dies war bei diesen Skeptikern, wie bei manchem ihrer Nachfahren, die Überzeugung — noch irgendwie mit metaphysischen Setzungen solidarisch war, mußte sie auch an all der Unsicherheit und Angreifbarkeit teil haben, die jegliche metaphysische These charakterisiert; war hingegen der ganze metaphysische Spuk gebannt, so war die Ethik von einem höchst fragwürdigen Bundesgenossen befreit und auf den Boden gestellt, der sie zu tragen vermochte: auf den Boden der unmittelbarsten menschlichen Erfahrung! Und doch kann es sorgfältiger Prüfung nicht entgehen, daß Montaigne und Charron hier einer Täuschung zum Opfer fielen, die seitdem noch viele genarrt hat. Mochte es allenfalls angehen, jene innere Schichtung und Überhöhung des Ich als Faktum der inneren Erfahrung hinzustellen — wo lag die Erfahrungsgrundlage für die Behauptung, daß jenes höhere Ich als solches zugleich der Träger und Vollstrecker der in ethischem Sinne positiv zu bewertenden Lebenstendenzen der Persönlichkeit sei? Was gab der Moralphilosophie das Recht, aus dem Gesamtbefund der empirischen Persönlichkeit

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einen Komplex zweckvoller Anlagen herauszulösen und zu einem ihr gewissermaßen eingelagerten Prinzip der ethischen Selbstregulierung zu verselbständigen — nnd welche Erfahrung stützte vollends die Behauptung, dieses Prinzip sei Ausfluß der das All bewegenden göttlichen Vernunft-Natur, der „raison universelle"? Kein Zweifel, daß diese skeptischen Anzweifler aller Metaphysik aus der an ihre Stelle zu setzenden inneren Erfahrung eine Metaphysik herausspannen, die an Kühnheit nicht im geringsten hinter derjenigen des mittelalterlichen Glaubenssystems zurückstand. Denn diese Lehre ist darum nicht weniger Metaphysik, weil sie, auf ein Hinübergreifen in transzendente Sphiren verzichtend, das Weltwesen im Herzen der Dinge und zumal des Menschen selbst zu entdecken meint. Hat sie doch mit der Metaphysik des Transzendenten denjenigen Zug gemeinsam, der sie am unzweideutigsten als Metaphysik kenntlich macht: die Einlagerung des W e r t e s in das S e i n , die Deutung des Seins aus einem ihm eingelegten Wertzentrum heraus oder, anders gesagt, die Gleichsetzung eines als Wert Anerkannten mit der bewegenden Zentralkraft des Seienden. Die Idee der „Natur", die die transzendente Idee des Göttlichen zu verdrängen bestimmt ist — sie läßt hier wie bei ihren antiken Verkündern, hier wie bei ihren späteren Jüngern Seiendes und Seinsollendes mit einer Innigkeit sich durchdringen, die ihr den Charakter eines Erfahrungsbegriffes unweigerlich entzieht. Nicht umsonst glaubt man in der bewundernden Hingabe an diese Natur etwas von der Inbrunst zu verspüren, mit der die Seele des Gläubigen sich zur göttlichen Überwirklichkeit emporschwingt. Nicht empirische Beobachtung, sondern sinngebende Deutung der Welt nnd zumal des Menschen gibt diesem Begriff seinen Inhalt und zugleich seine Macht über die Seelen. Hatten die Genannten Recht, jede an metaphysische Voraussetzungen gebundene Ethik als auf Sand gebaut abzulehnen, so wurde ihre eigene wie jede auf diesem Naturbegriff basierte Ethik von diesen Bedenken mit getroffen. M. d e M o n t a i g n e , Essais 1582—1588.

P. C h a r r o n , De la sagesse 1601.

3. BACON. Wenn es eines Beweises dafür bedarf, daß hier die in der sittlichen Entwicklung des Menschen angeblich sich auswirkende „Natur" nicht auf Grund einer vorurteilsfreien Beobachtung des inneren Lebens, sondern nach Maßgabe bestimmter Wertkriterien bestimmt ist, so kann ein Blick auf einen englischen Zeitgenossen der behandelten Denker ihn geben: es ist B a con. Er zeigt uns, wie in seinem ganzen Denken, so auch in seinen ethischen Reflexionen den Geist der Renaissance übertragen in die Welt des englischen Lebens und gemäß diesem neuen Medium abgewandelt. Gerade weil er die begrifflichen Grundlagen weithin mit den französischen Denkern teilt, tritt die innere Umstimmung der leitenden Idee um so charakteristischer zutage. Auch Bacon zieht einen scharfen Grenzstrich zwischen ethischen Wahrheiten und religiösen Glaubenssätzen; auch er glaubt jene Wahrheiten in den Grundrichtungen der eingeborenen menschlichen Natur vorgezeichnet und erblickt demgemäß in dem Studium des Ich die Quelle aller sittlichen Einsicht. Aber während reine Beobachtung der menschlichen Natur, vorurteilsfrei geübt, ihn und die behandelten Denker einen im wesentlichen identischen Befund müßte entdecken lassen, weicht in Wahrheit die Natur, die seine Innenschau ihm bloßlegt, in entscheidenden Zügen von derjenigen ab, die jene anderen gefunden zu haben meinten. Einmal ver-

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gröbert sich die auf das Z e n t r u m des Selbst gerichtete Tendenz des seelischen Lebens, in der dort die eigentliche L e i t k r a f t des seelischen Prozesses gefunden w u r d e , hier zu dem Trieb rein egoistischer Selbsterhaltung und zu einem sehr äußerlich verstandenen Nützlichkeitsstreben; andererseits aber tritt dieser zentripetalen B e w e g u n g als Gegenkraft eine nach außen, d. h. auf den M i t m e n s c h e n , genauer auf das nicht minder äußerlich gefaßte „ W o h l " der Gemeinschaft zielende R i c h t u n g des Wollens gegenüber. Die menschliche N a t u r gebietet nicht weniger als die F ö r d e r u n g des I c h auch die Fürsorge für das soziale Gemeinwesen; j a , diese letztere gilt B a c o n als die an W e r t der anderen noch überlegene F o r m der sittlichen Lebenshaltung.

Es ist kein Zweifel, d a ß B a c o n m i t dieser Hervorhebung der sozialen Affekte eine Seite des menschlichen Lebens von neuem zur Geltung gebracht hat, deren Bedeutung für die sittliche Sphäre schon daraus erhellt, d a ß immer wieder die ethische Reflexion Neigung gezeigt hat, in ihr alle Problematik des sittlichen Lebens beschlossen zu glauben. Wenn manche Moralisten der Renaissance, wie z.- B. M o n t a i g n e , diese Probleme an den R a n d des sittlichen Problemkreises verschoben oder gar aus ihm entfernt hatten, so war das eine aus der Seelenlage der Zeit erklärliche Übersteigerung eines Strebens, dem zunächst das Kunstwerk der Einzelpersönlichkeit mehr als alles 20 andere am Herzen lag. So vorherrschend war dies Streben, daß es sogar innerhalb jener Metaphysik, in der seine Lebensdeutung wurzelte, gewisse überaus naheliegende Folgerungen, die den sozialen Beziehungen ein beträchtliches Gewicht gegeben hätten, nicht zur Entwicklung kommen ließ. W e r der Überzeugung war, daß die Verbundenheit mit dem Universum des Lebens der „ N a t u r " des Menschen ihre sittlichen Richtkräfte verlieh, der m u ß t e doch diesen überindividuellen Zusammenhang zunächst einmal in denjenigen Lebensverknüpfungen aufsuchen, in denen der Mensch am unmittelbarsten und fraglosesten seiner Eingliederung in übergreifende Totalitäten inne wird: in den Verknüpfungen der m e n s c h l i c h - s o z i a l e n Sphäre. Die Lebenseinheit der Gemeinschaft bietet sich so sinngemäß als erste Stufe dar in der Erhebung der 30 Seele zur allumfassenden Einheit des Wirklichen. I n der T a t h a t t e denn auch die Schöpferin dieses Gedankenkreises, die S t o a , mehr als einmal in der Vernunfteinheit der menschlichen Gemeinschaft die sinnfällige Darstellung und Krönung der kosmischen Totalität verherrlicht und aus ihr einen Komplex von sittlichen Forderungen hergeleitet. Und die mittelalterlich-kirchliche Weltansicht h a t t e gerade in der Deutung und Normierung der menschlich-sozialen Sphäre umfangreiche Anleihen bei diesem Teil der stoischen Ethik gemacht. Bei einem M o n t a i g n e , der hierin das Lebensprinzip vieler Renaissance-Naturen verkörpert, ist von d i e s e r Konkretisierung der „natürlichen" Metaphysik nichts zu spüren: er sieht nur die beiden äußersten Glieder der Reihe, die Persönlichkeit des selbstgenugsamen Weisen und die ihn nährende und 40 führende Allmutter N a t u r ; die menschlichen Zusammenschlüsse, denen zwischen beiden ein Platz gebührte, werden nicht als Zwischenstufen, sondern als ablenkende Hindernisse der Einung mit dem Alleben gewertet, folglich auch die aus ihnen entspringenden Verbindlichkeiten soweit wie möglich abgeschwächt. Hier h a t zweifellos B a c o n gewisse Züge der stoischen E t h i k zu Ehren gebracht, in denen unaustilgbare Erfahrungen des sittlichen Lebens niedergelegt sind: die Beziehungen, die den Menschen m i t dem Menschen verknüpfen, können nur vorübergehend in ihrer sittlichen Bedeutung unterschätzt werden. Natürlich bedeutet die Feststellung als solche noch recht wenig: denn nicht o b die E t h i k überhaupt an diesem Lebensbereich interessiert ist, sondern i n w e l c h e r F o r m ihm die Sittlichkeit, sei 50 es nach ihrer Entstehung, sei es nach ihrer Bestimmung verpflichtet ist — das ist die Kernfrage, die hier sichtbar wird. I n dieser Hinsicht bedeuten die primitiven Auf-

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stelinngen B a c o n s k a u m mehr als das Auffrischen einer verblaßten Fragestellung. Recht und Notwendigkeit dieser Erneuerung zeigt sich dann freilich in der Nachhaltigkeit, mit der gerade die englische Moralphilosophie in der bei Bacon angezeigten S i c h tung weitergedacht h a t . Gerade m i t der Vielheit der Antworten, die eine Ethik der „natürlichen" Sozialaffekte offen läßt, wird von neuem dasjenige deutlich, was schon die Gegenüberstellung B a c o n s und der französischen Skeptiker lehren sollte: wie sehr die E t h i k des „ n a t ü r lichen" Menschen irrt, wenn sie aus einer unbefangenen Beobachtung des inneren Menschen die Richtpunkte des Lebens m i t eindeutiger Bestimmtheit meint gewinnen zu kOnnen. W e n n der Begriff der N a t u r sich als Gefäß f ü r einen so mannigfaltigen Inhalt tauglich erweist, so geht daraus hervor, d a ß wir in ihm nicht die nachträgliche Zusammenfassung ermittelter Tatbestände, sondern eine aus Wertimpulsen geborene und nach glaubensmäßiger Konkretisierung verlangende I d e e vor uns haben, eine Idee, die ihrerseits die Phänomene des sittlichen Lebens auf metaphysische Lebensgründe zurückfahrt. Fr. B a c o n , De dignitate et augmentis scientiarum 1623.

4. M A C H I A V E L L I . D a s Übergreifen der ethischen Reflexion auf das Gebiet der sozialen P h ä n o m e n e b r a c h t e nicht z u m wenigsten deshalb neue F r a g e n m i t sich, weil es vor j e d e m Versuch einer inhaltlichen N o r m i e r u n g dieser S p h ä r e schon zweifelhaft sein m u ß t e , wie weit d e n n ü b e r h a u p t die solcher N o r m i e r u n g b e d ü r f t i g e n sozialen Z u s a m m e n h ä n g e sich ers t r e c k t e n . Bacons sehr allgemeine F a s s u n g des Problems zielte i m G r u n d e auf den Umkreis r e i n p e r s ö n l i c h e r , d. h . den Menschen u n m i t t e l b a r m i t d e m Menschen v e r k n ü p f e n d e r I m p u l s e der H i l f s b e r e i t s c h a f t u n d des Wohlwollens. Aber es w u r d e schon oben a u s g e f ü h r t , weshalb die ethische Reflexion v o n dieser Stelle aus weitergezogen werden m u ß t e . Abermals h a b e n wir hier das F o r t - u n d Z u s a m m e n w i r k e n a n t i k e r u n d mittelalterlicher Gewöhnungen des Denkens u n d W e r t e n s festzustellen. W e n n die A n t i k e in gewissen Zeiten u n d Menschen das Sittliche gerade auf d e m Gebiete des Sozialen gesucht h a t t e , so f a n d sie d e n höchsten u n d gesammelten A u s d r u c k dieser V e r p f l i c h t u n g in d e m organisatorisch zusammengeschlossenen Leben der G e m e i n s c h a f t , zuhöchst also in d e m Lebensgebilde des S t a a t e s . U n d ebenso h a t t e d a s m i t t e l a l t e r l i c h e D e n k e n auf seiner Höhe eben diesem S t a a t e eine, n a t ü r l i c h aus d e m religiösen Prinzip abgeleitete, F u n k t i o n i m E r d e n leben angewiesen, die ihn zu einem der wesentlichsten Träger u n d Verwirklicher diesseitiger Sittlichkeit erhob. W e n n n u n m e h r die Neuzeit wie in ihrer politischen P r a x i s so auch in der theoretischen B e t r a c h t u n g d e m S t a a t die höhere Weihe, die i h n als Z u c h t a n s t a l t u n d Vorschule des himmlischen Reiches v e r k l ä r t e , entzog, so war d a m i t die g r u n d s ä t z liche F r a g e gestellt, ob diese W e r t e n t l e e r u n g auch d e n aus d e m religiösen Prinzip hergeleiteten s i t t l i c h e n Gehalt der staatlichen Wirklichkeit m i t betreffen m u ß t e , ob m i t h i n eine etwaige sittliche N o r m i e r u n g des sozialen Lebens a n der Grenze der staatlichen Wirklichkeit H a l t zu

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machen hatte, oder ob umgekehrt v o n einer neubegründeten Sittlichkeit des menschlichen Gemeinschaftslebens her auch dem staatlichen Zusammenhange ein neuer ethischer Inhalt zuströmte. Die Renaissance hat denselben Radikalismus, den sie nicht selten in der Freisetzung der autonomen Persönlichkeit entwickelte, auch in der Behandlung dieses „sozialen" Problems nicht gescheut. Die fortwirkende K r a f t ihrer Anregungen beruht nicht zum wenigsten auf der Entschlossenheit, mit der sie der These der mittelalterlichen Weltansicht die Antithese einer genau entgegengesetzten Wertbestimmung gegenüberstellte. F ü r das uns hier beschäftigende Problem war es die geistige Sendung v o n M a c h i a v e l l i , durch den schonungslosen Umsturz der überlieferten Staatsauffassung der politischen Theorie den neuen Antrieb zu geben, den die politische Praxis bereits in Gestalt eines neuartigen Stils des politischen Handelns empfangen hatte. Als ein Denker v o n anstachelnder und aufreizender Rücksichtslosigkeit hat der Mann, der scheinbar den S t a a t wie kein anderer zu entsittlichen keine Bedenken t r u g , den wohlgegründeten Anspruch auf einen Platz in der Geschichte des ethischen Denkens. A u c h die Sphäre der Politik m u ß t e im Interesse ihrer autonomen Selbstbegründung zunächst einmal gleichsam bis auf den Grund herausgerissen werden aus allen Verflechtungen mit außerpolitischen Wertbereichen, ehe die so emanzipierte sich mit diesen u n d insbesondere mit der ethischen Region in das rechte Verhältnis setzen konnte. D e r Radikalismus der Entscheidung, die Machiavellis politische Theorie vertritt, liegt darin, daß er nicht etwa die Sphäre des politischen Handelns äußerlich v o n einer Sphäre des Sittlichen und Religiösen in einer F o r m scheidet, die diese in ihrem Bestand unangetastet ließe, vielmehr wiederholt die letztere in eine Stellung zum politischen Wirkensbereich rückt, in der ihr eigentümlicher Sinn- und Wertgehalt völlig verloren zu gehen droht. Der Politiker soll und darf nicht etwa die seelischen Mächte, Antriebe, Forderungen, die erlebt werden als bezogen a u f die Werte der Sittlichkeit und Religion, als außerhalb seines Interessenkreises liegend ignorieren; im Gegenteil, als mächtigen Motoren der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit gebührt ihnen ein bevorzugter Platz in dem Ganzen seines politischen K a l k ü l s , in der Berechnung des Kräftespieles, das zu meistern der Beruf seiner politischen K u n s t ist. Ja, er wird unter Umständen es sich angelegen sein lassen, diese Überzeugungen und Erregungen der Seele planvoll hervorzurufen, sofern er sich nämlich v o n ihnen die K r a f t w i r k u n g e n versprechen kann, deren er im Zusammenhange der politischen A k t i o n bedarf. Man erkennt: v o n einer solchen Schätzung dieser Lebensmächte ist nur noch ein Schritt bis zu der Auffassung, daß ihr Sinn und Gehalt sich geradezu erschöpfe in der Leistung, die sie zur Bewegung der politischen K r ä f t e , zur Gründung, Erhaltung und Mehrung der Staaten beisteuern, und daß

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demgemäß auch ihr Ursprung lediglich in Interessen und Veranstaltungen dieser Art zu suchen sei. Wo diese Folgerung gezogen war, die Machiavelli jedenfalls nicht mit voller Klarheit ausgesprochen hat, da war den Erlebnissen, in denen dem Menschenherzen eine der politischen Sphäre überlegene Wertwelt aufzugehen scheint, die Begründung in einer ideell legitimierten Sinnsphäre geradehin abgestritten; ihr Gehalt verflüchtigt sich zu einer Scheinhaftigkeit, hinter der als einzige Realität der diese Vorspiegelung hervorrufende und ausnutzende politische Wille übrig bleibt. Und es waren das Folgerungen, die sich jedenfalls mit Machiavells höchst pessimistischem Urteil über die Qualität der 10 das Leben der Menschen durchgängig regierenden Triebkräfte aufs beste vertrugen. B e t r a c h t e n wir die hier skizzierten Grundgedanken, die Machiavellis politische Theorie teils beherrschten, teils wenigstens in ihrem Hintergrund lauerten, so t r i t t die U m k e h r u n g deutlich zu Tage, die das mittelalterliche Wertsystem in der eisigen Kälte dieses politischen Raisonnements e r f ä h r t . Begründete vordem der S t a a t seine Rechtstitel u n d seine Mission i m irdischen Leben aus dem Auftrage, den eine höhere Macht als einzige Quelle u n d H ü t e r i n des religiös-sittlichen Lebenssinnes i h m erteilt h a t t e , so wird hier umgekehrt die Welt der religiOs-sittlichen Motive nach Ursprung, Sinn und Bestimmung hergeleitet aus der primären Kraftquelle des staatengründenden Menschenwillens; Ursprüngliches u n d Abgeleitetes, Sinngebendes und Sinnempfangendes haben ihre Plätze getauscht. Mit R e c h t h a t m a n darauf hingewiesen, daß n u r ein neuer Heide, wie Machiavelli es gewesen ist, die Skrupellosigkeit aufbringen konnte, deren es zu einem solchen U m s t u r z der W e r t e b e d u r f t e . Man m u ß fragen, ob und inwieweit die U r k r a f t selbst, die in der Lebensbetrachtung eines Machiavelli als Vehikel des menschlichen Daseins übrigbleibt, ob der von ihm verherrlichte staatliche Machtwille irgendwelche Züge a u f w e b t , denen wenigstens eine gewisse ethische Tönung zuzusprechen ist. Zweifellos h a t m a n m i t Recht ihren K e r n in einer D y n a m i k der K r a f t e n t f a l t u n g u n d Selbstdurchsetzung gefunden, die sich k a u m von der Gewaltsamkeit natürlicher Energieentladungen unterscheidet. Auch hier ist es die „ N a t u r " — freilich eine N a t u r , ganz ungleich der von den Stoikern und ihren J ü n g e r n kanonisierten — als deren s t ä r k s t e u n d imposanteste Äußerung dieser politische Wille h e r v o r t r i t t . Aber eines h e b t doch t r o t z allem die virtu, als welche Machiavelli diese herrscherliche Willensmacht bezeichnet, über das Niveau einer blinden und gleichgültigen K r a f t ä u ß e r u n g hinaus: sie steht i m Dienste einer weit ausgreifenden Lebenseinheit, die Machiavelli als innerlich beseelt, als von Zielstrebigkeit erfüllt, als wertverwirklichend zwar nicht m i t aller Klarheit bezeichnet, wohl aber unfraglich erlebt und gewußt h a t : der L e b e n s e i n h e i t d e s S t a a t e s . W e n n die Renaissance an den verschiedensten Stellen Neigung zeigte, den ganzen Wert- u n d Sinngehalt der menschlichen Existenz in den Kreis des Einzellebens gleichsam einzusaugen — hier lebte ungeschwächt, genährt an der Sittlichkeit des römischen Staatsgedankens und andererseits doch auch dem Erlebnis des überpersönlichen „corpus christianum" vergleichbar, die Gewißheit von der Lebenskraft u n d dem Lebensrecht eines die individuelle Existenz in sich einbettenden u n d f ü r sich beanspruchenden Ganzen. Man wird ohne Übertreibung sagen dürfen, d a ß hier nichts geringeres als eine „ S t a a t s m e t a p h y s i k " zwar nicht ausdrücklich vorgetragen wird, wohl aber als beseelendes Prinzip der Gedankenbewegung wirksam ist. W e n n Machiavellis politische Theorie über die J a h r h u n d e r t e hin die Geister immer wieder angezogen, zu Widerspruch und Zustimmung gereizt h a t , so waren es keineswegs bloß die Geheimnisse u n d Kunstgriffe einer unbedenklichen politischen Technik, die m a n in seinen Schriften suchte — es war die Leidenschaft des echten autonomen Staatsgedankens, die m a n als die eigentlich treibende K r a f t hinter seinen

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kohlen Kalkulationen und Anweisungen verspürte. U n d darin liegt, d a ß ein Denker, der zunächst f ü r die sittliche Reflexion n n r als Geist der Verneinung wichtig zu sein schien, doch auch in einem positiven Sinne ihrer Entwicklung gedient h a t . N. M a c h i a v e l l i , cipe 1513.

Discorsi sopra la prima decade

di Tito Livio; Del Prin-

5. G R O T I U S . Natürlich wird durch diese Erwägungen an der Tatsache nichts geändert, daß Machiavellis politische Theorie ihrem Wortlaut nach und in der praktischen Verwertung, die sie in der Politik des Jahrhunderts fand, wie eine Mediatisierung der Ethik durch die Politik wirken mußte. 10 Sie deutete und normierte den Staat gerade v o n derjenigen Seite seiner Existenz her, die von der Dimension ethischer Gesetzgebung a m weitesten abliegt — von der Seite der M a c h t . In ihr das Lebensprinzip des Staates zu suchen ist jeder naturalistischen Staatstheorie selbstverständlich. Von dem entgegengesetzten Pol des staatlichen Wirkungszusammenhangs her sein Wesen zu bestimmen findet sich umgekehrt, der Natur der Sache gemäß, jede Theorie gedrängt, die dem Staat im Reiche des S i t t l i c h e n seine Heimat zu geben bestrebt ist. Dieser Gegenpol wird dargestellt durch die Funktion, die der Staat als Schöpfer und Hüter des R e c h t e s ausübt. 20

Demgemäß h a t t e denn auch die m i t t e l a l t e r l i c h - k i r c h l i c h e Theorie, als es galt, dem S t a a t seinen Platz in dem sittlichen Kosmos des christlichen Lebens anzuweisen, diese seine Wesensäußerung durchaus in den Vordergrund gerückt. U n d auch hier war es gerade die s t o i s c h e Lehre, die f ü r diese E i n o r d n u n g die brauchbarsten Formeln in Bereitschaft h a t t e . W e n n in der stoischen Überlieferung die Weisungen der „ N a t u r " , aus der die Ordnung des sozialen Zusammenhanges entspringt, sich in dem Begriff des „ N a t u r g e s e t z e s " , der „lex naturae", zusammenfaßten, so war dieser Begriff, wie er auf der einen Seite den Gedanken an den göttlichen Gesetzgeber leicht in sich aufn a h m , andererseits nicht weniger geeignet, auch dasjenige „ G e s e t z " zu umgreifen, das als greifbarste und zugleich ideelle Darstellung der staatlichen Wirklichkeit der Er30 fahrung von j e geläufig war. Das R e c h t des Staates wurde so zum Wahrzeichen seiner sittlichen N a t u r . W e n n aber n u n die christliche Staatstheorie die Grundsätze der Rechtsordnung in der N a t u r des Menschen vorgezeichnet u n d demgemäß auch der natürlichen V e r n u n f t dieses Menschen zugänglich glaubte, so lag darin grundsätzlich bereits die Möglichkeit enthalten, diesem Rechte auch d a n n noch seine Gültigkeit als eine in sich selbst gegründete zu wahren, wenn etwa die neben u n d über ihr bestehende göttliche Sanktion in Wegfall k a m . E s mußte d a n n eben die rein weltimmanente Deutung des Rechtes, die aus der stoischen Überlieferung in das katholische System eingelassen und als sekundäres Motiv festgehalten war, gleichsam wieder durchschlagen und sich von neuem zum einzigen Erklärungsprinzip aufschwingen. Dieser höchst merk40 würdige Zusammenhang machte es möglich, d a ß auch nach der Preisgabe der transzendenten Begründung und trotz der heftigen Angriffe, die, d a r ü b e r noch hinausgehend, Theorie und Praxis der Renaissance auch gegen eine ethische Deutung von R e c h t und Staat richteten, ein Restbestand der mittelalterlichen Theorie als Basis einer neuen sittlichen Rechtfertigung des Staates sich behauptete. H a t t e M a c h i a v e l l i der „ N a t u r " des Staates die Sittlichkeit, j a auch das Recht wenigstens zum Teil zum Opfer gebracht, so erhob sich bald die Auffassung zu neuer Stärke, die gerade in seinem sittlich-rechtlichen Charakter seine wahre „ N a t u r " manifestiert sah. Aus d e m gedanklichen Ganzen des mittelalterlichen Denksystems löste sich eine nach eigenen Prinzipien vorgehende

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R e c h t s p h i l o s o p h i e los, in deren Gebiet notwendig die Grenzfragen von Politik und E t h i k fallen m a ß t e n . Und wiederum war es der allumfassende, bedeutungsgeladene Begriff der N a t u r , auf dessen Boden die auszugleichenden Richtungen sich begegneten.

Wir b e t r a c h t e n aus dieser Bewegung n u r denjenigen D e n k e r , dessen S y s t e m in der merkwürdigsten F o r m die nach r ü c k w ä r t s u n d die n a c h v o r w ä r t s weisenden Bezüge vereinigt zeigt. E s ist die Rechtstheorie des H u g o G r o t i u s , a n der hier n a t ü r l i c h n u r diejenigen Züge hervorzuh e b e n sind, d u r c h die sie f ü r die E n t w i c k l u n g der E t h i k B e d e u t u n g gewonnen h a t . D a ß ihr diese z u k a m , war die natürliche Folge d a v o n , d a ß sie sich in ihren letzten Prinzipien den A n f ä n g e n der neuzeitlichen E t h i k n ä c h s t v e r w a n d t zeigte. Gleich ihr löste sie, u n d zwar auf G r u n d der u n s bereits v e r t r a u t e n Überlegungen, die S p h ä r e der rechtlichen G r u n d s ä t z e a b v o n allen Glaubensüberzeugungen u n d L e h r e n des Dogm a s . Die Geltung dieser Sätze w ü r d e feststehen, a u c h w e n n es keinen G o t t gäbe, u n d so wenig der Wille G o t t e s etwas d a r a n zu ä n d e r n v e r m ö c h t e , d a ß 2 x 2 = 4 ist, so wenig unterliegen diese Sätze seinem E i n griff. D a n e b e n s t e h t d a n n freilich auch der Gedanke, d a ß die N a t u r der Dinge, aus der alle Sätze der V e r n u n f t entfließen, das W e r k des g ö t t lichen Schöpferwillens sei — ein Zeugnis d a f ü r , d a ß diese i m m a n e n t e Beg r ü n d u n g des R e c h t s ferne d a v o n ist, n u n ihrerseits die Welt des G l a u b e n s a n f e c h t e n zu wollen. Die Wurzeln des R e c h t s sucht also diese R e c h t s philosophie eben d o r t , wo die E t h i k die F u n d a m e n t e der Sittlichkeit a u f g e f u n d e n zu h a b e n m e i n t : in der eingeborenen N a t u r des Menschen. J a , Grotius begegnet sich sogar in der näheren B e s t i m m u n g dieser d e r M e n s c h e n n a t u r eingepflanzten G r u n d s ä t z e mit einer in der Geschichte der E t h i k weitverbreiteten Lehre, die u n s bereits in den moralphilosophischen Sätzen B a c o n s n a h e t r a t . E r f i n d e t in i h n e n d e n A u s d r u c k u n d die F r u c h t des g e s e l l s c h a f t l i c h e n Triebes, so zwar, d a ß er diesem die egoistischen Motive n i c h t als gleichberechtigt, sondern lediglich als eine d u r c h die Weisheit Gottes beigegebene V e r s t ä r k u n g zugesellt. K u r z u m : wir b e f i n d e n u n s bei diesem Philosophen des R e c h t s d u r c h a u s in d e m Gedankenkreis der „ n a t ü r l i c h e n " E t h i k , u n d in der T a t k o m m t es bei i h m zu keiner K l a r h e i t d a r ü b e r , ob u n d wie d e n n n u n eigentlich die Prinzipien, in denen die E i g e n a r t der R e c h t s s p h ä r e b e g r ü n d e t ist, sich v o n denen des sittlichen Lebens unterscheiden. Beide fließen so u n u n t e r s c h e i d b a r ineinander, d a ß wir hier eine Verwirrung d r o h e n sehen, die das K o m p l e m e n t der bei Machiavelli b e o b a c h t e t e n b i l d e t : wird d a s Wesen des S t a a t e s gesucht in der V e r t r e t u n g eines Rechtes, das n a c h H e r k u n f t u n d Sinn sich k a u m m e h r v o n einem K a n o n allgemein menschlicher Sittlichkeit unterscheidet, so geht i h m unweigerlich das S t ü c k seiner „ N a t u r " verloren, d e m Machiavelli eine nicht weniger einseitige G u n s t zugewendet h a t t e . Wir h a t t e n uns den Blick auf Grotius schenken können, wenn seine Beziehungen zur E t h i k sich in diesen Grenzverwischungen erschöpften. Aber diese Berührung der

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ethischen a n d der juristischen Problemwelt h a t doch f ü r jene auch eine positive Bedeutung. Das dem juristischen Denken eigentümliche Bedürfnis nach scharfen Begriffsbestimmungen macht sich vorteilhaft geltend inmitten einer Problemlage, die nur allzusehr an der Vieldeutigkeit der leitenden Ideen krankte. Schon in der römischen S t o a h a t t e der Begriff der „ N a t u r " gerade dadurch bestimmtere Umrisse gewonnen, d a ß er sich in der klaren L u f t der juristischen Gedankenbildungen auszuweisen genötigt wurde. So meldet sich auch in Grotius der Drang nach einer rationaleren Bestimmung dieser leitenden Idee nachdrücklich zum Worte. Schon der erwähnte Vergleich mit dem Geltungscharakter einer mathematischen Wahrheit ist f ü r dieses Streben kennzeichnend. W e n n das ebenso enthusiastische wie ungeregelte Denken der Renaissance in der N a t u r nichts weiter als ein vielbewegtes Spiel unberechenbarer Gestaltungstriebe erblickt h a t t e — hier war gefordert: strenge Systematik, logisch klare Ableitung aus obersten Prinzipien, unangreifbare Vernunftevidenz. Die strengste, keine Ausnahme duldende Allgemeingültigkeit gilt nunmehr als die Eigenschaft, durch welche die gesuchten Sätze, in deutlicher Entgegenstellung gegen die historisch wechselnden Inhalte des positiven Rechtes, ihren Ursprung aus der „ N a t u r " zu erhärten haben. N a t u r und Ratio, im Rausche des Renaissance-Erlebnisses oft auseinandergegangen, rücken in diesen Forderungen wieder so nahe zusammen, daß bis zu ihrer Gleichsetzung nur noch ein Schritt ist. E s ist der Geist der Aufklärung, der sich in der Form juristischer Postulate besonders f r ü h ankündigt. Gleichgültig, wie es u m das Recht und die Haltbarkeit dieser Forderung bestellt sein mochte: die bloße Tatsache, d a ß eine ebenso weitverbreitete wie unbestimmte Vorstellung sich zu so festen und klaren Linien zusammenzog, bedeutete eine wesentliche Forderung der Problementwicklung. Wir heben an der so hervortretenden Problemgestaltung zwei Seiten hervor, die gerade f ü r die ethische Reflexion von Bedeutung waren. W e n n die Renaissance die ethischen Möglichkeiten und Forderungen aus einer transzendenten Überwelt heruntergeholt und in das Herz des „natürlichen" Menschen umgepflanzt hatte, so f ü h r t e das leicht zu der Auffassung, Sittlichkeit sei nichts anderes als die ungehinderte Entfaltung des im Menschen potentialiter Enthaltenen. D a m i t ging der Sittlichkeit der Charakter der F o r d e r u n g , des G e b o t e s verloren, den ihr im R a h m e n der mittelalterlichen Weltansicht die Stufung von Welt und Überwelt gewährleistet h a t t e . N u n war Grotius zwar darin m i t der Renaissance eines Sinnes, daß die Allgemeinheit des Rechtsgesetzes in der Beschaffenheit des menschlichen Wesens, wie es n u n einmal als Glied der Schöpfung dastehe, ihre Grundlage habe. Aber wenn er n u n diese Allgemeinheit auf die Form einer streng logischen A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t zu bringen sich bestrebte, so h a t t e er d a m i t grundsätzlich, wenn auch ohne volles Bewußtsein, den Ü b e r t r i t t von der bloßen Betrachtung des als w i r k l i c h Vorgefundenen in die Sphäre des I d e e l l e n , j a des N o r m a t i v e n vollzogen. Damit war tatsächlich das Gegenüber des Menschen, wie er ist, und einer Idee, unter die er sein Leben zu stellen h a t , in einer von der mittelalterlichen abweichenden F o r m erneut und die Möglichkeit angedeutet, auch auf dem Boden der neuen Weltgesinnung die sittliche Forderung gegenüber der empirischen Realität des Vorgefundenen zu befestigen. I n der Form des rationalen Gesetzes, der allgemeingültigen Regel macht die Objektivität des sittlichen Gebotes erneut ihre Rechte geltend.

Freilich, je deutlicher nun die in diesem Gegenüber enthaltene Spannung hervortrat, um so schwerer war auch die Einheit jener Metaphysik der „Natur" bedroht, in der die Ethik der Renaissance wurzelte. Je klarer sich die Idealität des G ü l t i g e n , der begriffliche Charakter des G e s e t z e s durcharbeitete, u m so unbegründeter mußte auch die Unbefangenheit erscheinen, mit der die Verkünder jener Metaphysik 50 diesen Inbegriff rein ideeller Sinngehalte in die reale Beschaffenheit des Weltganzen und zumal der menschlichen Natur zurückverlegt, ja zum

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Wesenskern, zur bewegenden K r a f t dieses Ganzen erklärt h a t t e n . Diese Metaphysik k o n n t e j a n u r solange überzeugen, wie m a n es sich ersparte, „ S e i n " u n d „ S i n n " mit unzweideutiger Klarheit gegeneinander abzusetzen. J e klarer der ideelle C h a r a k t e r der V e r n u n f t i n h a l t e h e r v o r t r a t , u m so u n d e n k b a r e r w u r d e es — wie nicht n u r auf d e m Boden der ethischen Reflexion f ü h l b a r wurde — die „ V e r n u n f t " einfach m i t der „ N a t u r " gleichzusetzen. So ließ das Weiterwachsen der in der Renaissance begonnenen Gedankenreihen alle Gegensätze h e r v o r t r e t e n , die dereinst die Stoa vergeblich in ihrem S y s t e m zu versöhnen sich b e m ü h t h a t t e . H. G r o t i u s , De iure belli et pacis 1625. *

So unentwickelt u n d begrifflich schwerfällig das ethische D e n k e n dieses Zeitalters der Vorbereitung sein mag, es l ä ß t doch schon die Fülle v o n F r a g e n , Schwierigkeiten u n d Verwicklungen s i c h t b a r werden, die den Menschengeist b e d r ä n g e n m u ß t e n , sobald er aus der allseitig geschlossenen E i n h e i t der mittelalterlichen D a s e i n s d e u t u n g h e r a u s t r a t u n d die Prinzipien der geistigen Wirklichkeit aus d e m Sinne der a u t o n o m e n W e r t s p h ä r e n hervorzuholen h a t t e . Mögen i m m e r h i n die ersten Generationen dieser neuen Zeit, noch u n v e r m ö g e n d , die Verwicklungen des Lebens wie des G e d a n k e n s zu durchschauen, in den d e m A l t e r t u m e n t l e h n t e n , aus mittelalterlichem Lebensgefühl beseelten F o r m e l n eine erlösende A n t w o r t in der H a n d zu h a b e n glauben — eine tiefer greifende K r i t i k e n t d e c k t schon in ihren Aufstellungen die A n s t ö ß e u n d die inneren Gegensätze, die die fortschreitende Gedankenbewegung i m m e r m e h r an die Oberfläche treiben m u ß t e . N a c h zwei entgegengesetzten Richt u n g e n hin ä u ß e r t e sich das U n v e r m ö g e n dieser Generation, der durch die n e u e A u f g a b e geschaffenen Schwierigkeiten H e r r zu w e r d e n : entweder sie gab den aus sich zu b e g r ü n d e n d e n R i c h t u n g e n des Geistes ein Maß von Selbständigkeit, das sie aus d e m Z u s a m m e n h a n g e der geistigen Lebenswirklichkeit herausriß — oder sie suchte die geforderte E i n h e i t des Lebens d u r c h Mischungen u n d K r e u z u n g e n zu w a h r e n , in denen e n t w e d e r die zu vereinigenden Mächte insgesamt ihre E i g e n f a r b e einb ü ß t e n oder eine v o n ihnen die anderen bis zur V e r n i c h t u n g in sich aufsog. So k o n n t e es dahin k o m m e n , d a ß k a u m eine der d e n k b a r e n K o m binationen v o n Religion, Sittlichkeit, Politik, Gesellschaft, R e c h t , M a c h t , k a u m eine der i n n e r h a l b ihrer möglichen F o r m e n der Über- u n d U n t e r o r d n u n g u n v e r s u c h t blieb. D a s Medium aber, i n n e r h a l b dessen sich diese Begegnungen,Verschlingungen, Scheidungen abspielten, bildete mit seinen schier u n b e g r e n z t e n Auslegungsmöglichkeiten der Begriff der „ N a t u r " . J. B a r k h a r d t , Die Kultur der Renaissance in Italien. 12 1919. W. D i l t h e y , Gesammelte Schriften. II. Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation. 2 Leipzig 1921. K. B u r d a c h , Reformation, Renaissance, Humanismus. Berlin 1918. D e r s e l b e , Deutsche Renaissance 2 . Berlin 1918. F. M e i n e c k e , Die Idee der Staatsräson in der neueren Geschichte 2 . München 1926.

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III. DIE ENGLISCHE MORALPHILOSOPHIE. 1. HOBBES. Historische Fügungen, denen nachzugehen nicht dieses Ortes ist, haben für mehr als ein Jahrhundert der e n g l i s c h e n Philosophie in der Erörterung der ethischen Fragen die Führung gegeben. Die eigentümliche Art und Richtung des englischen Geistes wirkte hier zusammen mit einer Folge von Geschehnissen, die nicht nur der religiösen, politischen und ethischen Reflexion reichen Stoff und vielseitige Anregung boten, sondern auch der Ideenbewegung eine in diesem Zeitalter ungewöhnliche Freiheit des Gedankens und der Aussprache verschafften. Während auf dem Festlande das politische und religiöse Leben durchweg eine Richtung einschlug, die von dem im Zeitalter der Renaissance gewonnenen Wagemut des Denkens und Forderns weit wegführte, konnten auf dem englischen Boden die verschiedenartigsten Tendenzen sich mit der gleichen Unbefangenheit bekennen und aneinander in einer kaum eingeengten Diskussion zur Klarheit durcharbeiten. Solche Unbedenklichkeit der Äußerung zeichnete gleich den ersten aus, der die Reihe dieser Denker eröffnet. Es ist T h o m a s H o b b e s , in der Schonungslosigkeit seiner politischen und moralphilosophischen Zergliederungen wie auch in der Nachhaltigkeit der eben deshalb von ihm ausgegangenen Wirkungen seinem Vorbild Machiavelli nicht nachstehend. Doppelt bedeutsam war der Anstoß, den er der Bewegung erteilte, aus dem Grund, weil die angedeutete Richtung seines schriftstellerischen Charakters zusammentraf mit einem Problemansatz von der höchsten m e t h o d i s c h e n Fruchtbarkeit. Er wagte es, ein DenkVerfahren, dem der Renaissancegeist einen seiner stolzesten Triumphe verdankte, zur Klärung der Dunkelheiten und Widersprüche heranzuziehen, die die ethische Reflexion bis dahin unbehoben gelassen hatte. Wir sahen, d a ß der Begriff der „ N a t u r " , am dem das ethische Orientierungsbedttrfnis der Renaissance seinen H a l t suchte, an einer Vieldeutigkeit litt, die ihn zur Leitidee des sittlichen Lebens wenig geeignet machte. Nun aber zeigte die denkende Arbeit der Renaissance einen Ausweg aus dieser Schwierigkeit, der dem v o n G r o t i u s betretenen an Gangbarkeit und Sicherheit weit flberlegen schien. N a t u r h a t t e dem denkenden Bemühen a n einer bestimmten Stelle ihre letzten Geheimnisse aufgeschlossen, und zwar aufgeschlossen mit dem Ergebnis, d a ß in dem Weben ihrer K r ä f t e eine Gesetzlichkeit sichtbar wurde, die sich als identisch erwies mit einer der menschlichen Vernunft immanenten Regel. Staunenden Auges stand die Naturforschung der Renaissance vor dem Wunder, daß „die N a t u r in mathematischer Sprache geschrieben ist". Relationen, die der Geist scheinbar nur deshalb mit so unfehlbarer Sicherheit bestimmen konnte, weil sie an den v o n i h m s e l b s t konstruierten Gebilden stattfanden, also weil sie im Grunde seine eigene Schöpfung waren, sah man in rätselvoller Übereinstimmung in dem Kräftespiel der äußeren N a t u r wiederkehren. Das innerste Gesetz der denkenden V e r n u n f t schien zusammenzufallen mit dem Gesetz, dem die Bewegung der körperlichen Massen gehorcht. Hier war in vollkommenster Gestalt das gefunden, was der

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Geist nach seiner Emanzipation von der Objektivität mittelalterlicher Daseinsdeutung suchte: eine gleich sichere, gleich unverbrüchliche Wahrheit, aber nicht von außen, von oben, durch autoritative Offenbarung dem uneinsichtigen Menschen verordnet, sondern in der Natur des Menschengeistes selbst gegründet und deshalb mit klarster Evidenz der Vernunfteinsicht sich darbietend. Recht eigentlich im Menschen s e l b s t trat die objektive Instanz hervor, die neue Klarheit und Sicherheit versprach. Wann hatte je das ,,lumen naturale" von seiner weltumspannenden Macht eine solche Probe abgelegt! Nun aber sieht man deutlich: in der Arbeit der mathematischen Naturwissenschaft war in vorbildlicher Form die Schwierigkeit behoben, die Spannung gelöst, mit der wir die Metaphysik der Vernunft-Natur und die auf ihr fußende Ethik belastet sahen: hier war auf der einen Seite eine Welt rein idealer, geistgeborener Gebilde — hier war auf der anderen Seite die handgreiflichste Wirklichkeit, die die menschliche Erfahrung kannte — und doch wurde dieses Gegenüber, diese Parteiung von Vernunft und Natur überbrückt, j a aufgehoben durch die Koinzidenz der Grundverh<nisse, die die denkende Vernunft sowohl in ihren EigenschOpfungen als auch in jener ihr scheinbar so fremd entgegenstehenden Wirklichkeit entdeckte. Undenkbar, daß nicht von dieser überwältigenden Offenbarung her die Hoffnung und Forderung hätte ausstrahlen sollen, es konnten und müßten auch im Bereich der m e n s c h l i c h - b e s e e l t e n Wirklichkeit die „natürlichen" Grundrelationen aufgedeckt werden, in denen das immanente Gef&ge der Vernunft durch das Gewirr eines scheinbar regellosen Geschehens hindurchleuchtet — und dies um so mehr, als diese Menschenwelt doch noch in einem ganz anderen Sinne und Maß der denkenden Vernunft nahestand, als das Reich der unterlebendigen, untergeistigen Naturkräfte. Es konnte nicht ausbleiben, daß das theoretische Verlangen nach umfassender Erkenntnis und die praktischen Bedürfnisse des nach Klarheit und Sicherheit verlangenden Gemütes sich in diesem Postulat begegneten. Damit ist das Grundsätzliche an der Problemverschlingung bezeichnet, die dazu führen mußte, daß eine mit dem Begriff der „Natur" sich abmühende Ethik in den methodischen Prinzipien der mathematischen Naturwissenschaft' die Auflösung aller ihrer Zweifel und das logische Instrument ihrer Untersuchungen begrüßte. Und Ho bb es ist derjenige gewesen, dessen kühne DenkerpersOnlichkeit das durch die Problemlage Nahegelegte sofort mit äußerster Folgerichtigkeit durchführte. Daß er es tat, das macht seine Bedeutung wie für die gesamte philosophische Bewegung so auch für die ethische Ideenentwicklung aus. Versuchen wir hier, diese Seite seiner Wirksamkeit zu beleuchten, so finden wir uns einer Schwierigkeit gegenüber, die sich bei weiterem Vordringen in der Problementwicklung noch steigern wird. Wenn wir schon wiederholt bemerken mußten, daß als Hintergrund und Stütze ethischer Sätze eine metaphysische Deutung des Ganzen von Welt und Leben kaum je zu fehlen pflegt, so tritt dieser Zusammenhang natürlich überall da besonders zwingend hervor, wo der Moralphilosoph zugleich ein System metaphysischer Weltauslegung konzipiert und begrifflich entfaltet hat. Eine absondernde Betrachtung seiner ethischen Aufstellungen kann also nicht umhin, eng Zusammengehöriges auseinanderzureißen. Wir werden die Bedenklichkeit dieses Verfahrens dadurch zu mildern versuchen, daß wir die Verbindungslinien jedenfalls andeuten, durch die das Ganze der jeweils zu betrachtenden ethischen Überlegungen mit der zugehörigen Weltansicht zusammenhängt, ohne damit die Vertiefung in diese selbst überflüssig machen zu wollen. Andererseits bietet die Betrachtungsweise, die durch die uns leitende Fragestellung geboten ist, den Vorzug, daß sie an den in Betracht zu ziehenden metaphysischen Denkgebäuden mit besonderer Deutlichkeit die übertheoretischen Voraussetzungen hervortreten läßt, die in Gestalt von oftmals uneingestandenen W e r t s e t z u n g e n der Weltdeutung die Richtung weisen.

Was immer H o b b e s an solchen Sätzen ausspricht, die ihrem Gehalte nach dem Umkreis ethischer Reflexionen im weitesten Sinne angehören, das gibt sich als unausweichliches Ergebnis solcher Gedanken-

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gänge, die a n Strenge nicht i m mindesten hinter d e m logischen Gefüge d e r m a t h e m a t i s c h e n Naturwissenschaft zurückbleiben wollen. Sein ganzes D e n k e n s t e h t u n t e r d e m Leitsatz, es gebe n u r eine einzige Methode wissenschaftlicher B e t r a c h t u n g , eben die in der m a t h e m a t i s c h e n N a t u r wissenschaft als u n f e h l b a r erprobte, u n d diese umfasse grundsätzlich das Ganze d e r E r f a h r u n g s w i r k l i c h k e i t . D a ß insbesondere die menschliche W e l t u n d z u m a l deren seelische Innenseite dieser Methode u n t e r s t e h e , d a s s t e h t f ü r H o b b e s auf G r u n d von zwei Überlegungen fest, zwischen d e n e n eine i h m entgangene Unverträglichkeit obwaltet. Auf der einen Seite f ü h r t er die seelische Erlebniswirklichkeit m i t Hilfe einer grob sensualistischen Psychologie auf „ B e w e g u n g e n " , also auf die in der Mechanik g e k l ä r t e Gestalt des Wirklichen zurück. D a m i t ist die Welt der i n n e r e n E r f a h r u n g in d e m einen allumfassenden Mechanismus des Wirklichen a u f g e n o m m e n bzw. dem zugehörigen Begriffssystem eing e f ü g t . Andererseits aber n i m m t er, u m sich a n den K e r n der menschlichen Wirklichkeit heranzuarbeiten, dasjenige Gebilde z u m Ausgange, welches n a c h seiner Überzeugung unsere V e r n u n f t deshalb bis in seine l e t z t e n B e d i n g u n g e n hinein zu d u r c h s c h a u e n in der Lage ist, weil es, analog d e n Gebilden der M a t h e m a t i k , d u r c h den menschlichen Geist selbst e r z e u g t ist. Dieses Gebildet f i n d e t Hobbes i m S t a a t e . Der S t a a t , das „ c o r p u s politicum", ist f ü r i h n das d u r c h den menschlichen Geist k o n s t r u i e r t e S y s t e m der gesellschaftlichen K r ä f t e , der vollkommene M e c h a n i s m u s der Menschenwelt. Von i h m h e r n a c h seinen Bedingungen z u r ü c k f r a g e n h e i ß t nichts anderes, als die G r u n d k r ä f t e aufspüren, deren Z u s a m m e n s p i e l die menschlich-gesellschaftliche Wirklichkeit s c h a f f t u n d e r h ä l t . D a in der einen wie in der anderen Überlegung der Begriff des Mechanismus o b e n a n s t e h t , bleibt der wesentliche U n t e r schied u n b e a c h t e t , d a ß d o r t die in den Gesetzen der Mechanik gem e i n t e u n d b e r e c h n e t e K r a f t , hier die u m diese K r a f t u n d ihre Gesetze wissende, d a z u dieses Wissen technisch v e r w e n d e n d e I n t e l l i g e n z zur E r k l ä r u n g der menschlichen E r f a h r u n g s w e l t herangezogen wird — ein U n t e r s c h i e d , der, wie sich zeigen wird, d e m Ganzen des v o n Hobbes e n t w i c k e l t e n S y s t e m s verhängnisvoll wird. Wie a b e r stellt sich n u n Hobbes die Menschenwelt dar, zu deren B e s c h a f f e n h e i t er auf diesen Wegen vorzudringen sucht ? Hier t r e t e n die G r u n d b e s t i m m u n g e n hervor, die auch das F u n d a m e n t seiner Auff a s s u n g v o m Sittlichen bilden. Dieselben G r ü n d e , die dazu nötigen, den S t a a t bei der E r k e n n t n i s des Menschenlebens z u m Ausgangsp u n k t zu n e h m e n , bringen sich in der T a t s a c h e zur Geltung, d a ß auch die P h ä n o m e n e der S i t t l i c h k e i t n u r in der Beziehung auf i h n B e s t a n d h a b e n . V o n d e m Gebilde des S t a a t e s r ü c k w ä r t s schreitend zu den Bed i n g u n g e n seiner E r z e u g u n g , s t ö ß t die R e k o n s t r u k t i o n auf das vorstaatliche Menschenwesen als das letzte „ E l e m e n t " , v o n dem her j e n e Wirklichkeit auf d e m Wege der „ k o m p o s i t i v e n " Methode wieder auf-

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zubauen ist. Dieses Wesen zeigt sich ausgestattet mit nichts weiter als mit dem Vermögen zu jenen elementaren Bewegungen der Seele, aus denen die sensualistische Psychologie die gesamte seelische Wirklichkeit einschließlich der erkennenden Funktion glaubt herleiten zu können, zudem aber mit dem diese Bewegungen letztlich in Gang setzenden Motor, der S e l b s t s u c h t . Kein auf die Mitwesen zielender Trieb hfilt ihm die Wage. Nicht nur ist der Mensch in seiner natürlichen Beschaffenheit nicht auf Sozialität angelegt, wie der Vergleich mit manchen sehr viel geselligeren Tiergattungen augenscheinlich m a c h t : nicht weniges in ihm widerstrebt geradezu der Vergesellschaftung. Demnach ist der Zustand, der der natürlichen Ausstattung dieses Wesens entspricht, der „Krieg Aller gegen Alle". Sucht m a n das „ N a t u r r e c h t " in der ursprünglichen Beschaffenheit des Menschen auf, so besteht es in der Befugnis, zu nehmen, zu rauben, zu vergewaltigen, wie nur die Selbstsucht es gebieten mag. Wie h a t es beim Ausgehen von einem „ E l e m e n t " solcher Art zu der zusammengesetzten Wirklichkeit des,,corpuspoliticum" kommen können, das als ein Gebilde des geselligen Zusammenschlusses doch scheinbar der vollkommenste Widerspruch zu der N a t u r seiner Elemente bildet ? Diese Frage bedeutet nichts anderes als die Frage nach dem Wesen der „ K o n s t r u k t i o n " , die von den „rekonstruktiv" ermittelten Elementen her das Ganze des gesellschaftlichen Mechanismus a u f b a u t . Als vermittelnde Macht t r i t t hier jenes Vermögen hervor, das sich aus rein sensorischen Anfängen zur Höhe erkennenden Intellektes durcharbeitet. Was die N a t u r dem Menschen vorenthält, das lehrt die durch die Vernunft verarbeitete Erfahrung ihn als notwendig erkennen, und die durch sie geleitete Praxis macht es ihm zur dauernden Gewöhnung. Den Inhalt dieser so erworbenen Einsicht und Willenshaltung nennt Hobbes im Gegensatz zu jenem ursprünglichen „ R e c h t " der N a t u r : das „ N a t u r g e s e t z " . In ihm haben wir den Ausspruch der „rechten V e r n u n f t " („recta ratio") vor uns, die den zwischen Ausgangs- und Endstadium liegenden Prozeß der Ein- und Umkehr bewirkt. Durch sie werden die Menschen dazu vermocht, den für alle mehr oder minder verderblichen Zustand des Kampfes zu beendigen und im Interesse eines Friedens, der ohne Zweifel für jeden ohne Unterschied das höchste aller Güter bildet, eine Regel und Ordnung gemeinsamen Lebens herbeizuführen, als dessen Hüter und Bürge der S t a a t eingesetzt wird. Die machtgesicherte Rechtsordnung des Staates bildet also die unerläßliche Bedingung für das Werden aller der Beziehungen von Mensch zu Mensch, in denen die sittlichen Probleme und Motive ihr Leben haben. Wenn wir zuvor das Verhältnis von Staat und Sittlichkeit in die verschiedensten Beleuchtungen gerückt fanden — hier wird der Staat recht eigentlich zum Schöpfer und Bürgen jeder möglichen Sittlichkeit. Außerhalb seiner herrscht das von jeder Verpflicht u n g losgebundene „Recht der N a t u r " .

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I n der Gesellschafts- u n d Moralphilosophie v o n H o b b e s sehen wir z u m ersten Male an die Stelle einer allzu u n b e s t i m m t e n M e t a p h y s i k der V e r n u n f t - N a t u r ein m i t der g r ö ß t e n begrifflichen S t r e n g e d u r c h gearbeitetes S y s t e m der Sozialtheorie t r e t e n , ein S y s t e m , d a s als e x a k t e d e m o n s t r i e r b a r e S e i n s e r k e n n t n i s d e n sicheren B o d e n j e d e r ethischen N o r m i e r u n g bildet — besser g e s a g t : bilden soll. Dieses S y s t e m r u h t auf letzten G r u n d p r i n z i p i e n , die, in voller R e i n h e i t h e r a u s g e a r b e i t e t , einen der großen u n d d a u e r n d e n G r u n d t y p e n in der A u f f a s s u n g der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit u n d d e r in i h r beschlossenen sittlichen A u f g a b e n v e r k ö r p e r n . U n d zwar ist es, genauer besehen, d a s Z u s a m m e n t r e f f e n einer b e s t i m m t e n m e t h o d i s c h e n G r u n d e i n s t e l l u n g m i t einer b e s t i m m t e n B e w e r t u n g der menschlichen Dinge, welches die G r u n d r i c h t u n g dieser Theorie b e s t i m m t . Sie ist als „ a t o m i s i e r e n d e " zu kennzeichnen. Sie s u c h t , d e n m e t h o d i s c h e n Prinzipien der m a t h e m a t i schen N a t u r w i s s e n s c h a f t g e m ä ß , letzte, als s t r e n g geschieden u n d als q u a l i t a t i v gleichförmig g e d a c h t e E l e m e n t e , l e t z t e e i n f a c h s t e K r ä f t e , aus deren Z u s a m m e n s e t z u n g bzw. Z u s a m m e n s p i e l sie die k o m p l e x e n Gebilde der E r f a h r u n g s w i r k l i c h k e i t e r k l ä r e n will. So bildet i h r e n Ausg a n g s p u n k t das von den Mitwesen n i c h t n u r in seiner f a k t i s c h e n E x i stenz, sondern a u c h in seinen n a t ü r l i c h e n A n t r i e b e n geschiedene, j a i h n e n i m I n n e r s t e n feindliche Einzelwesen, d a s stets den gleichen G r u n d t r i e b der Selbstsucht u n d die gleiche F ä h i g k e i t der v e r n ü n f t i g e n E r f a h r u n g in sich t r ä g t . I n dieser m e t h o d i s c h e n G r u n d a n n a h m e k o n n t e H o b b e s deshalb das P r i n z i p der Menschenwelt ausgesprochen f i n d e n , weil die E r f a h r u n g e n eines l a n g e n Lebens in i h m eine d u r c h a u s pessimistische E i n s c h ä t z u n g der d e n Menschen letztlich regierenden A n t r i e b e h e r v o r g e b r a c h t h a t t e n . D a s b e r ü h m t e ,Jiomo homini lupus" b e z e i c h n e t geradezu die Koinzidenz eines m e t h o d i s c h e n Prinzips m i t einem E r f a h rungsurteil. Von diesem isolierten E l e m e n t h e r also b a u t sich n a c h H o b b e s das Ganze der menschlich-gesellschaftlichen W e l t auf. U n d zwar ist es auf dem B o d e n solcher V o r a u s s e t z u n g e n selbstverständlich, d a ß dieses Ganze n u r in d e r Gestalt s t u d i e r t u n d a n a l y s i e r t , j a i m G r u n d e n u r in der Gestalt gesehen wird, die es d u r c h die T ä t i g k e i t v e r n u n f t g e m ä ß h a n d e l n d e r , z u s a m m e n w i r k e n d e r I n d i v i d u e n a n n i m m t : d. h . in Gestalt einer absichtsvoll k o n s t r u i e r t e n O r g a n i s a t i o n , der R e c h t s o r d n u n g des S t a a t e s . I n diesen Axiomen gelangen die das Individuum isolierenden Tendenzen zur schärfsten Ausprägung, denen wir in der E t h i k der Renaissance an mehr als einer Stelle begegneten. Sie legen die Grundlinien einer Gesellschaftstheorie fest, die mit der Gesellschaftsauffassung des Mittelalters durch ein antithetisches Verhältnis verbunden ist. Wir berührten bereits diejenigen Prinzipien der mittelalterlichen Lebensansicht, mit denen die Annahme eines vom Individuum aus erfolgenden A u f b a u s der gesellschaftlichen Gesamtwirklichkeit völlig unverträglich ist. Das „corpus christianum", das Gegenstück zu Hobbes' „corpus politicumsteigt von der Stufe der irdischen Daseinsordnung empor bis zu einer das menschliche Dasein tief u n t e r sich lassenden Gemeinschaft der in Gott geeinten Seelen; der Bau der Christenheit wölbt sich empor zu einem

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Schlußstein, der f ü r irdische Augen i m Unsichtbaren verschwindet. Wie konnte der Gedanke aufkommen, diese Ordnung, die erst im Göttlichen und Ewigen ihren H a l t und ihren sinnvollen Zusammenschluß f i n d e t , sei angewiesen auf die Zweckerwägungen und Handlungen der individuellen Menschenvernunft! Der einzelne ist so fern davon, sie m i t seinen geistigen K r ä f t e n schaffen und erhalten zu können, d a ß er in Wahrheit erst m i t der willigen Einfügung in diese v o n i h m bereits vorgefundene Ordnung sich zum Geisteswesen erhebt. So m u ß die mittelalterliche Gesellschaftstheorie schon deshalb, weil sie die irdische Gemeinschaft i m Transzendenten befestigt sieht, den überpersönlichen Lebenszusammenhang, die organische Gesamtwesenheit der in Christus geeinten Menschheit aufs nachdrücklichste zur Geltung bringen. Hier t r i t t n u n diesem Typus der Gesellschaftsauffassung sein Widerspiel in Gestalt der atomisierenden Theorie gegenüber, Niederschlag sowohl eines neuen Lebenswillens wie einer neuen Denkmethodik — oder in der T a t wohl einer im tiefsten gewandelten Geisteshaltung, deren Ausdruck sowohl jener als auch diese ist. Wie sehr gerade Hobbes diese Auffassung bis in ihr E x t r e m vortreibt, kann der Vergleich m i t M a c h i a v e l l i lehren, dem er doch scheinbar in der Diesseitigkeit seiner Lebensauffassung, in der Illusionslosigkeit seiner Menschenbeurteilung und vor allem in seinem Eintreten f ü r die Lebensbedeutung und Machtstärkung des Staates so nahe verwandt ist. Machiavelli fanden wir m i t der von ihm befehdeten christlichen Lebensdeutung wenigstens in dem einen P u n k t e einig, daß auch f ü r i h n dem Staate eine charaktervolle Gesamtlebendigkeit und ein in ihr sich entwickelnder Wertgehalt zu eigen ist. Alle Machtfttlle hingegen, die Hobbes der Staatsgewalt erteilt — eine Machtfülle, die sogar die Bestimmung der Religion m i t u m f a ß t — soll nicht etwa dem Staate selbst als einem in sich wertvollen Lebensgebilde zugute kommen, sondern lediglich den im Staate zusammenlebenden Einzelwesen, deren von der Selbstsucht diktiertes Interesse an einem dauerhaften Frieden u m so wirksamer befriedigt werden kann, je unbeschränkter die staatliche Souveränität ist. So mündet die von den Individuen ausgegangene Bewegung auch wieder in die Individuen ein. Das „corpus" der Gesellschaft ist nicht ein organisches Gesamtgebilde, sondern ein rein technisch zu regulierender und zu bewertender Apparat. Es bleibe nicht unerwähnt, daß, je reiner diese atomisierende Tendenz hervortritt, u m so mehr auch dem Einfluß der S t o a derjenige des gleichfalls atomistisch denkenden E p i k u r e i s m u s die Wage hält. Dies also ist die durch ihre begriffliche Klarheit zweifellos imponierende S t r u k t u r der menschlich-gesellschaftlichen Wirklichkeit, aus der Hobbes die Grundsätze einer streng demonstrierbaren, folglich f ü r alle Zeiten und Menschen maßgebenden Ethik glaubt herleiten zu können. I n ihr f i n d e n wir schon die Axiome derjenigen Theorie vereinigt, die Dilthey als das „ n a t ü r l i c h e S y s t e m d e r G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n " bezeichnet und immer wieder erforscht h a t . Wenn die E t h i k m i t einer so gearteten Sozialtheorie die denkbar engste Verbindung eingeht, so h a t das f ü r die nähere Festlegung ihres eigenen Problemkreises sehr bedeutsame Wirkungen. Einmal wird dieser m i t einer Bestimmtheit präzisiert, die die vorausgegangenen Untersuchungen durchaus h a t t e n vermissen lassen. Diese Präzisierung erfolgt auf Grund der durch die Sozialtheorie herausgearbeiteten Frage: wie h a t es in einer Welt, die besteht aus antisozial gearteten Wesen, zu einem sozialen Zusammenschluß kommen können? Diese Frage setzt, wie man sieht, als nicht der Erklärung bedürftig voraus die durch die Selbstsucht isolierten Einzelwesen — als zu erklärendes Phänomen gilt ihr der gesellschaftliche Körper. Und als Bereich möglicher ethischer Qualifikation bestimmt sich von ihr aus der Umkreis derjenigen Maßnahmen u n d Verhaltungsweisen, durch welche der gesellschaftliche Zusammenhang entsteht und sich erhält. Es ist also eine an ihren gesellschaftlichen E f f e k t e n ablesbare L e i s t u n g , im Hinblick auf welche die ethische Problemsphäre umgrenzt wird. N u n kann es aber zum zweiten mindestens höchst fraglich erscheinen, ob diese Präzisierung nicht zugleich eine V e r e n g u n g der ethischen Fragestellung bedeutet. I h r e Annahme bringt einmal diejenigen Probleme des persönlichen Lebens zum Verschwinden, in denen die E t h i k der Renaissance, der ent-

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gegengesetzten Einseitigkeit verfallend, bisweilen das Ganze der ethischen Interessen gesucht hatte. Wie unausbleiblich diese Problemverkürzung ist, beweist Hobbes selbst durch die Tatsache, daß es für ihn, jedenfalls theoretisch, ein Problem der persönlichen Lebensgestaltung gar nicht gibt, denn die bewegende Grundkraft des Lebens bleibt ja von der Wandlung, die die Erkenntnis und Befolgung der lex naturae herbeiführt, völlig unberührt: nach wie vor ist es die gleiche Selbstsucht des Einzelnen, die das Ganze regiert; geändert haben sich nur die Wege, auf denen sie sich befriedigt. So hören wir hier auch nichts von jener auf das eigene Ich bezogenen Reflexion, die in das Spiel der Triebe regelnd und ordnend eingreift: der vorgefundene Grundtrieb wird so, wie er ist, 10 gleich einer Naturkraft hingenommen und anerkannt. Überdies trifft auch den Begriff der Gesellschaft, auf den sich dergestalt die ethische Fragestellung zurückzieht, der gleiche Vorwurf. Er setzt den menschlichen Zusammenschluß ohne weiteres der in rationaler Form erfolgenden Vereinigung gleich, als ob es jenseits ihrer keinerlei menschliche Vergemeinschaftung gebe. Ja, man wird drittens fragen dürfen, ob diese Verengerung der Fragestellung nicht in Wahrheit ihrer A u s t i l g u n g gleichkommt. Denn wenn der Inbegriff der Handlungen, die dem ethischen Urteil unterliegen, nicht mehr bedeutet als eine Summe von Maßnahmen, die die rationale Überlegung als dem egoistischen Endzweck dienlich, mit anderen Worten als in rein t e c h n i s c h e m Sinne empfehlenswert erkennt, welchen Sinn hat es dann, diesen Inbegriff auch noch überdies mit 20 dem Wertprädikat „sittlich" zu belegen — einem Prädikat, das die sozialtheoretische Analyse doch wieder auf jene „technische" Qualität zurückführen muß ? Die Sozialtheorie also, auf die sich diese Ethik stützt, bedeutet, wie es scheint, die Aufhebung der Ethik. In ihrer Linie liegt die radikale Folgerung, die später der Moralskeptizismus eines M a n d e v i l l e gezogen hat: bestimmten Handlungen eine besondere, als „sittlich" zu bezeichnende Wertqualität beizulegen, haben die Menschen sich durch einige verschmitzte Betrüger überreden lassen, denen die Verbreitung dieses Wahnes als für ihre Interessen forderlich erschien.

Aber die Bedenken greifen über diesen Kreis von Fragen noch hinaus. Wenn wir dem System von Hobbes eine weitreichende Fruchtbarkeit 30 nachrühmen konnten, so kommt ihr diese keineswegs in erster Linie um der R i c h t i g k e i t ihrer Prinzipien willen zu; im Gegenteil: es ist nicht zum wenigsten die Unentwegtheit, mit der es irrige Annahmen bis in ihre letzten Folgerungen vortreibt, die ihm in der Dialektik der gedanklichen Bewegung einen bevorzugten Platz anweist. Wollen wir deshalb die ihm zweifellos zukommende systematische Bedeutsamkeit voll ermessen, so müssen wir die Kritik auf das Ganze seiner Aufstellungen ausdehnen. Da Hobbes eine immer von neuem zum Leben erwachende Grundrichtung der Reflexion in einer unbekümmerten Großartigkeit zur Darstellung bringt, so wird diese Überprüfung erleuchtend sein für den 40 ganzen Zusammenhang der Ideen, die in seiner Fortbildung wie in seiner Bekämpfung hervorgetreten sind. Der gleiche Zusammenhang berechtigt uns, in die Kritik die gewichtigsten unter den Einwänden aufzunehmen, die die Gegner schon bald wider Hobbes ins Feld geführt haben. Zunächst werden Ethik und Sozialtheorie von H o b b e s natürlich von allen den Einwänden mit betroffen, die gegen das sie begründende System als Ganzes erhoben werden können. Es steht unter der Herrschaft des dogmatischen Vorurteils, daß die für eine Gruppe von Einzelwissenschaften maßgebende Methodik das Ganze der Wirklichkeit umspannen müsse: des m e c h a n i s t i s c h e n Vorurteils. In die Sonderanliegen der Ethik greift diese These dadurch ein, daß sie zusammen mit den seelischen Prozessen

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Oberhaupt auch diejenigen geistigen Vorgänge, in denen die „lex naturae" erkannt nnd zur Richtschnur des Handelns erhoben wird, als Bewegungen wie andere auch in das universale Triebwerk des kausalen Mechanismiis einreiht. Sie verwickelt sich d a m i t in den f ü r allen Naturalismus verhängnisvollen Widerspruch, daß sie denselben Geist, der den Mechanismus der N a t u r denkend beherrscht, zu einem Teilstück eben dieses Mechanismus entwertet. Sie r a u b t i h m d a m i t gerade d i e Beschaffenheit, vermöge deren sein T u n einzig zum Entdecken der ,,recta ratio" werden k a n n . K o m m t dem von i h m ergriffenen Inhalt des Denkens das P r ä d i k a t der „ R i c h t i g k e i t " zu — ein P r ä d i k a t , das seinen Sinn nur dann hat, wenn dieser Inhalt als solcher der Region des ZeitlosIdeellen angehört — so h a t das zugehörige seelische Geschehen, eben vermöge seines Bezogenseins auf diese Region des Zeitlosen, eine Struktur, die es dem Bereich mechanischer Denkkategorien entzieht — und umgekehrt, wenn es tatsächlich von diesen Kategorien umgriffen wird, so ist d a m i t bewiesen, d a ß es jeder Beziehung auf ein „ R i c h tiges" ermangelt. Unausweichlich ist die Alternative, d a ß entweder die Universalität des Mechanismus oder das Wissen u m den Mechanismus preisgegeben werden m u ß . Noch tiefer in den Bereich der E t h i k f ü h r t folgende Anwendung des vorgetragenen Gedankenganges. Mit der Annahme, d a ß der Mensch in Gestalt der „lex naturae" sich etwas „Richtiges" zu eigen macht, verträgt sich nicht die Behauptung, daß es Sittlichkeit erst von einem bestimmten Zeitpunkt ab gebe, nämlich von dem Zeitpunkt an, da der Mensch sein Leben nach dem Gebot dieser lex naturae einrichtet. Eine Beziehung auf die Zeit h a t nur das reale Geschehen, in dem die „recta ratio" gefunden und in die Praxis übergeführt wird, ganz und gar nicht der ideelle Gehalt dieser „ratio" selbst; denn dieser ist, so wahr er ein richtiger ist, z e i t l o s ; seine Richtigkeit besteht völlig unabhängig davon, ob und wann sie im lebendigen Geiste entdeckt wird. So ist die Beziehung auf die Gesellschaft nicht eine von dem Geist durch einen zeitlichen Akt der Selbstverwandlung geschaffene, sondern eine im Sinne rationaler Richtigkeit von Anbeginn an vorgezeichnete u n d durch den Menschen lediglich zu entdeckende und zu realisierende. Gerade Hobbes betont die Unveränderlichkeit und Ewigkeit ihrer Geltung allzu nachdrücklich, als d a ß die Zeitlosigkeit ihres Geltungscharakters verkannt werden konnte. Wiederum t r i t t durch diese Überlegung das Bild der ursprünglichen Anlage des Menschen, das Hobbes entwirft, in eine neue Beleuchtung. W e n n er ihr jede auf die menschliche Gesellschaft zielende Orientierung abspricht, so m u ß dieser Satz i m Sinne seiner eigenen Lehren einigermaßen eingeschränkt werden. Denn er legt in den Menschen die Bedingungen, von denen die Möglichkeit abhängt, das „ R i c h t i g e " zu f i n d e n — Bedingungen, deren Tragweite durch ihre sensualistische Interpretation nicht verdeckt werden kann. Da zu diesem Richtigen u . a. auch der Zusammenhang von zweckrationalen Erwägungen gehört, die den Menschen von seiner ursprünglichen ungeselligen Haltung abzugehen veranlassen, so darf man sagen, daß jene Anlage eine wenn auch mit der Selbstsucht in Spannung stehende Richtung auf gesellschaftliche Einigung potentialiter in sich schließt. So spärlich Hobbes, seinem methodischen Prinzip gemäß, den ursprünglichen Menschen ausstattet, es gelingt i h m doch nicht, den Begriff seiner natürlichen „Anlage" von den Schwierigkeiten zu entlasten, die die Erörterung der „ a n geborenen Ideen" immer deutlicher hervortreten ließ. Und wie war es endlich u m die Begründung des letzten Prinzips bestellt, auf welches die technischen Überlegungen der „recta ratio'1 zurückbezogen werden ? D a ß hinter allen Motivationen des menschlichen Lebens die eine identische Triebkraft der Selbstsucht liege, d a ß weiterhin diese Selbstsucht in dem Verlangen nach einem völlig gesicherten Zustande des Friedens stets und überall kulminiere — dieser Satz ist weder von den mechanischen Axiomen her noch aus der menschlichen Gesamterfahrung heraus zu erhärten. E r ist dogmatisch, insofern er eines unter den auffindbaren Motiven menschlichen Lebens in einer höchst speziellen Fassung verabsolutiert. U n d zwar zeigt sich bei näherem Zusehen deutlich, daß hier mehr vorliegt, als eine Einseitigkeit der theoretischen Blickeinstellung. Hobbes läßt deutlich verspüren, daß er diese Orientierung des

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menschlichen Willens nicht etwa nur, wie er das im Rahmen einer streng exakt vorgehenden Theorie müßte, als die faktisch allerwärts wirkende Triebkraft f e s t s t e l l t , sondern überdies f ü r einzig sinnvoll und berechtigt ansieht. Ans einer theoretischen Seinsaussage wird unter der H a n d eine übertheoretische Wertanssage. Gleichgültig, wie weit Hobbes zu dieser Schätzung durch die Erfahrungen der Zeit berechtigt worden ist, wie weit er ferner in seiner persönlichen Haltung sich selbst diesem obersten Wert unterstellt haben mag — was seine Kritiker entschieden bestritten — seine ethische Theorie gipfelt in der Proklamation dieses Prinzips, j a sie ist in Wahrheit Ethik nicht sowohl durch jene auf die Mittel der Lebensgestaltung bezüglichen Sätze, als vielmehr durch die Aufrichtung eines obersten W e r t e s . Gerade dieser Wert ist nicht etwa nur ein Teil, sondern die Krönung der „recta ratio". Wie sehr Hobbes damit die methodischen Voraussetzungen des eigenen Systems durchbricht, haben unsere Ausführungen nicht zweifelhaft gelassen. Das „Element", zu dem er vom Vorgefundenen her auf den Wegen mathematischen Denkens vorgedrungen zu sein meint, stand f ü r ihn in Wahrheit schon vor aller „Rekonstruktion" auf Grund einer primären Wertbestimmung fest; er fand, was er finden wollte, und machte damit von neuem ungewollt den Zusammenhang von Seins- und Wertbestimmung deutlich, der Ethik und Metaphysik aneinander bindet. Th. H o b b e s , De cive 1642; Leviathan 1651.

2. D I E C A M B R I D G E R U N D I H R E

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E s bedarf keiner B e g r ü n d u n g , d a ß diese Theorie v o m Egoismus als d e m Prinzip aller Gesellschaft u n d Sittlichkeit nicht n u r schwer widerlegbare Erlebnisse u n d Bedürfnisse des menschlichen Herzens, sondern auch eine religiöse u n d philosophische Überlieferung v o n b e t r ä c h t l i c h e m Gewicht gegen sich h a t t e . I h r gaben die h e r a u s f o r d e r n d e n Sätze v o n H o b b e s den A n l a ß u n d zugleich den O r i e n t i e r u n g s p u n k t f ü r eine e r n e u t e Selbstvergewisserung u n d S a m m l u n g . W e n n wir aus d e m S y s t e m v o n H o b b e s die Grundlinien einer Lebensansicht u n d Gesellschaftsauffassung h e r a u s z u a r b e i t e n v e r m o c h t e n , die weit ü b e r diese Einzelerscheinung h i n a u s eine der G r u n d h a l t u n g e n des menschlichen Geistes auf die F o r m des G e d a n k e n s b r i n g t , so wird auch die B e t r a c h t u n g seiner Widersacher eine ähnlich d u r c h das Wesen der Sache geforderte u n d entsprechend v e r b r e i t e t e F a s s u n g dieser Probleme sichtbar m a c h e n . H o b b e s h a t t e , so sahen wir, so wenig wie möglich in die u r s p r ü n g liche A u s s t a t t u n g des Menschen verlegt, h a t t e ihn alle Inhaltlichkeit der Lebensorientierung erst aus einer d u r c h das Tor der Sinne einges t r ö m t e n E r f a h r u n g herleiten lassen. Man sieht, wie in dieser A u f f a s s u n g die L ö s u n g des ethischen Problems mit der des erkenntnistheoretischen n a h e z u z u s a m m e n f ä l l t : d e n n alle als „ e t h i s c h " allenfalls zu bezeichnenden Sätze sind doch g e m ä ß seinen Voraussetzungen nichts weiter als die technologische U m s c h r e i b u n g e r k a n n t e r K a u s a l z u s a m m e n h ä n g e . Alles P r a k t i s c h e zieht sich gleichsam in den einen P u n k t des völlig undifferenzierten Egoismus z u s a m m e n , dem der G e s a m t g e h a l t jener E r f a h r u n g als ein S y s t e m v o n Mitteln dient. D e m e n t s p r e c h e n d k o n n t e die Opposition, a u c h wenn es ihr d u r c h a u s n u r u m die R e t t u n g der durch H o b b e s b e d r o h t e n Sittlichkeit ging, einen durchgreifenden E r f o l g nicht erhoffen,

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w e n n sie das e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e F u n d a m e n t seiner E t h i k uners c h ü t t e r t l i e ß ; j a , die S i t u a t i o n des Gegenangriffs schien geradezu zu f o r d e r n , d a ß a u c h hier E r k e n n t n i s u n d Sittlichkeit aus e i n e m Prinzip h e r a u s gesichert w u r d e n . W a s eine erkenntnistheoretische K r i t i k wider H o b b e s v o r z u b r i n g e n h a t t e u n d v o r g e b r a c h t h a t , h a b e n die vorausgegangenen D a r l e g u n g e n in prinzipieller F a s s u n g bereits e n t w i c k e l t : die A n n a h m e einer „ r i c h t i g e n " E r k e n n t n i s implizierte die A n e r k e n n u n g einer ideellen R e g i o n des Zeitlos-Gültigen, die nicht m i t der R e a l i t ä t der ä u ß e r e n W e l t , auf die ihre einschlägigen Sätze zielen, einfach zus a m m e n f ä l l t , folglich a u c h n i c h t , wie die v e r r ä u m l i c h e n d e Denkweise des Sensualismus a n n i m m t , v o n a u ß e n d u r c h das Tor der Sinne in das I n n e r e des Menschen h e r e i n w a n d e r t oder d u r c h das Z u s a m m e n t r e f f e n v o n a u ß e n u n d i n n e n sich e r s t e r z e u g t . W e n n es aber der e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n Ü b e r l e g u n g a u f g e h t , wie u n s t a t t h a f t jede Vorstellung ist, die die „ r i c h t i g e " E r k e n n t n i s v o n a u ß e n in d e n Geist hereingelangen l ä ß t , w e n n sie andererseits t r o t z d e m f o r t f ä h r t , den menschlichen Geist i m Besitz richtiger E r k e n n t n i s zu g l a u b e n , d a n n t r i t t ihr i m m e r wie eine unausweichliche F o l g e r u n g der G e d a n k e entgegen, es müsse das, was d e r Geist n u n e i n m a l besitzt u n d was doch nicht v o n a u ß e n in i h n hereing e k o m m e n sein k a n n , eben v o n A n b e g i n n a n so i n i h m g e l e g e n h a b e n , d a ß er in d e n ä u ß e r e n E i n d r ü c k e n lediglich den Anreiz f i n d e , v o n seinem E i g e n e n b e w u ß t Besitz zu ergreifen. So t r i t t d e m „ E m p i r i s m u s " antit h e t i s c h die L e h r e v o n d e n „ a n g e b o r e n e n I d e e n " , der „ N a t i v i s m u s " gegenüber. Gleichgültig, wie es u m das R e c h t der diesem Gegensatze z u g r u n d e liegenden A l t e r n a t i v e bestellt sein m a g : in der D i a l e k t i k der geistigen B e w e g u n g bildet sie eine o f f e n b a r unvermeidlich zu durchschreitende S t u f e . W e n n a b e r diese Theorie alle E r k e n n t n i s dessen, was i s t , einschließlich selbst d e r j e n i g e n der ä u ß e r e n W e l t , i m Geiste selbst p r ä f o r m i e r t sein l ä ß t , wieviel m e h r m u ß sie die I d e e n v o n d e m , was s e i n s o l l , in das E i g e n s t e dieses Geistes hineinverlegen — Ideen, in d e n e n schon eine vorphilosophische B e t r a c h t u n g n i c h t s anderes f i n d e t als ein aus d e m I n n e r s t e n dieses Geistes H e r v o r g e h e n d e s . So ist ein e t h i s c h e r N a t i v i s m u s die K r ö n u n g , w e n n n i c h t zugleich die Wurzel des e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n : die v o n i n n e n h e r erfolgende B e s t i m m u n g der sittlichen „ W a h r h e i t " gilt als sicherste G e w ä h r f ü r eine E i g e n m a c h t des Geistes, die d a n n a u c h in d e m B e w u ß t w e r d e n d e r theoretischen W a h r h e i t sich selbst e r p r o b t . U n d e n k b a r erscheint zugleich v o n diesen Prinzipien aus die bei H o b b e s vorliegende V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g : als ob der k o n k r e t e I n h a l t d e r L e b e n s o r i e n t i e r u n g sich auf der E r k e n n t n i s der Seinsgesetze a u f b a u e ; wie k ö n n t e das, w a s die Fülle des Geistes a m reinsten offenb a r t , ein v o n einem a n d e r e n Abgeleitetes sein! So t r i t t zum theoretischen Eigenbesitz des Geistes das in i h n eingesenkte G u t a n ethischen Ideen hinzu.

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W o i m m e r in d e r philosophischen E n t w i c k l u n g des A b e n d l a n d e s dieser G e d a n k e n k o m p l e x a u f t r i t t , d a ist zugleich der M y t h o s gegenwärtig, in d e m einem P i a t o n Schicksal u n d S e n d u n g des Geistes o f f e n b a r g e w o r d e n : d e r M y t h o s v o n d e r Menschenseele, die in der E r i n n e r u n g d a s einst g e s c h a u t e Reich d e r W a h r h e i t s u c h t , dessen Z e n t r a l sonne die I d e e des G u t e n ist. So ist es k e i n historischer Zufall, w e n n die ersten Angriffe gegen H o b b e s i m N a m e n P i a t o n s erfolgten. Z w a r berief m a n a u c h hier sich auf die „ N a t u r " ; a b e r dieser Begriff w u r d e inhaltlich ausgefüllt n i c h t in A n l e h n u n g a n die allzu vieldeutige u n d widerspruchsreiche N a t u r i d e e der S t o a , sondern n a c h M a ß g a b e p l a t o n i s c h e r u n d n e u platonischer Lehren. Des Menschen „ N a t u r " — d a s ist eben j e n e in seinen Geist eingesenkte Mitgift v o n ewigen, u n v e r ä n d e r l i c h e n , selbste v i d e n t e n I d e e n , die die E i n d r ü c k e des L e b e n s n u r ins B e w u ß t s e i n e m p o r h e b e n helfen. So die L e h r e der e i n f l u ß r e i c h e n „ C a m b r i d g e r S c h u l e " . Sie e r ö f f n e t eine G e d a n k e n r e i h e , die sich d u r c h die ganze Geschichte d e r englischen E t h i k h i n d u r c h zieht. Schon bei i h r e m B e g r ü n d e r C u d w o r t h t r i t t das methodische G r u n d p r i n z i p dieses allem E m p i r i s m u s u n d z u m a l Sensualismus feindlichen „ A p r i o r i s m u s " i n g r ö ß t e r S c h ä r f e h e r v o r ; schon bei i h m begegnen wir d e m Vergleich, d e r v o n d a a n i m m e r wieder d a z u dienen m u ß t e , die u n v e r b r ü c h l i c h e W a h r h e i t der d e m Geiste u r s p r ü n g lich eingeborenen sittlichen I d e e n zu i l l u s t r i e r e n : d e m Vergleich m i t d e n W a h r h e i t e n der M a t h e m a t i k . Wie diesen, so eignet a u c h d e n ethischen S ä t z e n eine Gültigkeit, die völlig u n a b h ä n g i g v o n d e r E x i s t e n z d e r W e l t u n d des Menschen in sich selbst i h r e n B e s t a n d h a t . K e i n e r u n t e r d e n S p ä t e r e n h a t diesen Vergleich so auf die Spitze getrieben, wie C l a r k e : n a c h i h m ist die E t h i k eine L e h r e v o n V e r h ä l t n i s s e n , sei es v o n H a n d lungen zu Personen, sei es v o n Personen zu P e r s o n e n , u n d die d u r c h sie erfolgenden V e r h ä l t n i s b e s t i m m u n g e n u n t e r s c h e i d e n sich n a c h A r t u n d logischer D i g n i t ä t nicht v o n d e n j e n i g e n R e l a t i o n e n , die die M a t h e m a t i k an Z a h l e n oder r ä u m l i c h e n F i g u r e n d e m o n s t r i e r t . W e n n n u n C u d w o r t h gleich m a n c h e m seiner Nachfolger, n e u p l a t o n i s c h e D e u t u n g e n der I d e e n lehre a u f n e h m e n d , die I d e e n in die Menschenseele e i n g e p f l a n z t sein l ä ß t d u r c h den göttlichen Schöpfergeist, als dessen G e d a n k e n sie i h r ursprüngliches Leben h a b e n , so geschieht d a m i t d e r Selbstevidenz dieser Ideen n i c h t der geringste A b b r u c h : d e n n diese L e h r e r ä u m t d e m Willen des Schöpfers keinerlei E i n f l u ß ein auf i h r e n G e h a l t ; a u c h f ü r G o t t sind die I d e e n A u s d r u c k einer u n w a n d e l b a r e n W a h r h e i t , die f ü r ihn, den ewigen Geist, n i c h t ein F r e m d e s , s o n d e r n schlechthin m i t seinem Wesen eins ist. E s ist eine H e r l e i t u n g der e t h i s c h e n P h ä n o m e n e , die auf der einen Seite den Z u s a m m e n h a n g m i t d e m G e d a n k e n k r e i s einer religiösen M e t a p h y s i k a u f r e c h t zu e r h a l t e n scheint u n d die doch, wie bereits oben deutlich geworden, die gedankliche W e n d u n g v o r b e r e i t e n h i l f t , d u r c h welche die I d e e n , als schon in u n d d u r c h sich selbst e v i d e n t e W a h r heiten, v o n dem sie in sich h e g e n d e n g ö t t l i c h e n Geist abgelöst w e r d e n .

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Vor allem Eingehen auf den k o n k r e t e n Gehalt dieser somit in das Apriori des Geistes zurückverlegten sittlichen Ideen bleibt es die grundsätzliche Frage, ob und inwieweit die Theorie, welche diejenige von H o b b e s verdrängen will, die an ihr aufgewiesenen Mängel und Widersprüche durch haltbare Lösungen überwindet. D a ist zunächst hervorzuheben: die Lehre, welche die Inhaltlichkeit des sei es theoretisch Wahren, sei es ethisch Richtigen in die „angeborene" Beschaffenheit des Menschen a u f n i m m t , wird von denselben Bedenken getroffen, denen die ihr antithetisch gegenOberstehende verfällt. Das wird schon v o n der Seite des erkenntnistheoretischen Problems her deutlich. Alles das, was dagegen spricht, den Gehalt der richtigen Erkenntnis aus der Realität der äußeren Welt in den Geist hineinwandem zu lassen, verbietet nicht minder nachdrücklich, diese Gehalte der R e a l i t ä t der Seele gleichsam einverleibt zu denken. Ein Etwas, dem die Prädikate des „ W a h r e n " u n d „ R i c h t i g e n " zukommen, erweist sich damit, wie schon hervorgehoben, als zugehörig zu einer Dimension, die so wenig m i t der „ i n n e r e n " wie m i t der „ ä u ß e r e n " Wirklichkeit zusammenfällt, zur i d e e l l e n D i m e n s i o n d e s „ S i n n e s " . Mag diese immerhin der „ i n n e r e n " W e l t insofern näher zu stehen scheinen, als sie in dem Erleben des Geistes ergriffen, gedacht, gewußt wird — d a r u m ist sie ganz und gar nicht mit der zeiterfüllenden R e a l i t ä t dieses Geistes identisch, darf folglich auch nicht in diese Realität versenkt u n d aufgelöst werden. E b e n dieses t u t aber implicite die Lehre vom Angeborensein der Ideen, i n d e m sie diese in ein Stück Realausstattung der Seele umwandelt. Wie viele Bedenken diese Versenkung des S i n n e s in das S e i n der Seele gegen sich h a t , gibt die Theorie d a d u r c h zu erkennen, daß sie, um sie faßbar zu machen, zu einem metaphysischen Geschehen ihre Zuflucht nehmen muß, das sich k a u m von einem Wunder unterscheidet: aus der Ewigkeit des göttlichen Geistes, dessen Sein mit der Wahrheit eins ist, haben sich die Ideen in die Menschenseele herniedergelassen. So macht eine tiefer gehende K r i t i k in der T a t offenbar: wenn m a n die Sphäre des Sinnhaften in ihrer eigenen Wesenheit richtig bestimmt, so ist damit bereits jene Alternative überhöht, nach welcher die W a h r h e i t entweder von „ d r a u ß e n " h e r e i n geholt oder von „ d r i n n e n " h e r v o r g e h o l t sein m ü ß t e . Der Sinn ist weder draußen noch drinnen; nur eine von Raumvorstellungen nicht loskommende Denkweise glaubt ihn hier oder dort suchen zu müssen. Der Gegensatz zwischen Hobbes und den Neuplatonikern entwickelt sich also, wie es so oft in der Gedankenbewegung der Fall ist, auf der Basis einer beiden gemeinsamen Vorstellung als Gegensatz komplementärer I r r t ü m e r . Da diese Überlegungen nicht n u r den Sinn des theoretisch Wahren, sondern schlechthin j e d e n Sinn treffen, so gelten sie auch v o n den Sinngehalten des ethischen Lebens. Auch sie verlieren das, was ihren Sinn a u s m a c h t , wenn m a n sie mit der realen Beschaffenheit der Seele einfach identifiziert. A m wenigsten vertragen sie diese Behandlung, wenn die Parallele m i t den mathematischen Wahrheiten zu Recht besteht; denn deutlicher als irgendwelche andere Denkinhalte machen diese offenbar, d a ß und wie der Sinn i n s i c h s e l b s t Bestand und Gültigkeit h a t und keinerlei Herleitung aus Realbestimmungen der Seele v e r t r ä g t . W e n n es das Streben der Cambridger war, die Objektivität und Allgemeingültigkeit der sittlichen Normen fest zu gründen, so vertrug sich damit schlecht eine Herleitung, die ihre I d e a l i t ä t so sehr in Frage stellte. Mit dem hier Kritisierten h ä n g t eng ein Weiteres zusammen, was desgleichen die Gegner in eine von ihnen selbst nicht geahnte Nähe bringt. Eine Lehre, die die sittlichen Ideen in die reale A u s s t a t t u n g des Menschen investiert, wird, so wenig das an sich zu der Haltung eines ethischen Idealismus und Objektivismus zu passen scheint, in ihren Folgerungen nicht weniger ,jatomistisch" als die mechanische Theorie eines Hobbes. Denn sie legt j a in die ursprüngliche Beschaffenheit des Menschen, wie er als einzelner und vereinzelter ins Dasein t r i t t , schon alles das hinein, dessen es zur sittlichen Lebensgestaltung bedarf; sein ganzes sittliches W a c h s t u m ist nur ein Hervortreten und Sichentfalten dessen, was schon v o n Anbeginn an, vor jeder Beziehung zu Welt und Menschen, ihm zu eigen war. Und da es zudem immer die g l e i c h e Mitgift ist, die sich in der sittlichen Persönlichkeit aktualisiert, so sieht die „ S t r u k t u r " der sittlichen Welt,

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wie sie «ich auf Grund solcher Voraussetzungen herausarbeitet, der von Hobbes entwickelten sehr viel ähnlicher, als die Schärfe des äußeren Gegensatzes zunächst annehmen läßt. Diese strukturelle Übereinstimmung besteht unbeschadet der inhaltlichen Verschiedenheit dessen, was hier und dort dem Einzelwesen als Ausstattung mitgegeben wird: hier der ganze lediglich der Erweckung bedürfende Reichtum des theoretisch W a h r e n und sittlich Wertvollen — dort ein rein formales, daher erst von außen mit I n h a l t zu erfüllendes Vermögen der Wirklichkeitserfassung und ein ebenso inhaltsarmer praktischer Grundtrieb der Seele.

I n bemerkenswerter F o r m t r i t t der individualistische G r a n d z u g a u c h dieser objektivistischen E t h i k gerade d a z u t a g e , wo sie scheinbar ihr formales Schema m i t einem d u r c h a u s auf die G e m e i n s c h a f t bezüglichen I n h a l t erfüllt. An der W e i t e r b i l d u n g der E t h i k der Cambridger ist auch C u m b e r l a n d beteiligt. E r sieht d e n k o n k r e t e n Gehalt der angeborenen sittlichen I d e e n sich verwirklichen in d e n j e n i g e n Regungen u n d H a n d l u n g e n der Menschen, die wir schon bei B a c o n u n d G r o t i u s ähnlich hervorgehoben f a n d e n : in den auf das W o h l der Mitmenschen gerichteten. D a s oberste sittliche Gesetz ist d a s W o h l der G e s a m t h e i t ! E b e n desh a l b ist die Soziabilität schon m i t der O r g a n i s a t i o n des Menschen gegeben. Dieser weitverbreitete T y p u s der E t h i k k a n n u n s zeigen, d a ß eine E t h i k n i c h t schon deshalb a u f h ö r t , „ i n d i v i d u a l i s t i s c h " zu sein, weil sie d e m E g o i s m u s a b s a g t u n d d e n ethischen W e r t a k z e n t auf die der Gesells c h a f t z u g e w a n d t e n T e n d e n z e n legt. D e n n a u c h hier b a u t sich der gesellschaftliche Z u s a m m e n h a n g erst aus d e n i m Einzelwesen liegenden B e d i n g u n g e n auf. E r wird gegenüber diesen p r i m ä r e n Antrieben zu einem z u s a m m e n g e s e t z t e n u n d abgeleiteten Gebilde. E s m a c h t f ü r die prinzipielle F r a g e keinen U n t e r s c h i e d aus, ob d a s I n d i v i d u u m wie bei H o b b e s erst d u r c h die V e r m i t t l u n g zweckrationaler E r w ä g u n g e n oder wie bei C u m b e r l a n d d u r c h u r s p r ü n g l i c h e ü b e r das I c h hinausweisende A n t r i e b e dahin gebracht wird, aus seiner isolierten E x i s t e n z herauszut r e t e n . I n beiden Fällen ist ein w a h r h a f t Überpersönliches, ein das I n d i v i d u u m in sich a u f n e h m e n d e r , t r a g e n d e r u n d fördernder Lebensz u s a m m e n h a n g nicht v o r h a n d e n . E i n vergleichender Blick auf die mittelalterliche Idee des corpus christianum l ä ß t ohne weiteres die hier besprochenen Theorien eng z u s a m m e n r ü c k e n . Deshalb d r o h t a u c h der E t h i k hier die schon bei H o b b e s b e o b a c h t e t e P r o b l e m v e r k ü r z u n g : a u c h hier entwickelt sich leicht die Neigung, die ethische P r o b l e m a t i k lediglich in d e m Umkreis d e r j e n i g e n Verhaltungsweisen zu suchen, die f ü r das Z u s t a n d e k o m m e n der G e m e i n s c h a f t v o n Belang sind. Übrigens v e r r ä t sich das individualistische Prinzip dieser E t h i k nicht n u r in d e m Bild v o n der S t r u k t u r der Gesellschaft, das in i h r e m H i n t e r g r u n d e s t e h t . Gleich als o b sie einer i m Bereich der Gesellschaft, also a u ß e r h a l b des I n d i v i d u u m s liegenden Zielsetzung doch nicht genügend motivierende K r a f t z u t r a u e , v e r s ä u m t sie n i c h t zu b e t o n e n , d a ß n a c h der gottgewollten O r d n u n g dieser W e l t m i t d e m W o h l der Gesamtheit dasjenige des Einzelnen z u s a m m e n f a l l e , d a ß also, wer gegenüber d e m N ä c h -

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8ten seine P f l i c h t t u e , d a m i t zugleich seinem eigensten Interesse diene. Gleichviel n u n , wie dieser höchst vieldeutige Begriff „ W o h l " des n ä h e r e n b e s t i m m t werden m a g — das Zurückgreifen auf ihn u n d die d a m i t verw a n d t e Ineinssetzung v o n Sittlichkeit u n d Glückseligkeit bringt abermals C u m b e r l a n d in eine N ä h e der Hobbes sehen D o k t r i n , die deutlicher als alles f r ü h e r e v o n der V e r w a n d t s c h a f t der G r u n d t e n d e n z e n Zeugnis ablegt. U n d es ist kein Zufall, d a ß , ähnlich wie C u m b e r l a n d , auch der Cambridger M o r e den Z u s a m m e n h a n g von Sittlichkeit u n d Glückseligkeit h e r v o r z u h e b e n nicht u n t e r l ä ß t . Hier beginnen schon jene V e r m i t t lungen u n d Ausgleiche h e r v o r z u t r e t e n , in denen die spätere englische Moralphilosophie Meisterin gewesen ist. R . C u d w o r t h , The true intellectual system 1678; Treatise concerning eternal and immutable morality 1731. H. M o r e , Enchiridion ethicum 1668. R . C u m b e r l a n d , De legibus n a t u r a e disquisitio philosophica 1672. S. C l a r k e , A discourse concerning the nnchangeable obligations of n a t u r a l religion 1706.

3. D I E P S Y C H O L O G I S C H E W E N D U N G . W e n n More u n d C u m b e r l a n d , obwohl Verfechter der A p r i o r i t ä t der ethischen Sätze, gleichwohl den Glückserfolg eines gfemäß diesen S ä t z e n orientierten H a n d e l n s heranzuziehen f ü r nötig f a n d e n , so weist diese E r g ä n z u n g auf eine Lücke hin, die die strenge F a s s u n g jener A p r i o r i t ä t bei Cudworth u n d Clarke offen ließ. A n g e n o m m e n selbst, d a ß diese recht d a r a n t a t e n , die E v i d e n z der sittlichen N o r m e n derjenigen der m a t h e m a t i s c h e n W a h r h e i t e n gleichzusetzen, k o n n t e doch auf die D a u e r nicht verborgen bleiben, d a ß die dieser Evidenz sich beugende Z u s t i m m u n g des S u b j e k t s auf beiden Seiten nicht das gleiche b e d e u t e t e . D e n n auf der Seite der m a t h e m a t i s c h e n , also rein theoretischer, W a h r h e i t e n h a t t e das S u b j e k t m i t dieser Z u s t i m m u n g , einem rein theoretischen A k t , das Seine g e t a n ; die Region rein ideeller Sinngehalte, der es sich gegenüberfand, verlangte nichts, was ü b e r diese theoretische L e i s t u n g h i n a u s f ü h r t e . Aber ethischen Sätzen geschieht m i t einem theoretischen J a s a g e n keineswegs G e n ü g e ; ihr Sinn erschöpft sich nicht in e v i d e n t e n Relationen i n n e r h a l b der ideellen S p h ä r e ; ihr Sinn ist es, gerade n i c h t in der Region der Idee zu v e r h a r r e n , sondern t ä t i g e Verwirklichung in einer realen Welt zu verlangen. U n d gerade hier gibt es Möglichkeiten der D u r c h f ü h r u n g , des Verfehlens, der A b l e n k u n g , ü b e r die m i t d e m Gewinn der r e c h t e n Einsicht noch n i c h t das mindeste ausgemacht ist. Zweifellos h a t t e n die G e n a n n t e n es sich mit dieser Seite der Sache zu leicht g e m a c h t . Die Parallele m i t der M a t h e m a t i k h a t t e sie dazu g e f ü h r t , m i t der theoretischen U n t e r w e r f u n g das ganze ethische P r o b l e m erledigt zu glauben — gleich als ob hier die theoretische E n t scheidung der V e r n u n f t ein ihr k o n f o r m e s H a n d e l n bereits v e r b ü r g e . Zweifellos h a t t e ihr Gegner Hobbes in dieser H i n s i c h t klarer gesehen; er h a t t e zwar der Intelligenz innerhalb des der E t h i k u n t e r s t e h e n d e n

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DIE PSYCHOLOGISCHE

WENDUNG

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Geschehens den breitesten R a u m gegeben, zugleich aber das die Weisungen dieser Intelligenz befolgende Handeln nicht wieder aus der Intelligenz hergeleitet, sondern aus einem übertheoretischen Grundimpuls der Seele entspringen lassen. Wenn die Theorie seiner ersten Gegner das Problem damit erledigt glaubte, daß sie auch die ethische Zielsetzung in die Hand der Vernunft legte, so lag darin ein Zutrauen zu der motivierenden Kraft theoretischer Einsicht, welches die genannten Fortsetzer dieser Theorie nicht so sehr teilten, daß sie nicht nach den Motoren des ethischen Handelns weitergefragt hätten. Je stärker sich 10 dies Streben in der Theorie ausprägte, u m so mehr mußte sich auch die Schärfe des Gegensatzes zwischen Hobbes und den Intellektualisten mildern. N u n h a t t e n die Umstände, unter denen diese Frage hervortrat, eine f ü r die Problemstellung höchst bedeutsame und weitreichende Wirkung. Das Problem der ethischen E i n s i c h t war, so schien es, durch den Hinweis auf die der Mathematik analoge Vernunftevidenz der sittlichen Normen entschieden. Die Objektivität und Allgemeingültigkeit dieser Normen verlangte als Korrelat auf der Seite des Subjektes eine Betätigung des r e i n e n D e n k e n s , deren Wesen sich wiederum an der Analogie des mathematischen Denkens erhellte. Wer, von solchen Voraussetzungen herkommend, aus irgendeinem 20 Grunde nach weiteren Komponenten des sittlichen Vorganges glaubte fragen zu müssen, der konnte gar nicht anders, als sie in dem Bereich dessen suchen, was jene Umgrenzung des ethischen Denkaktes übrig ließ, d. h. i m Bereiche des — im weitesten Sinne v e r standenen — „ E m o t i o n a l e n " . Und weil fernerhin der objektive Gehalt des Sittlichen als bereits in jenem Apriori erschöpfend bestimmt, in jenem Denken restlos erfaßt galt, so blieb f ü r dies Emotionale n u r die Bestimmung übrig, das Subjekt f ü r das bereits E r k a n n t e oder allenfalls auch in der Richtung auf das zu Erkennende mobil zu machen; genauer gesprochen: das Subjekt in den Z u s t a n d zu versetzen, der dem Erfassen sowohl wie dem Befolgen der g e g e n s t ä n d l i c h fixierten Norm günstig ist. I n diesem Zusammenhang bilden sich Vorstellungen heraus, die, wie sie schon in der antiken E t h i k 30 auftauchen, so bis zum heutigen Tage vielfach wie Grundkategorien von undiskutabler Selbstverständlichkeit der Betrachtung ethischer Probleme zugrunde gelegt werden. Es grenzen sich in aller Schärfe gegeneinander a b : ein i m Hinblick auf einen objektiven Inhalt bestimmtes r e i n t h e o r e t i s c h e s Verhalten — und ein i m Hinblick auf den Zustand des Subjektes bestimmtes r e i n a t h e o r e t i s c h e s Verhalten der Seele. W o das Gefühl waltet, da ist der objektive Inhalt entweder noch nicht in Sicht oder bereits festgelegt; wo der objektive Inhalt als solcher ergriffen wird, da ist das Gefühl nicht mehr oder noch nicht i m Spiel. U n d das Ganze des ethischen Vorganges realisiert sich durch ein wie auch immer geartetes Zusammenwirken dieser ihrem Wesen nach geschiedenen Mächte: das Gefühl schreitet dem eigentlichen ethischen D e n k a k t als Weg40 bahner voraus u n d folgt i h m als die zum Vollzug seines Inhaltes drängende Potenz.

Man erkennt, daß die hier auf ihre letzte Form zurückgeführten Überlegungen die ethische Denkbewegung auf solche Fragestellungen hindrängen mußten, die man als „ p s y c h o l o g i s c h " zu bezeichnen pflegt. Der ethische Intellektualismus in seiner strengen Form wirkte deshalb so unpsychologisch, weil er mit der Klärung des ethischen O b j e k t g e h a l t e s auch die Bedingungen seiner Aktualisierungim Subjekt, seiner Realisierung d u r c h das Subjekt geklärt wähnte. Hobbes'Theorie, obwohl in ihren Grundmotiven nicht weniger konstruktiv als diese,

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schien doch insofern weniger gleichgültig gegen die psychologischen Voraussetzungen des ethischen Lebens, als sie in Gestalt der alles regierenden Selbstsucht ein Lebensprinzip v o n höchst emotionalem Char a k t e r in das Z e n t r u m des menschlichen Kräftespieles einsetzte. U n d zumal jene A u f f a s s u n g , die das ethische Geschehen auf das Ineinandergreifen wohlgeschiedener seelischer F u n k t i o n e n z u r ü c k f ü h r t , ist natürlich u n t r e n n b a r v o n einer ganz b e s t i m m t e n p s y c h o l o g i s c h e n T h e o r i e : auch hier wird eine b e s t i m m t e „ S t r u k t u r " der seelischen Wirklichkeit h i n t e r den ethischen Aufstellungen s i c h t b a r . Es ist oft u n d m i t R e c h t hervorgehoben worden, d a ß die spezifisch englische Geistesrichtung dazu neigen m u ß t e , die ethische U n t e r s u c h u n g gerade in der R i c h t u n g der psychologischen Analyse vorzutreiben. Nicht minder ist zu b e a c h t e n , d a ß die Blickrichtung des psychologischen Beobachters sich leicht u n d gerne mit einer individualistischen A u f f a s s u n g der menschlichen Lebensz u s a m m e n h ä n g e identifiziert: denn wie n a h e liegt es ihr doch, in dem Lebenskreis des Einzelwesens, innerhalb dessen sie, ihrer methodischen Einstellung gemäß, alle zu analysierenden Prozesse ablaufen sieht, zugleich die a u f b a u e n d e n G r u n d m o t i v e des gesellschaftlichen Ganzen beschlossen zu glauben. Schon bei d e m zweiten Vertreter der Cambridger Schule wird die W e n d u n g des Gedankens sichtbar, die schließlich zu der hier a n g e d e u t e t e n P r o b l e m g e s t a l t u n g f ü h r t . So wenig M o r e d a r a n d e n k t , v o n d e m apriorischen C h a r a k t e r der sittlichen W a h r h e i t e n das mindeste preiszugeben, so glaubt er doch, der sie erfassenden V e r n u n f t eine H i l f s k r a f t beigesellen zu müssen, durch deren E i n w i r k u n g das S u b j e k t der eigenen Triebhaftigkeit H e r r zu werden fähig wird. So vage auch die n ä h e r e n B e s t i m m u n g e n dieser T r i e b k r a f t sind (boniform faculty, sensus virtutis), so viel lassen sie doch, zumal i m Z u s a m m e n h a n g mit der oben gestreiften B e z u g n a h m e auf die „Glückseligkeit" des Subjektes, erkennen, d a ß sie dessen im Gefühl erlebte u n d im H a n d e l n sich auswirkende i n n e r e V e r f a s s u n g im Unterschied von der gegenständlich gerichteten E r k e n n t n i s des sittlich G u t e n bezeichnen wollen. Desgleichen weist C u m b e r l a n d , den wir schon in der Gleichsetzung von T u g e n d u n d Glückseligkeit mit More einig f a n d e n , auf die angenehmen Gefühle hin, von denen das sittliche H a n d e l n begleitet werde. I n anderer F o r m l ä ß t ein s p ä t e r Nachzügler der Intellektualisten, P r i c e , die geschiedenen K r ä f t e zus a m m e n w i r k e n : Gefühlsvorgänge, i n s t i n k t m ä ß i g e R e g u n g e n i m S u b j e k t bilden die unvollkommene Vorstufe der echten sittlichen V e r n u n f t , deren „ R e i n h e i t " d a n n die gefühlsmäßige U n t e r s t ü t z u n g überflüssig m a c h t , wenn nicht ausschließt. 4. L O C K E . W e n n schon die aprioristischen Theorien in ihrer F o r t b i l d u n g , v o n der ursprünglichen Strenge ablassend, sich der in Hobbes v e r k ö r p e r t e n

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Gegenposition merklich näherten, so kehrte J o h n L o c k e mit Entschiedenheit auf den Boden von dessen Grundvoraussetzungen zurück. Dabei hat er die Schroffheiten dieser Doktrin, an denen sich das landläufige Urteil am meisten stieß, so weit gemildert, die von ihr vernachlässigten Motive soweit wiederhergestellt, zudem das so entstandene gedankliche Ganze mit soviel gesundem Menschenverstand und schriftstellerischer Anmut vorgetragen, daß seine Lehre, zumal in ihren auf praktische Daseinsgestaltung bezüglichen Teilen, zum repräsentativen Ausdruck der englischen Lebensansicht werden konnte und es zu einer entsprechend weitreichenden Wirkung gebracht hat. Seine Theorie bildete von nun an in ähnlichem Sinne den Orientierungspunkt für die ethische Erörterung wie vordem diejenige von Hobbes. Auch bei Locke finden wir die ethischen Grundsätze mit einer bestimmten Erkenntnistheorie solidarisch verbunden — einer Erkenntnistheorie, die nach ihren für die Ethik belangvollen Seiten hin bereits oben charakterisiert und kritisiert worden ist. Die Seele des Menschen ist in ihrer ursprünglichen Beschaffenheit ein „weißes Papier", aller „angeborenen" Inhalte entbehrend, ausgestattet lediglich mit dem allgemeinen Vermögen, von außen kommende Eindrücke in sich aufzunehmen und im Zusammenhang mit diesen Eindrücken Lust und Unlust zu empfinden. Man bemerkt in dieser Doppelbestimmung die Zweiteilung des seelischen Geschehens, die sich auch bei den Fortsetzern der Cambridger Schule anbahnte; man bemerkt zugleich, daß Hobbes' Egoismus durch ein allgemeines Vermögen des Subjekts, seiner eigenen Zustände inne zu werden, ersetzt ist. Jene Eindrücke entwickeln sich in der Seele auf Wegen, die zu betrachten nicht unsere Sache ist, zur „Erfahrung", und diese Erfahrung umfaßt dann auch das Wissen um die Geschehnisse und Handlungen, mit denen sich Lust- und Unlustzustände im Subjekt verbinden. Aus dem Zusammenspiel dieser Elemente, die genau wie bei Hobbes in möglichst geringer Zahl und möglichster Einfachheit vorausgesetzt werden, in engster Anlehnung an diese „Erfahrung", entwickeln sich dann Regeln des Handelns, deren Befolgung dem Menschen Lust zu verschaffen, Unlust zu ersparen geeignet ist — und diese Regeln sind nichts anderes als der Kanon der Sittlichkeit. Obwohl die hier zusammengefaßte Lehre, die Erkenntnistheorie, Psychologie und Ethik aus einem Grundprinzip heraus sich entwickeln läßt, von H o b b e s ' mechanistischen Prinzipien abgeht, bleibt sie ihm gerade in solchen Zügen besonders nahe, die wir im Interesse der ethischen Problementwicklung angreifen mußten. Zunächst fordert auch sie die Frage heraus, ob es einen guten Sinn habe, eine aus solchen Motiven erwachsene Summe von Regeln des Handelns mit dem besonderen Wertprädikat „sittlich" zu belegen. Locke selbst hat sich dem nicht verschlossen: denn ausdrücklich bestreitet er das Bestehen einer besonderen, zu einer spezifisch sittlichen Wertsphäre zugehörigen Vernunft; er kennt nur die e i n e , selbige Vernunft, die wie alle so auch die praktischen Lebensfragen bearbeitet. Zu diesen letzteren gehören dann auch diejenigen, denen man irrigerweise ein besonderes sittliches Organ glaubt zuordnen zu müssen. Aber je enger durch diese Auffassung die Sittlichkeit mit der Erfahrung, die Ethik mit der

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Erkenntnistheorie verbanden wird, nm so weniger bleibt sie von der Kritik verschont, die diese Erkenntnistheorie auf sich zieht. Auch Locke glaubt mit der These, es gebe keine „angeborenen" Wahrheiten in der Seele, den weiteren Gedanken mitgesetzt, daß, was immer die Seele trotzdem an Einsichten besitze, irgendwie einmal in ihr e n t s t a n d e n , p r o d u z i e r t sein müsse, und zwar selbstverständlich unter dem Einfluß von außen kommender Einwirkungen. Aber die unbefangene Gleichsetzung dieser beiden Behauptungen wird nar dadurch möglich, daß der i d e e l l e G e h a l t der Einsicht vertauscht wird mit dem s e e l i s c h e n G e s c h e h e n , in dem dieser ideelle Gehalt zum ersten Male auftaucht oder gewonnen wird. Dieses gehört als solches der in der zeitlichen Folge sich ausbreitenden Realität an; jenes steht außer der Zeit, ist unabhängig vom Vor und Nach. Wenn wir den Begriff der „Erfahrung" irgend ernst nehmen, so bedeutet er das Erwerben and Haben eines Denkinhaltes, der sich als „ r i c h t i g " qualifiziert und damit seine Zagehörigkeit zur Sphäre des Zeitlosen aufs unzweideutigste bekundet. Auch die Philosophie der Erfahrung kommt nicht an dem Problem vorbei, das der Begriff der „reefa ratio" bezeichnet; seiner Lösung ist L o c k e in den merkwürdigen Ausführungen am nächsten, in denen er von dem „intuitiven" Charakter ethischer Erkenntnis spricht. Aber im allgemeinen konnte seine Fragestellung das Problem nicht zu seiner originären Entfaltung kommen lassen. So berechtigt und aufschlußreich die Untersuchung der realen Abläufe und Bedingungen sein mag, die der Beobachter da vorfindet, wo „ E r fahrung" erworben und verarbeitet wird, es ist schlechthin sinnwidrig, als auch nur denkbaren Teil dieser Analyse den Aufweis anzusehen, daß und wie aus der Realität dieses Geschehens ein „richtiger" Denkgehalt als sein P r o d u k t hervorgeht. Das ist die fundamentale Wahrheit, an der jede empiristisch-psychogenetische Herleitung der Erkenntnis scheitern muß. Auch die Ethik von L o c k e wird durch diesen Einwand recht eigentlich ins Herz getroffen: denn die Geltung der ethischen Normen steht und fällt nach seinen Voraussetzungen mit der „Richtigkeit" der Erfahrung, deren Niederschlag sie bilden. Die Möglichkeit aber, ihr solche Richtigkeit sinnvoll zuzusprechen, hebt Locke durch ihre erkenntnistheoretische Interpretation selbst auf. Daß von dieser Irrung auch das Bild der seelischen Struktur, das Lockes Aufstellungen zugrunde liegt, nicht unberührt bleibt, sei nur gestreift: fehlt in diesem Bild die mögliche Beziehung, das mögliche Sichrichten des Geistes auf ideelle Gehalte, so ist gerade d a s strukturelle Prinzip der Seele ausgeschaltet, in dem die Neuplatoniker, wenn auch in verfehlter „nativistischer" Auslegung, die Voraussetzung sittlicher, d. i. sinnvoller Lebensgestaltung erblickt hatten, and es bleibt nur noch ein äußerer Ablauf angereihter Impressionen und Lust- bzw. Unlustzustände übrig.

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Die ethische Theorie von Locke beschränkt sich nicht auf diese Sätze, mit denen sie höchstens die Theorie von Hobbes weitergebildet hätte; vielmehr bildet das Prinzip der Lust und Unlust, das j a in seiner formalen Allgemeinheit über die Enge der Hobbesschen,, Selbstsucht" hinauszugehen gestattet, den Anknüpfungspunkt für weitere und ganz anders 40 geartete Begründungen der Sittlichkeit. Zu den Lust- und Unlusteffekten nämlich, die die „ E r f a h r u n g " mit gewissen Handlungen verbunden zeigt, zählen auch gewisse Gruppen solcher, die nicht aus der Natur der Dinge als solcher erfließen, sondern erst durch die Festsetzungen und Maßnahmen bestimmter Gewalten sich an gewisse Handlungen angeknüpft haben. Indem Locke auf diese zurückgeht, greift er einen in der englischen Ethik seit Hobbes beliebten Gedanken auf: daß nämlich einem sittlichen Gesetz nur unter der Annahme eines zugehörigen G e s e t z g e b e r s verpflichtende K r a f t beigelegt werden könne. Hatte man diesen Gesetzgeber bisher in der Person Gottes und der Staatsgewalt so

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gesucht, so glaubt Locke ihrer drei aufstellen zu sollen: Gott, den Staat und die öffentliche Meinung. Ein jeder von ihnen hat an gewisse, von ihm gebotene bzw. verbotene Verhaltungsweisen bestimmte Folgen, Belohnungen und Strafen, geknüpft: Gott die sowohl im Diesseits wie im Jenseits zu gewärtigenden Folgen von Tugend und Verfehlung, der Staat die gesetzlichen Ahndungen, die öffentliche Meinung Beifall und Mißfallen der Allgemeinheit. Es sieht so aus, als ob L o c k e damit der erfahrungsmäßigen Begründung des Sittlichen drei weitere zur Seite stelle, ja, seine Darstellung rückt sie manchmal ihr gegen10 über stark in den Vordergrund. Aber fragen wir weiter: Was hat denn die genannten Gesetzgeber! bewogen, gerade diese bestimmten Handlungen durch Belohnungen hervorzulocken, jene durch Bestrafungen zurückzudrängen? Das Wissen um die an jene sich anschließende Lust-, die an diese sich anschließende Unlust-Erfolge! Es liegt also ihren Anordnungen dasselbe Wissen u m die Natur der Dinge zugrunde, das in dem zuerst betrachteten Falle der einzelne Mensch durch die „ E r f a h r u n g " unmittelbar erwirbt; ja, die letzte Beglaubigung jener Verordnungen besteht eben in ihrer völligen Übereinstimmung mit dem, was eine umfassende Erfahrung von der Natur des Wirklichen lehrt. Am offenkundigsten t r i t t das in der göttlichen Gesetzgebung zu Tage: geht sie doch von d e r Macht aus, deren Schöpfertat der Wirklichkeit eben die in der Erfahrung 20 sich erschließende Beschaffenheit gegeben hat. Weit entfernt davon also, neue Quellen des Sittlichen zu erschließen, bringen die „Gesetzgeber" lediglich die Quintessenz des Erfahrbaren auf einen gesammelten, pädagogisch ebenso faßlichen wie wirksamen Ausdruck. Sie führen damit auch d e n auf den rechten Weg, der diese Erfahrung selbst zu erwerben nicht fähig, ihr gemäß zu handeln nicht willens ist. Man sieht, wie viele von den überlieferten Motiven diese Theorie ins Einvernehmen zu setzen verstanden hat, wie zahlreich und verschiedenartig die Denkrichtungen waren, die in ihr sich wiederfinden konnten. Daß freilich allen diesen Motiven innerhalb des Ganzen das gleiche Gewicht zukäme, kann nicht behauptet werden. Zu handgreiflich ist der innere Vorrang, den zwar nicht nach Lockes Darstellung, wohl aber der Sache 30 nach die vernünftige Erfahrung gegenüL->r den autoritativ wirkenden Faktoren behauptet. Die Weisungen der „Gesetzgeber" kamen doch, würdigte man sie im Rahmen des Ganzen, weder als Quellen der Einsicht noch als Motive des Handelns f ü r d e n in Betracht, den seine Erfahrung bereits über die Lust- und Unlusteffekte des Handelns belehrt hatte. Auch hier haben wir also eine Fassung des Sittlichen vor uns, die seiner Ablösung vom Transzendenten kein ernstliches Hindernis in den Weg stellte. Ebensowenig aber haben wir Anlaß, in den „Gesetzgebern" Staat und „öffentliche Meinung" so etwas wie transpersonale, eigenlebendige Kollektivträger der sittlichen Wertgehalte zu suchen. Auch was sie bieten, ist j a nichts weiter, als eine gesammelte und pädagogisch hergerichtete Individualerfahrung, ein Kompendium dessen, was grundsätzlich der ein40 zelne Mensch ebenso gut durch individuelle Vernunft sich erwerben kann — wie denn auch der Ertrag dieser Erfahrung sich in den Lustzuständen des Individuums bzw. einer Summe von Individuen erschöpft. Nur rationalistisch verdünnt und konventionell abgeblaßt, nur als im Grunde ersetzbare Hilfskräfte treten die autoritären sittlichen Mächte im Rahmen dieser E t h i k auf, die, was sie so an Vielseitigkeit gewinnt, an innerer Geschlossenheit einbüßt. J . L o c k e , An essay concerning human understanding 1690.

5. S H A F T E S B U R Y . Wir gehen nicht ein auf die in England sich eines nachhaltigen Erfolges erfreuenden theologischen Lehren, denen die Prinzipien von Locke

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dazu dienen mußten, eine sehr derbe utilitaristische Verbindung zwischen Sittlichkeit und religiösem Glauben herzustellen ( W a r b u r t o n , P a l e y ) . Gestreift sei desgleichen nur der Versuch eines Gliedes der Cambridger Schule, H a r t l e y , mit Hilfe des psychologischen Prinzips der Assoz i a t i o n einen primären Lusttrieb der menschlichen Natur, der ursprünglich nur in den eigenen Zuständen des Ich seine Befriedigung findet, allmählich dergestalt übergehen zu lassen auf objektive Güter, daß die voll entwickelte Sittlichkeit sich als das endliche P r o d u k t eines psychischen Mechanismus darstellt — ein Versuch, dessen sachliche Würdigung bereits in dem über Hobbes und Locke Bemerkten eingeschlossen ist. Unser Interesse wendet sich demjenigen Denker zu, der, während C l a r k e in der Bestreitung von Locke im wesentlichen die Beweisführung der Cambridger erneute, seinerseits von einem ganz anderen Boden her den Kampf gegen diesen aufnahm und damit, ohne zunächst in England selbst starken Widerhall zu finden, doch schließlich zu einem der stärksten Anreger auf dem Gebiete der ethischen Reflexion geworden ist. Es ist S h a f t e s b u r y . Seine kritischen wie seine aufbauenden Gedanken sind bei aller Systemlosigkeit, die sie charakterisiert, stark genug gewesen, um die bisher als verbindlich erachteten Voraussetzungen und Fragestellungen in den Hintergrund zu drängen. Auch von Shaftesbury gilt es, daß er auf die ethische Ideenbewegung nicht so sehr durch seine dem Sondergebiet der Ethik als solchem zugehörigen Gedanken — Gedanken, in denen er bisweilen nur überlieferte Motive fortzuspinnen scheint — wie durch das Ganze der Welt- und Lebensansicht gewirkt hat, deren Teilausdruck seine sittlichen Deutungen gewesen sind. Diese Weltansicht wiederum gewinnt dadurch ihre Sonderstellung im Gange dieser englischen Entwicklung, daß sie gewisse Grundmotive in neuer Form auferstehen läßt, die, von der Antike zuerst ausgeprägt und von der Renaissance liebevoll gepflegt, von dem englischen Geist bis dahin ferngehalten worden waren. Insbesondere erlebt der s t o i s c h e Naturbegriff, bereichert und vertieft aus der religiösen Ergriffenheit des Neup l a t o n i s m u s , hier eine Wiedergeburt, in der ihm ein von der Renaissance ersehnter, von den englischen Moralisten nie geahnter Vollgehalt zuwächst. Im engsten Zusammenhange damit wird all den Bemühungen um eine Vermittlung mit der religiös-theologischen Ideenwelt, in denen wir die sich im übrigen befehdenden Richtungen einig fanden, eine runde Absage erteilt. Zum ersten Male wird wieder der Versuch gewagt, der Sittlichkeit in einer rein diesseitig aufgefaßten Welt eine Heimat zu geben. Will man das Prinzip, das Shaftesbury der von ihm vorgefundenen Gedankenwelt entgegenstellt, in einem Wort zusammenfassen, so wird man sagen dürfen: er setzt l e b e n d i g sich g e s t a l t e n d e T o t a l i t ä t gegen mechanische Atomanhäufung. Die natürliche Welt ein Aggregat von Elementen, die menschliche Gemeinschaft eine Summe von Einzel-

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wesen, der einzelne Mensch ein B ü n d e l v o n Anlagen, v o n Trieben, v o n E i n d r ü c k e n , v o n L u s t - u n d U n l u s t z u s t ä n d e n : so sah die angebliche Wirklichkeit aus, aus der die E t h i k erwachsen sein u n d in der sie sich b e w ä h r e n sollte. I n S h a f t e s b u r y erwacht dagegen das Bewußtsein eines ursprünglichen Verbundenseins mit d e m All, das in diesem Zerrbilde n i c h t s v o n d e r Welt, die es i m I n n e r s t e n erlebt, wiederfindet, das a m wenigsten in ihm die Antriebe sittlicher Daseinsgestaltung e n t d e c k e n k a n n . Sittlichkeit i m höchsten Sinne ist f ü r S h a f t e s b u r y nicht ein S y s t e m v o n klüglich ersonnenen Einzelregeln u n d Einzelpraktiken, d u r c h die das Sonderwesen seine Eigeninteressen m i t d e m Weltlauf ins Gleichgewicht b r i n g t , sondern ein I n n e w e r d e n , B e j a h e n u n d tätiges B e w ä h r e n der Solidarität, die das u n z e r t r e n n b a r e Ganze seiner E x i s t e n z u r s p r ü n g l i c h in die Lebenseinheit des U n i v e r s u m s e i n b e t t e t . Sittlichkeit ist i h m E n t f a l t u n g persönlicher T o t a l i t ä t i m E i n k l a n g m i t dem Ges a m t s i n n e der W e l t . Mit dieser A u f f a s s u n g stellt sich z u n ä c h s t einmal, u m m i t dem Mikrokosmos des Einzelwesens zu beginnen, diejenige E t h i k wieder her, die n i c h t in einzelnen a b t r e n n b a r e n Einsichten, H a n d l u n g e n oder Zus t ä n d e n bzw. in einer S u m m e solcher, sondern in einer G e s a m t v e r f a s s u n g des Subjektes, in der „ P e r s ö n l i c h k e i t " , den I n h a l t des sittlichen Lebens sieht. Diese innere Verfassung fällt nicht einfach z u s a m m e n m i t d e m K o m p l e x der v o r g e f u n d e n e n Beschaffenheiten, sondern ist erst aus diesem herauszugestalten. Solche G e s t a l t u n g der persönlichen E x i s t e n z ist zunächst einmal ermöglicht, j a nahegelegt d u r c h ein allem Lebendigen innewohnendes Prinzip, das zur F o r m d r ä n g t ; i m beseelten Menschen erreicht sie deshalb ihre höchste Gestalt, weil in i h m dieses Prinzip sich nicht s e l b s t t ä t i g - u n b e w u ß t a u s w i r k t , sondern zu sich selbst k o m m t , ein Wissen v o n sich selbst gewinnt u n d somit recht eigentlich z u m Schöpfer seiner selbst zu werden v e r m a g . Psychologisch p r ä g t sich diese B e g n a d u n g in einem Sachverhalt aus, dessen B e d e u t u n g f ü r die E t h i k schon f r ü h e r bemerklich w u r d e : es ist die Weise des Ich, sich ü b e r sich selbst zu erheben, auf seinen eigenen Gehalt nicht n u r zu reflektieren, sondern a u c h in ihn irgendwie ordnend u n d gliedernd einzugreifen. Bleibt S h a f t e s b u r y mit diesen B e s t i m m u n g e n noch in den B a h n e n der Vorgänger, so f ü h r t das, was wir über die E i g e n a r t jenes „ O b e r - I c h " , über die Prinzipien seines W a l t e n s v e r n e h m e n , entschieden ü b e r die Älteren hinaus. W a r es i m m e r wieder der ethischen Reflexion nicht eben leicht gefallen, die Selbstgestaltung der Person nicht etwa n u r zu f o r d e r n , sondern a u c h einwandfrei zu normieren, so wird S h a f t e s b u r y d u r c h die G r u n d s t i m m u n g seines Welterlebens, die sich insbesondere in der plotinischen Mystik b e s t ä t i g t u n d geklärt f i n d e t , dahin g e f ü h r t , die Prinzipien des persönlichen Werdens der ä s t h e t i s c h e n W e r t s p h ä r e zu entlehnen, oder besser in den Kategorien, die in dieser heimisch sind, zum A u s d r u c k zu bringen. D a s Geheimnis des vollkommenen Lebens

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NEUZEIT

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ist die F o r m , das Ebenmaß, die Proportion, die AJbgestimmtheit der im

Menschen

vereinigten

Antriebe

und

Möglichkeiten;

die

sittliche

Verfehlung ist das Unmaß, das die innere Architektonik zerstörende, den Lebensrhythmus verwirrende Hervortreten einzelner Sonderstrebungen. Im Einklänge mit dieser Fassung des gestaltenden Prinzipes bestimmt sich nnn anch Wesen und Wirkungsweise jenes führenden Ich. Solange apriorische Wahrheiten, allgemeine Ideen als Richtschnur des sittlichen Lebens galten, konnte, j a mußte dieses die Zfige einer rein theoretischen Vernunft annehmen. Verwandelte sich aber seine Aufgabe in ästhetische Gestaltung, und wurde auch noch dieser sein Beruf ausgelegt von einem Denker, dem sich im ästhetischen Erlebnis ein mit glühender Inbrunst ergriffener Lebenssinn enthüllte — so mußte es der kühlen Atmosphäre des Theoretischen enthoben und in eine leidenschaftlichere Welt versetzt werden. So erfolgt die entschiedene Schwerpunktsverlagerung aus dem Intellektuellen in das E m o t i o n a l e . Eine psychische Region, die bis dahin dem sittlichen Erleben nur Hilfskräfte gestellt hatte, wird damit zum eigentlichen Quellbezirk der sittlichen Regungen. Es hieße die Bedeutung dieser Wendung unterschätzen, wollte man sie nur dahin verstehen, daß die zwei Teilrichtungen des seelischen Erlebens, wie wir sie oben abgegrenzt fanden, Vernunft und Gefühl, einfach ihren Bedeutungsakzent vertauscht hätten. Die neue Bewertung geht mit einer neuen Beurteilung des seelischen Befundes Hand in Hand, mag auch das rhapsodische Denken Shaftesbury diese Seite der Sache nicht zu voller Klarheit entwickeln. Er nennt die für das sittliche Leben leitenden Gefühlserlebnisse „ R e f l e x i o n s a f f e k t e " ; der Name besagt, daß sie entstehen in der Reflexion auf die primären Affekte, die in ihrem Zusammenspiel gleichsam das der Formung bedürftige Rohmaterial dem höheren Ich zur Verfügung stellen. Wie aber wäre es denkbar, diese Gefühle höheren Ranges, diese emotionalen Erlebnisse der um sich selbst wissenden Persönlichkeit, gemäß der groben Klassifikation jener naiven Psychologie einfach d e n Gefühlen einzureihen, in denen das Ich seiner eigenen Z u s t ä n d e inne wird ? Reflexionsgefühle sind sie doch eben nur deshalb, weil sie sich auf andere Gefühle richten, d. h. an diesen Gefühlen einen „ G e g e n s t a n d " haben. Man kann diesen emotionalen Erlebnissen nicht nähertreten, ohne zu erkennen, daß jene Scheidung von gefühlsfreien Objekterlebnissen und objektlosen Gefühlserlebnissen, die einem mechanistisch trennenden Denken so naheliegt, die seelische Wirklichkeit ganz und gar nicht erschöpfend aufteilt. Mag die von Shaftesbury versuchte Bestimmung dieser Erlebnisklasse im einzelnen noch so fragwürdig sein — in ihr liegt doch die für die Psychologie wie für die Ethik gleich befreiende Einsicht, daß es Gefühlserlebnisse gibt, die eben durch ihr Bezogensein auf eine Gegenständlichkeit sich als solche höheren Ranges, als „geistige" Gefühle ausweisen. Und es war dieser Klärung höchst förderlich, daß den hier in Frage stehenden Gefühlsregungen ihre gegenständliche Bezogenheit nicht nur durch die Intention auf eine in ihnen sich reflektierende Affektsphäre überhaupt, sondern insbesondere auch durch die gegenständliche „Gestalt", das Formgesetz dieser Sphäre aufs deutlichste bezeugt wurde. Shaftesbury unterstellt diese Sphäre, wie wir sahen, der Herrschaft ästhetischer Prinzipien. Gerade dies ist aber die Eigenart des ästhetischen Erlebnisses, daß es so klar wie kein anderes in sich die innigste Gefühlsdurchdrungenheit mit der Beziehung auf eine eben als Form unvergleichlich klar umrissene Gegenständlichkeit vereinigt. Indem Shaftesbury die Reflexionsaffekte als Äußerungen eines „ m o r a l i s c h e n G e s c h m a c k s " auslegt, läßt er sie deutlich genug an dieser Gegenstandsbezogenheit der ästhetischen Werturteile Anteil haben. So ist die nicht in jeder Hinsicht unbedenkliche Herübernahme ästhetischer Auffassungskategorien jedenfalls hervorragend dazu angetan, die Struktur der ethischen Erlebnisse ans psychologistischen Irrungen herausarbeiten zu helfen. Die eigentümliche Abstufung der seelischen Erlebnisse, die sich hier zur Geltung bringt, ist unter der Anregung Shaftesburys noch klarer herausgearbeitet worden von

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einem Denker, dessen einschlagige Überlegungen wir hier gleich anfügen. Es ist B n t l e r . Nachdrücklich hebt er die Sonderstellung und Überlegenheit solcher Erlebnisse hervor, in deren Wesen es liegt, nicht einfach neben anderen sich zu verwirklichen, sondern diese anderen einer sie alle umfassenden P r ü f u n g a n d Wertbeurteilung zu unterziehen. Erst d u r c h diese Schichtung des seelischen Geschehens wird das möglich, was alle sittliche E r f a h r u n g lehrt: d a ß die tatsächlich auftretenden Motive des Handelns nicht nur nach ihrer Starke sich auswirken u n d miteinander verglichen werden können, sondern auch nach ihren inhaltlichen Qualitätsunterschieden in eine Rangordnung gebracht werden. Sie herzustellen bedarf es eben eines seelischen Vermögens, daß sich ihnen nicht äußerlich anreiht, sondern sie ihrer ganzen Ausdehnung nach übergreift. Eben dies ist die F u n k t i o n jener „reflektierenden" Tätigkeit des Subjektes.

I n der so des n ä h e r e n b e s t i m m t e n Sittlichkeit der Gesamtpersönlichkeit sieht S h a f t e s b u r y n u n alsbald Gegensätze u n d F r a g e n verschwinden, u m welche die ethischen Vorgänger i m m e r v o n n e u e m gerungen h a t t e n . Die innere P r o p o r t i o n der Persönlichkeit d u l d e t weder ein Verschwinden, n o c h ein einseitiges Übergewicht einer der Motivgruppen, die m a n wiederholt gegeneinander ausgespielt h a t t e : der auf das Selbst u n d der auf d e n M i t m e n s c h e n gerichteten. W e n n zwischen diesen beiden R i c h t u n g e n des Willens n o c h irgendein Widerstreit b e s t e h t , so ist das ein Zeugnis, d a ß die innere W e l t ihre P r o p o r t i o n n o c h nicht g e f u n d e n h a t . I m Leben des „ V i r t u o s o " reguliert sich das Zusammenspiel beider K r ä f t e v o n selbst u n d o h n e j e d e R e i b u n g . W e n n n u n S h a f t e s b u r y in d e m Ganzen der entwickelten Persönlichkeit einen K o m p l e x v o n „sozial" gerichteten Trieben zu b e m e r k e n g l a u b t — e r n e u e r t er d a m i t nicht auf d e m Boden der n e u e n G e s a m t ansicht doch schließlich j e n e A u f f a s s u n g , n a c h welcher sich v o n p r i m ä r e n A n t r i e b e n des Einzelwesens her der gesellschaftliche K ö r p e r als deren P r o d u k t a u f b a u t ? Diese F r a g e zu entscheiden ist n u r möglich, w e n n wir d a s soziale Gebilde n i c h t als isoliertes, rein aus sich zu erklärendes P h ä n o m e n b e t r a c h t e n , s o n d e r n m i t S h a f t e s b u r y hineinstellen in ein allu m f a s s e n d e s Lebensgeschehen, das sich in i h m n u r zu besonderer I n t e n s i t ä t emporsteigert. D a m i t t r e t e n wir zugleich in den B a n n k r e i s der D a s e i n s d e u t u n g , in der S h a f t e s b u r y das Ganze der erlebten Wirklichkeit u m f a ß t : der neuplatonisch-ästhetischen. W a s i m m e r v o n a u ß e n a n d e n Menschen h e r a n t r e t e n mag, es spricht zu i h m als S c h ö n h e i t der F o r m u n d Bildung. D a s gilt zunächst u n d vor allem von der sichtb a r e n Außenseite der Dinge. Aber diese Schönheit der E r s c h e i n u n g ist f ü r d e n in sie sich v e r s e n k e n d e n Menschengeist nicht ein Letztes u n d in sich selbst B e g r ü n d e t e s : sie ist n u r das r u h e n d e S y m b o l der unendlichen Bewegtheit des s c h a f f e n d e n Weltgeistes, der die H a r m o n i e seines Wesens in seinen W e r k e n sichtbarlich a u s p r ä g t . W e n n aber die Seele sich ihrerseits v o n der Schönheit des Geschaffenen z u r Schönheit der schaffenden Lebensgewalt w e i t e r g e d r ä n g t f ü h l t , d a n n geht es ihr auf, d a ß diese m i t ihr selbst i m tiefsten eins ist, d a ß also das ihr scheinbar äußerliche Formgebilde Zeugnis ist einer K r a f t , als deren Teil sie — auch sich selbst weiß! E s ist derselbe „ L o g o s " der W e l t , der in d e n äußeren Dingen

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die Schönheit des Sichtbaren aufleuchten läßt und der in dem innersten Herzen die Sehnsucht nach Schönheit entzündet. Welches aber ist das schönste und wundersamste Gebilde, das dieser unwiderstehliche Hang zur Schönheit ins Leben ruft ? E s ist das Kunstwerk der zur Harmonie durchgedrungenen P e r s ö n l i c h k e i t . Alles schönheitstrunkene Umfangen der geformten Erscheinung ist doch schließlich nur Vorstufe, ahnende Vorwegnähme, lockender Anreiz zu der höchsten künstlerischen Tat, zu der der Mensch als edelstes Geschöpf des Weltlogos berufen ist: zum Wundergebilde der „schönen" Persönlichkeit. Ans dieser Gesamtkonzeption des Verhältnisses von Ich nnd Welt heraus m a ß UrSprung und Bestimmung der „ s o z i a 1 e n " Triebe verstanden werden, denen Shaftesbury in dem organischen Ganzen der vollendeten Persönlichkeit ihre Stelle anweist. Die Welt ist dem I c h nicht bloß eine Summe von äußeren Reizen und Anstößen, die einem i h m von Anbeginn an Mitgegebenen zur Aktualisierung verhelfen. Noch weniger ist sie ein durch Zusammenwirken ursprünglich isolierter Antriebe und Aktionen sich aufbauendes Aggregat. Sondern I c h und Welt sind in einem ursprünglichen Lebenszusammenhang ineinander geschlungen, der einer „ a u t o n o m e n " Wirksamkeit ungebundener Einzelk r ä f t e schlechterdings keinen R a u m l ä ß t . So fern ist Shaftesbury davon, von einem Nebeneinander selbständiger Lebenszentren her sekundär umfänglichere Lebenszusammenhänge a u f b a u e n zu wollen, d a ß er umgekehrt erst durch das Innewerden der AllVerbundenheit, durch die Umarmung m i t der allnährenden Mutter, das Ich zur Gestaltung seines inneren Kosmos auferweckt werden läßt. I m Enthusiasmus des Schönheitserlebnisses sinken die Schranken zwischen Innen und Außen, Ich und Welt, Geist und Materie. U n d das soziale Erlebnis des Ich ist nicht einem abgegrenzten Sonderbezirk der menschlichen Existenz zugeordnet — es ist einfach eine Form, und zwar eine hochwertige F o r m dieses Allerlebens. D e n n auch die sozialen Gebilde sind Formganzheiten; in einem jeden von ihnen waltet ein Lebensprinzip, das sehnsuchtsvoll nach Schönheit, d. h. nach innerer Ordnung u n d Abgestimmtheit der Teilvorgänge drängt. Familie, Freundeskreis, Volk, Staat, Menschheit — auch in ihnen pulsieren die K r ä f t e des All, auch sie u m f a n g e n das Einzelwesen als tragende und formende Mächte, in deren Innewerden es sich auf den K e r n seiner selbst erst recht zurückgeführt f i n d e t . Wie könnte, was so das Ich sich selbst erst finden lehrt, von diesem selben Ich her aufgebaut gedacht werden! So sind auch die sozialen Affekte nicht mehr auf eine tätig zu erhaltende und zu fördernde Ganzheit gerichtet, als sie aus der Wirksamkeit einer solchen entsprungen sind. Wir sehen hier von den Prinzipien einer ästhetischen Weltdeutung her eine S t r u k t u r der das Ich u m f a n g e n d e n Lebenszusammenhänge sich enthüllen, die das völlige Widerspiel ist jeder atomisierenden Weltkonstruktion. Es ist natürlich kein Zufall, d a ß gerade ä s t h e t i s c h e Prinzipien diese Umbildung beherrschen. Denn die Welt des Ästhetischen weiß nichts von Aggregaten, sie k e n n t n u r formgeeinte Ganzheiten, Gebilde von „organischer" Geschlossenheit. Unmöglich k a n n sie dem Einzelwesen seine Form auf Kosten und durch Zerstückelung der umfassenden Formeinheiten zu sichern sich verstehen. Und dieser Notwendigkeit ist sie zugleich enthoben, weil gerade im ästhetischen Gebilde der Gegensatz sich a u f h e b t , der scheinbar jene Zerteilung unvermeidlich macht u n d in dem deshalb die bisherige Erörterung immer wieder sich verfangen h a t t e : der Gegensatz von „ A u ß e n " und „ I n n e n " . Ist doch das ästhetische Gebilde diejenige Erscheinung, in der das Innere sich ohne Preisgabe seiner selbst „veräußerlicht", in der deshalb der Schöpfer wie der Betrachter s i c h s e l b s t wiedererkennt. Es versteht sich von selbst, d a ß die Ethik, in dies neue Klima versetzt, ihre Grundhaltung wesentlich u m ä n d e r n m u ß t e . Vor allem entzieht sie sich der Übermacht einer Fragestellung, die sie fortgesetzt sich selbst zu entfremden drohte, derjenigen nämlich,

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die sich ans dem engen Anschluß an die theoretische Sphäre ergeben hatte. Die Frage nach einer von hier aas zu verstehenden „Richtigkeit" ethischer Sätze — eine Frage, die für die sich bekämpfenden ethischen Richtungen den idealen Vereinigungspnnkt gebildet hatte — und die in ihr begründete Solidarität von Ethik und Erkenntnistheorie tritt zurück. An ihrer Stelle beginnt sich eine Weise und Richtung des Fragens herauszuarbeiten, die sich charakterisieren läßt als eine auf die „ W a h r h e i t " der sittlichen Gestaltung zielende — eine Wahrheit, die nun natürlich im Hinblick auf ästhetische Wertprinzipien zu verstehen wäre als Wahrheit des Ausdrucks, der Selbstdarstellung. Hier geht es nicht mehr um Übereinstimmung mit einem wie auch immer ge10 dachten „Gegenstand", nicht um Subsumierbarkeit unter abstrakte Allgemeinbegriffe, sondern um das Sichtbarwerden eines nach Offenbarung verlangenden Lebens- und Wesensprinzips. Es ist dies eine Forderung, die so fern davon ist, die regelhafte Gleichförmigkeit des Handelns in sich zu schließen, daß sie vielmehr, wie es jeder ästhetischen Wertung selbstverständlich ist, die Mannigfaltigkeit lebendiger Offenbarung recht eigentlich als ihre Erfüllung erlebt. So „zeitlos", d. h. ideal auch alle ästhetischen Gehalte sein mögen, sie sind es jedenfalls nicht in dem Sinne, daß sie einem für alle Zeiten gültigen Prinzip, einer „Regel", gehorchen dürften. Unter dem Schutze einer ästhetischen Weltdeutung sucht so das Prinzip der I n d i v i d u a l i t ä t Zugang zur ethischen Problementwicklung. 20 Daß die Ethik, wenn sie sich im Gefolge der Ästhetik von der Objektivität des Abstrakt-Regelhaften abkehrt, damit keineswegs die Objektivität im Sinne der gegenständlichen Bezogenheit fahren läßt, wurde bereits oben gezeigt. Aber freilich ist damit noch nichts über die Frage ausgemacht, ob der Eigenart der ethischen Gegenständlichkeit in dieser Nachbarschaft der ästhetischen Formenwelt ihr Recht wird. Indem die Ethik sich der Vormundschaft theoretischer Fragestellungen entwindet, ist sie in Gefahr, sich an die Ästhetik auszuliefern. Welche andersartige Selbstentfremdung hier droht, ist leicht zu erkennen: Kunst ist die Versöhnung von Natur und Geist, Sinnlichkeit und Vernunft; sie löst die Spannungen in Harmonie auf, denen das Leben des Menschen nun einmal ausgeliefert ist. Wo aber erheben sich diese Spannungen zu schärfstem 30 Bewußtsein, wenn nicht in der Welt des sittlichen Erlebens! Das Gegenüber des Ich und der sittlichen Forderung mitsamt den in ihm wurzelnden Konflikten — wie soll ihm Platz geschaffen werden in einer Ethik, die das Werden der sittlichen Persönlichkeit und der sittlichen Gemeinschaft an das Werden des künstlerischen Gebildes so nahe heranrückt ? Wenn Shaftesbury gleich so manchem seiner Vorgänger wahre Sittlichkeit mit wahrer Glückseligkeit in eins setzt, so ist diese Versöhnung gerade hier der Ausdruck für eine Zwiespaltlosigkeit des sittlichen Lebens, an die zu glauben der Verkünder einer ästhetischen Sittlichkeit kaum umhin kann. Wie schwer ist es doch — das sieht man auch hier von neuem — der ethischen Reflexion geworden, wirklich zu sich selbst zu kommen, 40 auf eigenem Boden ihr Reich zu gründen. Der Botmäßigkeit des einen Wertprinzips entronnen, ist sie alsbald in Gefahr, an ein anderes sich zu verlieren. A. C. S h a f t e s b u r y , Inquiry concerning virtue 1699; The moralists 1705; A letter concerning enthusiasm 1708; Soliloquy 1710. J. B u t l e r , Fifteen sermons upon human nature 1726. 6. DIE SCHOTTISCHE SCHULE. Shaftesbury, der selbst ausdrücklich den Titel eines Philosophen abgelehnt hat und in skeptischer Anzweiflung metaphysischen Denkbemühens es bisweilen Montaigne gleichtut, hat sich keine Gedanken

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d a r ü b e r g e m a c h t , d a ß u n d in welch eigentümlicher V e r s c h r ä n k u n g in d e m sachlichen Gehalt seiner I d e e n metaphysische, psychologische u n d ethische Überlegungen verlagert waren. Notwendig m u ß t e die weitere E n t w i c k l u n g , j e m e h r sie diesen Gehalt auszuschöpfen b e m ü h t w a r , dieses B ü n d n i s lösen u n d d u r c h Vordringen in e i n e r R i c h t u n g die E r k e n n t n i s zu fördern suchen. Vor allem eine E n t s c h e i d u n g w a r hier nicht zu u m g e h e n : sollte die E t h i k in einer über das G a n z e d e r Wirklichkeit sich ausbreitenden B e t r a c h t u n g oder in einer auf den Kreis der s e e l i s c h e n E r f a h r u n g sich konzentrierenden F o r s c h u n g ihre E r k e n n t n i s grundlagen zu gewinnen suchen — eine Frage, die gleichbedeutend schien m i t der a n d e r e n : spekulative Metaphysik oder empirische Psychologie ? H i e r erwies sich n u n der Zug zur psychologischen B e o b a c h t u n g , in der geistigen Lage u n d zumal in der E i g e n a r t des angelsächsischen Geistes tief b e g r ü n d e t , als der weitaus stärkere — u n d so k a m d e n n m i t der ges a m t e n philosophischen P r o b l e m a t i k auch die E t h i k i m m e r m e h r in das F a h r w a s s e r einer seelenkundlichen Analyse der Prozesse, in d e n e n die sittlichen Sinngehalte erlebt werden. Die T r ä g e r dieser E n t w i c k l u n g selbst b u c h t e n als Gewinn, den sie e i n b r a c h t e : die Ablösung des Ged a n k e n s von unbeweisbaren Voraussetzungen, die B e s c h r ä n k u n g der E r k e n n t n i s auf das ihr Zugängliche — sie f r a g t e n n i c h t , ob n i c h t die Blickeinstellung, die ihnen als die allein s t a t t h a f t e u n d erfolgverheißende galt, Sachverhalte unbemerklich m a c h t e , denen die verworfene Metaphysik, wenn auch vielleicht in einer der Verbesserung b e d ü r f t i g e n F o r m , ihr R e c h t gewahrt h a t t e . D a ß eine B e o b a c h t u n g seelischer A b l ä u f e , berechtigt u n d notwendig wie sie ist, gleichwohl nicht das Ganze der hier in F r a g e stehenden Probleme einfangen k ö n n e , w a r m e h r als einmal h e r v o r z u h e b e n . Auf der einen Seite ist der i d e e l l e G e h a l t der geistigen Erlebnisse als solcher ihren methodischen Mitteln u n e r r e i c h b a r ; auf der a n d e r e n Seite f ü h r t sie, sobald sie die Alleinherrschaft in A n s p r u c h n i m m t , zu einer i n d i v i d u a l i s t i s c h e n Auffassung, der alle überpersönlichen L e b e n s z u s a m m e n h ä n g e auseinanderfallen. Die metaphysische Spekulation, wie sie bis dahin v e r s t a n d e n u n d geübt worden war, h a t t e den hier b e d r o h t e n Motiven des geistigen Gesamtprozesses in ihrer D e u t u n g des Universums so oder so einen P l a t z eingeräumt. So d r o h t e die psychologische W e n d u n g , was sie auf der einen Seite d u r c h Verfeinerung der Analyse gewann, auf der a n d e r e n Seite an nicht minder wesentlichen Einsichten zu verlieren. Die hiermit bezeichnete Ideenbewegung h a t t e ihren T r ä g e r an der sog. s c h o t t i s c h e n S c h u l e . I h r e n A u s g a n g s p u n k t f a n d sie a n demjenigen Gedanken S h a f t e s b u r y s , der die E t h i k a m innigsten m i t den psychologischen Problemen v e r k n ü p f t e : der Lehre v o n den „ReflexionsA f f e k t e n " . Ihre psychologische A u s f ü h r u n g ließ sich gleich der a n der Spitze der schottischen Schule stehende H u t c h e s o n angelegen sein. U n d zwar suchte er, w ä h r e n d sein Zeitgenosse B u t l e r vor allem die

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ttbergeordnete Stellung dieser Erlebnisklasse d a r z u t u n sich b e m ü h t e , i h r e q u a l i t a t i v e Besonderheit, ihre jede Ableitung ausschließende Ursprünglichkeit gegen alle Verwischungs- u n d U m d e u t u n g s v e r s u c h e sicherzustellen. E s ist eine Abwehr, die schlechthin alle vor S h a f t e s b u r y a u f g e t r e t e n e n Auslegungen des ethischen Erlebnisses t r i f f t : die Z u r ü c k f f l h r u n g auf die Sätze der V e r n u n f t so g u t wie auf die Gebote Gottes, a u f das L u s t b e g e h r e n wie auf die U t i l i t ä t . D a ß das Sittliche eine lediglich aus sich selbst zu verstehende W e r t s p h ä r e a u s m a c h t , ist nie so n a c h drücklich ausgesprochen worden. Die Beziehung auf diese Sphäre verb ü r g t d e m ReflexioDsaffekt der Billigung seinen unterscheidenden C h a r a k t e r . W e n n d a n n freilich H u t c h e s o n zur A b g r e n z u n g dieses Affekt e s die schon v o n S h a f t e s b u r y v e r w e n d e t e Bezeichnung „moralischer S i n n " a u f n i m m t , so k a n n es nicht verborgen bleiben, d a ß m i t diesem vulgärpsychologischen A u s d r u c k lediglich ein P r o b l e m b e n a n n t , n i c h t eine L ö s u n g geboten ist. W a s er a n U n k l a r h e i t in sich schließt, zeigt sich in d e m B e m ü h e n , das Verhältnis dieses Vermögens zu der meist so h o c h gestellten V e r n u n f t n ä h e r zu b e s t i m m e n . W e n n wir oben auf die Schwierigkeiten hinzuweisen h a t t e n , die aus der äußerlichen Scheidung objektbezogener Vernunfterlebnisse u n d subjektbezogener Gefühlszus t ä n d e erwachsen müssen, so zeigen die Reflexionen Hutchesons, d a ß sein Begriff des „moral sense" zu einer wirklichen Ü b e r w i n d u n g dieses Gegensatzes n i c h t zureicht. I m Gegenteil: bisweilen sieht es so aus, als h a b e die f r ü h e r herrschende A u f f a s s u n g sich n u r insofern g e ä n d e r t , als die n a c h wie v o r äußerlich geschiedenen S p h ä r e n v o n V e r n u n f t u n d G e f ü h l i h r e n B e d e u t u n g s a k z e n t v e r t a u s c h t e n . Das Gefühl, dereinst Wegbereiter u n d u n t e r g e o r d n e t e r Helfer der sittlichen V e r n u n f t , steigt z u r ethisch f ü h r e n d e n Macht e m p o r ; die V e r n u n f t , zuvor Quelle der sittlichen E i n s i c h t , wird auf den technischen Hilfsdienst der K l ä r u n g u n d F o r m u lierung b e s c h r ä n k t . A u c h hier also eine Kooperation v o n i m G r u n d e wohlgeschiedenen Einzelpotenzen. W a s S h a f t e s b u r y d u r c h die A n l e h n u n g a n die ästhetische Sphäre gewonnen h a t t e , w a r d u r c h diese W e n d u n g wieder in F r a g e gestellt. E s e n t s p r i c h t d e m C h a r a k t e r dieser äußerlich zerlegenden Denkweise, wenn sie auch in einer anderen Beziehung die W e i t e u n d Freiheit von S h a f t e s b u r y s B e t r a c h t u n g a u f g i b t : a u c h ihr s c h r u m p f e n die von d e m „moralischen S i n n " gutgeheißenen R e g u n g e n auf d e n Umkreis der dem allgemeinen W o h l z u g e w a n d t e n A n t r i e b e z u s a m m e n . So drohen schon a n der Schwelle der psychologisch orientierten E t h i k die Verengungen, denen eine ausschließlich psychologische B e t r a c h t u n g n u r schwer e n t g e h t . F. H u t c h e s o n , A system of moral philosophy 1755. 7. H U M E . Zu ihrer klassischen Verkörperung gelangt diese R i c h t u n g in d e n ethischen G e d a n k e n D a v i d H u m e s . Aus seinen in sich keineswegs

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durchweg z u s a m m e n s t i m m e n d e n Überlegungen greifen wir diejenigen Gedankengänge heraus, d u r c h die er ebenso sehr z u m charakteristischen R e p r ä s e n t a n t e n dieser Schule wie zum anregenden F ö r d e r e r der Ges a m t e n t w i c k l u n g geworden ist. Sie n e h m e n ihren A u s g a n g von einer E r w ä g u n g , die aus der dargestellten Problemlage h e r a u s ohne weiteres verständlich ist. Auch f ü r H u m e d r ä n g t sich die ethische P r o b l e m a t i k in der U n t e r s u c h u n g der seelischen Geschehnisse z u s a m m e n , in denen diese W e r t s p h ä r e ihr Leben h a t . I n d e m n u n auch er diese auf der emotionalen Seite sucht u n d gleich H u t c h e s o n der V e r n u n f t n u r klärende u n d o r d n e n d e Hilfeleistungen zuweist, glaubt er sich folgender F r a g e gegenübergestellt: wie k ö n n e n Gefühlerlebnisse, d e r e n Wesen d a r i n b e s t e h t , d a ß ein S u b j e k t sich in ihnen seiner eigenen, positiv oder n e g a t i v b e t o n t e n , Z u s t ä n d e b e w u ß t wird, Quelle von B e w e r t u n g e n u n d Beurteilungen werden, die keineswegs n u r diesen Z u s t ä n d e n gelten, sondern ü b e r den Lebenskreis des sie erlebenden Subjektes weit hinausgreifen ? Wie m a n sieht, stellt diese Überlegung eine b e s t i m m t e , nichts weniger als selbstverständliche A u f f a s s u n g v o m Wesen des Gefühls der rein empirisch aufgegriffenen T a t s a c h e gegenüber, d a ß sittliche Werturteile, wo sie a u f t r e t e n , nicht lediglich als Ausdruck einer Gefühlsreaktion v e r s t a n d e n werden wollen, die auf das sie aussprechende S u b j e k t bes c h r ä n k t ist, sondern in d e m Bewußtsein einer weiter reichenden Bed e u t u n g gefällt w e r d e n : es ist der als psychologische T a t s a c h e erlebte G e l t u n g s a n s p r u c h der sittlichen Urteile, der gerade d a n n z u m P r o b l e m werden m u ß , wenn m a n ihren U r s p r u n g in einem so v e r s t a n d e n e n Gefühl sucht. D a ß dieser A n s p r u c h sich auf den S i n n g e h a l t dieser Urteile, der als solcher ü b e r die begrenzte Welt des S u b j e k t e s hinausf ü h r t e , g r ü n d e n k ö n n t e , das ist j a schon d u r c h eine solche psychologische Auslegung des „ G e f ü h l s " ausgeschlossen. Gefühle, deren Gehalt sich in u n m i t t e l b a r e m p f u n d e n e r L u s t u n d Unlust erschöpft, sind allerdings als solche zu p a r t i k u l a r u n d flüchtig, als d a ß sie Urteile v o n allgemeiner B e d e u t u n g hervorzubringen v e r m ö c h t e n . Man sieht, wie die Gefühlsregion gewissermaßen an Eigengewicht wieder verliert, sobald Shaftesb u r y s Gedanke einer d u r c h sie zu beurteilenden F o r m g e s t a l t des Ich u n d mit ihm der g e g e n s t ä n d l i c h e Bezug des Gefühls v e r b l a ß t . So konzentriert sich u n t e r diesen Voraussetzungen alles in die psychologisch-genetische Frage, wie es v o n den ursprünglichen Gefühlsreaktionen her, die sich n u r auf die v o m S u b j e k t u n m i t t e l b a r e r f a h r e n e n Wirk u n g e n f r e m d e r H a n d l u n g e n bezogen, zu solchen Prozessen der Billigung u n d Mißbilligung h a b e k o m m e n können, die ihrer I n t e n t i o n n a c h den Interessenkreis des erlebenden Subjektes überschreiten. N u n gibt es f ü r diese Betrachtungsweise v o n vornherein n u r eine einzige Dimension, innerhalb deren die geforderte E r w e i t e r u n g s t a t t f i n d e n bzw. aus der heraus sie b e g r ü n d e t werden k a n n : die R e a l i t ä t des psychischen Geschehens. Die E n g e des einzelmenschlichen Lebenskreises m u ß in der

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R i c h t u n g auf die R e a l i t ä t weiterer S u b j e k t e d u r c h b r o c h e n werden. Die Breite des ideellen G e l t u n g s a n s p r u c h e s verwandelt sich in die extensive A u s d e h n u n g des Kreises der e r l e b e n d e n S u b j e k t e . Dies die prinzipiellen F o r d e r u n g e n , denen H u m e s Prinzip der e x t e n s i v e n S y m p a t h i e zu entsprechen versucht. E s will den psychologischen S a c h v e r h a l t bezeichnen, der b e w i r k t , d a ß GefOhlsvorgSnge, die ursprünglich n u r d e m Innewerden eigener Z u s t ä n d e zugeordnet sind, sich m i t den analogen Z u s t ä n d e n anderer Menschen verbinden u n d d a m i t eine die ursprüngliche Enge d u r c h b r e c h e n d e B e d e u t u n g gewinnen, so zwar, d a ß schließlich alle zeitlichen u n d räumlichen A b s t ä n d e , die das urteilende S u b j e k t v o n d e m zu beurteilenden Geschehen, d e n zu bew e r t e n d e n Menschen u n d H a n d l u n g e n t r e n n e n , f ü r seine Gefühlsentscheidung belanglos werden. D a m i t das G e f ü h l so ü b e r die eigenen Z u s t ä n d e des S u b j e k t e s hinauswachsen könne, m u ß es m i t d e n Zus t ä n d e n a n d e r e r S u b j e k t e eine V e r b i n d u n g eingehen, die der in i h m selbst erlebten analog ist, u n d dies k a n n n u r d a n n gelingen, wenn es sich zwar nicht realiter, wohl aber in der P h a n t a s i e in die Z u s t ä n d e dieser a n d e r e n „ h i n e i n v e r s e t z t " , wenn es in G e d a n k e n gleichsam mit ihnen eins wird. D e n n d a n n erlebt es abbildweise, was sie erleben, u n d k a n n so a u c h die diesen Erlebnissen e n t s p r e c h e n d e n Gefühlsregungen in sich erzeugen. S t a t t n u r diejenigen H a n d l u n g e n m i t positiven u n d negativen R e a k t i o n e n zu b e a n t w o r t e n , v o n denen es selbst u n m i t t e l b a r betroffen wird, u m f a ß t es in seiner W e r t u n g alle H a n d l u n g e n , d u r c h die es andere Wesen beglückt oder geschädigt weiß. Dies ist der T a t b e s t a n d der „ S y m p a t h i e " . I n ihm bleibt, wie m a n sieht, j e n e V e r b i n d u n g zwischen Gefühl u n d S u b j e k t - Z u s t ä n d l i c h k e i t erhalten, u n d doch wird, ohne jede B e r u f u n g auf ursprüngliche „soziale*' Triebe, die B e s c h r ä n k u n g auf die u n m i t t e l b a r e n Erlebnisse e i n e s e i n z i g e n S u b j e k t s d u r c h extensive Ü b e r t r a g u n g ü b e r w u n d e n ; das eine jeweils urteilende S u b j e k t vereint gleichsam in sich eine Vielheit gefühlsmäßig auf H a n d l u n g e n reagierender S u b j e k t e u n d f ü h r t so seinen eigenen Gefühlsregungen einen allgemeinen Gehalt zu, der die P a r t i k u l a r i t ä t seiner eigenen Interessen weit h i n t e r sich l ä ß t ; die K u m u l a t i o n vieler Einzelsubjekte, ihrer Sonderinteressen u n d Sondererlebnisse, gibt dem Gefühl, das sich i m ethischen Urteil k u n d t u t , die gesuchte u n d zu b e g r ü n d e n d e W e i t e der G e l t u n g ; f ü r die I d e a l i t ä t des ethischen Sinnes m u ß g e h ä u f t e , potenzierte psychische R e a l i t ä t einstehen. I n d e m weitere psychologische Motoren h i n z u t r e t e n , u m den Symp a t h i e e i n d r ü c k e n gemehrte Festigkeit u n d Eindringlichkeit zu sichern — n e b e n der bereits g e n a n n t e n V e r a r b e i t u n g durch die V e r n u n f t vor allem Assoziation, Gewöhnung, Tradition — gewinnen die hierher gehörigen Seelenregungen eine Gleichmäßigkeit u n d Verbreitung, die bewirkt, d a ß ihr Gehalt wie ein Objektives, j a a priori Gültiges erscheint. Eine psychologische T ä u s c h u n g analog derjenigen, die den Gehalten

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des theoretischen Erkennens ihre Objektivität verleiht, bringt die seelische Genesis dieser Gebilde in Vergessenheit. Alle bereits angedeuteten Bedenken lassen das Verdienst ungeschmälert, das H u m e sich erworben h a t , indem er einen f ü r die E t h i k zweifellos sehr wesentlichen Sachverhalt, denjenigen des Mitgefühls, energisch in den Vordergrund gerückt h a t . Freilich ist dies Verdienst mehr dasjenige einer Problemstellung als einer Lösung. I n dem Prinzip der Sympathie verschlingen sich, über das bereits Angedeutete hinaus, eine Reihe von höchst gewichtigen Schwierigkeiten, die, zur Entwicklung gebracht, den gedanklichen Grundlagen von Humes Theorie wie auch denen seines gleich zu besprechenden Nachfolgers höchst bedrohlich werden m u ß t e n . Wir begnügen uns damit, sie in einer Folge von Fragen anzudeuten, deren Sinn die vorausgegangenen Erörterungen bereits haben sichtbar werden lassen. Ist das als Sympathie bezeichnete seelische Geschehen s a m t den ihm nachgesagten Wirkungen so einfach und selbstverständlich, d a ß es ungeprüft einer ethischen Theorie zugrunde gelegt werden könnte ? K a n n dieses Geschehen m i t den Mitteln psychologischer Empirie hinreichend aufgekl&rt und, was noch wichtiger ist, nach seiner Leistungsfähigkeit geprüft werden ? (Denn zur Begründung der E t h i k k a n n doch die Sympathie nur dann taugen, wenn sie eine „richtige" ist, d. h. wenn sie den Erlebnisgehalt des fremden Ich nicht verfehlt.) Ist vollends diejenige Psychologie, auf der Humes gesamte Philosophie r u h t , diese Psychologie, die sowohl das Ich in assoziativ verknüpfte Elemente wie die Gemeinschaft in menschliche Atome auflöst, der bezeichneten Aufgabe gewachsen ? Oder m u ß nicht vielleicht eine Theorie der Einfühlung über alle empirische Beobachtung des Einzelnen hinaus bis in die metaphysischen Tiefen des Ganzen vorstoßen? Und ferner: wenn die Vorgänge der Sympathie die ethische Gesetzgebung tragen sollen, muß ihnen dann nicht neben der theoretischen Richtigkeit ihrer Ergebnisse auch noch in einem ganz anderen Sinne die „Richtigkeit" verbürgt sein? I n dem Sinne nämlich, daß das Sicheinfühlen in die Erlebnisse anderer billigenswert, j a geboten ist, d a ß ein solches T u n nicht nur faktisch geübt wird, sondern auch eine gültige Norm erfüllt? So erbebt sich hinter der Darlegung eines Geschehens, das die Normen der E t h i k begründen soll, die Frage, ob dieses Geschehen selbst der ethischen Norm entspreche — ein unentfliehbarer Zirkel, weil psychologische Erwägungen niemals auf eine sinnvolle Inhaltlichkeit f ü h r e n können. Metaphysische Fragen und Wertprobleme, durch die empirisch-psychologische Betrachtung scheinbar zum Schweigen gebracht, melden sich beim Weiterdenken aufs neue zum W o r t . Endlich teilt Humes Theorie eine Schwierigkeit mit bereits besprochenen Vorgängern: erfaßt die Analyse von Lust- u n d Unlustreaktionen ü b e r h a u p t die gerade in ethischer Hinsicht erheblichen seelischen Erlebnisse ? Leidet nicht dieser Lust- und Unlustbegriff in seiner allgemeinen Fassung an einer unerträglichen Unbestimmtheit, weil er nichts darüber aussagt, w e l c h e Lust oder Unlust, welche Klasse von Erlebnissen durch ihren I n h a l t Anspruch auf d i e Sympathie erwerbe, in der die ethische Qualifikation sich k u n d t u t ? Ausdrücklich sei beigefügt, daß H u m e an mehr als einer Stelle das Ideal einer vollentwickelten Persönlichkeit im Sinne von Antike und Renaissance als Ziel sittlichen Lebens aufrichtet — ein Ideal also, das alles Auskalkulieren von Lustund Unlusteffekten weit hinter sich l ä ß t . Aber je liebevoller er dieses Ideal ausmalt, um so mehr stellt er doch auch die psychologischen Grundlagen seiner E t h i k in Frage. Die Totalität der Persönlichkeit u n d d a s mechanische Getriebe der assoziativen Verknüpfungen: beides geht n u n einmal nicht zusammen; die E t h i k kehrt sich gegen die Psychologie, die ihr zur Grundlage dienen soll. D. H n m e , Treatise on h u m a n n a t u r e 1739/40; An enquiry concerning t h e principles of morals 1751.

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8. SMITH. Das neu gewonnene Prinzip der Sympathie erwies seine Fruchtbarkeit alsbald darin, daß es zur Überwindung eines bei Hume noch unbehobenen Widerspruchs die Handhabe bot. Wenn dieser die sittliche Beurteilung einerseits als Vertreter des Persönlichkeitsideals auf das W e s e n , den inneren Kern des Menschen hinlenkte, andererseits mit seiner Psychologie der Lust- und Unlusteffekte an die äußeren Handl u n g s e r f o l g e verwies, so lag nichts in dem Prinzip der Sympathie, was die letztgenannte Schätzung geboten oder auch nur nahegelegt hätte — im Gegenteil: eine tiefere Analyse des Mitgefühls hätte Hume belehren können, daß es in seinen höchsten Formen eben jenem Innersten des Menschen zudrängt, dem auch das Interesse jeder personalen Ethik gilt. Natürlich mußte, wenn das Prinzip in diesem Sinne vertieft wurde, der A k t sympathischer Einfühlung seine Richtung modifizieren; er mußte neben, ja vor dem Subjekt, das die zu beurteilenden Handlungen in ihren Effekten erlebte, dasjenige suchen, in dessen Seele sie ihren Ursprung hatten: die M o t i v e der T a t traten an die Seite ihrer W i r kungen. Diese Wendung vollzog der nicht nur als Nationalökonom, sondern auch als Moralphilosoph bedeutende A d a m S m i t h . Ohne d i e Sympathie, die wir mit den Empfindungen des von der fraglichen Handlung Betroffenen fühlen, auszuscheiden, hebt er hervor, daß das moralische Urteil erst dann zu seiner Vollendung gelange, wenn darüber hinaus das Gefühl des Beurteilers auch die für die Handlung maßgebenden B e w e g g r ü n d e bzw. deren Resonanz bei dem Betroffenen umfasse und j e nachdem auf Grund eines bejahenden „Mitfühlens" gutheiße oder wegen der erlebten Unmöglichkeit eines solchen verwerfe. In dieser erweiterten Auslegung umfaßt also die Sympathie auch und gerade diejenigen seelischen Vorgänge, die Hume im Widerspruch gegen jene andere Fassung des Sittlichen ihr entzogen hatte. Bei näherem Zusehen entdeckt man, daß die Funktion, mit der Smith hier den von Hume eingeführten unbeteiligten Beurteiler bedenkt, keine andere ist als diejenige, die Shaftesbury und seine Nachfolger den „Reflexionsaffekten" zugewiesen hatten: hier wie dort handelt es sich um eine im Gefühl erlebte Bewertung des Spiels der Motive; nur daß, was jene in e i n e r gleichsam sich selbst zerlegenden Person vereinigt hatten, hier auf zwei Träger, den Täter und den außenstehenden Beurteiler, sich verteilt — eine Verteilung, die j a nach der schon von Hume entwickelten Annahme dem Urteil eine in der Uninteressiertheit des Beurteilers begründete Objektivität verbürgt. Und zwar liegt hier mehr vor als eine äußere Analogie: denn nun sehen wir, wie Smith von der Zweiheit von Beurteiler und Beurteiltem aus eben das nachträglich gewinnt und begründet, was für Shaftesbury das ursprüngliche sittliche Phänomen gebildet hatte. Das sittliche Urteil,

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das entstanden ist und nur entstehen konnte in der Position des nicht unmittelbar interessierten Betrachters, des „Zuschauers", verpflanzt sich von dort her in die Seele des Täters auf dem Wege einer psychologischen Übertragung, die darin begründet ist, daß er nicht umhin kann, die Eindrücke, die sein Verhalten in den einfühlenden Seelen seiner zuschauenden Mitmenschen hervorrufen muß, in abermaliger Einfühlung, wie durch eine potenzierte Sympathie, in s i c h s e l b s t z u r e f l e k t i e r e n ; indem er sich daran gewöhnt, sich „mit den A u g e n anderer" zu betrachten, nimmt er unwillkürlich den kritischen Beurteiler hinüber in die eigene Brust. Durch diese Reflexionsvorgänge wird nicht nur das Gefühl über seine ursprüngliche Enge und Partikularität emporgehoben und zu einer gewissen Allgemeinheit gebracht, sondern es ist auch auf dem Wege über ein interpersonales Verhältnis die Teilung und Schichtung des inneren Menschen hergestellt, in der die E t h i k schon oft die Grundlage des sittlichen Lebens gefunden hatte. Freilich: es ist dasselbe und doch ganz und gar nicht dasselbe, denn was dort der ursprünglichen Ausstattung der Menschennatur zugerechnet wird, erscheint hier als bloßer Widerschein eines außerhalb ihrer liegenden Verhältnisses; die Selbstbeurteilung wird zum R e f l e x des Bildes, in dem andere uns reflektieren. Unwillkürlich erinnert man sich angesichts der ethischen Bedeutung, die hier den zwischenmenschlichen Beziehungen beigemessen wird, an L o c k e s Inthronisierung der „öffentlichen Meinung". Aber der Vergleich macht sofort auch den Unterschied sichtbar. Für Locke ist die öffentliche Meinung nichts weiter als die Bewahrerin und Übermittlerin einer sittlichen Einsicht, die, an sich durch die Natur der Dinge vorgezeichnet, auch direkt vom Einzelnen gewonnen werden kann; das gesellschaftliche Verhältnis ist also für den Gehalt dieser Einsicht ohne jeden Belang. Hier dagegen ist die gesellschaftliche Situation, das Gegenüber von Mensch und Mensch, notwendige Voraussetzung für das Entstehen und die inhaltliche Erfüllung sittlicher Normen. Sie ist so sehr Voraussetzung, daß die Theorie von Smith implizite die Annahme eines menschlichen Zustandes in sich schließt, der zwar schon gesellschaftlich aber noch nicht sittlich war, weil ja erst innerhalb seiner selbst die Anffinge sittlicher Beurteilung hervortreten konnten. Welcher Gegensatz gegen jene gerade in England so weit verbreitete Auffassung, die in dem Sittlichen die das gesellschaftliche Ganze erst a u f b a u e n d e Macht sieht. Die Frage drängt sich auf, ob etwa Smith der von individualistischen Ausgangspunkten her unauffindbaren lebendigen Einheit des gesellschaftlichen Körpers, der gerade für die Sittlichkeit so wichtigen Fruchtbarkeit der echten „Gemeinschaft" in diesen Sätzen zu ihrem Recht verholfen habe. Sie muß verneint werden, denn sowohl jenen der Geburt der Sittlichkeit vorausgehenden als auch den durch sie geschaffenen Zustand der Gesellschaft denkt Smith ganz offenbar als das äußerliche Gegenüber von Menschen, die, ein jeder in den Burgfrieden seiner Einzelexistenz gebannt, aufeinander wirken, einander zuschauen, einander kritisieren. Jene Hinübernahme des Zuschauers in die eigene Brust, scheinbar trennende Schranken niederlegend, ist in Wahrheit das Verhalten von Menschen, die nur dadurch zusammengehören, daß sie, in strenger Distanz verharrend, sich im anderen, den anderen in sich reflektieren — ein Verhältnis, das das genaue Widerspiel ist d e s einheitlichen Lebens, wie es durch die Glieder echter Totalität hindurchschwingt. Aber auch hiervon abgesehen bleibt es fraglich, ob die sicherlich feinsinnige Verbindung des Sympathieprinzips mit der Theorie der reflektierenden Affekte zur Be-

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gründang der Sittlichkeit das leistet, was sie soll. Wenn wir in der Entwicklung seit S h a f t e s b u r y die Analyse sich immer mehr aasbreiten, verwickeln, verfeinern, vertiefen sehen — bringt sie es hier endlich za dem, was als letzte Frage immer wieder offen bleibt: zur Klärung und Begründung dessen, was den eigentlichen S i n n , den Wertgehalt des ethischen Lebens ausmacht? Anch Smith muß entgegengehalten werden: angenommen, jenes System von psychischen Übertragungen, das das Auftreten sittlicher Urteile erklaren soll, sei richtig bestimmt — erhalten wir durch jene Analyse Klarheit darüber, welches die Qualität, der Inhalt, der Charakter derjenigen Motive sei, mit denen zunächst der außenstehende Betrachter und folgeweise auch das eigene sittliche Gewissen des Taters sich einverstanden erklaren kann, j a s o l l ? In dem Mitgefühl wird die fragliche Qualität erlebt und anerkannt — nicht aber wird sie durch das Mitgefühl bzw. durch die gesellschaftliche Situation, aas der Smith dieses Gefühl entspringen sieht, in dem Sinn geschaffen oder begründet, daß man sie einfach mit der Faktizität dieser ihrer Billigung gleichsetzen oder definieren konnte. Das Urteil sympathisiert mit dem Motiv, weil es seinem Sinngehalt nach sittlich wertvoll ist — nicht erhalt es erst dadurch diese Qualität, daß mit ihm sympathisiert wird. Das reale Gegenüber des sittlichen Kritikers kann nicht das ideelle Gegenüber der sittlichen Forderung ersetzen. Alles vielfältige Hin und Her der Reflexe kann uns nicht vergessen machen, daß es hier an einem Etwas fehlt, welches reflektiert wird.

Wertvolle Anregungen sind von der Reflexion von Smith auch insofern ausgegangen, als er die E t h i k davor bewahrte, sich in ein allzu eng begrenztes Gebiet zurückzuziehen u n d die Beziehungen zu den Nachbargebieten zu vernachlässigen. Selbst H u m e s an sich so weitblickende Überlegungen h a t t e n stellenweise die Probleme allzu schnell abgeschnitten — so etwa, wenn er das die rechtliche Verfassung des Staates begründende Prinzip der „Gerechtigkeit" nicht etwa nur gegen die Prinzipien personaler Sittlichkeit abgrenzte, sondern auch jede Gemeinschaft des Wesens und Ursprungs in Abrede stellte — oder wenn er die Beziehungen von Religion u n d Sittlichkeit mit dem Hinweis auf die Verwirrungen erledigt glaubte, die gerade religiöse Vorstellungen n u r zu oft in der Sphäre des Sittlichen heraufbeschworen haben. Smith 1 Reflexion war demgegenüber durch eine umfassende Weite der Betracht u n g ausgezeichnet, die Zusammenhänge sah, ohne Unterschiede zu verwischen. A m augenscheinlichsten t r i t t dies in dem Urteil über d a s Stück lebendiger Wirklichkeit hervor, auf dessen Bearbeitung sein Ruf vorzüglich b e r u h t e : der W i r t s c h a f t . Wie keine andere Sphäre des Lebens scheint j a gerade diese sich der Herrschaft sittlicher Gedanken und Normen zu entziehen; galten und gelten doch die in ihr herrschenden Motive nicht wenigen — zumal denen, f ü r die die sittlichen Regungen der Seele mit den altruistischen zusammenfallen — schlechthin als das Widerspiel jeder denkbaren sittlichen Regelung des menschlichen Daseins. Keineswegs h a t Smith, wie manche seiner Kritiker meinten ihm schuld geben zu müssen, die in seiner E t h i k verkündeten Prinzipien für diese Sphäre außer K r a f t gesetzt oder durch ihr Gegenteil ersetzt. Was m a n an seinen nationalökonomischen Theorien so auslegt, das ist nicht b e s t i m m t , die sittlichen Grundsätze f ü r diese Region zu suspendieren, sondern n u r diejenigen Prinzipien dieser Lebenssphäre im In-

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teresse ihrer „Autonomie" festzulegen, die auch eine sittliche Normierung des Lebens nicht umstoßen darf, es sei denn, daß sie diese Sphäre geradezu auszutilgen als ihre Aufgabe ansähe. Nicht Verneinung, sondern sittliche Regulierung auch des als solchen anerkannten wirtschaftlichen Egoismus: so sieht Smith die Aufgabe. D a m i t beginnt vor den Augen dieses Denkers das Gesamtbild einer kulturellen Wirklichkeit hervorzutreten, die sich gemäß sachlich bestimmten Sinnprinzipien in bestimmte Bezirke des Handelns und Wirkens besondert und dabei doch, wie sie in dieser Selbstzerlegung die Einheit des Seins und Tuns bewahrt, so auch eine umfassende Normierung dieses Lebens keineswegs ablehnt — nur daß eben diese Normierung ihre Einheit nicht durch die deduktive Ableitung aus einem oder einigen wenigen abstrakten Grundsätzen zu erzwingen sucht, sondern durch eine umfassende Rücksicht auf die organische Gliederung dieses Lebens und das Gefüge der in ihm sichineinanderspielenden autonomen Sondertendenzen herausarbeitet. Was f ü r die der Sittlichkeit scheinbar fernste Sphäre, diejenige des wirtschaftlichen Egoismus, hier unternommen wird: klares Herausarbeiten des organisierenden Prinzips bei gleichzeitiger Einordnung in einen weiter ausgreifenden Zusammenhang des Lebens und Wirkens, das m u ß t e erst recht f ü r diejenigen Dimensionen des menschlichen Tuns gefordert und geleistet werden, deren Beziehung zu ethischen Ideen von vornherein weniger zweifelhaft und deshalb schon früher bemerkt worden war. Insofern steckt Smith m i t seiner Theorie der Wirtschaft gleichsam vom Äußersten Ende her das Feld ab, das die Reflexion in der Folge abzuteilen und m i t einem System sich besondernder ethischer Prinzipien zu besetzen h a t t e — wie er denn auch selbst sowohl das Recht als auch die Religion aus der etwas isolierten Stellung befreit hat, in die H u m e sie hineinzudrängen geneigt war. Vorgreifend gesprochen: die E t h i k sucht den Zusammenhang mit einer umfassenden P h i l o s o p h i e d e r K u l t u r . Denn n u r im Bunde mit einer solchen vermochte sie der Schwierigkeiten H e r r zu werden, die sie bedrängten, seitdem die Auflösung des mittelalterlichen Lebenssystems dem Auseinanderstreben der autonomen Wertrichtungen freie Bahn eröffnet h a t t e — Schwierigkeiten, denen die notwendig am Lebenszusammenhange des Einzelwesens h a f t e n d e psychologische Analyse nicht gewachsen war. A. S m i t h , Theory of moral sentiments 1759. *

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Die englischen Moralphilosophen von Hobbes bis Smith haben in stetiger Fortbildung der in dem Charakter ihrer Nation und in den denkerischen Antrieben der Zeit liegenden Ansätze eine bestimmte von religiös-transzendenten Voraussetzungen abgelöste oder wenigstens ohne weiteres ablösbare Lebensansicht zu einem System von Begriffen ausgesponnen. Wert und Wirkung dieses Systems lagen darin begründet, daß es weit mehr als die Denkart bestimmter Menschen und Zeiten, daß es eine der dauernden Grundhaltungen des um Erkenntnis und Beherrschung der menschlichen Dinge sich mühenden Geistes ausprägt, ja bis in ihre letzten Folgerungen hinein verfolgt. Mit seiner Bedeutung verbindet sich aufs engste seine Einseitigkeit. Man kann sie zusammenfassen in dem Satze, daß diese Denkweise, die Reales zerlegt und wieder zusammensetzt, mit dem Problem des „ Ü b e r p e r s ö n l i c h e n " nicht fertig wird, ja es überhaupt nicht rein erfassen kann. Unter dem „Überpersönlichen" ist hier verstanden nicht weniger die in der zeitlichen

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Entwicklung über das Einzelwesen hinausgreifende Eigenkraft und Lebensfülle geistiger Gesamtprozesse als die der zeitlichen Entwicklung polar entgegenstehende Region sinngegründeter Ideen zusammenhänge. Weder die ursprüngliche mathematisch-mechanistische noch die später an ihre Stelle tretende psychologische Betrachtungsweise ist im Besitz der Denkmittel, die an diese Phänomene heranführen — im Gegenteil, sie lassen, zur Alleinherrschaft erhoben, nur allzu leicht die hier sich herandrängenden Probleme hinter wesensfremden Verkleidungen und Scheinlösungen verschwinden. Daß trotzdem in der Reihe der besprochenen Denker das Bewußtsein um Gehalt und Dringlichkeit der hier vorliegenden Fragen nie erloschen, ja durch die allzu geradlinigen Konstruktionen im Stile von Hobbes erst recht aufgeweckt worden ist, davon zeugen die fort und fort sich erneuernden, freilich notwendig erfolglosen Bemühungen, vom Boden der eigenen methodischen Voraussetzungen aus den Anschluß an jene Problemschicht zu finden. Ein immer mehr sich verwickelndes System interpersonaler Übertragungen wird aufgeboten, um den einheitlichen Lebensschwung gemeinsamer Geistigkeit in der Gesamtanschauung unterzubringen; ein immer gliederreicheres Zusammenspiel von psychischen Einzelvorgängen wird konstruiert, um die Idealität ethischer Sinngehalte hervorzuzaubern. Wie wenig man dabei indessen dem Banne eingewurzelter Denkgewöhnungen entrinnt, wird dadurch bewiesen, daß der einzige Denker von anderer Grundgesinnung, Shaftesbury, gerade mit dem metaphysischen Kern seiner Gedanken in England am wenigsten Widerhall gefunden hat, in dem die Schranken dieser Denkart am entschiedensten in der Richtung auf die bezeichneten Sachverhalte durchbrochen werden. Erst in einer Denkatmosphäre von ganz anderem Charakter war ihm dankbare Aufnahme und fruchtbare Fortbildung beschieden. W. D i l t h e y , Gesammelte Schriften, Bd. II. E. T r o e l t s c h , Die englischen Moralisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Gesammelte Schriften, IV. Bd. Tübingen 1924, S. 374. J. T n l l o c h , Rational Theology and Christian Philosophy in England during the 17. Century. London 1873. Ch. de Rémugat, Histoire de la philosophie en Angleterre depuis Bacon jusqu'à Locke.' Paris 1878. L. S t e p h e n , History of English Thought in the 18. Century. London 1876. F. Tönnies, Thomas Hobbes, der Mann und der Denker. Stuttgart 1922. R. H ö n i g s w a l d , Hobbes und die Staatsphilosophie. München 1922. G. v. H e r t l i n g , J. Locke und die Schule von Cambridge. Freiburg 1892. T a g a r t , Lockes Writings and philosophy. London 1855. M. Curtis, An Outline of Lockes ethical philosophy. Leipzig 1890. Ch. F. W e i s e r , Shaftesbury und das deutsche Geistesleben. Leipzig 1916. E. P f l e i d e r e r , Empirismus und Skepsis in D. Humes Philosophie. Berlin 1874. G. v. G i z y c k i , Die Ethik D. Humes in ihrer geschichtlichen Stellung. Breslau 1878. J. S c h u b e r t , A. Smith als Moralphilosoph. Leipzig 1890.

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IV. DIE NIEDERLANDE UND FRANKREICH BIS ZUR REVOLUTION. 1. DIE GEISTIGE LAGE. Die englische Moralphilosophie, der englischen Nation vergleichbar in der Stetigkeit, mit der sie, unberührt durch anders gerichtete Zeitströmungen, ihre eigenen Wege verfolgte, zeigt der Betrachtung das Bild einer Entwicklung von bemerkenswerter Zielsicherheit und Abrundung. Ein völlig anderer Anblick bietet sich da, schaut man von diesem insularen Selbstgenügen hinüber zu den Bewegungen, die in den gleichen Jahrhunderten das Festland erfüllten. Auch hier eine Entsprechung von Ideenentwicklung und historischem Gesamtschicksal: in dem Auseinandergehen und Widereinanderstehen der weltanschaulichen und so auch der ethischen Gedankenbildungen spiegelt sich die innere Unsicherheit eines Kulturkreises, der sich bitterlich abmüht, Gewordenes und Werdendes, die Machte der fortwirkenden Überlieferung und die Forderungen einer im tiefsten sich wandelnden Zeit ins Gleichgewicht zu setzen. Vor allem mangelt es hier an dem lebenskundigen, auf handliche und glatte Lösungen bedachten Sinn, mit dem englische Geistesart den Ausgleich zwischen den religiösen Bedürfnissen des Herzens, dem kirchlichen Lehrgut und den Geboten der Weltklugheit herzustellen verstanden hatte. An Stelle des wohlgelungenen, alle Gewissensnot beschwichtigenden Kompromisses gewahren wir hier daB harte und leidenschaftliche Ringen feindlicher Geistesmächte, aus dem nur schwer und spät neue Gestalten des Geistes sich entbinden. Den Gegenpol zur englischen Entwicklung stellt hier zweifellos das d e u t s c h e Geistesschicksal dar. Wir haben uns hier nicht mit den historischen Hergängen zu beschäftigen, die es gefügt haben, daß der deutsche Geist, von neuem in die Abgründe von Bußkampf und Heilssehnsucht sich versenkend, den Weltsinn der Renaissance von sich abtat und so auch in Weltanschauung und Lebensdeutung von der fortschreitenden Bewegung der europäischen Ideen zeitweilig zurücktrat. Jedenfalls hat er den Anschluß an diesen Gedankenzug erst dann gesucht und gewonnen, als der Ideenkreis des neuzeitlichen Geistes bereits ohne seine Mitarbeit es zu einer gewissen Festigkeit und Durchbildung gebracht hatte — eine für seine eigene Gestaltung schlechthin entscheidende Fügung. Eine Mittelstellung nahm die gedankliche Bewegung des festländischen W e s t e u r o p a — Frankreichs und der Niederlande — ein. Politisch wie geistig die Region schärfster Gegensätze, zeigt es auf der einen Seite die Herrschaft einer institutionell gefestigten und so auch in Ideengestalt sich formstreng ausprägenden Kirchlichkeit, die sich immer mehr durch eine Religiosität der mystischen Versenkung bedroht findet — auf der anderen Seite aber nicht

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minder den Selbständigkeitsdrang der „autonomen** Vernunft bis hin zu dem Radikalismus einer auf den Spuren Montaignes fortschreitenden Skepsis. F ü r unsere Sonderaufgabe ergibt sich ans der hiermit skizzierten geistigen Gesamtläge eine wesentliche Folgerang. Im Cedrftnge dieser Ideenverschlingongen gelangt vielfach die ethische Fragestellung nicht zu der reinen Ausprägung, die auf englischem Boden geglückt war; sie bleibt in der Botmäßigkeit von Prinzipien, die ihr eine eigene Entwicklang nicht vergönnen. Andererseits bietet sich den Denkern and Strömungen, die eine keiner religiösen Stützung bedürftige Sittlichkeit aus dem Geist weltlicher Vernunft begründen wollen, in dem Gedankengut der englischen Moralisten eine Fundgrube von Argumenten dar, die einfach in die Beweisführung herübergenommen werden. Unmöglich kann unter solchen Bedingungen ein geordnetes Ganzes von selbständigen Ideen sich heranbilden. Und so darf unsere Darstellung, die vor allem den systematischen Ertrag des gedanklichen Ringens herauszulösen als ihre Aufgabe ansieht, diese westeuropäische Bewegung sammarischer abhandeln, als eine vorwiegend von historischen Interessen geleitete Untersuchung sich gestatten dürfte.

In der Reihe der Philosophen, deren D e n k e n v o n der Metaphysik und Erkenntnistheorie des die ethischen Fragen nur gelegentlich streifenden D e s c a r t e s seinen Ausgang nahm, zieht unsere Aufmerksamkeit zunächst der Denker auf sich, in dem nicht zum ersten Male Mystik und Platonismus sich zur Einheit einer tiefreligiösen Weltanschauung verschmolzen h a b e n : es ist M a l e b r a n c h e . Vorbehaltloser, als es bei den englischen Piatonikern geschehen war, l ä ß t er alles das, was es an ethischen Antrieben geben mag, in den religiösen Erlebnistiefen der Seele aufgehen: Sittlichkeit ist Ausdruck ihres Teilhabens a m Leben Gottes, sittliche Einsichten sind der Widerschein der ewigen Wahrheiten, mit denen das Leben Gottes eins ist. Indem aber Malebranche nun darangeht, die Gesamtheit der Ideen, die in dem ewigen Geist ihr Leben haben, zu ordnen, drängen sich ihm Unterscheidungen auf, die so wenig an die Voraussetzungen einer im Transzendenten begründeten E t h i k gebunden sind, daß wir ihnen bereits im Zusammenhange einer Lebensansicht von ausgesprochenster Weltimmanenz begegnet sind. Denn wenn Malebranche diejenigen Ideen, in denen Wertverhältnisse dem Geiste sich offenbaren, als „ p r a k t i s c h e " aufs schärfste scheidet von den auf Größenverhältnisse bezüglichen, wenn er weiterhin diesen den urteilenden Intellekt, jenen eine Bewegung des Gemüts als psychisches Korrelat zuordnet, so finden wir in diesen Aufstellungen nicht weniger als in der Affekten-Psychologie Shaftesburys und seiner Nachfolger die Irrung überwunden, die die Beziehung auf ideelle Gegenständlichkeit den rein kognitiven Prozessen vorbehält, emotionale Erlebnisse mit dem Innewerden v o n Subjektzu8tändlichkeit gleichsetzt. A u c h hier leuchtet eine A h n u n g v o n der Wahrheit auf, daß es eine „ W e r t e r k e n n t n i s " gibt, die, obwohl Erkenntnis, nichts mit intellektueller Kenntnisnahme gemein hat, obwohl Gefühlserlebnis, Gegenständliches zur E v i d e n z bringt — eine Wahrheit, deren keine A n a l y s e ethischer Erlebnisse entraten kann. Ja, Malebranche deutet selbst die Richtung an, in der eine solche Lehre

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v o n der „ W e r t e r k e n n t n i s " a u s z u b a u e n w ä r e , wenn er «lie Leistung dieser E r k e n n t n i s n ä h e r d a h i n b e s t i m m t , d a ß sie d e m Menschen d a s richtige W e r t v e r h ä l t n i s , die O r d n u n g der G ü t e r des Lebens sichtbar mache. N. M a l e b r a n c h e , De la recherche de la vérité 1674/75; Traité de la nature et de la grâce 1680; Traité de morale 1683.

2. S P I N O Z A . W ä h r e n d die F o r t b i l d u n g des Cartesianismus in D e n k e r n wie G e u l i n c x sowie der E t h i k des J a n s e n i s m u s , ganz zu schweigen von der offiziellen K i r c h e n l e h r e , die E t h i k in engster V e r b i n d u n g m i t der religiös-transzendenten Sphäre e r h ä l t , steigt die gleiche E n t w i c k l u n g in Person u n d W e r k v o n S p i n o z a zu einer Gestalt v o n einsamer Größe e m p o r , die in einer alle t r a n s z e n d e n t e n S t ü t z e n v e r s c h m ä h e n d e n E t h i k d e m G e b ä u d e der reinen V e r n u n f t r e c h t eigentlich seinen Schlußstein einzusetzen gewiß ist. Mit ihm w e r d e n wir wieder in den Bannkreis des „ N a t u r"begriffes stoischer H e r k u n f t z u r ü c k g e f ü h r t , wie d e n n ü b e r h a u p t gerade das niederländische Geistesleben infolge der dort erfolgten philologischen Wiedererweckung der altstoischen L i t e r a t u r v o n dieser Seite die s t ä r k s t e n Einflüsse erfahren h a t . J a , auf den ersten Blick glauben wir u n s derjenigen Präzisierung dieses Begriffes gegenüber zu f i n d e n , die wir bereits in d e m G e d a n k e n g e b ä u d e v o n H o b b es k e n n e n l e r n t e n : ist doch f ü r Spinoza die M a t h e m a t i k diejenige Wissenschaft, die, wie sie in i h r e m methodischen A u f b a u das Vorbild jedes E r k e n n t n i s b e m ü h e n s schlechthin darstellt, so insbesondere f ü r die logische B e s t i m m u n g jenes weltanschaulichen Grundbegriffes m a ß g e b e n d sein m u ß . T r o t z d e m m u ß gerade auch i m Hinblick auf die e t h i s c h e n G r u n d g e d a n k e n Spinozas darauf hingewiesen werden, d a ß n u r ein a m Äußerlichen h a f t e n d e s Urteil diese Parallele festhalten k a n n . D e n n w ä h r e n d einem H o b b e s die Anl e h n u n g a n die m a t h e m a t i s c h e N a t u r w i s s e n s c h a f t , die Mechanik, d a z u dienen m u ß , alles Wirkliche u n d so a u c h das seelische Geschehen mits a m t den in i h m e t w a i n t e n d i e r t e n I n h a l t l i c h k e i t e n in ein der Zeit verh a f t e t e s Kausalgetriebe, in eine R e i h e sukzedierender „ B e w e g u n g e n " aufzulösen — l ä u f t u m g e k e h r t Spinozas „ g e o m e t r i s c h e " Methode darauf hinaus, alle i n der Zeit n a c h k a u s a l e n Gesetzen sich abrollende Wirklichkeit zu verstehen als erfolgend k r a f t einer in der Region des Zeitlosen, in logischen Relationen b e g r ü n d e t e n i d e e l l e n Notwendigkeit. Aller sog. „ P a r a l l e l i s m u s " k a n n dieser V o r o r d n u n g des Zeitlosen nichts a n h a b e n . U n d n u r darin k o m m e n H o b b e s u n d Spinoza überein, d a ß f ü r sie beide das Realgeschehen eindeutig — wenn auch k r a f t einer Notwendigkeit v o n ganz verschiedenem C h a r a k t e r — „ d e t e r m i n i e r t " ist. D e m E t h i k e r Spinoza scheint d a m i t gegenüber den der sittlichen Beurteilung unterliegenden seelischen Geschehnissen eine H a l t u n g geboten, die sie b e t r a c h t e t e , „als seien sie Linien, K ö r p e r u n d F l ä c h e n " — eine

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Betrachtungsweise also, die sie in ihrer Notwendigkeit mit derselben leidenschaftslosen Kfihle, ohne den leisesten Gedanken an Lob und Tadel, zu begreifen sucht, mit der der Ceometer die Relationen seiner Objekte erforscht. Dasselbe zergliedernde Verfahren glaubt Spinoza dann weiterhin auch gegenüber dem seelischen Befunde anwenden zu sollen, der scheinbar dieser seiner Behandlungsweise widerstreitet: gegenüber der Tatsache nämlich, daß die Menschen jedenfalls faktisch n i c h t die Zurückhaltung des bloß auf Begreifen Bedachten geübt haben, sondern gewissen Sachverhalten die Prädikate „ g u t " und „ b ö s e " und verwandte beizulegen von j e gewohnt sind. Auch dies Verhalten muß der Denker, soll es nicht seine eigene Theorie zu Fall bringen, auf die zeitlose Notwendigkeit des Ideengefüges zurückführen. Er tut es, indem er diese Wertbeurteilung aus der Natur der urteilenden Wesen erklärt, zugleich aber auch die Geltung dieser Urteile so einschränkt, daß sie den Prinzipien seiner überschauenden Gesamtauslegung des Wirklichen nicht mehr gefährlich werden können. Die Natur dieser Wesen bestimmt er als das Streben, das eigene Sein zu erhalten, womöglich den eigenen Spielraum zu erweitern. Nach flen Erfolgen dieses Strebens bestimmt sich ihre „ M a c h t " wie ihre „ T u g e n d " . Ein solches Streben kann gar nicht anders als auf die Inhalte und Vorgänge der Umwelt, je nachdem sie ihm selbst förderlich oder abträglich sind, verschieden zu reagieren, mithin ihnen verschiedene Wertakzente beizulegen. D a ß dies geschieht, ist nach der Natur dieser Wesen nicht nur statthaft, sondern einfach notwendig; es gehört dies zu der Gesamtstruktur einer so gearteten Welt. Freilich macht die Gesamtbetrachtung des Philosophen dann deutlich, daß alle Wertprädikate einen berechtigten Sinn nur solange haben, wie man sie aus d e r R e l a t i o n z u d e n s i e f ä l l e n d e n W e s e n versteht. Jede darüber hinausreichende, j a absolute Geltung muß diesen Prädikaten abgesprochen werden, so wahr das, was für das eine Wesen „ g u t " , d. h. förderlich ist, dem anderen „böse", d. h. schädlich sein kann. So sind die Phänomene wertender Beurteilung in ihrer Notwendigkeit begründet, also in ihrem Sinn gerechtfertigt, zugleich aber so in die Sphäre des Relativen gebannt, daß sie nicht mehr gegen die umfassende Theorie ins Feld geführt werden können, vor der, weil sie, wie dies wertende Verhalten, so schlechthin a l l e s Geschehen in seiner Notwendigkeit begreift, weil sie also alles Wirkliche gleichsam in eine Ebene einstellt, jeglicher Wertunterschied verschwindet. Soweit eine die ethischen Ph&nomene dem Ganzen einordnende „geometrische" Betrachtungsweise, die einer Theorie der „Selbstsacht" im Stile von Hobbes sehr ahnlich sieht und deshalb auch des Öfteren mit ihr der gleichen Verdammnis verfallen ist. Daß nun freilich der Gehalt der Theorie mit diesen Sätzen nicht erschöpft sein kann, das lehrt eine Erwägung analog derjenigen, zu der schon die Theorie von Hobbes Anlaß gab. Auch hier wird man fragen müssen: glaubt der Philosoph von dieser Theorie, die das Ganze der Wirklichkeit zu umspannen beansprucht, s e i n e i g e n e s T u n , sein eigenes denkendes und erkennendes Verhalten mit umfaßt ? Und zwar legt sich dieser Satz in

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zwei Sonderfragen auseinander: ist dies T o n einmal als t h e o r e t i s c h z u e r k l ä r e n d e s Phfinomen dem Gesamtgefüge der auf „geometrische" Weise abzuleitenden Befunde, ein Glied wie jedes andere auch, eingeordnet — ist es tarn zweiten, eben vermöge dieser Einreibung, so wenig wie irgendein anderes beliebiges Stück Wirklichkeit einer w e r t e n d e n Auszeichnung w ü r d i g ? Zwei Fragen, die den Philosophen in ein schweres Dilemma verwickeln, sobald er sich klarmacht, daß er durch dieses T u n zu einer das G a n z e der Wirklichkeit umfangenden W a h r h e i t vorzudringen den Anspruch erhebt. Verweigert er, im Einklänge m i t seiner Theorie, dem eigenen Tun jede ausgezeichnete Stellung, sei es in der Erklärung, sei es in der Bewertung, so heißt das implicite den Wahrheitswert seiner Ergebnisse in Frage stellen — erkennt er ihm eine Sonderstellung zu, so ist die eigene Theorie an e i n e r Stelle durchbrochen, mithin ihr universaler Anspruch preisgegeben. D a m i t ist der P u n k t bezeichnet, an dem der Gedankengang Spinozas eine bei Hobbes noch vermiedene Umbiegung erfährt, und zwar eine Umbiegung, die dahin f ü h r t , d a ß diese scheinbar die E t h i k auflösende Theorie sich selbst eine ethische Krönung gibt. W a s zunächst die theoretische Seite angeht, so zeigt Spinoza an mehr als einer Stelle ein deutliches Bewußtsein davon, d a ß das erkennende Verhalten mit einer Reihe von anderen I n h a l t e n der Wirklichkeit schon insofern nicht in eine Ordnung eingestellt werden k a n n , als es an diesen s e i n e n G e g e n s t a n d h a t . Das Subjekt-Objekt-Verhältnis, diese m i t nichts vergleichbare Relation, k a n n eben nicht so sehr v e r k a n n t werden, d a ß das denkende T u n sich unter die Vielheit seiner eigenen Objekte verlöre. Am wenigsten k o n n t e u n d d u r f t e ein Spinoza von den Voraussetzungen seines Systems her eine solche Einreihung zulassen. Denn wenn er alles, was ist, in der Region z e i t l o s e r Ideenzusammenhänge begründet sein läßt, wie dürfte er den Sondercharakter desjenigen Geschehens untergehen oder verwischen lassen, das sich von der Gesamtheit der sonstigen zeiterfüllenden Vorgänge gerade durch die mögliche Beziehung auf die Region des Zeitlosen unterscheidet: das Denken, in dem der Geist s i c h a u f d i e I d e e r i c h t e t . W e n n es wirklich ein T u n gibt, das dem Geist die in der Idee gegründete Notwendigkeit des Seins u n d Geschehens als solche entschleiert, kann dann dies T u n seinerseits, ohne d a ß sein E r t r a g fragwürdig erschiene, in das Gefüge der v o n ihm erk a n n t e n Notwendigkeit, ein Vorgang wie andere auch, eingestellt werden — oder steht es nicht vielmehr dieser Notwendigkeit als eine sie über- und durchschauende Instanz gegenüber? Besonders s t a r k und unübersehbar bringt sich diese Sonderstellung des Denkens innerhalb des gerade f ü r die E t h i k zentralen Bereichs zur Geltung. Der Mensch als vernünftig denkendes Wesen richtet seinen Blick nicht nur auf das Spiel der seelischen Geschehnisse ü b e r h a u p t und schlechthin, sondern vor allem auf die i n i h m s e l b s t sich abspielenden Vorgänge; d a m i t rückt er diese in die Objektstellung, n i m m t also jene v o n der E t h i k immer wieder betonte Gliederung seiner selbst vor, die ein erkennendes Ich über die innere Bewegung emportauchen l ä ß t . Aber Spinoza erkennt des weiteren, d a ß dieser innere Zerlegungsprozeß über seine theoretische Bedeutung hinausgreift. U n t e r den inneren Vorgängen gibt es solche, deren N a t u r nicht ungeändert bleibt, wenn sie zu Gegenständen denkender Auffassung werden — vorausgesetzt nämlich, d a ß es d a s s e l b e Ich ist, das jene erlebt und zu erkennen t r a c h t e t — Vorgänge überdies, denen f ü r die Gestaltung der inneren Welt zentrale Bedeutung z u k o m m t . E s sind die A f f e k t e . W e n n das Subjekt es lernt, sie zu erkennen, d. h. sie in ihrem notwendigen Hervorgehen aus der allumfassenden Ordnung des Seins zu begreifen, so ändert sich zugleich ihre F u n k t i o n im H a u s h a l t der Seele. War der Mensch, solange er sie nicht zu erkennen versuchte oder vermochte, ihnen als ein Leidender, als ein von den „ P a s sionen" hin u n d her Gezogener ausgeliefert, so geht ihnen diese Macht über das Subjekt verloren, sobald sie von der erkennenden Analyse durchschaut und dem Gesamtgetriebe alles Wirklichen eingereiht werden. I n d e m das Subjekt sie erkennt, steht es nicht mehr i n m i t t e n ihres Getümmels; es h a t sich über sie erhoben und vermag deshalb regelnd, ordnend in das Getriebe einzugreifen, dessen Spielball es vordem war. So gewinnt es

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durch Erkenntnis die F r e i h e i t — oder vielmehr, im Sinne Spinozas gesprochen: Erkenntnis i s t die Freiheit. Und diese ordnende Wirksamkeit der erkennenden Vernunft, die in der Organisation des eigenen Affektenlebens sich entfaltet, findet nicht etwa am Lebenskreis des eigenen Ich ihre Grenzen. Sie läßt den Menschen erkennen, d a ß ihm die E r h e b u n g zur inneren Freiheit u m so besser und sicherer gelingen wird, je weniger Störungen dieses sein Streben von seiner menschlichen Umgebung zu gewärtigen h a t . Dies aber wird d a n n der Fall sein, wenn auch sie von gleichem Drange erfüllt ist, also auch in ihr die Passionen der Vernunftherrschaft unterworfen werden. So d r ä n g t der vernünftig erkennende G«ist von selbst zur Herstellung der v e r n ü n f t i g e n G e m e i n s c h a f t , vor allem des n a c h dem so verstandenen ,,Naturrecht" konstruierten S t a a t e s . I h m obliegt i m erweiterten Spielraum der organisierten Gemeinschaft dieselbe Sittigung der Leidenschaften durch die Vernunft, die das Einzelsubjekt in seinem inneren H a u s h a l t leistet. So erweisen sich alle die sog. „sozialen" Antriebe als F r u c h t der vernünftigen E r k e n n t n i s dessen, was dem Ich am heilsamsten ist.

Selbst w e n n m a n a n n e h m e n wollte, auch die hier wiedergegebenen E r ö r t e r u n g e n w ä r e n nichts weiter als die n ü c h t e r n e Analyse eines Sachverhaltes, der sich im Leben der Menschen v o r f i n d e t , selbst d a n n ist n i c h t zu bestreiten, d a ß diese Analyse b e s t i m m t e H e r g ä n g e u n d F u n k t i o n e n dieses Lebens auszeichnend h e r a u s h e b t , insofern sie i h n e n eine besonders u m f a s s e n d e W i r k s a m k e i t z u e r k e n n t . Aber bleibt e t w a Spinoza bei diesem theoretischen Ergebnis s t e h e n ? I n einem d o p p e l t e n , wohl zu u n t e r s c h e i d e n d e n Sinn läßt er hier die S p h ä r e des „ b l o ß Theoretischen' 4 h i n t e r sich. E i n m a l verwandelt sich in seiner B e t r a c h t u n g die E r k e n n t n i s aus dem, was der N a m e besagt, in ein p r a k t i s c h e s , ein gestaltendes V e r m ö g e n ; sie analysiert nicht n u r die Energien des sittlichen Lebens, sondern wird selbst zu einer solchen, j a zur sittlichen M a c h t xaz eSoxijv. Spinoza selbst h a t diese E r w e i t e r u n g u n d Bereicherung des Begriffes nicht m i t voller K l a r h e i t als solche kenntlich g e m a c h t — sie wird ü b e r a l l da v e r d u n k e l t , wo E r k e n n t n i s der A f f e k t e ihrer U n t e r w e r f u n g schlechthin gleichgesetzt wird — d a ß sie i h m aber nicht gänzlich f r e m d w a r , beweist die Stelle, a n der er h e r v o r h e b t , d a ß die E r k e n n t n i s n u r d a n n , wenn s i e s e l b s t z u m A f f e k t w i r d , der den Menschen k n e c h t e n d e n A f f e k t e H e r r werden k ö n n e ; bloße E r k e n n t n i s als solche sei d a z u a u ß e r s t a n d e . E r k e n n t n i s t r i t t also als der eigentliche a k t i v e A f f e k t j e n e n L e i d e n s c h a f t e n entgegen, die den Menschen in P a s s i v i t ä t e r h a l t e n . Das heißt, d e n Ü b e r g a n g in die S p h ä r e d e r „ p r a k t i s c h e n V e r n u n f t " implicite eingestehen. Der Rationalist e r s p ü r t h i n t e r d e r ratio das D r ä n g e n der T r i e b k r ä f t e , die sie in Bewegung setzen. I m m e r h i n wäre es n u n d e n k bar, d a ß Spinoza, auch wenn er diese F u n k t i o n der V e r n u n f t als eine die Theorie überschreitende festlegt, gleichwohl s e l b s t in der H a l t u n g des rein theoretischen B e t r a c h t e r s v e r h a r r t e , m . a. W . es sich i m Einklänge mit den oben dargestellten V o r a u s s e t z u n g e n v e r b ö t e , zu dieser F u n k t i o n w e r t e n d Stellung zu n e h m e n . Aber das P a t h o s , zu d e m sich Spinoza e r h e b t , wenn die T ä t i g k e i t der Herrscherin V e r n u n f t i h m v o r Augen t r i t t , v e r r ä t ohne weiteres, d a ß er die B e f r e i u n g aus der K n e c h t -

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schaft der Affekte, die sie b e w i r k t , n i c h t als ein P h ä n o m e n neben anderen k ü h l registriert, sondern als das E r w a c h e n des sittlichen Selbst b e j a h t , verherrlicht, als höchstes Ideal erlebt u n d v e r k ü n d i g t . E r selbst als praktischer Philosoph n i m m t P a r t e i f ü r die p r a k t i s c h e V e r n u n f t ! Bedarf es noch des Hinweises, d a ß Spinoza diese E r k e n n t n i s nicht n u r der T u g e n d , sondern auch der Glückseligkeit gleichsetzt, j a , d a ß er schließlich, sie z u m liebenden U m f a n g e n der G o t t h e i t e m p o r s t e i g e r n d , die ganze I n b r u n s t seiner Mystik in ihren Lobpreis e i n s t r ö m e n l ä ß t ! W o bleibt da die k ü h l e Teilnahmlosigkeit des sezierenden Theoretikers ? Aber freilich, j e deutlicher die E t h i k der sittlichen V e r n u n f t sich zu ihren übertheoretischen I n s p i r a t i o n e n b e k e n n t , u m 60 fraglicher w i r d auch das Z u s a m m e n g e h e n dieser abschließenden G e d a n k e n m i t der relativistischen Theorie der sittlichen P h ä n o m e n e , die oben r e p r o d u z i e r t wurde. D e n n das „ G u t " u n d „ B ö s e " , das der D e n k e r in Gestalt der v e r n u n f t b e f r e i t e n u n d der a f f e k t g e k n e c h t e t e n Seele gegenüberstellt — wird er auch diesem n u r die b e s c h r ä n k t e Gültigkeit z u e r k e n n e n , die i h m in Relation auf das beurteilende S u b j e k t u n d sein Selbsterhaltungsbedürfnis z u k o m m t ? T r i t t nicht diese W e r t v e r k ü n d u n g m i t einem Anspruch auf, der alle R e l a t i v i t ä t e n h i n t e r sich läßt ? I n sehr b e m e r k e n s werter F o r m h a t Spinoza den Ausgleich dieses Widerspruches v e r s u c h t . Auch die e r k e n n e n d e V e r n u n f t b e t ä t i g u n g des Menschen, dies ist seine Meinung, h a t ihren P l a t z i n m i t t e n der G e s a m t h e i t v o n Verhaltungsweisen, durch die die Wesen sich selbst, ihre „ N a t u r " zu b e h a u p t e n , womöglich zu erweitern t r a c h t e n . A u c h sie gehört als Ä u ß e r u n g des Machttriebes mit i h n e n z u s a m m e n . D e n n V e r n u n f t e r k e n n t n i s ist eben diejenige Ä u ß e r u n g des Menschenwesens, die seine „ N a t u r " a m reinsten ausspricht, ist lebendige E n t f a l t u n g seines eigensten Wesenskernes. W o der Mensch dem E r k e n n t n i s t r i e b Folge gibt, da gerade h a n d e l t er k r a f t jener Selbstliebe, die Wesen u n d R e c h t aller Geschöpfe ist, d a verwirklicht er die i h m eigentümliche T u g e n d . U n d im Hinblick auf dieses s e i n Gutes darf u n d soll er a u c h die W e r t p r ä d i k a t e „ g u t " u n d „ b ö s e " verteilen: gut ist, was ihn dem Ziel v e r n ü n f t i g e r E r k e n n t n i s n ä h e r b r i n g t , böse, was ihn v o n i h m f e r n h ä l t . So möchte es scheinen, als habe Spinoza jenen Widerspruch getilgt, die Wertkriterien der Vernunftsittlichkeit der Gesamtheit aller anderen relativen Wertbestimmungen eingereiht, die Selbstliebe der Vernunft den anderen Formen des Selbstbehauptungstriebes gleichgeordnet. Und doch gelingt nur scheinbar der Versuch, jenseits jener Wertbejahung wieder einen S t a n d p u n k t reiner Betrachtung zu gewinnen. Wie in den zuvor betrachteten Fällen, so soll auch hier der Begriff der „ N a t u r " , des Wesens, die Brücke bilden, die von der Wertentscheidung zur Seinsbetrachtung hinttberleitet. Aber auch hier kann die Gleichheit der Bezeichnung die Tatsache nicht verdecken, daß dasjenige „Wesen", welches sich in der Tätigkeit erkennender Vernunft auslebt, nicht einfach eine natürliche Beschaffenheit wie andere, neben anderen ist. Denn diese Tätigkeit h a t ja ihr Wesen — u n d zwar gerade gemäß den Grundanschauungen Spinozas selbst — k r a f t einer Beziehung auf die Region des nicht nur Zeitlos-Ideellen sondern ewig „Gültigen", durch welche sie sich bzw. die in ihr sich auswirkende „ N a t u r " über die

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DIE FRANZÖSISCHE

AUFKLARUNG

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Partikularität vergänglichen Seins, Ober die R e l a t i v i t ä t besonderer Interessen emporfiihrt. Die Überlegenheit und Unvergleichbarkeit der d a m i t gewonnenen Position t a t sich gleich darin kund, daß sie das zu ihr erhobene Wesen in den Stand setzt, die Mannigfaltigkeit der „ N a t u r e n " , ihrer besonderen und gegeneinander strebenden Machttriebe, eingeschlossen die eigene, denkend zu umfassen, auf die logische Einheit zeitloser Ideenzusammenhänge zurückzuführen und so sie alle in ihrer Notwendigkeit zu begreifen. W e n n solches T u n „ S e l b s t b e h a u p t u n g " heißen soll, so ist es jedenfalls ein Selbst von ganz besonderer und unvergleichbarer Art, das sich in ihr b e h a u p t e t : nicht das ganze empirische Ich des Menschen in seiner faktischen Beschaffenheit, in der ganzen zeitgebundenen Besonderheit seiner Bestrebungen, sondern ein in ihn gleichsam eingelagertes höheres Ich, das sich von jenem gerade d u r c h seine „Selbstlosigkeit", d. h. durch die völlige Auslöschung aller nicht der Region des Zeitlosen zugewandten Antriebe unterscheidet. Nur weil der Erkenntnis, wird sie rein geübt, diese „Selbstlosigkeit" eignet, kann Spinoza auch alle sozial gerichteten Handlungen ihren Eingebungen entsprungen glauben. Wie wäre es also s t a t t h a f t , ein Streben, das sich im Ergreifen des ewig Gültigen vollendet, auf relative und beschränkte Wertsetzungen zurückzuführen und m i t anderen F o r m e n der „Selbstliebe" in e i n e n Rang zu stellen. D a ß der „Wesens"begriff des Menschen, mit dessen Hilfe Spinoza die Einheit des Systems zu r e t t e n versucht, die Gleichordnung mit der Vielheit der anderen „ N a t u r e n " nicht verträgt, ist f ü r den selbstverständlich, der sich die H e r k u n f t dieses Begriffes deutlich macht. Auch er erhält, gleich mancher f r ü h e r betrachteten Fassung des Naturbegriffes, seinen Inhalt j a n u r dadurch, d a ß ein ganz und gar nicht durch Seinsanalyse gewonnener S i n n g e h a l t zurückverlegt wird in ein Sein, m i t dem er angeblich eins ist. Die i d e e l l e Sphäre des Zeitlos-Gültigen wird uminterpretiert zur r e a l e n Beschaffenheit des Wesens, das seine denkenden Intentionen auf sie zu richten fähig ist. Daß aber der Philosoph dieses von dem Sinn her bestimmte Sein und Wesen n u n zugleich, sei es auch im Widerspruch gegen die Grundprinzipien der eigenen Theorie, durch den höchsten Wertakzent auszeichnet — wie wäre es anders möglich. Denn wie könnte er d i e Form des Strebens, die das Ganze seiner weltumspannenden Gedanken ins Leben r u f t , die ihn durch Wahrheit zur Freiheit f ü h r t , ernstlich und ohne jeden nneingestandenen Vorbehalt in dem Vielerlei beliebiger Wollnngen sich verlieren lassen. I m m e r wieder erhebt sich hinter jedem Rückgang auf die Position des reinen Erkennens—die Bejahung, die wertende Auszeichnung dieses Tuns, die jede relativistische Auslegung abweist. Die Theorie, die die menschliche Sittlichkeit der Mannigfaltigkeit der Wertsetzungen einzuordnen glaubt, erweist sich selbst als inspiriert von eben dieser Sittlichkeit. B. d e S p i n o z a , Tractatus theologico-politicus 1670; Ethica ordine geometrico demonstrata; T r a c t a t u s politicus 1677.

3. D I E F R A N Z Ö S I S C H E

AUFKLÄRUNG.

Obwohl Spinoza eine Fülle der verschiedenartigsten Anregungen in sich verarbeitet hat, verharrt er als Denker wie als Mensch in einer Ab40 geschlossenheit, die es unmöglich macht, sein System als die Fortsetzung und Entfaltung vorher gewonnener Problemeinsätze zu interpretieren. Aber auch nach vorwärts hin scheint von ihm her kein Brückenschlagen, kein Weiterwachsen des Gedankens möglich. Schüler und Nachfolger hat er nicht gefunden. Erst sehr viel später und inmitten einer völlig anders gearteten geistigen Welt ist sein Werk zu neuem und fortzeugendem Leben erweckt worden. Wir aber treten in die Kontinuität der gedanklichen Entwicklung, die Spinoza beiseite stehen läßt, wieder ein, indem v.~ir den Blick auf die Ethik der f r a n z ö s i s c h e n A u f k l ä r u n g lenken.

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H a t t e n wir die T r ä g e r der ethischen Reflexion n a c h der I n t e n s i t ä t u n d Reichweite der u n m i t t e l b a r v o n ihnen ausgegangenen W i r k u n g e n zu w ü r d i g e n , so g e b ü h r t e der R e i h e v o n Moralisten, der wir u n s d a m i t z u w e n d e n , ein wesentlicher Teil unseres Interesses. D e n n a u c h in i h n e n t r i u m p h i e r t e j e n e d e n französischen Geist v o n j e auszeichnende Gabe, I d e e n diejenige P r ä g u n g zu verleihen, in der sie in der Allgemeinheit der geistigen B e w e g u n g a m leichtesten E i n g a n g f i n d e n m u ß t e n . Anders stellt sich die Sache d a r , w e n n es u m gedankliche Originalität u n d F r u c h t b a r k e i t g e h t . M a n h a t m i t R e c h t h e r v o r g e h o b e n , d a ß eben das, was den S c h r i f t e n dieser M ä n n e r i h r e literarische D u r c h s c h l a g s k r a f t verlieh: das F e u e r eines d u r c h politischen D r u c k gereizten u n d auf politische W i r k u n g b e d a c h t e n Willens, die agitatorische Z u s p i t z u n g der Klagen u n d F o r d e r u n g e n , die u m die Seele des Lesers w e r b e n d e V i r t u o s i t ä t des V o r t r a g s — d a ß dies alles die Sorge u m die Solidität der gedanklichen B e g r ü n d u n g u n d D u r c h f ü h r u n g z u r ü c k d r ä n g t e , j a die Neigung beg ü n s t i g t e , einen e t w a schon v o r h a n d e n e n I d e e n g e h a l t , sofern er n u r den leitenden A b s i c h t e n dieser Publizisten dienlich w a r , sich o h n e tiefer gehende P r ü f u n g a n z u e i g n e n . Als solcher b o t sich der E r t r a g der e n g l i s c h e n Moralphilosophie d a r , u n d so k a m es, d a ß diese z u n ä c h s t in F r a n k r e i c h eine begeisterte A u f n a h m e f a n d , u m d a n n in d e m ansprechend e n G e w ä n d e , das ihr französische S t i l k u n s t verlieh, d e n W e g in das übrige A b e n d l a n d a n z u t r e t e n . N a t ü r l i c h w ä r e es n i c h t zu dieser A n e i g n u n g g e k o m m e n , h ä t t e nicht in den Tiefen des französischen Geistes, d u r c h die Ü b e r m a c h t absolutistischer u n d kirchlicher T e n d e n z e n z u r ü c k g e d r ä n g t , a b e r nicht erstickt, j e n e Verwegenheit des D e n k e n s ihrer S t u n d e g e h a r r t , der bereits die R e n a i s s a n c e e i n m a l die Z u n g e gelöst h a t t e . Derselbe Skeptizismus, der zeitweise — wie e t w a in P a s c a l — d a z u gedient h a t t e , die E i n w ä n d e der V e r n u n f t wider d e n G l a u b e n d u r c h d e n Erweis ihrer Grenzen u n d I r r t ü m e r z u m Schweigen zu b r i n g e n , w a r s t ä n d i g bereit, seine Energie a u c h gegen j e d e M e t a p h y s i k religiöser H e r k u n f t zu kehren. D a ß ein so g e w a n d t e r S k e p t i z i s m u s f ü r die B e g r ü n d u n g der E t h i k eine sehr positive B e d e u t u n g gewinnen k o n n t e , w a r eine gerade d e m französischen D e n k e n geläufige E r f a h r u n g : h a t t e n doch schon M o n t a i g n e u n d C h a r r o n d u r c h E n t t h r o n u n g der M e t a p h y s i k die sittliche V e r n u n f t sich selbst z u r ü c k z u g e b e n g e m e i n t . U n d n u n e r n e u t sich dieses B ü n d n i s v o n Skeptizismus u n d E t h i k in einem französischen D e n k e r , d e r der eigentlichen A u f k l ä r u n g b e d e u t s a m p r ä l u d i e r t : P . B a y l e , übrigens m i t d e m in bezug auf Glaubenslehren nicht weniger skeptischen S h a f t e s b u r y durch persönliche F r e u n d s c h a f t v e r b u n d e n . Auch er v e r k n ü p f t m i t d e m radikalen Zweifel a n j e d e r A r t v o n M e t a p h y s i k die Ü b e r z e u g u n g , d a ß den Sätzen d e r E t h i k eine rein in i h n e n selbst g e g r ü n d e t e rationale Gültigkeit zu eigen sei, die m i t u n z w e i f e l h a f t e r E v i d e n z z u t a g e t r e t e , sobald jede V e r b i n d u n g m i t jener gelöst werde. Die K e n n t n i s dessen, w a s s e i n

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soll, hat nach Herkunft und Geltungswert nichts gemeinsam mit den Urteilen über das, was i s t . Blieb bei Bayle die Apriorität sittlicher Normen als Schutzwehr gegen den Skeptizismus noch erhalten, so griffen die Kühnsten unter den Neuerern — genannt seien L a m e t t r i e , H e l v e t i u s , H o l b a c h — gerade nach der Form der englischen Ethik, die in der Zersetzung in sich selbst ruhender sittlicher Forderungen am weitesten ging: so treten sie in die Gefolgschaft von Hobbes ein. Nur daß sie, wie sie dessen „mechanistischen" Materialismus durch Umbildung zum „physiologischen" vergröberten, wie sie seine sensualistische Erkenntnistheorie auf die Spitze trieben, folgerichtig auch die von ihm für primär erklärten Motivkomplexe des menschlichen Wesens noch tiefer in die Sphäre des Derb-Änimalischen hinunterdrückten — mit welcher Theorie dann ihr eigenes eiferndes Bemühen um Aufklärung und vernunftgemäße Ordnung von Gesellschaft, Staat und Menschheit in einem schon in der Würdigung von Hobbes aufgewiesenen Widerspruch stand. Die Dialektik der geistigen Bewegung brachte es mit sich, daß wie in England so auch hier die zynische Leugnung einer in sich selbst gegründeten Sittlichkeit ihre Verteidiger auf den Plan rief — und zwar keineswegs nur aus dem Kreis der an der Überlieferung Hängenden, sondern auch in den Reihen der Aufklärer selbst. Wie jede Vernunftaufklärung ein doppeltes Antlitz zeigt, je nachdem man die in ihr selbst sich auswirkenden logischen Prinzipien oder das gemäß diesen logischen Prinzipien gestaltete Bild der Wirklichkeit ins Auge faßt, so hat sie auch hier den Gegensatz eines die ethischen Normen aus der eigenen Idee begründenden und eines sie in der „Erklärung" des Befundes auflösenden Rationalismus aus sich hervorgetrieben. So konnten V o l t a i r e und manche aus den Kreisen der Enzyklopädisten, wie etwa D i d e r o t , vom Boden der Aufklärung selbst aus den Kampf gegen das Evangelium des nackten Egoismus und für die Ursprünglichkeit sittlicher Regungen führen. B . P a s c a l , Pensées sur la religion 1669. P. B a y l e , Oeuvres divers 1725/31. J. L a m e 11 r i e , L'homme machine 1747. D . H o l b a c h , Système de la nature 1770. C. A. H e l v e t i u s , De l'esprit 1758. F. M. V o l t a i r e , Le philosophe ignorant 1767.

4. ROUSSEAU. An Originalität des Denkens wie an durchschlagender Kraft der Wirkung läßt alle die hier Genannten weit hinter sich ein Mann, dem diese moralphilosophische Diskussion weit mehr bedeutete als ein Gefecht philosophischer Lehrmeinungen — nämlich das Ringen um Probleme, an denen er sich selbst die unendlich reizbare Seele wieder und wieder wund gerieben hatte. Man muß schon bis in die Zone des Religiösen zurückgehen, um Menschen zu begegnen, deren Gedankenbewegung so sehr mit dem zentralen Erleben, mit dem Auf und Nieder von Beseligung

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u n d Verzweiflung eins ist. Größe wie Unzulänglichkeit des Denkers R o u s s e a u wurzeln in diesem Z u s a m m e n h a n g e , der auch u n d gerade seinen ethischen Reflexionen ihre erregende Eindringlichkeit verleiht. W o m a n Rousseau, den E t h i k e r , ins Auge f a ß t , da d e n k t m a n v o r allem an den leidenschaftlich-beredten Anwalt des G e f ü h l s — des Gefühls, v o n d e m alle seine Klagen, F o r d e r u n g e n , T r ä u m e , H o f f n u n g e n durchglüht sind u n d d e m seine d u r c h aufklärerischen D ü n k e l b e s t r i t t e n e n R e c h t e zurückzugewinnen die große Aufgabe seines Lebens ist. U n d in der T a t h a t gerade dieser leidenschaftliche Appell a n die S t i m m e des Herzens zunächst den s t ä r k s t e n Widerhall geweckt. T r o t z d e m ist nicht zu übersehen, d a ß hier sein Verdienst in der hinreißenden K r a f t der V e r k ü n d u n g , nicht aber in der Neuheit u n d Eigenheit der I d e e liegt — wie d e n n der E i n f l u ß der englischen emotionalen E t h i k a u ß e r Zweifel s t e h t . Allerdings wurde Rousseau d u r c h die Leidenschaftlichkeit seines Impulses insofern ü b e r die Position der G e n a n n t e n h i n a u s g e d r ä n g t , als er, nicht zufrieden, die V e r n u n f t hinter das Gefühl zurückzustellen, ihr bisweilen in seinem N a m e n geradezu den Krieg m a c h t , gleich als ob Vern u n f t mit herztötender Vernünftelei zusammenfallen müsse. Vor allem aber n i m m t diese Theorie des Gefühls bei ihm eine W e n d u n g , m i t der er der Ideenentwicklung recht eigentlich den Stachel eingesetzt h a t . Sie b e s t e h t in der V e r k n ü p f u n g der ethischen P r o b l e m a t i k m i t der Welt der G e s c h i c h t e . Nicht als ob m a n bis dahin blind gewesen wäre für die Tatsache, daß die ethischen Phänomene irgendwie mit den Gestalten und Schicksalen in Zusammenhang stehen, die die Historie erforscht. Aber was m a n über diese Beziehung zu sagen hatte, das haftete durchweg am Äußerlichen. Vor allem der stete W a n d e l d e r s i t t l i c h e n W e r t s c h ä t z u n g e n , den die Geschichte sichtbar macht, h a t t e auf der einen Seite dem radikalen Moralskeptizismus sowie den Gegnern der „eingeborenen I d e e n " brauchbare Argumente geliehen, auf der anderen Seite den Verfechtern einer ewig gültigen Moral die Aufgabe gestellt, hinter den wechselnden Kostümen einen sich gleichbleibenden K e r n von sei es in der Vernunft, sei es im Gefühl sich kundtuenden sittlichen Direktiven nachzuweisen — wobei dann der Anteil des Historischen im einzelnen sehr verschieden abgemessen werden konnte. Unmöglich aber konnte eine Historie, der man im günstigsten Falle nur die ä u ß e r e E r s c h e i n u n g des Sittlichen beließ, f ü r den wesentlichen Problemgehalt der E t h i k eine positive Bedeutung gewinnen.

Das ä n d e r t e sich m i t einem Schlage bei Rousseau. D e n n bei i h m wird n u n die Sittlichkeit als solche in die geschichtliche Bewegung hineingezogen — j a noch m e h r : i n d e m die Sittlichkeit so ein geschichtliches Schicksal e r h ä l t , wird auch schon dies Schicksal z u m H a u p t t h e m a , zum L e i t m o t i v des in einem tieferen Sinne a u f g e f a ß t e n geschichtlichen Prozesses erhöht. E s ist n a t ü r l i c h n i c h t dieses Ortes, Rousseaus K u l t u r t h e o r i e darzulegen. Wir bezeichnen n u r die Stellen, an denen sie in die Theorie der E t h i k übergreift. W e n n Rousseau m i t der langen Reihe schon bet r a c h t e t e r D e n k e r einig ist in dem Glauben a n eine der „ N a t u r " des Menschen eingepflanzte, j a m i t ihr i m G r u n d e identische Sittlichkeit,

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so n i m m t dieser Gedanke bei ihm in demselben Augenblick eine historische Wendung, da er die lebendige Auswirkung dieser N a t u r einer bestimmten Phase menschheitlicher Entwicklung zuspricht, einer an sie sich anschließenden anderen abstreitet. Die N a t u r wird damit aus der Sphäre zeitloser Allgemeinheit herausgehoben und gleichsam historisch lokalisiert. Es ist das Schicksal der naturgegründeten Sittlichkeit, d a ß sie, nachdem sie eine Zeitlang Leiterin des Lebens gewesen ist, die Herrschaft an Mächte von anderer Art abtreten m u ß . Aber der Gang der E n t wicklung erschöpft sich nicht — das ist die bei Rousseau immer stärker hervortretende Überzeugung — in diesen zwei Szenen. Die Natur, die aus der Gestaltung des Lebens gewichen ist, ist d a r u m nicht t o t ; sie lebt weiter als Sehnsucht, H o f f n u n g und Forderung in Menschenherzen — in Herzen, wie Rousseau eines in sich spürt — und sieht vor sich die Möglichkeit und Aufgabe, von neuem dem Leben eine den Forderungen wahrer Sittlichkeit entsprechende Gestalt zu geben. So gliedert sich sub specie des sittlichen Gedankens die Menschheitsgeschichte in drei P h a s e n : die dem Gebot der N a t u r gehorchende ferne Vergangenheit, die von ihren Pfaden abgewichene, in der Gegenwart noch dauernde Zeit der Naturentfremdung, die für die N a t u r zurückzugewinnende Zukunft. Es bedarf nach mehrfach Ausgeführtem keiner Begründung, daß auch der hier verwandte Naturbegriff einen Wertverhalt in ein Sein zurückprojiziert. Das Neue ist nur dies, daß dieses wertgemäße Sein — gleichgültig ob mit sachlichem Recht oder nicht — in eine historisch abgegrenzte Phase zurückverlegt wird, die in ihrer Gesamtverfassung die Wertforderung erfüllt, während das gleiche Sein seit dem „Sündenfall" n u r als Sehnsucht weniger Unverstandener — oder gar des einzigen unverstandenen Rousseau ? — sein Dasein fristet. N u n aber bringt diese h i s t o r i s c h e Fixierung durch die Art, wie sie sich des näheren begründet, zugleich ein sachlich höchst bedeutsames Motiv in den Naturbegriff hinein. Seit den Zeiten der Stoa h a t t e m a n immer wieder die N a t u r nicht n u r mit dem Normativen ü b e r h a u p t , sondern insbesondere mit den Weisungen der Vernunft in eins gesetzt. I n d e m Rousseau, ohnedies zu Mißtrauen gegen die Tätigkeit der Vernunft geneigt, sich nach Wesen und Gründen des Umschwunges fragt, der die erste Phase in die zweite übergeführt, die naturgebotene Sittlichkeit durch naturwidrige Unsittlichkeit verdrängt h a t , kann er unmöglich an der Vernunft als der Quelle wahrer Sittlichkeit festhalten: denn diese Vernunft sieht er ja auch nach jener Peripetie, bis in die unmittelbarste Gegenwart hinein, nicht nur in ungeschwächter Wirksamkeit, sondern in ununterbrochenem Aufstiege begriffen. Was nur der Geist vermag in forschender Erkenntnis, in künstlerischer Gestaltung, in zweckentsprechender Ordnung und geselliger Verfeinerung des Lebens, h a t er in höchster Vollkommenheit geleistet. Wäre dieser Geist auch Erzeuger und Wahrer der Sittlichkeit

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— es m ü ß t e u m sie b e s s e r d e n n j e bestellt sein. A b e r R o u s s e a u g l a u b t sich d u r c h u n t r ü g l i c h e E r f a h r u n g b e l e h r t , d a ß d a s Gegenteil der F a l l ist — u n d so ist bei e i n e m M a n n e , der s t e t s n u r mit d e m Herzen zu denken gewohnt i s t , der S c h l u ß schnell g e z o g e n : d a eine Zeit, die allenthalben d e n T r i u m p h des v e r n ü n f t i g e n G e i s t e s zeige, v o n wahrer Sittlichkeit bis a u f den G r u n d entleert sei, so m ü s s e eben ihr Verschwinden d u r c h den A u f s t i e g des G e i s t e s v e r s c h u l d e t sein. D i e N a t u r , a u s der die wahre S i t t l i c h k e i t e n t s p r i n g t , ist v e r d r ä n g t , erstickt, durch die — K u l t u r ! D i e s die b e r ü h m t e u n d folgenreiche W e n d u n g , mit der R o u s s e a u d e m ü b e r l i e f e r t e n N a t u r b e g r i f f die S p i t z e g e g e n d i e „ K u l t u r " g e g e b e n h a t . S i t t l i c h k e i t u n d G e i s t , bis dahin i m m e r in harmonis c h e m E i n v e r n e h m e n e r h a l t e n oder schlechthin gleichgesetzt, t r e t e n in ein a n t i t h e t i s c h e s V e r h ä l t n i s . U n d j e n e s historische D r a m a der menschheitlichen E n t w i c k l u n g i d e n t i f i z i e r t sich in den beiden ersten S z e n e n m i t d e m sachlichen G e g e n s a t z der n o c h nicht durch K u l t u r v e r f ä l s c h t e n N a t u r u n d der ü b e r die N a t u r t r i u m p h i e r e n d e n K u l t u r . Man sieht ohne weiteres, wie sehr mit dieser zugleich historischen und sachlichen Neueinstellung die bis dahin üblichen Aspekte der Ethik sich verschieben. Lebendige Sittlichkeit verliert sich in die Ferne der Vergangenheit, rückt freilich andererseits auch in die Zukunft hinaus. Denn auf die Dauer hat ja Rousseau, wie bereits bemerkt, es nicht bei der sehnsüchtigen Rückschau zum verlorenen Paradis der Sittlichkeit bewenden lassen, sondern Einzelwesen, Gesellschaft und Staat unter die Forderung der zu erneuernden Sittlichkeit gestellt. Diese Wendung nach vorwärts aber kann nicht ohne Einfluß bleiben auf den „Natur"begriff, der als Cegenglied mit dem Kulturbegriff zusammengehört. Denn da Rousseau es keinesfalls als geboten oder auch nur als möglich ansieht, eine durch die Welt des Geistes einmal hindurchgegangene Menschheit wieder zu dem Zustande naiv-unbewußter Sittlichkeit zurückzuführen, den er der Entstehung der Kultur vorausliegend glaubt, so tritt hier die Forderung hervor, der Sittlichkeit in einer vom Geist durchgeformten Wirklichkeit wieder eine Stätte zu bereiten, der Kultur eine Gestalt zu geben, in der sie sich mit wahrer Sittlichkeit versöhnt, eine Gestalt also, in der sie — wieder N a t u r , Natur freilich auf einer höheren Stufe der Bewußtheit wird. Der Glaube aber an eine solche Möglichkeit — und Roussau hat ihn in sich gehegt — schließt die Aufhebung jenes ausschließenden Gegensatzes von Natur und Kultur in sich, so wahr er nichts Geringeres erahnt und erhofft, als eine „naturgemäße Kultur". Der Naturbegriff weitet sich so aus, daß er zugleich, seinen normativen Charakter aufs deutlichste enthüllend, den primitiven Zustand sittlicher Unschuld, in der er voll realisiert war, und die Wirklichkeit der Kultur, in der er noch zu verwirklichen ist, als Wertideal übergreift. Die sittliche Norm, welche tatsächlich seinen Kern bildet, dehnt sich als das die Entwicklung sinnvoll ausrichtende Prinzip über das Ganze des geschichtlichen Prozesses aus, der sich nach ihrer Maßgabe in jene drei Akte auseinanderlegt. Diese e b e n s o e i n f a c h e wie k ü h n e K o n z e p t i o n h a t der E t h i k nicht weniger A n r e g u n g e n g e b r a c h t als der m i t ihr so eng v e r b u n d e n e n Geschichtsphilosophie. W e n n sie a u f der einen Seite die E t h i k so entschloss e n in die G e s c h i c h t e h i n e i n t r ä g t , als ob außer d e m M a ß s t a b e der S i t t lichkeit u n d der a u c h hier m i t ihr solidarisch v e r b u n d e n e n „ G l ü c k s e l i g k e i t " kein W e r t k r i t e r i u m u n d O r d n u n g s p r i n z i p des Werdens u n d Wirk e n s der Menschheit d e n k b a r sei, so läßt sie andererseits die g a n z e Un-

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ruhe und Bewegtheit der Geschichte, die ganze Differenziertheit entfalteten Geisteslebens in die ethische Problemwelt hineinwirken; damit gewinnt nicht nur die ethische Ideenbewegung

eine zuvor

höchstens

hier und da geahnte Weite der Fragestellung — wie weit bleibt doch selbst ein S m i t h hinter dem hier G e w a g t e n zurück — sondern es wird auch sofort die Sittlichkeit so in das G a n z e der K u l t u r hineingestellt, daß mit bewunderungswürdiger Klarheit das Prinzip hervortritt, welches ihre Funktion innerhalb dieser bestimmt. Wir können es nennen: das Prinzip des W e r t k o n f l i k t e s . W a s die abendländische Menschheit seit 10

der Auflösung der mittelalterlichen Lebensansicht in immer neuer Form erlebt hatte, der K o n f l i k t der Wertrichtungen des Geistes, der kommen mußte, nachdem die im verloren war —

Glauben gegründete

Sinneinheit des

Lebens

das gelangte hier in der Schicht des Gedankens, in den

Ergüssen einer von Wertkonflikten schier zerrissenen Seele zum klaren Bewußtsein. U n d es war kein Zufall, daß gerade in der Zone der e t h i s c h e n Reflexion dieser Durchbruch erfolgte: denn wo immer verschiedene Möglichkeiten sinngerichteten Handelns u m die Seele werben, da hat die sittliche Entscheidung ihr Feld. 20

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Man kann nicht sagen, daß Rousseau diesen Sachverhalt sofort in seiner ganzen Tragweite und mit allen seinen Verzweigungen überschaut hätte. Der Konflikt tritt ihm allzu sehr vereinfacht: als der Znsammenstoß zwischen der Sittlichkeit des schlichten Gemütes und der instinktverlassenen Verkünstelung des kultivierten Geistes, vor Augen; die Sittlichkeit ist also Partei, nicht Richterin im Konflikt. Und weiterhin: ob dieser Zwiespalt etwa gar im Wesen des von den Naturgrundlagen abgelösten Geistes gegründet sei, ob also, wer Kultur begehrt, ihn als Buße jenes Abfalls hinnehmen müsse — diese Frage wagte Rousseaus nach Friede und Harmonie dürstendes Gemüt sich nicht zu stellen. Er klammerte sich an den Gedanken, daß der Zustand der Kultur, der ihm die Seele zerriß, durch eine sträfliche Verirrung der Menschheit verschuldet, also durch eine Umkehr des Herzens heilbar sei. Aber mochte hier auch manches nicht recht gesehen, manches im Hintergrund gehalten sein — ein Thema war angeschlagen, das von da an den über sich selbst nachsinnenden Geist nicht mehr loslassen sollte. Schwerer wiegen andere Bedenken, die sich ergeben, wenn man fragt, wie weit Rousseau die Welt von Problemen, die er ahnte, auf klare Linien zurückzuführen vermochte. Gerade wenn wir es als geistige Tat rühmen, daß er das sittliche Problem auf den Boden der Geschichte hinüberpflanzte, ist die Frage nicht zu umgehen, inwieweit es sie im neuen Milieu heimisch zu machen gelungen ist. Und da zeigt sich Rousseau, gleich so manchem Revolutionär des Geistes, der Macht, die er am leidenschaftlichsten bekämpft, trotz allem verpflichtet und zugehörig. In bestimmte Schranken der Aufklärung finden wir ihn gerade da eingeschlossen, wo seine Intentionen am stärksten über sie hinausstreben. Gewiß, er sieht die Sittlichkeit mit dem geschichtlichen Prozeß verflochten, was ihre V e r w i r k l i c h u n g in Tat und Leben angeht — aber hat etwa auch der i d e a l e G e h a l t der Sittlichkeit Anteil an dieser Bewegung, in dem Sinne nämlich, daß in dem Drama des Menschheitsschicksals, unter dem Eindruck ihrer Taten und ihrer Leiden, ihrer Erhebungen und ihrer Abstürze, dieser Gehalt erst erobert, geformt, ausgebaut würde? Keineswegs: es ist immer d i e s e l b e „ N a t u r " , die sich in der Stimme des Herzens kundtut; es ist immer d i e s e l b e Sittlichkeit, die zunächst gefühlt und gelebt, dann unterdrückt und vergessen wird, und die, wenn auch in gesteigerter Bewußtheit, dereinst von neuem dem Leben seine Form geben wird. Wenn diese Natur sich als Gefühl ausspricht, so hat dies Gefühl mit der Vernunft der Aufklärer jedenfalls

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die Unver&nderlichkeit und Allgemeingültigkeit dessen, was es lehrt und fordert, gemeinsam. I n den Prozeß der Entwicklung t r i t t dieser ideelle Normgehalt als solcher n i c h t ein; er verharrt jenseits seiner in erhabener Unberührtheit. Weil es nur eine halbe Historie ist, die Rousseau anerkennt, bleiben ihm auch andere befreiende Wirkungen vorenthalten, die ein voller Blick auf die Geschichte ihn h a t t e erfahren lassen. Wie fast alle die behandelten Denker bleibt auch Rousseau im Grunde Individualist oder besser Atomist; da die Stimme des Gefühls in jedem unverdorbenen Herzen sich vernehmen l&ßt, in jedem die gleichen Wahrheiten verk&ndet, so ist alle menschliche Gemeinschaft zwar schönste Frucht und Bewährung, nicht aber der mit eigenen K r ä f t e n geladene Boden lebendiger Sittlichkeit. Es ist hier nicht des näheren auszufahren, wie wenig auch die mit der E t h i k der „ N a t u r " so eng verbundene naturrechtliche S t a a t s t h e o r i e Kousseaus den Bannkreis individualistischen Denkens zu durchbrechen vermag.

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J . J . R o u s s e a u , Discours sur les sciences et les arts 1750; Discours sur l'origine et les fondements de l'inégalité parmi les hommes 1755; Du contrat social 1762; Émile on sur l'éducation 1762. *

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Alles in allem also: ein Weckruf des Geistes, ein kühner Vorblick in ein zu eroberndes Land — aber keine sichere Ansiedelung auf neuem Boden! Wenn die englische Moralphilosophie uns mit offenen Problemen entließ, so muß auch der Überblick über die so viel leidenschaftlicher 20 erregten, so viel weniger folgerichtig vorgehenden Ideenbewegungen des französisch-niederländischen Kulturkreises schließen mit dem Hinweis auf Fragen, deren Dringlichkeit erlebt und wirksam aufgezeigt zu haben das unbestrittene Verdienst dieser Denker war, die der Lösung näher zu bringen anderen Geistern vorbehalten blieb. W. D i l t h e y , Gesammelte Schriften, Bd. I I . L. Ol lé- L a p r u n e , L a philosophie de Malebranche. Paris 1872. A. W e n z e l , Die Weltanschauung Spinozas. I . Leipzig 1907. B. A l e x a n d e r , Spinoza. München 1923. H. H e t t n e r , Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts. II.' 7 Braunschweig 1913. E. T r o e l t s c h , Die Aufklärung. Gesammelte Schriften IV, S. 338. P h . D a m i r o n , Histoire de la philosophie au X V I I I siècle. Paris 1858. 1864. O. E w a l d , Die französische Aufklärungsphilosophie. München 1921. P . S a k m a n n , Voltaires Geistesart und Gedankenwelt. S t u t t g a r t 1910. H . H ö f f d i n g , Rousseau und seine Philosophie. S t u t t g a r t 1897. P. H e n s e l , Rousseau.* Leipzig 1919. R . F e s t e r , Rousseau und die deutsche Geschichtsphilosophie. S t u t t g a r t 1890.

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V. LEIBNIZ UND SEINE NACHFOLGER. 1. D I E D E U T S C H E LAGE. Es wurde oben bereits die geistige Gesamtlage umrissen, die es möglich macht, daß eine Darstellung der ethischen Ideenbewegung während dieser Jahrhunderte sich zunächst so ganz und gar auf den englischen und französisch-niederländischen Kulturkreis konzentrierte, als ob es ein philosophierendes Deutschland damals überhaupt nicht gegeben habe. Durch die Auswirkungen der Reformation in Erlebnissen, Nöten, Kämp- 40 fen, äußeren wie inneren, festgehalten, mit denen man anderwärts besser

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f e r t i g zu w e r d e n v e r s t a n d e n h a t t e , die in Renaissance u n d H u m a n i s m u s h e r v o r g e t r e t e n e n A n s ä t z e eines rein weltlich gerichteten D e n k e n s einer e r n e u t e n Scholastik a u f o p f e r n d — so m u ß t e das deutsche Geistesleben u m ein beträchtliches h i n t e r dem philosophischen Vordringen Weste u r o p a s zurückbleiben. Als es d a n n aber, s p ä t , doch wahrlich nicht zu s p ä t , v o n n e u e m d e n A n s c h l u ß an die europäische Bewegung s u c h t e , d a f a n d es sich in einer eigentümlichen Lage, deren Kompliziertheit n i c h t z u m wenigsten a u c h die N e u g e s t a l t u n g der E t h i k beherrschte. Wie es a n d e r w ä r t s bereits geschehen w a r , so h a t t e auch hier die philosophische u n d m i t ihr die ethische Reflexion zunächst einmal, d a m i t sie sich in a u t o n o m e n Prinzipien g r ü n d e n könne, sich v o m B a n n e solcher Ideenm ä c h t e zu befreien, die, wie a u c h i m m e r i m Gegensatz gegen die mittelalterlich-kirchliche W e l t a n s i c h t e m p o r g e k o m m e n , ihr gleichwohl in der A n k n ü p f u n g a n ein i m G l a u b e n ergriffenes Transzendentes wesensverw a n d t w a r e n . Diesen P r o z e ß der Verselbständigung aber e r ö f f n e t e u n d vollendete d e r deutsche Geist nicht lediglich aus eigener K r a f t : wie h ä t t e er, der G r o ß t a t e n , die die a u t o n o m e V e r n u n f t in a n d e r e n Völkern bereits v e r r i c h t e t h a t t e , nicht a c h t e n d , das d o r t bereits Geleistete noch e i n m a l v o n v o r n beginnen sollen! So s t e h t die E m a n z i p a t i o n des weltanschaulichen D e n k e n s von A n f a n g a n u n t e r d e m befreienden u n d beschleunigend e n E i n f l u ß einer a u ß e r h a l b D e u t s c h l a n d s e n t s p r u n g e n e n Bewegung der Geister. Aber es hieße die Dinge sehr einseitig b e t r a c h t e n , wollte m a n hier n i c h t s weiter als E n t l a s t u n g u n d F ö r d e r u n g sehen. W a s auf der einen Seite L o c k e r u n g b r a c h t e , drohte zu neuer Fessel zu werden. N i c h t ohne G e f a h r f ü r ihr eigenstes Selbst g e w ä h r t die Gesamtgeistigkeit einer N a t i o n solchen Welt- u n d Lebensbegriffen bei sich E i n g a n g , in d e n e n a n d e r e , a n d e r s geartete Gesamtpersönlichkeiten den Sinn ihres Daseins g e f u n d e n u n d a u s g e p r ä g t h a b e n . Wie sehr die F o r m e l n der westeuropäischen Philosophie m i t der Geistesart derer, die sie schufen, verwachsen w a r e n , ließ der unserer B e t r a c h t u n g unterliegende Ausschnitt dieser Philosophie i m m e r v o n n e u e m bemerklich werden — n i c h t ohne G r u n d , d a gerade in der sittlichen D e u t u n g des Lebens die grundlegenden Richt u n g e n des Willens sich a m u n m i t t e l b a r s t e n aussprechen. U n d d a ß diese charakterologische E i g e n a r t zugleich Einseitigkeiten, j a I r r u n g e n in der A u f f a s s u n g der P r o b l e m e m i t sich f ü h r t e , t r a t nicht weniger deutlich hervor. Deshalb b e d r o h t e d e n deutschen Geist, der sich v o n westlicher Philosophie in neue geistige W e l t e n f ü h r e n ließ, die Doppelgefahr der S e l b s t e n t f r e m d u n g u n d der Problementstellung. Wenn er schließlich dieser d o p p e l t e n B e d r o h u n g — die j a im G r u n d e die gleiche B e d r o h u n g u n t e r d o p p e l t e m Aspekt ist — entgangen ist, j a wenn sie i h m z u m Stachel der eigenen E n t f a l t u n g w e r d e n konnte, so darf, seltsam genug, ein wesentliches Verdienst d a r a n gerade die Macht f ü r sich in A n s p r u c h n e h m e n , v o n der die Bundesgenossenschaft des westlichen Geistes i h n befreien wollte. E s war w a h r h a f t i g nicht bloß H e m m u n g u n d Blick-

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Verengerung, was das nachhaltige Fortwirken religiösen Ringens der deutschen Seele auferlegte. In diesem dumpfen und selbstquälerischen Grübeln, das so seltsam gegen die klare Helligkeit der aufklärerischen Vernunft abstach, wurden seelische Energien a m Leben erhalten und gestärkt, wurden letzte Einsichten und Gesamtauffassungen in gefühlsstarker Verbildlichung aufbewahrt, die der vernunftstolze Individualismus autonomer Welterklärung und -beherrschung völlig zu vergessen in Gefahr war. So kam es zu der seltsamen Verschränkung, daß der deutsche Geist sich der überlieferten Mächte mit Hilfe einer Befreierin erwehrte, wider deren Verführungen ihm diese ihren Schutz liehen. Aber auch in einem ganz bestimmten m e t h o d i s c h e n Sinne h a t t e die bezeichnete Lage ihre positive Bedeutung, j a entsprach sie einer sachlichen Forderung. K r a f t einer dialektischen Notwendigkeit, die hier nicht näher begründet werden kann, war es geboten, d a ß diejenige Gesamtansicht der menschlichen Dinge, die wir in der ethischen und sozialphilosophischen Reflexion der Engländer und Schotten heraustreten sahen — eine Gesamtansicht, die nicht das willkürliche u n d zufällige Auffassungsprodukt eines bestimmten Menschenkreises darstellt, sondern in dauernden Intentionen des denkenden Geistes ihre Wurzel h a t — d a ß diese Gesamtansicht sich zunächst einmal mit völliger methodischer Klarheit u n d bis in alle ihre Folgerungen hinein durcharbeitete, damit nun in der Anlehnung an die zum System gewordene, im Durchgang durch ihre gedankliche Schematik und schließlich in der Auflehnung gegen ihre als unzulänglich erprobten Formeln ein neuer, ihr konträrer A u f b a u des menschlichen Lebens gewagt werden könne. Das „natürliche System der Geisteswissenschaften", die letzte Zusammenfassung dessen, was der Geist der westeuropäischen Nationen über die S t r u k t u r des menschlichen Lebens und die in ihr gegründeten Möglichkeiten und Forderungen zu sagen hatte, ist das Gegenbild gewesen, das in seiner großartigen Geschlossenheit und lichten Durchsichtigkeit dastehen m u ß t e , d a m i t an ihm, im Ringen mit ihm der deutsche Geist s e i n Weltbild, s e i n e Weise, das menschliche Dasein zu erleben und auszulegen, in einem an Gegensätzen reicheren, schwerer durchschaubaren Denkgefüge zur Klarheit bringen könne. Und wenn unsere Darstellung die Überzeugung nicht verhehlt, d a ß das in deutschen Denkermühen herausgearbeitete System des Geistes und seiner Sittlichkeit der Sache, die es treffen will, näher k o m m t als die Konstruktionen des „natürlichen Systems", so glaubt sie sich nur deshalb hierzu befugt, weil sie die Gunst der Lage nicht verschleiert, deren sich der langsamer fortschreitende, später ans Werk gehende deutsche Geist zu erfreuen h a t t e , als seine Stunde gekommen war. Denn dies bedeutet nichts Geringeres als d a ß in diesem deutschen Werk die Geistesernte der Westvölker nicht getilgt, sondern „ a u f g e h o b e n " ist.

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2. L E I B N I Z . Indem wir es uns versagen, auf solche philosophierende Köpfe der deutschen Entwicklung einzugehen, die auf der Wende von Mittelalter zur Neuzeit und weiterhin in der Zeit der Reformation und der Religions- 40 kriege eine neue und eigentümliche Lebensauffassung aus den dunklen Gründen religiösen Erlebens herauszuklären sich bemühten, wenden wir uns demjenigen zu, der ebenso sehr in seiner Person wie in dem Gebäude seiner Ideen den Eintritt in die moderne Geistesbewegung verkörpert und verwirklicht, L e i b n i z . Von demjenigen Teil seiner Spekulation, der für die Ethik bedeutsam geworden ist — soweit überhaupt einen

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solchen Teil auszusondern u n d f ü r sich zu b e t r a c h t e n a n g ä n g i g ist — gilt das, was v o n dem Ganzen seiner Philosophie ü b e r h a u p t zu sagen ist. W e n n er r e c h t d a r a n t a t , die eigentümlichen denkerischen I m p u l s e seines Volkes m i t der so viel weiter entwickelten philosophischen K u l t u r des W e s t e n s in V e r b i n d u n g zu bringen, so hielt sein ungewöhnlich u m f a s s e n d e r , d a s Heterogenste z u s a m m e n d e n k e n d e r Geist, der obendrein inspiriert w u r d e v o n einem den v e r s ö h n e n d e n Z u s a m m e n k l a n g ü b e r alles liebenden G e m ü t , diese V e r b i n d u n g f ü r leichter herstellbar, als E i g e n a r t u n d Eigenwert der zu v e r e i n e n d e n Motive g e s t a t t e t e n . Im G e f ü g e seiner G e d a n k e n w o h n t leicht beieinander, was, bis in seine l e t z t e n G r ü n d e hinein erleuchtet, sich gegeneinanderstellen m u ß u n d t a t s ä c h l i c h , als der F o r t g a n g der I d e e n b e w e g u n g seine Ansätze weiter entwickelte, seine U n v e r t r ä g l i c h k e i t i m m e r deutlicher o f f e n b a r t h a t . Diese E i g e n t ü m l i c h k e i t v o n Leibniz' D e n k e n u n d Vorgehen bringt es m i t sich, d a ß m a n auch in seinen ethischen Reflexionen bisweilen die L u f t des zuversichtlichsten R a t i o n a l i s m u s zu a t m e n g l a u b t , u m sich d a n n wieder in G e d a n k e n g ä n g e n zu f i n d e n , die u n s in eine Erlebniswelt v o n völlig anderer S t r u k t u r versetzen. Insbesondere d a n n d r ä n g t sich dieser W i d e r s p r u c h auf, wenn m a n , wie es hier i m m e r wieder als n o t w e n d i g sich b e w ä h r t e , den Kreis der als ethisch a n z u s p r e c h e n d e n E r w ä g u n g e n so weit d e h n t , d a ß die f ü r die E t h i k m a ß g e b l i c h e n G r u n d z ü g e der ges a m t e n Welt- u n d Lebensansicht des D e n k e r s in Sicht t r e t e n . W a s v o n seinen Aussagen u n m i t t e l b a r auf I n h a l t u n d H e r k u n f t der sittlichen N o r m e n zielt, das würde, stellt m a n es u n t e r die v o n der englischen Moralphilosophie her v e r t r a u t e n Fragestellungen, i h n e t w a den Verfecht e r n einer eingeborenen, in d e n k n o t w e n d i g e n S ä t z e n i h r e n Gehalt auseinanderlegenden sittlichen V e r n u n f t einreihen. A u c h hier b e w ä h r t sich die wiederholt b e o b a c h t e t e Solidarität v o n E r k e n n t n i s t h e o r i e u n d E t h i k : seine b e r ü h m t e K r i t i k a n L o c k e s E m p i r i s m u s f ü h r t den P r o t e s t gegen die ethische Theorie, der die Sittlichkeit zu einem s e k u n d ä r e n P r o d u k t der E r f a h r u n g wird, ohne weiteres m i t sich. Aber die E t h i k Leibnizens so einzuregistrieren erweist sich in demselben Augenblick als unangängig, da m a n sich durch den Begriff des Eingeborenseins zu d e n m e t a p h y s i s c h e n Prinzipien zurückleiten l ä ß t , in denen sich, wie stets so auch hier, erst sein Sinn e n t h ü l l t . D e n n d a n n zeigt sich e i n m a l dies eine, d a ß hier der Gegensatz des Eingeborenseins u n d des Sichentwickeins seine Schärfe e i n b ü ß t , j a sich schlechthin a u f h e b t . W a s bei einigen englischen D e n k e r n in psychologisch a n f e c h t b a r e r F o r m z u m A u s d r u c k gekommen war, das gewinnt hier eine h ö c h s t entwicklungsfähige F a s s u n g : die sittliche W a h r h e i t t r i t t , wie jede andere, erst auf G r u n d eines in der Seele sich vollziehenden W e r d e n s , i m Aufstieg v o n d u m p f e r Verworrenheit zur K l a r h e i t des Geistes h e r v o r ; aber dieses a n einer b e s t i m m t e n Zeitstelle des seelischen Geschehens erfolgende E r g r e i f e n der W a h r h e i t ist weder gleichbedeutend m i t d e m S c h a f f e n eines v o r h e r nicht Vor-

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h a n d e n e n , noch m i t dem H e r e i n h o l e n eines bis d a h i n gleichsam d r a u ß e n H a r r e n d e n ; was die Seele hier a u f t a u c h e n sieht, das war ihr in W a h r h e i t uranfänglich zu eigen, n u r eben noch nicht v o m Lichte des Bewußtseins b e s t r a h l t , als dunkles D r ä n g e n , als i n s t i n k t a r t i g e r Trieb, als seiner selbst noch nicht sicheres Gefühl. Zwar ist die hier b e r ü h r t e Theorie des seelischen W e r d e n s — die nichts weniger ist als der Niederschlag psychologischer B e o b a c h t u n g — noch keineswegs der Schwierigkeiten ledig, m i t denen wir die Theorie v o n den angeborenen I d e e n belastet f a n d e n ; aber i m m e r h i n n i m m t sie jener Alternative ihren zwingenden C h a r a k t e r , in der die Diskussion bis dahin festgehalten worden war. N u n ist diese seelische Entwicklungstheorie keineswegs n u r oder vorwiegend d a d u r c h f ü r die E t h i k v o n Wichtigkeit, d a ß sie das A u f t r e t e n sittlicher W a h r h e i t e n genetisch e r k l ä r t : der d u r c h sie b e h a u p t e t e E n t w i c k lungsprozeß gewinnt s e l b s t u n d a l s s o l c h e r eine sittliche Bedeutsamkeit, erweist sich selbst als einer sittlichen N o r m u n t e r s t e h e n d . D e n n wenn die Seele ihre sittliche Einsicht ursprünglich n u r in eingehüllter F o r m , als unsichere u n d d u m p f e A h n u n g besitzt, so wird die zur b e w u ß t e n Aneignung erforderliche K l ä r u n g selbst zu einem sittlich Gebotenen, j a zu einer sittlichen P f l i c h t ersten R a n g e s , so wahr j a ihre E r f ü l l u n g erst eine vollbewußte u n d zielklare Sittlichkeit möglich m a c h t . U n d da weiterhin die sittlichen W a h r h e i t e n n i c h t isoliert dastehen, sondern in dem Gefüge der einen u n d ganzen W a h r h e i t ü b e r h a u p t ihre Stelle h a b e n , so erweitert sich diese sittliche F o r d e r u n g auf d e n ganzen S c h a t z a n V e r n u n f t w a h r h e i t e n , dessen die Seele nichtwissend von Anbeginn a n H e r r ist. K l ä r u n g u n d E n t f a l t u n g des i m m a n e n t e n Besitzes des Geistes — so l a u t e t j e t z t eine das Leben beherrschende sittliche F o r d e r u n g : das Gebot der „ V e r v o l l k o m m n u n g " . K a u m je zuvor war so entschieden ein W e r d e n , eine Entwicklung, ein dynamischer Prozeß mit einem ethischen Bedentungsakzent versehen worden. Man hatte die Taten, die Folgen, man h a t t e die Motive und die Gesinnungen gegeneinander ausgespielt; daß aber in der Zielstrebigkeit eines gerichteten Prozesses als solcher schon eine ethische Wertforderung sich erfüllen könne, dieser Gedanke war noch nicht vernehmlich geworden. Gewiß stehen dieser Lehre diejenigen Theorien besonders nahe, denen Sittlichkeit nicht in besonderen Einzelzügen, Einzelhandlungen, sondern in der Gesamtverfassung des Menschen begründet ist — aber dies ist das Neue, daß diese Totalität sich nun gleichsam in die Dimension der Zeit hinein ausdehnt, daß nicht die Organisation ihres ruhenden Seins, sondern die sinnvolle Ordnung ihres bewegten Werdens das ethische Interesse auf sich sammelt. Und ausdrücklich beugt Leibniz einer Auffassung vor, die seine Lehre wieder in jene andere zurückbiegen könnte: als ob nämlich das Werden doch schließlich seinen Wertakzent nur erborge von einem Z u s t a n d des Ich, der den in ihm erstrebten Abschluß bilde. Wert und Glflck der menschlichen Existenz — auch f ü r ihn fällt beides zusammen — r u h t gerade darin, daß sie niemals sich an einem Zielpunkte weiß, an dem sie sich vollendet und der Aufgabe ledig wähnen dürfte. Über jedes jeweils Erreichte drängt die innere Bewegung weiter zu immer höherer Klarheit, immer wirkungskräftigerer Tugend. J a , selbst die Unvollkommenheit alles Irdischen ist f ü r Leibniz in einem tieferen Sinne dadurch gerechtfertigt, daß sie dem Menschen nie gestattet, zufrieden mit dem Stande der Dinge sich der Ruhe hinzugeben.

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Aber der sittliche Charakter dieses Werdens t r i t t dann erst mit voller Deutlichkeit hervor, wenn seine von anderen Geschehensreihen abweichende S t r u k t u r gewürdigt wird. Der Aufstieg zur Wahrheit ist so geartet, daß in ihm die Seele nicht nur nicht etwas ihr Äußeres hereinholt, noch weniger in der Richtung auf ein solches „ a u s sich herausgeht", sondern im eigentlichen Sinne des Wortes „ z u s i c h s e l b s t k o m m t " . Die Entwicklung, die sie zum Wissen des Wahren gelangen läßt, l ä u f t nicht bloß in ihr ab wie eine beliebige Geschehensreihe, sondern arbeitet sich zugleich als solche in ihr Bewußtsein d u r c h : sie lernt zunehmend u m das „wissen", was in ihr geschieht, u n d dies Wissen beschränkt sich nicht auf ein bloßes Zuschauen, sondern wird zu einem 1 n tätigen Eingreifen u n d Lenken des Prozesses. Die Seele gewinnt also in Korrelation mit dem Wissen u m gültige Wahrheit das W i s s e n u m s i c h s e l b s t , und dieses Sichselbstwissen wird alsbald zu einem S i c h s e l b s t w i r k e n . Dies also unterscheidet die seelische Entwicklung v o n anderen Werdeprozessen, daß der sich Entwickelnde sein Werden mit Bewußtsein selbst vollzieht: die allzusehr verblaßte Wendung, die ein Etwas „ s i c h entwickeln" läßt, b e h a u p t e t in diesem Zusammenhange ihren vollen und ursprünglichen Sinn. So ist das sittliche Werden das Werden zum seiner selbst bewußten Ich. Gerade indem Leibniz diesen sittlichen Grundvorgang in seiner S t r u k t u r sich deutlich macht, werden ihm die Grenzen offensichtlich, in die alle Welterklärung nach mechanischen Prinzipien gebannt ist. Das Urphänomen des S e l b s t b e w u ß t s e i n s , rein aufgefaßt, 20 spottet aller mechanistischen Denkmethodik. Es geht überhaupt in ihre Begriffe nicht ein, geschweige denn daß es durch sie „ e r k l ä r t " werden könnte. Das Ich, das alle Wahrheit und BO auch die Wahrheit des Mechanismus denkt, kann als solches nicht innerhalb seiner stehen. Gerade weil Leibniz als Forscher auf der Höhe der mathematisch-naturwissenschaftlichen Bildung seiner Zeit stand, und zwar mit einer unvergleichlichen Sicherheit des methodischen Bewußtseins, wurde ihm — der in dieser Hinsicht an dem vom Mechanismus wie verzauberten H o b b e s seinen Antipoden h a t — die völlige Andersartigkeit dieses Grundphänomens so klar wie noch keinem vor ihm. Unschwer erkennt man, d a ß schon vor ihm die moralphilosophische Reflexion mehr als einmal sich an den Sachverhalt herangetastet h a t t e , den Leibniz hier im Zentrum e r f a ß t : das 30 rtyffju>vixöv, die Vernunft-Natur, die Reflexionsaffekte, der Zuschauer im Ich — lauter Hindeutungen auf das Phänomen des auf sich selbst reflektierenden Ich. Nur daß alle diese Fassungen die Befangenheit in mechanistischen Denkkategorien, über die sie hinausstreben, nicht verleugnen können. I m m e r wieder wird die Erlebniswelt äußerlich aufgeteilt, sehen wir die getrennten Teile äußerlich miteinander, gegeneinander agieren; Affekt gegen Affekt, Vorstellung gegen Vorstellung, Vernunft gegen Gefühl, den Zuschauer gegen das Geschaute. Und immer wieder wird das zum Mechanismus entstellte Ich hineingestellt in das universale Getriebe eines Weltmechanismus. Das unableitbare Grundphänomen des in allemWandel,allerSelbstzerlegung mit sich selbst ewig identischen Ich fällt einer veräußerlichenden, verräumlichenden Denkschematik zum Opfer. Hier 40 betritt Leibniz, erlebte Gewißheiten des deutschen Gemüts philosophisch ausformend, die B a h n , auf der der sittliche Gedanke des Deutschen „zu sich selbst k o m m e n " sollte.

Die ganze Fruchtbarkeit der in Leibniz' Seelenlehre enthaltenen ethischen Ansätze macht indessen erst eine weitere Erwägung deutlich. Von welcher Art und Beschaffenheit ist denn das Ich, das im Fortgange der sittlichen Klärung sich selbst findet ? Als Korrelat zu dem Inbegriff allgemeiner Vernunftwahrheiten, als welcher dem R a t i o n a l i s t e n Leibniz der in die Seele eingesenkte Wissensschatz erscheint, wäre gefordert ein entsprechend allgemeines, in logischen Funktionen sein Wesen erschöpfendes Vernunft-Ich. Aber unausweichlich wäre im Hinblick auf 50 ein solches die Frage, welcher Wert, welche Bedeutung dann jener alle äußeren Einwirkungen fernhaltenden Abgeschlossenheit, jenem unein-

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geschränkten SichseLbstgehören der Seele beizumessen wäre, auf das diese Seelenmetaphysik doch das entscheidende Gewicht legt. Denn: nehmen wir den Gedanken an eine mögliche V i e l h e i t solcher seelischer Lebenseinheiten, solcher „Monaden", in die Erwägung auf, so müßte es doch schließlich immer seinem Ideengehalt nach d a s s e l b e abstrakte Ich sein, das sich in einer jeden von diesen zur Klarheit durcharbeitete. Wozu so sorgsam gegeneinander abschließen, was in solcher Absonderung doch schließlich nur zur überall gleichen Verfassung sich ausklärt! Hier ist die Stelle, wo Leibniz' Bemühungen, alle Motive in der Einheit des Systems harmonisch auszugleichen, die Zwiespältigkeit der letzten Impulse nicht zu verdecken vermag. Unwiderstehlich drängt sich in den Zusammenhang das Prinzip, dem schon seine ersten Weltgedanken gegolten hatten: das Prinzip der I n d i v i d u a l i t ä t . Nur dann hat jener Prozeß einer ausschließlich von innen gelenkten Selbstentfaltung die Bedeutung, die die Theorie ihm glaubt beilegen zu sollen, wenn das in ihm sich Entfaltende nicht das beliebig oft wiederholbare Exemplar der Gattung „vernünftiges Ich", sondern ein so nur dies eine Mal Mögliches und Wirkliches, wenn es eine e i n z i g a r t i g e G e s t a l t des Lebens ist, und zwar einzigartig nicht nur in dem Sinne der Unterschiedenheit von anderen, sondern im Sinne der in sich selbst gegründeten Werthaftigkeit. Kein Zweifel, daß Leibniz' Lehre von der Individualität jeglicher Monade nicht zunächst rein theoretisch konzipiert und dann nach der Seite der ethischen Wertprobleme hin ausgesponnen worden ist, sondern daß umgekehrt die Gewißheit vom Wert des Eigentümlichen, eine Gewißheit, die gerade bei ihm wie im Zusammenhange der ihn tragenden Überlieferung eine solche von durchaus e t h i s c h e r Tönung war, für jene theoretische Daseinsdeutung wegweisend war — wie denn auch jener dynamisch-aktivistische Grundzug, durch den sein Weltbild sich so charakteristisch etwa von demjenigen S p i n o z a s unterscheidet, auf diese ethische Überzeugung von dem Wert eigentümlichen Wirkens zurückgeht. Je klarer indessen diese Seite von Leibniz' Ideengebäude hervortritt, um so stärkere Bedenken müssen sich doch auch, so scheint es, zum Worte melden. Ein Ich, nicht nur brückenlos von allem, was außer ihm ist, geschieden, sondern auch in dieser Einsamkeit sich zu einem mit nichts Vergleichbarem ausformend — scheint es nicht in eine Partikularität zurückzugehen, die sich selbst von jedem über den beschränkten Kreis dieses Sonderdaseins Hinausgreifenden, seien es nun Wahrheiten von einer über Zeit und Ort erhabenen Gültigkeit, seien es die das Einzelne dem All eingliedernden Bewegungen des Gesamtlebens, geflissentlich ausschließt ? Und unterliegt solche Selbstabsperrung nicht auch den allerschwersten s i t t l i c h e n Bedenken? Alle Scheidungen des Atomismus und Individualismus scheinen doch hier überboten, wo nicht einmal nachträglich ein Herüber- und Hinüberweben der Kräfte die ursprüngliche Absonderung mildert!

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E s ist n a t ü r l i c h n i c h t dieses Ortes, die auf den ersten Blick so wunderlich a n m u t e n d e K o n z e p t i o n der „ p r ä s t a b i l i e r t e n H a r m o n i e " , m i t d e r e n Hilfe Leibniz diesem Bedenken begegnet, darzulegen u n d a n ihr zu scheiden, was geniale E i n g e b u n g , was in der A u s f ü h r u n g m i ß g l ü c k t ist. Uns geht es n u r u m das, was diese Lehre f ü r die A u f h e l l u n g der sitt liehen P r o b l e m e b e d e u t e t . Gerade in dieser Beleuchtung aber t r i t t ihre Größe u n d ihr unverlierbarer W e r t erst r e c h t hervor. U n d gerade d e m ethisch-sozialphilosophischen D e n k s c h e m a des „ n a t ü r l i c h e n S y s t e m s " gegenübergestellt, a n dessen M a ß s t ä b e n gemessen sie zum vollendeten W i d e r s i n n wird, l ä ß t sie a m klarsten a n sich diejenigen Züge s i c h t b a r w e r d e n , in denen die Ü b e r w i n d u n g der d o r t u n b e h o b e n gebliebenen Schwierigkeiten sich a n k ü n d i g t . E i n d e m r a u m g e b u n d e n e n Denken Unf a ß b a r e s wird in der M o n a d e W i r k l i c h k e i t : sie ist ewig f ü r sich in d e m u n d u r c h b r e c h b a r e n Burgfrieden der Persönlichkeit u n d ist doch der W e l t i m t i e f s t e n v e r b u n d e n u n d zugehörig. U n d sie ist ihr wiederum nicht so zugehörig, d a ß sie, als ein B r u c h s t ü c k a u s ihr herausgeschnitten, z u s a m m e n m i t a n d e r e n ebenso f r a g m e n t a r i s c h e n Wesen sie s u m m a t i v zusammensetzte, sondern so, d a ß sie, wie sie selbst ein Ganzes ist, die Welt als Ganzes in sich h e g t , in sich zu einer besonderen Gestalt „ k o n z e n t r i e r t " . U n d a n d e r lebendigen Bewegung dieser Welt h a t sie nicht in der F o r m Anteil, d a ß sie sich v o n ihrem S c h w u n g t r a g e n ließe, sondern dergestalt, d a ß sie denselben t ä t i g e n Willen, der sich in der H e r a u s g e s t a l t u n g ihres inneren K o s m o s b e w ä h r t , auch in d e r freudigen Bereitschaft b e k u n d e t , m i t d e r sie den Lebensgang des All a n ihrem Teil, a n ihrer Stelle weiterf ü h r e n h i l f t . D e n n j e d e r Schritt, d e n das I c h in der K l ä r u n g seiner i n n e r e n W e l t t u t , ist ja zugleich ein F o r t s c h r i t t in der K l ä r u n g der W e l t , die es in sich spiegelt. Es mag fraglich sein, ob die Monadenlehre dem G a n z e n der Wirklichkeit, die sie klären will. Genüge tut — dem Kosmos der sittlich ringenden M e n s c h h e i t kommt ihr Begriffssystem in einem bemerkenswerten Maße nahe. Denn hier sind Motive des sittlichen Lebens vereint, von denen die moralphilosophische Erörterung bis dahin immer wieder eines dem anderen opfern zu müssen geglaubt hatte. Gewahrt bleibt der Seele ihre e i g e n e , von einem eigenen Zentrum aus gelenkte und geordnete Welt, die immer wieder sei es dem „natürlichen" Mechanismus des All, sei es der Denknotwendigkeit des mathematischen Gottes, sei es dem mittelpunktlosen Getriebe von psychologischen Elementen aller Art oder endlich den gröberen oder feineren Eingriffen der Gesellschaft und des Staates ausgeliefert worden war — gewahrt bleibt aber nicht minder die sittliche Verpflichtung, die die Seele durch dieses ihr höheres Selbst hindurch an das in ihr lebendig wirkende G a n z e bindet, an das Ganze, das immer wieder dem Lustverlangen, den Zweckberechnungen, dem Ruhebedürfnis, dem konstruktiven Eifer der Einzelnen, sei es als Produkt, sei es als Instrument sich hatte unterordnen lassen. Und Leibniz hat es nicht versäumt, die Folgerungen auszusprechen, die sich aus dem Ganzen einer solchen Weltansicht für die menschliche Gemeinschaft, für den „ V e r n u n f t s t a a t der G e i s t e r " ergeben. Es sei nicht verschwiegen, daß unsere Darstellung mit gewollter Einseitigkeit denjenigen Leibniz ins hellste Licht gerückt hat, dem die Entwicklung der deutschen Ethik ihre wertvollsten Impulse zu Janken hatte. Zurückgestellt sind die mancherlei mathe-

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matisierenden Wendungen, durch die Leibniz, jener anderen Seite seiner Begabung Folge gebend und zugleich auf logischen Zusammenschloß des Systems bedacht, nicht selten den Ertrag seines metaphysischen Weltdenkens ins Mathematisch-Rationale abgebogen hat. Unter dem Druck dieser DenkgewOhnungen ist es nicht zur Entwicklung des ethischen Gedankens gekommen, der sicherlich in der Linie jener Seelen- und Weltmetaphysik lag: ob etwa die Seele, wie sie in theoretischer Erkenntnis das Ganze der Welt zu einer einzigartigen Gestalt in sich sammelt, so auch im sittlichen Erleben nicht etwa nur ein B r u c h s t ü c k der der Welt beschiedenen Wertfalle f ü r sich gewinne, sondern das G a n z e dieses sittlichen Kosmos, wenn auch desgleichen in einer individuellen Wertperspektive, in sich aufleuchten sehe. Der tief eingewurzelte Hang zu einer allgemeingültigen, einer „demonstrativen" E t h i k läßt dieser Idee keinen R a u m . Aber wie dem auch sei: dieser Bahnbereiter der deutschen philosophischen Epoche h a t bereits m i t vorausschauender Divination die Grundlinien des Baues vorgezeichnet, den die deutsche Metaphysik des Geistes im Angesicht des „natürlichen Systems" errichten sollte. Es fällt in die Augen, was Leibniz selbst nachträglich mit Staunen w a h r n a h m : wie die monadologische Weltansicht in entscheidenden Grundzügen sich mit dem Bild des Universums und zumal der Menschenwelt begegnet, in dem der kosmische Enthusiasmus S h a f t e s b u r y s sich ausgesprochen h a t t e . Mit diesem ungewollten Zusammentreffen steht es im Einklang, daß die in England durchweg abgelehnte Metaphysik Shaftesburys gerade in Deutschland d a n k b a r e Jünger, j a schwärmerische Anhänger gefunden h a t — so sehr, daß es in der weiteren Entwicklung der Philosophie des Geistes und der Sittlichkeit bisweilen schwer fällt, das Fortwirken Leibnizens von den Anregungen Shaftesburys zu unterscheiden. I m übrigen l ä ß t eine vergleichende Zusammenschau beider deutlich werden, wie sehr Shaftesbury durch das Vorwalten ästhetischer Auffassungsformen davor geschützt war, die lebendige Einheit der eigentümlichen „Ges t a l t " so durch rationalistische Einreden beeinträchtigen zu lassen, wie Leibniz das nicht immer vermieden h a t — während umgekehrt bei Leibniz der Normgedanke gerade in seiner rational-allgemeingültigen Fassung a m wirksamsten die Objektivität der sittlichen Forderung einschärft, die Shaftesbury in dem freien Spiel der formenden K r ä f t e untergehen läßt.

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G. W . L e i b n i z , Nouveaux essais sur l'entendement humain 1704; Essais de Theodic^e 1710; Monadologie 1714.

3. D I E D E U T S C H E

AUFKLÄRUNG.

Leibniz' Philosophie war nicht nur in der Vereinigung methodischer Motive, sondern auch insofern ein System des harmonischen Ausgleichs, als sie die verschiedensten, oft als unversöhnlich erachteten Gehalte des Geistes in e i n e n gedanklichen Zusammenhang aufnahm. Glaubensüberzeugungen, wissenschaftliche Erkenntnisse, Normen der Sittlichkeit, Prinzipien staatlicher Ordnung — alles fügte sich ihm zu einem jede Vernunftforderung befriedigenden Ganzen ineinander. Es war nicht 40 zum wenigsten diese Eigenschaft, die diesen Gedankenkreis dem Geistesleben des damaligen Deutschland empfehlen mußte. Ein Volk, das in seiner politischen und sozialen Lebensordnung, in seiner kirchlichen Organisation und seinem Glaubensleben die Eigentümlichkeiten eines zurückliegenden Entwicklungsstadiums noch besonders treu bewahrte, in dessen Seele die voraussetzungslose Kühnheit einer alles bezweifelnden Kritik noch keinen Raum hatte, konnte in dieser Versöhnung von Ver-

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DIE DEUTSCHE

AUFKLARUNG

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n u n f t , Gläubigkeit u n d B ü r g e r t u g e n d das Wesentliche seines eigenen Lebenszustandes ausgeprägt f i n d e n . I n d e m n u n aber die d e u t s c h e Aufk l ä r u n g d a r a n ging, d e n Leibnizschen I d e e n diese W e n d u n g ins P r a k tische u n d zugleich Allgemeinverständliche zu geben, k o n n t e es n i c h t ausbleiben, d a ß von d e n beiden Seiten des Leibnizschen Philosophierens diejenige sehr viel s t ä r k e r z u r G e l t u n g k a m , die, weil klar, faßlich u n d leicht in ein System zu bringen, d e m gemeinen V e r s t a n d a m leichtesten einging. E s w a r der rationale, der „ d e m o n s t r i e r b a r e " Leibniz, in d e m die A u f k l ä r u n g ihren Heros feierte. Schon hier sehen wir also den B u n d der Denkprinzipien sich lösen, die Leibniz z u s a m m e n g e b r a c h t zu h a b e n glaubte. Verfolgen wir die Linie, in d e r die Schulphilosophie sich f o r t bewegte, so k a n n es eine Zeitlang scheinen, als ob die d e m Geiste der westlichen Philosophie w i d e r s t r e b e n d e n Motive in Leibniz' S y s t e m der Ü b e r m a c h t rationalistischer Z e i t s t r ö m u n g e n erliegen sollten. Gerade in d e m Bezirk der e t h i s c h e n P r o b l e m e t r i t t diese E n t w i c k l u n g m i t besonderer Deutlichkeit h e r v o r . Die deutsche A u f k l ä r u n g teilte m i t den analogen Bewegungen des ü b r i g e n E u r o p a die R i c h t u n g des Interesses, die v o n den S u b t i l i t ä t e n der S p e k u l a t i o n weg u n d in die F r a g e n praktischer Lebensgestaltung h i n e i n f ü h r t e . U n d je weniger dieses Bestreben in der Enge u n d p a t r i a r c h a l i s c h e n G e b u n d e n h e i t des d e u t s c h e n Lebens sich a n den öffentlichen D i n g e n zu erproben den Anreiz vers p ü r t e , u m so angelegentlicher n a h m es sich der F r a g e n der p e r s ö n l i c h e n L e b e n s g e s t a l t u n g a n . D a m i t t r a t v o n selbst die E t h i k in d e n B r e n n p u n k t des philosophischen Interesses - - eine E t h i k , die geflissentlich den Z u s a m m e n h a n g m i t d e n G r u n d l e h r e n des C h r i s t e n t u m s w a h r t e u n d dieses d a b e i , echt a u f k l ä r e r i s c h , i n eine allgemeine Moralität des „ h u m a n e n " Wohlwollens auflöste. D a m a l s geschah es d e n n a u c h , d a ß die moralphilosophische L i t e r a t u r d e r E n g l ä n d e r , die j a in solchen V e r m i t t l u n g e n große F e r t i g k e i t bewiesen h a t t e , in D e u t s c h l a n d u n m i t t e l b a r e n E i n g a n g f a n d — nicht o h n e dem moralphilosophischen R a t i o n a l i s m u s einen Einschlag v o n psychologischen E r w ä g u n g e n zu geben. Den Grundriß f ü r diese wohlmeinende, an Worten nnd Gefühlen, aber nicht an Gedanken reiche Betriebsamkeit gab, wie in allen Teilgebieten der philosophischen Arbeit, das System von C h r i s t i a n W o l f f . Schon bei diesem Scholhanpt der deutschen Aufklärung sehen wir die Ausscheidung der dem Rationalismus widerstrebenden Elem e n t e des Leibnizschen Denkens vollendet. I n d e m die ,, Fensterlosigkeit" der Monaden aufgegeben wird, ist der E t h i k des sich selbst findenden Ich das Herzstück ausgebrochen. Zwar das ethische Prinzip der „Vervollkommnung" als solches ist festgehalten, aber die weitläufige Pedanterie, mit der dem Vollkommenheitsstreben Weg und Ziel durch einen „ d e m o n s t r a t i v " entwickelten K a n o n allgemeingültiger Normen vorgeschrieben wird, l ä ß t jeden Gedanken an das Ideal der von innen heraus sich gestaltenden Persönlichkeit schwinden. Hier ist wirklich jene Reglementierung der Sittlichkeit erreicht, deren K e r n M. M e n d e l s s o h n ausspricht in der Behauptung, jede ethische Entschließung beruhe auf einem Syllogismus, der eine bestimmte Lage als „ F a l l " einer mit geometrischer Strenge beweisbaren allgemeinen Regel des Handelns subsumiere.

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Wenn die Ethik der deutschen Aufklärung das E r b e des Leibnizschen Geistes in wertvollen Teilen h a t beiseite liegen lassen, so bleibt ihr das Verdienst, eine sehr folgenreiche Erweiterung des Leibnizschen Entwicklungsgedankens von e i n e r Seite her eingeleitet zu haben. Der Entwicklungsgang fortschreitender Selbstklärung m u ß t e nach den Prinzipien des Leibnizschen Systems im Lebenskreis der e i n z e l n e n Monade anheben u n d sich vollenden; eine Abergreifende K o n t i n u i t ä t von G e s a m t e n t w i c k l u n g e n , die sich nach Phasen und Stufen auf die einzelnen Monaden aufgeteilt h ä t t e n , ließ die jede Überleitung ausschließende „Fensterlosigkeit" der Monaden nicht zu. Ging m a n n u n in der Folge von diesem an sich so tiefsinnigen Gedanken ab, so entfiel d a m i t zugleich auch das Hindernis, das der bezeichneten Erweiterung des Vervollkommnungsgedankens im Wege stand. Welche Richtung hier der Sache nach eingeschlagen werden m u ß t e , ist unschwer zu erkennen. H a t im Sinne von Leibniz jede Monade, so wahr ihr Werdegang ein einmaliger und einzigartiger ist, i h r e b e s o n d e r e „ G e s c h i c h t e " , so f ü h r t der Gedanke an einen zielgerichteten Werdeprozeß, der über die Lebenskreise der Einzelmonaden hinweggreift, von selbst in die Welt d e r säkularen Entwicklungen hinein, von denen die im prägnanten Sinne so genannte „Geschichte" uns meldet. Schon wiederholt sahen wir die ethische Reflexion den Anschluß an die Welt der geschichtlichen Erscheinungen suchen: der Entwicklungsgedanke in der von Leibniz begründeten F o r m bot eine besonders verlockende Möglichkeit, die Brücke zu schlagen.

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Es ist L e s s i n g als Geschichtsphilosoph gewesen, der diesen Gedanken 20 so tief gefaßt hat, wie es ohne ein Durchbrechen der rationalistischen Grundmeinung möglich war. Daß er in Gestalt einer r e l i g i ö s e n Deutung, als Lehre von der Erziehung des Menschengeschlechtes durch Gott, auftritt, nimmt ihm nichts an Bedeutung für die Ethik. Denn auch bei Lessing ist die Religion dem Ideenkreis einer humanen Sittlichkeit so weit angenähert, daß jede Offenbarung des Göttlichen sich nicht zum wenigsten durch ihren sittlichen Wertgehalt als solche ausweist. Wenn also Lessing die Reihe der Offenbarungen, in denen Gott dem menschlichen Geschlechte nahegetreten ist, auslegt als eine Stufenfolge von dem jeweiligen Reifezustand sich anpassenden symbolischen Fas- 30 sungen der letzten Wahrheit — eine Stufenfolge, in der die jeweils folgende Verkündigung das in der vorausgegangenen halb Verhüllte klar und vollkommen ausspricht — so ist damit ein ethischer Aufstieg der Menschheit ganz unmittelbar mitgesetzt, mithin die Ethik in die Geschichte hineingezogen und die Geschichte von der Ethik aus interpretiert. Trotzdem wird man nicht sagen dürfen, d a ß d a m i t der volle Durchbruch in die Lebendigkeit der Geschichte erreicht sei. Obwohl die Linienführung dieser Geschichtsdeutung sich von derjenigen R o u s s e a u s beträchtlich unterscheidet — dort die Vollkommenheit als Ausgangspunkt wie als Endziel, der Tiefstand in der Mitte des Prozesses, hier die Vollkommenheit als Abschluß einer von u n t e n stetig aufwärts führenden Entwicklung — die eine Vorstellung bildet doch bei ihr nicht weniger als bei jener den Hintergrund, daß die immer klarer hervortretende Wahrheit als eine allgemeingültige von Anbeginn an unabänderlich feststehe, d a ß also der Wert jeder Stufe nicht an ihrem Eigengehalt als solchem, sondern an ihrem Abstand von diesem Zeitlos-Absoluten zu messen sei. Auch hier h a t also die ethische Substanz selbst an der historischen Bewegung nicht teil. Und weiterhin läßt sich das Bedenken nicht unterdrücken, ob denn eine der Selbstentfaltung der Monade vergleichbare, eine echte Entwicklung eines lebendigen Ganzen dann anzuerkennen sei. wenn diese Entwicklung sich darstellt als das Wunder-

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werk eines göttlichen Erzieher«, der jeden ihrer Schritte nach Maßgabe eines ihren lebendigen Trägern verborgenen Planes dnrch sein immer erneutes Eingreifen herbeiführt, wenn mithin das die Entwicklnngseinheit stiftende Prinzip ans dem Prozeß selbst heransverlegt ist. Indessen gerade wenn wir die Gesamtbetrachtang in das Licht dieser kritischen Frage rücken, treten an ihr Gedankenansätze hervor, die nicht nur mit diesen Bedenken aufräumen, sondern bereits den Durchblick auf eine ganz andersartige Ideenwelt freigeben. Derselbe Lessing nämlich, der durchweg die sinnvolle Einheit der Gesamtentwicklung nicht aus der Zielstrebigkeit ihrer Eigenkräfte, sondern aus dem Walten einer fibergeordneten Instanz herzuleiten scheint, läßt wiederholt seine Gedanken dergestalt ins Pantheistische hinüberspielen — nicht umsonst hat ihn S p i n o z a s Geist berührt — daß die göttliche Macht gleichsam eins wird mit dem Schwünge der Bewegung, die sie soeben noch von oben her zu lenken schien. Aus einem von Gott gewirkten wird die Geschichte der Menschheit zu einem gotterfüllten Werden, das den sittlichen Aufstieg des Einzelnen nnd die sittliche Entfaltung des Ganzen unlöslich ineinander schlingt. So wird die Menschheit, betrachtet sub specie des religiös-sittlichen Gedankens, zu einer lebendigen Gesamtwesenheit; die Geschichte erhält an ihr ihr eigentliches Subjekt. Mag man auch hier einen Rest aufklärerischer Befangenheit darin finden, daß in Korrelation mit der einen allgültigen Wahrheit auch nur ein einziges alles Einzelleben in sich aufnehmendes Gesamtsubjekt angesetzt wird — schon daß hier eine geisterffillte Einheit des Lebens geahnt wird, deren Gehalt sich nicht aus den Beiträgen von Einzelwesen aufsummiert, bedeutet das Aufdämmern von Erkenntnissen, die, zu voller Entwicklung gebracht, der Lebensansicht der Aufklärung ihre Grundlagen entziehen mußten. Chr. W o l f f , Vernünftige Gedanken von der Menschen Tun und Lassen zur Beförderung ihrer Gifickseligkeit 1720. M. M e n d e l s s o h n , Abhandlung Aber die Evidenz in den metaphysischen Wissenschaften 1764. G. E. L e s s i n g , Die Erziehung des Menschengeschlechts 1780.

4. STURM UND DRANG. Ginge es uns nur um diejenigen Fortbildungen Leibnizscher Gedanken, die die Formen der Schule, die Strenge begrifflicher Darlegung wenigstens einigermaßen festgehalten haben, so wäre die hier markierte Linie der Entwicklung die einzige, der wir nachzugehen hätten. Denn wenn der Teil seiner geistigen Hinterlassenschaft, der ihr entglitt, darum keineswegs auch nur für einige Zeit begraben blieb, so war es doch ganz und gar nicht die Kontinuität einer p h i l o s o p h i s c h e n Überlieferung, die ihn vor der Vergessenheit bewahrte. Vielmehr stand es so, daß eine Bewegung des Geistes, deren Ursprung außerhalb des Bereiches spekulativer Interessen lag, daß eine Erhebung des „ L e b e n s " , wie man heute sagen würde, ihren Sinn und ihr Recht gerade in demjenigen Leibniz ausgesprochen und erhärtet zu finden glaubte, der dem Blick der deutschen Aufklärung entschwunden war. Wenn hier freiere Äußerungen des auf sich selbst reflektierenden Lebens Einfluß gewinnen auf den Fortgang der philosophischen Bewegung, so bahnt sich damit eine Verbindung an, deren Bedeutung sich gerade auf deutschem Boden fortgesetzt steigern sollte: die Wechselwirkung zwischen der schönen Literatur und der philosophischen Reflexion. Und es bedarf keiner Begründung, daß nächst der Ästhetik gerade die Ethik, verstanden als die den

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P r o b l e m e n der Lebensgestaltung zugeordnete Disziplin, den B o d e n bildete, auf dem diese D u r c h d r i n g u n g a m innigsten sein m u ß t e . Die Lebensbewegung n u n , die, zunächst in literarischen F o r m e n , P r o b l e m e n u n d F e h d e n ihren inneren D r a n g k l ä r e n d , in der Monadenlehre sich bestätigt f a n d , ist ein Glied in der Reihe jener R e a k t i o n e n , die j e d e auf die Spitze getriebene K u l t u r des reinen Intellekts n o t w e n d i g h e r a u f b e s c h w ö r t . Sie gehört hinein in den A u f s t a n d des Gefühls, der Leidenschaft, der noch nicht angekränkelten I n s t i n k t e , als dessen B a n n e r t r ä g e r m a n auf allen Seiten R o u s s e a u verherrlichte. N u r d a ß diese A u f l e h n u n g in der deutschen Geisteswelt, wo ein religiöses R i n g e n v o n ungewöhnlicher I n b r u n s t u n d Nachhaltigkeit das G e m ü t in E r r e g u n g gehalten h a t t e , m i t einer elementaren W u c h t , einer f o r m s p r e n g e n d e n Unbändigkeit h e r v o r b r a c h , n e b e n der Rousseaus glutvolle Manifeste rhetorisch, seine Gefühlswallungen harmlos wirken. „ S t u r m u n d D r a n g " b e m ä c h t i g t e sich, allenthalben das vernünftige Regelwerk der Aufk l ä r u n g wegfegend, der P r o b l e m e der L i t e r a t u r , der P r o b l e m e des Lebens u n d d a m i t a u c h der W e l t a n s c h a u u n g . Diejenigen seiner J ü n g e r aber, denen es nicht genügte, sich literarisch auszutoben, die ihr Sein u n d Wirken v o r sich selbst zu rechtfertigen das B e d ü r f n i s e m p f a n d e n — sie h ö r t e n n u n aus der Philosophie Leibnizens die T ö n e h e r a u s , die i h r e m innersten T r a c h t e n A n t w o r t g a b e n : v o n N o t w e n d i g k e i t u n d schöpferischer K r a f t des U n b e w u ß t e n , des T r i e b h a f t e n im H a u s h a l t der Menschennatur, v o n lebendigem Wachsen des Menschen im G a n z e n u n d aus dem Ganzen heraus — u n d vor allem von der Einzigkeit, der „Orig i n a l i t ä t " der Monade sowie v o n ihrem Beruf, dieser Originalität i n n e zu werden u n d sie, losgerissen v o m Gängelbande der N o r m a l v o r s c h r i f t e n , nicht n u r im genialischen W e r k , sondern auch i m Ganzen der persönlichen Lebensgestaltung zu b e u r k u n d e n . I n die begrifflichen G e f ä ß e der Monadenlehre ergoß sich s c h ä u m e n d ein Erleben, das v o n Leibniz' Rationalismus ebenso wenig ü b r i g ließ, wie die A u f k l ä r u n g v o n seinem Irrationalismus. Von den K ö p f e n , die diese Bewegung in sich vereint, sei hier n u r einer g e n a n n t , der, wie er diese ihrer selbst nicht m ä c h t i g e L e i d e n s c h a f t in literarischen E n t l a d u n g e n v o n vulkanischer Fessellosigkeit sich ausrasen l ä ß t , zugleich mit den Gegenständen seiner A u s b r ü c h e d e m u n s beschäftigenden Problemkreis besonders n a h e k o m m t : J . G. H a m a n n . Bei keinem t r i t t so deutlich wie bei ihm der Gefühlsgrund dieser S t r ö m u n g z u t a g e : nicht ein theoretisches R a i s o n n e m e n t , sondern religiöse E r s c h ü t t e r u n g e n v o n k r i s e n h a f t e m C h a r a k t e r machen i h n z u m e r b i t t e r t e n Gegner der A u f k l ä r u n g . Sie wird i h m z u m w a h r e n A n t i c h r i s t , weil sie gerade diejenige Erlebnissphäre, die i h m seine letzten Gewißheiten geschenkt h a t , die i h m deshalb als eine Wirklichkeit h ö h e r e n R a n g e s j e n seits alles sonst E r f a h r b a r e n s t e h t , d u r c h ein temperierendes G l ä t t u n g s v e r f a h r e n in das wohlgeordnete System der V e r n u n f t e i n a r b e i t e t , d . h .

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im Innersten verfälscht. Alle die Ausgleiche und Einebnungen, in denen das philosophische Denken n u n schon so lange seine Aufgabe und seinen Stolz gesehen h a t t e , werden hier namens der Autonomie des religiösen Gewissens als sündiges Vergreifen am Heiligsten gebrandmarkt. Alle K l ü f t e im Leben der Seele werden wieder aufgerissen; tiefer und schmerz» licher noch als einem R o u s s e a u ist diesem Manne die Antinomik des menschlichen Daseins, die Zwiespältigkeit seiner Wertmöglichkeiten aufgegangen. D a ß die damit ins Bewußtsein zurückgerufene Problemwelt gerade der in tieferem Sinne verstandenen S i t t l i c h k e i t ihre schwersten Fragen aufgibt, wurde bereits ausgeführt; H a m a n n selbst ist an diesen Folgerungen nicht vorübergegangen. Seine E r b i t t e r u n g gilt nicht zum wenigsten der pharisäischen Geschäftigkeit, die aus den Grundsätzen der a u t o n o m e n Menschenvernunft einen Kanon der Sittlichkeit herauszudemonstrieren sich vermißt. Eine „freche Heuchelei" heißen ihm die „wässerichten Begriffe" der modernen Moral — die übrigens auch deshalb sein ganzer Abscheu trifft, weil sie die vollsaftige Fülle der menschlichen N a t u r zu kraftloser Intellektualität verdünnen. Man sieht, wie dieser Ansturm das ganze Versöhnungswerk, das die A u f k l ä r u n g geleistet zu haben meinte, wieder in Frage stellt. Aber H a m a n n gehört nicht nur als ein Aufrührer in diesen Zusammenhang. Die leidenschaftliche Erregtheit seiner religiösen Phantasie sucht sich ihre Gegenstände in eben der Sphäre, der wir von der anderen Seite her die A u f k l ä r u n g sich nähern sahen: in der G e s c h i c h t e . Auch sein Gott offenbart sich wie in aller Wirklichkeit so auch ganz besonders in der großen Schicksalseinheit des Menschengeschlechts. Aber wie sein Gott ein anderer ist als der von L e s s i n g verehrte, so steht auch seine Vision von der geschichtlichen „Anthropomorphose Gottes" weit ab von der Verständigkeit, mit der dort das Ganze der Dinge zurechtgelegt war. Der prophetische Deuter der Geschichte — und nur ein solcher vermag die Geheimschrift Gottes im Menschenschicksal zu enträtseln — sieht vor allem den unerschöpflichen Reichtum des eigenartig Gestalteten, er sieht das „ S o n d e r t ü m l i c h e " , in dessen Fülle sich das Göttliche ausgießt. I n dunklen Ahnungen und k a u m geklärten Eingebungen k ü n d i g t sich hier an, was sich in der Folge zu einer neuen Weltansicht herausarbeiten sollte. J . G. H a m a n n , Sokratische Denkwürdigkeiten 1759, Ästhetica in nuce 1772. H . H e t t n e r , Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts, Bd. I I I . E. T r o e l t s c h , Der deutsche Idealismus. Gesammelte Schriften, Bd. IV, S. 532. D e r s e l b e , Deutscher Geist und Westeuropa. Tübingen 1925. E. C a s s i r e r , Freiheit und Form, Studien zur deutschen Geistesgeschichte.' Berlin 1925. D e r s e l b e , Leibniz' System in seinen wissenschaftlichen Grundlagen. Marburg 1902. H. S c h m a l e n b a c h , Leibniz. München 1921. D. M a h n k e , Leibniz und Goethe. E r f u r t 1924. R . U n g e r , H a m a n n und die Aufklärung. 2 Halle 1925.

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VI. KANT UND HERDER. D e r Gegensatz der beiden R i c h t u n g e n , die das Leibnizsche E r b e gleichsam u n t e r sich a u f t e i l t e n , steigt an der Stelle, die u n s e r e Betracht u n g erreicht h a t , zu einem P a a r geistiger Gestalten e m p o r , die auch u n d gerade in ihrer D e u t u n g des sittlichen Lebens zwei d a u e r n d e G r u n d r i c h t u n g e n deutscher W e l t b e t r a c h t u n g nicht etwa äußerlich nebeneinandergestellt sondern in dialektischem Widerstreit zu m o n u m e n t a l e r D a r s t e l l u n g gebracht h a b e n : K a n t u n d Herder. Es ist nicht üblich, sie so in einem Zuge zu n e n n e n , sie als zwei B r e n n p u n k t e einer u n d derselben Formeinheit des geistigen Lebens zuzuordnen. K a n t h a t t r o t z m a n c h e r S c h w a n k u n g e n bis h e u t e W ü r d e u n d Geltung einer geistigen G r o ß m a c h t b e h a u p t e t , Herder f ü r d a s landläufige Urteil der Heutigen n i c h t weniger als in den Augen der Zeitgenossen d u r c h a u s im S c h a t t e n seines großen Lehrers u n d scharfsichtigen Kritikers gestanden. Diese S c h ä t z u n g ist im R e c h t , soweit sie die systembildende K r a f t , die logische K l a r h e i t des Fragens, die methodische Sicherheit der P r o b l e m e n t f a l t u n g z u g r u n d e l e g t ; sie erweist sich als ein U n r e c h t a n dem Zurückgestellten, wenn m a n sich durch die widerspruchsvolle Unzulänglichkeit, S p r u n g h a f t i g keit u n d Willkür der D a r l e g u n g zu den letzten Motiven des Denkens, zu d e m t r o t z allem d a h i n t e r s t e h e n d e n Gefüge von G r u n d b e g r i f f e n durcha r b e i t e t . Denn alsdann g r a b e n wir Einsichten auf, deren T r a g w e i t e vielleicht erst in unseren T a g e n voll ermessen werden k a n n . G e r a d e eine Darstellung der ethischen Problementwicklung h a t allen G r u n d , Person u n d W e r k von H e r d e r aus d e m D u n k e l hervorzuholen. Näher bestimmt sich das Verhältnis beider so, daß K a n t , gewisse Vorzüge der durch Christian Wolff verkörperten Linie der Entwicklung festhaltend, wesentliche Gebrechen und Einseitigkeiten endgültig überwindend, gleichwohl in bestimmten f ü r sie maßgebenden Voraussetzungen allzusehr befangen bleibt, als d a ß er bis zur gerechten Würdigung und Aufnahme der auf der Gegenseite vorangestellten Prinzipien durchstoßen könnte — daß H e r d e r , der in genial vorwegnehmender Divination, in einem mit Instinktsicherheit leitenden Gefühl f ü r Wesentliches die Linien eines an Gestalten reichen Weltbildes hervortreten sieht, so blind bleibt f ü r den Wert der d u r c h K a n t eroberten Position, daß er sich selbst von den wertvollsten Mitteln der Rechenschaftsablage und Begründung absperrt. Ein Verhältnis voll innerer Tragik, aber jener Tragik, ohne die der Geist nicht seine Tiefen erschließen kann. Der ideelle Vereinigungspunkt, zu dem weder der eine noch der andere vorgedrungen ist, kann etwa bezeichnet werden durch den Begriff des s p o n t a n e n I c h . Damit ist zugleich angedeutet, d a ß gerade auf dem Boden der E t h i k die Linien, denkt man sie gehörig verlängert, sich schneiden müssen.

Unsere B e t r a c h t u n g stellt den J ü n g e r e n voran, weil gerade bei dieser A n o r d n u n g wie die k a u m j e b e s t r i t t e n e Größe so die nicht selten übersehene Grenze des k a n t i s c h e n Denkens a m klarsten h e r v o r t r i t t .

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1. H E R D E R . Es gibt Denker, deren Gesamtwerk, so wie es als Frucht eines uns verborgenen Wachstumsprozesses vor uns steht, erst einer tiefer bohrenden Forschung etwas davon verrät, ob in jenem die Interessen des reinen Erkennens oder praktische Motive die Führung hatten. Was wir an Zeugnissen Herderschen Geistes besitzen, ist nicht von solcher Art. Ungedämpft erklingt in seinen Sätzen der leidenschaftliche Ton eines auf Wirkung drängenden Willens. Das letzte Ziel dieses Drängens faßt sich im Begriff „ B i l d u n g " zusammen, das Wort genommen in jenem noch nicht durch tausendfältigen Mißbrauch verkürzten Vollgehalt, in dem es die Formwerdung eines lebendigen Ganzen bedeutet. Zeigt diese Idee sich auf der einen Seite mit jener E t h i k eng verbunden, der die höchste Sittlichkeit nur in einer Gesamtverfassung des Menschen verwirklicht werden kann, so weist sie andererseits auf eine im tieferen Sinne verstandene P ä d a g o g i k hin, sei es auch nur die Pädagogik der Selbstbildung. Es zeugt v o n der gleichsam selbsttätigen Zeugungskraft w a h r h a f t gehaltvoller Begriffe, wenn wir den L e i b n i z s c h e n Entwicklungsgedanken bei Herder nicht weniger als bei dem von ihm so grundverschiedenen L e s s i n g sich in die Sphäre des Pädagogischen hinein strecken sehen. Seine eigentliche Fülle aber und seine charakteristische Tönung erhält dieser Begriff bei Herder erst durch das Zusammenströmen verschiedener Werttendenzen, die wir nicht zum ersten Male sich durchwirken sehen: der r e l i g i ö s e n und der ä s t h e t i s c h e n . Schon H a m a n n h a t t e in seinem inbrünstigen Verlangen, dem Geheimnis Gottes in der Chiffreschrift seiner Schöpfung auf die Spur zu kommen, auch und besonders die Sprache der ästhetischen Form, die er mit reizbarster Empfänglichkeit a u f n a h m , von diesem Zentrum her auszulegen u n t e r n o m m e n . Mit seinem Einfluß begegnet sich bei Herder derjenige eines anderen, der gleichfalls durch den Reiz der Gestalt sich zu den göttlichen K r ä f t e n der Gestaltung h a t t e zurückführen lassen: S h a f t e s b u r y s . Es waren Ideenverknüpfungen, in denen Herder, feinfühlig wie wenige f ü r die Unwägbarkeiten der ästhetischen Wirkung und zugleich das Herz unruhig in religiöser Sehnsucht, das Geheimnis seines eigenen Wesens ausgesprochen f a n d . N a t u r g e m ä ß schlägt deshalb auch bei ihm die von solchen Wertbedürfnissen gelenkte Reflexion eine Richtung ein, die in jene Zone der ethisch-pädagogischen Probleme hineinf ü h r t e . Auch ihn drängt es immer wieder vom Gebilde zu den bildenden Kräften, von dem zur Form gewonnenen Werk zu der Bewegtheit der Seele, deren lebendige Form sich in ihm spiegelt. Wertvoll ist ihm die Formeinheit des Geschaffenen vor allem deshalb, weil sie von eben der Totalität des schaffenden Geistes Zeugnis ablegt, auf die auch der eigene Gestaltungswille sich richtet.

Wessen Herz von solchen Wertideen voll war, der mußte in allem, was der aufklärerische Geist dachte, behauptete und erstrebte, den Tod jedes gehaltvollen und zeugungskräftigen Lebens erblicken. So gilt der Kampf insbesondere des Jünglings und des Mannes Herder — hinter dessen wertvollsten Intentionen der spätere an vielen Stellen weit zurückbleibt — vor allen Dingen dem die Seele intellektualistisch ausdörrenden, das Leben mechanistisch einzwängenden Geist der wohlberechneten Vernünftigkeit. Und nicht zum wenigsten fühlt dieser

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Lebenswille sich abgestoßen von der M o r a l , in der diese ihre Lebensmission zusammenfaßt. Die Blutleere dieses „idealistischen Schattenbildes von Tugend 1 ' ist ihm das Widerspiel des vollen Menschentums, das er ersehnt und dem er sein Recht erkämpfen will. Hören wir in solchen Aussprüchen bereits bekannte Motive weiterklingen, so tritt das Eigene und Eigentümliche der Herderschen Lebensbetrachtung in der Durchführung dieses „Bildungs"gedankens zutage. Jener Wille zur Wirkung richtet sich mit gleicher Stärke nach innen wie nach außen, auf die ihre Form ersehnende eigene Person wie auf die engeren, weiteren und weitesten Kreise der Menschenwelt. Aber dieses Überschreiten des eigenen Lebensbereiches will nicht so verstanden sein, als ob es lediglich in den anderen a l s e i n z e l n e n , in jedem für sich, den Willen zu ihrer besonderen Form entzünden wollte. Gewiß geht es auch darum, daß jedes einzelne Lebendige den Mut hat, zu sich selbst Ja zu sagen. Aber trotzdem ist es nicht etwa eine Vielheit monadisch abgeschlossener Einzelformen, als welche Herder die Menschenwelt sieht und sucht. Seine Sehnsucht nach menschlicher Bildung umfängt auch und gerade solche Einheiten gewordenen oder werdenden Lebens, die über die Bezirke einzelpersönlichen Daseins weit hinausgreifen: ja, die Formung des Einzelnen gilt ihm als möglich und verbürgt nur vermöge seines lebendigen Teilhabens an den formenden Energien des umfänglicheren Ganzen. Insofern sind der auf das eigene Ich und der auf das menschliche Ganze sich richtende Wille zur „Bildung" zwei eng zusammengehörige Äußerungen einer und derselben Grundintention. Auch in der hier in Frage stehenden Konzeption macht sich das Ineinanderwirken religiöser und ästhetischer Motive geltend. Keine religiöse Schauung einer um ihre Gestaltung ringenden Welt wird bei einem Nebeneinander gesonderter Formprinzipien und Formnngsprozesse als bei d e m Letzten stehen bleiben können; sie drängt darüber hinaus zu der göttlichen Einheit, die sich in der Fülle der Gestalten k u n d t u t ; und sie f i n d e t sie sei es in einer prästabilierten Harmonie, sei es in einem übergreifenden Erziehungsplan, sei es in einem alles Besondere in sich aufnehmenden Alleben. So wenig wie L e a s i n g h a t Herder eine völlig eindeutige Entscheidung getroffen zugunsten entweder eines als Lenker oberhalb des Prozesses verharrenden oder eines in ihn sich gleichsam ausgießenden Gottes. D e m zweiten Gliede dieser Disjunktion jedenfalls k o m m t er überall da sehr nahe, wo erlebte ä s t h e t i s c h e Wertgewißheiten ihr W o r t mitsprechen. Auf Formenenergien, die den Bezirk monadischen Wirkens hinter sich lassen, ist Herder besonders f r ü h und nachdrücklich hingeführt worden durch seine Empfänglichkeit f ü r solche Gebilde, die, das W a l t e n der sie erzeugenden Formkräfte in jedem Zuge bezeugend, gleichwohl der immer wieder unternommenen Versuche spotten, diese K r ä f t e im Bereiche der Entwicklungen u n d Betätigungen von E i n z e l n e n ausfindig zu machen. Die Sprache, der Mythos, die Volkspoesie — es liegt außerhalb unseres Zusammenhanges, zu zeigen, wie unausweichlich Herder durch liebevolle Versenkung gerade in d i e s e Werkgestaltungen des Geistes sich zur Annahme von schöpferischen Potenzen hingedrängt f a n d , die ans umfassenden überpersönlichen Einheiten des Lebens hervorbrechen. U n d wie h ä t t e er das hier sich offenbarende Weben allumfassender Lebensenergien nicht zugleich als sichtbarliche Äußerung des Göttlichen verstehen sollen, das in seinen religiösen Ahnungen zu i h m sprach!

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So m ü n d e t eine von Leasings Denkart weit abliegende Weise des Verstehen« nnd Wertens doch schließlich in eine religiöse Deutung der menschlichen Geistest a t e n , die das Göttliche von seinem flberweltlichen Throne herniedersteigen und sich mit dem schöpferischen Leben selbst einen laßt. Freilich n i m m t auch dieses Gleiche n u n doch auf beiden Seiten sehr verschiedene Züge an. Vor allem d a ß Herder, dessen Grunderlebnis das staunende Erschauen einer SchOpfungsffllle ist, die in eine Mannigfaltigkeit von eigentümlichen Werken sich besondert, unmöglich diesen Formenreichtum in die Eintönigkeit einer einzigen Menschheit und ihrer reinen Vern u n f t aufzulösen sich verstehen kann. Sondern unbeschadet einer alles in sich zusammenschließenden Werdeeinheit, der als Subjekt die M e n s c h h e i t zugeordnet ist, sieht er im Einklänge mit der Gliederung und Besonderung des vom Geist Geschaffenen auch das Spiel der schaffenden Kräfte sich auf ein Stufenreich bewegter Gestalten verteilen, von denen eine jede, obwohl ihrerseits eine Vielheit lebendiger Monaden in sich hegend, nicht weniger als eine jede von diesen ihr eigenes Lebensprinzip, ihr Formgesetz u n d ihren besonderen Quell von schaffenden Energien in sich t r ä g t . Gab es f ü r L e i b n i z wie seine unmittelbaren Nachfolger nur das e i n e starre Gegenüber von Einzelich und All, Seele und Gott, so sehen wir hier zwischen beiden Polen eine lebendige Bewegung emporfluten, die den sie trennenden Abstand mit dem vielbewegten Ineinanderspielen engerer, weiterer und weitester Lebenskreise in stetigen Übergängen ausfüllt. Das göttliehe Leben der im Geist geeinten Menschheit geht, ohne zu zerfallen, in das Sonderwesen und Sonderwirken der Völker, der Kulturkreise, der Epochen auseinander. D a m i t ist das Prinzip der Monadologie auf die kollektiven Wesenheiten ausgedehnt, die die Menschheit in sich vereint. Und weiterhin ist d a m i t das Prinzip der Monadologie so modifiziert, daß es gewisser von Leibniz nicht bis auf den letzten Rest getilgter Widersprüche ledig wird und so seinen Wertgehalt erst recht zu entfalten vermag. Die Bedenken, deren Grund der Widerstreit der von Leibniz gewählten Bilder von der „fensterlosen" u n d der „spiegelnden" Monade veranschaulicht, werden hinfällig, sobald die Monade den Schwung einer übergreifenden Lebensbewegung nicht äußerlich wie Druck und Stoß erfährt und weitergibt, sondern in die D y n a m i k des aus d e m eigenen Zentrum quellenden Lebens a u f n i m m t . Denn ganz und gar nicht war dies die Meinung Herders, daß die Monade, ihr „ F e n s t e r " zum Ganzen öffnend, sich ihres eigenen LebenspTinzips zu dessen Gunsten zu begeben habe. Alle die letztlich aus räumlichen Vorstellungen entspringenden Disjunktionen des Drinnen und Draußen, des Eingeborenen und Erworbenen, des Persönlichen und des Überpersönlichen verlieren, in das Licht dieser Gesamtauffassung gerückt, den Schein der Verbindlichkeit. So sehen wir aus der gährenden Gefühlswelt einer ungewöhnlich empfänglichen N a t u r , aus dem Widerspruch gegen eine ihren innersten Gewißheiten zuwiderlaufende Lebensbetrachtung, eine ihre tiefsten Bedürfnisse erstickende Lebensregelung, sich eine Theorie beseelten Lebens herausklären, die, das von Leibniz Begonnene fortführend, das „natürliche S y s t e m " recht eigentlich aus den Angeln hebt.

Über S h a f t e s b u r y aber, dessen Weltansicht wir hier zunächst erneut zu sehen glauben, geht diese Deutung weit hinaus durch die Klarheit, mit der sie die schöpferische Unruhe der sich durchwirkenden Lebenskreise in dem Reich der G e s c h i c h t e sich zu sinnfälligster Gestaltung bringen und zugleich zur Vollendung emporheben sieht. Was H a m a n n in dunkler Prophetenrede gestammelt, tritt hier in das Licht des Gedankens ein: Geschichte ist die eigentliche „Theophanie Gottes". Die umwälzende Bedeutung aber dieses Gedankens erhebt sich gerade dann über jeden Zweifel, wenn wir uns fragen, wo und wie die Interessen 50 der e t h i s c h e n Reflexion von dieser Wendung berührt werden. Denn dann zeigt sich nichts Geringeres als dies: dem Grundproblem der Ge-

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schichte u n d d e m G r u n d p r o b l e m der E t h i k k a n n n u r v o n einem u n d demselben P u n k t e aus Genüge geschehen. J e d e Geschichtsdeutung bleibt h i n t e r d e m Geforderten zurück, die nicht die P h ä n o m e n e der Sittlichkeit sich ganz u n d gar einverleibt — j e d e E t h i k bleibt u n v o l l k o m m e n , die die Geschichte f e r n h ä l t oder a n die Peripherie verweist. Die beiderseitigen Interessen — die beileibe nicht e t w a sich decken! — schneiden sich a n e i n e m P u n k t e : es ist derjenige, d e n als erster H e r d e r sich z u m S t a n d o r t der B e t r a c h t u n g erwählt h a t . I m m e r v o n n e u e m f a n d e n wir die ethische Reflexion zur S p h ä r e des Historischen hingezogen — aber i m m e r wieder w u r d e der Historie das E i n d r i n g e n in die S u b s t a n z des Sittlichen v e r w e h r t , ob diese n u n als sich gleichbleibender K e r n im Wechsel der K o s t ü m e , als feststehendes Endziel des zeitlichen Aufstieges, als einst schon besessenes u n d erst wieder zu gewinnendes G u t ihre U n a n t a s t b a r k e i t w a h r t e . Aber diese A b t r e n n u n g b e d e u t e t einen R a u b an der Geschichte sowohl wie a n der Sittlichkeit. Geschichte, die Welt des h a n d e l n d e n Menschen, bleibt ein Schattenspiel, solange d e m W e r t g e h a l t , der dies H a n d e l n adelt, d u r c h alle ringende Mühsal irdischer Geschlecht e r nicht das Geringste zugelegt w e r d e n k a n n , solange das Meer der menschlichen Schicksale an d e m fühllosen Gestein u n w a n d e l b a r e r Vern u n f t g e b o t e sich wieder u n d wieder b r i c h t . Sittlichkeit, in d e m innersten Heiligtum der Seele b e h e i m a t e t , e r s t a r r t zur k a l t - u n n a h b a r e n G o t t h e i t , wenn, was a u c h i m m e r das Leben den Menschen a n Beseligung u n d Verzweiflung, Fall u n d Aufstieg bringen m a g , seinen erlebten, b l u t w a r m e n Vollgehalt der ewig gleichen als Opfer d a h i n g e h e n soll. So ist es ein u n d dieselbe W a n d l u n g des G e s a m t a s p e k t e s , die der E t h i k wie der Historie aus i m m e r wieder sich erneuernden N ö t e n heraushilft. Es ist nichts weniger als Zufall, d a ß gerade in der Wertsphäre der E t h i k der Durchbruch am spätesten und schwierigsten erfolgt ist. Diejenige Wertregion z. B., der Herder wie die bewundertsten seiner Vorgänger seine wertvollsten Inspirationen verdankte, die ä s t h e t i s c h e — wie viel leichter setzt sie sich vermöge der Struktur ihrer Gebilde, deren Wert offensichtlich an der Einmaligkeit, der gestaltlichen Besonderheit ihrer Erscheinung hängt, mit einer Betrachtung ins Einvernehmen, die gleichfalls in der Bewegtheit des Menschenlebens das zu eigentümlicher „ G e s t a l t " Gediehene aufsucht. Die ethische Reflexion hingegen, immer wieder zurückkehrend zu dem Erlebnis einer dem Ich gegenüberstehenden F o r d e r u n g , einer zwischen Ich u n d Idee obwaltenden S p a n n u n g , f ü h l t fort und fort die Nötigung, dies in seiner überlegenen Majestät Erfahrene n u n auch in einer Sphäre des E w i g - G ü l t i g e n einheimisch, aus ihr seine Vollmacht herleitend zu glauben. So begegnet hier das Vordringen des geschichtlichen Gedankens dem härtesten Widerstand; eben deshalb m u ß er an dieser Stelle durchgestoßen haben, u m sich nach Gebühr ausbreiten zu können.

Das Bild, das die Welt des Sittlichen n a c h diesem D u r c h b r u c h b i e t e t , h a t H e r d e r zwar nicht in der Strenge begrifflicher D a r l e g u n g e n t w i c k e l t ; aber das A u f l e u c h t e n seiner b i l d k r ä f t i g w i r k e n d e n I n t u i t i o n e n genügt, u m uns den ganzen A b s t a n d v o n der blutleeren E t h i k des „ n a t ü r l i c h e n S y s t e m s " ermessen zu lassen. Wie eine z u m vollen Bewußtsein e r s t a r k t e Historie es a b l e h n t , irgendeine E r s c h e i n u n g der menschlichen Welt an-

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ders als aus sich selbst heraus zu verstehen, anders als aus dem in ihr selbst eingelagerten Wertgehalt heraus zu würdigen; wie nichts ihr bloß als Vorstufe zu weiter hinausgerückten Zielen, Mittel für außerhalb seiner liegende Zwecke wichtig ist, so bricht Herder auch mit jener pseudo-historischen Behandlung sittlicher Phänomene, die im konkret Gestalteten nichts weiter finden will als die Einkleidung des abstraktidentischen Gebots, als die unvollkommene Vorstufe des demnächst in vernünftiger Klarheit sich Enthüllenden. Sondern, so wie ein jedes in der Welt des Menschlichen dasteht, in der Vollkraft seiner blutdurchströmten Existenz, so stellt es in sich auch sittlich ein Wertgebilde dar, das, so wie es ist, weder jemals wiederkehren noch durch eine „vernünftigere" Fassung des gleichen Gehaltes überholt werden wird. Mit einer damals unerhörten Weitherzigkeit des Verstehens erfaßt Herder Wohlgefühl und Wert einer unreflektierten, aus dem Leben der Gemeinschaft erwachsenen Sittlichkeit, rühmt er die Gesundheit des noch nicht von Zweifeln angefressenen, in der Überlieferung sicher ruhenden Lebenszustandes. Und doch hat dieser Lobpreis der naiven Lebenssicherheit nichts gemein mit jener sentimentalen Verklärung des natürlichen Mustermenschen, in der wir Rousseau schwelgen sahen. Denn so klar wie nur irgendeiner sieht Herder auch die Kehrseite dieser Primitivität: den Wildwuchs der Leidenschaften, die Enge der Vorurteile, die Dumpfheit der Lebenstriebe. Nur daß er im Unterschied von denen, die es der Entwicklung zutrauten, daß sie, diese Mängel Stück für Stück beseitigend, gleichwohl das an jenem Zustand positiv zu Bewertende festhalten, ja weiterhin vervollkommnen könne, Vorzug und Gebrechen überall untrennbar verwachsen sieht — so verwachsen, daß die Menschheit mit jedem Irrtum zugleich einen Wert von sich abtut. Jede Kraft hat die ihr zugehörige Begrenzung bei sich; man muß die Gestalt des Lebens, in der sie sich gesellen, als Ganzes bejahen oder verwerfen, ablassend von dem Wahne, man könne das eine ohne das andere haben. Man sieht: das ist der radikale Bruch mit jenem Entwicklungsschema des „Fortschrittes", nach welchem der Prozeß, das Mangelhafte fort und fort ausscheidend, einen Wertbesitz sich aufsammeln und reinigen läßt. Mit Leidenschaft protestiert Herder gegen eine Vorstellung, nach welcher die endlose Reihe der Generationen sich abmüht an der Herstellung eines Lebenszustandes, dessen Genuß dann schließlich arbeitslos den Letzten zufallen wird. Und sein ganzer Spott trifft den anmaßenden Dünkel jener „Fortgeschrittenen", die, sich als jedes Vorurteils ledige Richter auf dem höchsten Punkte der Entwicklung wähnend, die sittlichen Werte der Menschheitsgeschichte auf der „Kinderwage" ihres aufgeklärten Jahrhunderts abwägen. Wie vermessen muß solches Beginnen vor der allgemeinen Einsicht erscheinen, daß jede Epoche, jede Kultur, jede Nation ihren besonderen Werthorizont hat, aus dessen perspektivischen Bedingungen herauszutreten keinem ihrer Söhne ver-

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gönnt ist. Wenn Herder den berühmten Satz ausspricht, jede Nation habe den Mittelpunkt ihrer Glückseligkeit — und diese fällt für den Jünger Shaftesburys und Leibnizens mit der Sittlichkeit zusammen — i n s i c h , wie jede Kugel ihren Schwerpunkt, so erfüllt sich in ihm dasjenige, was in Leibniz' Gedanken von dem Perspektivismus des monadischen Weltbildes angelegt war, ohne im Rahmen seines Systems zur Entwicklung kommen zu können. Wenn aber Herder den Entwicklungszusammenhang zerstört, den das Fortschrittsschema behauptet, so ist er ferne davon, den Gang des menschlichen Werdens in eine Vielheit getrennter Lebensläufe und Wert- 10 reiche auseinanderfallen zu lassen. Im Gegenteil: gerade dies macht Eigenart und Größe seiner Weltauffassung aus, daß sie Gestaltenbesonderung und Alleinheit des Lebens gleich eindringlich empfindet und ausprägt. Gewiß ist es eine große Werkgemeinschaft „bildenden" Tuns, welche die Völker und Epochen bindet; aber dieser Bund der Generationen ist so strukturiert, daß, obwohl in ihm kein Früheres spur- und wirkungslos im Grabe der Vergangenheit versinkt, jeder Menschenkreis die Gesamtaufgabe von seinem Zentrum her aufs neue in Angriff nehmen muß. Nichts wird hier fertig übernommen und einverleibt; alles muß aus dem eigenen Wesensgrund neu geboren werden, auf daß es ihm Er- 20 füllung seiner Wertmöglichkeiten sein könnte. Vor dem Bilde des Reichtums, den der so sich ausgliedernde Kosmos der sittlichen Menschheit ans Licht bringt, fallt der Gedanke zusammen, alles dies sei n u r relativ gleichgültige Abwandlung eines sich gleichbleibenden Themas. Hinter dem bis ins Unendliche hinein sich konkretisierenden Lebensganzen der gestaltgewordenen Sittlichkeit verschwindet das abstrakte Gefüge allgemeingültiger Normen. Und auch eine weitere Schwierigkeit der ethischen Reflexion löst sich innerhalb dieses Ideenkreises in nichts auf: alle die mühseligen Versuche, die Phänomene der Sittlichkeit mit dem Tatbestand „Gesellschaft" durch ein atomisierend-summierendes Verfahren in Verbindung zu bringen, werden gegenstandslos innerhalb einer Gesamtkonstruktion des geistigen Kosmos, die den geschichtlichen Gemeinschaften die gleiche Ursprünglichkeit vollkraftigen Lebens zuspricht wie dem in ihrem Schöße erblühenden persönlichen Leben. Hier ist Sittlichkeit ebensowenig Bindemittel einer von Individuen erst zu schaffenden wie D i k t a t einer von Individuen bereits geschaffenen Gesellschaft: sie wird, lebt und vollendet sich in jenem Ineinanderweben personaler und transpersonaler Kräfte, das jene ganze Fragestellung Lügen straft. Wiedergewonnen ist d a m i t in gesteigerter Bewußtheit jene Wahrheit, der das mittelalterliche Lebensbewußtsein nahe war, wenn es sich von der mystischen Einheit des in Gott geeinten Leibes der Christenheit umfangen und durchdrungen f ü h l t e : die Wahrheit von der Wesenhaftigkeit und Gemeinbürgschaft des sittlichen „ K ö r p e r s " . Freilich zeigt sich bei diesem verheißungsvollen Vorstoß in das Reich der konkreten Sittlichkeit: umsonst gewinnt sich der Geist kein StUck seiner Herrschaft. Neue Ausblicke bedeuten zugleich neue Möglichkeiten des Fehlgehens. Leicht unterliegt die philosophische Reflexion, ist ihr einmal die Überschneidung zweier bis dahin falschlich geschiedener Problemkreise bemerklich geworden, der Versuchung, die neue Fragestellung dadurch zu vereinfachen, daß sie den einen von beiden schlechthin in den anderen aufgehen läßt. In unserem Falle steht es so, daß solche Mediatisierung leichter der Ethik als der Historie widerfährt. Denn die blühende, vollsaftige Wirklichkeit der Gestalten, die sich auf der Bühne der Geschichte drängen, zeugt so unwiderstehlich f ü r die Fülle

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ihres lebendigen Gehalts, nimmt dnrch sie den betrachtenden Geist so ganz gefangen, daß er leicht bereit ist, das Sittliche in diese Wirklichkeit eingelagert, j a im Grunde mit den sie regierenden Prinzipien identisch zu glauben. Auf den Boden einer geschichtlich orientierten Betrachtung verpflanzt sich damit eine Neigung, die uns in den mancherlei Fassungen der „natürlichen" Ethik schon bemerklich wurde: die Neigung, Sittlichkeit in nichts anderem als in dem wesensgetreuen Emporwachsen des keimhaft in der Realität der Dinge Angelegten zu suchen. Wie sollte nicht der, der mit einem zugleich religiös inspirierten und ästhetisch beschwingten Willen zum Allverstehen und Allgenießen an die historische Menschheit herantritt, dieser Neigung am wenigsten widerstehen! Und hier wie dort die gleiche Wirkung: die Objektivität der sittlichen Forderung, die Spannung zwischen der Realität des Erlebens und der Idee droht in der Zielstrebigkeit eines ganz und gar sich selbst gehörenden und gehorchenden Lebensdranges zu zergehen. Hier zeigt sich von der Kehrseite her, daß für den Geltungsanspruch des sittlich Gebotenen immer da am besten gesorgt ist, wo diese Geltung als A l l g e m e i n g ü l t i g k e i t sich so unzweideutig gegen den Linienfluß der Lebenswirklichkeit absetzt.

K e i n Zweifel also, daß Herder den dualistischen Motiven der sittlichen Problemwelt nicht ihr Recht läßt. J a , wenn Herder innerhalb der W e l t der Geschichte diese Spannung beseitigt, so wiederholt sich der gleiche V o r g a n g in erweitertem Rahmen, weil er nun diese Welt der geschichtlichen Menschheit als Ganzes ihrerseits einbettet in den Schoß der sie erzeugenden und nährenden Allmutter N a t u r . Wiederum ohne Bruch und A b f a l l von sich selbst, in stetigem Fortgange des Werdens glaubt er die Gestalten der historischen Menschheit sich an die untergeistigen Formen der Lebensentfaltung anschließen zu sehen. D a m i t wird aber auch die in die Menschheitskultur hineingeflochtene Gestaltung der Sittlichkeit zur Äußerung derselben Bildkräfte, die die sichtbare Wirklichkeit zu ihrer Form gelangen lassen. Abermals sehen wir damit Sittlichkeit eingebettet in die „ N a t u r " — aber es ist wieder einmal eine ganz andere N a t u r als diejenige, als deren W e r k wir sie bisher ausgegeben fanden. Nicht umsonst ist Herder auf dem Wege über die Anschauung der Geschichte zu seinem Naturbegriff gelangt. Es ist die im prägnanten Sinne l e b e n d i g e Natur, in der er die göttliche Mutter der historischen Menschheit v e r e h r t ; religiöse Ahnungen, ästhetische Stimmungen, metaphysische A n n a h m e n durchdringen sich in diesem Naturbegriff zu einem Ganzen, aus dem sich dann natürlich unschwer alles und so auch die Wunderwelt der historischen Menschheit hervorzaubern läßt. So in die Alleinheit des Lebendigen zurückgeführt, gilt dann natürlich die Menschheit, gerade wenn sie ihre Sittlichkeit findet, als teilhaftig der zwiespaltlosen Seligkeit, in der das organische Leben sich wiegt. N u r an einer Stelle findet diese „harmonische" Kulturauffassung einen A n s t o ß , mit dem sie nicht fertig wird. Der wohlbestellte Garten der K u l t u r und Humanität wird immer v o n neuem verwüstet durch die Einbrüche der Gewalten, die der S t a a t entfesselt. Ohne sich in grundsätzlicher Erörterung auf das Problem „ S t a a t und Sittlichkeit" einzulassen, hält Herder mit einem Stimmungsurteil nicht zurück, das die Tendenzen der staatlichen Selbstbehauptung und Machterweiterung,

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dazu die F o r m e n u n d Mittel staatlicher Z u s a m m e n f a s s u n g — zumal di* a b s t r a k t - n a t u r r e c h t l i c h b e g r ü n d e t e n — als die s t e t e B e d r o h u n g des Geistes u n d der H u m a n i t ä t v e r d a m m t . Die inneren K o n f l i k t e der K u l t u r welt, i m Gegensatz zu dem Kulturpessimismus eines R o u s s e a u im Grundsächlichen g e b a n n t , brechen an dieser einen Stelle doch wieder hervor. U m entdecken zu können, was gerade hier a n ethischen Problemen im H i n t e r g r u n d e lag, dazu h a t H e r d e r nicht lange u n d eindringlich genug bei diesem Gegenstande verweilt. W e n n so die Herdersche Geschichts-Metaphysik bzw. die N a t u r Metaphysik, zu der sie sich ausbreitet, mit der A u f l ö s u n g der Region des N o r m a t i v e n alle die Schwierigkeiten h e r a u f b e s c h w ö r t , die uns Heutigen u n t e r d e m N a m e n des „ R e l a t i v i s m u s " u n d „ H i s t o r i s m u s " n u r allzu geläufig sind, so stellt uns dies aufs neue vor eine F r a g e , die schon die vorausgegangene Ideenbewegung a n m e h r als einer Stelle nahelegte: ob etwa die O b j e k t i v i t ä t , das Insichselbstberuhen, der gebietende Char a k t e r des Sittlichen ü b e r h a u p t nicht anders d e n n in F o r m des A l l g e m e i n e n gewahrt werden könne. D e n n nach der bisher b e t r a c h t e t e n E n t w i c k l u n g m ö c h t e es doch f a s t scheinen, d a ß , wer die O b j e k t i v i t ä t des sittlichen Gehaltes sicherstellen will, sie notwendig auf die a b s t r a k t e Allgemeinheit des Gesetzes z u r ü c k f ü h r e n m u ß — wer der k o n k r e t e n Besonderheit der „ G e s t a l t " sittliche Erheblichkeit b e i m i ß t , die in sich selbst gegründete I d e a l i t ä t des Sittlichen aufzugeben n i c h t u m h i n k a n n . E s ist eine Alternative, die sich m i t besonderer Eindringlichkeit ausprägt, wenn wir den Blick v o n H e r d e r auf K a n t lenken. J. G. H e r d e r , Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit 1774; Vom Erkennen und Empfinden der menschlichen Seele 1778; Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit 1784—1791.

2. K A N T . Gerade wenn m a n sie an die Seite Herders stellt, t r e t e n a n der Denkerpersönlichkeit K a n t s diejenigen Züge beherrschend hervor, die dazu einladen, ihn den vorwiegend v o n t h e o r e t i s c h e n Motiven beherrschten L e b e n s b e t r a c h t e r n einzureihen. Indessen ist es n u r die v o n dem reifen K a n t gewählte systematische F o r m der Darlegung, die diesen E i n d r u c k b e g ü n s t i g t ; eine eingehende P r ü f u n g sowohl der D o k u m e n t e seiner E n t wicklung wie der W e r k e seiner Vollendung läßt keinen Zweifel über die beherrschende Stellung, die auch in seinem D e n k e n Bedürfnisse u n d Antriebe von d u r c h a u s ü b e r t h e o r e t i s c h e r A r t e i n n a h m e n . Die Lehre v o m „ P r i m a t der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t " ist nicht ein bloßes Theorem, sondern gedanklicher Niederschlag einer ursprünglichen u n d erlebten Gewißheit. J a , den Vorrang, die Führerrolle des P r a k t i s c h e n h a t er wie keiner vor ihm gegen jeden Zweifel, jede B e e i n t r ä c h t i g u n g sicherzustellen g e t r a c h t e t : wenn er alle E r k e n n t n i s b e m ü h u n g e n des menschlichen Geistes

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an den Grenzen der praktischen Sphäre Halt machen heißt, so ist diese Entscheidung in erster Linie nicht in ihrem negativen Sinne, d. h. als skeptische Zurückweisung der theoretischen, sondern positiv als Souveränitätserklärung der sittlichen Vernunft zu verstehen. Durch ein Hineinreden der Theorie könnte nach K a n t s Dafürhalten das höchste Vermögen des Menschen nur entweiht, beirrt, sich selbst e n t f r e m d e t werden. Aber K a n t weist die erkennende Vernunft nicht etwa n u r insoweit in ihre Schranken zurück, als er ihr jedes Recht, ja jede Möglichkeit bestreitet, ihre Aussagen in das einzumischen, was die sittliche Vern u n f t , das Gewissen dem Menschen gebietet; er hält sie nicht nur der idealen Sphäre des G e s o l l t e n ferne — sondern er erklärt sie auch f ü r völlig unvermögend, die inneren Geschehnisse auch nur zu Gesicht zu bekommen, geschweige denn zu „erklären", in denen ein Sollen als solches erfaßt, b e j a h t und in eine Willensentscheidung umgesetzt wird. Nicht nur der ideale Gehalt, sondern auch das reale Erleben des Sittlichen bleibt ihr unweigerlich verschlossen. Anders kann es nicht sein: der Glaube an die Möglichkeit, daß die theoretische Vernunft die fraglichen Vorgänge denkend erfassen könnte, wäre gleichbedeutend mit der Annahme, d a ß diese Vorgänge sich in das eine große Gefüge der kategorial geordneten „ E r f a h r u n g " als Glieder einfügten. Denn jede Erkenntnis von Wirklichem ist an dieses Gefüge als den Inbegriff ihrer n u r denkbaren Objekte gebunden. Damit aber wären sie zurückgeführt auf dieselbe kausale Notwendigkeit, die das Gesamtreich der erfahrbaren „ N a t u r " in allen Teilen durchwaltet; u n d so hineingestellt in das kausale Getriebe des natürlichen Universums, aus dem sie mit unausweichlicher Notwendigkeit hervorgehen, könnten sie unmöglich z u g l e i c h begriffen werden als gewirkt aus der K r a f t einer sittlichen, d. i. einer freien, der Kausalität enthobenen Entscheidung. Wer diese Gedankenfolge als zwingend anerkennt, f ü r den heißt, der theoretischen Vernunft das sittliche Erlebnis als auch n u r denkbares Objekt entziehen, so viel wie: die Möglichkeit der sittlichen Entscheidung retten. Wir sind hiermit zu einer Theorie des Sittlichen gelangt, in der sich die e i n e der Möglichkeiten am vollkommensten realisiert, die der Zerfall der mittelalterlichen Lebensansicht eröffnet h a t t e : völlige Trennung der E t h i k als der Lehre vom S o l l e n von jeder n u r denkbaren Theorie dessen, was i s t . I n der kantischen E t h i k werden alle bisherigen Bemühungen u m die philosophische Begründung des Sittlichen nicht etwa nur in ihren Ergebnissen, sondern schon in ihrem ersten Ansatz verworfen. Denn ob die moralphilosophische Reflexion in einer exaktnaturwissenschaftlichen bzw. psychologisch-empirischen Theorie — oder ob sie in einer spekulativen Metaphysik ihren Rückhalt gesucht h a t t e , hier wie dort h a t t e sie sich von einer wirklichen oder vermeintlichen Kenntnis dessen, was i s t , leiten lassen. Und es war K a n t s Meinung, daß diese Kenntnis, je mehr sie eine solche in der T a t war, u m so un-

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tauglicher zu dieser F u n k t i o n w a r , j e b r a u c h b a r e r sie aber i h r e m I n h a l t nach f ü r sie gewesen wäre, u m so weniger den N a m e n „ K e n n t n i s " verdiente. E i n e empirisch-beobachtende E r f o r s c h u n g des Seelenlebens, wie sie die E n g l ä n d e r inauguriert h a t t e n , h a t K a n t n i c h t n u r f ü r möglich u n d erfolgverheißend angesehen, sondern auch selbst g e ü b t : a b e r was sie ans Licht stellte, das war f ü r ihn nichts anderes als das in Gestalt des menschlichen Seelenlebens vorliegende S t ü c k „ N a t u r " , ein A u s s c h n i t t aus d e m großen Getriebe der kausalen Notwendigkeit, in d e m v o n der Freiheit der sittlichen E n t s c h e i d u n g etwas v o r f i n d e n zu wollen schlechthin sinnwidrig w a r . U n d die m e t a p h y s i s c h e n Spekulationen v o n A u f b a u u n d Wesen des Universums, v o n S u b s t a n z u n d E n t w i c k l u n g d e r Seele d ü r f e n i m Sinne K a n t s u m so weniger den R a n g v o n wirklicher E r k e n n t nis f ü r sich in A n s p r u c h n e h m e n , j e eher die sittliche Freiheit in ihnen P l a t z f i n d e n k a n n . D e n n d a m i t , d a ß sie ihr A u f n a h m e gewähren oder sie gar z u m obersten Prinzip erhöhen, beweisen sie j a aufs unzweideutigste, d a ß sie m i t wirklicher E r f a h r u n g — als welche unweigerlich auf die kategorial geformte, kausal g e b u n d e n e N a t u r eingeschränkt ist — nicht das mindeste zu t u n h a b e n , also nichts weiter als L u f t g e b ä u d e des seine Grenzen v e r k e n n e n d e n Menschengeistes sind. Ergebnis also: die p r a k tische V e r n u n f t scheide sich sowohl v o n einer empirischen E r k e n n t n i s , die implizite ihre Möglichkeit a u f h e b t , als auch v o n einer Metaphysik, deren Fragwürdigkeit sich auf sie selbst übertragen w ü r d e . S a h e n wir bisher die ethische E r ö r t e r u n g sich konzentrieren auf den Gegensatz zweier in ihren methodischen Grundlagen wie in ihren sachlichen Ergebnissen sich scharf unterscheidenden Auffassungen v o n der S t r u k t u r der menschlich-seelischen Wirklichkeit, die die S t ä t t e ethischer Erleb» nisse bildet, so wird hier, i m schärfsten Widerspruch gegen die eine wie die andere, der Verzicht auf j e d e theoretische G r u n d l e g u n g solcher A r t zum Prinzip erhoben — u n d dies nicht, u m der Sittlichkeit ein F u n d a m e n t zu entziehen, sondern d a m i t sie, v o n fragwürdiger Bundesgenossenschaft erlöst, im eigenen Reiche ganz u n d gar sich selbst gehöre. Wir dürfen als einem wesentlichen E r t r a g dieser Kritik zunächst einmal dies festhalten, d a ß niemals die Ansprüche, die eine auch nnr irgendwie an naturwissenschaftlichen Vorbildern orientierte Denkweise auf den ethischen Problemkreis erheben kann, so radikal zu nichte gemacht worden sind, wie durch K a n t s R e t t u n g der „praktischen V e r n u n f t " . Ohne sich mit den hier wiederholt angedeuteten kritischen Erwägungen zu decken, h a t doch auch seine Überprüfung der ethischen Systeme dies zum wesentlichen Ziel, zunächst einmal die ideelle Region des Sittlichen vor jeder Auflösung in die zeitliche Abfolge kausal angereihter Naturprozesse und zumal in das Geschiebe assoziativ oder sonstwie verbundener Seelenregungen zu bewahren. Der S i n n , der Eigenbestand des sittlichen Gehalts taucht wieder empor. Des weiteren aber macht dies die Bedeutung der kantischen Kritik aus, daß sie in einem und demselben Gedankenzuge dem idealen G e h a l t des Sittlichen und dem sittlichen I c h eine unangreifbare Grundlage gibt. Leicht wird übersehen, daß mechanistische und psychologistische Denkgewöhnungen dem echten Begriff des Ich nicht weniger bedrohlich werden kOnnen als dem Begriff der Idee. K a n t hebt beide in wechselseitiger Stützung aus allen erdenklichen Mißver-

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st&ndnissen heran». Die Art und Weise, wie Ich a n d Idee im sittlichen Erlebnis zusammenkommen, aufeinander bezogen sind, bietet mechanistischen und psychologistischen Denkformen keine Ansatzpunkte. Und zwar vollendet sich diese R e t t n n g erst durch das Übergreifen der gleichen Gedanken auf die Sphäre der theoretischen Erkenntnis. Denn auch deren Gehalt wird j a von einem Ich gedacht, als solcher gewußt. Man lasse sich nicht durch die Reihenfolge, in der K a n t s Kritiken erschienen sind, zu dem Glauben v e r f a h r e n , der kantische Gedanke des Ich sei zunächst entstanden in der Analyse der theoretischen Vernunft und von dort her in die Kritik der praktischen Vernunft übergegangen. Längst ist bemerkt worden, dafi K a n t in der Stellung, die er dem transzendentalen Ich als einem erkennenden anweist, die Bestimmung seiner praktischen Funktion vorbereitet. Und in der T a t : wirkungsvoller, als es schon in der Analyse der theoretischen Vernunft geschieht, kann das Ich nicht gegen die Übergriffe des mechanistischen Denkens gesichert werden. Denn wenn das Ganze von Gegenständen, das uns in unserer E r f a h r u n g als „ N a t u r " gegenflbertritt, nicht, wie es dem unbefangenen Eindruck vork o m m t , fertig vorgefunden wird, sondern erst durch die kategoriale Formung, die es von Seiten des erkennenden Geistes erfährt, zu einem geordneten und begreiflichen Ganzen wird, wenn „ N a t u r " durch die „gesetzgebende" Tätigkeit, die Synthesis des transzendentalen Ich Oberhaupt erst zustandekommt — wie bliebe dann noch der Ged a n k e vollziehbar, daß dies Ich der von ihm selbst erst geschaffenen kausalen Ordnung dieser N a t u r seinerseits als Gegenstand wie andere auch einzureihen sei! Nichts gemein h a t also d a s Ich, das die N a t u r denkt, mit jenem „empirischen" Ich, das als Stück dieser N a t u r gedacht wird. Undenkbar, das Ich endgültiger der Macht eines gesetzlichen Zusammenhanges zu entziehen als dadurch, d a ß m a n diesen Zusammenhang als einen von i h m selbst im Denken erst gestifteten erweist. Zweifellos h a t K a n t mit der Durchf ü h r u n g des transzendentalen Gedankens das f ü r die Ethik so grundlegende Prinzip des Ich mit einer Folgerichtigkeit festgelegt, die L e i b n i z in der Ausführung nahe verwandter Gedanken noch h a t t e vermissen lassen. Und wie weit ist vollends ein H e r d e r , der es bei gefühlsmäßigen Protesten gegen den Mechanismus bewenden läßt und sich im übrigen auf die Überzeugungskraft seiner Intuitionen zurückzieht, hinter einer Ged a n k e n f ü h r u n g zurückgeblieben, die, den Mechanismus innerhalb seiner Grenzen bejahend, j a bewundernd, gleichwohl ihn recht von innen heraus und durch sich selbst, durch den Rückgang auf seine Wurzeln, überwindet.

Wie man sieht, verknüpft Kant im Begriff des Ich wieder einmal Ethik und Erkenntnistheorie, die sich von ihrer früheren Nähe recht weit entfernt hatten. Aber höchst lehrreich ist es, zu sehen, wie völlig sich der Aspekt hier geändert hat. Damals — besonders deutlich bei H o b b e s — mußte das Ich als ein e r k a n n t e s sich dem Zusammenhange der Natur einfügen, d. h. in Wahrheit „entselbsten" lassen — hier sehen wir das Ich als ein e r k e n n e n d e s sich dem Zusammenhange der 40 Natur gegenüberstellen. Und auch hier, genau wie im Herrschaftsbereich der praktischen Vernunft, steht es so, daß Ich und ideeller Gehalt sich gegenseitig ihre Wesentlichkeit verbürgen. Denn die Objektivität des ideellen Gehalts — der „Erfahrung" — besteht in dem Gesetzescharakter, den ihm das Ich kraft der in ihm waltenden unabänderlichen Ordnungsprinzipien verleiht — und das Ich empfängt seine Beglaubigung aus dem Geltungsgehalt seiner Erkenntnis.

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W e n n aber K a n t dasjenige Ich, dem als Subjekt wie die theoretischen so auch die sittlichen Erlebnisse zugehOren, so endgültig dem Machtbereich aller kausal-mechanistischen Denkformen enthebt, h a t er es damit zugleich so ganz und gar der Gerechtsame der praktischen Vernunft überwiesen, daß der e r k e n n e n d e Geist in allem, was das

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Ich angeht, Oberhaupt nicht mitzureden h ä t t e ? Ist mit anderen Worten diese Problemaufteilung «wischen theoretischer und praktischer Vernunft berechtigt und erschöpfend ? So wäre es, wenn es keine andere Art der Erkenntnis von Wirklichem gäbe als diejenige, der allerdings K a n t selbst einzig diesen Titel zuzugestehen bereit ist: die exakt-naturwissenschaftliche. D a ß K a n t damit die Grenzen möglicher Erkenntnis zu eng gezogen hat, darüber brauchen wir a n s nicht erst von der späteren Entwicklung der Wissenschaft belehren zu lassen; das verrät uns — er selber, und zwar nicht zum wenigsten in den Gedankengängen, die uns gerade beschäftigt haben. Denn das, was er über das Ich und seine Funktionen aussagt, was ist es denn, wenn nicht Erkenntnis ? Gewiß glaubt K a n t es der Reinheit der praktischen Vernunft schuldig zu sein, nach Möglichkeit alles fernzuhalten oder zurückzudrängen, was nach einer theoretischen Bestimmung, einer begrifflichen Festlegung dieses Ichs aussieht; gewiß bemüht er sich aufs angelegentlichste, wenn auch nicht mit unbedingtem Erfolge, solchen Wendungen aus dem Wege zu gehen, die als Aussagen über die r e a l e B e s c h a f f e n h e i t , etwa die psychische Organisation, dieses Ich verstanden werden könnten; gewiß hütet er sich sorgsam, die kategoriale Funktion des Ich auf „angeborene Anlagen" zurückzuführen. Was wir über das Ich hören, das bezieht sich durchweg auf die von ihm gedachten, konstruierten, erlebten G e h a l t e , seine Erfahrungen, seine sittlichen Imperative; nicht nach dem, was es i s t , sondern nach dem, was es d e n k t , wird es charakterisiert. Aber wenn auch das Ich dergestalt, eigener qualitativer Attribute ledig, gleichsam zu dem Punkt zusammenschrumpft, von dem die auf die Inhaltlichkeit gerichteten Intentionen ausstrahlen — theoretisch bestimmt zu sein würde dies Ich erst in dem Augenblick aufhören, da es sich zu einem Wort verflüchtigte, d. h. da es nichts weiter wäre als eine andere Bezeichnung, ein Sammelname f ü r jene Inhalte. Davon aber ist bei Kant nun und nimmer die Rede. Das „ I c h denke", das nach ihm „alle meine Vorstellungen muß begleiten können", zeigt deutlich genug, d a ß dies Ich ein zu diesen Inhalten Hinzukommendes, also ein in seiner Beziehung auf sie von ihnen sich Unterscheidendes ist. Wenn auch in noch so weitgehender transzendentaler Verdünnung — es bleibt in allen hierher gehörigen Aussagen von K a n t die Relation zwischen einem Etwas, welches denkt, und einem Etwas, welches von ihm gedacht wird. Das aber ist eben ein t h e o r e t i s c h e r . B e g r i f f vom Ich und seinen Funktionen. Wenn aber demnach K a n t , so wenig er es selbst wahr haben will, das transzendentale Ich zum Gegenstand von Aussagen macht, die als solche im Zusammenhange der kategorial geordneten Erfahrung keinen Platz haben können — welches ist dann der logische Ort der hier vorliegenden Erkenntnisse, den selbst zu bestimmen sich Kant durch seine eigenen erkenntnistheoretischen Voraussetzungen unmöglich gemacht h a t ? Jene Aussagen über das Ich — auch sie legen, wenn auch in transzendentaler Reduktion, etwas bloß von der innersten Struktur des Geistes, j a es ist in Wahrheit eine U r r e l a t i o n d e r g e i s t i g e n W i r k l i c h k e i t , auf die K a n t durch seine Erkenntnistheorie wie durch seine Ethik hingeführt worden ist. Und so gehören die einschlägigen Gedanken Kants hinein in das Ganze von Bemühungen, Wesen und Aufbau der geistigen Wirklichkeit durch ein den Naturalismus und Psychologismus überwindendes Denkverfahren zu ergründen. Umzäunt von bedächtigen Vorbehalten, von halben Zurücknahmen, wie sie die Metaphysikscheu anrät, bezeichnet doch schließlich der Begriff des transzendentalen Ich die Stelle, an der K a n t s kritisches Denken den Boden jener Problemwelt betritt, die H e r d e r s spekulative Phantasie mit so unbeschwerter Zuversicht durchschweift.

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Sehen wir somit Kant und Herder innerhalb desselben Problemkreises sich begegnen, so fragt es sich doppelt, ob und inwieweit sie in dem, was sie auf ihn Bezügliches zu sagen haben, übereinstimmen, sich ergänzen oder einander widersprechen. Da ist nun vor allem hervorzu- 50 heben, daß Kant mit großer Bestimmtheit einen Sachverhalt in die Erinnerung zurückruft, der in jener Metaphysik des Allebens unterzugehen

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drohte: die Hinwendung des Geistes auf ideale Gehalte, die mehr sind, etwas anderes sind als sublimierte Äußerungen der ihm immanenten Lebensenergien. Und zwar prägt sich dieses strukturelle Motiv gerade im Zusammenhange der kantischen E t h i k a m entschiedensten aus. Denn hier wird aus der polaren Beziehung, der Spannung zwischen dem Ich und dem von ihm erlebten konkreten Sinngehalt geradezu ein G e g e n s a t z v o n nicht zu überbietender Schärfe. Neigte die Denkrichtung, die a n S h a f t e s b u r y und H e r d e r ihre eindrucksvollsten Repräsentanten hat, einer Auffassung des Sittlichen zu, die dieses mit der unverkürzten Aktualisierung des im Lebensgrund Angelegten gleichsetzt, so wird hier das entscheidende Kriterium des sittlich Gebotenen gerade darin gesucht, d a ß es den ursprünglichen Tendenzen des Lebens nicht nur dem R a n g e nach überlegen, sondern auch dem Inhalte nach entgegen ist: seine Qualifikation als sittliches Handeln gewinnt ein T u n erst dadurch, d a ß es sich im K a m p f e gegen diese Tendenzen aktualisiert. K a u m je war der Sachverhalt der „sittlichen F o r d e r u n g " mit solcher Schroffheit allen harmonisierenden Theorien des Sittlichen entgegengesetzt worden. H a t t e n die Moralphilosophen seit Jahrhunderten in wechselnden Formen der Begründung immer wieder N a t u r und V e r n u n f t , N a t u r und Sittlichkeit einander nahezubringen, womöglich in eins zu setzen sich bemüht — hier war ihr Verhältnis als das des ausschließenden Gegensatzes bestimmt. In K a n t s vielberufenem ethischem „ R i g o r i s m u s " , dessen Kerngedanke hier ausgesprochen ist, begegnen sich mächtige Motive der geistigen Überlieferung u n d Dominanten persönlichen Lebens mit den unausweichlichen Folgerungen des methodischen Ansatzes. W a s die Erfahrung als konkreten Gehalt des seelischen Lebens vorfindet, das ganze Spiel der Eindrücke, Vorstellungen, A h n u n g e n , Wollungen, Leidenschaften hatte K a n t s Erkenntnistheorie der empirisch zu erforschenden „ N a t u r " und damit einer Sphäre überwiesen, die, beherrscht von dem unentrinnbaren Gesetz der kausalen Notwendigkeit, einem sittlich verantwortlichen Handeln keinen R a u m ließ. Gerichtet waren damit für K a n t alle diejenigen Theorien des Sittlichen, die den Menschen durch seine Natur, seine Anlagen, durch Gefühle oder Neigungen gleichviel welchen Inhalts zur Sittlichkeit bestimmt glaubten — Theorien übrigens, durch die K a n t in jungen Jahren selbst hindurchgegangen war. Alle Motivationen, die aus Quellen solcher A r t entspringen, sind ihrem Wesen nach „ p a t h o l o g i s c h " , zeigen den Menschen als ein im Naturzusammenhang weitergeschobenes, als ein nicht sich selbst bestimmendes Wesen. N u r wenn und wo er als ein solches handelt, k o m m t das Sittliche überhaupt in Frage. Ist aber einmal das Ich, dem als S u b j e k t ein mögliches Sittliches zugehört, von dieser ganzen Inhaltlichkeit des Seelenlebens abgesperrt, darf es keinem der hier v o r f i n d b a r e n Antriebe bei sich Einlaß gewähren, ohne daß es jenes Ich zu sein aufhörte — so ist die Folgerung unausweichlich, es könne nicht anders als durch Verneinung

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oder Verdrängung schlechthin aller auf jener Seite sich regenden Tendenzen die Sittlichkeit als Entscheidung und Tat wirklich werden. Man bemerke die folgenreiche Verschiebung, die im Laufe des hier angedeuteten Gedankenzuges der Gegensatz erleidet, von dem unsere Betrachtung ausging. Aus der Spannung zwischen einem erlebenden Ich und einem ideellen Gehalt, der ihm als sittliche Forderung gegenttbertritt, wird die Spannung zwischen einem „empirischen I c h " , d. i. jenem psychologisch erforschbaren Inbegriff von erlebten seelischen Vorgingen, und einem „höheren Ich", einem Snbjekt des sittlichen Tuns, f ü r welches dies alles als Qnelle der Willensbestimmung ausscheidet. Unschwer erkennen wir hier jene Schichtung des Ich wieder, in der die ethische Reflexion schon so oft die primäre Bedingung sittlicher Entscheidung gesucht h a t t e . Bei K a n t präzisiert sich diese Scheidung weiterhin unter erkenntnistheoretischem Gesichtspunkt: sie fallt zusammen mit dem Gegensatz zwischen einem Ich, das, der menschlichen Erkenntnis zugänglich, von der Möglichkeit sittlicher Entscheidung ausgeschlossen ist, und einem anderen, das, gerade als das sittlich handelnde charakterisiert, jeder denkbaren Erkenntnis verschlossen, daher in Wahrheit nur ein im „ V e r n u n f t g l a u b e n " angenommenes ist. „ E m p i r i s c h e s I c h " und „ i n t e l l i g i b l e s I c h " — dieses Begriffspaar, das erkenntnistheoretische und ethische Bestimmungen vereinigt, ist der zusammenfassende Ausdruck f ü r die Umgestaltung, die jene Spannung des geistigen Lebens hier erfahrt. Langst h a t die Kritik hervorgehoben, d a ß diese Konstruktion dem Denken Unmögliches z u m u t e t : zwei Iche, im Wesen radikal verschieden, i m Wirken radikal geschieden, dazu auch noch, weil nicht gleicherweise erkennbar, durch das Denken u m keinen Preis zusammenzubringen — dagegen sträubt sich nicht nur ein unbefangener Verstand, der sich nicht ausreden läßt, daß beide Iche doch schließlich e i n s sind, d a ß eben nur deshalb, weil sie identisch sind, der Konflikt, die Gegensätzlichkeit als solche e r l e b t und durchfochten werden k a n n . I n d e m K a n t die Spannung, in der das eine lebendige Ich sich zur sittlichen Forderung stehend weiß, uminterpretiert zum Gegenüber zweier Subjekte, die sich gleich Parteien die Stirne bieten u n d doch wieder nicht recht aneinanderkommen können, läßt er das beste von dem fahren, was sein Begriff des „transzendentalen I c h " ihm eingebracht h a t t e : das allem Mechanismus überlegene Ich wird doch schließlich — mechanistisch zerfällt.

Nicht minder wesentlich aber sind die Folgerungen für die nähere Bestimmung des sittlich Gebotenen, die sich aus der radikalen Trennung des empirischen und des sittlichen Ich ergeben. Dasselbe empirische Ich, von dessen Erlebnisgehalt sich das intelligible Ich so streng absondert, insoweit sich Motive des Wollens von ihm her herandrängen, bleibt ihm nichtsdestoweniger unentbehrlich, weil es ihm den ganzen Inhalt liefert, dessen ein sittlicher Wille bedarf, um real werden zu können. Die „ M a t e r i e d e s W o l l e n s " fällt als solche ganz und gar in die Sphäre des Empirischen. Das ohnehin so dunkle Verhältnis beider Iche wird damit einem Begriffspaar unterstellt, von dem es zum mindesten fraglich ist, ob und wie es sich mit den Aussagen verträgt, in denen jenes Verhältnis bestimmt wurde: dem Begriffspaar „ S t o f f - F o r m " . Wie die kantische Erkenntnistheorie „Erfahrung" entstehen läßt durch das Zusammenkommen des „Materials", daB ein in sich ungeordnetes „Gewühl von Empfindungen" darbietet, mit den ihrerseits des Inhalts entbehrenden, nach Inhalt verlangenden Formprinzipien des transzendentalen Ich, so entsteht für die kantische Ethik das Sittliche durch die Begegnung eines gleichfalls in sich jedes sittlichen Sinnes entbehrenden Rohmaterials von

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seelischen Strebungen m i t einem ebenso inhaltleeren F o r m p r i n z i p des S u b j e k t e s der Sittlichkeit. K a n t ist der Überzeugung, d a ß der sittliche Wille sich nicht anders „ r e i n " , d. h . v o n der Vermischung m i t „ n a t ü r l i c h e n " Motiven, m i t a u ß e r h a l b des Sittlichen liegenden Zwecken frei erhalten k ö n n e als d a d u r c h , d a ß er den formalen C h a r a k t e r seines Prinzips in aller Strenge w a h r t ; ihn inhaltlich, material zu b e s t i m m e n sei j a nicht anders als durch H e r a n z i e h u n g solcher „ n a t ü r l i c h e r " Motive möglich: m i t einer solchen aber sei d a n n die Selbstbestimmung, die Bedingung j e d e r möglichen Sittlichkeit, schon preisgegeben. Bleibt noch die Frage, wie n u n K a n t den vieldeutigen Begriff der „ F o r m " des sittlichen Willens n ä h e r festlegt. D a t a u c h t n u n eine Bes t i m m u n g auf, die schon eine lange Geschichte h i n t e r sich h a t t e : das F o r m p r i n z i p des Sittlichen fällt z u s a m m e n m i t d e m Prinzip der a l l g e m e i n e n G e s e t z l i c h k e i t . Folgendes verlangt K a n t s „kategorischer I m p e r a t i v " v o n der Willensentscheidung, die als sittlich zu qualifizieren ist. E i n m a l m u ß die ihr zugrunde liegende Maxime geeignet sein, in verallgemeinerter F o r m , als „ P r i n z i p " , in eine „sittliche Gesetzgebung" a u f g e n o m m e n zu werden. Aber es genügt nicht, d a ß der Gehalt der Maxime von dieser Beschaffenheit ist, sondern das S u b j e k t m u ß auch u m sie, u m ihre Verallgemeinerungsfähigkeit w i s s e n , j a , es m u ß gerade dies Wissen die Grundlage der E n t s c h e i d u n g bilden, d e n n n u r in diesem Falle ist es die „ r e i n e F o r m " , n a c h deren Maßgabe die E n t s c h e i d u n g erfolgt. Das als solches g e w u ß t e allgemeingültige Gesetz r ü c k t so in den B r e n n p u n k t der sittlichen Sinnsphäre. So sehen wir uns in den Kreis d e r ethischen Theorien z u r ü c k g e f ü h r t , die die ideelle O b j e k t i v i t ä t des sittlichen Gebotenen mit seiner Allgemeingültigkeit in eins setzen. Aber diese Ü b e r e i n s t i m m u n g der logischen F o r m darf eine wesentliche Abweichung nicht vergessen machen. K a n t w ü r d e die Autonomie der sittlichen E n t s c h e i d u n g auch in dem Falle aufgehoben glauben, wenn sie — u m M e n d e l s s o h n s Formulierung heranzuziehen — in der bloßen S u b s u m p t i o n des Einzelfalles u n t e r ein vollinhaltlich irgendwie vorgegebenes Gesetz b e s t ä n d e . Das „ G e s e t z " ist nicht ein bloße Befolgung verlangender a u s g e f ü h r t e r K a n o n des Gebotenen u n d Verbotenen, sondern ein vom Menschen im Einzelfalle selbst inhaltlich erst auszufüllendes Formalprinzip. Die sittliche E n t s c h e i d u n g b e w ä h r t auch d a r i n ihre Autonomie, d a ß sie die der besonderen Lage zuzuordnende allgemeine Regel des H a n d e l n s selbst einsichtig b e s t i m m t — wobei u n e r ö r t e r t bleiben möge, inwieweit die v o n K a n t so b e s t i m m t e Leistung d e m Ich durchweg z u g e m u t e t werden k a n n . D a ß nicht eine v o m Ich vorgefundene, sondern eine v o n ihm zu stiftende Gesetzlichkeit den sittlichen Gehalt der H a n d lung a u s m a c h t — darin vollendet sich der Parallclismus der F u n k t i o n e n , die d e m Ich als d e m Träger der „ E r f a h r u n g " einerseits, dem Träger der Sittlichkeit andererseits z u k o m m e n : hier wie dort ist es eine aus der Spont a n e i t ä t dieses Ich entquellende „ G e s e t z g e b u n g " , die in einem dar-

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gebotenen Rohstoff eine ihm an sich fremde O r d n u n g herstellt. Man wird fragen dürfen, ob dieser Parallelismus nicht beweist, wie stark selbst d e r Denker sich von dem gedanklichen Schema der Gesetzeswissenschaft h a t gefangen nehmen lassen, der in anderer Beziehung ihren Bann am wirksamsten gebrochen h a t . Selbst wenn indessen methodische Analogien solcher A r t nicht ohne E i n f l u ß auf die Fassung und Begründung des ethischen Gesetzesbegriffes bei K a n t gewesen sein sollten, so h a t das nicht gehindert, daß das so gewonnene ethische Prinzip sich mit der ganzen W ä r m e persönlicher Hingabe erfüllte, die nur ein w a h r h a f t erlebtes Wertideal auf sich zu ziehen vermag. Die strenge Gemessenheit des Vortrags, die K a n t sich durchgängig zum Gesetz macht, weicht gerade u n d n u r dort dem Andränge tieferer seelischer Bewegung, wo er das „Gesetz in meiner B r u s t " als Leitstern des Lebens und als Bürgschaft der Menschenwürde aufleuchten sieht. Dieser Aufschwung des Gemütes ist u m so lehrreicher, als er sich mit den Grundprinzipien der Ethik der „ V e r n u n f t " in Widerspruch zu setzen scheint. Denn ist es nicht etwa das „ G e f ü h l " des Herzens, was hier f ü r das von der Vernunft konstruierte Ideal Partei ergreift ? Jegliches Gefühl aber steht doch als „pathologische" Affektion des Menschen mit der Vernunft in unausgleichbarem Widerspruch! Es fehlt bei K a n t nicht an Darlegungen, die die hier sichtbar werdende Schwierigkeit zu beheben versuchen. Auf der einen Seite ist er sich darüber nicht im unklaren gewesen, daß ein bloßes Wissen u m die Verallgemeinerungsfähigkeit einer bestimmten Maxime, d a ß die reine „Vorstellung" des Gesetzes als solche doch wohl nicht ohne weiteres die den Willen bewegende K r a f t in sich trägt, deren es zur Überwindung des natürlichen Menschen bedarf — auf der anderen Seite ließen es die grundlegenden Thesen seiner E t h i k nicht zu, das Gefühl als die entscheidende Hilfsk r a f t aufzubieten. Den Ausweg aus dieser Schwierigkeit sucht K a n t in der A n n a h m e einer seelischen Haltung, die er von der Sphäre der Gefühle aufs schärfste glaubt trennen zu können u n d die doch über ein reines Vorstellen hinausgeht: es ist die „ A c h t u n g " vor dem Gesetz. Aber mag es auch ein höchst temperierter Z u s t a n d des Gemüts sein, den dieser so vorsichtig gewählte Begriff meint — er bedeutet darum doch immer noch eine seelische Haltung, in der das Ich von einem Objekt nicht bloß Kenntnis nimmt, sondern es im Sinne einer wertenden E n t scheidung b e j a h t . Es ist aber ein in ganz unzulässigem Sinne verengerter Begriff des Gefühls, der diese Klasse von Erlebnissen von sich ausschließt; ohne eine Parteinahme des Gefühls ist auch der seelische T a t b e s t a n d der „ A c h t u n g " nicht denkbar. So sehen wir hier K a n t gleichsam wider seinen Willen, unter der Deckung eines den Bruch verschleiernden psychologischen Kunstausdrucks, einen Sachverhalt eingestehen, in dem die mechanische Trennung von Gefühl u n d V e r n u n f t , empirischem Ich und intelligibler Sittlichkeit sich a u f h e b t .

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Wenn aber Kant mit diesem Appell an die Bedürfnisse des Herzens die innere Einstimmigkeit seines Systems in Frage stellte — der praktischen Durchsetzung dieses Systems ist es zweifellos zu statten gekommen, daß es mit der Überzeugungskraft methodischer Beweisführung das Pathos des sittlichen Erlebnisses einte. In der Tat hat gerade die transzendentale Ethik Kants die in mancherlei Formen überlieferte Vorstellung, nach welcher jedes sittlich Gebotene sich auf ein G e s e t z , also eine a l l g e m e i n e Regel des Handelns müsse zurückführen lassen, in einem neuen Sinne begründet, ja für nicht Wenige zum Range einer