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German Pages 596 [600] Year 1986
de Gruyter Lehrbuch
Wolfgang Trillhaas
Ethik Dritte, neu bearbeitete und erweiterte Auflage
Walter de Gruyter & Co. Berlin 1970
Die wissenschaftliche Leitung der theologischen Lehrbücher im Rahmen der „de Gruyter Lehrbuch"-Reihe liegt in den Händen des ord. Prof. der Theologie D. Kurt A l a n d , D. D. Diese Bände sind aus der ehemaligen „Sammlung Töpelmann" hervorgegangen.
Ardiiv-Nr. 39 04 703 © 1970 by Walter de Gruyter 8c Co., Berlin 30 Printed in Germany Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in fremde Sprachen, vorbehalten.
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ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, diesel Buch oder Teile daraus auf photomechanisdiem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen. Satz und Druck: Franz Spiller, Berlin
VORWORT ZUR DRITTEN AUFLAGE Der schnelle Wandel unserer Welt fordert auch der Ethik eine schnelle Veränderung ab. Die Notwendigkeit einer Neuauflage bringt das zum Bewußtsein. Die Literatur, vorwiegend aktuelle Monographien und Artikel in Zeitschriften, wird unübersehbar. Man kann keinen Anspruch mehr erheben, sie vollständig berücksichtigt zu haben. Neue Themen melden sich und verlangen eine Antwort. Es sind Themen, die durch keine Tradition gedeckt sind und denen vor uns noch nie ein Mensch nachgedadit hat. Und schließlich verändert sich die Sprache, in der wir sprechen, ebenso schnell wie unbemerkt. Traditionelle Begriffe werden zu leeren Sprachhülsen, „christliche" Motive halten den strengeren Anforderungen einen säkularisierten Argumentation nicht mehr stand. Ich habe seit der letzten Auflage dieses Buches der Explosion der ethischen Thematik in zwei Supplementen Rechnung zu tragen versucht, in den beiden Schriften: Das Evangelium und der Zwang der Wohlstandskultur, Berlin, de Gruyter 1966, und: Sexualethik, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, (1969) 2. Aufl. 1970. Nun aber mußte diese Ethik selbst revidiert werden. Wenn idi recht sehe, ist die Lage auf dem Gebiet der Ethik, der allgemeinen und insbesondere der theologischen gegenwärtig durch zwei wesentliche Erscheinungen gekennzeichnet. Die eine besteht in einer unerhörten Vereinfachung aller Fragen und im Zusammenhang damit in der betonten Praxisbezogenheit. Die andere Tendenz ist die vielschichtige Moralkritik, die bis zur förmlichen Verneinung aller Moral reicht. Beide Erscheinungen verbinden sidi zuweilen, jedenfalls gilt, was die christliche Ethik betrifft, daß diese Erscheinungen alle konfessionellen Grenzen unsichtbar machen. Die Vereinfachungen beginnen mit der sich überall durchsetzenden Beschränkung auf die Sozialethik. Die gesellschaftlichen Verhältnisse können dabei so sehr in der Vordergrund des Interesses treten, daß die Soziologie der Ethik Nachdenken und Arbeit abnimmt und die Normkraft des Faktischen alle anderen Normen überflüssig macht. Es sei denn, daß die Gesellschaft selbst zum Angriffsziel der Ethik gemacht wird und die „Theologie der Revolution" über Notwendigkeit, Pathos und Ziel der gesellschaftlichen Veränderungen spricht. Auch die Situationsethik gehört zu den großen Vereinfachungen der Ethik; denn sie macht alle Normen relativ, weil sie davon durchdrungen ist, daß auch die richtigste Norm das Gute nicht garantiert und andererseits die Liebe alle Hürden der Normen überspringen muß.
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Vorwort
Ich bin weit davon entfernt, mich da auf den J . Burckhardtschen Seufzer über die terribles simplificateurs zurückzuziehen. Denn erstens steckt in diesen Vereinfachungen ein Element der Wahrheit. Zweitens haben sie der Ethik heute weithin im öffentlichen Bewußtsein eine Bresche gebrochen. Weder die christliche Dogmatik noch die Predigt haben so sehr das Ohr der Menschen unserer Zeit wie die zur Praxis, zur Aktion hindrängende Ethik. Idi habe darum so sachgerecht und vorurteilslos wie möglich diese Gedanken in das eigene Denken einbezogen. Die andere Erscheinung der Gegenwart ist die Moralkritik. Sie ist viel älteren Datums und greift auch deswegen viel beunruhigender in die ethische Arbeit ein, weil sie in tiefere wissenschaftliche Gründe hinunterreicht. Es sind wenigstens drei sehr verschiedene Ecken, aus denen ständig ein Erdbeben das Gehäuse einer wissenschaftlichen Ethik bedroht. Es ist einmal die Vielzahl der Moralen. Alle Ethik wacht unduldsam über ihrem Prinzip. Die „reine" Ethik ist immer die „eine" Ethik. Aber „unendlich verschiedenartige kulturelle Ausformungen" (A. Gehlen) sind ebenso wie die Religionsgeschichte der Wurzelboden des Pluralismus der Moralen. Der Gedanke an die „eine" Ethik wächst sozusagen mit der zunehmenden Großräumigkeit des Denkens, aber er beseitigt niemals den Pluralismus der Moralen ganz, z. B. das Nebeneinander von höherer und niederer Moral, von religiöser und areligiöser Ethik. Anders ausgedrückt: Der Pluralismus der Moralen ist selbst ein Thema der wissenschaftlichen Ethik. Und dann die gesellschaftliche Bedingtheit der Moralen! Es ist der in alle Weiten und Tiefen reichende kritische Gesichtspunkt des Marxismus, das Mißtrauen gegen die fiktive Idealität der Ethik. Es gilt, zu erkennen, „daß jede wirtschaftliche und gesellschaftliche Formation ihre Moral als Rechtfertigungsideologie absondert" (Roger Garaudy). Der Moralkodex kann zu einem System der Beherrschung derer werden, die nach diesem Kodex leben. Hier wird sichtbar, daß die wissenschaftliche Ethik als kritische Wissenschaft zu einer Kritik der Moral werden muß. Die Ethik kommt nur so zustande — es ist eine der Grundüberzeugungen dieses Buches —, daß sie sich kritisch von der „Moral" unterscheidet. Die dritte Frage der Moralkritik ist dann die nach dem tatsächlichen Verhalten des wirklichen Menschen. Wie handeln die Menschen wirklich, und warum handeln sie so? Was bedeuten die Analogien im Verhalten von Tier und Mensch? Und ist vielleicht diese geheime „Zweckmäßigkeit" des Verhaltens auch ein legitimes Thema der Ethik? In all diesen Fragen bin ich unvoreingenommen und offen, darum konnte auch das Buch in der neuen Auflage nicht bleiben, was es in den
Vorwort
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vorausgegangenen war. Wir alle atmen den Geist unserer Epoche, sie ist unser Schicksal, und das neuzeitliche Bewußtsein zwingt auch die Theologie zu immer neuer Rechenschaft. Aber wie die neuen Themen ihr Recht haben, so warten die alten Themen im Hintergrund. Sie können über Nacht wieder neue Aktualität gewinnen. In anderem Sinne bleibt das Buch aber seiner besonderen Aufgabe verpflichtet. Es will ein wissenschaftliches Buch sein, soweit eine Ethik das für sidi in Anspruch nehmen kann. Nach einem von Poincaré überlieferten Wort spricht die Wissenschaft im Indikativ, die Moral im Imperativ. Diese Ethik unterscheidet sich audi darin von der „Moral", daß sie es nicht auf Imperative abgesehen hat. Wie sie nicht im Dienste eines herrschenden Moralsystems steht, so ist sie auch nicht Ruf zur Aktion, kein Programm, keine Prophetie. Sie soll der Orientierung des Menschen über sich selbst und seiner unvertretbaren Verantwortung in den verschiedenen Räumen dienen. Dabei können sich praktische Folgerungen aus den Problemanalysen von Fall zu Fall nahelegen, ohne daß sie einen absoluten, programmatischen Charakter annehmen. Ich muß drei weitere Eigentümlichkeiten des Buches nennen, zumal sich einige theologische Kritiker an ihnen gestoßen haben. Da ist zunächst der Ausgangspunkt der Ethik. Ich setze kein dogmatisches Kapitel an den Anfang. Was idi mit der Beschreibung der Ethik als angewandter Anthropologie meine, habe idi im Buch ausgeführt. Ich beginne mit der Befindlichkeit des Menschen, also mit uns selbst; mit dem Menschen, der nicht von vorneherein weiß, wie er handeln soll. Es steht audi keineswegs von vorneherein fest, was eine Situation „christlich" bedeutet und wie eine Entscheidung „christlich" getroffen werden soll. Insofern ist diese Ethik nicht dogmatisch, nicht positioneil, sondern kritisdi, und das Christliche ist nur ein zusätzliches Element des kritischen Nachdenkens. Das mag für das dogmatische Bedürfnis vieler Theologen zu wenig sein — ich vermute aber, daß dieses kritische Konzept ziemlich genau die Wirklichkeit trifft. Dann das Zweite: Immer nodi und immer von neuem sind wir auf der Suche nadi der praktischen Vernunft. Auch in der „theologischen" Ethik muß es um das praktisch-Vernünftige gehen, um das Einleuchtende, um das, worüber man sich mit anderen vernünftigen Menschen verständigen kann. Wollte jemand dagegen halten, es ginge in einer christlichen Ethik doch um den Gehorsam Christi oder um das Reich Gottes, so müßte man ihn fragen, ob damit ein Gegensatz zum Vernünftigen postuliert oder eine christliche Ethik von der Humanität abgespalten werden solle. Auch bei Berufungen auf die christliche Tradition, auch in biblisdien Überlegungen dominiert in einer Ethik die Frage nach der Sinnhaftigkeit. Das Wechselverhältnis mit der Philosophie ist unverzichtbar.
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Vorwort
Schließlich gilt, daß ich in dem Buch um ein Gesamtverständnis bemüht bin. Das ist heute unzeitgemäß. Es ist auch insofern nicht immer vorteilhaft, als in Einzelfragen eine Monographie mehr Ertrag verspricht. Immerhin habe ich ganze Fragenkreise sorgfältig abgeschritten. Gesamtverständnis meint in dem vorliegenden Falle nicht mehr als einen Ariadnefaden, der dazu helfen soll, die Problemfelder aufzuspüren. Jedes dieser Probleme ist dann eine Aufgabe für sich. Die Ordnung der Problemfelder, das, was man die Systematik nennen kann, könnte diskutiert werden. K. Marx hat in der 6. These gegen Feuerbach vom menschlichen Wesen gesagt, es sei in seiner Wirklichkeit das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Frage wäre wohl zu überlegen, ob man aus einer solchen Einsicht heraus nicht die Reihenfolge von Ethik der Person und Sozialethik umkehren sollte. Darüber läßt sich reden. Auch über das Übrige hoffe ich mit unbefangenen Lesern ins Einverständnis zu kommen. Aber was kann man von der Ethik überhaupt erhoffen? Einerseits ist die Ethik heute für viele Menschen der einzige Zugang zur christlichen Wahrheit, die sich theoretisch immer mehr verschließt und nur noch als Hilfe für das Handeln überzeugt. Wir sind in das ethische Zeitalter des Christentums eingetreten. Andererseits sind wir davor gewarnt, die Macht der Ethik zu überschätzen. Die Entwicklung der Kybernetik und ihre Implikationen, die Sorge um die biologische Zukunft des Menschen, seine zunehmende Manipulierbarkeit, das alles stellt uns die umheimlichen Mächte vor Augen, die unser Geschick bestimmen. Was bedeutet die Ethik gegen sie? Aber eben dieselben Bedenken vermitteln auch einen Eindruck davon, daß die Ethik gegenüber allen diesen Zwängen und Vergewaltigungen die Sache des Menschen vertritt. Sogar unter Umständen gegenüber den „gesellschaftlichen Verhältnissen". Herr Assistent Helmut Geiger hat die Literaturangaben überprüft, die Register hergestellt und Korrektur gelesen. Dafür sei ihm herzlich gedankt. Göttingen, den 31. Januar 1970 W. Trillhaas
INHALTSVERZEICHNIS Seite
Vorwort
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Allgemeine Literatur
XIV—XVIII EINLEITUNG
1. Kapitel. Ethik aus dem Evangelium 1. Der christliche Ursprung der christlichen Ethik 2 — 2. Bewahrende und esdiatologisdie Ethik 4 — 3. Dogmatik und Ethik 10. 2. Kapitel. Der Mensch als Problem der Ethik 1. Das doppelte Gesicht der christlichen Ethik 14 — 2. Der anthropologische Sinn der Ethik 19 — 3. Die Entstehung der wissenschaftlichen Ethik 25 — 4. Zur Methode der Ethik 29.
1—14
14—31
I. ANTHROPOLOGISCHE GRUNDBEGRIFFE DER CHRISTLICHEN E T H I K 3. Kapitel. Schöpfung und Gesetz 1. Conditio humana 32 — 2. Die Zerstörungsmacht des Bösen 34 — 3. Das Gesetz als bewahrende Macht 37 — 4. Die Dialektik der Autorität 41.
32—47
4. Kapitel. Die Heiligung 1. Das Uberwindungsmotiv 48 — 2. Zum Begriff der Heiligung 51 — 3. Askese 55.
48—61
5. Kapitel. Die Freiheit 1. Das philosophische Problem der Freiheitslehre 61 — 2. Der christliche Freiheitsbegriff 68.
61—74
II. DAS SITTLICHE BEWUSSTSEIN (Ethik der Person) A. D i e a l l g e m e i n e n s i t t l i c h e n
Grunderfahrungen
6. Kapitel. Der freie Raum (Die Adiaphora) 1. Adiaphoron — zur Geschichte des Begriffs 75 — 2. Die begrenzte Freiheit 78 — 3. Der freie Raum 82.
75—85
7. Kapitel. Die Welt der Forderungen — Die Pflicht 1. Die Struktur der Forderungen 86 — 2. Der Pflichtbegriff 92 — 3. Die Grenzen des Pflichtgedankens 94 — 4. Virtuelle und aktuelle Pflichten 97 — 5. Pflichtenkollisionen 98.
85—99
χ
Vorwort Seite
8. Kapitel. Das Gewissen 1. Die Selbstkundgabe des Gewissens 100 — 2. Nachfolgendes und vorausgehendes Gewissen 103 — 3. Gutes und schlechtes Gewissen 105 — 4. Die Erziehung des Gewissens 107 — 5. Zur Deutung des Gewissens 108 — 6. Entartungserscheinungen des Gewissens 111.
100—112
9. Kapitel. Der gute Wille — Die Gesinnung 112—122 1. Die Auseinandersetzung mit dem Eudämonismus 112 — 2. Gesinnungsethik 115 — 3. Die fundierende Bedeutung der Gesinnung 117. 10. Kapitel. Das Gute und das Richtige 112—138 1. Die sittliche Gutheit 122 — 2. Kritik der reinen Gesinnungsethik 126 — 3. Die Evidenz des Guten 130 — 4. Zurechnung und Verantwortung 133. B. D i e V e r a n t w o r t u n g d e s e i g e n e n
Lebens
11. Kapitel. Die Lebensziele 139—160 1. Lebensgestaltung 139 — 2. Die Lebensziele — Ordnung der Zielsphäre 141 — 3. Die Erkenntnis des Lebenszieles — Typische Störungen 144 — 4. Die Individualisierung des Ethischen 148 — 5. Das Lebensziel und die Zwecke des Lebens 152 — 6. Der Glaube als Zumutung und Hilfe 155. 12. Kapitel. Die Tugenden 160—175 1. Krisis der Tugendlehre 160 — 2. Zur Geschichte der Tugendlehre 162 — 3. Was sind Tugenden? 165 — 4. Entstehung und Entartung der Tugend 170 — 5. Tugend als Gemeinschaftsbezug 173. 13. Kapitel. Gotteskindsdiaft 175—182 1. Wurzel und Wesen der Gotteskindsdiaft 175 — 2. Die Sammlung des inneren Menschen — Das Gebet 179. III. DIE UNS ANVERTRAUTE WELT {Ethik der Natur und der Kultur) Vorbemerkung
. . .
183—185
14. Kapitel. Die Natur 185—198 1. Der Begriff der Natur und unser Verhältnis zu ihm 185 — 2. Die Entdeckung der Natur in der Neuzeit 187 — 3. Theologische Deutung des Naturbegriffs 190 — 4. Sünde und Entartung der Natur 192 — 5. Theleologie der Natur 195. 15. Kapitel. Die Ehrfurcht vor dem Leben (Der Bios) 198—236 1. Die Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung 199 — 2. Geburtenregelung 209 — 3. Die Gesundheit 222 — 4. Ärztliche Manipulation des mensdilidien Lebens 226 — 5. Die Scham 231.
Inhaltsverzeichnis
XI Seite
16. Kapitel. Die Kultur 236—248 1. Kulturfeindschaft des Christentums? 236 — 2. Der Begriff der Kultur 239 — 3. Kultur als Aufgabe der Ethik 243 — 4. Einige offene Fragen christlicher Kulturethik 247. 17. Kapitel. Die Technik 249—267 1. Wesen und Gewinn der Technik 249 — 2. Der Wandel des Menschen im technischen Zeitalter 253 — 3. Ethische Folgerungen 258. 18. Kapitel. Die Wissenschaft 267—275 1. Die Wissenschaft und das Christentum 267 — 2. Zur Ethik der Wissenschaft 270. 19. Kapitel. Die Kunst 275—292 1. Anthropologie der Kunst 277 — 2. Ethik der Kunst 285 — 3. Zum Problem der christlichen Kunst 290.
IV. LEBEN I N GEMEINSCHAFT U N D DIE GESELLSCHAFTLICHEN MÄCHTE (Sozialethik) A. D i e e l e m e n t a r e n
Gemeinschaftsbezüge
20. Kapitel. Der Nächste 293—299 1. Der andere Mensch 293 — 2. Abgrenzung des Begriffs der Nächstenliebe 296 — 3. Die Nächstenliebe im Alltag 297. 21. Kapitel. Ethik der Sprache — Die Wahrheit 299—309 1. Das ethische Interesse am Wahrheitsbegriff 299 — 2. Die Veuleugnung der Wahrheit 303 — 3. Der Eid 304 — 4. Die Wahrhaftigkeit 308. 22. Kapitel. Mann und Frau 309—336 1. Die Geschlechter 309 — 2. Die Ehe 315 — 3. Die Entartung der Geschleditsbeziehungen 331. 23. Kapitel. Die Familie B. V o l k u n d
336—342
Gesellschaft
24. Kapitel. Schichten und Formen der Gesellschaft 343—354 1. Der Begriff der Gesellschaft und seine Bedeutung für die Ethik 343 — 2. Das Volk als Form der Gesellschaft 346 — 3. Tendenzen der modernen Gesellschaftsentwicklung 351. 25. Kapitel. Die Ehre 354—363 1. Die Lebensnotwendigkeit der Ehre 354 — 2. Die äußere Ehre und ihr inneres Maß 356 — 3. Die Verletzlichkeit der Ehre 357 — 4. Relativität der Ehre und „Ehre bei Gott" 360 — 5. Schuld und Vergebung 361.
ΧΠ
Inhaltsverzeichnis Seite
26. Kapitel. Das Eigentum 363—387 Vorbemerkung 363 — 1. Begriff und Arten des Eigentums 365 — 2. Das Recht zum Eigentum 369 — 3. Die innere Stellung zum Eigentum und die Armut 375 — 4. Eigentumsverteilung. Grundsätze einer evangelischen Wirtschaftsethik 379. 27. Kapitel. Beruf und Arbeitswelt 387—409 1. Berufung und Beruf 387 — 2. Die christliche Berufslehre im geschichtlichen Wandel. Kritische Fragen 392 — 3. Der Beruf und die Stände 397 — 4. Berufswelt und persönliche Welt 402 — 5. Mitbestimmungsrecht 408. C. D e r p o l i t i s c h e
Raum
28. Kapitel. Was heißt Politik? 410—420 1. Der politische Schauplatz 411 — 2. Die politische Bewegung und ihr Ziel 414 — 3. Politische Ethik 417. 29. Kapitel. Der Staat 420—438 1. Das Wesen des Staates 420 — 2. Die lutherische Obrigkeitslehre und der moderne Staat 425 — 3. Christliches Regulativ zur modernen Staatsauffassung 433. 30. Kapitel. Das Redit 438—453 1. Die Hoheit des Redits 439 — 2. Das geltende Recht. Erscheinungsformen des Rechts und Wandel der Rechtsauffassung 441 — 3. Die Durchsetzung des Rechts 444 — 4. Rechtsbrudi und Strafe 447 — 5. Zur Frage des Naturrechts 449. 31. Kapitel. Die Demokratie 453—470 1. Der Ursprung der modernen Demokratie 455 — 2. Die Verfassung der Demokratie 461 — 3. Die Kritik an der Demokratie 462 — 4. Ethik der Demokratie 466. 32. Kapitel. Institutionen im Staat 470—479 1. Die Tendenz zur Nivellierung in der Demokratie 470 — 2. Die Institutionen 472 — 3. Ethische Bilanz über die Institutionen im Staat 476. 33. Kapitel. Die Revolution 479—493 1. Zur Soziologie der Revolution 479 — 2. Die Frage des Widerstandsrechts 483 — 3. Ausweitung des Revolutionsbegriffs. Ethik als Antrieb und Skepsis 487. 34. Kapitel. Krieg und Frieden 494—507 1. Der Ausgangspunkt der heutigen Problematik von Krieg und Frieden 494 — 2. Der doppelte Utopismus 496 — 3. Der „klassische" und der moderne Krieg 498 — 4. Wesen und Möglichkeiten des Friedens 503. 35. Kapitel. Außenpolitik als ethisches Problem 507—515 1. Was ist Außenpolitik? 507 — 2. Ethik der äußeren Politik 510.
Inhaltsverzeichnis
XIII Seite
D. D i e K i r c h e a u f
Erden
Vorbemerkung
516
36. Kapitel. Die Kirche als Volk Gottes 517—525 1. Die Leibhaftigkeit der Kirche auf Erden 517 — 2. Volk Gottes und Volkstum 520 — 3. Der Sinn der Volkskirche und ihre Grenzen 522. 37. Kapitel. Die politische Aufgabe der Kirdie (Kirche und Welt) 525—539 1. Die überlieferte Lehre von den beiden Regimenten Gottes 526 — 2. Die Kirdie als Politicum 530 — 3. Die politische Predigt 534. 38. Kapitel. Kirche und christliche Existenz 539—554 1. Die Kirdie als Mutter des Glaubens und die Mündigkeit der Christen 539 — 2. Die Beanspruchung des Christen durch die Kirdie. Der Kirchendienst 541 — 3. Die Aufgabe der Kirche gegenüber den Menschen in der heutigen Welt 546. ABSCHLUSS 39. Kapitel. Macht und Ohnmacht der Ethik 555—563 1. Die neuen Situationen und die Macht der Besinnung 555 — 2. Das außerethische Handeln und die unaufhörliche ethische Forderung 560. Namenregister
564—570
Sachregister
570—578
ALLGEMEINE LITERATUR Evangelische theologische Ethik seit 1800
(Gesamtdarstellungen)
C. F. Stäudlin, Neues Lehrbuch der Moral für Theologen, (1815) 1825 3 — W . M . L . de Wette, Christliche Sittenlehre, 4 Bde, 1819/23 — Fr. H . Chr. Schwarz, Evangelisch-christliche Ethik, 2 Bde, (1821) 1836/37* — Chr. Fr. Ammon, Handbuch der christlichen Sittenlehre, 3 Bde, (1823/29) 1838 2 — W . M . L . de Wette, Vorlesungen über die Sittenlehre, 4 Bde, 1823/24 — L. F. O. Baumgarten-Crusius, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre, 1826 — J . F . B r u c h , Lehrbuch der christlichen Sittenlehre, 2 Bde, 1829/32 — C . I. Nitzsch, System der christlichen Lehre, (1829) 1851 e — L. A. Kahler, Christliche Sittenlehre, l . T e i l , 1833 — W. M. L. de Wette, Lehrbuch der christlichen Sittenlehre und der Geschichte derselben, 1833 — L. A. Kähler, Wissenschaftlicher Abriß der christlichen Sittenlehre, 2 Bde, 1835/37 — C . Daub, Vorlesungen über die Prolegomena zur theologischen Moral und über die Prinzipien der Ethik (Philos, u. theol. Vorl. 3), 1839 — H . Geizer, Die Religion im Leben oder die christliche Sittenlehre, Zürich (1839) 1863 4 — C . Daub, System der theologischen Moral, 2 Bde (Philos, u. theol. Vorl. 4 u. 5), 1840 — E. Sartorius, Die Lehre von der heiligen Liebe oder Grundzüge der evangelisch-kirchlichen Moraltheologie, 4 Bde 1840/56 — H . Merz, Das System der christlichen Sittenlehre in seiner Gestaltung nach den Grundsätzen des Protestantismus im Gegensatz zum Katholizismus, 1841 — A. v. Harleß, Christliche Ethik, (1842) 1893 e — Fr. D . Schleiermacher, Die christliche Sitte, hg. v. L. Jonas, 1843 — R . Rothe, Theologische Ethik, (3 Bde, 1845/48) 5 Bde, 1867/71« — Ph. K . Marheineke, System der theologischen Moral (Theol. Vorl. 1), 1847 — D . Fr. L. Greve, Grundriß der Ethik, 1848 — C. F. Jäger, Die Grundbegriffe der christlichen Sittenlehre nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche, 1856 — Chr. Fr. Schmid, Christliche Sittenlehre, hg. v. A . H e l l e r , (1861) 1867* — A. Wuttke, Handbuch der christlichen Sittenlehre, 2 Bde, 1861/62, 3. Aufl. hg. v. L.Schulze, 1874/75, N D 1886 — Ph. Th. Culmann, Die christliche Ethik, 2 Bde, 1864/66 N D 1926/27 — Chr. Palmer, Die Moral des Christentums, 1864 — B . W e n d t , Kirdilidie Ethik vom Standpunkt der christlichen Freiheit, 2 Bde, 1864/65 — A. v. Oettingen, Die Moralstatistik und die christliche Sittenlehre, I (1868/69), 1882®, I I 1874 — H . L. Martensen, Die christliche Ethik, dt. Ausg., 3 Bde, (1871/78) 1892/94« — A. Fr. Chr. Vilmar, Theologische Moral, hg. v. Chr. Israel, 1871 — R . Kübel, Das christliche Lehrsystem nach der hl. Schrift, 1873 — H . Laichinger, Das System der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, 1876 — J . Chr. K . v. Hofmann, Theologische Ethik, 1878 — J . P. Lange, Grundriß der christlichen Ethik, 1878 — O. Pfleiderer, Grundriß der christlichen Glaubens- und Sittenlehre, (1880) 1898» — J . T . B e c k , Vorlesungen über Christliche Ethik, hg. v. J . Lindenmeyer, 3 Bde, 1882/83 — M. Kähler, Die Wissenschaft der christlichen Lehre, 3. Bd. (1887) 1905» — Fr. H . R . Frank, System der christlichen Sittlichkeit, 2 Bde, 1884/87 — I. A.
Allgemeine Literatur
XV
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ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS AAM
Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München
AC
Apologia Confessionis
BSLK
Die Bekenntnissdiriften der evangelisch-lutherischen Kirche, hg. v. Deutschen Evangelischen Kirchenausschuß, 1930 (3. Aufl. 1956)
CA
Confessio Augustana
CR
Corpus Reformatorum
EKL
Evangelisches Kirchenlexikon. Kirchlich-theologisches Handwörterbuch, hg. v. H . Brunotte u. O. Weber, 1956—59
Epit.
Epitome
ESL
Evangelisches Soziallexikon, hg. v. F. Karrenberg, 1954
EvSth
Evangelisches Staatslexikon, hg. v. H . Kunst u. S. Grundmann, 1966
EvTh
Evangelische Theologie
KuD
Kerygma und Dogma
LThK RE
Lexikon für Theologie und Kirche, 2. Aufl. 1957 ff. Realencyklopädie für protestantische Theologie und Kirche 3. Aufl. 1896—1923.
RGG
Die Religion in Geschichte und Gegenwart, 3. Aufl. 1957 ff.
SD
Solida Declaration
StL
Staatslexikon, hg. v. d. Görres-Gesellschaft, 6. Aufl. 1957 ff.
ThEx
Theologische Existenz heute
ThLZ
Theologisdie Literaturzeitung
ThR
Theologische Rundschau
ThW
Theologisches Wörterbuch zum Neuen Testament, 1933 ff.
WA
Martin Luther: Werke (Weimarer Ausgabe), 1883 ff.
ZEE
Zeitschrift für evangelische Ethik
ZThK
Zeitschrift für Theologie und Kirche
Im übrigen sind die Abkürzungsregeln der R G G S maßgebend.
EINLEITUNG 1. Kapitel Ethik
aus dem
Evangelium
Auf die christliche Ethik richtet sich immer eine starke Erwartung, gleichviel ob sie aus den Voraussetzungen des christlichen Glaubens kommt oder ob sie einem allgemeinen, vielleicht sogar öffentlichen Interesse entspringt. Die c h r i s t l i c h e E r w a r t u n g gilt der ureigenen Frage: Was sollen wir denn tun? (Lk 2, 10. 12. 14) Es ist die Frage nach der Bewährung des Glaubens, nach den Entscheidungen des christlidien Lebens. Sie entspringt dem Bedürfnis, über das Hören des Wortes, über das fromme Beisichselbstsein des Glaubens hinaus sich über das richtige christliche Handeln Gewißheit zu verschaffen, Gott in der Führung des Lebens und in den uns anvertrauten Verantwortungen gehorsam zu sein und alles in allem das Zeugnis des Wortes durch das Zeugnis der Tat zu ergänzen. Die a u ß e r c h r i s t l i c h e Erwartung fragt nach den Konsequenzen des christlichen Glaubens im gesellschaftlichen, vor allem im politischen Bereich, aber sie ist oft auch mit unausgesprochenen persönlichen Anliegen verbunden. Diese Erwartung mag mißtrauisch oder skeptisch sein oder doch auch dem Bedürfnis nach Lebenshilfe entspringen, jedenfalls muß sie sachlich befriedigt werden. Man kann im Blick auf diese Erwartungen von vorneherein annehmen, daß sie nicht mit solchen theologischen Auskünften abgespeist werden können, die ein dogmatisches Studium voraussetzen, die bestimmte historische Thesen neutestamentlicher Wissenschaft voraussetzen oder sich durch falsche Erbaulichkeit gedankliche Anstrengungen ersparen. Die christliche Praxis muß unmittelbar, d. h. nicht durch eine erst vorauszunehmende Dogmatik vermittelt, einleuchten. Die außerchristlichen Erwartungen stellen die christliche Ethik um so mehr vor ein Sprachproblem im tieferen Sinne, als sie sich im Horizont des säkularen Denkens vermitteln muß und dieses säkulare Denken eben vom außerchristlichen Bewußtsein geprägt ist. Wir alle nehmen bewußt oder unbewußt an diesem säkularen Denken teil. Christliche Ethik hat also allemal ein doppeltes Gesicht. Sie muß ebenso wie die Dogmatik die christliche Wahrheit bezeugen. Sie muß 1 Trillhaas, Ethik
2
Einleitung
sogar damit rechnen, daß für viele Menschen unserer Zeit die „praktischen" Zugänge zur christlichen Wahrheit allein noch offen und verheißungsvoll sind. Dann aber: Die christliche Ethik muß als Ethik genau von dem sprechen, was der Gegenstand aller Ethik überhaupt ist, also vom menschlichen Handeln und Sichverhalten, von den Forderungen, unter denen menschliches Dasein steht, und von der Bewältigung dieses unseres irdischen Daseins von einem Tag zum anderen. Sprechen wir zuerst in diesem Kapitel vom einen, dann, im nächsten Kapitel, vom anderen. Handeln wir also zunächst vom christlichen Ursprung einer christlichen Ethik und von den Fragen, welche sich daraus unmittelbar ergeben. Man könnte auch umgekehrt verfahren und mit der allgemeinen ethischen Thematik beginnen, um dann die ganze Fragestellung christlich zu beleuchten und gewissermaßen die christliche Ethik als einen Sonderfall von „Ethik überhaupt" erscheinen zu lassen. Man könnte sich für dieses andere Verfahren auf die Reihenfolge a posteriori unserer persönlichen Genesis berufen: wir werden erst geboren und dann getauft, wir sind nicht von Anfang an Christen, die menschlichen Probleme drängen an uns in einer Dringlichkeit und Unmittelbarkeit heran, d a ß alle christliche Besinnung immer erst etwas Nachgängiges, gleichsam Hinzukommendes an sich hat. D a s alles sollte man nicht einfach leugnen, und das relative Recht dieser anderen Betrachtung wird uns noch beschäftigen. Trotzdem beginnen wir mit dem christlichen Ursprung unserer ethischen Fragestellung. Die Aufgabe der christlichen Ethik ist sui generis, sie ist unmittelbar aus dem Glauben geboren. D a ß sich diese ursprünglich christliche Ethik dann an den allgemein menschlichen Fragen stößt, daß sie sich an ihnen, die eben doch nicht aus ihr selbst stammen, entzündet, daß sie sich von Fall zu Fall in dieser menschlichen, weltlichen Problematik erst orientieren muß, bevor sie sich zur eigenen Entscheidung hindurchfindet, das steht auf einem anderen Blatt.
1. Der christliche Ursprung der christlichen Ethik Von den c h r i s t l i c h e n Wurzeln christlicher Ethik soll zuerst die Rede sein. Auch wenn es keine allgemeine, profane Ethik gäbe, müßte das Nachdenken der Christen zu unserem Thema führen. Dieses eigene und ursprüngliche Anliegen muß die Ethik so elementar und einfach bezeichnen können, daß auch der ungelehrte Christ es als sein eigenes wiedererkennt. Ich möchte hier einige dieser einfachsten und unmittelbar einsehbaren Ursprünge des Nachdenkens über die christliche Praxis nennen. Da ist zunächst die Antwort Jesu an die Pharisäer über das größte Gebot zu nennen ( M t 2 2 , 34—40), daß im D o p p e l g e b o t d e r L i e b e das ganze Gesetz beschlossen sei. Die Liebe ist die Erfüllung des Gesetzes (Rom 13, 10). Dieser Grundgedanke kehrt in den ver-
Der diristlidic Ursprung der christlichen Ethik
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schiedensten Wendungen im Evangelium immer wieder, ζ. B. Mt 7, 12; Gal 5, 14 und 1 Kor 13. Luther hat hier mit Recht den Schlüssel der Auslegung der Gebote Gottes gefunden, wie sich umgekehrt der Dekalog als eine elementare Auslegung des Liebesgebotes verstehen läßt. Bekanntlich hat der Heidelberger Katechismus die D a n k b a r k e i t als Grund und Wurzel aller guten Werke des christlichen Lebens bezeichnet, „daß Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen heiligen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, daß wir mit unserem ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat erzeigen, und er durch uns gepriesen werde" (Frage 86). Es liegt auf der Hand, daß sich dieser Grund der Dankbarkeit mit dem Liebesmotiv unmittelbar begegnet. Eins wie das andere weist auf die guten Werke hin, die aus dem Glauben kommen. Noch vor allem Streit über die Heilsbedeutung der guten Werke, der in der Reformation ausgekämpft worden ist, war und ist die Notwendigkeit der „ g u t e n W e r k e " immer unbestritten gewesen. Die Augsburger Confession hat audi ein biblisches Motiv wieder aufgegriffen, wenn sie diese guten Werke als F r ü c h t e des G l a u b e n s bezeichnet hat (Art. V I , vgl. Mt 3, 8 ff.; 7, 16 ff.; Joh 15, 2 ff.; Gal 5, 22; Phil 1, 11 u. ö.). Freilich ist es nicht ein bloßes Befolgen von Geboten um der Furcht willen, sondern ein neuer Gehorsam und eine neue Gerechtigkeit, in der die Wurzel dieser christlichen Früchte des Glaubens zu suchen ist. Denn nicht knechtische Gesinnung, sondern der Geist der Kindschaft allein (Rom 8, 12ff.; Gal 4) kommt in diesen Werken zum Ausdruck. Es sind die unmittelbarsten Selbstverständlichkeiten der Gotteskindschaft, daß sich der Glaube bewährt und daß er in der Tat bezeugt wird (Mt 5, 13—16). Wenn man diese Antworten auf die Frage nach dem Ursprung der christlichen Ethik bedenkt, so liegt ihre Einfachheit, aber auch ihre Einsehbarkeit auf der Hand. Es bedarf keiner theologischen Kenntisse, um sie zu verstehen. Sie sind gewiß nicht miteinander identisch; denn wenn man sie theologisch ausdeuten will, dann weisen sie in verschiedene Zusammenhänge. Aber das kümmert uns hier nicht. So unmittelbar, wie wir sie hier verstehen, widersprechen sie sich auch nicht untereinander. Sie sind biblisch, und sie knüpfen doch zugleich an die zentralen Einsichten der Reformation an. Von hier aus, so meinen wir, kann eine Ethik aus dem Evangelium entwickelt werden. Die Begründung der christlichen Ethik soll also keinen naiven Biblizismus bedeuten. Man könnte sie im Stil und Sinn der liberalen Theologie etwa von einer „Ethik Jesu" ihren Ausgang nehmen lassen, oder man könnte sie einfach als Auslegung der zehn Gebote entwickeln. Aber das eine führt leicht in eine 1'
Einleitung
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Ethik der reinen Innerlichkeit, das andere könnte nur mit erheblichen Gewaltakten auf alle heute anstehenden und dringlichen Themen ausgedehnt werden. Ich möchte den Ausgangspunkt der Ethik auch unabhängig machen von historischen Urteilen der heutigen neutestamentlichen Theologie. Kann man denn die in der „neutestamentlichen Botschaft" enthaltene Ethik auf eine Formel bringen etwa auf die der paulinischen Geistlehre entliehene: „Christenleben ist Leben unter der Führung des heiligen Geistes" oder auf die Grundgedanken des Kolosserbriefes von der Herrschaft des zum Himmel erhöhten Christus? Oder auf eine „Weltanschauung des Neuen Testamentes"? An alledem ist ja etwas, was an seinem O r t die Ethik aus dem Evangelium beschäftigen muß. Wie ja auch trotz unserer Absage an den naiven Biblizismus die einzelne Bibelstelle mitunter eine schwere Gewissensfrage an den Ethiker stellen kann, weil sie eine Sachfrage aufwirft, die ganz unabhängig ist von der Zeitbedingtheit biblisdier Texte. Anders ausgedrückt muß die Ethik aus dem Evangelium von Anbeginn ihres Weges an frei sein von aller Gesetzlichkeit und von allen Formeln, welche die Fragestellung an historische oder dogmatische Urteile binden, welche sich dieser unmittelbaren Einsichtigkeit entziehen. (Es liegt mir in diesem Zusammenhang nichts daran, durdi die Nennung von einzelnen Autoren dem Kapitel eine Hypothek an Polemik aufzubürden, welche das sachliche Interesse auf persönliche Dinge ablenken würde.) Die Ethik aus dem Evangelium hat aber auch die Aufgabe, die Fragestellung so zu bezeichnen, d a ß man — eben in dieser Unabhängigkeit von dogmatischen oder historischen Vorurteilen — seine eigene Lebens- und Glaubensfrage in ihr erkennt. Ich möchte also keine so abstrakte oder audi neutrale Figur wie „den Christen" zum Gegenstand dieser Ethik machen. Diese idealtypische Figur geistert ja durch viele ethische Bücher und man weiß nie so recht, wer das eigentlich ist. Ist es der Leser? Ist auch der Verfasser ein soldier? Bin ich es, bist du es? Ist es jeder Getaufte, sind es auch andersgläubige „Christen"? Oder ist es eine Idealfigur, die man sidi eben so denkt? Man kann, finde idi, mit einer solchen Figur keine Ethik treiben, zumal ihr dann meistens die nodi problematischere Figur des „Nichtchristen" gegenübergestellt wird. 2. Bewahrende
und eschatologische
Ethik
D e r Ursprung der Ethik aus dem E v a n g e l i u m hat sich uns in denkbarer Schlichtheit dargestellt. Aber es ist ja z u erwarten, daß es bei dieser unmittelbaren Schlichtheit nicht bleiben kann. Ist dann diese Einfachheit des Ursprungs vielleicht nur Schein? Diese Einfachheit des Ursprunges stammt daher, d a ß sie das M o t i v des christlichen H a n d e l n s nennt, also jene Einheit der Bewegung, dasjenige, w a s den Glauben z u m H a n d e l n treibt, w a s mich und dich auf den W e g bringt, Liebe z u üben u n d den Glauben z u bewähren. Aber w i e setzt sich diese Kraft der B e w e g u n g nun in Ethik um? Bei d e m puren Festhalten der Ethik an der Frage ihrer M o t i v e k o m m t es nur z u leicht z u einer auf die Christen beschränkten Ethik, die sich v o n der „Welt" tief geschieden
Bewahrende und eschatologische Ethik
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weiß, die auf eine Ubereinstimmung mit der philosophischen Ethik, mit der aus der weltlichen Vernunft geborenen Einsicht in das Gute gar keinen Wert legt und sich höchstens dann und wann einer gelegentlichen Ubereinstimmung mit den „Nichtchristen" freut. Eine solche Ethik gibt aber etwas preis, was von keiner Ethik preisgegeben werden darf, nämlich die Sorge um die Allgemeingültigkeit ihrer Sätze und Einsichten. Der Gott unseres Glaubens ist der Schöpfer und Herr der ganzen Welt. Nun kann die christliche Ethik durchaus auch von sich aus, also aus unmittelbar christlichen Uberzeugungen diese Allgemeingültigkeit ihrer Sätze zu gewinnen versuchen. Sie wird dann damit beginnen, daß der Blick sich auf die „Welt" richtet und die Ethik an christliche Grundeinsichten über die Welt überhaupt anknüpft. In der Geschichte der evangelischen Ethik kommen im wesentlichen zwei Auffassungen in Betracht, die ebenso in früheren Epochen wie in der Gegenwart tiefgreifende Differenzen aus sich herausgeboren haben. Zwei Glaubensauffassungen über die theologische Deutung der uns umgebenden Welt scheinen sich geradezu auszuschließen und fordern den Ethiker zur Wahl auf. Ich versuche diese beiden Auffassungen in aller Kürze zu umreißen. Die eine Auffassung hat ihre entschiedene Vertretung in der Theologie Luthers und des frühen Luthertums gefunden. Sie sieht den Menschen unter den Voraussetzungen einer pessimistischen Anthropologie: Sein Wesen ist durch die Erbsünde verdorben, trotz seiner Fähigkeit zu einer bürgerlichen Gerechtigkeit (iustitia civilis) schlägt der natürliche Hang zum Bösen (concupiscentia) immer wieder durch und zwingt dazu, der zerstörenden Macht sündhafter Absichten mit dem Gesetz entgegenzutreten. Der Wiedergeborene tut zwar, was andere nur gezwungen oder aus Furcht vor Strafe tun, freiwillig, er tut es aus Liebe zum Guten, im Sinne eines neuen Gehorsams und wohl auch über alles vorgeschriebene Maß, aber die ganze Ethik liegt im Schatten einer pessimistischen Anthropologie und Weltansicht. Das Gesetz ist insofern eine gnädige Anordnung Gottes, und Luther hat mehr als einmal auch das Handeln der weltlichen Gewalt als ein Liebeshandeln Gottes in der Verhüllung durch die Härte des Gesetzes gedeutet. Diese Theologie der Welt und des Gesetzes hat zwar den großen Vorzug, daß sie die weltliche, natürliche Sittlichkeit selber deutet, daß der Zweck der Erhaltung der Schöpfung durch das Gesetz eine Allgemeinheit der Sittlichkeit garantiert, die doch Raum läßt für die speziellen Motive des Wiedergeborenen. Aber es kommt dann im Gesamtaspekt der Ethik zu einer
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Spaltung: Die Motive des Wiedergeborenen zu seinem Handeln aus Liebe oder auch aus dem neuen Gehorsam involvieren eine besondere Individualethik, um mich einmal modern auszudrücken, was den Quellen der Reformationstheologie nicht unmittelbar entspricht, die soziale Wirklichkeit aber steht, ethisch betrachtet, durchweg unter dem „Gesetz", d. h. unter der Geltung einer konservativen Ethik. U m einen unverdächtigen Zeugen zu zitieren, berufe ich mich auf H . de Vos: Zur Frage der natürlichen Sittlichkeit, Z E E 1958, 357 f.: „Insofern sie (sc. die natürliche Sittlichkeit) eine Macht der Ordnung ist, die das Chaos bezwingt, ist sie positiv zu werten. Wir werden in ihr ein Zeichen und eine Wirkung der göttlichen Barmherzigkeit sehen. Gott hat seine Schöpfung nach dem Fall nicht den Mächten der Zerstörung überlassen, sondern unterhält sie, audi durch das natürliche moralische Empfinden und die Ordnungen. Sic sind Gnadenwirkungen Gottes, was besagt, daß die Lehre von einer allgemeinen Gnade ihre Berechtigung h a t . . D a es sich hier nicht um historische Thesen, sondern um grundsätzliche Entscheidungen systematischer A r t handelt, rufe ich gerne den reformierten Zeugen auf. Es handelt sich nicht um konfessionelle Eigentümlichkeiten.
Diese Begründung der christlichen Ethik verhilft ihr gegenüber einer Beschränkung auf die Motive der Wiedergeborenen zweifellos zu jener Allgemeingültigkeit, welche erst eine Ethik zur Ethik macht. Aber sie gewinnt diese Allgemeingültigkeit dadurch, daß sie die Erhaltung der Schöpfung gegenüber der zerstörenden Kraft der Sünde zum beherrschenden Gedanken erwählt. Die Gefahren dieser von ihrer Grundkonzeption her konservativen Ethik liegen auf der Hand. Sie sind dreifacher Art. Erstens macht sich die pessimistische Anthropologie in all den Fällen bemerkbar, wo auch dem natürlichen Menschen eine Einsicht in das Gute zugestanden werden soll, vor allem aber, wo auch dem natürlichen Menschen eine Vorgabe an gutem Willen eingeräumt werden muß, wie das ζ. B. in der politischen Ethik bei der Grundlegung der Demokratie zutage tritt. Ich verweise schon hier auf die einschlägigen Kapitel. Zweitens gewinnt eine so konservativ angelegte Ethik in der Durchführung leicht einen restaurativen Zug. Sie neigt mit dem Ordnungsgedanken zu restaurativen oder doch romantischen Vorstellungen, was sich in der Verklärung „schöpfungsmäßiger" Gemeinschaften gegenüber den Entwicklungen der technischen und industriellen Gesellschaft zeigt. Zeitgebundene (bürgerliche) Gesellschaftsformen erfahren eine theologische Verklärung, und es kommt zu politischen Affinität, durch die der theologisch gemeinte Konservativismus der Ethik unvermerkt ins Politische umschlägt. Drittens kommt es in extremen Deutungen dieser Theologie des Gesetzes leicht zu einer Gesetzeslehre, aus der alle Erinnerung an die Gnade gewichen ist.
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Dieser konservativen Ethik steht nun sdion seit den Tagen der Reformation eine andere gegenüber. Sie macht die Veränderung der Welt durch Christus und durch sein Liebesgebot zum beherrschenden Gesichtspunkt christlicher Soziallehre. Was auch nach der streng lutherischen Meinung das persönliche Leben des Wiedergeborenen beherrschen soll, das soll nach dieser Auffassung die öffentlichen Verhältnisse überhaupt durchwalten. Es sind die großen ethischen Konzepte der nebenreformatorischen Bewegungen, der Täufer, Spiritualisten und mystisch begründeten Sekten. Sie haben entweder in einem entschlossenen revolutionären Anlauf die bestehenden staatlichen Ordnungen ihrer Zeit verneint und zu utopischen Verwirklichungen des „Reiches Gottes" ausgeholt, oder sie haben in der Stille, abgeschieden von aller Öffentlichkeit ihr gemeinsames Leben gelebt, bis die neue Welt jenseits des Atlantik einen freien Raum sozialer Verwirklichungen anbot. Heute ist diese Form der christlichen Ethik zu neuer Aktualität gekommen. Es ist die esdiatologische Begründung der Ethik, die Ethik der Hoffnung für die Welt, welche im Lichte der anbrechenden Königsherrschaft Jesu Christi gesehen wird. Auch hier liegt die politische Affinität der ethischen Theorie zutage. Sie drängt zur Neugestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse, zur „Praxis", zum Kampf gegen das Unrecht, ja zur Revolution. Die Soziallehren der Enthusiasten des 16. Jahrhunderts hat E. Troeltsch in seinen „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen" 1923®, 794 ff. dargestellt. Für die heutige Form einer esdiatologisdi bzw. „christologisch" begründeten Ethik nenne idi nur E. Wolf u.a.: Unter der Herrschaft Christi, 1961 (BEvTh 32), wo die Spielarten innerhalb des gemeinsamen Grundgedankens und das praktische und „politische" Gefalle sehr schön zum Ausdruck kommen. In unserer heutigen Lage war das erste Programm dieser christozentrisdien Sozialethik Karl Barths Schrift „Christengemeinde und Bürgergemeinde" (1946), ihr vorerst lautester Ausdruck Jürgen Moltmann: Theologie der Hoffnung (1964) 19687.
Diese esdiatologische Ethik beruft sich nicht auf die Theologie der Schöpfung, sondern auf die Christologie. Sie stellt sich die Aufgabe, die Verwandlung der Welt durch die anbrechende Herrschaft Christi sichtbar zu machen. Sie stützt sich auf „das Bekenntnis zur Herrschaft Christi über Welt und Gemeinde". „Diese Herrschaft wird nicht nur von der Zukunft der Welt ausgesagt, welche Gott ihr bestimmt hat, sondern als gegenwärtig-reale Macht des Wirkens Christi innerhalb und außerhalb der .Mauern' der Kirche" (Wendland, Einführung in die Sozialethik, 36). Diese Konzeption sichert nun der Ethik ebenfalls
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die Universalität ihres Anspruches, ohne den eine Ethik nicht Ethik sein kann. Sie setzt ein beherrschendes christologisches Prinzip, das jede Mitsprache der philosophischen Ethik von der Schwelle weisen muß. Sie bindet freilich die Zustimmung zu ihren Sätzen und Forderungen an ein dogmatisches Bekenntnis, und sie stellt von Satz zu Satz an uns die Zumutung, die reale Wirklichkeit mit der geglaubten Wirklichkeit in Einklang zu bringen. Sie verfällt dabei natürlich immer wieder der Versuchung, Fragen der konkreten Ethik abzuschieben, weil der Theologe kein Fachmann sei und weil ihn die phänomenologische Analyse der infragestehenden Sachverhalte nichts anginge. Vor allem aber drohen immer wieder erbaulich klingende Auskünfte dort, wo die harte Wirklichkeit den theologischen Behauptungen widerspricht. Man denke an das Postulat der Herrschaft Christi über den Staat. Bei Licht besehen und in ruhiger Beurteilung schließen sich die beiden großen Konzeptionen evangelischer Ethik gegenseitig nicht unbedingt aus, so entgegengesetzt auch ihr Gefalle ist und so leidenschaftlich sie sich in den verschiedenen Phasen der Theologie- und Kirchengeschichte bekämpft haben. Beide Typen der evangelischen Ethik sind darin eins, daß sie einen universalen Anspruch der evangelischen Ethik begründen, wenn auch in sehr verschiedener Weise. Beide haben im Laufe ihrer Geschichte sich dadurch allein schon den Rücken zugekehrt, daß sie entgegengesetzte politische Neigungen ebensosehr offenbart wie begünstigt und theologisch sanktioniert haben. Beide haben in ihrer extremen Fassung immer häretische Züge angenommen — die einen, indem sie in der Predigt des Gesetzes eine gnadenlose Theologie entfaltet haben, die Welt bei ihrem unveränderlichen Wesen behafteten und das Wort von der Gnade in andere Bezirke verwiesen haben, nämlich in die Innerlichkeit, in den Glauben und die göttliche Zukunft. Das Evangelium gibt in diesem Verständnis keine Antworten her auf die politischen Fragen, es kennt nur eine Rechtfertigung des Politikers, der in der Kampfzone dieser Welt dem Gesetz dieser Welt dienen muß. Die andere Konzeption kann hingegen das Evangelium unmittelbar als Gesetz dieser Welt, gewiß: einer nun erneuerten Welt verstehen und das Bekenntnis zum Schöpfer wie eine Häresie verschweigen. Es kann geschehen, daß hier alle Realitäten übersprungen und eine neue Ordnung vorweggenommen wird, die den, der nach Rat und Hilfe für seine Dienste in dieser „alten" Welt fragt, unberaten läßt. — Das sind Extreme. Es gibt freilich für den Ausgleich der beiden so verschiedenen Grundansichten keine Formel, sondern nur Entscheidungen von Fall zu Fall.
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Immerhin lassen sich einige Gesichtspunkte nennen, die für die Realisierung speziell der esdiatologisch orientierten Ethik, der Ethik der Hoffnung geltend gemacht werden können. Mit dem Ausdruck Realisierung meine idi, daß diese Verwirklichung sich durchaus unter den Bedingungen und den Gegebenheiten der uns umgebenden Welt und ohne Beschädigung der Grundsätze des bestehenden Rechtes und der allgemein geltenden sittlichen Normen vollziehen läßt. Idi denke an zwei Gesichtspunkte, die ich hier nur nenne, ohne ins einzelne zu gehen. Einmal zeigt sich die eschatologisdie, also die die Herrschaft des erhöhten Herrn bezeugende Ethik im zeidienhaften Handeln des Christen. Dieses — wenn ich so sagen darf: signifikative Handeln setzt „Signale des Zukünftigen". Es macht in dieser Welt der Ordnungen, des Herkömmlichen, die auf die Wahrung des Bestehenden bedacht ist, das Außerordentliche sichtbar. Das signifikative Handeln überschreitet das Gegenwärtige zum Zukünftigen hin, es sprengt die „Ordnungen", ohne sie doch zu zerstören. Wenn etwa einer unter vielleicht Tausenden von Verheirateten ehelos bleibt um Christi willen, so setzt er ein solches Zeichen. Solche Zeichen sind in keiner Weise notwendig, aber sie sind doch auch niemals widervernünftig. Man kann durchaus verstehen, was sie zum Ausdruck bringen wollen. Ja, es kann sogar sein, daß von einem solchen signifikativen Handeln aus der gute Sinn einer bestehenden Ordnung erst recht wieder zum Leuchten gebracht wird. Die andere Weise der Verwirklichung dieser Ethik ist die Bewährung der Freiheit. Sie wird uns in einem eigenen Kapitel ausführlich beschäftigen. Darum soll hier nur kurz davon die Rede sein. Als Bürger einer anderen und zukünftigen Welt sind wir dem Zwang der „alten Welt" nicht mehr ausgeliefert. Wir dienen der Schöpfung und sind dankbar für sie, aber das Gesetz dieser Welt kann uns nicht mehr zwingen. Nichts vermag uns von unserer Dienstpflicht an unseren Mitmenschen und an den gesellschaftlichen Bindungen zu dispensieren, denen wir hier angehören. Aber unser Blick geht bereits über sie hinaus. Praktisch gesagt: ich „muß" nicht mehr hassen, wo mir die alte Welt den H a ß zur Pflicht macht; ich „muß" nicht lieben, wo mir die Mode die Liebe vorschreibt; ich „muß" nicht dem Sog einer technischen Kultur folgen und alles das tun oder mir gefallen lassen, was man „kann" und was man sich eben gefallen läßt und mitmacht, weil „man" das eben tut. Wenn ich in diesem Zusammenhang es bei dem Gesagten genug sein lasse, dann deswegen, weil uns diese Dinge in einem späteren Zusammenhang nodi ausführlicher beschäftigen werden. Zum Ganzen aber
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gilt, daß idi in der Entscheidung zwischen der konservativen und eschatologischen Ethik — um mich dieser abgekürzten Formeln zu bedienen — nicht das eigentliche Problem der heutigen evangelischen Ethik sehe. Bevor ich aber dieses nach meiner Meinung eigentlich dringende Problem sichtbar mache, möchte idi nodi eine kurze Überlegung über das Verhältnis der theologischen Ethik und der christlichen Dogmatik, also der Glaubenslehre einfügen. 3. Dogmatik und Ethik Die Reformation hat wichtige, unverlierbare Beiträge zur Ethik geleistet. Sie hat uns grundsätzlich gelehrt, audi den weltlichen Bereichen des Lebens einen theologischen Sinn zu geben. Sie hat eine neue Phase in der Theologie des Staates eingeleitet; sie hat uns gelehrt, die Ehe als einen weltlichen und doch zugleich heiligen Stand zu verstehen. Sie hat die moderne Berufsidee begründet. Trotzdem ist es in der Reformationszeit nicht zur Ausbildung einer Ethik im eigentlichen und umfassenden Sinn gekommen. Melandithon hat zwar die aristotelische Ethik unter den Augen Luthers repristiniert. Die Erörterung der theologischen Ethik hat sich aber doch nur auf einen Problemkreis beschränkt: auf die Lehre von den guten Werken und auf deren Motive. Ein halbes Jahrhundert der Theologiegeschichte war nötig, um den Satz, daß gute Werke für das Christenleben notwendig seien und doch kein Verdienst vor Gott bedeuten könnten, nach allen Seiten hin gegen Einwände und Verdächtigungen abzusichern. Die Frage des sittlichen Motivs ist schon CA V I (De nova oboedientia) von Melandithon ebenso knapp wie letztlich zwiespältig behandelt worden: „Item docent, quod fides illa debeat bonos fruetus parere, et quod oporteat bona opera mandata a Deo facere propter voluntatem Dei, non ut confidamus per ea opera iustificationem coram Deo mereri" (BSLK 58, 12 fï.). Hier wird zunächst der Begriff der guten Werke eingeschränkt für solche, für die ein klares Gebot Gottes vorliegt. Werke, die auf Grund kirchlicher oder anderer Gebote geschehen, sind keine bona opera im Sinn der Reformation. Aber das Motiv dieser guten Werke ist doch zwiespältig. Einmal entstehen die guten Werke als Folgen des Glaubens wie die Früchte eines Baumes (nach Mt 7, 15—20). Die guten Werke werden also mit einer fast naturgesetzlichen Notwendigkeit beim Gläubigen zu erwarten sein. Daneben aber geschehen sie pflichtgemäß. Im Artikel deuten die Worte debeat und oporteat auf die Vorschrift, der wir folgen, auf das mandatum bzw. praeeeptum, auf die
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lex. Der Heidelberger Katechismus hat mit der Dankbarkeit, die den leitenden Gesichtspunkt seines dritten Teils darstellt, ein weiteres Motiv für die guten Werke den bei Melanchthon genannten hinzugefügt. Die drei Motive für das Tun guter Werke, die somit in der Reformation die Ethik mit der Rechtfertigungslehre mehr oder weniger eng verknüpfen, sind zwar untereinander deutlich zu unterscheiden; sie haben aber einen gemeinsamen Effekt: Die Ethik wird zu einem Nachsatz der Dogmatik. Erst wenn die Dogmatik den Vorrang der Gnade vor den Werken, der Rechtfertigung vor der Heiligung sichergestellt hat, kann die Ethik beginnen. Freilich zeigte es sich wenigstens in der Reformationszeit und bis in die Mitte des 17. Jahrhunderts hinein, daß man zu einer weiteren und überdies eigenständigen Ausführung der theologischen Ethik wenig Material hatte. Melanchthon hatte beispielhaft gelehrt, alle materiellen Fragen der Ethik, sozusagen die Ausfüllung des theoretischen Rahmens der Lehre von den guten Werken durch eine Erklärung des Dekalogs zu besorgen. Wie kam es zu einer eigenen Disziplin der theologischen Ethik auf evangelischem Boden? Man kann dafür zwei sehr verschiedene Gründe nennen. Der eine Grund ist materialer Art. Probleme, die noch nicht im Gesichtskreis der Väter lagen, drängen heran und verlangen gebieterisch nach einem in der reformatorischen Theologie gegründeten theologischen Urteil. In welchem Maße der Pietismus den Einstrom solcher neuen Sachfragen begünstigte, das kann man nirgends eindrucksvoller belegt finden als in den sog. „Theologischen Bedenken" Ph. J. Speners. Diese in mehreren starken Bänden gesammelten Antworten und Gutachten, auf private und offizielle Bitten um Rat, Belehrung, Weisung und Auskunft erstattet, atmen den Stil einer neuen Zeit. In deutsdier Sprache, jedermann verständlich, knapp und niemals langweilig, entwickelt Spener die Gesamtanschauung des Pietismus nicht im dogmatischen Sinne, sondern an konkreten Fragen des Glaubens und des christlichen Lebens. In der Orientierung in einem veränderten Zeitalter gestaltet sich ein neues christliches Bewußtsein, aber es gestaltet sich zur Ethik hin. Fortan kennzeichnet die Extension der Thematik die Arbeit der evangelischen Ethik. Allein das neue Material ist in der Dogmatik alten Stils nicht mehr unterzubringen. In Schleiermachers „Christlicher Sitte" weitet sich diese Ethik schließlich zu einem Gesamtbild des menschlichen Daseins, wie dann R. Rothe in seiner Theologischen Ethik die natürliche und die geschichtliche Welt zu einem spekulativen Gesamtentwurf zusammengefaßt hat.
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Der andere Grund für die Herauslösung der Ethik aus der Dogmatik ist ganz anderer Art. Man hofft, auf dem Wege der Theologia moralis im Zeitalter der dogmatischen Kämpfe ein verbindendes und vermittelndes Element zu finden. Es ist nicht zufällig, daß der humanistische Mutterboden, auf dem Melandithon seinem kargen aristotelischen Moralismus seine Epitome philosophiae moralis entlockte, abseits vom Felde der dogmatischen Auseinandersetzungen lag. Er ist auch in Lambert Daneaus „Ethices christianae libri tres" (1577) wirksam; Β. Keckermanns „Systema ethicum" (1602) zieht aus dem Aufgebot des Aristoteles seine entscheidenden Kräfte. M. Amyraut (La morale chrestienne, 1652/60) ist ausgesprochener Synkretist, er versucht, in der Zusammenfassung philosophischer und biblischer Bauelemente der Theologie den zu Verlust gehenden Universalismus ihres Anspruches auf dem Wege über die Ethik zurückzugewinnen. Das Gesamtbild wird nur ergänzt und bestätigt durch einen Blick auf die „Epitome theologiae moralis" des Georg Calixt (1634), der diese Arbeit in den Dienst einer Entschärfung der dogmatischen Differenzen gestellt hat. So stehen die Anfänge der eigenständigen theologischen Ethik in der Geschichte der evangelischen Theologie zweifellos noch in einem hintergründigeren Sinne im Zusammenhang mit Emanzipationsabsichten: es ist nicht nur die Emanzipation des anwachsenden Materials, das sich nicht mehr in dem Gehäuse der alten dogmatischen Systeme unterbringen läßt, sondern es ist die unterschwellige dogmatische Skepsis, aus welcher sich die Erwartung nährt, es möchte eine Vermittlung der christlichen Wahrheit im Praktischen gelingen, ohne die Hypothek des dogmatischen Streites und der Esoterik der theologischen Fachleute. Die Folgen dieses Sachverhaltes sind aber nun entgegengesetzter Art. Einmal hat dieses unverkennbare Gefälle zum „Neuen" die theologische Ethik im Gegensatz zur Dogmatik, aber auch zur vergleichbaren katholischen Moraltheologie einer haltenden und bindenden Tradition beraubt. Die Ethik wurde von da aus zu einem Felde immer neuer freier Gestaltungen und Entwürfe, die überdies vielfach im Zeichen einer Entschärfung der Dogmatik standen und bis zur Stunde eine gewisse Geschäftigkeit verraten, auf der Höhe der Situation zu bleiben. Zum anderen freilich das Gegenteil. Die Ethik bleibt im Gefolge der Dogmatik. Die Dogmatik muß ihr geradezu das Rückgrat geben, das sie in Ermangelung einer eigenen Wissenschaftstradition so nötig hat. Die Nachordnung der selbständig gewordenen Ethik hinter die Dogmatik ist natürlich auch in den Grundlagen der Reformations-
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theologie begründet und gerechtfertigt: Dem Glauben folgen die Früchte, alle denkbaren Motive der „guten Werke": Liebe, Dankbarkeit und neuer Gehorsam sind Folgen der Rechtfertigung und der Wiedergeburt. Das alles ist klar und auch unbestritten. Jedenfalls ist die Ordnung, daß die Ethik der Dogmatik nachzufolgen hat, eine seit vielen Generationen für die evangelische Theologie unbestrittene Selbstverständlichkeit. (Die entschlossene Zurücknahme der Ethik in die Kirchliche Dogmatik durch Karl Barth ist nur ein Sonderfall dieser Übung, kein Widerspruch zu ihr.) In der Neuzeit ist ein überraschender Versuch unternommen worden, die herkömmliche Reihenfolge von Dogmatik und Ethik umzudrehen: die Ethik von Wilhelm Herrmann (erstmals 1901) stellte der Ethik die Aufgabe, die ihr schon von Kant zugewiesen war: eine volle Einsicht in unsere Pflicht zu vermitteln. Aber es war die Überzeugung Wilhelm Herrmanns, daß es dazu keiner besonderen „christlichen" Ethik bedürfe, sondern daß die Ethik gerade durch ihre Allgemeinheit auch den höchsten Grad ihrer Unbedingtheit gewinnen müsse. Nur so würde die Erkenntnis des sittlichen Ideals auch die religiöse Frage erwecken, den Weg zur Religion führen und die Frage nadi der Erlösung aus unserer Not wachrufen. Im Gegensatz zu den reformatorischen Vätern macht W. Herrmann somit die Ethik zu einer Art von Propädeutik der Religion und der Dogmatik. Es ist die Frage, ob wir im einen wie im anderen eine Lösung unserer eigenen ethischen Problematik wiederfinden können. Tatsächlich beginnt weder das christliche noch auch das allgemein menschliche Handeln, ja nicht einmal die Reflexion darüber erst dann, wenn dogmatische Fragen gelöst und religiöse Klärungen erreicht sind. Es ist das Wesen der ganzen ethischen Thematik, daß sie nicht warten kann. Aber auch der Ansatz W. Herrmanns kann uns nicht überzeugen. Mag er sein Redit in sich haben. Das was uns mit der ethischen Frage vor Augen steht, ist umfassender. Auch die Wissenschaft der Ethik hat dem Umstand Rechnung zu tragen, daß die Frage nach dem Verhalten des Menschen, die Frage des Handelns, letztlich die Frage nach der ganzen Gestaltung unseres Menschseins bereits erwacht, wenn der Mensch die Augen öffnet, und diese Frage begleitet ihn, solange er lebt. Die Frage bleibt ihm zur Seite unabhängig davon, ob er glaubt oder nicht glaubt, ob er zweifelt, verzweifelt oder Hoffnung schöpft. Die Tatsache, daß die Ethik sich auch in der Wissenschaftsgeschichte der Dogmatik gegenüber verselbständigt hat, hängt mit der zunehmenden Einsicht in diese Dinge zusammen. Mögen nodi so viele zeit-
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geschichtliche Motive bei der Verselbständigung der theologischen Ethik als eigener Disziplin mit eingeflossen sein, die vielleicht eine streng reformatorisdie Theologie ausschließen möchte — die Verselbständigung der christlichen Ethik ist ein irreversibler Prozeß. Sie ist ein komplementärer Vorgang zu der wachsenden Skepsis bezüglich des Ausbaus der Dogmatik als Metaphysik. Ja, ich möchte meinen, daß heute die Auseinandersetzung zwischen christlichem und profanem Denken ganz wesentlich auf das ethische Gebiet verlagert ist. Wenn dies stimmt, dann ist nur ein Grund mehr dafür gefunden, daß die Ethik auch wissenschaftlich eine ganz andere Breite und Tiefe gewonnen hat als in früheren Generationen. Die ethische Frage ist die Frage des Menschseins. Soll ein Bezug zur Dogmatik genannt werden, dann wäre es der: die Ethik gehört in die Anthropologie, knüpft an sie an und führt sie fort. Sie ist die Frage nach der steten Menschwerdung des Menschen.
2. Kapitel Der
Mensch
1. Das doppelte
als P r o b l e m
der
Gesicht der christlichen
Ethik Ethik
Von den Motiven christlichen Handelns her gesehen erscheint eine christliche Ethik denkbar einfach. Schon bei dem Versuch, den Normen des christlichen Handelns einen allgemeingültigen Charakter zu geben und diese Allgemeingültigkeit zu begründen, werden die Dinge schwierig. Überdies sind nicht nur die elementaren Grundsätze der christlichen Ethik, sondern jeder Ethik uralt. Aber 'die Fragestellungen, auf welche die Grundsätze angewandt werden sollen, sind modern. Es steht dieser modernen Problematik geradezu auf der Stirn geschrieben, daß die Väter der Ethik von ihnen keine Ahnung gehabt haben. Während sich das Feld der Anwendung sittlicher Probleme unaufhörlich ausdehnt, wächst diese „uralte" überdies in ihren Elementen immer „einfache" Ethik schlechterdings nicht mit. Das bedeutet eine sich unaufhörlich ausdehnende Spannung, die 'der Ethik mitgegeben ist und mit der auch wir uns von Fall zu Fall auseinanderzusetzen haben. Aber der christlichen Ethik ist ein noch viel schwereres Dilemma mit auf den Weg gegeben. Es besteht darin, daß die konkreten sittlichen
Das doppelte Gesicht der christlichen Ethik
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Probleme, die uns im Leben und demzufolge dann audi in der Ethik bedrängenden Sachfragen gar keinen christlichen Ursprung haben. Die Probleme aller Ethik, also auch der christlichen Ethik sind uns mit unserem „bloßen" Menschsein gegeben und entstammen ihm allein. Das Rohmaterial, die Urproblematik der Ethik ist in der christlichen keine andere als sonst und immer in der Ethik. Es ist eine schlichte Täuschung, zu meinen, die Thematik der christlichen Ethik sei im Unterschied zu einer profanen oder philosophischen Ethik wesentlich christlichen oder biblisdien Ursprunges. Das ist nicht der Fall. Es gibt umfassende Problemkreise heutiger Ethik, die auch in einer christlichen Ethik behandelt werden müssen, die im Neuen Testament nicht vorhanden sind, wie ζ. B. die Technik, das moderne Wirtschaftsleben, oder die in neutestamentlicher Zeit zwar bestanden und auch bekannt waren, die aber bewußt ignoriert wurden wie die soziale Frage. Es gibt Begriffe, die nicht in die Sicht des Neuen Testamentes gekommen sind, obwohl es nach damaliger Erkenntnis durchaus denkbar gewesen wäre, wie der Begriff der Pflicht. Jesus hat nie vom Gewissen geredet, und doch können wir keine Ethik mehr verantworten, ohne vom Gewissen zu handeln. In allen derartigen und noch viel mehr Fragen muß sich die christliche Ethik heute unbekümmert durch alle Rücksichten auf Tradition allein vom Gesetz der Sache leiten lassen. Aber nidit das ist das Entscheidende, sondern die Tatsache, daß nicht nur einzelne Begriffe, nicht nur eine Auswahl von ihr aufgegebenen Problemen, sondern grundsätzlich das ganze Material, die ganze Thematik ihr nicht von ihren christlichen Ursprüngen her mitgegeben, sondern von anderswoher aufgegeben ist. Man hat diese belastende und bis heute theologisch kaum bewältigte Tatsache in der theologischen Ethik der Neuzeit deswegen nicht wahrgenommen, weil man die A u f g a b e der theologischen Ethik v o n vorneherein mit einer exklusiv „christlichen" Definition beschrieben hat; meistens in der Form: Die Dogmatik oder die Glaubenslehre handelt v o n dem, was der Christ glaubt, die Ethik, die christliche Sittenlehre handelt davon, wie der Christ lebt. Die Parallelität zwischen Glaubens- und Sittenlehre, seit Schleiermachers Vorbild kaum je angezweifeltes Modell theologischer Systembildung in der Neuzeit, hat schon in Georg Calixts Epitome theologiae moralis (1634) ihren Ursprung. Dabei ist nicht die Systemfrage das Wichtigste, sondern es muß uns interessieren, daß sich das Interesse dieser Ethik ganz auf den Christen, oder wie bei C a l i x t auf den Wiedergeborenen richtet. Das bestätigt sich durch die ganze neuzeitliche christlidie Ethik immer wieder. A . v. Harleß hat seine Christlidie Ethik (1842) unter den drei Gesichtspunkten vorgetragen: Heilsgut — Heilsbesitz — Heilsbewahrung. Chr. E. Luthardt bezeichnet die theologische Ethik in seinem Kompendium (1896) als „Wissenschaft von der sittlichen A u f g a b e des Christentums". „Die theologische
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Ethik ist die wissenschaftliche Darstellung der christlichen Sittlichkeit in ihrem persönlichen Werden, ihrer gesinnungsmäßigen Wirklichkeit und ihrer tatsächlichen Erweisung". Fr. H. R. Frank handelt in seinem System der christlichen Sittlichkeit (1884/87) „vom Werden des Menschen Gottes". Aber nodi in unserem Jahrhundert ist diese ausschließliche Bezogenheit der theologischen Ethik auf den Christen für die Ethiker selbstverständlich. A. de Quervain beschreibt in seiner Ethik I, Die Heiligung (1946 2 ) den „Stand derer, die in Christus erwählt, berufen . . . sind, die . . . ihren Wandel führen als Glieder des Israel G o t t e s , . . . im Danken für die ihnen widerfahrene Gnade."
Durch die immanent christliche Betrachtung, die schon im Ausgangspunkt der christlichen Ethik beschlossen ist, erspart man sich zwar die Auseinandersetzung mit einem anderen ethischen Denken, das diesen Ausgangspunkt nicht teilt, oder das jedenfalls erklärt, daß ihm dieser dogmatische Ansatz nicht einsehbar sei. Wiegt diese Selbstbegrenzung schon schwer genug, so ist noch viel verhängnisvoller der andere Umstand, daß man sich über die Herkunft der ganzen materialen Problematik der Ethik täuscht. D a ß wir uns mit den Problemen der Sexualität herumschlagen müssen, mit der eigenen und mit der unserer Mitmenschen, daß es politische Probleme gibt, Fragen der Staatsform und der Wirtschaftssysteme — das alles stammt nicht aus dem Neuen Testament, sondern es kommt daher, daß wir Menschen unserer Zeit sind. Wie werden wir mit diesem unserem Menschsein fertig? Was bedeutet es für mich als Christen, daß ich ein Mensch bin („auch nur ein Mensch") wie die anderen? Das ist die Frage der christlichen Ethik! Wir haben diese Frage der christlichen Ethik aber nun mit jeder denkbaren anderen Ethik gemeinsam! Das macht geradezu die Universalität der ethischen Fragestellung aus. Es ist eine allgemeine, alle Menschen angehende Frage, nämlich die Frage des Humanum, die wir in der christlichen Ethik jedenfalls als Christen angreifen und bewältigen wollen und sollen. Sehe ich das Problem so, dann ist die Fragestellung mit unserer puren Menschlichkeit vorweg gegeben. Das Christentum, das was wir als Christen wissen, haben und sind, kommt gleichsam erst hinzu. Das ist natürlich, so vordergründig genommen, ein für das christliche Bewußtsein erschreckender und anstößiger Satz. Ich muß daher an das erste Kapitel erinnern, in dem wir uns klar gemacht haben, daß die christliche Ethik ihre Universalität Gott dem Schöpfer aller Dinge und Jesus Christus verdankt, der uns eine Zukunft aufgeschlossen hat, die der ganzen Welt Hoffnung gibt. D a s ist eine hintergründige und absolute Begründung der Universalität der christlichen Ethik, eine — wenn man so will — apriorische Begründung ihres Anspruchs auf Allgemeingültigkeit ihrer Sätze. Wir haben das festzuhalten.
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Aber das Problem der christlidien Ethik ist damit nicht etwa gelöst, sondern erst recht aufgeworfen. Denn einmal erklären sich die uns in concreto beschäftigenden Fragen der Ethik schlechterdings nicht aus diesem Ursprung, wie ich schon hervorgehoben habe. Sie tragen diesem theologischen und christologischen Ursprung gegenüber alle Merkmale der Fremdheit und der Kontingenz weltlicher Verhältnisse. Und zweitens kann ich mich über diese Universalität der ethischen Problematik, über diese aus unserem Menschsein entstandene und unser gemeinsames Menschsein betreffende ethische Fragestellung mit der außerchristlichen Ethik, also etwa mit der philosophischen (um es ganz pauschal auszudrücken) nicht verständigen, wenn idi mich nur auf Voraussetzungen der christlidien Dogmatik bzw. des christlidien Glaubens berufen kann. Es ist daher nötig, die Frage der Allgemeingültigkeit ethischer Einsichten, die Frage der Kommunikabilität der Ethik unbeschadet der Glaubensmotive gleichzeitig noch anders zu motivieren. Ich möchte dazu in diesem einleitenden Kapitel folgende Bemerkungen machen. 1. Wie jede Ethik, muß auch die christliche Ethik kommunikabel bleiben. Wahrscheinlich hat jeder Ethiker, nidit nur der theologische, sondern auch der Philosoph, gleichviel ob man eine Imperativische oder eine vorwiegend deskriptive Ethik im Sinne hat, vorethische Voraussetzungen. Ich denke etwa an Voraussetzungen der religiösen Uberzeugung, an philosophische Prämissen — der eine ist Pragmatist, der andere Idealist usw. Aber in den eigentlich ethischen Sätzen muß die Ethik aufs Allgemeine bezogen und auf vernünftige Einsehbarkeit bedacht sein, sie muß in dem Sinne kommunikabel sein, daß auch der „Andersgläubige" sich hier über das auf jeden Fall Gemeinsame mit mir verständigen kann. Nicht ob hier und dort die Voraussetzungen einen universalen A n s p r u c h in sich schließen, ist dabei entscheidend; denn das wird wohl immer angenommen werden können. Sondern ob man den Willen und die Fähigkeit hat, sich zum Mensdilichen hin selber zu vermitteln. Das ist erst das Ethische an der Ethik. In jedem anderen Falle nämlich bewirkt der Anspruch der betreffenden Ethik auf Universalität und Allgemeingültigkeit Intoleranz, er wirkt exklusiv und macht darum eine Ethik, die den Namen verdienen soll, unglaubwürdig. 2. N u n soll damit keineswegs eine Allgemeingültigkeit der Ethik postuliert werden, durch welche es dem Christlichen nicht mehr möglich wäre, sein Eigentümliches und Besonderes auszuspredien und auszuleben. Das Christlidie an einer christlichen Ethik — ich deutete es im 1. Kap. bereits an — wird sich von Fall zu Fall in einem „Uber2 Trillhaas, Ethik
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schießenden" zeigen, wie es das Gebot der Feindesliebe ist, oder wie es in einer allgemeinen Kennzeichnung oft als „Ethik der Bergpredigt" charakterisiert wurde. Aber auch dieses Überschießende hebt die sittlichen Normen nicht auf, es setzt die ethischen Evidenzen nicht außer Kraft, über die idi mich mit anderen Menschen verständigen kann und muß. Dieses „Außerordentliche", das in jeder christlichen Ethik als unverwechselbares Signal aus einer anderen Dimension erscheint, kann zwar über die Ehe hinausrufen, aber es kann die Ehe nicht destruieren, es kann das Herz vom Eigentum lösen, aber es hebt die hier geltenden Ordnungen nicht auf und gibt dem Staat, was ihm gehört. Und auch dieses „Überschießende" muß der Vernunft einsichtig gemacht werden können. Es muß überzeugen können, sonst ist es sinnlos; und eben damit hebt auch das Überschießende die Forderung der Kommunikabilität des Ethischen nicht auf. 3. Wenn ich so die Sache der Ethik an die Aufgabe binde, das Problem unseres Menschseins zu bewältigen, so ergibt sich unmittelbar eine weitere Folgerung. Die theologische Ethik kann nicht auf eine vorherige Entscheidung ihrer Grundsätze durch die Dogmatik warten. Sie ist eigenen Rechtes. Sie verlangt zwar nach einer Einordnung in den Gesamtzusammenhang christlicher Erkenntnis und hat ihre Aussagen stets an der Dogmatik zu messen, aber sie erträgt keine Nachordnung. Die Ethik kann nicht suspendiert werden, bis die Dogmatik gesprochen hat. Diese These hängt übrigens mit der besonderen Situation der modernen Welt zusammen. Es ist heute damit zu rechnen, daß die Ethik einen eigenen und für viele Menschen überzeugenderen Weg zur christlichen Wahrheit eröffnet, als es die Dogmatik vermag. Die Vorstellung von einem Vorrang der Theorie — nämlich der Dogmatik — vor der Praxis — nämlich der Ethik — ist diristlich ebenso unerträglich wie die Vorstellung, die Predigt und der lebendige Glaube sei von den Ergebnissen der historischen Forschung abhängig.
4. Die ganze Thematik der Ethik ist durch unser Menschsein gegeben, das uns auch als Christen vor schwere Entscheidungen stellt, die wir weder der Heiligen Schrift noch unserem Bekenntnis fertig entnehmen können. Nun, diese Sicht auf eine Unmittelbarkeit der Ethik zum Humanuni überholt die klassischen Grundsatzfragen, die sich in Jahrhunderten der protestantischen Theologiegeschichte immer wieder erneuert haben. Die eine Grundsatzfrage habe ich schon im ersten Kapitel erwähnt. Es ist die Auseinandersetzung zwischen einer am Schöpfungsgedanken orientierten konservativen Ethik und einer christologisdi und eschatologisch ausgerichteten, die auf das anbrechende
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Reich Gottes blickt. Ich habe schon oben ausgesprochen, daß idi diese Gegensätze trotz ihres konträren Gefälles nicht für unüberwindlich halten kann, zumal sie beide im selben christlichen Credo wurzeln. Die andere Grundsatzfrage geht ebenfalls in die Reformationstheologie zurück. Auf der einen Seite wird nämlich unser Sein ethisch unter dem Gesetz begriffen, bevor wir das Evangelium hören und im Glauben annehmen, um dadurch in ein neues Sein versetzt zu werden. Dieses Verständnis des Gesetzes spricht von der Forderung des Guten und von der dadurch geweckten Einsicht in unsere Schuld. Diese Vorordnung der Ethik vor die Dogmatik, welche dieser Position entspricht, hat in der Theologie W. Herrmanns und seiner Schüler eine eigenartige und selbständige Erneuerung erfahren. Dem entgegengesetzt ist die Ethik der nova oboedientia, die von der fructus fidei und unserer neuen Existenz im Glauben und in der Hoffnung handelt. Ihr entspricht eine grundsätzliche Nachordnung der Ethik hinter die Glaubenslehre, wie wir sahen. Aber der einen wie der anderen dogmatischen Kontroverse gegenüber hat sich doch ein anderes Problem für uns in den Vordergrund gespielt. Es ist nämlich die Frage nach dem Guten überhaupt. Wie immer wir es zu unserem Thema machen und erfragen, immer ist es nur eines, wie auch der Mensch selber, der nach ihm fragt, vor dem Glauben und unter dem Glauben in aller Wandelbarkeit seines Herzens immer das eine Geschöpf Gottes ist, das in dieser Welt zu seiner Bestimmung gerufen ist. 5. Dies deutet nun auf die eigentliche These dieses Kapitels hin. Ethik ist in jedem Sinne angewandte Anthropologie. Es ist die Frage, welche die theologische mit jeder sonst denkbaren Anthropologie gemeinsam hat, und die sie zugleich auch an jede andere Anthropologie richtet: Welche Ethik kennzeichnet das Wesen „Mensch"? Was ist die Bestimmung dieses Wesens, und wie kann der Mensch ihr genügen? Christlich formuliert: Was heißt es, Bild Gottes zu sein? Diese Frage kehrt sich freilich in der Ethik zugleich um in die andere: Wie können wir als Christen den Problemen standhalten, die sidi daraus ergeben, daß wir auch als Christen „nur Menschen" sind? 2. Der anthropologische
Sinn der Ethik
Sobald uns in der Bibel der Mensch vorgestellt wird, finden wir ihn vor einer Aufgabe, nämlich die Erde zu erfüllen und sich Untertan zu machen (Gen 1, 28) und vor einem Verbot (Gen 2, 17). Der Mensch ist also auf die Probe gestellt, aber er besteht diese Probe nicht. Freilich 2»
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Einleitung
ist es nur eine einseitige Betrachtung des Beginns der menschlichen Geschichte. Es darf nicht übersehen werden, daß alsbald ein unerhörter Aufstieg des Menschen in geistiger und technischer Hinsicht beginnt. Er kann zwischen Gut und Böse unterscheiden, und es beginnt alsbald nach der Austreibung aus dem Paradies Schritt für Schritt die Kultivierung der Erde. Der Mensch ist gefallen, er kann und wird wieder fallen, aber Gott hat trotzdem noch etwas anderes und Besseres mit ihm vor: er soll leben. Der Mensch soll arbeiten, soll Kinder und damit eine Zukunft haben. Sein Same soll der Schlange den Kopf zertreten (Gen 3, 15). Der Mensch steht also zwischen immer neuem Fall und dem Aufstieg zu großen geistigen und technischen Möglichkeiten. Es macht den Inhalt der Geschichte des Menschen aus, daß er die Möglichkeiten nach oben wie nach unten ausprobiert. Der Mensch ist der geborene Grenzüberschreiter. Er kann, was kein vergleichbares Lebewesen kann, weinen, lachen und sich schauspielerisch verstellen, bis zum Tier absinken, bis zum Heiligen aufsteigen und vermittels der Technik in Räume vorstoßen, in denen die Fallgesetze nicht mehr gelten. Darum hat Pascal vom Menschen gesagt, er sei weder Engel noch Tier, und Friedrich Nietzsche hat den Menschen als einen Übergang bezeichnet, als „das noch nicht festgestellte Tier" (Werke 13, 276), ein Gedanke, den dann auch A. Gehlen aufgegriffen hat. Was der Mensch ist, das kann nicht durch eine Feststellung eines stabilen Seins und dessen simpler Eigenschaften entschieden werden. Er hat es weithin selbst in der Hand, was er aus seinem Menschsein macht, in welcher Richtung er handelt, ob er steigt oder „fällt". Der Mensch ist immer bedroht, er befindet sich über einem Abgrund, ist immer sinkend oder steigend in Bewegung. Es kommt darauf an, ob er das Risiko seines Lebens bewältigt und ob ihm sein Menschsein gelingt. In dieser Labilität bedeutet die Ethik einen H a l t , gleichsam ein Brückengeländer. Das gilt zunächst angesichts des vorethischen Verhaltens, also vor dem Eintritt des bewußten Nachdenkens über das Sittliche in einem ganz primitiven Sinn. Er braucht Autoritäten, er hält sich an die Eltern, an die Schule, an das „Man" der Sitte, und selbst die durchschnittliche Moral leistet dem einzelnen bei seinen ersten tastenden Schritten einen wichtigen Dienst. Aber auf die Dauer genügt dieser äußere, fast mechanische H a l t nicht mehr. Ich kann midi nicht auf fremde Autoritäten verlassen, sondern muß mein eigenes Leben verantworten, muß zu mir selbst kommen und mein eigenes Ziel erreichen, das ich mit keinem anderen Menschen tauschen kann. Es genügt nicht
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mehr, ein Brückengeländer im Sinn eines mechanischen Haltes in der Hand zu haben und sich daran entlangzutasten. Die Ethik und die Hilfe, die sie dem Menschen in seiner Labilität gewähren soll, verwandelt ihren Sinn. Sie wird vielmehr — um im Beispiel vom Geländer zu bleiben — einen Halt für das Auge bedeuten, eine Hilfe zur Orientierung gewähren, die allerdings nicht ein für allemal, sondern in jeder Situation neu vollzogen werden muß. Der Mensch muß sich orientieren, um Mensch zu bleiben. Die Ethik ist die Wissenschaft von dem steten Zusich-selbst-Kommen des Menschen, ja von der Menschwerdung des Menschen, sofern damit eine selbstverantwortliche Aufgabe bezeichnet ist. Ist doch der Mensch sich selbst seine eigene schwerste Gefahr. In ihr soll die Ethik helfen und diese Hilfe ist in einer dreifachen Funktion zu suchen. (1) Die Ethik bereichert zunächst die Fülle menschlicher Motive. Zuerst erwachen mit dem Menschen nur die vitalen Triebe, Habe-Trieb, Abwehr-Trieb, Hunger, Durst und der Geschlechtstrieb; der Mensch ist erfüllt von Befürchtungen, Wünschen, Begehrungen, von den Leidenschaften der Liebe, des Hasses und der Eifersucht, er ist getrieben von Zwängen, die aus der Tiefe des Unterbewußten aufsteigen. Durch die Ethik, wie immer sie verstanden sein und an den Menschen herantreten mag, kommen neue Motive zu dieser verworrenen Welt hinzu. Der Mensch bekommt Pfliditen ; Ideale und Vorbilder leuchten vor ihm auf. Es tritt etwas Eigenartiges ein: die erste vitale, vorethische Motivreihe des menschlichen Handelns und Verhaltens wird Gegenstand der kritischen Einstellung. Der Mensch distanziert sich von sich selbst. Wohl kann man in diese Triebsphäre wieder absinken, Pflichten verneinen und Ideale zum Verlöschen bringen, aber daß es sich dann um einen Abstieg handelt — das ist eben das Entscheidende. Erst durch diese zweite, von der Ethik repräsentierte Motivreihe wird das menschliche Handeln und Sich-Verhalten menschlich. (2) Die Ethik hält nun mit ihren Kriterien den Menschen unter Kontrolle. Er ist in jedem Augenblick einem Urteil unterworfen, wie immer man sich des Näheren diese Ethik auch vorstellen mag. Jedenfalls steht diese Kontrollinstanz sowohl kritisch wie auch normativ „über" dem gelebten Leben. Der Mensch, der sich selbst ethisch versteht, verfremdet sich. So wie er sich von Haus aus vorfindet, kann er sich nicht mehr genügen. Er muß höher hinaus. Er reflektiert über sich selbst, und durch diese Spaltung beginnt ein geistiges Element von seinem Wesen Besitz zu ergreifen.
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(3) Die Forderungen der Ethik wirken aber nicht mechanisch, sondern sie appellieren an unsern Willen. Was das bezüglich der Willensfreiheit bedeutet, wird uns später zu beschäftigen haben. Hier genügt es zu verdeutlichen, daß die Ethik sich an das Ich des Menschen wendet, das Ich herausruft und herausfordert. In der theoretischen Wissenschaft ist es eine bekannte Sache, daß ich unter Umständen von meinem Ich absehen, daß ich meine Vorurteile und meine Bedingtheiten einklammern muß, um den Gegenstand unbeeinflußt erkennen zu können. In der psychologischen Analyse kann sich das Ich in ein Es verwandeln. In der Ethik aber kann man nicht vom Ich absehen. Ohne Ethik ist der Mensch ein Bündel von Trieben und Leidenschaften, Ängsten, von Drang. Aber die Ethik appelliert an das Ich, um durch dessen Dienst und Vermittlung in das wirre Getriebe der unteren Regionen Ordnung zu tragen. In diesem dreifachen Sinn leistet die Ethik für den Menschen ganz allgemein Folgendes: Sie steckt den Bereich des Menschlichen ab. Sie „definiert", nicht im Sinn des strengen Begriffs, sondern sie steckt Grenzpfähle. Sie macht deutlich: Bis dahin reicht das Menschliche — aber auch: bis dorthin mußt du gelangen, dies mußt du tun, dies mußt du unterlassen, um ein Mensch zu sein. Nur ein Mensch kann sittlich oder unsittlich handeln. Das hat eine dreifache Ausschließung zur Folge: (1) Es gibt keine Ethik Gottes. Gott bedarf keiner ethischen Normen, wie auch alle ethischen Begriffe, mögen sie im Sinn von Geboten, Verboten, Werten, Pflichten oder wie immer verstanden werden, auf Gott nicht anwendbar sind. Darum verbietet sich auch die mancherorts geübte Redeweise, daß Gott etwas aus dem oder jenen Grunde „geziemt". Ebenso verbietet sich aus dem genannten Grund die bei Duns Scotus verhandelte Frage, ob das Gute gut sei, weil Gott es so will, oder ob Gott das Gute wolle, weil es gut sei. Das heutzutage stärker als damals empfundene Unmögliche dieser Fragestellung klärt sich auf, sobald man auf die Vermengung ethischer und theologischer Kategorien aufmerksam geworden ist. Vgl. R. Seeberg: Lehrbuch der Dogmengeschichte, 3. Bd., 19594, S. 578.
(2) Ebenso gibt es keine Ethik der Engel. Die Engel leben als Boten Gottes, als gute Geister in reinem.Entschiedensein für Gott. Die Situation der Entscheidung, die eigentümlich menschliche Labilität liegt hinter ihnen. (3) Es gibt keine Ethik der Tiere. Man wendet zwar gelegentlich ethische Begriffe auf das Verhalten der Tiere an, wofür die sprichwörtliche „Treue des Hundes" ein Beispiel ist. Zur Ethik gehört es aber, daß
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man sich über seine Pflichten, über das sittlich Notwendige ebenso wie über das Zulässige oder auch Verbotene vernünftig verständigen kann. Damit ist nicht bestritten, daß es ein sittliches Verhalten des Menschen gegen Gott, gegen die Engel und gegen die Tiere gibt. In diesem Sinn hat Arthur Schopenhauer in der Konsequenz seiner Mitleidsethik auf die Pflichten des Menschen gegen die Tiere wiederholt aufmerksam gemacht. Vgl. Die Welt als Wille und Vorstellung (1818) I. Bd., 4. Buch, § 6 6 ; ausführlicher in der Preisschrift : Über die Grundlage der Moral (1840), § 19, Abs. 7.
Wenn die Ethik derart den menschlichen Bereich umschreiben soll, so wird man sich um so mehr darüber verständigen müssen, was sie nicht zu leisten vermag. (1) Die Ethik schafft die Ausgangssituation unseres sittlichen Handelns nicht. Sobald wir vor einer sittlichen Entscheidung stehen, finden wir uns bereits in einer Lage vor, die wir nicht geschaffen haben, für die wir vielleicht überhaupt niemanden verantwortlich machen können, es sei denn, wir glauben an Gottes Führung. Wir reden dann gemeinhin vom Schicksal, also von dem, was uns in irrationaler Weise zugeschickt worden ist. Daß wir in unserem Jahrhundert, daß wir in diesen Jahren leben, daß wir Deutsche, Amerikaner oder Russen sind, daß wir Mann oder Frau sind usw., dafür kann keiner. Diese Ausgangssituationen sind nicht ethisch zurechenbar. Ich kann keinen Menschen dafür haftbar machen, daß er in seiner Zeit lebt, ein Kind seines Volkes, seiner Rasse, Mann oder Frau ist und aus bestimmten sozialen Verhältnissen stammt. Unnötig zu sagen, daß dies keine Ausschaltung der Ethik überhaupt bedeutet. Die Ethik wird hier nur an einen anderen Ort verwiesen. Sie hat eine nachgängige Bedeutung. Sie hat sich auf die vorfindliche Situation zu beziehen und sich damit bzw. mit dem Verhalten des Menschen in dieser Situation zu beschäftigen. Sie hat aber nicht die Situation selbst bereits dem sittlichen Urteil zu unterwerfen. (2) Die Ethik füllt die menschliche Zielsphäre nicht. Zu jedem Menschen gehört seine Bezogenheit auf Lebensziele. Wir haben davon im 11. Kapitel ausführlich zu sprechen. Aber diese Zielsphäre wird nicht von der Ethik gefüllt. Die Wahl des Berufs, die Gattenwahl, die Entscheidung für einen bestimmten Lebensstil wird nicht in erster Linie nach ethischen Gesichtspunkten getroffen. Was dir und mir gemäß ist, ist keine vorwiegend ethische Frage. Das bedeutet wiederum keine Ausschaltung der Ethik. Die Ethik wird auch hier wieder nur an einen anderen Ort verwiesen; denn sobald die Entscheidung für ein Lebensziel fällt und der Mensch sich diesem Ziel zu nähern, anzugleichen, sich darauf einzustellen beginnt,
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wird die Ethik selber ihre Sprache wiederfinden, freilich bei jedem Menschen in anderer Weise; denn keiner gleicht dem anderen und gerade bezüglich des Lebenszieles ist jeder unvertretbar er selbst. (3) Eine voreilige Einmischung vermeintlich ethischer Gesichtspunkte kann unter Umständen erheblich stören. Die Werke der Kunst setzen eine freie Entfaltung der Kräfte der Phantasie, der schöpferischen Fähigkeit des Künstlers voraus. Aber jeder Künstler kennt auch die Hemmungen, die nicht nur im Material liegen, sondern auch sonst in der äußeren Beeinträchtigung seines Schaffens bemerkbar werden können. So kann eine voreilige Einmischung ethischer Gesichtspunkte gewisse Themen verbieten. Der Architekt kann bei der Planung einer Kirche durch die Forderung einer moralisch motivierten „Schlichtheit" der Lösung erheblich gehemmt werden. (4) Vor allem aber gibt die Ethik keine Anweisungen für das geschäftliche und politische Handeln. Im Geschäftsleben wird weder die Wünschbarkeit noch die Tunlichkeit eines Geschäftsabschlusses ausschließlich durch die Ethik bestimmt. Der Preis einer Ware wie die Verrechnung der Interessen muß „sachlich'' bestimmt werden, so sehr der Umgang der Geschäftspartner, die Behandlung des Kunden, die Berücksichtigung des Kredits unmittelbar mit der Ethik zu tun haben. Es gibt hier einen Bereich zwischen dem geschäftlich Notwendigen und der Ethik, in dem sich der ethische Schaden unmittelbar in einem geschäftlichen auswirkt, und außerdem einen Bereich, der schwer faßbar ist: es ist der Bereich des Kompromisses, der ein schwieriges Problem darstellt. In der Politik liegen die Dinge mindestens ebenso deutlich zutage. Die Ethik setzt keine politischen Ziele, sondern sie kann politische Ziele nur nachträglich, mitunter in einer ganz unmittelbaren Folge bestätigen oder verwerfen. Mit der Ethik allein kann man nicht Politik machen, sie ersetzt die Phantasie nicht. Wir erleben es nur zu häufig, daß die mangelnde Phantasie in der Herbeiführung immer neuer unerwarteter Lösungsmöglichkeiten geradezu ethisch getarnt wird. Man sagt, man müsse Charakter beweisen, sein Recht fordern und auf seinem Recht beharren und verbirgt durch eine solche Rede nur, wie wenig Erfindungsgabe vorhanden ist, um auf dem Feld des politischen Spiels, des politischen Handels und Verhandeins einen Ausgleich der Interessen und eine Annäherung an die wahren Ziele zu finden. Gerade auf dem Feld des geschichtlichen Lebens sind die vier großen Imponderabilien, nämlich die Ausgangslage, die Welt der Ziele und des Bedarfs, die Phantasie und schließlich der Erfolg durch keinerlei ethische
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Grundsätze zu ersetzen. Freilich dispensieren diese Imponderabilien auch nicht von dem Einfluß der Ethik. Es ist nur so: der handelnde Politiker hat die Ethik nicht als leitenden Genius vor Augen, sondern er hat sie als unerbittlichen Richter im Nacken. Sie steckt insgeheim das Feld, die Grenzen seiner Möglichkeiten ab. Eben dieses Mögliche, das, was man tun kann und was man lassen muß, ist weithin eine ethische Überlegung. Zwischen diesen Imponderabilien und der Ethik droht audi die Nemesis des geschichtlichen Lebens. Wenn man den Ausdruck einmal wagen darf, könnte man sagen: Es ist eine sittliche Pflicht des Politikers, Phantasie zu haben; es ist seine Pflicht, Erfolg zu haben oder wenigstens den Mißerfolg zu vermeiden. Wehe dem, der trotz dem Mangel an Phantasie und trotz dem vermeidbaren Mißerfolg seine Rolle spielt. Hier beginnt das Unverrechenbare am geschichtlichen Leben. A m Rande der strengen Ethik, die von Kants klassischer Frage bewegt wird: „Was sollen wir tun?", entsteht immer ein Spielraum freier Betrachtung, Beschreibung und Besinnung. In ihm haben sich die französischen Moralisten, La Rochefoucauld, La Bruyère u. a. oder der Göttinger Lichtenberg getummelt und dem Verhalten der Menschen ein tiefsinniges, heiteres, ironisdies und audi dialektisches Interesse zugewendet. D i e Reflexion über den menschlichen Charakter, das Nachdenken über Vielfalt und Tiefe der „einfachen Sittlichkeit" (O. Fr. Bollnow) ist für jede Ethik unverzichtbar und verhilft ihr zur Anschaulichkeit, zu ihrem Wirklichkeitsbezug und zur Wahrnehmung der Grenzfälle, aus denen schließlich das gelebte Leben besteht.
3. Die Entstehung
der wissenschaftlichen
Ethik
Jeder Mensch handelt, verhält sich ununterbrochen, ohne erst die Ergebnisse der Ethik oder eines ethischen Nachdenkens abzuwarten, ja meistens sogar, ohne sich jemals um ethische Überlegungen zu kümmern. Es gibt ein vorethisches Verhalten, das nicht mit „vorwissenschaftlich", „außerethisch" oder gar „unethisch" verwechselt werden darf. Wir meinen das gewöhnliche menschliche Verhalten, das sich ständig und alltäglich ohne weitere Reflexionen vollzieht. Dieses Verhalten ist keineswegs von der Ethik gelenkt, aber es ist doch ein Material ethischer Beobachtung und Kritik. Es zeigt sich bei näherem Zusehen sehr bald, daß dieses vorethische Verhalten nicht nur aus dem Drang und dem Bedürfnis des Alltags nach Nahrung, Kleidung, persönlichem Schutz, Tätigkeitsdrang usw. entspringt, sondern daß es darüber hinaus geregelt, normiert ist. Wodurch wird es bestimmt? Man wird zunächst einfach auf „die Sitte" im landläufigen Sinn hinweisen müssen. Der Ausdruck ist nicht ohne Miß-
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Verständlichkeit, weil wir ja auch die Ethik gelegentlich als Sittenlehre bezeichnen. Auch der griechische N a m e der Ethik macht keinen prinzipiellen Unterschied. Die Sitte ist eben ein Vorstadium der Ethik, ist ihr Material; denn auch sie stellt bereits eine Regel menschlicher Verhaltensweise dar. Die Sitte ist z w a r immer in ihrer Geltung örtlich begrenzt. Sie ist im höchsten G r a d wandelbar. Ihre Grundsätze werden durch eine stillschweigende Ubereinkunft „der Leute" in K r a f t gesetzt und erhalten. Die Sitte besteht in aus Nützlichkeit, Glaube oder Aberglaube gespeisten Bräuchen, dem Ritual des Volkslebens, aber auch einfach in dem, was man als Anstand versteht. Kurz, in dem „was man tut". Diese consuetudines, zu denen H e r k o m m e n und Uberlieferung ihr reiches Teil beigetragen haben, kommen dem Menschen mitunter gar nicht als solche zum Bewußtsein. Im Unterschied zu dieser fast unbewußten Sitte weist die Moral einen eigenartig ethischen Einschlag auf. Auch hier wird man zunächst darauf aufmerksam machen müssen, d a ß die begriffliche Tradition die Moral und die Ethik nicht deutlich unterscheidet; wird doch die Ethik auch als Moralphilosophie oder Moraltheologie bezeichnet. U n d doch sind bemerkenswerte Unterschiede hervorzuheben, die selbst dann nicht vernachlässigt werden dürfen, wenn man weithin die Sitte in dem geschilderten Sinn mit der Moral verflochten findet. Die Moral ist noch nicht selbst Ethik, aber sie stellt ein System von Grundsätzen dar, kann wenigstens als ein solches System beschrieben werden, das das menschliche Verhalten des Einzelnen positiv oder negativ leitet. Diese Moral ist nicht einfach Ausdruck der sittlichen Einsicht des Menschen. Sie ist ein vorkritisches Stadium der Regelung des menschlichen Verhaltens. Für die Moral genügt es im allgemeinen, d a ß sich ihre Grundsätze bewährt haben, d a ß man mit ihnen durchkommt und d a ß man sich unter Berufung auf sie jederzeit rechtfertigen kann. Die Moral ist pragmatisch. In ihr gilt das „probatum est". Ja, unter Berufung auf die geltende Moral weidit der einzelne geradezu der persönlichen Entscheidung aus, dispensiert er sich von der höheren ethischen Forderung: „Heutzutage machen das alle so." Moral, in diesem Sinn verstanden, bedeutet immer ein Niveau, auf dem sich das durchschnittliche sittliche Verhalten der Menschen abspielt. Alle Moral ist konventionell. I h r eignet eine gewisse Anonymität, eine Entferntheit von der personalen Sphäre. Infolgedessen heben sich einzelne profilierte Verhaltensweisen von dieser Moral ab. Von der Durchschnittlichkeit aus gerechnet, gibt es ein Darüber- und ein D a r unterstehen. „Sittlich hochstehende" Menschen heben sich deutlich von
Die Entstehung der wissenschaftlichen Ethik
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dem geltenden Moralniveau vorteilhaft ab. Andere wiederum sinken unter dieses Niveau und gelten daher als asozial; wieder andere werden durch das allgemeine Niveau der Moral und ihren insgeheim verpflichtenden Charakter gehalten. Am Tieferstehenden übt die Moral in der Tat so etwas wie eine ethische Funktion aus. Aber es kommt noch nicht zu einer echten ethischen Kraft dieser Moral, weil sie dem ethischen Alleingang der Persönlichkeit die Geltung ihres Stilgesetzes entgegenstellt. Im ganzen ist die Moral ein Stil des äußerlichen Verhaltens und des Urteils. Die Moral reicht nicht nach innen. Darum kann man die Moral statistisch erfassen (Moralstatistik). Die Moral ist, so betrachtet, weitgehend von äußeren, gesellschaftlichen oder politischen, Situationen abhängig. Die Kriminalität sinkt oder steigt, und je nach den soziologischen Voraussetzungen einer Periode werden gewisse Verbrechen aus der Zeitlage erklärt, mitunter sogar entschuldigt, die zu anderen Zeiten verurteilt und schwer geahndet werden. Die Beurteilung der ehelichen Treue, Prüderie oder unbekümmert in die Öffentlichkeit getragene Erotik wirken bis in die Statistik der ehelichen oder unehelichen Geburten hinein. Wiederum ist die sexuelle Moral relativ zum Wohnungsmarkt und zum Ernährungszustand der Menschen. Die Ehrlichkeit bzw. die Neigung zu Diebstählen hängen mit der materiellen Satuiertheit eines Volkes zusammen. Die politische Moral ist relativ zur Stabilität der staatlichen Verhältnisse. Alle Moral ist wandelbar. Sie ist nichts Eindeutiges. Es gibt viele Moralen nebeneinander. Wie es typische Veranlassungen des moralischen Wandels gibt: Kriege, Inflationen und Deflationen, Zwangswirtschaft oder freier Markt, so gibt es auch die Moral einzelner gesellschaftlicher Schichten. Es gibt Zusammenbrüche des in gehobenen Ständen moralisch Üblichen unter dem Eindruck äußerer Katastrophen. Alle Moral hat insofern etwas Zweckhaftes. Sie versinkt, wenn sie sich nicht mehr bewährt, wenn sie nicht mehr zu den Verhältnissen „stimmt". Es ist ein Wahn zu meinen, man könne diese öffentliche Moral — und alle Moral in diesem Sinn ist öffentlich — durch bloße wissenschaftliche Überlegungen, durch ethische Appelle oder durch „Predigten" beeinflussen. Sie wird aus anderen Tiefen regiert, und das ist ein harter, aber nicht wegzuleugnender Tatbestand. Fr. Nietzsche hat in seiner Schrift: Zur Genealogie der Moral (1887) das Ressentiment als eine vitale Ursache zur Entstehung der christlichen Moralbegriffe zu erkennen geglaubt. Er hat sich dabei bezüglich der Deutung paulinischer Begriffe sicherlich übernommen und vergriffen, aber er hat in dieser grundlegenden Schrift doch einmal die Tatsache außersittlicher Motive nicht
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nur für das menschliche Verhalten, sondern audi für die Entstehung von Leitbildern des menschlichen Verhaltens dargetan, und er hat die Rolle des Ressentiments unter diesen Motiven in soldier Deutlichkeit geradezu entdeckt. Im einzelnen ist auf M. Sdielers A u f s a t z : D a s Ressentiment im A u f b a u der Moralen, im Sammelband: V o m Umsturz der Werte, (1915) 1955 4 , zu verweisen. N o d i deutlicher madit A. Piade die Bedingtheit der geltenden „ M o r a l " in seinem Buch: Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral, 1969®. Hier ist es die „Gesellschaft" selbst, welche Gehorsam, Unterordnung, Pünktlichkeit, sexuelle Enthaltsamkeit u. a. als „Tugenden" statuiert, um durch eine „repressive M o r a l " ihre Herrschaft zu stabilisieren.
Was wir hier über die Moral dargelegt haben, ist selbst bereits von einer Kritik der Moral durchsetzt. Zu dieser Kritik an der Moral wird jeder veranlaßt, der über sie nachdenkt, um zu entdecken, daß er diese Moral ja gar nicht gemeint hat, als er nach der Aufgabe der Ethik fragte. Echte Sittlichkeit, so meinen wir, bedeutet eine Stufe, die über die Moral hinausführt. Echte Sittlichkeit ist nicht ohne eine Emanzipation von der Moral vorstellbar; denn nun kann sich der Mensch nicht mehr hinter das „Man" verstecken, sondern er muß er selbst sein. In der Moral gebe ich mich dem allgemeinen Stil hin und verzichte auf die eigene Entscheidung. Die eigene sittliche Einsicht ist aber eine höhere Instanz als dies bloße Einfügen in das moralisch Übliche. Sittlich ist ein menschliches Verhalten erst dann zu nennen, wenn es aus unmittelbar eigener Einsicht geboren ist, wenn es von mir selbst verantwortet wird und mich über das Niveau der consuetudines, der bloßen Sitte, der augenblicklich und hier geltenden Moral hinaushebt. Wir bezeichnen dieses persönlich verantwortete Verhalten als „ethisch". Wir meinen damit nicht, daß jeder, der solchermaßen ethisch lebt, nun einen auffälligen Alleingang in der menschlichen Gesellschaft antreten müsse. Die ethische oder, anders gesagt, die sittliche Verantwortung kann den Menschen durchaus in Reih und Glied des alltäglichen Pflichtenlebens zurückführen, wo er unauffällig das Seine tut, aber er tut es eben dann mit Überzeugung, Bewußtsein und in eigener Verantwortung. „Ethisch" bedeutet freilich auch nicht, daß ein solches Verhalten bereits aus einer wissenschaftlichen Überlegung stammt. Der sittlich handelnde Mensdi hat „Ethos", und dieses Ethos läßt sich je und je inhaltlich beschreiben, es läßt sich auch begründen. Wann aber können wir von „Ethik" reden? Ethik beruht in der Tat auf einem kritischen Nachdenken über das menschliche Verhalten im weitesten Sinn, über menschliche Beziehungen, Lebensformen, über die ganze Gestaltung des Menschseins. Dieses kritische Verhalten reicht freilich zur Kennzeichnung einer ethischen Wissenschaft noch nicht aus, wenn es lediglich auf individuelle Kritik beruht; hat doch auch der
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Verbrecher ein kritisches Verhalten zur geltenden Moral. Erst dann, wenn ich mich über die Grundsätze meiner Kritik mit anderen Menschen vernünftig und f ü r sie einleuchtend verständigen kann, kann ich f ü r diese Kritik wissenschaftlichen Charakter in Anspruch nehmen. Überdies m u ß die Kritik und nicht nur sie, sondern das ganze Nachdenken über menschliches Verhalten und menschliches Sein methodisch geordnet werden. Wissenschaftliche Ethik muß ihr Verfahren einsichtig begründen können, m u ß angeben können, in welchen Zusammenhang und an welchen O r t ihre Aussagen gehören. Wissenschaftliche Ethik m u ß schließlich auf eine vorläufig abschließende Gesamtanschauung abzielen. Dies klingt widersprüchlich; denn es gibt in der T a t in aller Wissenschaft, die den N a m e n verdient, keine abschließenden Sätze, die nicht einer N a c h p r ü f u n g ausgesetzt werden können und auf Revision gefaßt sein müssen. Andrerseits liegt in allem wissenschaftlichen Erkennen, unerachtet dieser Revisionsbereitschaft, ein D r a n g auf abschließende Erkenntnis. Ein Verzicht auf solche abschließende Erkenntnis, die jeweils auch den O r t erkennen lassen muß, an dem der Ethiker selbst steht, ist kein Ausdruck der Weisheit, sondern häufig n u r ein U n vermögen, mit seinen Einsichten — wenn auch noch so vorläufig — zu R a n d zu kommen. Diese drei Kriterien gelten auch f ü r die christliche Ethik. Auch sie m u ß ein einsichtiges, kritisches Nachdenken über das menschliche Verhalten, über das Menschsein üben. Auch sie m u ß zu einem methodisch geordneten und in seinen Teilen sinnvoll verknüpfenden Nachdenken über ihren Gegenstand kommen. Auch sie m u ß auf eine vorläufig abschließende Gesamtanschauung der Ethik hinzielen. 4. Zur Methode der Ethik Man soll methodologische Fragen nicht überschätzen. Die Methode muß sich immer aus der Sache selbst ergeben und bedarf in dem Maße, als sie sich von daher selbst erschließt, auch keiner besonderen Erklärung. Immerhin mögen ein paar Bemerkungen zum Plan des Buches und zum Verfahren in den einzelnen Kapiteln hier am Sdiluß der Einleitung angefügt werden. Der Aufriß des Buches ergibt sich aus dem Umstand, daß die Ethik angewandte Anthropologie ist. Sie handelt von dem ständigen Zu-sich-selbst-kommen des Menschen, v o m täglichen Innewerden seiner Bestimmung. D a v o n war einleitend die Rede. Ihr Ort in der Dogmatik ist also die Anthropologie. Daraus erklärt es sidi, daß die Prinzipienlehre hier (3.—5. Kapitel) den Anschluß an die Dogmatik (in meiner Dogmatik 11.—14. Kapitel) darstellt, nicht im Sdileiermachersdien Sinne v o n „Lehnsätzen", sondern in der spezifischen Wendung derselben Thematik zur Ethik hin. — Der zweite Hauptteil beschreibt das sittliche Bewußtsein. D a s klingt philosophisch, aber wenn sonst die theologische Ethilc statt dessen v o m Gehorsam des Glaubens, von
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unserem In-die-Entsdieidung-Gestelltsein oder von der Erkenntnis des Guten spricht, so ist eben dodi nichts anderes gemeint. Es sind jene Fragenkreise, in denen der Mensch bei sidi selbst ist und vor Entscheidungen steht, die ihm niemand abnehmen kann. Das ist nicht einfach die alte Individualethik. Wenn es aber heute wie eine undiskutierbare Tatsache kolportiert wird, d a ß die Individualethik erloschen sei, „weil der Einzelne eine soziale und politische Existenz ist und als Einzelner nicht ohne diese begriffen werden kann" (H.-D. Wendland: Einf. in d. Sozialethik, 1963, 6 f.), so kann man dagegen nur schlicht die unverzichtbaren Themen in Erinnerung rufen, ohne die es keine sittliche Existenz gibt: das Gewissen, die Erfahrung sittlicher Forderungen, die Frage nach dem eigenen Lebensziel. Am Begriff der Individualethik liegt nichts; idi habe ihn audi nidit gebraucht. Aber solche durch die theologische Mode verhängten Sperren über sachlidie Fragestellungen sind unerträglich. Im dritten Hauptteil habe ich die Probleme der N a t u r und der Kultur von dem herkömmlichen Zusammenhang mit der Sozialethik losgelöst. Man kann über dieses Verfahren natürlich streiten. Idi denke nidit daran zu bestreiten, d a ß die hier verhandelten Dinge eine sozialethisdie Seite haben. Aber sie haben eben umgekehrt audi eine andere Seite, welche, wie mir scheint, weder einfach in die Ethik der Person noch in die Sozialethik hinein aufgelöst werden kann. Ich möchte an Folgendes erinnern. Im eigenen Leib, in der Sexualität steht der Mensdi einer durch Gott anvertrauten Gabe gegenüber, die weder einfach mit dem eigenen Idi übereinkommt noch schon ein soziales Phänomen ist. Es ist eine eigentümliche Zwisdienlage. „Kann ich mit meinem Leibe machen, was ich will?" — das ist nodi keine Frage der Sozialethik. Und ebenso verhält es sich, wie mir scheinen will, mit der Kunst. Wer freilich die Kunst nur aus dem Konzertsaal oder dem Museum kennt, f ü r den ist sie ein soziales Phänomen. Aber da, wo sie zu einem Problem des Künstlers wird, also in den Fragen der schöpferischen Entscheidung, liegt sie in einer eigentümlichen Zwischensphäre. Ebenso ist es mit der Technik. Die heute beherrschende Frage des Technikers selbst: „ D a r f ich das realisieren, was ich an sich k a n n ? " , wirft ihn auf sich selbst zurück. Er ist in diesen Fragen mit sich selbst und seinen technischen Möglichkeiten allein. Hieran muß die Ethik denken. Wenn die Dinge ans Licht der sozialen Wirklichkeit treten, dann ist es immer schon zu spät. D a ß die Sozialethik hier den breitesten Raum einnimmt, sieht jeder Leser. Niemand weiß besser als ich, welche Wünsche trotzdem offen bleiben. Vielleicht ist es doch gelungen, sich mit dem Leser über eine Grundeinstellung zu den Fragen der gesellschaftlichen Mächte zu verständigen. Noch ein Wort zur Methode innerhalb der einzelnen Kapitel. Die an der Anthropologie gewonnene Gesamtauffassung führt uns jeweils vor die Sachfragen. Denn die Themen, die wir zu verhandeln haben, entstammen nidit einem christlichen Prinzip, sondern sie haben ihren Ursprung in unserer mit allen Menschen gemeinsamen Menschlichkeit, in ihren unabweisbaren Bedürfnissen, Verlegenheiten und Notwendigkeiten. N u n glaube idi, d a ß es eine Sorgfaltspflicht des Ethikers sein muß, sich eine genaue Vorstellung von dem zu machen, wovon er spricht. Er muß also Sachverhalte und Begriffe zuerst sorgfältig auf ihren Gehalt befragen. Was ist der Sinn eines Begriffes? Können wir ihn heute nodi im traditionellen Sinne verwenden? Welchen Strukturen sehen wir uns gegenüber? Inwieweit erkennen wir an ihnen und ihrem Wandel
Zur Methode der Ethik
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die Geschichtlichkeit unseres Daseins? Ergeben sich aus dem „Wesen" einer Sache bereits bestimmte Aufforderungen an den Menschen, so wie sich etwa aus dem „Wesen" der Ehe unmittelbar praktische Folgen ergeben müssen, wie jeder einsehen wird? Ich habe midi bei diesem Verfahren, meiner eigenen geistigen Geschichte gemäß, der phänomenologischen Methode bedient, was im einzelnen nicht viel sagen will. Idi kann mir nicht vorstellen, d a ß ein Ethiker ohne solche Sadianalysen auskommt. D a ß diese Analysen noch kein christliches Wort zur Sache sind, weiß ich natürlich auch. So sehr eine christliche Ethik aber durdi ein Apriori des lebendigen Glaubens in Gang kommt — idi habe davon im Eingang der Einleitung gesprochen — so sehr ist es ihr Schicksal, gegenüber den konkreten Fragen umgekehrt zu verfahren, nämlich aposteriorisch. Das will sagen: Wir müssen zuerst auf die Sachen sehen und dann fragen, was das nun „christlich bedeutet". Mitunter liegt dann das Einfache am Tage und auf der H a n d . Mitunter müssen wir weite Strecken der Reflexion durchschreiten, bis wir den uns vorgezeichneten Weg sehen. Oft haben die Alten einen R a t gewußt und wir Heutigen wissen ihn nicht mehr in jener beglückenden und beschämenden Deutlichkeit, weil sich die Dinge und auch unsere eigenen Einsichten verwandelt haben. Es ist dafür gesorgt, daß eine heutige Ethik, mag sie noch so unbeirrt ihre Straße ziehen, nicht zu einem stabilen System wird. Die Geschichtlichkeit unseres Daseins, die schwer abzusehende grundstürzende Veränderung der uns umgebenden Welt, die uns ja in ihre Veränderungen mitnimmt, und nicht zuletzt die unverrechenbare, immer neue Situation — sie sorgen dafür.
I. A N T H R O P O L O G I S C H E
GRUNDBEGRIFFE
DER C H R I S T L I C H E N E T H I K 3. Kapitel Schöpfung
und
Gesetz
1. Conditio humana Was der christliche Glaube vom Menschen auszusagen hat, das schwingt immer um drei Grundgedanken, welche — jeder in seiner Art — vielfältige Möglichkeiten der Ausdeutung und der Verwirklichung in sich tragen. Es ist einmal der Gedanke, daß der Mensch Gottes Geschöpf ist. Er ist nur Geschöpf; das erinnert an seine Kleinheit und an seine Grenzen. Aber er ist ein Geschöpf, dem eine unerhörte Bestimmung auf den Weg mitgegeben ist: Er ist nach dem Bilde Gottes geschaffen, und er soll sich mehren und die Erde sich untenan machen. Der zweite Gedanke ist, daß dieser Mensch sich mit Gott in der Sünde entzweit hat, aber daß die Gnade Gottes ihm das Leben neu geschenkt und ihn auf einen weiten Weg seiner Bestimmung entgegen gesetzt hat. Der dritte Gedanke ist der der Freiheit. Sie ist ihm schon im Anfang als relative Freiheit auf den Weg mitgegeben, und sie steht als Ziel immer noch vor ihm. Aus den Elementen dieser drei Grundgedanken ist die Geschichte des Menschen gewebt, sie sind im Mythos von Schöpfung und Sündenfall vorgedeutet, sie sind der Rohstoff der Ethik, die eben darin angewandte Anthropologie ist, wie ich in Kap. 2,2 gezeigt habe. Idi habe hier keine dogmatische Anthropologie auszuführen, wie ich es in meiner Dogmatik im 11.—14. Kap. versucht habe. Anthropologie soll im Zusammenhang der Ethik sofort an die gegenwärtige Erfahrung erinnern. Aller Glaube, auch der Glaube an Gottes Schöpfung, ist ja Gegenwart und meint Gegenwart. Er bedeutet keine von vorneherein gegebenen Lösungen des Rätsels Mensch. Er soll uns aber Richtungen anzeigen, in denen wir gehen müssen, um das Rätsel Mensch, also uns selbst und unser Dasein in der Welt, in unserer Gegenwart, die uns täglich vor neue Entscheidungen stellt, zu ergründen, und um uns in den wechselvollen Situationen zurechtzufinden, in denen wir uns verfangen und froh sein dürfen, wenn wir die nächsten Schritte wissen.
Es ist kein „Rückblick", wenn wir nach der Conditio humana fragen. Wie ist dieser Mensch eigentlich beschaffen, der wir doch selber sind?
Conditio humana
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Er ist in diese Welt offenbar schon ursprünglich mit einer relativen Freiheit hineingestellt, und diese Freiheit ist seine große Verlegenheit. Dieser Mensch hat es immerzu mit Gott zu tun, und er findet sich doch ganz allein. Der Mensch ist ein Risiko Gottes. Er ist ein Bündel von Möglichkeiten. Seine Weltoffenheit, das freie Auge-Handfeld, das vor ihm liegt, sobald er sich nur aufgerichtet hat, ist oft in der Anthropologie beschrieben worden. Seine Gliedmaßen, seine Sinnesorgane sind von Hause aus unspezifisch, erst weitausgreifende Lernprozesse sind erforderlich, um den Menschen zu spezialisieren. Er ist instinktarm, und das heißt, daß auch seine Sinne erst erzogen werden müssen, daß das Instrument des praktischen Verstandes den Stil eines zweckmäßigen Handelns mitkonstruieren muß. Andererseits ist der Antriebsüberschuß, angefangen bei der zu jeder Zeit wachen sexuellen Fähigkeit, von keiner „Natur" in Schranken gehalten. Der Mensch muß sich selber seine Regel geben ; ohne die Kultur — als die zweite, selbsterschaffene Natur des Menschen — kann er kein Mensch sein. Der Mensch, wie wir ihn kennen, kann transzendieren, d. h. er ist „der geborene Grenzüberschreiter", er kann lachen und weinen, kann sich verstellen und kann die Grenzen des vor Augen Stehenden, der „sichtbaren Welt" überschreiten, indem er abstrahiert, ideale Gebilde, Zahlen und Begriffe schafft und nach dem Unsichtbaren greift. Mit anderen Worten : Dieser Mensch steht immer zwischen Können und Sollen. Der Mensch k a n n Ja und Nein sagen, er kann widersprechen. Das ist von Anfang an doppeldeutig. Denn es ist die Wurzel seiner sittlichen Autonomie, und es besagt die Möglichkeit, dem Guten, dem Willen Gottes eine Absage zu geben. Der Mensch s o l l , er steht von Anfang an unter einer Bestimmung. Unzufriedenheit und Neugier, Erwartung und Furcht, Pläne und Hoffnungen treiben ihn nach vorwärts, aber die Bestimmung bleibt unerfüllt und vieldeutig. Vor allem aber gilt, daß der Mensch steigen und sinken kann. Alle Erinnerungen an die „Bestimmung des Menschen" ist eine Erinnerung daran, daß er steigen soll. Er soll die Natur beherrschen, seine eigene ebenso wie die ihm anvertraute Natur, die ihn umgibt. Aber er kann auch fallen. Die Geschichte vom „Sündenfall" ist die stete Erinnerung an diese Entdeckung. Nicht die Schöpfung, nicht die Natur, nicht das Tier, nidit die Welt ist nach der christlichen Lehre gefallen, sondern nur der Mensch. Das Leben, das Gott schafft und gibt, ist gut, und erst der Mensch zieht es in die Mitleidenschaft am Bösen mit hinein. 3 Trillhaas'i Ethik
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
Ich weiß, daß ich mit diesen sehr knappen Sätzen Kritik herausfordern werde. Nicht so sehr wegen der verkürzten Aussagen, audi kaum wegen der Übergehung des dogmatischen Details. Es ist vielmehr die Verbindung der biblischen Mythologie von Schöpfung und Sündenfall mit den Einsichten der heutigen stark von der Biologie beeinflußten philosophischen Anthropologie. Sie reizt zur kritischen Frage nach den Grundsätzen des Verfahrens. Das gibt mir den Anlaß, zwei grundsätzliche Bemerkungen anzuschließen. Zum einen ist es meine Überzeugung, daß, was immer zur Conditio humana (schon der Begriff hat theologische Wurzeln) ermittelt werden kann, auf seinen theologischen Sinn hin befragt werden kann. Daß die anthropologische Forschung auf eine solche Befragung keine Rücksicht zu nehmen hat, bedarf keiner Hervorhebung. Bei aller berechtigten und wohlbegründeten Vielfalt der anthropologischen Aspekte ist es auch für die theologische Anthropologie ein sachliches Bedürfnis, sich davon zu überzeugen, ob ihre Aussagen mit der empirischen bzw. philosophischen Anthropologie zusammenstimmen", und wenn das der Fall ist, in welchem Sinne. „Stimmen" bedeutet nicht Identität! Zum anderen muß immer daran festgehalten werden, daß christlicher Glaube nicht daran seinen Ausweis haben kann, daß er „weltlos" sich ausschließlich auf Schrift und „Offenbarung" gründet. Der christliche Glaube ist keine Buchreligion. Ebenso ist das christliche Ethos nicht durch seine Abweichung vom natürlichen Ethos gekennzeichnet. Der Gott, der sich in Christus geoffenbart hat, ist der Herr der Welt. Es ist der immerfort wirksame Schöpfer, der auch in dem stummen Kontext des von ihm gewirkten „Lebens" waltet und durch dieses Leben seine unausgesprochenen Forderungen an uns stellt. Ich verweise im übrigen auf G. Wingren: Schöpfung und Gesetz, 1960, 58 f., 64 ff. u. ö. Bezüglich der philosophischen Anthropologie verweise ich auf Arnold Gehlen: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt 1962 7 — ders.: Urmensch und Spätkultur, 1956 — ders.: Anthropologische Forschung (rde 138), 1961 — A. Portmann: Zoologie und das neue Bild des Menschen (rde 20) 1962 5 — H. Plessner: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, 1950 2 — Michael Landmann: Philosophische Anthropologie (S. Göschen 156/156 a), 1969 3 (überall weitere Literatur). Einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der theologischen Anthropologie vermittelt W. Pannenberg: Was ist der Mensch? 1968 s — H . Vorgrimler u. R. van der Gucht (Hrsg.) : Bilanz der Theologie im 20. Jahrhundert, Bd. 1 1969. Allgemein: H . Plessner: Conditio humana. Einl. in d. Propyläen-Weltgeschichte (1961) — R . Schwarz (Hrsg.): Menschliche Existenz und moderne Welt. Ein internationales Symposion zum Selbstverständnis des heutigen Menschen. 2 Bde. 1967.
2. Die Zerstörungsmacht des Bösen W a s ist das Böse? Diese Frage schließt sich unmittelbar an die Einsicht in die nicht festgestellte N a t u r des Menschen an. W i r verstehen dabei die F r a g e nach dem Bösen als eine anthropologische Frage: der Mensch ist so geartet, daß er „böse" sein kann. Die anthropologische
Die Zerstörungsmacht des Bösen
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Fassung der Frage schützt uns am besten davor, in „moralische" Mißverständnisse abzugleiten. Freilich geschieht das in der allgemeinen Diskussion fort und fort. „Gut und Böse" waren schon für Nietzsche Ausdruck eines Wertsystems, mit dem die Schlechtweggekommenen den starken Naturen, von denen sie sich bedroht fühlten, ein schlechtes Gewissen erzeugen wollten. Es ist die Entdeckung des Ressentiments in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" (1885), von der wir schon früher sprachen. Das Böse ist ein Begriff, in dem sich eine gesellschaftliche Konvention ausspricht, die aber in dem Augenblick ihre Macht verliert, indem sie als die Fiktion durchschaut wird, die sie ist. In jüngster Zeit hat A. Plack diesen Gedanken, wenn auch in anderer Wendung, wieder aufgenommen in seiner schon erwähnten Schrift: Die Gesellschaft und das Böse. Hier sind es die Triebe, vor allem der Sexualtrieb, welche als „böse" erklärt werden und darum unterdrückt werden müssen. Es entsteht eine Moral der Unterdrückung, der Repression, die den Menschen hindert, in Übereinstimmung mit seiner eigenen Natur zu leben, und der es nur darauf ankommt, die herrschende Ordnung zu erhalten. Aber dieser zurückgestaute Trieb rächt sich, indem er sich in Aggressionen entlädt, die nun ihrerseits wieder von dieser repressiven Gesellschaftsordnung gutgeheißen werden. Man sieht, dieses so verstandene „Böse" ist eine ganz und gar den Zwecken der heutigen Gesellschaft dienende heimliche Ubereinkunft, die bei einer hinreichenden Aufklärung entschleiert, entmächtigt und in eine friedliche, aggressionslose und natürliche Ethik umgewandelt werden könnte. Übrigens kommt diese Ableitung der Aggression aus einer Fehlleitung zurückgestauter Triebhaftigkeit, wie sie A. Plack in engem Ansdiluß an A. Mitscherlidi vertritt, nicht mit der Theorie von Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse. Zur Naturgesdiidite der Aggression, 1964 s ) überein, nach der mit einem primären Aggressionstrieb zu rechnen ist, der dann in der allgemeinen Beurteilung „moralisiert" wird. Hier besteht dann die Aufklärung darin, daß man das, was bisher „moralisch" aufgefaßt wurde, nunmehr als natürlich begreifen lernt.
Nun ist es keine Frage, daß mit dieser moralkritischen Betrachtung des „Bösen" etwas Richtiges gesehen worden ist. Tatsächlich kann die Gesellschaft, können Lehrer oder Vorgesetzte Widersprüche gegen die von ihnen vertretene Ordnung moralisch als „böse" erklären und dementsprechende Sanktionen androhen. Man kann das moralische Prädikat „böse" zweckdienlich manipulieren. Aber das erklärt doch die Sache selbst keineswegs. Wir bezeichnen mit dem Wort „böse" ja nicht irgendwelche Abweichungen von Regeln und vorgeschriebenen 3*
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
Verhaltungsweisen, sondern wir meinen eine Beschaffenheit d e s W i l l e n s . Nicht dies oder jenes ist „böse", sondern „ich" oder „du" oder „er". Aber es genügt noch nicht, daß einer, wenn schon absichtlich, so doch zugleich naiv oder gar im Bewußtsein der Pflichterfüllung etwas Bestimmtes tut, um dafür als „böse" bezeichnet zu werden. Das eine gilt ζ. B. für Kinder, die „nicht wissen, was sie tun", wenn sie einen Lehrer absichtlich bis zur Dienstunfähigkeit ärgern, das andere, wenn ein Soldat im Krieg auf einen anderen schießt. Zum „Bösen" gehört die „Bosheit" des Willens, die „Bösartigkeit", die genau weiß, was sie tut: sie will nämlich „böse" sein. Es schreckt sie gar nicht, wenn ihr die Bösartigkeit vorgehalten wird. Sie sagt J a zur eingestandenen Bosheit. Darin liegt die Tiefe der Bosheit, das „mysterium iniquitatis". Es ist der gewollte Widerspruch gegen das erkannte Gute. Wir verdanken Kant eine mit aller begrifflichen Schärfe geführte Beschreibung des „radikal Bösen" (in der Schrift „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft", 1793,1. Teil). Es hat seine Wurzel im „Herzen" des Menschen, es ist ein „Hang" zum Bösen, und es ist dem Menschen zuzurechnen. Das Böse ist darin so schwer zu fassen, daß es als Widerspruch gegen das erkannte Gute ja audi etwas Vernunftwidriges in sich zu haben scheint. Und in der Tat, es ist die Lust am Bösen, die alle vernünftige Abwägung überrennt. Der Satz ist nicht umkehrbar. Nicht alles, was Lust bedeutet, ist auch darum schon böse. Aber die Lust am Bösen (Kant: der „Hang") ist das ebenso Mächtige wie Irrationale an allem Bösen. Gegen das erkannte Gute gewendet, hat es eine zerstörerische Macht, sobald es sich nur in Worten, in der Verführung eines anderen, in der spöttischen Zersetzung seines Zutrauens zum Guten, in „vergiftenden" Reden äußert, so beweist es seine Zerstörungsmacht. Der Mensch, der solchermaßen dem Bösen ausgesetzt ist, verliert seine Unschuld. Diesen Satz kann man entwicklungspsychologisch verstehen, man kann ihn theologisch für „alle Mensdien" generalisieren, man kann ihn im Sinne einer besonders infizierten moralischen Verderbnis deuten — er wird immer richtig sein. Wie verhält sidi dieses „Böse" zu dem biblisch-christlichen Begriff der Sünde? Es ging mir hier zunächst um eine anthropologische Begründung des Begriffs. Von „Gott" war dabei nicht die Rede. Aber von der Sünde im strengen Sinne kann man nur im Zusammenhang mit Gott sprechen. Die Rede von „Sünde" ist nur im Blick auf Gott, nur im Glauben an ihn sinnvoll. Abgesehen von Gott ist es fast lächerlich,
Das Gesetz als bewahrende Macht
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von Sünde zu sprechen, und die Neigung, Unarten und Schwächen als „Sünden" zu bezeichnen und sie damit geradezu zu bagatellisieren, bestätigt es nur. Das Böse, also die menschliche Möglichkeit, sich wissend und sehenden Auges gegen das Gute, gegen das Leben zu wenden, ist eine Sache, die in der Anthropologie verzeichnet werden muß. Kein Tier kann das. Indem wir von Sünde sprechen, wenden wir diese Sache ins Religiöse. Wie in der ganzen Theologie, so gibt es auch in der christlichen Ethik zwei Möglichkeiten, sich zur Sünde zu verhalten. Die eine Mögligkeit beginnt bei dem Eindruck von der Schwere der Sünde, bei der alles durchdringenden Schwere des Sündenfalles und bei der Unabsehbarkeit ihrer Folgen. Die Theologie des Anselm von Canterbury hat hier ebenso wie der rechte Flügel des Luthertums, Flacius und die Gnesiolutheraner, in der Geschichte die längsten Nachwirkungen gehabt. Die radikale Unfähigkeit des Menschen zum Guten, ja schon seine Unfähigkeit, das Gute zu erkennen, ist die immer wieder bis heute begegnende Nachwirkung dieser Auslegung des Sündenfalles. Auch die vor allem in der Folge der Barthschen Theologie vertretene Auffassung, daß der Mensch nur durch die Offenbarung überhaupt vom Guten wissen könne und sonst nicht (See), hängt damit zusammen. Die andere Ansicht nimmt ihren Ausgangspunkt bei der Verwunderung, daß es nach dem Sündenfall durch Gottes Gnade dodi weitergegangen ist. Gott hat nicht nur den aus dem Paradies vertriebenen ersten Menschen einen neuen Anfang ermöglicht, sondern nun beginnt überhaupt erst die Geschichte. Die Voraussage, daß der Mensch wissen werde, was gut und böse ist (Gen 3,5 vgl. 3,22), hat sich erfüllt und ist von Gott bestätigt. Die ganze nachparadiesische Existenz, Wissenschaft, Technik und Kultur, hat immer wieder das Staunen — oft mehr der Philosophen (Hegel!) als der darin etwas gehemmten Theologen — erregt. Aber auch in der Ethik waren doch der Gedanke der Gnade Gottes, die über Sünde und Fall triumphiert, der Ausblick auf die neueröffnete Chance des Lebens und die nie endende Aufgabe, die im Erbe aktuell fortwirkende Macht der Sünde und des Zerstörungswillens zu bekämpfen, starke Antriebe des Nachdenkens und des Fortschrittes. Die Tiefe des Bösen ist damit nicht bestritten und vergessen, aber sie hat nicht mehr das letzte Wort. 3. Das Gesetz als bewahrende
Macht
Die Sünde ist kein Thema, das die christliche Ethik immerzu zur Sprache bringen müßte, um dadurch sich als christlich auszuweisen. Sie
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
hat alsbald größere, wichtigere und förderlichere Themen und Aufgaben. Und doch stellt uns das Böse, sowohl um uns her wie in uns selbst, vor die unausweichliche Frage, wie wir es bewältigen können. Können wir überhaupt seiner Herr werden? Wir müssen noch einen Augenblick bei dieser Frage verweilen. Entsprechend der doppelten Wahrnehmung des Bösen und seiner Macht, nämlich um uns her in der Welt, und in uns selbst, haben wir auch von einer doppelten Weise der Auseinandersetzung zu sprechen. Die vor dem Bösen schützende und das Leben bewahrende Macht nennen wir das Gesetz. Dieser Schutz des Lebens, der Schöpfung geht uns alle unmittelbar an; denn die Schöpfung ist uns anvertraut, und das Leben ist unser eigenes Leben, mit dem wir stehen und fallen. Aber auch mit dem Bösen, das von uns selbst Besitz ergriffen hat, liegen wir im Streit. Wir haben es in uns zu überwinden. Und sofern es ein Teil von uns selbst ist, haben wir uns selbst zu überwinden. Von dem einen, vom Gesetz und was es bedeutet, soll jetzt in diesem Abschnitt die Rede sein. Von der inneren Auseinandersetzung handelt dann das nächste Kapitel. Wir stoßen sogleich auf zwei Schwierigkeiten. Die erste betrifft den Inhalt des Gesetzes. Denn wir können uns in aller Regel kein Gesetz vorstellen, das uns nicht etwas ganz Bestimmtes auferlegt oder audi abverlangt. Aber wie erfahren wir von diesem Inhalt? Etwas anders ausgedrückt, betrifft diese erste Schwierigkeit die Erkenntnis des Gesetzes. Falls wir das Gesetz als Gesetz Gottes verstehen, liegt es nahe, sich dafür auf die „Offenbarung" zu berufen. Da der Gedanke an private, d. h. individuell empfangene Offenbarungen ausscheiden muß, kann es nur um eine irdisch vermittelte und vielen Menschen gleichermaßen zugängliche Offenbarung handeln. Aber ist nun ζ. B. die Bibel die Auskunftstelle für unsere Kenntnis des Gesetzes? In der Bibel ist vielerlei Gesetz historisch dokumentiert; für Paulus war die alttestamentliche Thora das geltende Gesetz, obwohl er etwa im Römerbrief davon immer nur in der allerallgemeinsten Form spricht, die kaum mehr daran denken läßt, daß er Einzelbestimmungen im Sinne hat. Die christliche Tradition hat den Dekalog als Inbegriff des göttlichen Gesetzes verstanden und geltend gemacht. Aber seine Auslegungsgeschichte ist wechselvoll, und schon bei Jesu eigener Deutung, nämlich in seinem Hinweis auf das Doppelgebot der Liebe als Inbegriff des ganzen Gesetzes (Mt 22,34—40 par.) ist die Zehnzahl des Dekalogs verschwunden.
Das Gesetz als bewahrende Macht
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Tatsächlich ist es schon die unausgesprochene Forderung, die uns im alltäglichen Zusammenleben mit anderen Menschen entgegentritt, welche die Grundform der Erfahrung eines uns verpflichtenden Gesetzes darstellt. Wir brauchen gar nicht viel darüber zu reflektieren, sondern empfinden es unmittelbar, daß für das Verhalten im Umgang mit anderen Menschen uns eine Erwartung entgegentritt, welche ziemlich genau der Erwartung entspricht, die wir unsererseits an das Verhalten anderer Menschen stellen. Auch das hat Jesus in schlichter Selbstverständlichkeit ausgesprochen: es ist die sog. Goldene Regel, „alles, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen audi" (Mt 7,12 par.). Auch hier findet sich nadi unserem Text der Bergpredigt der Zusatz: „das ist das Gesetz und die Propheten". Im Alltag leben wir aus diesem „Gesetz" der Gegenseitigkeit und müssen es gar nicht ausdrücklich erwähnen. Darum ist diese „unausgesprochene Forderung" die ursprünglichste Form des Gesetzes. Wer sie befolgt, der trägt zur Erhaltung des gemeinsamen Lebens bei, er hilft dazu, daß man sich aufeinander verlassen kann. Diese unausgesprochene Forderung ist in jeder nur wünschenswerten Weise allgemeingültig, wie es eben zu einem „Gesetz" gehört, das den Namen verdient. Man muß keine naturrechtliche Theorie, keine wie auch immer geartete Ordnungstheologie bemühen, um es zu verstehen. Paulus hat den Sachverhalt Rom 2,14 hinreichend beschrieben: „Denn wenn die Völker, die das Gesetz nicht besitzen, von Natur die Werke des Gesetzes tun, so sind diese, die dodi das (geschriebene) Gesetz gar nicht haben, sich selbst Gesetz, welche denn damit beweisen, daß das Werk des Gesetzes in ihren Herzen gesdirieben ist, wobei ihr Gewissen ihnen Zeugnis gibt und die Gedanken, die sich untereinander bezichtigen oder auch entschuldigen." Idi weiß midi hier in Übereinstimmung mit K . E . Lßgstrup: Die ethische Forderung, 1968 2 . Mit leichten Vorbehalten folgt ihm G. Wingren: Schöpfung und Gesetz, 63 ff. J e elementarer man den angesprodienen Sachverhalt versteht, je weniger man Theorien einträgt, wie Ordnungstheologie oder Naturrecht, desto überzeugender tritt der Gewinn dieser Einsicht zutage. Unsere Lehre vom Gesetz wird unabhängig von allen Erkenntnisfragen. Dieses Gesetz ist den Menschen so nahe wie die Schöpfung selbst, es ist keinerlei besondere Mitteilung, keine ausdrückliche „Offenbarung", kein Buch erforderlich, um diese unausgesprochene Forderung zu begreifen.
Auch dieses Gesetz in seiner elementarsten Form wird natürlich vergessen, es wird übertreten, es kann um des Vorteils und der Selbstsucht willen verleugnet werden. Darum genügt es nicht, daß es unausgesprochen bleibt, daß es stumm wahrgenommen wird. Es muß ausgesprochen werden. Darum gibt es in der Bibel ein geschriebenes, ein in
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlidien Ethik
Tafeln gefaßtes Gesetz, und darum wird das Gesetz auch gepredigt. Es muß ausgelegt werden, d. h. es muß auf typische Fälle angewendet werden. So dient der Dekalog dazu, der Reihe nach bestimmte „Güter" zu schützen, die Gott den Menschen anvertraut hat: Gottes Namen, seine Einzigartigkeit und seine Ehre, seine Stellvertreter auf Erden; dann das Leben, die Ehe, Eigentum und Nahrung, Ehre, und überdies tritt der Dekalog der Begehrlichkeit entgegen, dem bösen Willen selbst. Was Jesus dazu sagt, ist nichts prinzipiell „anderes". Vielmehr stehen seine ethischen Regeln — wenn man es überhaupt so nennen will — ganz und gar im Kontext der Schöpfung. Nur radikalisiert er das Gesetz, er macht es durchsichtig und unausweichlich, wofür die Bergpredigt im ganzen und im einzelnen Zeugnis genug ist. Ich sprach von zwei Schwierigkeiten, auf die uns das Thema des Gesetzes stößt. Die eine war die Frage seiner Erkennbarkeit. Die andere Schwierigkeit ist die Wandelbarkeit des Gesetzes. Es ist nämlich nicht zu allen Zeiten mit derselben konkreten Ausführung der Gesetzesinhalte zu rechnen. Man kann sich das am einfachsten am Dekalog klarmachen. Man kann den Dekalog „jüdisch" und christlich auslegen. Der Tag des Herrn ist einmal der Sabbat, ein andermal der christliche Sonntag. Ehe und Eigentum unterliegen tiefen gesellschaftlichen Wandlungen. Ebenso die väterliche bzw. die elterliche Autorität. Und man kann mit der Differenzierung bis in die Unterschiede der gegebenen Situationen weiter gehen. Was ist dann am Gesetz eigentlich noch an gleichbleibendem Sinn zu erkennen? Die Antwort liegt im Anfang unseres Abschnittes: Es ist die Funktion des Gesetzes, das in der fortwährenden Schöpfung gegebene Leben zu erhalten und zu schützen. Man könnte es etwas stärker auf den Begriff abgestellt auch so ausdrücken: Die „Definition" des Gesetzes ergibt sich nicht von einem gleichbleibenden Inhalt aus — der ist nämlich nicht exakt zu ermitteln —, er ergibt sich auch nicht von seiner Erkenntnisquelle aus (denn es ist in der Bibel sehr vieles als „Offenbarung" berichtet, was die Empfänger dieser Offenbarung tun sollten), sondern die Wesensbestimmung ergibt sich einzig und allein aus der Funktion des Gesetzes. Es ist nur eine Bestätigung dieser Einsicht, daß die reformatorische Lehre vom Gesetz eine Lehre von seinem „Gebrauch" ist, eine Lehre vom doppelten (oder evtl. auch dreifachen) „usus legis". Wenn man das in aller Schärfe festhält, dann verbietet sich jeder Legalismus von selbst, der in der Geschichte der Kirche soviel Unheil und Mißverständnis hervorgerufen hat. Man hat nicht „alles" getan,
Die Dialektik der Autorität
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wenn man es buchstäblich erfüllt hat (Luk 17,9 f.), und man kann immer noch etwas nennen, was übrigbleibt, wenn man „alles" erfüllt hat (Mt 19,16 ff.). Immmer wieder stoßen wir so audi auf bestimmte Schranken des Gesetzes. Sie liegen in seiner Allgemeinheit. Was ein konkretes Gebot im konkreten Fall für mich heute, für den anderen morgen bedeutet, das bedarf immer noch einer Umsetzung in die Situation. Zu den Schranken des Gesetzes gehört ferner, daß es schützen und bewahren kann und soll, daß es aber niemals den Menschen selber ändern, verwandeln und erneuern kann. Auslegung, Handhabung des Gesetzes ist in Menschenhand gelegt. Daraus ergeben sich auch Schranken, ja sogar Mißbrauch; denn man kann ja seine Macht und Würde für eigene Zwecke mißbrauchen, man kann es sogar religiös manipulieren oder politisch ausnützen. Das Gesetz hält die uns anvertraute Schöpfung in Ordnung, es wirkt äußerlich. Das ist gut und heilsam. Aber es ist nicht alles. Es gilt auch für die Menschen, welche ohne ein Gesetz nicht in ihren Schranken gehalten werden könnten und die ohne Gesetz dem Bösen freien Lauf lassen würden. Es ist darum in einer von der Zerstörungsmacht des Bösen bedrohten Welt unverzichtbar. Trotzdem liegt eben darin auch seine Grenze. Das Gesetz kann sogar, wenn man nichts anderes mehr kennt als nur noch das Gesetz, übermächtig und gnadenlos werden. Es kann die Gnade verdunkeln. Das alles muß genannt werden. Aber wenn diese Schranken begriffen sind, dann kann es als die Wohltat verstanden werden, in der der Glaube die Hand des unsichtbaren Schöpfers in seiner Schöpfung ehrt. 4. Die Dialektik
der
Autorität
An das Thema Gesetz schließt sich das der Autorität für die Ethik unmittelbar an. Denn Autorität bedeutet Gesetz in Menschenhand. Dem Begriff nach ist auctoritas Urheberschaft, Begründung, der auctor ist aber audi der Gewährsmann, der Bürge. Der Verbalstamm augere besagt: vermehren, bereichern, wachsen lassen. Die Bedeutung des Begriffes ist längst über die Rechtssphäre hinausgewachsen; wir reden nicht nur im staatlichen Bereidi, sondern audi in Familie und Erziehung, in der Wissenschaft, im Zusammenhang mit geistigen Traditionen ebenso wie in der Kirche von Autorität, wir sprechen sie einzelnen Personen (persönliche A.) oder auch bestimmten Ämtern zu oder schränken sie auf bestimmte Sachbereiche ein. Immer verbindet sich Autorität mit Macht, und in dem Maße, als diese Macht nicht auf
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
Gewalt, sondern auf freier Zustimmung gründet, ist die Autorität unmittelbar ein Thema der Ethik. Die Autorität muß berechtigt sein, und dieses Reciit ist in sehr verschiedener Art denkbar. Autorität hat leicht den Charakter einer bewahrenden Macht, also ein Gefälle zum Konservativen hin, und so fordert Autorität wiederum Kritik und Auflehnung heraus; beides zusammen ein erregendes Motiv ethischen Nachdenkens. Zur Literatur nenne ich statt anderer Titel lediglich die einschlägigen Artikel StL I, 808 ff. (R. Hauser) — R G G I, 792 fí. (H. Thielidce) —EvStL 107 fí. (R. Müller-Schwefe). (Lit.)
Wir nehmen unseren Ausgangspunkt bei der großartigen Konzeption der lutherischen Autoritätslehre, weil sie einen einheitlichen Entwurf darstellt und für die entstehende Neuzeit ebenso eine schicksalhafte Grundlage wie ein Widerlager der Emanzipation des modernen Geistes bedeutet. Freilich hat die Lehre einen etwas anderen Namen. Es ist die Lehre von den beiden potestates auf Erden, der potestas ecclesiastica und der potestas gladii bzw. der potestas terrena. Beide sind von Gott eingesetzt, beide sind ebenso untrennbar aufeinander bezogen wie sie streng voneinander unterschieden werden müssen. Die potestas ecclesiastica, praktisch das Predigtamt, hat Gesetz und Evangelium zu verkündigen, sein Dienst am „Gesetz" ist wesentlich ein Dienst durch Predigt und Lehre. Hingegen hat die weltliche Gewalt, die potestas terrena, das Gesetz zu handhaben, hat es zur Anerkennung zu bringen, notfalls mit Gewalt durchzusetzen, um dadurch einen verborgenen Liebesdienst zu üben, nämlich unser Leben und was wir dazu nötig haben, zu schützen. Dabei ist übrigens nicht nur an die „Obrigkeit" zu denken, also an die Verantwortlichen für Staat und Gemeinwesen, welche Rechtsform man dabei auch immer zugrundelegen mag. Es müssen keineswegs immer „Fürsten" sein, wie es schon in der Reformationszeit keineswegs die Regel war. Aber die Autoritäten, welche das „Gesetz" zu handhaben von Gott unmittelbar, ohne „kirchliche" Lenkung, beauftragt sind, sind ebenso Eltern, Lehrer, Meister; ihnen allen kommt der Schutz des vierten Gebotes zu. Belege in den Luth. Bekenntnisschriften: Luthers Auslegg. des IV. Gebots im Gr. Katechismus, und Melandithons Conf. Augustana und Apologie, jeweils Art. X V I u. X X V I I I .
Es lohnt sich, einen Augenblick mit kritischen Gedanken bei dieser Konzeption zu verweilen. Dicht beisammen liegen in ihr bis heute fortwirkende und absolut vergangene Elemente. Vergangen ist einmal der sozialgeschichtliche Rahmen, in dem die Reformatoren ebenso wie
Die Dialektik der Autorität
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ihre Gegner nodi gedacht haben, die selbstverständlich vorausgesetzte societas Christiana. Vergangen ist der Patriarchalismus, in dem man alle Arten von „Oberpersonen" in Familie, Erwerbsleben und Gemeinwesen verstand und der für unser Sprachempfinden noch heute im Begriff der Obrigkeit einen antiquierten Beigeschmack beibehalten hat. Vergangen ist schließlich die Vorstellung, daß diese Autoritäten einen unwandelbaren Charakter haben, was dem Bild dieses Autoritätsgefüges einen statischen und selbstverständlich konservativen Charakter aufgeprägt hat. Aber andererseits hat hier zum ersten Mal die Theologie selber weltliche Macht von der klerikalen Lenkung freigesetzt und auf ihre eigenen Füße gestellt. Das geistliche „Amt" hat keine Kompetenz zur Regierung der Welt, anders ausgedrückt: zur unmittelbaren Politik. Und doch stehen sidi die beiden potestates kritisch gegenüber. Das Predigtamt hat auch den Mächtigen auf Erden, bis herunter zu den Vätern und Müttern, Größe und Grenze ihrer Pflichten vor Gott einzuschärfen und das Gewissen zu wecken. Und das weltliche Amt hat nicht minder eine Fürsorge für Predigtamt und Kirche, die tutela ecclesiae, wovon hier nicht ausführlich die Rede sein kann. Die katholische Autoritätslehre ist von diesem Konzept dadurch verschieden, daß sie von der Struktur der Gemeinschaften aus denkt, die, in sich mannigfaltig, ebenso auf das Gemeinwohl hin angelegt sind, wie sie mit dem Wohl des einzelnen zu einem gerechten Ausgleich gebracht werden müssen. Autorität muß bestehen, wo die Verwirklichung dieses objektiven Gesellschaftszweckes einer wirksamen Lenkung bedarf. Und diese leitenden Organe entsprechen gemäß dem Schöpferwillen Gottes der natürlichen Wesensordnung der Gesellschaft. Entsprechend der Schichtung der Gesellschaft kommt es zu einer Hierarchie der Autoritäten in Wissenschaft, Familie und Erziehung, im Staat und in der Kirche. Vgl. R. Hauser a.a.O., ferner J. Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, 19685, passim, und bes. massiv J. Stelzenberger: Moraltheologie, 1965 2 , 348 f.
Diese Vorstellung von einer unwandelbaren und auf ihr Recht gar nicht befragbaren Autorität hat für den neuzeitlichen Menschen keine verpflichtende Kraft mehr. Eingrenzungen, Abwandlungen und schließlich eine schwere und nachhaltige Krise des autoritären Denkens überhaupt kennzeichnen den Weg der Idee der Autorität zur Neuzeit hin. Wir haben hier den Gründen nachzugehen, um am Ende die Frage nach der Haltbarkeit des Begriffs zu prüfen. (a) Noch innerhalb der alten Autoritätslehre ist man der Notwendigkeit innegeworden, die Autoritätspflichten umzukehren. Es ist nicht nur von den Pflichten zu sprechen, welche gegenüber den Autoritäten bestehen, also etwa Gehorsam und Treue, sondern auch von
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichcn E t h i k
den Pflichten, welche die Autoritäten gegenüber den ihr anvertrauten Menschen haben. Audi die Verantwortlichen in Staat und Gemeinde haben Pflichten gegen die Bürger, Lehrer gegen ihre Schüler, Eltern gegen ihre Kinder. Die Vernachlässigung dieser rückwirkenden Pflichten macht jede Autorität angreifbar und im Falle schwerer Vernachlässigung zunichte. (b) Alle Autorität hat ihre sachlichen Grenzen. Mag die elterliche Autorität in der liebenden Fürsorge oder auch in einem größeren Maße der Lebenserfahrung begründet sein, sie endet dort, wo heranwachsende Kinder sich fachliche Kenntnisse aneignen, die den Eltern fehlen. Die Regierung eines Staates hat keine sachliche Autorität auf dem Felde der Wissenschaft oder der Religion usw. Wo die Autorität ihre Kompetenzen überschreitet, da wird sie lächerlich, brüchig und im Falle schwerer Grenzüberschreitungen zunichte. (c) Jede Autorität geht zu Ende. Sie ist immer nur geliehene Autorität. Der Satz gründet sich ebenso in der Lebenserfahrung wie er theologisch gerechtfertigt ist. Die elterliche Autorität endet mit der Mündigkeit der Kinder, Schüler werden aus Unterricht und Lehre entlassen, Dienstverhältnisse enden, und die wahren, eben ihres Lehenscharakters bewußten Autoritäten beweisen ihre innere Kraft, indem sie freigeben können. Wenn sie nach ihrem Verzicht auf die fortgeltenden Ansprüche noch geachtet werden, dann ist das eine freie Anerkennung geworden, wovon gleich noch die Rede sein wird. Aber ein Autoritätsanspruch, der entgegen aller wachsenden Freiheit der Menschen festgehalten wird, der wird ausgehöhlt. Seine Zeit ist abgelaufen. Solche überlebten, aus der Zeit gefallenen Autoritäten können ein gespenstisches Dasein führen, wie im Märchen, unwirklich, vielleicht einfach komisch. Wenn sie nicht weichen wollen und können, schlägt ihre Stunde und die Zeit ist reif, sie zu beseitigen. (d) Das führt uns zu dem Unterschied von äußerer und innerer Autorität. Die äußere ist immer mit einem mehr oder weniger definierbaren Rechtsverhältnis verbunden. Von ihr gilt, daß man genau sagen kann, worauf sie sich bezieht und wann sie endet. Die innere Autorität aber ist die anerkannte, der man „gerne" folgt, deren Mächtigkeit sich aber gerade auch in kritischen Situationen erweist, wo der widerstrebende Wille sich weigern möchte, aber dann von einer tieferen unaussprechlichen Uberzeugung bezwungen, sich doch fügt. Solange innere und äußere Autorität zusammenstimmen, ist keine Krise in Sicht. Aber diese Krise ist sofort da, wenn die innere Autorität hinfällt und die äußere dennoch aufrechterhalten wird. Wenn die Auto-
Die Dialektik der Autorität
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rität einer Regierung im Volk hinfällig geworden ist und nur noch mit Polizeigewalt, Zwangsmaßnahmen und Terror aufrechterhalten werden kann, dann hat sie ihr Recht verlören und ist reif dafür, unterzugehen. (e) Die vier bislang etwas schulmäßig aufgezählten Gesichtspunkte ergeben sidi dodi mehr oder weniger aus der Natur der Autorität selbst. Es macht aber einen entscheidenden geistesgeschichtlichen Fortschritt aus, daß die Aufklärung sidi zur Mündigkeit des Menschen bekannt hat. Die wenigen Seiten „Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?" von Kant (1784) haben in unserem Thema Epoche gemacht. Es war nicht nur die klassische Definition Kants: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit". War Kants Interesse in der genannten Schrift vor allem auf den öffentlichen Gebrauch der Vernunft in wissenschaftlicher und religiöser Hinsicht gerichtet, so hat sidi schon durch ihn und im Ansdiluß an ihn durch die idealistische Philosophie der Gedanke der sittlichen Autonomie durchgesetzt. In der Abwertung der heteronomen Ethik sind wir alle Erben der Aufklärung. Es ist keine Frage, daß die theologische Ethik diese Bewegung nur zögernd, wenn überhaupt, nadivollzogen hat. Und zwar deswegen, weil sie die Autonomie von den Voraussetzungen einer sog. Offenbarungstheologie aus als einen Ausdruck menschlicher Selbstmächtigkeit beargwöhnen zu müssen gemeint hat. Nodi Ν . Η . Sees „Christliche Ethik" ist, trotz aller Modifikationen, eine wesentlich heteronom angelegte Ethik. Insofern ist es verständlich, daß D. Bonhoeffers Reflexion auf die „mündig gewordene Welt" eine revolutionierende Wirkung hervorrufen mußte. Er hat dabei freilich nicht ein gedankliches Erbe der Aufklärung und der idealistischen Philosophie erneuern wollen, sondern das Resultat gesellschaftlidier Emanzipationsprozesse im Auge gehabt, die unser neuzeitliches Bewußtsein in besonderer Weise bestimmt haben. Das Problem der Autorität ist damit nicht einfach erledigt, weder in dem Sinne, daß es für den neuzeitlichen Menschen, noch daß es überhaupt erloschen wäre. Aber es sind erneut und in verschärfter Weise die Selbstverständlichkeiten eines überlieferten autoritären Denkens abgebrochen worden, das sich in den Anliegen der persönlichen Lebensentscheidungen mit Herkommen und Uberlieferungen zufrieden gegeben hat. Die „mündig gewordene Welt" — und wir alle gehören ihr an — will ihre Gründe haben. Sie fragt nach den Argumenten und will selber einsehen.
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I- Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
(f) Zuletzt ist noch von der tiefsten Autoritätskrise zu sprechen, in der wir uns heute befinden. Sie greift mit erneuter Vehemenz auf die Aufklärung zurück, deren Anliegen vor allem von der Frankfurter Schule, von M. Horkheimer, Th. W. Adorno und ihrem Kreis bewußt berufen wird. Sie verbindet sich mit bestimmten Einsichten der Psychoanalyse, wofür die wichtigen Arbeiten von A. Mitscherlich und A. Plack als beispielhaft zu nennen sind. Das Neue in dieser Phase der Autoritätskrise gegenüber den bisher besprochenen kritischen Bedenken scheint mir darin zu liegen, daß die Autorität selber nicht mehr fixierbar ist. Staatsgewalt (Polizei), Kirche, die traditionelle Universität, vor allem die Zentren des Kapitalismus sind nur Exponenten eines anonymen Systems, das eben als „Establishment", als bürgerliche Gesellschaft noch am ehesten in seiner undefinierbaren Allgemeinheit und Bedrohlichkeit beschrieben wird. Es ist, im Sinne dieser Kritik, damit zu rechnen, daß viele Exponenten dieses repressiven Systems, wie etwa die traditionellen Hochschulen, sich ihrer Rolle als Instrumente und Handlanger dieses Systems gar nicht bewußt sind. Sie müssen daher in immer neuen Aktionen auf diese Rolle hingewiesen, in ihrer Selbstverständlichkeit verunsichert werden. Darum werden die verkappten Formen der Repression entlarvt, vor allem — gleichsam an der Basis — die Familie, die Sexualmoral, die ein System der Triebunterdrückung ist, aber ebenso die Leistungssysteme, welche für das Individuum über den Ort verfügen, den der einzelne in der repressiven Gesellschaft einnehmen soll. Die Erziehung bis hin zum „antiautoritären Kindergarten", die Solidarität mit den Asozialen und die an die Stelle der alten Familienordnung tretenden Kommunen sollen die Pflanzstätten einer „neuen Moral" werden, sofern hier überhaupt noch der Begriff der Moral anwendbar ist. Die Interessen der Reidien, die immer reicher werden, sind in dieser heute sich so tolerant gebärdenden Gesellschaft derartig verschleiert, daß selbst der Arbeiter nicht mehr erkennen kann, wie sehr er diesem System etwa durch seine Gewerkschaften dient. Darum kann von diesem autoritären System auch keine Hilfe für die armen Länder der „Dritten Welt" erhofft werden, und das Kapital schreckt auch nicht vor Kriegsdrohung und Krieg zurück, wenn es Gewinn verspricht und der Stabilisierung seiner Madit dient. „Autorität" wird so zu einem durch Wohltätigkeit und Toleranz verschleierten Gewaltsystem, dem die Kritik gilt und der Kampf angesagt werden muß. Ich nehme damit wesentliche Gesichtspunkte vorweg, die uns späterhin im Zusammenhang mit dem heute spezifisch erweiterten Revolutionsbegriff er-
Die Dialektik der Autorität
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neut beschäftigen werden. Idi verweise hier als Belege nur auf folgende Schriften: Herbert Marcuse: Kultur und Gesellschaft, 2 Bde. 1968 (Ed. Suhrkamp 101 u. 135), vgl. hierzu dessen Bibliographie bei J . H a b e r m a s ( H r s g . ) : Antworten auf Herbert Marcuse, 1968 (Ed. Suhrkamp 263) 155 ff. — A. Plack: Die Gesellschaft und das Böse. Eine Kritik der herrschenden Moral, 1969 e (hier weitere Lit.).
In der Depossedierung der Autorität ist immer eine Frage nach dem inneren Redit der Autorität lebendig. Einmal in dem Sinne, daß sie unter die kritische Frage nach ihrem inneren Recht geworfen wird, eine Frage, die dadurch nicht beantwortet ist, daß man sie mit äußeren Mitteln zum Schweigen bringt. Zum anderen ist aber die Rechtsfrage auch darin lebendig, daß jede Kritik „im Namen" einer Instanz geschieht, die nachgewiesen werden muß. Wie die Autorität von Königen und Regierungen „im Namen" des Volkes, die von kapitalistischer Macht „im Namen" des Proletariats oder auch einfach der Armen, die der hergebrachten Kirchentümer „im Namen" des wahren Glaubens geschieht, so ist alle aufklärerische Kritik eine Kritik „im Namen" der Vernunft. Aber wer ist das Volk? Sind es die Aufwiegler desselben? Wer ist der Sprecher des Glaubens? Was ist die Vernunft und wer bringt sie zum Ausdruck? Jedenfalls stehen mit jeder dieser Fragen auch schon neue Autoritäten im Raum. Und so lenkt die Dialektik der Autorität zu dem Anfang unserer Überlegung zurück. Nach allen Bedenken und Widersprüchen ist es schwer geworden, Autorität zu sein. Man kann sie nicht mehr in ungebrochener Naivität wahrnehmen. Man wird sie nicht mehr überall dort in Anspruch nehmen können, wo sie einst unentbehrlich schien. Alle Autorität ist eine Leihgabe und ist begrenzt, und das setzt dem Selbstbewußtsein der Autoritäten erhebliche Grenzen. Aber man wird auch einsehen müssen: sie ist unverzichtbar. Sie hat das wachsende Leben in seiner Entwicklung zu begleiten. Sie hat begründende und bewahrende Aufgaben. Alles Lehren ist mit Autorität verbunden. Kein geordnetes Gemeinwesen kann auf sie verzichten. Die Autorität ist zwar in Krisenzeiten Gegenstand der Kritik. Aber sie ist auch selbst dazu berufen, Kritik zu üben, wenn es nötig ist. Es ist ein schwerer Schaden für das Leben, wenn Autoritätsansprüche übersteigert und hohl werden. Aber es ist kein geringerer Schaden für die Gesellschaft, wenn sich die berufene, die „wirkliche" Autorität von ihrer Pflicht zurückzieht und das leichtere Teil erwählt, keine mehr sein zu wollen. Denn alle Autorität ist ein Dienstverhältnis. Hinter ihr waltet und durch sie hindurch wirkt die unsichtbare Hand, die alles Leben gründet, bewahrt und bewegt.
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I. Anthropologische G r u n d b e g r i f f e der diristlichcn Ethik
4. Kapitel Die 1.
Heiligung
DasÜberwindungsmotiv
Die Auseinandersetzung mit dem Bösen vollzieht sich immer in zwei Dimensionen. Sie vollzieht sich einmal in der äußeren Welt, indem wir das „Gesetz" wahrnehmen, befolgen und auch gegenüber widerstrebenden Menschen durchsetzen. Es ist ein K a m p f , welcher der Erhaltung der uns anvertrauten Schöpfung, dem Schutze des Lebens dient und bis in die Öffentlichkeit hineinreicht. H i e r müssen Redit u n d Gerechtigkeit dann im extremen Falle sogar mit Gewalt durchgesetzt werden, wenn es dem Schutze des Lebens dient. Insofern wehrt das Gesetz der Zerstörungsmacht des Bösen, es steht im Dienste des Nächsten und bedeutet einen, wenn auch oft sehr verborgenen Liebesdienst an dieser Welt. M a n verstehe die Paradoxie: „Gesetz" ist ein theologisdier Begriff, und dodi sind es ganz p r o f a n e und alltägliche Vorgänge und Verhältnisse, die . er beschreibt. Von alledem w a r im vorausgehenden Kapitel die Rede. N u n soll von der anderen Dimension dieses K a m p f e s mit dem Bösen die Rede sein. Es ist die innere Auseinandersetzung mit ihm. W ä h r e n d die Bewahrung des Lebens vor der Zerstörungsmacht des Bösen alle Menschen einbezieht und in einer äußersten Zuspitzung sogar zu einer öffentlichen Angelegenheit werden kann, ist es bei der inneren Auseinandersetzung völlig anders. Sie vollzieht sich vor einem inneren Forum und betrifft unseren Willen. In der überlieferten Sprache christlichen Denkens und christlicher Ethik handelt es sich um die Heiligung. Aber dieser Begriff ist in unserer Gegenwart ein Fremdling geworden. Das hat zwei Ursachen. Die Säkularisierung unseres Denkens läßt, ganz allgemein gesprochen, in unserem Weltbestand keine isolierten Räume des Heiligen, keine sakralen Zonen zu, und sie neigt daher auch zu einer Leugnung oder doch jedenfalls Verschweigung christlicher Sonderformen des Lebens und des Verhaltens, welche in irgendeinem Sinne die Qualität des „Heiligen" in Ansprudi nehmen können. Zu dieser einen Ursache kommt aber eine innerchristliche. Der Begriff des Heiligen und der Heiligung (sanctificatio) hat sich gegenüber seinem ursprünglichen Sinne verengt und ist zur Neuzeit hin immer mehr ein Leitbegriff pietistischer Frömmigkeit geworden. Ich werde daher im nächsten Abschnitt dieses eigentümliche Schicksal des Begriffs der Heiligung noch besonders besprechen. H i e r mag es genügen, daß
Das Überwindungsmotiv
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die gemeinte Sache selbst, die Überwindung des Bösen, von der Benennung unabhängig und unverzichtbar ist. Aber die inneren Widerstände und Bedenken gegen die Sache wiegen schwer. Durch den Begriff der Heiligung hat sich oft ein falscher Klang in die Ethik eingemischt. Ich verweise zunächst auf die theologischen Interessen, dann auf die Kritik, daß die Ethik durch den Begriff der Überwindung sich unversehens in ein repressives System verwandelt. Es ist, was die theologischen Interessen betrifft, zunächst ein seit den Tagen der Reformation immer neu belebtes Argument gewesen, daß es sich bei der „Heiligung" nicht um das Sammeln von „guten Werken" handeln könne, die dann zu einer Rechtfertigung aus den Werken werden könne. Wäre das der Sinn von „Heiligung", so könnte man nur schlicht darauf verweisen, daß es keine Heiligung vor dem Spiegel der Selbstbetrachtung und Selbstrechtfertigung geben kann. Es gibt aber auch keine Heiligkeit, die auf Anschaulichkeit spekuliert, darauf also, daß sie „von den Leuten gesehen werde" (Mt 6,1—4). Diese Dinge sind so elementar, daß wir uns hier nicht weiter dabei aufzuhalten haben. Die andere Sorge scheint mir gewichtiger zu sein. Man könnte sie in die Frage kleiden: Bedeutet Überwindung nicht in Wahrheit Unterdrückung? Die Frage legt sich nahe, wenn man an das Bild des „Kampfes" erinnert. Man spricht von einem „Kampf der Heiligung". Es ist eine tiefgreifende Wirkung der Psychoanalyse, daß wir darauf aufmerksam gemacht worden sind, wie unterdrückte Triebe nicht aufhören, Triebe zu sein, daß sie nur in tiefere Schichten verlagert werden und in anderer Form wieder zutage treten. Ebenso wie das Ressentiment werden auch unterdrückte Triebe, vor allem eine unterdrückte Sexualität, in ihrer Weise „schöpferisch", sie verwandeln sich in Aggressionen und vergiften das innere Leben, ebenso wie sie von neuem Böses hervorbringen, indem sie es zu bekämpfen meinen. Man muß daher in aller Offenheit mit der Möglichkeit rechnen, daß eine „Heiligung", eine „Überwindung", die theoretisch wie praktisch nur in Negationen verläuft, zu einer Vergiftung des sittlichen Lebens führen kann. Das Positive in dem Gedanken der Überwindung kann nur so begriffen werden, daß man etwas ablegt, um mehr zu gewinnen, daß man nicht einen Zwang aufrecht erhält und durch einen neuen Zwang verstärkt, sondern daß sich Wege zur Freiheit öffnen. In diesem Sinne hat Nietzsche seinen berühmten Gedanken gedacht, daß der Mensch etwas ist, was überwunden werden muß (Werke V I , 51,68). Daß der 4 Trillhaas, Ethik
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
Mensch „ein Ubergang ist" (VI, 418), daß er seine Wahrheit in dem Zukünftigen hat, das ist eine gewiß weitab von allem „Christlichen" formulierte Andeutung der Sache, um die es hier geht. Paulus spricht (Rom 6,6) von der Kreuzigung des alten Menschen, der Epheserbrief (4,22—24) vom Ablegen des alten und vom Anziehen des neuen Menschen. Hier ergibt sich die immer wiederkehrende Gewissensfrage für jeden Theologen, ob er neutestamentliche, spezifisch „christliche" Aussagen wie die über das Ablegen des alten und das Anziehen des neuen Menschen mit der „weltlichen" Bezeugung dieses Wechsels interpretieren, d. h. jedenfalls in Analogie dazu oder aber im Gegensatz sehen will. Es wäre da vor allem an Goethes Gedicht „Selige Sehnsucht" („Sag es niemand, nur dem Weisen" vom 31. Juli 1814) aus dem West-östlichen Divan zu erinnern: „Und solang du das nicht hast, Dieses: Stirb und Werde! Bist du nur ein trüber Gast Auf der dunklen Erde." Gewiß, Identität solcher verschiedenen Aussagen behaupten zu wollen, wäre exegetischer Leichtsinn. Sie aber in Gegensatz stellen, hieße, daß man die „christliche Wahrheit" nur im Gegensatz zur menschlichen Wirklichkeit verstehen wollte.
Wie realisiert sich dieses Uberwindungsmotiv? Jedenfalls in einer Umschichtung dessen, was man für wichtig und wertvoll hält. Es gibt ein unmerkliches Loskommen von sich selbst, ein Absehenkönnen von sich, das mit einer Zuwendung zum anderen Menschen Hand in Hand geht. Nicht jede Affektion durch die Geschicke oder Ansprüche anderer Menschen, nicht einmal das Mitleid, hat allerdings schon eine sittliche Bedeutung. Es kann sich dabei um bloße Gefühle handeln, die doch zu nichts verpflichten. A. Schopenhauers Gedanke, daß das Mitleiden das einzige Motiv der moralischen Welt sei, leidet unter diesem Mißverständnis, ganz abgesehen von den metaphysischen Hintergründen seiner vielberufenen Mitleidsethik. Dilthey hat in seiner Ethik (§13 ff.) in einer sehr sorgsamen Analyse der „Fremdgefühle" gezeigt, von wann ab wir in ihnen sittliche Vorgänge erblicken können. So erscheint das Wohlwollen (Dilthey § 14) als eine echte, dann auch praktisch werdende Zuwendung zum Nächsten, eben* 3 die Achtung vor dem Selbstzweck in anderen, und die wahre Dankbarkeit ist immer mit einer Zurückstellung der eigenen Ansprüche verbunden. In diesem Sinne hat P. Lehmann (Ethics in a Christian Context, passim) die Reife (maturity) zu einem Zentralbegriff der Ethik gemacht. Der mit einschwingende wachstümliche Gedanke läßt die Komponente des Gewaltsamen (Überwindung als Unterdrückung verstanden) nicht aufkommen. Reife im Sinne Lehmanns ist ein Vorgang der fortschreitenden Zuwendung zum anderen. Leidenschaften, Egoismen, die früher mächtig und bestimmend waren, verlieren unmerklich
Zum Begriff der Heiligung
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ihre Kraft. Was mich früher fesselte, „interessiert midi nicht mehr". Anderes wird wichtig. So sieht die Uberwindung aus, die unter dem Begriff der Heiligung eine lange Geschichte im Christentum gehabt hat. Von diesem Begriff soll nun im 2. Absatz die Rede sein
2. Zum Begriff der
Heiligung
Der Begriff der Heiligung spielt in den Darstellungen der Ethik eine sehr unterschiedliche Rolle. Albrecht Ritsehl und seine Schule (W. Herrmann) haben zu dem Begriff kein Verhältnis gehabt. Bei Eiert (Ethos § 41) und bei Althaus (Grundriß § 11 : Das neue Leben als Sein und Werden) — in beiden Werken weitere Literatur — findet er eingehende Beachtung. In der Ethik von Alfred de Quervain ist der Gedanke der Heiligung dergestalt zum leitenden Gesichtspunkt geworden, daß der I. Band (1942; 19462) geradezu diesen Titel trägt. Gleich im Eingang des Werkes zeigt de Quervain, wie er das versteht und warum der Gedanke der Heiligung die christliche Ethik zu tragen vermag. „Die Heiligung ist der Stand derer, die in Christus erwählt, berufen, in den Bund Gottes gerufen sind, die ihr Bestehen haben, ihren Wandel führen als Glieder des Israel Gottes, der Gemeinde der Heiligen im Danken für die ihnen widerfahrene Gnade, in Erwartung der Offenbarung der Kindschaft" (11). Späterhin heißt es einfach, die Heiligung sei der «Weg der dankenden Gemeinde" (15). Sehe idi recht, so liegt in diesem sehr komplexen Gedanken, dessen Verankerung Iii der reformierten Tradition de Quervain 17—25 umfassend dartut, dreierlei beschlossen. Einmal: Heiligung gibt es nur in der Gemeinde Gottes, in der Kirche, unter den Erwählten. Heiligung ist also gleichsam ein Stichwort für die Besonderheit christlichen Wandels, christlicher Ethik in der Welt und das Zeichen für eine grundsätzliche Trennung von aller Art philosophischer Ethik. Zweitens setzt diese Heiligung einen Wandel des Menschen voraus, sie ist Heiligung in Christus Jesus und steht im Zeichen von Kreuz und Auferstehung. Damit ist sowohl die Voraussetzung wie auch die Art des Wandels der Christen als Ethica crucis abgesetzt gegen allen Wandel dieser Welt. Schließlich ist diese Ethik der Heiligung Gehorsamsethik. Die Frage nach dem Gesetz Gottes wird schon im Vorwort als die entscheidende Frage in den Bekenntnissen der Reformation bezeichnet. Dementsprechend verläuft dann audi diese Ethik der Heiligung in ihrem weiteren Fortgang sdilidit als eine Auslegung des Dekalogs. Wir können dem Weg de Quervains nidit unbedenklich folgen. Der Begriff der Heiligkeit hat biblische, näherhin kultische Wurzeln und muß jedenfalls für unsere eigene Ethik entschlüsselt werden. Er darf ferner nidit zum Anlaß werden, unser eigentliches Thema, die Bewältigung unserer vorfindlichen Menschlichkeit, aus dem Auge zu verlieren, so daß wir uns plötzlich in einem von der „Welt" getrennten „christlichen" Raum wiederfinden. Und schließlich wird uns das Thema der Heiligung nicht zu einer „gesetzlichen" Ethik verleiten dürfen. Der Gedanke des Gehorsams kann, was zu zeigen sein wird, nur in einem von allem Biblizismus und Verbalismus geläuterten Sinne übernommen werden. 4'
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
Der Begriff der Heiligung ist biblischen Ursprungs. Wir müssen ihn daher in seinem biblisdien Sinne begreifen. Die Artikel der einschlägigen W ö r t e r bücher sind vor allem heranzuziehen: R E V I I , 573 ff. (Hermann C r e m e r ) ; R G G ' I I , 1748 ff.; L T h K 1 IV, 881 ff.; L T h K * V, 84 ff.; T h W I, 87 ff. (O. Procksdi); Bauer W B 5 16 ff.; ferner zur Religionsgeschichte des Begriffs G. van der Leeuw: Phänomenologie der Religion ( 1 9 3 3 ) , 1956 2 passim, bes.
208 ff.
Im Alten Bunde ist der Priester heilig und auch seine Opfergaben sollen heilig sein, dem Gesetze entsprechend. „Ihr sollt heilig sein; denn ich bin heilig, der Herr, euer Gott" (Lev 11, 44f.; 19,2; 20, 7 u. 26 — zitiert 1 Petr 1, 15f., wohl audi Mt 5, 48 zugrundeliegend). So wie Gott selbst, seine Stadt, sein Tempel, sein Name, sein Geist „heilig" sind, so soll auch sein Volk heilig sein, indem es seine Gebote erfüllt und rein von Sünden ist. Der Kultus ist die Welt geregelter Heiligkeit: Für den heiligen Ort, die heiligen Zeiten und die heiligen Gaben zum Opfer sind die Bedingungen der Heiligkeit festgelegt: rituelle Aufnahme in den Kreis der Berechtigten und körperliche wie sittliche Reinheit. Gewiß überwiegt in der prophetischen Zeit zuweilen schon der sittliche Charakter der Heiligkeit die kultische Bedeutung, so daß die Unreinheit des Volkes durch kultische Maßnahmen gar nicht behoben werden kann (Jes 6,5) und sich der Gedanke der Heiligkeit mit dem Gerichtsgedanken verbindet (Jes 5, 11—16). Ganz aus dem kultischen Rahmen tritt die Vorstellung des Heiligen in Israel als Schöpfer (Jes 41, 2 0 ; 45, 11) und als Erlöser (41, 14; 43, 3. 14; 47,4). Dennoch schlägt dann im Neuen Bund zunächst die kultische Auffassung des Begriffs wieder durch, um freilich sofort in ein geistiges Verständnis überführt zu werden: Audi die Christen sind ausgesondert, geweiht und geheiligt für Gott. Sie sollen ihre Leiber darbieten als lebendiges, heiliges und Gott wohlgefälliges Opfer (Rom 12, 1; vgl. 15, 16). Phil 2, 17 bezeichnet sich Paulus als Trankopfer, das ausgeschüttet wird als Beigabe zu Opfer und Gottesdienst des Glaubens seiner Gemeinde. Entsprechend diesem kultischen Verständnis des Heiligkeitsgedankens wird nun audi die Reinheit besonders hervorgehoben. Rom 6 , 1 9 erscheinen als Gegensatz zu Gerechtigkeit und Heiligkeit Unreinheit und Ungesetzlichkeit, 1 Thess 4, 7 sind Unreinheit und Heiligkeit die entscheidenden Gegensätze. Zwar ist Gott ganz und gar Urheber dieser Heiligkeit: „Christus ist uns gemacht von Gott zur Gerechtigkeit und zur Heiligkeit und zur Erlösung" (1 Kor 1, 30), aber im 1 Clem 30, 1 gilt es, „alles zu tun, was zur Heiligung gehört", wie denn audi 1 Clem 35, 2 von der Enthaltsamkeit, die in Heiligung geübt wird, die Rede ist. Es schlägt in der nachapostolischen Zeit der kultische Bezug überhaupt wieder stär-
Zum Begriff der Heiligung
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ker durch. Did 10, 6 „Ist jemand heilig, der komme herzu; wenn er es nicht ist, so tue er Buße" ist eine liturgisdie Formel für die Feier der Eucharistie, die sich dann in dem Ruf „das Heilige den Heiligen!", d. h. „das Sakrament den Getauften!" fortsetzt. Auch in anderer Hinsicht wirkt der kultische Ursprung des Begriffs fort. Die Bezeichnung der Christen als der „Heiligen" kommt immer nur im Plural vor, nie im Singular. Es bedeutet also kein diagnostisches Urteil über bestimmte Leute, sondern ein Glaubensurteil: Die Christen sind „Mitbürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen" nach Eph 2, 19, also mit den Engeln und mit den vollendeten Gerechten. Das Gemeinwesen der Christen ist im Himmel (Phil 3, 20), obwohl sie noch ihr zeitliches Leben auf der Erde führen. Die Heiligkeit der Christen ist also überirdisch, unanschaulich, und insofern sakramental begründet, als sie ihren Grund in der Sündenvergebung durch die Taufe hat. Ohne Frage ist im Neuen Testament bei der ganzen Begriffsfamilie heiligen — Heiligung usw. (αγιάζω — άγιαμός κτλ.) die Grundvoraussetzung die, daß Gott heilig ist und auch das alleinige Subjekt aller Heiligung ist. Unsere Heiligung geschieht vorab durch die Taufe (1 Kor 6, 11; Eph 5, 26), so wie audi die „kultische" Reinigung der Gemeinde durch das Blut Christi nach Analogie der alttestamentlidien Reinigungsopfer das alleinige Werk Gottes in Christo ist (Hebr 9, 13f.; 13, 12). Die Gemeinde ist nach Paulus geheiligt durch den heiligen Geist (Rom 15, 16). Es kann sogar der Ungläubige durch die Ehe mit einem Christen geheiligt werden (1 Kor 7, 14), so daß die Christen ganz allgemein nicht nur als „Heilige" (1 Kor 6, 1; 2 Kor 1, 1; Rom 8, 27; 12, 13; 15, 25 usf.), sondern als „Geheiligte" (ήγιασμένοι) bezeichnet werden (1 Kor 1, 2; Joh 17, 19; Hebr 10, 14; Apg 20, 32; 26, 18). Heiligung ist Reinwerden von Sünden, ist Erlösung von Schuld, sie ist die Frudit des Opfers Christi. Sie beruht auf der Vergebung, die uns durch die Taufe zugesprochen wird. Insofern das Opfer Christi ein wirkliches Opfer ist — und nur kraft dieser Tatsache entkräftet es ja audi die Opfer des Alten Bundes — verläßt der Gedanke der Heiligung gar nicht den „kultischen" Bereich. „Heiligung ist ein am Menschen sidi vollziehendes Geschehen, bei dem er nur der Empfänger ist" (Eiert). Insofern widersteht der Begriff geradezu aller Ethisierung. Man muß diesen Sachverhalt genau ins Auge fassen, bevor man sich entschließt, den Begriff der Heiligung für die Ethik in Anspruch zu nehmen. Allerdings ist die Heiligung auch im Neuen Testament dann Gegenstand eines Imperativs an die Christen. Sie soll, so wahr sie an
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
uns geschehen ist, auch durch uns geschehen. Freilich ist sie, so verstanden, nur eine Konsequenz aus dem anderen. Die durch uns geschehende Heiligung ist nicht die Bedingung dafür, daß uns Gott in Christo „heiligt", sondern sie ist nur eine Folge, die wir aus der uns widerfahrenen Heiligung zu ziehen haben. Im Sinne dieser Konsequenz kommt nun die Pflicht, sich zu heiligen (Apk 22, 11) auf die Christen zu. Daß es sich dabei insbesondere um die Enthaltung von aller Unreinigkeit (ακαθαρσία) handelt, und zwar in erster Linie um die Bewahrung vor Unzucht, aber nicht nur dies, sondern auch um geistige Reinheit, das erinnert immer wieder an die kultische Wurzel des Begriffs (vgl. 1 Thess 3, 13; 4, 3ff.; Rom 6, 19; Eph 5, 3). Dabei schimmert gelegentlich durch die umfassende Beschreibung der Reinigung von aller Befleckung des Fleisches und Geistes auch deutlich der positive Gedanke einer „vollkommenen" Heiligung durch (2 Kor 7, 1 vgl. Mt 5, 48). Diese Zusammenhänge treten noch deutlicher hervor, wenn man den Wortstamm άγνίζω, άγνός, άγνότης hinzunimmt (z.B. 2 Kor 11, 2; 1 Tim 4, 12; 5, 22; 1 Petr 3, 2). Dieser Wortstamm deutet auf keinen sakramentalen Hintergrund mehr, sondern bezeichnet eine Tugend der Christen, wie deren 2 Kor 6, 6 bzw. 6, 4ff. unter den Erweisungen des apostolischen Dienstes eine erkleckliche Reihe aufgezählt werden. Die radikalste Beschreibung der Heiligung findet sich Rom 6, 11, wo ihre doppelte Sicht hervortritt: tot der Sünde, lebend für Gott in Christus Jesus. Auch das hängt mit dem kultischen Gedanken des Opfers zusammen. Wie unsere Heiligkeit in dem Opfer Christi begründet ist (Hebr 10, 10—14; 13, 12), so fordert auch unsere Heiligung ein Opfer, eine völlige Hingabe des alten Menschen in den Tod. Aber dieses Opfer darf doch nicht nur negativ verstanden werden. Wie Christus Priester und Opfer zugleich ist, so ist auch die Gemeinde ein heiliges Priestertum, das geistliche Opfer darbringt, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus (1 Petr 2, 5). Man könnte ganz pauschal sagen, daß dieses Opfer der Christen im Vollzug ihres Priestertums eben das Leben der Christen selbst ist. Man wird aber anhand neutestamentlicher Aussagen genauer angeben können, daß diese Opfer nicht nur die Leiber sind (Rom 6, 13; 12,1), sondern auch das Lobopfer und die Frucht der Lippen, die den Namen Gottes bekennen (Hebr 13, 15), ferner die Gebete (Heb 5, 7; Apk 5, 8), Wohltaten und gute Werke (Hebr 13,16). Der Begriff der Heiligung ist in der Geschichte der kirchlichen Dogmatik nicht in seiner biblischen Fülle beibehalten worden. Vielmehr hat
Askese
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man spätestens in der Reformationstheologie die sanctificatio in Verbindung mit dem menschlichen Tun verstanden, wesentlich im Sinne einer sittlichen Erneuerung, der renovatio. Die so verstandene sanctificatio ist der Boden, auf dem die guten Werke des Christen erwachsen, welche die Reformation nie in ihrer Notwendigkeit bestritten hat. Und mit vollem Recht hat man der Verwechselung der so verstandenen sanctificatio mit der Rechtfertigung gewehrt, wie das besonders in der Konkordienformel (im III. Art. Von der Gerechtigkeit des Glaubens vor Gott, SD III, 19—41; BSLK 920, 14ff.) ausführlich dargelegt und begründet ist. Hier werden sanctificatio und renovatio im selben Sinne genommen. Sie haben gemeinsam, daß von der einen wie von der anderen gilt: „quae fidei iustificationem sequitur". Es wird in diesem Zusammenhang auch erörtert, daß der Begriff der regeneratio, der Wiedergeburt, bald mit der justificatio, bald mit der sanctificatio und renovatio in eins gesetzt wird, Unsicherheiten, die sich dann in der Zeit des Pietismus verstärkt und die reformatorische Theologie überhaupt undeutlich gemacht haben. Aber wir haben davon hier nidit weiter zu sprechen. Genug, daß der biblische Sinn des Begriffs sichtbar gemacht ist, und daß gezeigt wurde, aus welchem Verständnis der Heiligung heraus der Begriff allein in der Ethik sinnvoll sein kann. 3.
Askese
Je mehr die Heiligung die strengen Züge eines Kampfes, methodischer Zuchtübung und zielstrebiger Verzichtleistung annimmt, desto mehr gewinnt sie den Charakter der Askese. Dieser Begriff ist heute ein Fremdling geworden. Er ist für viele konfessionell belastet, historische Erinnerungen schrecken, und nicht ohne Gründe erhebt sich der Verdacht, daß hier im Namen der Moral die natürlichen Triebe und lebendige Sinnlichkeit unterdrückt und abgetötet werden. Geht man aber davon aus, daß das Wort ja nichts weiter besagen will als „Übung", und daß jeder Mensch zur Erreichung großer Ziele Widerstände in sich selbst überwinden muß, dann wird der Begriff sinnvoll. Zwischen den verschiedenen Ausformungen der Idee, zwischen diätetischen Regeln und extremer religiöser Verzichtleistung spannen sich weite Problemfelder. Die biblische Grundlage des Begriffs ist ebenso schmal wie eindrücklich. Das Wort άσκέω kommt im Neuen Testament nur Apg 24,16 vor, für die Sache selbst ist 1 Kor 9,25—27 von grundlegender Bedeutung. In der Geschichte der christlichen Askese, bes. in der Ausprägung des franziskanischen Armutsideals kann die Rolle der Perikope Mt 19, 16 ff, kaum überschätzt
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
werden. Zur Geschichte der Askese im Christentum E. Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirdien und Gruppen (1912) 1923® — H. Strathmann: Geschichte der frühchristlichen Α., 1. (einziger) Bd., 1914 — H. Frhr. v. Campenhausen: Die A. im Urchristentum (jetzt in: Tradition u. Leben, Aufsätze u. Vorträge, 1960, 114 ff.) — Für die traditionelle katholische Auffassung wichtig: Art. Aszese, LThK 2 I, 748 ff. (J. Ries, E. Krebs) sowie J. Stelzenberger: Moraltheologie 1965 1 , 34 ff. — Art. A. RGG I, 639 ff. (G. Mensdiing u. a.) (jeweils weitere Lit.).
Von dem ursprünglichen biblischen Gedanken der Zucht des christlichen Lebens aus gesehen, hat sich in der Folge der Geschichte des frühen Christentums sowohl die tragende Gesamtstimmung als auch die Methodik der Askese immer mehr profiliert. Die Kluft zwischen dem weltlichen und christlichen Handeln wurde immer bewußter, ein Kontrastbedürfnis wirkte sich aus. Christliche Selbstentäußerung und Selbstverleugnung sollte in einer heidnischen Umwelt deutliche Spuren ziehen. So mußte sich nun die Askese auch in bestimmten Werken manifestieren. Der Bergpredigt (Mt 6) wurden Almosengeben (v. 1—4), Gebetsübung (v. 5—13) und Fasten (v. 16—18) als asketische Modelle entnommen. Das Armutsideal (Mt 6, 19—21; 19, 16 ff.), besonders auch die Virginität, dann mit dem sich formierenden Mönchtum der Verzicht auf die Heimat, das Auswandern in die Fremde als asketische Leistung, das alles gab der Askese Regel und Maßstab. Man kann an der Thematik der moraltheologischen oder besser asketischen Schriften Tertullians allein schon ablesen, an welchen Problemen sich das asketische Ideal formierte, um womöglich dem ganzen antiken Christentum einen kulturabgewandten Stempel aufzudrücken. Ich erinnere nur an die Titel Tertullians: Geduld, Abkehr von den Schauspielen und dem Götzendienst, weiblicher Putz, Martyrium, Buße und Keuschheit, Ehrbarkeit (pudicitia), das Fasten und immer wieder das Verbot der Wiederverheiratung. Aber zu der spezifisch asketischen Grundstimmung und zu der ausgeprägten Methodik bestimmter Werke als der für die Askese entscheidenden kommt noch etwas Drittes hinzu. Es ist die Reflexion über das Ziel der Askese. Uber dieses Ziel kann dann für die frühchristliche und mittelalterliche Frömmigkeit kein Zweifel mehr sein: es ist die Vollkommenheit. Mt 19,17 lautet die allgemeine Regel, sozusagen für jedermann: Willst du zum Leben eingehen, so halte die Gebote. Vulg.: Si autem vis ad vitam ingredi, serva mandata. Das wird aber, nach jener Exegese, welche die asketische Praxis begründen und rechtfertigen soll, dann „überboten" durch den Satz V. 21 : Wenn du vollkommen sein willst, so gehe hin, verkaufe, was du h a s t . . . (Vulg. Si vis perfectus esse, vade, vende quae habes . . . ) . Lk 6,40
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wird dieses „Vollkommenheitsideal" dann auf die Gleichförmigkeit des Jüngers mit dem Meister gegründet, also in der Sprache der asketischen Theologie auf die Imitatio Christi. (Vulg.: perfectus autem omnis erit, si sit sicut magister eius.) Es ist nur noch ein kleiner Schritt, um diese Vollkommenheit als eine höhere Stufe auszulegen gegenüber der gewöhnlichen Lebensführung eines Christen, der sich „nur" an die Gebote des Dekalogs hält. Die Beschreibung der Askese im Zeitalter der neuthomistischen Theologie läßt z w a r den Gedanken, daß das pflichtmäßige Gute überboten wird durch das Geratene, immer noch deutlich erkennen. Das Christentum, das sonst nur den praecepta folgt, wird durch die Befolgung der „Consilia evangelica" noch stärker an die verheißene Vollkommenheit herangeführt. Die Unterscheidung von praeceptum und consilium stützt sich auf 1 K o r 7,25 Vulg. Aszese ist dann „das beharrliche Ringen des von der Gnade getragenen menschlichen Willens nach Erlangung der christlichen Vollkommenheit" (J. Ries a. a. O.).
Nun hat sich an diesem ebenso dogmatischen wie praktisch-sittlichen Konzept, daß wir mit unseren Leistungen uns zur Seligkeit und Vollkommenheit hindurcharbeiten können — in einem aktiven Zusammenwirken (Synergismus) mit der göttlichen Gnade — der entscheidende Widerspruch der Reformation erhoben. Aber bevor ich davon spreche, möchte ich ein fortwirkendes Problem erörtern, das bis in die Gegenwart herein von der katholischen Moraltheologie empfunden worden ist und das weit über den katholischen Bereich hinaus bis in unsere Zeit herein von den schwersten Folgen ist. Es ist das Untergehen des sittlichen Zieles in den Mitteln. Anders ausgedrückt: Es ist die immer wiederkehrende Täuschung, daß schon die Askese selbst, also die Selbstverleugnung, das Erdulden von Schmerzen, der Verzicht auf Lust und Annehmlichkeit die Vollkommenheit in sich selbst bedeutet. Es ist eine Auffassung, die in idealistischen Erziehungssystemen häufig wiederkehrt, in pietistischen ebenso wie in manchen militärischen Ausbildungsgängen mit Inbrunst praktiziert wird: es sei ein Gebot des sittlichen Lebens, der Heiligung, oder audi ein Erweis der Männlichkeit, immer das Schwere zu wählen. Die sittliche Leistung wächst mit der Schwere der Selbstüberwindung. Die Widersinnigkeit eines Exerzitiums wird gesteigert, um den Mut, die Widerstandskraft und die Härte des Willens zu erproben. Der Wert einer „harten" Erziehung wird an der Härte an sich, nicht daran bemessen, ob der „Zögling" sinnvolle Ziele, die eine kompromißlose Hingabe lohnen, von sinnlosen unterscheiden lernt. Schwierigkeiten werden dann geradezu geschaffen, um überwunden zu werden, auch wenn sie sinnlos sind. Die Überwindung an sich, die Askese an sich wird zu dem sittlichen Wert, zu dem Ziel, sie wird selbst die Vollkommenheit, zu der sie doch erst den Zugang schaffen sollte. Es bedeutet daher schon eine erheb-
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lidie Kontrolle aller asketischen Praxis, wenn die Frage nach der Sinnhaftigkeit niemals aus dem Auge verloren werden darf. Es schränkt die Verdienstlichkeit aller Askese, ganz abgesehen von aller theologischen Kritik, erheblich ein, wenn man erkennt, daß Askese, also „Übung", Vorbereitung, nicht selbst schon ein Wert, nicht selbst schon in sich sittliche Vollendung bedeuten darf. Aber nun soll von der theologischen Kritik der Reformation die Rede sein. Das asketische Ideal der alten und mittelalterlichen Kirche wurde im Mönchtum zur christlichen Institution. Die drei klassischen Gelübde der Armut, der „Keuschheit" bzw. der Ehelosigkeit und des Gehorsams sind seine Grundpfeiler. Der Gedanke der „Abtötung", d. h. der Ermächtigung des „Fleisches" durch die Herrschaft des Geistes und des Willens und das Streben nach Vollkommenheit fügte noch weitere Überpflichtige Leistungen (opera supererogatoria) hinzu: Mildtätigkeit, Fastenordnungen, Gebetsordnungen, Verzicht auf Bequemlichkeiten, ungestörten Schlaf u. dgl. Diese Leistungen sind zwar keine unerläßlichen Gebote, wohl aber sind sie „Ratschläge", und wer ihnen folgt, hat es leichter, der Sünde zu entgehen und die Vollkommenheit zu gewinnen. Gegen dieses asketische Ideal und die „Werkgerechtigkeit", in deren Dienst es stand, richteten die Reformatoren eine so tiefgreifende Kritik, daß sie dadurch die ganze mittelalterliche Klosterkultur zum Einsturz brachten. Es waren im wesentlichen vier Gedanken. a) Aus der Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden folgt die Ablehnung jedes Verdienstgedankens. Die Rechtfertigungslehre schließt es aus, daß man durch ein opus supererogatorium oder durch ein opus speciosum eines besonderen Gnadenstandes teilhaftig wird. b) Die Reformatoren wußten, daß die Sünde nicht aus dem Fleisch im leiblichen Sinne, sondern aus dem Herzen kommt. In diesem Sinne ist die ganze erbsündliche Natur des Menschen „Fleisch". Es kann daher keine Abtötung dieses Fleisches geben; denn der Hochmut des Geistes, die Selbstsucht des Herzens ist eine viel tiefere Wurzel der Sünde als der Leib, so wichtig im übrigen auch eine Zucht des leiblichen Lebens sein mag. c) Wer aus der Welt ausscheidet und ins Kloster geht, weicht dadurch den Aufgaben aus, die uns Christen in der Welt gestellt sind. Überdies täuscht er sich, denn überall ist Welt, und die Sünde schleicht sich auch in die selbstgemachte Heiligkeit ein und macht sie zu einem bevorzugten Instrument.
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d) Schließlich ist für den Gebrauch der irdischen Dinge, der Ordnungen dieses Lebens Gottes Gebot maßgebend. Man kann nidit hoffen, dadurch die Vollkommenheit vor Gott zu erlangen, daß man Ordnungen abwertet und verläßt, die Gott selbst eingesetzt und geheiligt hat, vor allem die Ehe und den weltlichen Beruf. „Mandatum Dei et ordinationem Dei nulla lex humana, nullum votum tollere potest" (CA XXIII,8; BSLK 87, 19ff., cf. CA XXVII, 18—21; BSLK 113, 14ff.). Man wird es im einzelnen dahingestellt lassen dürfen, wieweit diese reformatorische Polemik den heutigen Katholizismus trifft. Die Gesichtspunkte der damaligen Kritik sind aber immer nodi unveraltet in Geltung. Das schließt nicht aus, daß einmal im Pietismus der Gedanke einer sich von der „Welt" unterscheidenden Heiligung erneut hochgekommen ist und dann weit über die Grenzen des eigentlichen Pietismus hinaus gewirkt hat. Wichtiger ist etwas anderes. Sowohl die lutherische Reformation als auch der Calvinismus haben den Gedanken der Entsagung, der gehorsamen Berufserfüllung und der Leidensbereitschaft so intensiv aufgegriffen, daß daraus ein neues asketisches Ethos erwachsen ist. In der lutherischen Reformation war es vor allem der Gedanke des Berufes, der die Richtung anzeigte, in der sich der Christ in einem entsagungsvollen Leben zu bewähren habe. N a m perfectio Christiana est serio timere Deum et rursus concipcre magnam fidem et confidere propter Christum, quod habeamus Deum placatum, petere a D e o et certo exspectare auxilium in omnibus rebus gerendis iuxta vocationem, interim foris diligenter facere bona opera et servire vocationi. CA X X V I I , 49 (BSLK 117, 32 ff.).
Hier im Beruf ist die Stätte der Bewährung. Es gibt keine bessere Heiligkeit. Hier werden die Gebote erfüllt. Die Werke des Alltages verheißen keinen Ruhm; sie sind voll Last und Plage, und der Christ findet allenthalben genug Anlaß, sich im Leiden zu bewähren. Nicht weniger trägt der Ernst strenger Gesetzeserfüllung und die gesammelte, arbeitsame Beschränkung auf ein gehorsames Leben im Calvinismus ausgesprochen asketischen Charakter. Die Erwählung betrifft nadi reformierter Anschauung nidit nur das ewige Leben, sondern sie umgreift das irdische Leben und die Lebenshaltung der Christen. Schon bei Calvin ist das Problem der praedestinationis cognitio (Inst. III, 23. 13; Niesei IV 407, 26) lebendig. „Electionis scopus est vitae sanctimonia etc.* (Niesei IV 406,26). „Ita optimum tenebimus ordinem si in quaerenda electionis nostrae certitudine, in iis signis posterioribus, quae sunt certae eius testificationes, haereamus" (Inst. III, 24. 4; Niesei IV 414, 7—10).
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Der förmliche „Rückschluß" vom Lebenserfolg und der Lebensführung auf die sonst verborgene Erwählung (Syllogismus practicus) wird zwar bei Calvin nicht ausgesprochen, er liegt aber nahe genug. Der Heidelberger Katechismus zieht diese Konsequenz in Frage 86 : „daß wir bei uns selbst unseres Glaubens aus seinen Früchten gewiß seien". M a x Weber hat in: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, (Sonderdruck) 1934, 84 ff., bes. 102 ff. weitreichende soziologische und wirtschaftsgeschichtliche Konsequenzen gezogen, die von E . Troeltsch aufgenommen worden sind. Zur Frage der E r w ä h lungsgewißheit vgl. als älteren unverdächtigen Zeugen E . F. K . Müller: Symbolik, 1896, 4 8 4 — 4 9 3 .
Hier liegen die Wurzeln für eine neue, ganz andere Art von protestantischer Askese, für welche E. Troeltsch im Ansdiluß an Max Weber die Bezeichnung „innerweltliche Askese" eingeführt hat. Ihr fehlt, verglichen mit der altchristlichen Askese, das Motiv der Weltflucht. Sie ist ganz und gar Dienst an der Welt, und zwar entsagungsvoller Dienst. „Die Weltbejahung hört im Grunde nicht auf, Askese, d. h. Weltverleugnung zu sein, nur ist es eine andere Askese als die heroische Mortifikationsaskese der Kirche und die gesetzliche Weltenthaltung der Sekten. Es ist die innerweltliche Askese der Überwindung der Welt in der Welt, der Selbstverleugnung im Beruf und im beruflichen Dienst für das Ganze, der Gehorsam, der in gegebenen Bedingungen stehen bleibt und innerhalb ihrer den natürlichen Menschen und den Teufel überwindet" (E. Troeltsch, a. a. O . 444f., vgl. 784, 959f.). Dieser innerweltlichen Askese fehlt auch jede Reflexion auf einen höheren Vollkommenheitsgrad gegenüber anderen Christen, es fehlt ihr eine besondere jenseitige Erwartung. Ihr religiöser Sinn liegt im strengen Gehorsam gegen den durch Gott empfangenen Beruf, in der religiösen Sinndeutung des weltlichen Lebens als Stätte unseres Dienstes, im selbstlosen Verzicht, in der gelebten Rechtfertigungslehre, auch in der Leidensbereitschaft; das Alltagsleben wird zu einem praktischen Gottesdienst. Es ist kein Gegensatz gegen das Weltleben mehr darin, sondern das natürliche Leben nimmt an der übernatürlichen Zwecksetzung teil. Hierbei sind, worauf E. Troeltsch mit Recht hingewiesen hat, zwischen Calvinismus und Luthertum gewisse Differenzen wahrzunehmen, aber das Ethos der innerweltlichen Askese gilt für beide großen Ausprägungen des Protestantismus gleichermaßen. Aber es ist auch nicht zu verkennen, daß dann diese religiöse Sinndeutung unvermerkt zurücktreten kann, und daß sich aus diesem neuzeitlichen Typus der Askese ohne Einbuße an Strenge und sittlicher Konsequenz ein ganz und gar säkularisiertes Ethos zu entwickeln vermag, ein Ethos der strengen Pflichterfüllung und des opfervollen Dienstes, der nicht nach Lohn und Gewinn fragt.
Das philosophisdie Problem der Freiheitslehre
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In der Nachbarschaft zur Idee der Heiligung und der Askese hat auch der Begriff der N a c h f o l g e seine eigene Bedeutung. Er deckt sich nicht genau mit Heiligung und Askese, er hebt jedenfalls einen Gedanken besonders hervor. Es geht um die Regel unseres Lebens und die Sinngebung des Leidens. Beides empfangen wir im Blick auf Christus, der den Seinen durch Leiden, Kreuz und Tod vorangegangen ist und der uns die Gewähr gibt, daß auch die leidvollsten Stunden vor Gott und für unser Leben in seinem Reiche sinnvoll sind. Er hat die Jünger in seine Nachfolge berufen (Mk 1, 17ff. u. ö.), Nachfolge ist gleichbedeutend mit Jüngerschaft auch über den Kreis der Zwölfe hinaus (Mt 10,38; Mk 8,34 u. ö.). Sie versetzt uns in ein unmittelbares Verhältnis zum Herrn. Doch finden sich verschiedene Spielarten dieses Gedankens, angefangen bei der förmlichen Nachahmung (Imitatio Christi), aber dann unter Bevorzugung bestimmter leitender Ideen, wobei die verschiedene Auffassung des Bildes Jesu selbst ins Gewicht fällt. So ist in der berühmten Erbauungsschrift des Thomas a Kempis „De imitatione Christi" Jesus ein Vorbild des mönchischen und sakramentalen Lebens mit ihm, und schließlich wird das Buch zu einer Anleitung des mystischen Umganges mit Christus. Uberwindung der Versuchung, widerstandsloses Ertragen von Unrecht und Feindschaft werden an dem Vorbild Christi abgelesen. Schließlich kann aus den Worten und Handlungen Christi ein ganzes Modell des irdischen Lebens entnommen werden, wobei dann die wichtigen Themen (Berufung, Gehorsam, Kreuz und Anfechtung, Bruderschaft usw.) naheliegen. Die Evangelien im ganzen und im einzelnen (so die Bergpredigt bei Bonhoeffer) werden zu einem Elementarbuch des praktischen — und des geistlichen Lebens. D. Bonhoeffer: Nachfolge, (1937) 1967» — A. Sdiulz: Nachfolgen und Nachahmen, Studien über das Verhältnis der neutestamentlichen Jüngerschaft zur urchristlidien Vorbildethik, 1962 — A. Köberle: Rechtfertigung, Glaube und neues Leben, 1965 — Art. Nachfolge, RGG IV, 1286 ff. (E. Lohse u. a.) (hier weitere Lit.).
5. Kapitel Die 1. Das philosophische
Freiheit Problem
der
Freiheitslehre
In stetem Widerspruch zum naturwissenschaftlichen Begriff der strengen Kausalität, der lückenlosen Determiniertheit alles Geschehens
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
in der sichtbaren W e l t und damit auch z u r Zwangsläufigkeit
aller
menschlichen H a n d l u n g e n fordert die E t h i k die Freiheit des Willens. O h n e diese Freiheit des Willens ist es sinnlos, v o n Zurechnung, v o n V e r a n t w o r t u n g und Schuld zu sprechen; denn diese Begriffe setzen voraus, d a ß m a n uns verantwortlich machen kann, d a ß w i r also frei sind. A n dieser F r a g e entsteht seit alters die metaphysische Schwierigkeit, ob denn die Welt überhaupt für eine solche Freiheit R a u m läßt. Mit dem Gesetz der K a u s a l i t ä t ist ja audi die Lückenlosigkeit der Abfolge v o n Ursachen und W i r k u n g e n gesetzt und eben diese Lückenlosigkeit widerspricht der Lehre v o n der menschlichen Freiheit, die d a r a u f beruht, d a ß der menschliche Wille und die daraus hervorgehenden H a n d lungen in eine Lücke des äußeren Geschehens einspringen. D a s D i lemma, das sich hier zeigt, ist uralt. E s ist dadurch v o n jeher verschärft worden, d a ß mit der einen wie mit der anderen Entscheidung weltanschauliche o d e r religiöse Interessen verbunden w a r e n . Während die auf Aristoteles zurückgehende scholastische und späterhin katholische Tradition der Moraltheologie an der Willensfreiheit festgehalten hat, hat sich der frühe Protestantismus zunächst gegen sie entschieden. In der ersten Darstellung einer reformatorischen Dogmatik, in Philipp Melanchthons Loci communes von 1521 ist nicht nur ein Bekenntnis zur göttlichen Prädestination ausgesprochen, sondern diese Prädestination im Sinn des Determinismus erklärt: „Quandoquidem omnia quae eveniunt, necessario iuxta divinam praedestinationem eveniunt, nulla est voluntatis nostrae libertas." (ed. Stupperich II, 1, S. 10). Vier Jahre später, 1525, folgt Luthers Schrift De servo arbitrio (WA X V I I I , 600 ff.), die sich mit der humanistischen Freiheitslehre des Erasmus polemisch auseinandersetzt. Freilich ist hier die Frage der Willensfreiheit im Sinn der späteren Ethik aufgesogen durch die Lehre von der Alleinwirksamkeit des verborgenen Gottes vor allem in Sachen unseres Heils. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß dieseSchrift, um wenig zu sagen, die Zuversicht des Protestantismus gelähmt hat, an der Voraussetzung der Willensfreiheit für seine eigene Ethik mit Unbedingtheit festzuhalten. Es zeigte sich bald, daß dafür Bedürfnis bestand, und so finden wir in der Augsburger Konfession 1530 bereits eine Unterscheidung der Freiheit in äußeren Dingen von dem menschlichen Vermögen, für sein eigenes Heil aus eigener Kraft zu wirken. „De libero arbitrio docent, quod humana voluntas habeat aliquam libertatem ad efficiendam civilem iustitiam et deligendas res rationi subiectas. Sed non habet vim sine spiritu sancto efficiendae iustitiae Dei seu iustitiae spiritualis, quia animalis homo non percipit ea, quae sunt spiritus Dei: sed haec fit in cordibus, cum per verbum spiritus sanctus concipitur" (CA X V I I I , 1—3, B S L K 73, 1 ff.). Die Formula Concordiae hat in ihrem 2. Artikel fünfzig Jahre später diese Unterscheidung befestigt und überdies für die Getauften ein arbitrium liberatum in Anspruch genommen (BSLK 898, 32 ff.). Man sieht bei näherem Studium dieser Texte, daß die Bestreitung der Freiheit des Willens aufs engste mit der Lehre von der Verderbnis
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der Natur des Menschen zusammenhängt, womit im Grunde Behauptung wie Bestreitung des liberum arbitrium zu einer Sache der theologischen Anthropologie geworden ist. Sehr anders verhält es sich mit der Betonung der „christlichen Freiheit", die ohne alle anthropologischen Hintergedanken die Freiheit des Christen vom Gesetz im Auge hat, wofür Luthers Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen" ebenso ein Beispiel ist wie die Bekenntnisschriften etwa im Zusammenhang mit der Befreiung der Christen vom Zwang der Zeremonialgebote (vgl. BSLK 128 ff.). Die spätere Diskussion löst sich auf philosophischem Boden ganz von den theologischen Interessen. I. Kant hat in der „Kritik der reinen Vernunft" (Transzendentale Dialektik 2. Buch, 3. Antinomie) den status controversiae deutlich genug bezeichnet, indem er seine eigene Überzeugung dahin präzisiert hat: Im mundus sensibilis — und zwar einschließlich der psychischen Realitäten — läßt sich kein Raum für einen freien Einsatz des unbedingten Willens finden. Im mundus intelligibilis kann dagegen jede Verursachung als Handlung eines Dinges an sich betrachtet werden. Frei ist nach Kant der menschliche Wille, sofern er unabhängig von allen äußeren Bedingungen nur seinem eigenen Gesetz gehorcht. Das ist gerade der Sinn der kantischen Lehre vom kategorischen Imperativ, daß hier eine Formel gefunden wird, weldie dem Willen seine Unabhängigkeit von allen Bedingungen sichert, die außerhalb seiner selbst liegen. Freilich läßt sich eben diese Freiheit im mundus sensibilis nicht erweisen. Von Kant an ist es dann für alle Spielarten der idealistischen Ethik selbstverständlich gewesen, die These der Freiheit uneingeschränkt festzuhalten. Freilidi ist dieser Gewinn erkauft mit der Doppelung der Weltansicht, in der sich in gewissem Sinne Melandithons Scheidung von Freiheit im äußeren und Unfreiheit in den unanschaulichen Bereichen unseres Gottesverhältnisses fortsetzt, allerdings sehr bezeichnenderweise gerade im umgekehrten Sinn. Der berühmte Vers Schillers der so viel für die Popularisierung der kantischen Philosophie geleistet hat, muß hier stehen: „Der Mensch ist frei geschaffen, ist frei, und würd' er in Ketten geboren" (Worte des Glaubens). Auch die protestantisdie Ethik, soweit sie kantisdi war, hat die These von der Willensfreiheit unerachtet der Determiniertheit des äußeren Geschehens konsequent festgehalten, z. B. Wilh. Herrmann. Die neuere philosophische Debatte ist im allgemeinen an die durch Kant geschaffene Diskussionslage gebunden, soweit sie nicht die These der Willensfreiheit neuthomistisch begründet. Für die Fortsetzung der idealistischen Position ist die Frühschrift von Arnold Gehlen: Theorie der Willensfreiheit, 1933 zu nennen. Für die neuthomistische Begründung außer den Lehrbüchern der katholischen Moral K. Holzamer: Grundriß einer praktischen Philosophie, 1951 und A. Antweiler: Das Problem der Willensfreiheit, 1955. Im ganzen zeigt die Literatur das Bemühen, das Problem historisch aufzulockern (W. Windelband: Über Willensfreiheit, 1904, 19234; E. Tegen: Moderne Willenstheorien, 2 Bde., 1924—28) oder es auf dem Wege einer empirischen Lösung abzugleichen. Ich nenne nodi Nicolai Hartmann: Ethik, (1926) 19624 mit einer eindringlichen Analyse der kantischen Lösung; R. Keussen: Die Willensfreiheit als religiöses und philosophisches Grundproblem, 1935; H. Groos: Willensfreiheit oder Schicksal? 1939; E. Mezger: Über Willensfreiheit, 1947. In betonter Weise sind um eine Lösung des Problems von der
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Erfahrung her bemüht H. Reiner: Freiheit, Wollen und Aktivität, 1927, wie dann die bedeutende Frühschrift von A. Pfänder: Phänomenologie des Wollens, (1900) 19302 erheblich nachgewirkt hat; ferner W. Keller: Psychologie und Philosophie des Wollens, 1954. Schließlich muß die soziologische Studie von O. Veit genannt werden: Die Flucht vor der Freiheit, 1947, 195 72 u. d. T.: Soziologie der Freiheit, und M. Scheler: Zur Phänomenologie und Metaphysik der Freiheit, in: Schriften aus dem Nachlaß I, 19572, S. 155—177. Der Wandel der Diskussionslage, den die philosophische Literatur zeigt, gibt sich auch in der theologischen Arbeit kund. In welchem Sinn, davon wird im zweiten Absatz die Rede sein. Über den Stand der Freiheitslehre in der neueren evangelischen Ethik unterrichtet gut Paul Althaus: Grundriß § 8 und 9. Hier auch Hinweis auf weitere Literatur. Karl Barth entfaltet in seiner K D III/4 (1951) 19582 die angewandte Ethik in Gestalt einer großartigen Freiheitslehre. Ferner nenne idiR. Bultmann: Gnade und Freiheit (1948), und: Die Bedeutung des Gedankens der Freiheit für die abendländische Kultur (in: Glauben und Verstehen II, 149 ff. und 274 ff.). Hierzu meine Rektoratsrede: Die christliche Freiheitsidee (in: Viva vox evangelii. Festschrift für Hans Meiser, 1950, S. 335 ff., wieder abgedruckt in: Akad. Reden, 1952, S. 5 ff.).
Determinismus und Indeterminismus stehen sich in der Geschichte des Freiheitsproblems deswegen so unversöhnlich gegenüber, weil beide in sich geschlossene Theorien darstellen, aus denen kein Glied herausgebrochen werden kann, ohne diese Theorien selbst zu entwerten. Daher erklärt es sich auch, daß die meisten Versuche des Ausgleichs so vorgenommen worden sind, daß man der einen wie der anderen Theorie einen besonderen Bereich ihrer Geltung zugemessen hat, in dem sie jeweils mit der anderen nicht in Berührung kommt. Darauf deutet auch die Unterscheidung von Willens- und Handlungsfreiheit, die davon ausgeht, daß der Wille in einem intelligiblen Bereich herrscht, während die menschlichen Handlungen der äußeren Welt angehören, in der die Kausalität regiert. Das Unbefriedigende dieser Versuche liegt darin, daß keine Theorie die andere zu überwältigen vermag und sich die menschliche Einsicht auf diesem Gebiete keiner Konsequenz, weder der deterministischen noch der des Indeterminismus zu beugen vermag. In Wirklichkeit stehen sich hier zwei menschliche Erfahrungsreihen gegenüber. Die eine Erfahrungsreihe führt uns zur Einsicht in unsere Unfreiheit. Diese Unfreiheit ergibt sich zunächst aus der Einsicht in die Voraussetzungen unserer bloßen Existenz, die jeder nur irgendwie denkbaren Entscheidung bereits vorausliegen und sie bedingen. a) Wir sind in unserer Entscheidung vorausbedingt durch die Zeit unseres Daseins. Der Augenblick unserer Geburt entscheidet darüber, welchem Zeitalter wir angehören sollen. Von allen theoretisch möglichen Zeiten ist nur eine einzige Zeit faktisch die unsrige.
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b) Wir sind in allen Entscheidungen bedingt durch den Ort, bzw. durch die geschichtliche Verzahnung unseres Ursprungs. Welchem Land und Volk wir angehören, welcher Volksstamm uns seine charakteristischen Eigentümlichkeiten mitgibt, welche rassischen und familiären Eigentümlichkeiten uns bestimmen — das ist durch keinen Willensakt mehr austauschbar. c) Damit wird uns dann audi eine bestimmte Schicksalsreihe unseres Daseins auferlegt; denn wir haben genau an der Geschichte teil, zu der wir zeitlich, abstammungsmäßig, sozial usw. verurteilt sind. d) Es leuchtet ein, daß es von da aus nur noch als eine Sache der Willkür erscheinen kann, die psychische Welt aus den Bedingungen auszuklammern, unter denen wir unsere vermeintlichen Entscheidungen treifen. Man denke nur an die körperlichen und atmosphärischen Bedingungen unserer Stimmungen, an alle Zufälle, durch welche der Umkreis eines klaren Urteils beschränkt wird, ferner an das Ausmaß, in dem unser ganzes psychisches Leben nur eine Reaktion auf die Umwelt darstellt, um an der Freiheit unseres Inneren hinreichend zu zweifeln. e) Schließlich gilt ganz einfach, daß, wie frei wir uns auch eine Entscheidung immer denken mögen, jedenfalls die Materie der Entscheidung, also die Alternative selbst der Entscheidung vorausgeht. Das, was ich wählen oder verwerfen soll, habe ich eben nicht frei gewählt, sondern es ist mir gegeben oder nicht. Diese Erfahrungsreihe wird durch die Theorie des Determinismus nach zwei Seiten hin gleichsam unangreifbar gemacht. Einmal lebt der Determinismus davon, daß die Abfolge von Ursache und Wirkung ein lückenloses metaphysisches Prinzip darstellt. Was immer es mit dieser Lückenlosigkeit tatsächlich auf sich haben mag, so scheint sie doch durch die Unmittelbarkeit der geschilderten Erfahrungsreihe bestätigt zu sein. Sie scheint gleichsam eine metaphysische Ausdrucksform für jene Erfahrungsreihe zu sein, die freilich ihre Unbedingtheit nicht erst von der theoretischen Formulierung her empfängt. Es kommt aber etwas anderes hinzu, was noch viel dringlicher ist als die Argumentation mit dem Kausalprinzip. Es ist nämlich die Unmöglichkeit des theoretischen Gegenbeweises. Auch dieses Argument spielt in die Metaphysik hinein. Nehmen wir an, der handelnde Mensch stünde in einer echten Wahlfreiheit vor der Möglichkeit, entweder die Handlung A oder Β oder C usw. zu vollziehen. Er könnte von diesen wahlweise angebotenen Möglichkeiten jedenfalls immer nur eine realisieren, was ja streng im Begriff der Wahl zwischen diesen Möglichkeiten liegt. Mit jeder Wahl erlischt aber die Möglichkeit, die anderen 5 Trillhaai, Ethik
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angebotenen Entscheidungen zu vollziehen. Wie soll aber nun bewiesen werden, daß auch die anderen, nicht vollzogenen Handlungen ebenso realisierbar gewesen wären wie die tatsächlich realisierten Handlungen? Ich kann zwar von einer aktualisierten Handlung auf deren Möglichkeit zurückschließen. Idi kann aber nicht von der aktualisierten Handlung A aus den Beweis führen, daß ebenso die Handlung Β und die Handlung C möglich gewesen wären. Dadurch aber rückt die ganze Entscheidungsfreiheit theoretisch in den Verdacht, eine Täuschung zu sein. Dem steht nun freilich eine andere Erfahrungsreihe gegenüber. Sie hebt die Erfahrungen der ersten Reihe keineswegs auf. Aber sie ist dieser ersten Erfahrungsreihe gegenüber durchaus von eigenem Recht. Es ist die Tatsache, daß man einer handelnden Person ihre Handlungen „zurechnet". Dies würde, an einer fremden Person vollzogen, nichts besagen. Tatsächlich aber redine ich mir selbst meine Taten zu. Wir lassen uns in den entscheidenden Akten die Urheberschaft für unsere Taten nicht bestreiten. Es ist uns unmittelbar gewiß: „Ich will", „Ich kann dafür", aber auch „Ich lasse mich nicht zwingen". Wir halten an unserer Überzeugung auch dann fest, wenn die Erfahrung unserer Verantwortung gegen uns spricht. Inwieweit kann ich nun einen Menschen für seine Taten haftbar machen? Natürlich können ihm Zeit, Ort und Umstände seines bloßen Daseins und auch, wie gezeigt, die Ausgangssituationen seiner Entscheidungen nicht zugerechnet werden. Aber wir rechnen unmittelbar mit der Möglichkeit, daß die verantwortliche Person um den Effekt ihrer Taten weiß, daß sie vorausweiß. Und die Person, die um diesen Effekt ihrer Taten nicht nur weiß, sondern auch wissen k a n n und wissen m u ß , ist für ihre Taten haftbar. Sokrates war der Meinung, daß niemand mit Wissen und Willen schlecht handelt. Das optimistische Menschenbild, das sich hier kundgibt, interessiert uns in diesem Falle weniger als folgendes: Die Gutheit einer Handlung, ihre sittliche Qualität ist für Sokrates vom Wissen und vom Willen abhängig. Wir müssen Wissen und Willen bei unseren beabsichtigten Taten einsetzen. Mit beidem aber ist das Wesen der Überlegung beschrieben. Die Uberlegung ist ein sittlicher Grundbegriff. Jedem Menschen kann die Ubersicht über die Folgen seines Verhaltens bis zu einer gewissen Grenze — ich möchte sie den ethischen Horizont nennen — zugemutet werden. Wer die Folgen seines Verhaltens nicht wenigstens bis zu jenem ethischen Horizont hin zu übersehen vermag, der wird sittlich „nicht für voll genommen", d. h. er wird nicht im vollen Sinn als eine sittlich
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verantwortliche, der Überlegung fähige Persönlichkeit beurteilt. Dies trifft auf Kinder und Geisteskranke zu. Hier ist auf Adolf Reinach: Die Überlegung; ihre ethische und rechtliche Bedeutung, in: Gesammelte Schriften, 1921 (S. 121 ff.) hinzuweisen. Reinach spricht in unserem Zusammenhang im Gegensatz zur „intellektuellen" von einer „voluntativen Überlegung". Nehmen wir an, ein Projekt, ein Wunsch oder eine Forderung stehen vor uns, ganz gleich, ob sie von außen oder von innen kommen. Das bloße Vorhandensein dieses Projektes etc, macht mir aber nodi nidit klar, was ich tun soll; idi will nidit durdi das bloße Auftauchen eines solchen Vorschlages oder Wunsches mich verlocken oder gar hinreißen lassen zu handeln. Was tue ich? Idi „überlege", und dies schließt ein Doppeltes in sich. a) Idi vergegenwärtige mir die voraussichtlichen Folgen, was natürlich grundsätzlich ins Endlose gehen kann, was aber nur, wie gezeigt, bis zu einer gewissen Grenze des Absehbaren, bis zu dem ethischen Horizont hin zumutbar ist. In der Phase der Überlegung wäge ich also den Wert des Projektes ab gegen die Aufwendungen, die es erfordert und wiederum andererseits gegen die Folgen, die aus seiner Durdiführung zu erwarten sind. Ich versuche, durch die Überlegung mehr zu erkennen, als ich beim ersten Hinsehen auf das Projekt erkennen kann. b) Ich befreie midi in der Überlegung von möglichen Täuschungen, von einwirkenden Leidenschaften und von einseitiger Beurteilung. Jeder kennt den Wert einer gemeinsamen Beratung oder die Bedeutung des „Beschlafens" eines Vorhabens. Ich beseitige alles, was meine Freiheit der reinen Entscheidung beeinträchtigt. Wo das Abwägen eine Häufung von Gesichtspunkten des pro und contra zur Folge hat, muß ich durch die Überlegung dann zusätzlich noch die Gesichtspunkte ordnen und abwarten, bis sich klare Linien aus dem Gewirr der Gesichtspunkte herausheben. Neben der unmittelbaren Erfahrung der Zurechenbarkeit unserer Handlungen ist die voluntative Überlegung vielleicht die stärkste Grundlage für unsere Überzeugung, daß es möglich ist, unsere T a t von allen möglichen Determinanten, von Vorurteilen, Leidenschaften, Einseitigkeiten, aber auch v o m Einfluß der eigenen Trägheit freizumachen. Eben diese Erfahrung, Nein sagen zu können, ist die stärkste Stütze unseres Freiheitsbewußtseins. T r o t z der negativen F o r m hat gerade die Fähigkeit des Nein-Sagens einen eminent positiven Sinn. 1. Z u s a t z . Natürlich ist damit nicht gemeint, daß das bloße Neinsagen schon ein Zeichen der Freiheit sei. Es gibt ja auch eine Form der Entschlußlosigkeit, der Gefühlsleere oder Blasiertheit, die uns zum Nein führt. Freilich wird man uns dann eben diese Schwächen, die vielleicht als tatsächliche Unfreiheit, Unbeweglichkeit, als Unvermögen der Person in Erscheinung treten, wiederum zurechnen. Es ist also selbst darin nodi eine negative Spur der Freiheit erkennbar, daß man auch dem entsdilußlosen und negativ eingestellten Menschen sagen kann: Du bist an deinem Zustand selber schuld. 2. Z u s a t z . Die Befreiung von Determinanten in dem geschilderten Sinn muß man sich nicht notwendig als Sache des augenblicklichen Entschlusses
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
vorstellen. Man muß sich natürlich zu dem Nein entschließen, muß sich von fremden Beeinflussungen losreißen. Es gibt aber auch ein inneres Wachstum, das uns über bestimmte Bindungen und Hemmungen hinausführt. Alles menschliche Reifen, das zunehmende Alter bringt es mit sich, daß bestimmte Dinge ihre Macht über uns verlieren: Rücksichtnahme auf Menschen und ihre Vorurteile, erotische Reizbarkeit, Freude an manchen Vergnügungen — das alles kann eines Tages von uns abfallen und wird unwesentlich werden. Der Sinn dieser Befreiung soll auch dann sichtbar werden, daß nämlich die eigentlichen ethischen Ziele umso heller strahlen und sich in ungehinderter Evidenz geltend machen.
Es liegt auf der Hand, daß diese beiden Erfahrungsreihen sich gegenseitig widersprechen. Baut man sie vollends zu abgeschlossenen Theorien aus, so schließen sie sich gegenseitig aus, und es bleibt nur noch übrig, in der Annahme der einen Theorie die andere zu verwerfen. Tatsächlich ist das eine Unmöglichkeit. Vielmehr verhalten sich beide Erfahrungsreihen zueinander komplementär. Ich gebrauche damit einen Ausdruck aus der theoretischen Physik und beziehe mich auf eine Äußerung von Niels Bohr, die in eine ganz andere Situation hineintrifft, für die wir doch eine Analogie zu unserem Problem in Anspruch nehmen dürfen. „Eine solche Situation, die bisher in der Physik ganz unbekannt war, mußte ja anfänglich völlig verwirrend wirken, aber mit der Zeit sah man ein, daß man die einander widersprechenden Bilder niemals braucht, um ein und dasselbe Phänomen zu beschreiben, sondern nur um von Erfahrungen Rechenschaft zu geben, die unter verschiedenen, einander gegenseitig ausschließenden Versuchsbedingungen gewonnen waren. Solche Erfahrungen stehen deshalb zueinander in einem Verhältnis, das man als komplementär bezeichnet, um zu unterstreichen, daß sie, obwohl sie nicht in einem einzigen anschaulichen Bild vereinigt werden können, je für sich gleichwertigen Seiten der Gesamtheit der Informationen, die überhaupt gewonnen werden können, Ausdruck geben." Das Zitat stammt aus einem Rundfunkvortrag am 1. April 1949, abgedruckt bei Günter Howe: Zu den Äußerungen von Niels Bohr über religiöse Fragen. KuD 1958, 26. Art. Komplementarität (v. Weizsäcker) RGG III, 1744 f. (Lit.). 2. Der christliche
Freiheitsbegriff
Was wir bei der Erörterung der philosophischen Problemlage gewonnen haben, soll beim Ubergang zur Darstellung des christlichen Freiheitsbegriffs nicht wieder aufgegeben werden. Wir gehen vielmehr bei der Entwicklung des Folgenden davon aus, daß dem Menschen innerhalb der Situation, die ihm vorgegeben ist, gewisse Spielräume
Der diristlidie Freiheitsbegriff
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seiner Verantwortlichkeit sichtbar werden. Diese Spielräume, in denen er seine Entscheidungen frei zu haben scheint, sind natürlich nur vom Subjekt aus sichtbar. Sie können nicht objektiviert werden. Aber wie ist diese Freiheit nun inhaltlich beschaffen? Sie ist jedenfalls keine absolute Freiheit, sondern eine relative, in der der Mensch sich selbst findet. Sie ist einmal relativ zu allen Determinanten seiner Existenz selbst. Wir haben das ausführlich gezeigt. Es muß aber noch etwas Weiteres zur Beschreibung dieser Relativität hinzugenommen werden. a) Der Mensch weiß sich dann frei, wenn er ungehindert von „fremden" Determinanten ausschließlich seiner eigenen sittlichen Einsicht folgen kann. Wir sagen dann von dieser Einsicht gemeinhin, sie sei „zwingend", d. h. sie zwingt uns zu einer Handlung ohne Rücksicht auf fremde Wünsche und Einreden oder auf Vorteile usw. Man kann also sagen, daß ein Mensch in dem Maße frei ist, als er seiner Einsicht gehorcht. Diese Einsicht empfängt er aber durchaus aus einer Sachlage heraus, in deren Beurteilung er sich — allgemein ausgedrückt — von allen sachfremden Gesichtspunkten der Beurteilung frei macht. Man muß das in seiner ganzen Grundsätzlichkeit nehmen, um einzusehen, daß die Freiheit nichts mit einer willkürlichen Spontaneität unserer Entschlüsse zu tun hat, die sich etwa dadurch als angeblich frei erwiesen, daß sie auf nidits und niemand Rücksicht nähmen. Tatsächlich aber handelt es sich bei dieser Freiheit immer nur um die Frage, woher ich das Gesetz meiner Entscheidung nehmen will. Eben in dieser Entscheidung selbst liegt das Element der Freiheit. An diesem Punkte wird übrigens schon deutlich, daß der Unterschied von Willens- und Handlungsfreiheit nur vordergründigen Charakter hat und bei einer tieferen Betrachtung nicht aufrechterhalten werden kann. b) Man kann diese Freiheit auch so schildern, daß man sagt: Der freigewordene Mensch kommt zu sich selbst. Er folgt keinem fremden, von anderswoher kommenden Gesetz, sondern er folgt nur noch seinem eigenen Gesetz. Er ist also keinesfalls ohne Nomos, wohl aber hat er sich gegen die Heteronomie für die Autonomie entschieden. Es ist die Argumentation Kants, der die Idee der Freiheit gerade durch eine Radikalisierung des ethischen GesetzesbegrifFes gewinnen und sicherstellen wollte. Nun kann diese Autonomie das Beste und das Schlechteste bedeuten. Sucht man den Ort auf, wo sie das Beste bedeuten kann, so muß freilich noch hinzugenommen werden, daß diese Autonomie im besten Sinn audi lückenlos und restlos verwirklicht wird. Das bedeutet eine Idealisierung des handelnden Menschen, die aber über alle Wirklichkeit
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I. A n t h r o p o l o g i s c h e G r u n d b e g r i f f e der christlichen E t h i k
hinausgeht und einen utopisdien Charakter gewinnt; denn es setzt den Menschen ohne Sünde, ohne concupiscentia, ohne Fehler voraus. Es ist der Mensch, von dem das „posse non peccare" gilt, das Augustin dem Menschen vor dem Fall als Ausdruck seiner höchsten Freiheit zugebilligt hat. Aber das ist eine verlorene Freiheit. Im Neuen Testament spielt der Begriff der Freiheit (έλεύθερος, έλευθερία) eine zentrale Rolle. Scheidet man lexikographisch jene Stellen aus, in denen der Begriff rein profane Bedeutung hat, so ist bald erkennbar, daß der Verbalform έλευθερόω die Schlüsselstellung zukommt. „Befreit von der Sünde seid ihr Knechte der Gerechtigkeit geworden" (Rom 6 , 1 8 . 2 2 ) ; „denn auch die Schöpfung wird befreit werden von der Knechtschaft der Vergänglichkeit zu der Freiheit der Herrlichkeit der Kinder Gottes" (Rom 8, 21); „Zur Freiheit hat euch Christus befreit" (Gal 5, 1), wozu der Sache nach Gal 5. 13a gerechnet werden muß: „Denn ihr seid zur Freiheit berufen, liebe Brüder". Uberall herrscht also die Vorstellung, daß die Freiheit der Christen (1 Kor 10,29; 2 Kor 3,17) durch eine Befreiungstat Gottes in Christus hergestellt wird; den paulinischen Aussagen entspricht genau das Zeugnis des vierten Evangeliums „Ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch befreien" (8. 32) und „Wenn euch nun der Sohn befreit, so seid ihr tatsächlich frei" (8, 36). Geht man von diesen Stellen aus, so sieht man unmittelbar, daß die christlich verstandene Freiheit keine Eigenschaft des vorfindlichen Menschen ist. Sie ist keine absolute Freiheit, bei der die Frage erlaubt wäre, ob sie „der Mensch" hat oder nicht hat, und wo er sie hätte, in welcher Einschränkung und Modifikation das gelten könne. Vielmehr ist der Mensch zu einer Freiheit berufen, die ihm insofern zukommen mag, als er sie ursprünglich hatte. Jeder Gedanke an eine ursprünglich dem Menschen zukommende Freiheit kann immer nur eine verlorene oder doch beschädigte, entstellte Freiheit meinen. Wahrhaft frei ist er doch erst, wenn er befreit wird, wenn ihm die Freiheit als Geschenk und Gabe verliehen wird. Die Freiheit ist kein anthropologisches, metaphysisches oder ethisches Datum, sondern sie ist eine verlorene oder gegebene, sie ist eine gewährte oder nicht gewährte Freiheit; denn frei sein heißt hier jedenfalls : befreit sein. Der Ubergang zur Freiheit der Kinder Gottes kann nun freilich durch die Darbietung einer Lehre nicht erschöpfend beschrieben werden, sondern er ist ein arcanum und als solches unanschaulich. Natürlich geschieht der Übergang durch das Evangelium und durdi die Taufe, aber weder das äußere Vernehmen des Evangeliums nodi auch der
Der christliche Freiheitsbegriff
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bloße Vollzug der Taufe garantiert schon, daß der betroffene Mensch nun auch dieses Evangelium glaubt und die Taufgnade ergreift. Es ist durchaus damit zu rechnen, daß der Getaufte durch die Taufe ein Kind Gottes geworden ist, ohne daß er schon in vollen Umfang die damit gesetzte Freiheit ergriffen hätte. Denkbar ist es ja audi, daß er sie wieder vergessen hat. Man wird aber kaum damit rechnen können, daß jemand ohne die ganze Hingabe der Subjektivität in den Besitz der ihm gewährten Freiheit der Kinder Gottes kommt. Immer muß die Gnade dieser Freiheit auch im Glauben und in der Erkenntnis ergriffen werden, damit man wirklich sagen kann, sie sei nun für den einzelnen gültig. Der Ubergang des Menschen aus der Unfreiheit zur Freiheit ist jedenfalls nicht dogmatisierbar und institutionalisierbar. Man wird trotzdem sehr schlicht sagen können: Der ist frei geworden, welcher dankbar die Gnade Gottes erkennt, der uns freigesetzt hat, der uns Raum gibt, der uns ein Handeln ermöglicht, der uns etwas erlaubt. Der Angriff Luthers gegen Erasmus, die Bestreitung der Meinung, daß man der scheinbaren Wahlfreiheit (liberum arbitrium) eine Bedeutung für sein Heil beimessen könne, hat das Freiheitsproblem in Fluß gebracht. In einer vierfachen Abgrenzung hat die Theologie der Reformation den Gedanken der Freiheit im Sinn des Evangeliums hervortreten lassen : a) Selbstverständlich ist die diristlidie Freiheit von der bürgerlichen Freiheit zu unterscheiden. Diese ist ein Rechtsbegriff, der doch insofern geschichtlich von großer Bedeutung ist, als hier das Altertum wegen des Unterschiedes der Freien vom Sklaven ein besonderes Interesse entwickelte. Es bedarf keines Wortes, daß der bürgerliche Freiheitsbegriff außerhalb aller theologischen Bestreitung liegt. b) Erasmus war am liberum arbitrium, also an der Wahlfreiheit des Menschen bei seinen Entscheidungen interessiert. Luther hat die Zuversicht des Erasmus zu dieser Wahlfreiheit durch seine Lehre von der Allwirksamkeit des verborgenen Gottes zu erschüttern versucht. Schon vor Luthers Schrift De servo arbitrio (1525) hat Melandithon seinen Kampf gegen das liberum arbitrium mit deterministischen Formeln bestritten. Die Theologie der Reformation hat diesen Determinismus nidit festgehalten. Sie hat aber als eine Grundposition aufrechterhalten, daß diesem liberum arbitrium im Sinn des Erasmus und natürlich audi im Sinn der spätmittelalterlichen Anthropologie keine Bedeutung für das Heil der Menschen zukäme. Sofern dies zugesichert war, d. h. sofern klargestellt war, daß wir unser Heil allein der Gnade Gottes verdanken, stand fürderhin nichts mehr im Weg, „in rebus externis"
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
eine gewisse Handlungsfreiheit des Menschen durchaus zuzugestehen (CA XVIII u. ö.). c) In der Tat besteht eine unheimliche Freiheit des Menschen, sich dem Guten zu entwinden und Gott zu widersetzen. Paulus nennt sie Rom 6, 20 „Freiheit von der Gerechtigkeit". Um ihretwillen wird die Sünde dem Menschen als persönliche Schuld angerechnet. Mag auch diese Freiheit bei näherem Zusehen als Scheinfreiheit, nämlich als ein Sklavendienst des Bösen erkannt werden, so wird man doch zugeben müssen, daß ihr gewisse Symptome der Freiheit zu eigen sind. Natürlich kann diese Art von Freiheit nicht zur Erklärung der christlichen Freiheit herangezogen werden. d) Schließlich haben die Reformatoren auch Anlaß gehabt, die Verkehrung der christlichen Freiheit in eine völlige Ungebundenhext des Menschen wahrzunehmen und zu bedenken; denn im Gefolge der Reformation kam es zu Entartungen der Lehre vom Gesetz, wonach das wahre Christentum überhaupt frei von allem Gesetz sei. Es ist die Freiheit des entlassenen Sklaven, des libertinus, der innerlich doch bleibt, was er war, so daß diese Lehre als Libertinismus bezeichnet wurde. Der Ausdrude Libertiner ist eine Frucht der Reformationszeit. Er taucht fast gleichzeitig bei der katholischen Inquisition und bei Calvin auf. Vgl. RGG* III, 1630; RGG I, 1596. Ebenso gehört der Sadie nach Luthers Auseinandersetzung mit den Antinomisten hierher.
Allen diesen Varianten, Fehldeutungen oder Mißverständnissen des Freiheitsbegriffes gegenüber bezeichnet die diristlidie Freiheit einen absolut neuen Zustand. Wir sind durch diese Freiheit freigestellt von der Macht des Gesetzes mit seiner Versuchlidikeit zur Sünde. Dies tritt sogar nach außen hervor, weil ja die „Freiheit eines Christenmenschen " nach Luther gerade darin besteht, daß die bloße Innehaltung überlieferter äußerer Satzungen kein Kennzeichen des Christenstandes mehr ist. Das Gesetz vermag den Menschen nicht wirklich zu verwandeln. Die Befreiung aber wandelt den Menschen; denn durch die liberatio werden wir zu liberi, zu Kindern Gottes. Wir sind durch sie in die Freiheit der Kinder Gottes eingetreten, die allerdings im vollen Sinn ein eschaton darstellt; denn es gilt beides: „Wir sind Gottes Kinder" und „Es ist noch nicht erschienen, was wir sein werden" (1 Joh 3, 2). Diese Freiheit weist zurück auf die verlorengegangene Freiheit damals im Paradies, auf die erste Freiheit. Die letzte Freiheit mag verborgen sein, sie mag in ihrer Erscheinung empirisch noch steigerungsfähig sein, doch ist sie uns prinzipiell als den Kindern des Vaters bereits
Der christliche Freiheitsbegriff
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gewährt, und es wäre ein grobes Mißverständnis, sie nur in der reinen Unanschaulichkeit gelten zu lassen. Die christliche Freiheitslehre greift tief in die Anthropologie hinein; denn sie setzt voraus, daß der Mensch ein Wesen mit Geschichte ist. Er hat Vergangenheit hinter sich und Zukunft vor sich, und sein gegenwärtiger Zustand ist darum ein Problem, weil sich in ihm beides überschneidet: das, was der Mensch eigentlich sein sollte, was er „ursprünglich", aber nicht faktisch ist, und das, was er zukünftig und eigentlich sein soll und ebenfalls in seiner gegenwärtigen Erscheinung noch nicht sichtbar macht. Vergangenheit und Zukunft sind dabei freilich theologische Begriffe, die den Raum dafür abstecken, daß der Mensch in einem Wandel begriffen ist. Dementsprechend ist auch für die Freiheit ein Raum abgesteckt, in dem sich der Aspekt der Freiheit wandelt. Wo in der Philosophie mit solchen grundsätzlichen Übergängen des menschlichen Wesens in ein Zukünftiges hinein gerechnet wird, da wird immer eine Spur des christlichen Denkens vermutet werden dürfen (Nietzsche). Die theologische und die philosophische Freiheitslehre haben dies gemeinsam, daß sie beide bei tieferer Einsicht dem Menschen nur eine relative Freiheit zugestehen können. Alle philosophische Freiheitslehre ist relativ zu Determinanten. Die theologische Freiheitslehre beschreibt keine uns ein für allemal verfügbare Freiheit, sondern eine Freiheit, die uns nur gegeben, nur verliehen ist. Im theologischen Verständnis ist die Freiheit relativ durch die Tatsache, durch den Umfang und die Dauer der „Gewährung". Wenn wir auf eine Einladung oder ein Angebot mit dem konventionellen Sätzchen antworten: „Ich bin so frei", so bezeichnet das in präziser Weise, was mit der christlichen Freiheitslehre gemeint ist. Idi mache mir eine Freiheit zu eigen, welche mir angeboten ist. Ich hätte ohne dieses Angebot die betreffende Freiheit nicht. Zugleich mache ich von dieser Freiheit nur in den mit dem Angebot gesetzten Grenzen Gebrauch, was durch das eingefügte „so" bezeichnet wird. Schließlich liegt in der Annahme des Angebots auch die Begrenzung der Freiheit auf die Zeit, für die allein das Angebot gelten kann, also etwa für die Dauer des Besuchs.
Es bleibt dabei: Alle Ethik steht und fällt mit dem Freiheitsgedanken. Es liegt daher alles daran, den Gedanken der Freiheit zu gewinnen und ihn richtig zu fassen. Ebenso bleibt es dabei, daß die im Zuge der philosophischen Freiheitslehren erörterten Phänomene ihre Gültigkeit behalten. Zu diesen Phänomenen tritt für das christliche Verständnis noch folgendes hinzu: Unsere Freiheit beruht auf der Gnade und auf der Gewährung Gottes. Er gibt uns Raum und Ziel unseres Handelns; er setzt die Alternativen für die Entscheidungen und er läßt uns
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I. Anthropologische Grundbegriffe der christlichen Ethik
zu uns selbst finden (Autonomie). Das bedeutet aber nichts anderes, als daß mit der Gewährung unserer Freiheit zugleich auch eine eindeutige Determination vollzogen ist, wobei es offen bleibt, ob hier Freiheit und Determination sich nodi ausschließen. Wenn die echte Freiheit eine von Gott uns gewährte Freiheit ist, dann besteht sie ja eigentlich darin, daß Gott uns einen freien Raum schafft und uns, indem er diesen Raum absteckt und die Ziele zeigt, zum freien Handeln bestimmt, „determiniert". N u r anmerkungsweise sei in diesem Zusammenhang noch darauf hingewiesen, daß uns die erfahrene Freiheit auch dazu verpflichtet, Freiheiten zu gewähren, wenn der uns anvertraute Mensdi solcher Freiheit bedarf. Es ist nur ein Sonderfall des allgemeinen Gesetzes, daß uns im Evangelium immer wieder eingeschärft wird (z. B . M t 18, 2 1 — 3 5 ) , die uns widerfahrene Gnade zu einem Anstoß eines analogen Handelns mit unseren Mitmenschen werden zu lassen. Es ist die eigentliche Probe auf die Liebe der Eltern, daß sie ihren heranwachsenden Kindern das Vertrauen des „freilassenden Liebe" beweisen. Und der Lehrer darf seinen Schüler nicht für die Dauer an seine Person binden, sondern muß ihn freigeben können, wenn die Zeit dazu gekommen ist.
II. DAS SITTLICHE BEWUSSTSEIN (Ethik der Person) A. Die allgemeinen sittlichen Grunderfahrungen 6. Kapitel Der freie
Raum
(Die Adiaphora) Das vorliegende Kapitel setzt das Thema der Freiheit fort. Wir haben zwar zum Verständnis der Freiheitsthese auf menschliche Grunderfahrungen Bezug genommen. Aber hier ist nun der Erfahrung der Freiheit selbst noch weiter nachzugehen. Diese Erfahrung scheint mir in einem Begriff verborgen zu sein, der herkömmlicherweise nur eine untergeordnete Rolle in der Ethik gespielt hat, nämlich im Begriff des Adiaphoron oder audi des Erlaubten. 1. Adiaphoron — 2ur Geschichte des Begriffs Der Begriff des Adiaphoron hat ebenso wie die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff jeweils eine eigene Geschichte. Der Begriff selbst gehört zu den zahlreichen termini, die vor allem von der Stoa in die christliche Ethik gekommen sind. Die Zurückhaltung gegenüber dem Begriff stammt aus dem Rigorismus der Kantischen Ethik, die nichts aus der Verantwortung der Pflicht entlassen wollte. Zur Gesdiidite des Begriffs vgl. O. Dittrich: Die Systeme der Moral II, 15 f.; 25 ff. und M. Pohlenz: Die Stoa, Gesdiidite einer geistigen Bewegung I, 1948, S. 121 ff.; II, (1949) 1955», S. 69 f. In der Stoa wird das Adiaphoron zunächst wie eine an den Dingen haftende Neutralität verstanden. Nodi Thomas von Aquin erörtert STh I/II Qu 18—20 die Frage, woher die Handlungen ihre sittliche Qualität empfingen, ob aus sidi selbst, aus der Materie oder aus dem Handeln. Kants Stellungnahme gegen den Begriff des Adiaphoron findet sich in: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1. Stück, 1. Anm. Schleiermacher ist hinsichtlich unseres Problems Kantianer. Er hat sich ebenfalls gegen einen Raum erklärt, für den eine Art von sittlicher Indifferenz in Anspruch genommen wird, besonders in seinen Grundlinien einer Kritik der bisherigen Sittenlehre, 1803, und Über den Begriff des Erlaubten, Akad. Abhdlg., vorgetragen am 29.6.1826, jetzt in: Philosophische und vermischte Schriften II, 1838, 418 ff.
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II. Das sittliche Bewußtsein
Der Begriff des Adiaphoron fehlt demzufolge in solchen Ethiken bis heute, die in einem näheren oder ferneren Sinne wenigstens in dieser Frage unter dem Einfluß Kants stehen, ζ. B. bei W. Herrmann, W. Eiert, P. Althaus. Das ist um so erstaunlicher, als die Formula Concordiae den 10. Artikel (De ceremoniis ecclesiasticis quae vulgo adiaphora seu res mediae et indifferentes vocantur) unserem Problem gewidmet hat. Zu den Lehrbüchern der Ethik, die den Begriff berücksichtigen, gehört N . H. See (§ 28). Vgl. ferner RE I, 168 ff.; RGG I, 93 ff.; EKL I, 41 f.; LThK I, 145 f. und meinen Artikel: Adiaphoron. Erneute Erwägung eines alten Begriffs, ThLZ 1954, Sp. 457 ff.
Das stoische Denken geht bezüglich der Adiaphora von ganz anderen Voraussetzungen aus, als es unseren heutigen ethischen Vorstellungen entspricht. Die Stoa denkt nämlich an die D i n g e und bezeichnet als Adiaphora solche Dinge, die an sich weder zur Eudämonie noch zum Unheil des Menschen etwas beitragen, die infolgedessen weder vorgezogen nodi verabscheut werden müssen. Man könnte — modern ausgedrückt — sagen: Adiaphora sind im stoischen Verständnis sittlich wertindifferente Dinge. Aber schon der Stoiker Zenon hat die Frage aufgeworfen, ob denn die Dinge ihre sittliche Unschuld behalten könnten, wenn sie in den Umkreis unseres Begehrens und unseres Handelns geraten. Man hat schon damals erkannt, daß die Dinge ihre sittliche Indifferenz verlieren, wenn wir es mit ihnen zu tun bekommen. Sie haben einen Aufforderungscharakter, d. h. sie üben einen Reiz auf uns aus, wecken Habsucht, Appetit, Durst, Ekel, Furcht usw. Alle Dinge sind dazu disponiert, Gegenstände oder doch Mittel von Handlungen zu werden, die dann ihrerseits einen sittlichen Charakter haben. Die Dinge werden sozusagen durch die Berührung gut oder böse. Das Adiaphoron ist, so verstanden, das „Ding an sich" in sittlichem Betracht, ein Objekt vor der sittlichen Berührung, also bevor es Objekt oder Mittel des sittlichen Handelns geworden ist. In der späteren Entwicklung sieht das so aus, daß das Adiaphoron als das „Erlaubte" verstanden wird. Dem liegt eine abgewandelte Vorstellung zugrunde, die ebenfalls eine antike Uberlieferung für sich geltend machen kann. Es handelt sich um das Gebiet zwischen Tugend und Laster, das nicht von einem Gebot oder Verbot, mit einem Wort: das nicht vom Gesetz beschattet ist. Man könnte es ganz primitiv darstellen. Auf der einen Seite steht nach dieser Vorstellung das Gebot, d. h. das Gesetz in positiver Form. Auf der anderen Seite steht das Verbot oder das Gesetz in negativer Form. Dazwischen aber ist ein Gebiet, das frei bleibt. Die Handlungen in diesem freien Raum sind weder geboten noch verboten, sondern sie sind erlaubt. Man kann für diese Auffassung Diogenes Laertius (VI, 104) in Anspruch nehmen: το μεταξύ άρετής και κακίας.
Adiaphoron — Zur Geschichte des Begriffs
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Der Begriff des „Erlaubten" ist also auf ein vom Gesetz freigegebenes oder freigelassenes Gebiet bezogen. In diesem Gebiet waltet kein Gesetz über uns. Das Erlaubte setzt also als Hintergrund geradezu den Gedanken des Gesetzes voraus, so daß man die Auffassung von P. Althaus wohl verstehen kann, Adiaphoron sei ein Rechtsbegriff. Bevor wir diese Frage aufklären, muß aber noch erwogen werden, daß sich ja verschiedene Begriffe des Erlaubten überschneiden können. Das hängt eben damit zusammen, daß der Begriff in der Tat relativ zu einer Rechtsordnung oder — genau ausgedrückt — zur Geltung eines bestimmten Gesetzes ist. Sub specie jedes geltenden Gesetzes gibt es auch jeweils ein besonderes Erlaubtes, was eben von dem Geltungsbereich dieses Gesetzes nicht betroffen wird. Man kann sich das leidit veranschaulichen. Etwas, was allgemein erlaubt ist, kann bestimmten Personenkreisen doch verboten sein, z. B. Schülern oder Angehörigen des Militärs. Was im einen Staat verboten ist, kann im Nachbarstaat erlaubt sein. Es gibt nicht nur ein räumliches Nebeneinander zwischen Verbotenem und Erlaubtem, sondern auch ein zeitliches Nacheinander. Was früher verboten war, kann jetzt erlaubt sein und umgekehrt.
Die Erörterung des „Erlaubten" ist aber dadurch unklar geworden, daß man sidi bei dem Begriff von der Vorstellung einer sittlichen Indifferenz nicht lösen konnte. Das hängt historisch wohl damit zusammen, daß der Gedanke der sittlichen Indifferenz in der Tat mit den Begriff des Adiaphoron von Haus aus verbunden ist und daß man sehr frühzeitig das Erlaubte und das Adiaphoron miteinander vermengte. Wie tief diese Vorstellung von der Indifferenz reicht, sieht man an der Äußerung Kants: „Es liegt aber der Sittenlehre überhaupt viel daran, keine moralische Mitteldinge, weder in Handlungen (adiaphora), noch in menschlichen Charakteren, solange es möglich ist, einzuräumen: weil bei einer solchen Doppelsinnigkeit alle Maximen Gefahr laufen, ihre Bestimmtheit und Festigkeit einzubüßen". In der Tat ist zuzugeben, daß es keine sittliche Indifferenz gibt, weil nichts, was ein Mensch in seinem Sein oder Handeln darstellt, indifferent sein kann. In der Sprache der Tradition unsereres Begriffes gesprochen, muß sich auch das Erlaubte immer „lohnen". Der Besuch des Theaters, seit alters ein Paradebeispiel für die Frage der Adiaphora, hört auf, indifferent zu sein, sobald er mit dem Hinweis auf die Enthebung von Sorgen, auf den ästhetischen Genuß oder den Bildungswert des Stückes, ja mit dem Bedürfnis einer geistigen Auseinandersetzung mit dem Problem des Dramas begründet und gerechtfertigt wird. Alles was freigegeben und genossen wird, ist damit schon nicht mehr völlig wertfrei; denn jeder Genuß setzt ja Werte voraus, nämlich
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II. Das sittliche Bewußtsein
Nährwerte, Bildungswerte, Nutzwerte, wie ζ. B. der Kraftgewinn bei der Erholung. Eine völlige Indifferenz des Erlaubten, des Adiaphoron, sobald es uns nur einmal affiziert hat, ist also aus rein sachlichen Erwägungen abzulehnen. Insofern ist Kant beizustimmen, und doch scheint mir mit seiner Äußerung die Frage nicht entschieden zu sein. Einmal nämlich ist in der Tradition die ganze Fragestellung verniedlicht worden. Die Problematik kreiste dabei um Gegenstände, die ihrer Natur nach irgendwie an der Peripherie des Interesses lagen, ζ. B. Rauchen, Trinken, Freuden der Erholung oder auch zeremonielle Fragen in der evangelischen Kirche. Dadurch wurde aber, wie ich glaube, der Sachverhalt verdunkelt, daß sich hinter der Frage des Erlaubten, bzw. des Adiaphoron ein größeres Problem verbirgt, nämlich der Gebrauch der Freiheit überhaupt, der sich in allem menschlichen Handeln vollzieht. Dazu kommt aber ein Zweites. Mit dem Postulat, daß das Adiaphoron einen weder von Gebot noch Verbot beschatteten Raum bezeichnet, ist noch nicht ausgesprodien, daß die in diesem Raum sich vollziehenden Handlungen indifferent werden. Diese Handlungen sind zwar von einer Instanz, von einem Gesetz nicht geboten, sie sind auch nicht verboten; sie sind trotzdem nicht indifferent. Hier liegt das tiefe Problem, dem wir nun in der Folge nachzugehen haben. 2. Die begrenzte Freiheit Für die jüdische Frömmigkeit war das ganze Leben mit einem Netz von Kult-, Reinheits- und Speisegesetzen überzogen. Alle diese Gebiete, in denen sich das Alltagsleben abspielte, waren vom Gesetz beschattet. Jesus nimmt in seinem Evangelium den Schatten von diesen Gebieten hinweg. Wir erinnern an einige Belege dafür: Jesus verteidigt die Jünger, die am Sabbat Ähren ausraufen und zeigt die Relativität des Sabbatgebotes an (Mt 12, 1—14 par.); er hebt mit seinem Gebot der Herzensreinheit die Gebote der kultischen Reinheit aus den Angeln und entkräftet sie (Mt 15, 1—20 par.). Hierin wurzelt die Freiheit des Paulus von der äußeren Gesetzesbindung, welche seine ganze Theologie durchzieht; „denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit und Friede und Freude in dem Heiligen Geist" (Rom 14, 17). Die mosaische Ordnung wird als Menschenlehre und weltliche Satzung der Gabe Christi gerade entgegengesetzt (Kol 2, 8), und die Freiheit im Gebrauch der irdisdien Gaben wird zu einem Erweis dafür, ob man das Evangelium verstanden hat. „Laßt nun niemand euch Gewissen machen über Speise oder über Trank oder
Die begrenzte Freiheit
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über bestimmte Feiertage oder Neumonde oder Sabbate" (Kol 2, 16). Man könnte diese Polemik gegen die Geltung des mosaischen Gesetzes als Aufklärung verstehen. Das würde dann bedeuten, daß das alttestamentlidie Gesetz als ein religiöser Irrtum, bzw. als ein archaisches Wahngebilde aus einem früheren Stadium der Religionsgeschidite entlarvt wird. Das Verhältnis des Christen zu diesem Gesetz bestünde dann lediglidi darin, daß er diesen Irrtum durchschaut hat und nun durch die Belehrung Jesu in ein aufgeklärtes Stadium der sittlichen Erkenntnis versetzt worden ist. Tatsächlich aber stand das alttestamentliche Gesetz unter der Autorität Gottes. Wenn Jesus audi in ihm die ursprüngliche Absicht Gottes von den kasuistischen Zusätzen der Gesetzeslehrer unterscheidet, so kann man doch pauschal sagen, daß für den jüdischen Zeitgenossen dieses ganze Gesetzessystem eine einheitliche Autorität repräsentiert hat. Jesus nimmt etwas hinweg, was bis dahin zu Redit gegolten hat. Er „erlaubt" im Namen Gottes etwas, was zuvor im Namen Gottes verboten war. Das Erlaubte, auf das dann hernach Paulus mit Nachdruck hinweist, ist ein Zeichen der Gnade und Güte Gottes; es ist ein sinnenfälliges Zeichen dafür, daß unser Gottesverhältnis nicht mehr im Zeichen des Gesetzes steht; es ist das weite Feld des Alltags, auf dem uns die christliche Freiheit geschenkt worden ist. Es wird von daher noch einmal mehr deutlich, wie sehr diese christliche Freiheit eine eingeräumte, eine uns von Gott gewährte Freiheit ist. Aber es zeigt sich auch, daß diese christliche Freiheit nicht an sich besteht. Es ist keine Freiheit, die schrankenlos und generell über alle Gebiete ausgebreitet ist, die vorher vom mosaischen Gesetz beschattet gewesen sind. Die Christen werden nicht in eine grenzenlose Unbefangenheit entlassen. Sie leben in einer heidnischen Welt. Die Warnung, durch den Genuß von Götzenopfer in Gemeinschaft mit dem Heidentum zu treten, wird ebensowenig wie das Verbot der Hurerei (1 Kor 5, 9ff.; 6, 9; Eph 5,5) nur nach der Weise eines moralischen Gesetzes, sondern gleichsam kultisch begründet. Durch diese Beobachtung verbietet sich also die Auffassung, als handle es sich lediglidi um eine Reduktion des ganzen sittlichen Bereiches auf das Niveau einer vernünftigen Moralität durch Jesus. Aber nicht nur diese Beobachtungen zeigen, wie wenig man mit einer generellen Geltung der christlichen Freiheit redinen kann. Vielmehr werden schon im Neuen Testament Situationen sichtbar, in denen diese Freiheit des Erlaubten eingeschränkt, ja förmlich aufgehoben wird. Es kann sich hier nur um das Prinzipielle handeln, nidit um eine
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II. Das sittliche Bewußtsein
Geschichte des Problems, wiewohl das Material für das Problem durch die Geschichte geliefert wird. a) Wenn durch den Gebrauch der Freiheit ein Schwacher geärgert wird, d. h. wenn er über unserem Gebrauch der Freiheit entweder am Glauben irre wird oder an der Uberzeugung, mit uns noch in einer Gemeinde des Glaubens zu stehen, dann wird die christliche Gemeinde durch den Gebrauch dieser Freiheit selbst auf das schwerste beschädigt. Die Unbefangenheit, in welche uns die uns zugesprochene christliche Freiheit versetzt hat, wiegt den Verlust nicht auf, den die Beschädigung der christlichen Gemeinschaft mit den Brüdern bedeutet; denn auch der Schwache im Glauben ist ja ein Gläubiger, der nur noch nicht die volle Freiheit des Christen erträgt und in sie erst nodi hineinwachsen muß. Bei Paulus kommt dieser Gedanke an zwei Stellen vor: Rom 14, 1 ff. sagt er: „Den im Glauben Schwachen nehmet an, nicht zu dem Zweck, um in Wortgefechte über die Gedanken mit ihm einzutreten", d. h. ihn dadurch zu irritieren, daß ihr mit ihm streitet. Im Gebrauch der Speisen, der bestimmten „Tage" soll auf die Schwachen immer Rücksicht genommen werden. V. 15: „Denn wenn dein Bruder wegen deiner Speise betrübt wird, dann wandelst du nicht mehr nach der Liebe; bringe durch deine Speise den nicht ins Verderben, für den Christus gestorben ist". Hier wird zum erstenmal ein Gesichtspunkt deutlich, den die Antike nicht gekannt hat und den sie nicht kennen konnte, daß nämlich unsere Freiheit und das ewige Heil — in diesem Fall das Heil des Bruders — miteinander in Konkurrenz treten. Die Freiheit ist ein kostbares Gut, aber sie gilt doch nur für unser irdisches Leben. Das ewige Heil reicht über alle Grenzen der Zeitlichkeit hinaus. Daraus folgt, daß der Gebrauch unserer Freiheit zurückgestellt werden muß, daß wir auf unsere Freiheit verzichten sollen, wenn Fragen des ewigen Heiles auf dem Spiel stehen. Das Gebot der Liebe kann unser Recht, die Freiheit, die uns zusteht, zu gebrauchen, aufheben. 1 Kor 8, 9 ff. ist vom Genuß des Götzenopferfleisches die Rede. Der Zusammenhang ist ein anderer als 1 Kor 10, 14 ff. Paulus geht hier von der an sich bestehenden Freiheit aus, die Herkunft von Speisen aus heidnischen Tempeln zu ignorieren, aber dann fährt er fort: „Sehet zu, daß nicht etwa diese eure Vollmacht (έξουσία) den Schwachen zum Anstoß (πρόσκομμα) gereiche; denn wenn jemand dich, der du die Erkenntnis hast, sähe, wie du im Götzenhause bei Tisch sitzest, wird da nicht sein Gewissen, da er ja schwach ist, dazu verführt, bzw. bewogen werden (οίκοδομηθήσεται), das Götzenfleisch zu essen? So gerät der Schwache um deiner Erkenntnis willen ins Verderben (άπόλλυται), der
Die begrenzte Freiheit
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Bruder, um dessentwillen Christus gestorben ist." Ähnlichen Motiven verdankt das (sog.) Aposteldekret (Apg 15, 23 ff.) seine Entstehung. Dieser Aspekt, daß nämlich das Erlaubte dem Heile dienlidi oder hinderlich ist, ist dann auch in der Alten Kirche maßgebend. Tertullian bringt ihn überspitzt zur Anwendung, ζ. B. in der montanistischen Schrift De exhortatione castitatis VIII (wohl vor dem Jahr 207): „Aber um Gottes willen! kann denn, was nicht nützt, gut genannt werden? Wenn Dinge, die nicht zum Heil dienen, erlaubt sind (sc. es handelt sich hier um die zweite Ehe), dann werden Dinge erlaubt, die nicht gut sind es ist ein großer Unterschied zwischen dem Erlaubten und dem Heilsamen." Die Stelle ist in mehrfacher Hinsicht charakteristisch für die Alte Kirche. Sie zeigt, wie der Begriff aus der antiken Ethik bei Tertullian lebendig ist, wie aber zugleich der Begriff des Erlaubten aus einer rigorosen Gesamtauffassung der Sittlichkeit heraus praktisch aufgehoben wird. Diese Aufhebung geschieht in einer grundsätzlichen Erwägung und nicht nur in Ansehung einer bestimmten Situation, wie wir das bei Paulus an den besprochenen Stellen wahrgenommen haben.
b) In der Reformationszeit wurde der Begriff des Adiaphoron erneut zum Gegenstand einer leidenschaftlichen Debatte und in deren Folge zum Anlaß von normativen Entscheidungen der Formula Concordiae. Im Ansdiluß an das Leipziger Interim (6. Dez. 1548) war der heftige Kampf zwischen den Wittenberger Theologen und Matthias Flacius Illyricus bzw. den Gnesiolutheranern über die Möglichkeit entbrannt, der römischen Kirche bezüglich der traditiones humanae nachzugeben. Die Entscheidung der Konkordienformel Art. X war knapp und einleuchtend und geschah im Sinn der Gnesiolutheraner: „in casu confessionis" gibt es keine Adiaphora. Das Adiaphoron, das Erlaubte, ist also nur dann als solches anzuerkennen, wenn es von allen Beteiligten hüben und drüben als Adiaphoron erkannt und zugestanden wird. Macht aber die Gegenseite ein Adiaphoron zu einer prinzipiellen Sache, d. h. zu einer Sache des christlichen Bekenntnisses, um es noch deutlicher zu sagen, zu einer Sache, an weldier die wahren Christen erkannt werden, dann hört das Adiaphoron schlechterdings auf, ein Adiaphoron zu sein. Das ist nämlich mit dem status confessionis gemeint. Auch hier gilt es, daß das Adiaphoron an sich erlaubt, daß es eine Sache der christlichen Freiheit ist, daß es weder sittlich geboten noch verboten ist. Aber die Freiheit, dieses Adiaphoron zu gebrauchen, erlischt in dem Augenblick, wo sie die Klarheit des Bekenntnisses und des christlichen Zeugnisses verdunkeln würde. Auch hier ist also die Freiheit, sich des Erlaubten zu bedienen, relativ zu den Situationen, in denen wir uns befinden, und sie kann unter Umständen aus wichtigen Gründen für das christliche Gewissen erlöschen. 6 Trillhaas, Ethik
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II. Das sittliche Bewußtsein
c) Nicht nur die Rücksicht auf die Schwachen im Glauben, nicht nur die Rücksicht auf den status confessionis, sondern nodi ein weiterer Grund schränkt die Freiheit, das Erlaubte zu gebrauchen, ein. Es ist die Rücksicht des Christen auf sich selbst. 1 Kor 6,12: „Es ist mir alles erlaubt, aber es nützt nicht alles. Es ist mir alles erlaubt, aber es soll mich nichts in seine Gewalt bringen." Das Evangelium ist voll von Beispielen für diese Erwägung, ob der Gebrauch meiner Freiheit mir in Zeit oder Ewigkeit nützlich ist. Ich habe volle Freiheit, meine Augen zu gebrauchen; „ärgert dich aber dein rechtes Auge, so reiße es aus" (Mt 5, 29). Der irdische Besitz ist unverfänglich, weil er ja ohnehin nur ein zeitliches Gut ist. Werden aber die Gefahren des Reichtums sichtbar, so ist die Armut zu wählen (Mt 19,16—24). Die Ehe ist Gottes Ordnung und den Menschen freigegeben, aber es gibt solche, die um des Himmelreichs willen von dieser Freiheit keinen Gebrauch machen (Mt 19,12; vgl. 1 Kor 7,27). Hierher gehört ganz allgemein das Sportgleichnis (1 Kor 9, 24—27; 2 Tim 2, 5; 4, 7; vgl. auch Rom 13,14). Immer wieder ist der Sinn derselbe: Es gibt an sich Erlaubtes, auf das wir aber verzichten müssen, wenn es uns hindert, in das Reich Gottes einzugehen. Um höherer Zwecke willen ist der Verzicht auf das Erlaubte nötig. Das ist an sich eine allgemeine Wahrheit. Handelt es sich um ein einfaches Leistungsziel wie im Spiel oder Sport, so reden wir von Training. Handelt es sich um solche Ziele, die unsere Existenz vor Gott, unser Heil, unsere Seligkeit betreffen, so sprechen wir von Askese, die in dem vorliegenden Zusammenhang sich als Verzicht auf das Erlaubte um des höchsten Zieles willen erklären läßt und rechtfertigt. 3. Der freie
Raum
So wird uns das alte Thema der Adiaphora zu einem Schlüssel, die neutestamentliche Lehre von der Freiheit deutlich zu machen. Unser Thema aktualisiert unter eigenen Gesichtspunkten, was wir bereits im 6. Kapitel erkannt haben: Alle Freiheit ist im christlichen Verständnis eine gewährte, eingeräumte Freiheit. Zugleich wird aber sichtbar, in welchem Sinn diese Freiheit begrenzt ist. Nun haben wir aber dieses Kapitel unter den großen Gesichtspunkt der allgemeinen sittlichen Grunderfahrungen gestellt, und es bedarf noch eines Wortes, diesen Zusammenhang zu rechtfertigen. Ganz allgemein kann man das Adiaphoron als den freien Raum bezeichnen, der, wie wir sahen, weder von dem Gesetz in der Form des Gebotes noch vom Gesetz in der Form des Verbotes beschattet ist. Es ist also
Der freie Raum
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jener Raum, in dem wir weder durch Pflicht zum Handeln genötigt, nodi auch durch ein Verbot gelähmt sind. Dieser freie Raum ermöglicht es uns also, ganz unbefangen zu handeln. Das menschliche Handeln in diesem freigegebenen Raum ist somit in einem besonderen Maße unser eigenes Handeln, d. h. ein Handeln, zu dem durch kein Gesetz, durch keine Forderung oder dgl. die Idee und der Antrieb von anderer Seite kommt. Die künstlerische Schöpfung z. B. ist nur möglich, wo ich einen solchen freien Raum vor mir habe. Diese Beobachtung ist von weittragender Folge; denn sie zeigt nebenbei, warum in aller Kunst eine Neigung zutage tritt, sidi von der Ethik zu distanzieren, bzw. von der Ethik überhaupt nichts zu wissen. Der Charme aller echten Kunst liegt gerade in jener Unbekümmertheit, die ihr vom freien Raum verliehen wird, den sie schaffend betritt. Ähnlich ist es in der Liebeswahl des Menschen. Wo der Mensch sich liebend einem anderen zuneigt, da vollzieht er einen Akt der freien Wahl. Wiederum ist diese Freiheit so zu verstehen, daß sie von keinem Gebot und von keinem Verbot beschattet ist. Wer sich liebend zum anderen neigt, der findet ebensosehr sein Glück darin, daß er nicht muß, was er jetzt tut, daß er aber zugleich, was er jetzt tut, tun darf. Auch die Liebeswahl, sei es im Verhältnis der Freundschaft, sei es im erotischen Bezug, gehört darum zu den eigentlich schöpferischen Momenten des Lebens, die gar nicht denkbar sind, ohne daß in ihnen eben jener freie Raum ausgekostet wird. Nicht anders steht es mit dem politischen Handeln. Die Politik ist dort groß und kräftig, wo sie von der Phantasie beflügelt wird. Es ist das Kennzeichen der Phantasie im Bezug auf die Härte der politischen Realitäten — der Phantasie im poetischen Raum durchaus vergleichbar —, daß sie sich mit kühnem Schritt in das freie Gelände der Zukunft hineintastet, in dem noch alle Möglichkeiten offenstehen. Mag die Geschichtswissenschaft hernach im Blick auf die sittlichen Normen ihre Zensuren erteilen, der Politiker selbst plant und handelt, indem er den Spielraum abtastet, der ihm offen steht. Er muß das real Mögliche realistisch einschätzen, er darf auch das ethisch „Mögliche" nicht skrupellos verachten. Aber die ethische Norm selbst ist kein Leitbild und keine politische Spielregel. Um noch an einem vierten Beispiel die schicksalhafte Bedeutung dieses freien Raumes deutlich zu machen, sei auf die Auseinandersetzung jedes Menschen mit seinen Lebenszielen vorweg schon hingewiesen. Der früheste Aufblick des Menschen zu den Zielen seines Daseins ist noch 6!>
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frei von jedem Gedanken an das, was er darf oder soll, was er kann oder nicht darf. Und je glücklicher wir in dem freien Raum uns mit unserem eigenen Lebensziel begegnen, desto weniger geschieht es unter moralischen oder auch ethischen Seitenblicken auf die Begrenzung unserer Freiheit; alles, was unser Leben entscheidend vorwärts bringt, vollzieht sich in jenem freien Raum, in dem wir gleichsam aller Ethik entlaufen, indem wir wenigstens eine Zeitlang die Normen vergessen, weil die schöpferische Aufgabe alle Normen überbietet. So unerläßlich Gebot und Verbot, alles Nachdenken über Wert und Unwert unseres Verhaltens ist, so sehr lassen wir in den schöpferischen Augenblicken unseres Daseins alle diese Normen beiseite, um uns vielleicht hernach wieder mit ihnen auseinanderzusetzen, um hernadi die begangene Schuld oder den empfangenen Segen zu erkennen. Zum Schluß muß idi allerdings die Vorstellung abwehren, daß ich hier für die schöpferischen Augenblicke des Lebens eine sittliche Indifferenz in Anspruch genommen hätte. Dieser Verdacht könnte sich dadurch nahelegen, daß ich das Absehen von allen positiven oder negativen Normen in den Augenblicken der schöpferischen Entscheidungen und Gestaltungen an eine Darlegung über das Adiaphoron angeschloßen habe. Tatsächlich betreten wir mit jedem schöpferischen Akt den freien Raum μεταξύ αρετής καΐ κακίας. Aber damit ist diese Entscheidung nicht indifferent. Sie ist es um so weniger, als sie ja geradezu schicksalhafte Bedeutung für unser ganzes Leben haben kann. Die künstlerische Schöpfung kann eine Schicksalsentscheidung in sich schließen. Wir denken dabei nicht nur an die gleichnishafte Gestaltung des Lebens im Drama, sondern viel realer etwa an städtebauliche Gestaltungen. Die Liebeswahl ist ebenso wie das politische Handeln und die Auseinandersetzung des einzelnen mit seinem Lebensziel ein Schicksalswort. Das Schicksal, der Stoff, aus dem die Geschichte gemacht wird, eilt aller Ethik voraus. Aber die Ethik begleitet doch die freie Handlung. Sie folgt ihr, wo die Handlung den freien Raum, von dem wir sprachen, betreten hat, unweigerlich nach. Sie gibt über das, was geschehen ist, ihr Urteil ab. Sie prüft, ob der Mensch bei seinem freien Handeln in den menschlichen Maßen geblieben ist. Der handelnde Mensch kann seiner Zukunft nicht Herr werden, wenn die sittlichen Normen nicht gleichsam zurücktreten und ihm den eigenen Weg freigeben. Aber er kann auch nicht Mensch bleiben, ohne sich von dieser Ethik wieder einholen und von ihr an seine Maße erinnern zu lassen. Die Ethik hat nichts Schöpferisches an sich, aber der schöpferische Mensch entrinnt zuletzt der Ethik nicht. Der Mensch, der inmitten des
Der freie Raum
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freien Handelns, inmitten seiner großen Lebensentsdieidungen heimlich der Maße gedenkt, die ihm die Ethik eingibt, verdient es, weise genannt zu werden.
7. Kapitel Die Welt der F o r d e r u n g e n — Die Pflicht Der Begriff der Pflicht hat seine Wurzeln in der Ethik der Stoa (τό καθήκον, officium). Wichtigstes Dokument der antiken Pflichtenlehre ist Ciceros Werk „De officiis", das sich an eine Schrift des Stoikers Panaitios (geb. ca. 180 v. Chr.) „Περί του καθήκοντος" anschließt. In der christlichen Ethik ist der Begriff des officium verankert worden vor allem durch Ambrosius, dessen drei Bücher „De officiis ministrorum" in Form und Inhalt das Vorbild Ciceros verraten. Die stoisdie Unterscheidung von gewöhnlichen und vollkommenen Pflichten, von officium medium (καθήκον) und officium perfectum (κατόρθωμα) wird bei Ambrosius (De off. min. I, 11 und III, 2) zu der von Consilia (evangelica) und praecepta ausgestaltet. Das deutsche Wort „Pflidit" kommt von „pflegen" = gewohnt sein. Der heutige Sprachgebrauch ist vor allem bestimmt durch die Stellung und Bedeutung des Pflichtbegriffs in der Ethik Kants. Für die Auseinandersetzung mit Kant verweise idi auf die Arbeiten von Hans Reiner, vor allem auf: Pflicht und Neigung. Die Grundlagen der Sittlichkeit erörtert und neu bestimmt mit besonderem Bezug auf Kant und Schiller, 1951.
Die Erfahrung, daß idi etwas tun oder lassen oder audi sein soll, steht am Anfang jedes ethisdien Nachdenkens. Es mag offen bleiben, ob es die einzige Grunderfahrung ist, die zur Ethik führt, oder ob es deren nodi andere gibt. Jedenfalls befinden wir uns mit dieser Erfahrung im Ursprung aller Ethik. Im wachen Bewußtsein sind allenthalben Forderungen strahlenförmig auf mich gerichtet. Sie sind denkbar verschieden geartet, sie kommen von den verschiedensten Seiten her, sie sind aber alle dadurch gekennzeichnet, daß sie mein Dasein bestimmen und mein Tun und Lassen beeinflussen wollen. Im Schlafe erstirbt das Bewußtsein von diesen Forderungen, wie andererseits ihre Unstillbarkeit mir den Schlaf rauben oder unterbrechen kann. Das Beunruhigende dieser Forderungen liegt nun darin, daß sich in ihnen immer ein fremder Wille ausspricht, der auf midi Einfluß nehmen will. Idi werde dessen inne, daß ich mit meinem eigenen Willen nicht allein bin, sondern daß sich ständig fremde Willensäußerungen, fremde Ansprüche in mein Dasein einmischen oder eindrängen. Die Fremdheit des Willens, der sich in solchen Forderungen an midi richtet, ist so grundsätzlich, daß idi selbst
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II. Das sittliche Bewußtsein
solche Forderungen, die aus mir selbst emporsteigen, um sich dann wieder an mich (reflexiv) zu richten, als fremd erfahre. In jedem Falle möchte also ein fremder Wille die Vorhand vor meinem eigenen Willen, bzw. ein neuer Wille die Vorhand vor meinem eigenen ursprünglichen Willen gewinnen. Zu diesen Forderungen habe ich Stellung zu nehmen. Ich muß sie prüfen, bevor ich ihnen folge. Diese Prüfung betrifft zunächst ganz äußerlich ihre Durchführbarkeit, dann ihr Verhältnis zu anderen auf mich gerichteten Forderungen, schließlich ihr Verhältnis zu meinen Plänen und Wünschen und ihre Vereinbarkeit damit. Aber diese Prüfung reicht doch noch nicht in die Tiefe. Denn sie berührt noch gar nicht die Frage, ob denn das, was jeweils da von mir verlangt oder erwartet wird, auch sittlich berechtigt ist. Und selbst wenn sich da ein berechtigtes Verlangen an midi richtet, so ist ja noch nichts darüber ausgemacht, ob nicht gewisse eigene Rechte, Pläne oder anderweitige Pflichten mich hindern, diesen Forderungen Folge zu leisten. Eine Analyse der Forderungen erscheint daher unvermeidlich. Sie hat sich zunächst mit der Struktur der Forderungen zu befassen und dann mit der Anerkennung derselben. 1. Die Struktur
der
Forderungen
Beginnen wir mit einer Analyse der Struktur der Forderungen von ganz formalen Gesichtspunkten aus. Kant hat uns dazu den Weg insofern gewiesen, als er seinen Begriff des „kategorischen" Imperativs am Modell der Urteilslehre der formalen Logik gewonnen hat. Wie viel mehr eignet sich der hier zu untersuchende viel umfassendere Begriff der Forderung dazu, daß wir ihn hinsichtlich der Qualität, der Quantität, der Modalität und der Relation untersuchen. Die formale Logik beschränkt sich seit den Tagen des Galenus darauf, vom Begriff, vom Urteil und vom Sdiluß zu handeln. Gewisse logische Figuren sind dabei immer ausgelassen worden, ζ. B. die Lehre von der Frage. Wir deuten hier nur an, daß sich das Modell der Urteilslehre auch auf die Forderungen übertragen läßt. Freilich reicht dieses Modell nicht ganz aus. Die Frage der „Dauer" einer Forderung, ihrer Einmaligkeit oder Wiederholung, ferner die Frage des Subjektes einer Forderung gehen über die Analogie zur Urteilslehre fraglos hinaus. Zur Urteilslehre selbst vgl. A. Pfänder: Logik (1921) 19633, 31—128.
a) Die Q u a l i t ä t d e r F o r d e r u n g betrifft ihre bejahende oder verneinende Form. In der positiven Form — „tue, sei oder habe dies oder das" — haben wir ein G e b o t , in der negativen Form — „unterlasse, sei nicht, habe n i c h t . . . " — haben wir ein V e r b o t vor
Die Struktur der Forderungen
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uns. Dieser an sich denkbar elementare Unterschied kompliziert sich insofern etwas, als in der Anwendung tatsächlicher Forderungen sich sehr häufig die Notwendigkeit ergibt, Gebote in Verbote und Verbote in Gebote umzuwandeln. Dieses Problem entsteht beispielsweise bei der Auslegung der Dekaloggebote, die ja in der überwiegenden Zahl als Verbote ausgesprochen sind. Hier mag aber nur angemerkt werden, daß sich diese Umwandlung keinesfalls auf die formale Seite bebeschränkt, sondern daß sie auf dem Umweg über die „Sache" der Gebote, also unter Bezug auf das, was inhaltlich gemeint ist, vollzogen werden muß. — Noch ein zweites Problem ergibt sich hinsichtlich der Qualität der Forderungen. Es it nämlich denkbar, daß nicht nur die Forderung an sich positiv oder negativ, gebietend oder verbietend ist, sondern daß sich die Negation auf die Außerkraftsetzung eines Gebotes oder Verbotes bezieht. Diese Komplizierung hat kein positives Gegenstück, weil dieses ja nur im Bestehenlassen des Gebotes resp. des Verbotes bestehen könnte. Die Negation des Gebotes würde also bedeuten: Dieses Gebot gilt (für dich) nicht = „du mußt nicht"; die Negation des Verbotes hingegen würde bedeuten: Dies Verbot gilt (für dich) nicht = „du darfst". Es liegt aber auf der Hand, daß wir damit in einer sehr bezeichnenden Form die Sphäre der Forderungen verlassen, ohne daß dies ein Verlassen des Feldes der Ethik selbst bedeuten könnte. b) Die Q u a n t i t ä t d e r F o r d e r u n g e n kann nach Analogie der Urteilslehre nicht auf die Frage der Häufigkeit, in der eine Forderung erhoben wird, auch nicht auf die Zahl der Subjekte, welche „hinter der Forderung stehen", bezogen werden, sondern nur auf den Adressatenkreis, also auf den Umfang der Gültigkeit oder doch des Anspruches der Forderung. G e n e r e l l e Forderungen sind an alle Menschen gerichtet. Sie müssen also ihrem Begriffe nach zeitlose Forderungen sein, da sie ja bei irgendeiner Art zeitlicher Begrenzung bereits nicht mehr an alle Menschen gerichtet sein können. Es soll hier nicht erörtert werden, ob die Vorstellung solcher genereller Forderungen überhaupt, ob sie theologisch sinnvoll ist. P a r t i e l l e Forderungen richten sich an einen bestimmten Personenkreis, etwa an die Angehörigen eines Volkes, einer Berufsklasse, an die Christen, an Männer usw. S i n g u l ä r e Forderungen richten sich an einzelne Menschen, etwa in der Form: „Besuche mich morgen mittag", „Halte mir heute nadimittag Besuche fern!". Die Forderung Jesu an den reichen Jüngling (Mt 19, 21) wird je nachdem, wie man die Quantität dieser Forderung versteht, sehr verschieden ausgelegt
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II. Das sittliche Bewußtsein
werden. Ich übergehe dabei die Frage, ob es sinnvoll ist, hier an eine generelle Forderung zu denken. Als partielle Forderung ist sie sehr wohl denkbar. Nach diesem Verständnis würde sie sich an alle die richten, welche mit Jesus zu tun bekommen haben. Alle diese nämlich müßten tun, was er hier sagt: alles verkaufen usw. Wenn es aber eine singuläre Forderung ist, dann richtet sie sich nur an den einzelnen, der hier vor Jesus steht. Dann ist es audi denkbar, daß Jesus an einen anderen andere Forderungen zu richten hat. Dies aber würde zur weiteren Folge haben, daß auf dem äußeren Vollzug dessen, wovon Jesus hier redet, gar kein letzter Nadidrudc liegt. Sonst müßte es ja für alle Jünger gelten. Also muß die Spitze dieser Forderung — diese nun als singulare verstanden — woanders liegen, nämlich darin, daß Gott unser Herz will, und daß alle materiellen Opfer dafür nur ein Zeichen sein können. Aus diesem Beispiel ergibt sich aber, daß der scheinbar nur formale Gesichtspunkt der Quantität der Forderungen zu ganz erheblichen Differenzen im Inhaltlichen führen kann.
c) Hinsichtlich der M o d a l i t ä t unterscheidet man entsprechend der Urteilslehre problematische, assertorische und apodiktische Forderungen. P r o b l e m a t i s c h e Forderungen sind solche, die von einer gewissen Unsicherheit des Vorbringens gekennzeichnet sind. Etwa Forderungen dieser A r t : „Könntest du wohl e i n m a l . . . ? " oder in Frage- und Andeutungsform „Wäre es dir vielleicht gelegentlich möglich . . . ? " oder Forderungen in Form von Bitten gehören hierher. A s s e r t o r i s c h e Forderungen sind in der Regel schlichte Befehle, sei es in Form des Gebotes oder Verbotes: „ ö f f n e mir die T ü r ! " , „Du sollst nicht töten!" A p o d i k t i s c h e Forderungen sind solche, die sofort durch die gesteigerte Intensität auffallen. Es ist gewissermaßen zu der Forderung selbst noch eine zweite hinzugefügt, nämlich alle anderen Pläne, Wünsche und Pflichten um der Dringlichkeit dieser Forderung hintanzusetzen. Neben dem klassischen Fall des SOS-Rufes sind hier die Befehle zu nennen, die im deutschen Sprachgebrauch auffälligerweise durch den Verzicht auf Imperativische Form charakterisiert sind: „Die Kompanie steht morgen früh 4 U h r . " „Du wirst mir heute abend das Heft bringen!" „Draußen bleiben!" d) Die R e l a t i o n d e r F o r d e r u n g e n schließt sich aufs engste der Urteilslehre der traditionellen Logik an. Auch hier gilt der modus ponendo ponens: „Falls d u . . m u ß t d u . . . " , der modus tollendo ponens: „Falls n i c h t . . m u ß t du . . u n d im modus tollendo tollens: „Wenn n i c h t . . . , dann darfst du nicht". Es sind die h y p o t h e t i s c h e n Forderungen, denen die k a t e g o r i s c h e n in der schlichten „Unbedingtheit" gegenüberstehen. Diese kategorischen Forderungen stehen ganz in sich, sie sind von keinem Zweck und keiner Bedingung abhängig. Sie entsprechen dem Kantischen „kategorischen" Imperativ, dessen Problem darin besteht: Worin können solche bedin-
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gungslosen Imperative ihre Begründung finden, wenn diese Begründung nicht in einer Zwecksetzung, einer „Hypothesis" gesucht werden darf? Schließlich gehören hierher noch die d i s k o n j u n k t i v e n Forderungen, denen die Form eigentümlich ist: „Entweder mußt du dies tun (oder lassen) oder jenes tun (oder lassen)!" Freilich bleiben, wie oben schon angedeutet, noch zwei sehr einschneidende Probleme offen, ohne die eine solche formale Betrachtung bei aller sonst denkbaren Ergiebigkeit unzureichend wäre. Ein wesentlicher Unterschied der Forderungen vom Urteil scheint darin zu bestehen, daß eine Forderung „erhoben" wird, daß somit das Einsetzen, der Beginn der Forderung nicht unwichtig ist, und daß dementsprechend audi ihre Dauer, ihre Intensität und ihre Einmaligkeit bzw. ihre Wiederholung von Interesse ist. Im Unterschied vom reinen Urteil hat jede Forderung eine Adresse oder sucht doch ihre Adressaten. Sie ist als Forderung erst vollständig, wenn sie diese Adressaten erreicht hat, wenn sie an ihrer Adresse angekommen ist. Dementsprechend ist es von Wichtigkeit, ob eine Forderung nur kurz und flüchtig oder nachhaltig erhoben wird. Das Klingeln an der Tür, das Läuten des Telephons repräsentiert bezüglich der Dauer einen ganz anderen Modus, als er sich etwa in dem Satz ausspricht: „Ich warte nun schon seit 4 Wochen auf die Ablieferung dieser Arbeit". In diesem Sinne mag man dann sogar zeitlos gültiger oder phänomenal „ewiger" Forderungen inne werden. Audi die Häufung bzw. Häufigkeit der Forderungen (einmalige, wiederholte Forderungen) und ihre Bündelungen (gleichzeitige oder gar kollidierende Forderungen) müssen grundsätzlich bei der Strukturanalyse der Forderungen berücksichtigt werden. Eine zweite Frage muß noch genannt werden, deren Beachtung über die formalen Strukturgesetze hinausführt. Es ist die Frage nach dem Subjekt, nach dem Urheber der Forderungen. In der Regel wird man den Urheber zweifelsfrei erkennen: Es ist ein Freund, ein Familienglied, von dem die Bitte stammt, ein Vorgesetzter, der mir den Befehl gegeben hat, oder der Staat, dessen Gesetz, die Kirche, deren Ordnung eine Forderung an mich bedeutet. Es erhebt sich die Vermutung, es könnte aus dieser Reihe der fordernden Instanzen, die ja leicht in eine gewisse Rangordnung gebracht werden kann, auch etwas über eine Rangordnung der Forderungen untereinander ausgemacht werden. Diese Schlußfolgerung ist grundsätzlich abzulehnen. Eine Rangordnung von Forderungen — deren Berechtigung dabei vorausgesetzt — setzt ja immer eine gewisse Kollision derselben voraus. Aber die Instanz, welche mir solche Forderungen zusendet, sagt
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II. D a s sittliche Bewußtsein
ja als solche nodi nichts über das innere Gewicht dessen, was sie von mir begehrt, und vollends läßt sich über die Situation in ihrer Einmaligkeit überhaupt nichts Allgemeines sagen. Die Instanzenfrage darf bei der Bewertung der Forderungen auch aus einem anderen Grunde nicht überschätzt werden. Sehr häufig läßt sich nämlich über solche Instanzen überhaupt nichts zuverlässig ausmachen. Nenne ich etwa Ideen oder „das Sittengesetz" oder mein „höheres Ich", so stellt sich sehr bald heraus, daß ich mit solchen Begriffen aus der idealistischen Tradition nur dem rätselvollen Tatbestand Rechnung trage, daß vielen Forderungen eine gewisse Anonymität eignet. Anders ist es schon mit solchen Forderungsstrahlen, die mir von Zwecken zugesandt werden, die ich mir gesetzt habe oder die aus anderen Gründen für mich verbindlich sind. Es sind implizierte oder zu den Zwecken konsekutive Forderungen. Es ist audi um dieser Zusammenhänge willen ausgeschlossen, etwas über Rangordnungen der Instanzen in der Welt der Forderungen ausmachen zu wollen. Und doch verbirgt sich hinter dieser Rangordnungsfrage ein unaufhebbares Problem, das sich gerade von dem Geltendmachen einer Instanz her ergibt. Es ist die Frage, wie sich denn aus der Welt der Forderungen im allgemeinen Forderungen Gottes herausheben und wie ihrem Vorrang vor anderen, „irdischen" Forderungen Genüge zu tun sei. Denn daß man „Gott mehr gehorchen müsse als Menschen" (Apg 5, 29), das ist auch unabhängig von der biblischen Aussage weithin die Uberzeugung. Wie treten uns also Forderungen Gottes entgegen? Man wird zunächst zugeben müssen, daß sich hier ein weites Feld der Täuschungen eröffnet. Nicht alles, was als Forderung Gottes ausgegeben wird, ist es auch tatsächlich. Oft sind es nur menschliche, etwa familiäre Wünsche, für welche wir Gottes Autorität in Anspruch nehmen. Nicht alles, was Autoritäten, Eltern, Lehrer, die Kirche, von uns fordern, kommt von Gott. Es ist auch nicht alles, „was in der Bibel steht", audi nicht jedes in der Bibel stehende Gesetz Gottes, darum schon Gottes Forderung a n u n s . Das Problem ist darum so schwer, weil es nicht einfach durch einen Rekurs auf die Bibel beantwortet werden kann. Forderungen Gottes kommen nicht nur aus der Bibel zu uns und sie finden häufig, wenn sie an uns herantreten, nicht schlechterdings ein Paradigma in der Heiligen Schrift. Erschwert wird das Problem ferner dadurch, daß man nicht sagen kann, göttliche Forderungen stünden in einem gleichsam nackten Konkurrenzverhältnis mit menschlichen oder irdischen Forderungen. Vielmehr treten sie ja in Gestalt und durch Vermittlung solcher irdischer und menschlicher Forderungen an
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uns heran. Welche dieser „irdischen" Forderungen sind nun in der Tiefe als göttliche Forderungen zu verstehen, welche sind es nicht? Es ist ja denkbar, daß ich einer Forderung etwa meiner Eltern ins Angesicht widerstehen muß, obwohl gute Gründe für sie sprechen, und daß ich eine andere, vielleicht schlecht begründete Forderung erfüllen muß einfach aus Ehrerbietung gegen die in den Eltern verkörperte Fürsorge Gottes. Man wird allgemein nur zwei Grundsätze aussprechen können. Nichts kann Forderung Gottes sein, was sich in klarer Weise als unsittlich — recht verstanden kann man audi sagen: als unbiblisch — erweist. Positiv gewendet aber wird man sagen können: Forderung Gottes kann nur sein, was mich im Gewissen bezwingt. Was mich nicht innerlich bezwingt, was midi nicht bei reiflicher gewissenhafter Uberlegung überzeugt, ist für mich keine Forderung Gottes. Gegen die Gewalt der inneren Überzeugung gilt audi kein Buchstabe und keine Rücksicht auf Menschen. In einer Abwandlung seines Pistis-Begriffes hat Paulus diese innere Uberzeugung Rom 14, 23 als Glaube bezeichnet: Alles, was nicht aus dem Glauben (kommt), ist Sünde. Wie vollzieht sich nun die Anerkennung der Forderungen durch midi? a) Ich muß die Forderung überhaupt vernehmen, sonst kann ich keine Stellung beziehen. Idi muß sie hören. Man kann immerhin sagen, daß man von einem sittlichen Menschen erwarten darf, daß er der Welt der Forderungen in Wachheit vernehmungsbereit zugewendet ist. b) Aber es kann sein, daß eine vernommene Forderung doch mir selbst gar nidit gilt, daß sie midi nicht betrifft. Ich muß also auf die Richtung der Forderung achten und prüfen, ob sie auch für mich gültig ist. Es gibt eine gewisse Ubersensibilität, die alle Forderungen „auf sich bezieht", ja vielleicht schon aus harmlosen Bemerkungen Forderungen zu vernehmen glaubt, auch wenn sie darin gar nicht wirklich enthalten sind. c) Selbst wenn ich nun eine Forderung als mir vermeint, als für mich gültig vernommen habe, muß idi sie doch noch anerkennen und mit meinem „ J a " 'bestätigen. Ich muß mich von dem mich ansprechenden Willen audi in Anspruch nehmen lassen. Wenn ich das nicht will, kann und muß idi „Nein" sagen, ablehenen. Eine Forderung versetzt mich ja nicht einfach dadurch, daß sie an midi gerichtet wird, in eine Zwangslage. Freilidi rechnen viele Menschen damit, daß sich andere Menschen Forderungen, die an sie gerichtet werden, unter einer Art von suggestivem Zwang unbesehen aneignen und sie für verbindlich
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II. Das sittliche Bewußtsein
halten. Geldsammlungen, unverlangte Postsendungen sind häufig auf das Unvermögen sittlicher Differenzierung abgestellt. d) Die Auseinandersetzung mit einer an midi ergangenen Forderung kann unter Umständen dazu führen, daß ich ihr nachkomme, aber aus ganz anderen Gründen als denjenigen, welche zur Forderung selbst geführt haben. Idi erkenne in der Befolgung einen Nutzen, einen Vorteil, ich ergreife die Gelegenheit, einem Dritten auf diese Weise gefällig zu sein. Freilich kann ich auch, sei es in Ubereinstimmung, sei es im Gegensatz zur Intention der Bitte, des Befehls, die sittliche Qualität der Forderung erkennen. Die sittliche Qualität macht sich immer dadurch bemerkbar, daß sie alle anderen Motive an den Rand drängt. Eine gewisse Rücksichtslosigkeit der reinen sittlichen Motive ist immer die Wurzel ihrer Überzeugungskraft und des inneren Zwanges, den sie auf uns ausüben. — Natürlich können midi audi andere als solche sittlichen Motive veranlassen, einer an mich ergangenen Forderung meine Einwilligung zu geben. e) Bis zur Tat ist es dann immer noch ein weiter Weg. Abgesehen von der Möglichkeit, daß ich an der Ausführung der zu meinem eigenen Vorhaben gewordenen Forderung äußerlich gehindert bin, können ja auch noch andere Motive unversehens dazwischen kommen. Noch immer ist es offen, ob idi das Geforderte tue oder lasse, bin oder nicht bin, habe oder nicht habe. Es ist ein weiter Weg zur Tat. „Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn idi tue nicht, was idi will, sondern was ich hasse, das tue idi." (Rom 7 , 1 5 ) . Was hilft es, das Gute zu wissen? Die Tat allein entscheidet über die Sünde (Jak 4 , 1 7 ) . Daher der paulinische Gedanke des Gerichtes nach den Werken: Rom 2, 6 (vgl. Mt 1 6 , 2 7 ) und 2 Kor 5 , 1 0 . Daß man unter Verzicht auf diese Bewertung der Taten, des Effektes allein auf die Absicht, auf den „guten Willen" achtet, eröffnet eine völlig andere Dimension des ethischen Denkens, von der wir in anderem Zusammenhang zu sprechen haben werden. 2. Der Pflicbtbegriff Aus der Welt der Forderungen heben sich nun Forderungen von besonderer Andringlichkeit und Dignität heraus, deren sittlicher Charakter unübersehbar ist. Es sind die Pflichten. In das Schema des vorigen Absatzes gorische Forderungen, die ihrem Gehalt kommen. Ferner wird man hinzufügen derungen als Pflichten wahrgenommen
gebradit, sind Pfliditen katenach apodiktisch auf midi zukönnen, daß nur solche Forwerden, die als sittliche oder
Der Pflichtbegriff
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doch sittlich zu begründende anerkannt werden müssen. Sie sind in ihrer Qualität nicht festgelegt, können also Gebote oder Verbote sein, auch sind sie in ihrer Quantität variabel, d. h. es gibt allgemeine, partielle — nur einem bestimmten Personenkreis geltende — und singulare Pflichten. In der Ethik Kants steht der Pflichtgedanke, der „Imperativ", im Mittelpunkt. Nur die Forderung, die jeder materiellen Stütze entbehren kann, ist als sittliche im reinen Sinne anzusprechen. Nur der Imperativ, der keinerlei Güter oder Zwecke zur Voraussetzung hat, der also nicht hypothetisch, sondern kategorisch im Sinne der Analogie zur Urteilslehre ist, nur der nicht material bedingte Imperativ ist rein sittlich. Und nur der Wille ist »gut", der keine solchen Rücksichten kennt; denn wahre sittliche Gutheit liegt nicht in den Dingen und nicht in den Zwecken, sondern allein im Willen selbst. Der einleitende Satz der „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) hat diesem Gedanken die klassische Form gegeben: „Es ist überall nichts in der Welt, ja überhaupt audi außer derselben zu denken möglich, was ohne Einschränkung für gut könnte gehalten werden, als allein ein guter Wille". Woran entscheidet sich nach Kant nun aber diese Güte des Willens, wenn keine materialen Kriterien dafür aufgeboten werden können? Es kommt nur ein formales Kriterium in Betracht. Dieses liegt nach Kant in der formalen Möglichkeit, die persönlichen, subjektiven Grundsätze des Handelns, die „Maximen", zu einem Gesetz zu machen, das ebenso wie für mich für jeden anderen Menschen verbindliche Kraft haben könnte. In der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten finden sich für diese formale Ableitung des kategorischen Imperativs verschiedene Fassungen: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde". — „Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte". — Handle so, „daß der Wille durch seine Maxime sich selbst zugleich als allgemein gesetzgebend betrachten könne".
Das Kennzeichen des Sittlichen liegt also in der Fähigkeit, sich in einem a l l g e m e i n e n Gesetz auszusprechen. Darin kommt das Wesen der praktischen Vernunft zum Ausdruck, daß der Mensch aus einer jedem Vernunftwesen zugänglichen Einsicht heraus handelt. Die populäre vergröbernde Form dieses Grundsatzes: „ W o kämen wir hin, wenn jeder so handeln würde" führt zu der Vorstellung, daß ein uniformes Handeln die Gewähr sittlichen Handelns wäre. Tatsächlich liegt hier ein Mißverständnis Kants vor. Das Anliegen der Romantiker gegen K a n t kommt z. B. auch in den Monologen Schleiermachers zur Aussprache, wie denn das unvertretbare einmalige Handeln des einzelnen Menschen von der Kantischen
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II. D a s sittliche Bewußtsein
Reflexion auf das Allgemeine her nodi begründet und gedeckt und gar als sittlich gerechtfertigt werden könne. Hier kommt ohne Frage zum Ausdruck, daß K a n t mit einer äußerst gewagten Fiktion arbeitet, eben mit der weithin gar nicht mehr vollziehbaren Vorstellung, daß ich in meinen eigenen Handlungen ein anderes Subjekt an meiner Stelle denken müßte. Diese Zusammenhänge und Probleme werden uns in anderem Zusammenhang nodi zu beschäftigen haben. Hier handelt es sich für uns nur um die Aufgabe, den Pflichtgedanken selbst zu beschreiben und zugleich phänomenologisch einzugrenzen.
Wir sahen: Zur Pflicht wird eine Forderung erst dann, wenn sie sittlich legitimiert ist. Diese sittliche Legitimation ist nun aber in der fordernden Instanz, also in den Eltern oder sonstigen persönlichen Autoritäten, in den Vorgesetzten, im Staat usw. noch nicht selbst gegeben. Alle derartigen Instanzen können ja auch sittlich Gleichgültiges oder gar Unsittliches fordern. Zu den von ihnen empfangenen Forderungsstrahlen muß also gleichsam noch ein zweiter „Strahl" treffen, nämlich diese sittliche Legitimation selbst. Zur schlichten Forderung muß noch die Sanktionierung dieser Forderung als „Pflicht" kommen. Wieder stehen wir vor einem großen Rätsel. Woher kommt diese Sanktionierung? Ist es die praktische Vernunft, ist es das Sittengesetz selbst? Ist es ein undefinierbares „Wertgefühl"? Ist es mein „höheres" oder besseres Ich? Ist es Gott? Jedenfalls macht die Sanktionierung uns die Pflicht zu einer — wenn auch nicht faktisch, so doch sittlich unausweichlichen, mit der wir uns unmittelbar konfrontiert fühlen. Es geht ein diskussionsloser innerer Zwang von dieser Pflicht aus, und wir erfahren diesen Zwang nur dann nicht in dieser Unmittelbarkeit, wenn wir uns die Erfüllung der Pflicht oder der „Pflichten" zum Alltagsgeschäft haben werden lassen. Daß hinter dieser Sanktionierung der lebendige Gott steht, ist eine Sache des Glaubens. Es ist weder „vernünftig" zu erzwingen noch durch eine kritische Ausklammerung widerstreitender Theorien darzutun. Es ist eine Sache der innersten Erfahrung, die nur dann gewonnen werden kann, wenn wir erkennen, wie die Pflichten auf den Sinn unseres Lebens zielen und wie die Verweigerung der Pflicht uns schuldig werden läßt und zu Sündern macht. 3. Die Grenzen des Pflichtgedankens Ganz abgesehen von der Problematik, die in der formalen Ableitung des Pflichtgedankens liegt, hat Kant etwas Richtiges ausgesprochen, wenn sämtliche Formulierungen des kategorischen Imperativs mit
Die Grenzen des Pflichtgedankens
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dem Wort beginnen: „Handle s o . . I m p e r a t i v e , mit denen eine Pflicht bezeichnet wird, können sich nur auf Handlungen beziehen. Umgekehrt können Forderungen, die sich nicht durch Handlungen erfüllen lassen, keine möglichen Pflichten sein. Es kann ζ. B. keine Pflicht sein, eine bestimmte, etwa eine politische Gesinnung zu haben. Zwar neigen revolutionäre und totalitäre Systeme in der Neuzeit immer wieder dazu, die Pflichten ihrer Bürger auch auf die Gesinnungen auszudehnen. Aber sie verraten dadurch nur ihre tiefe innere Unsicherheit und verstricken sich bei den Versuchen, die vermeintlich pflichtgemäßen Gesinnungen zu kontrollieren, in einen Wirrwarr innerer Krisen. Es kann ferner keine Pflicht sein, etwas zu glauben. Wohl kann es eine Pflicht sein zu predigen, etwas Bestimmtes zu lehren, aber der Glaube kann immer nur in Freiheit, und das heißt dann eben ohne sittlichen Zwang, angenommen werden. Auch die Nächstenliebe ist keine Pflicht im Sinne unserer Darlegungen. Pflichten in unserem Sinne sind Forderungen, die sich in Handlungen erfüllen lassen und deren Erfüllung zwischenmenschlich kontrolliert werden kann. So sind Handlungen der Nächstenliebe durchaus erfüllbar. Als Gesinnung verstanden geht aber die Nächstenliebe über das hinaus, was durch den Pflichtbegriff gedeckt werden kann. Es ist eine Totalforderung Gottes an unser Herz, von der man in der Tat zweifeln kann, ob eine „Erfüllung" dieser Forderung von uns aus ohne weiteres im Bereich der Möglichkeit liegt.
Durch diese Beziehung des Pflichtbegriffs auf Handlungen ist sein Umkreis erheblich eingeschränkt worden. Es ergeben sich weitere Einschränkungen, wenn man den Pflichtbegriff gegen andere Forderungen abgrenzt. Einmal gibt es Forderungen, die noch unterhalb der Pflicht liegen. Man kann solche Forderungen erfüllen, aber man muß es keineswegs. So sind etwa Bitten um kleine Gefälligkeiten, Einladungen oder Wünsche ohne jene sittliche Legitimation, welche eine Forderung zur unbedingten Pflicht erheben würde. Das kommt mitunter schon in der problematischen Form, in der spezifischen Unbetontheit, im Eventualis des geäußerten Wunsches zum Ausdruck. Zum anderen gibt es Handlungen, die über alle Pflicht hinaus liegen. Man kann sie nicht allgemein von jedem Menschen verlangen, selbst wenn man hierbei nur erwachsene, vollverantwortliche Personen voraussetzt. Man kann eine vornehme Tat, das Noble, das Ungemeine nicht allgemein fordern. Etwa den Verzicht auf die Ausübung eines Rechtes kann ich nicht „allgemein" fordern. Wer es vorzieht, schäbig zu sein, wer es für richtig hält, dunkle Stellen in der Vergangenheit seiner Bekannten immer wieder sichtbar zu machen — habeat
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II. Das sittliche Bewußtsein
sibi! V o r allem liegt die große Lebensleistung — sei sie künstlerisch, sei sie wissenschaftlich oder wie immer — jenseits alles Pflichtigen, m a g es im übrigen nodi so nahe liegen, den Betreffenden d a r a n z u erinnern, daß er uns diese Leistung schuldig ist. Ein Leben, das allein auf den Umkreis der Pflicht beschränkt ist, erscheint uns immer glanzlos, freudlos, filzig u n d engherzig. Die Erkenntnis der Pflicht und ihre E r f ü l l u n g gibt dem Leben erst seinen Ernst. Aber das was über die Pflicht hinaus liegt, das N o b l e , das Große und Schöne, das Unerwartete, die G n a d e , das erst verleiht dem Leben seinen G l a n z . An dieser Stelle mag ein Wort über die Entartung des Pflichtbewußtseins angebracht sein. Drei Formen dieser Entartung treten immer wieder in unseren Gesichtskreis : a) Die reine Pfliditvergessenheit oder Pflichtenblindheit. Für manche Menschen existieren einfach die Pflichten nicht, die dodi der daneben Stehende mit Händen greifen zu können glaubt. In der kindlichen Entwicklung stellt die Reifung des Pflichtbewußtseins bekanntlich eine wichtige Form der sittlichen Reifung überhaupt dar. Aber es stellt einen schweren Mangel der sittlichen Substanz eines Menschen dar, wenn er als Erwachsener nicht in der Lage ist, den Ruf der Pflicht zuverlässig zu vernehmen. b) Die zweite Form der Entartung des Pflichtbewußtseins ist die Beschränkung auf das Nur-pfliditige. Die Pflichten schließen wie ein Zaun das immer enger und freudloser werdende Leben ein. Die jenseits dieses Zaunes lockenden freien Bezirke, das Spiel, die Kunst, die Muße — sie werden herabgewürdigt und als untersittlich verdächtigt. Das Leben jenseits dieses Zaunes ist wohl noch da, es lockt noch, aber diese Lockung wird als Verführung gedeutet. Das ganze Leben wird zur „Pflichterfüllung", aber zugleich verbreitet dieses Leben auch muffige Freudlosigkeit und wird für alle zur Last, die mit einem Menschen von solcher Lebensauffassung zu tun haben. Der Gegensatz von Pflicht und Neigung, als ob jede echte Pflicht durch die Besiegung einer „Neigung" gekennzeichnet sei, hat schon Schillers Spott herausgefordert: Gewissensskrupel Gerne dien' ich den Freunden, dodi tu' idi es leider mit Neigung, Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin. Entscheidung Da ist kein anderer Rat, du mußt suchen, sie zu verachten Und mit Abscheu alsdann tun, wie die Pflidit dir gebeut. Vgl. hierzu H. Reiner a. a. O. c) Schließlich findet sidi nidit selten nodi eine andere Entartung des Pflichtbewußtseins. Gerade feinere, übermäßig gewissenhafte Naturen verstehen alle Wünsdie, ja oft nur Andeutungen, die ihnen zu Ohren kommen, als auf sie gerichtete Pflichtstrahlen. Es kann geschehen, daß sie sogar allgemein vorhandene Notstände, von denen sie erfahren, als einen Anruf zu sozialer Pflichterfüllung verstehen, obwohl sie beim besten Willen gar nicht in der Lage
Virtuelle und aktuelle Pflichten
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sind, derartigen Pflichten überhaupt nachzukommen, und daher lediglich ein schlechtes oder doch bedrücktes Gewissen zurückbehalten. Alles wird zur Pflicht gemacht! Selbst die leisesten Forderungen werden zu Pflichten „aufgepumpt". Es ist ein förmlicher Pflichtwahn, der dann sehr bald in den Zustand immerwährender Schuldgefühle übergeht, was uns schon aus dem Mittelalter als Skrupulanz bekannt ist.
4. Virtuelle und aktuelle Pflichten Eine Pflicht ist also ein an mich persönlich gerichteter Forderungsstrahl, d. h. eine kategorische, aus dem Absoluten heraus sanktionierte Forderung, der ich in einer Handlung genügen muß. Jeder so verstandenen Pflicht muß ich antworten, an ihr entscheidet sich Gut und Böse in einem jeweils ganz aktuellen Sinne. Und doch ist diese aktuelle Begegnung mit der Pflicht nicht die einzige, auf die Breite des Lebens gesehen nicht einmal die regelmäßige und häufigere. Vielmehr treten uns die Pflichten in der sehr allgemeinen Form von Geboten und Verboten, von Gesetzen entgegen und regeln mein Handeln für die Fülle aller möglichen eintretenden Fälle. Das denkbare Leben ist mit einem ganzen Netz solcher möglichen Pflichten überzogen. Von diesen denkbaren und möglichen Pflichten betrifft mich nur der kleinste Teil, je nachdem idi das „Minenfeld" der Aktualisierung, das entsprechende „Planquadrat" des Lebens betrete oder nicht. Von allen denkbaren und möglichen Pflichten betrifft mich immer nur der allerkleinste Teil, nämlich derjenige, welcher sich aus der augenblicklichen Situation heraus als zutreffend erweist. Man wird also auf jene allgemeinen Gesetze, Verbote und Gebote den Begriff der Pflicht nur in einem modifizierten Sinne anwenden können. Wir sprechen daher von virtuellen Pflichten. Die Aktualisierung der Pflicht hängt also von der Situation ab. Ich kann kein Almosen geben, wenn kein Bedürftiger in meiner Reichweite ist. Die Aktualisierung der Pflicht hängt aber auch von der Individualität des Menschen ab. Es kann nämlich keiner über sein Vermögen hinaus verpflichtet werden. Ultra posse nemo obligatur. Sehr zum Unterschied von der Betonung des Allgemeinheitscharakters der Pflicht erweist es sich also, daß ihr etwas sehr Individuelles zu eigen ist. Der Körperbehinderte wird nicht von der Wehrpflicht betroffen, und von einem Bootsverleiher wird man nicht verlangen, daß er Sophokles im Urtext liest. Durch diese „Bezüglichkeit" aller Pflicht schränkt sich ihre Geltung außerordentlich ein. In dem Gedanken der Pflicht liegt beschlossen, daß sie „mir gemäß" ist. Das in der geschil7 Trillhaas, Ethik
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II. Das sittliche Bewußtsein
derten Weise „Nicht-gemäße" kann auch nicht Pflicht sein. Der oft gehörte Satz: „Du kannst, denn du sollst!" erweist sich bei näherem Zusehen als bloße Pathetik und hält keiner gewissenhaften Prüfung stand. Faßt man nun diese persönliche Beziehung des Menschen zu „seiner" Pflicht noch näher ins Auge, so ist es durchaus denkbar, daß ein Mensch mit seiner Pflicht gleichsam zusammenwächst. Es wird ihm zum Bedürfnis, sie zu erfüllen, und er denkt über sie gar nicht mehr besonders nach. Die Erfüllung dieser Pflicht wird, wie wir zu sagen pflegen, dem Betroffenen zur zweiten Natur. J a , das Ungezwungene und Selbstverständliche, das Natürliche in der Pflichterfüllung erscheint geradezu als Vorzug. Man braucht nicht mehr nachzudenken. Man muß sich zur Erfüllung der Pflicht nicht erst überwinden, sondern sie erfolgt mühelos, ohne Betonung und ohne ein Aufheben davon zu machen. Der Satz, daß wir unnütze Knechte sind und nur getan haben, was wir zu tun schuldig waren (Lk 1 7 , 1 0 ) , verliert unter dieser Betrachtung den Charakter einer betonten Herabwürdigung der eigenen Leistung. Besteht diese persönliche Beziehung des Menschen zu seiner Pflicht, dann ergibt sich freilich auch dies, daß man — zugespitzt ausgedrückt — die Pflicht hat, seine Pflicht zu kennen. Wir stehen hier freilich vor einem Zwiespalt. Einerseits gilt es als allgemeiner Rechtsgrundsatz, daß eine Pflicht auch existieren kann, bevor man sie kennt. Alle öffentlichen Pflichten, die mir aus der Verfassung und dem Gesetz des Staates erwachsen, existieren unabhängig davon, ob ich sie zur Kenntnis nehme oder nicht. Und doch lassen sich Gründe nennen, aus denen mich eine Pflicht solange nicht bindet, solange sie mir überhaupt nicht bekannt geworden ist. Spezielle Pflichten, die mir aus bestimmtem Anlaß erwachsen, binden mich erst von dem Augenblick an, in dem ich sie erfahre und anerkenne. Aber wann eine solche Kenntnis und Anerkennung einer erwachsenen Pflicht zugemutet werden kann und wann nicht, das läßt sich dann nur noch im Hinblick auf die Situation des betroffenen Menschen gerecht beurteilen.
5.
Pflicktenkollisionen
Wir reden von Pflichtenkollisionen, wenn uns aus der unabsehbar breiten Fülle virtueller Pflichten gleichzeitig zwei als aktuelle Pflichten gegenübertreten, und zwar in der Form, daß ich eine versäumen
Pflichtenkollisionen
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muß, wenn idi die andere erfüllen will. Man kann die immer wiederkehrende Bedrängnis durch solche Pflichtenkollisionen nicht leugnen. Gibt es Regeln, nach denen man solchen Kollisionen ausweichen kann oder nach denen man sie in sittlich vertretbarer Weise zu bewältigen vermag? Die Ethik kommt, indem sie dieser Frage nachgeht, an den Rand der Kasuistik. Die katholische Moraltheorie, in der der Pflichtbegriff einen breiten Raum einnimmt, antwortet etwa folgendermaßen: Das natürliche Gesetz hat den Vorrang vor dem positiv-göttlichen, die positiv-göttlichen Pflichten haben den Vorrang vor den menschlichen, die kirchlich-religiösen Pflichten vor den bürgerlichen und die wichtigeren vor den minder wichtigen (so O. Schilling: Moraltheologie, 1922, § 33 N r . 102 f.). W. Herrmann (Ethik 1909 4 , § 31) gibt als wesentlich einfachere und unverfänglichere Ordnung zur Auflösung von Pflichtenkollisionen diese an: das Ordentliche vor dem Außerordentlichen, die Reditspflidit vor der Liebespflicht! Man wird annehmen dürfen, daß jeder sittlich wache Mensdi nach solchen Gesichtspunkten entscheidet, wenn man unterstellt, daß mit „Liebespflicht" hier eine freiwillig übernommene Verbindlichkeit gemeint ist.
Das Problem wird durch solche Erwägungen praktisch erleichtert, aber es wird nicht gelöst, weil es theoretisch unlösbar ist. Einmal zeigt sich nämlich an der Frage der Pflichtenkollisionen, daß die Pflicht zwar aus dem Absoluten heraus sanktioniert erscheint (man nehme diese Formulierung einfach als die Beschreibung eines phänomenalen Tatbestandes), daß aber diese Sanktionierung, wie immer man sie auch metaphysisch deuten mag, die Klarheit und Einfachheit des Pflichtgedankens keineswegs garantiert. Wenn es Gott ist, der uns solche Pflichten zusendet, dann ist er auch hier kein offenbarer, sondern ein verborgener Gott. U n d damit hängt das andere unmittelbar zusammen. Wir können uns nicht unseres guten Gewissens trösten, wenn wir zwei kollidierende Pflichten gewissenhaft geprüft, gegeneinander abgewogen und uns dann für die eine gegen die andere entschieden haben. Auch die gewissenhafteste Prüfung der Pflichten und die gewissenhafteste Erfüllung der Pflicht macht uns nicht gerecht. Denn wir bleiben die Erfüllung der anderen Pflicht schuldig. Es ist ja nicht so, daß durch die gewissenhafte Prüfung der kollidierenden Pflichten gewissermaßen die zurückgesetzte Pflicht aufhörte, eine Pflicht zu sein, mag sie in unseren Augen auch im Augenblick als „minder wichtig" oder wie immer geringer an Dringlichkeit erscheinen. Der Begriff der Pflicht leidet ja keine Steigerungsgrade, das liegt in seiner Unbedingtheit. Und so bringt der Pflichtbegriff keine Garantie mit sich, ein Weg zur Gerechtigkeit zu sein. 7»
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I I . Das sittliche Bewußtsein 8. K a p i t e l Das
Gewissen
Eine Besinnung über das Gewissen gehört in die Mitte der Lehre von der handelnden Person. H i e r m u ß sich Entscheidendes über die A u f fassung von dieser Person kundtun. Die sittlichen N o r m e n geben sich offenbar in der F o r m des Gewissens inmitten der Person kund. M a n behandelt das Gewissen in der katholischen geradezu als die subjektive
Moraltheologie
daher
N o r m des sittlichen H a n d e l n s im U n t e r -
schied v o n den objektiven N o r m e n , also den Gesetzen, Geboten, W e r ten usw. M i t diesen einleitenden Sätzen soll natürlich das Ergebnis unserer Untersuchung nicht v o r w e g g e n o m m e n werden. Der Begriff des Gewissens stammt aus der Stoa (συνείδησις = conscientia). Der Begriff findet sich bei Epiktet, Marc Aurel, Cicero, Seneca, aber audi bei Philo. Das Alte Testament spricht statt dessen von Herz (leb). Zur Literatur: Die Geschichte der Ethik sowie die Lehrbücher der Ethik, soweit sie den Begriff überhaupt behandeln. Besonders hervorgehoben sei die Theologische Ethik von H . Thielicke I, 1951, S. 475 ff. Manche Darstellungen der Ethik übergehen den Begriff völlig oder nahezu völlig, so die Ethik von Nie. Hartmann und Karl Barth K D II/2, III/4. Albr. Ritsdil: Über das Gewissen, 1876 (wieder abgedruckt in den Gesammelten Aufsätzen, Neue Folge, 1896, S. 177 ff.); Martin Kahler: Das Gewissen I, 1878 behandelt den Begriff in der Antike und im Alten Testament; der zweite Band ist nicht erschienen. Max Scheler: Reue und Wiedergeburt, in: Vom Ewigen im Menschen, (1921) 1968 5 . Die gründlichste neuere philosophische Untersuchung über den Gegenstand bietet H . G. Stoker: Das Gewissen, Erscheinungsformen und Theorien, 1925; Willy Bremi: Was ist das Gewissen (Züricher theol. Diss. 1934); E. W o l f : Vom Problem des Gewissens in reformatorischer Sicht, in: Peregrinano, (1954) 1962 2 , S. 81 ff.; J . H o m m e s : D i e innere Stimme, 1948; Th.Müncker bietet in dem Buch: Die psychologischen Grundlagen der katholischen Sittenlehre, (1934) 1953 4 fast ausschließlich eine umfassende Darstellung der Gewissenslehre des Katholizismus; Die neuere Entwicklung innerhalb des Katholizismus repräsentiert J . G. Ziegler: Vom Gesetz zum Gewissen, 1968; M. Heidegger: Sein und Zeit, 1967 1 1 , S. 267 ff.; W. Trillhaas: Die innere Welt, 1953, S. 70 ff.; E. Hirsch: Lutherstudien I, 1954 (hierin: Drei Kapitel zu Luthers Lehre vom Gewissen). R E V I , 646 ff.; L T h K 1 I V , 476 ff.; WBauer W B s. ν. σιινείδησις; T h W s. ν. συνείδησις; E K L I, 1573 ff. und R G G II, 1550 ff. (Lit.). 1. Die Selbstkundgabe
des
Gewissens
Die Schwierigkeit, über das Gewissen eine wissenschaftliche Aussage z u machen, h a t einen doppelten
Grund.
Einmal
kennen w i r
das
Gewissen nur als Funktion. E s ist abgesehen d a v o n , d a ß es so o d e r so funktioniert, nicht objektiv feststellbar. E s ist kein D a t u m , es h a t nicht
Die Selbstkundgabe des Gewissens
101
den Charakter einer Realität, die man etwa in gemeinsamem Hinsehen beobachten könnte. Andererseits kann jeder sittlich wache Mensch für sich in Anspruch nehmen, das Gewissen zu kennen. In dem Maße, als dieses Gewissen sich jedem einzelnen so ausschließlich kundgibt, daß nur er selber diese Kundgabe zu vernehmen vermag, neigt der eine oder andere leicht dazu, sich auch für eine Wesensaussage über dieses Gewissen für kompetent zu erachten. Und doch kann man eine solche Wesensaussage nur machen, wenn man über methodische Schulung sowohl der Beobachtung als auch der wissenschaftlichen Aussage verfügt. Bekanntlich gibt sich das Gewissen dadurch kund, daß es uns einen „Spruch" zusendet, der die Form eines Urteils hat. Dadurch ist es wohl nahegelegt, diesen Gewissensspruch als ein sittliches Urteil zu verstehen, und es muß mit der Unterscheidung des Gewissensspruches von einem sittlidien Urteil begonnen werden. Das sittliche Urteil hat zunächst mit allen denkbaren Urteilen, also ζ. B. einem existenziellen Urteil dies gemein, daß ich dieses Urteil „fälle". Dieses Urteil ist m e i η Urteil. Ich kann die Gründe nennen, die mich zu diesem Urteil bewogen haben. Ich bin dafür verantwortlich, daß dies Urteil klar formuliert wird; daß es ein sittliches Urteil ist, entscheidet sich an seinem Prädikat, z.B.: „Der zweite Teil seines Briefes war eine verwerfliche Ehrabschneidung." Im Unterschied zu dieser einfachen Urteilsstruktur ethischer Sätze ist der Gewissensspruch anonym. Darin liegt das Unheimliche und Zwingende eines Gewissensrufes, daß er midi gleichsam von hinten anruft und mir einen Spruch zusendet. Die Frage nach dem Subjekt des Gewissensspruches hat zu den widersprechendsten Antworten geführt und erklärt schon im vortheoretischen Zustand des Menschen die sittliche Unruhe, die sich aus der Erfahrung des Gewissens ergibt. Das sittliche Urteil kann in freier Weise diesem oder jenem Gegenstand zugewendet werden. Es kann sich mit diesem oder jenem Menschen beschäftigen, es kann sich allem zuwenden, was als Ausdruck einer sittlidien Stellungnahme, sei es einer Uberzeugung, sei es einer Handlung erkennbar wird. Demgegenüber hat der Gewissensruf keinen Spielraum. Er beschäftigt sich nur mit mir selbst. Ich erfahre den Gewissensruf so, daß er mir gilt und midi ruft. Heideggers Interesse an dem Gewissensruf gilt der sich hier ankündigenden Existenzauslegung; und die ausschließliche Zuwendung des Rufes an mich bindet in der Tat das Gewissensphänomen an meine Existenz. Man kann nicht für andere Personen ein schlechtes Gewissen haben. Selbst wenn
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II. Das sittliche Bewußtsein
bei einem kritischen Vorgang fremdes Verhalten mit im Spiel ist, ζ. B. wenn ich zu Verleumdungen, die in meiner Gegenwart ausgesprochen wurden, geschwiegen habe, trifft doch der Gewissensanruf immer nur mich selbst und gilt nicht dem Verhalten der anderen Menschen. Er gilt also in dem vorliegenden Falle nicht den Verleumdern, sondern mir, weil ich geschwiegen habe. Der Gewissensruf betrifft mein eigenes Verhalten, Gewährenlassen oder Unterlassen. Ganz gleich, ob dieser Gewissensruf positiv oder negativ ist, so wendet sich das Gewissen nur an midi und handelt nur von mir. Mit diesem privaten, intimen Charakter hängt es zusammen, daß das Gewissen sich mir zunächst nur gleichsam flüsternd naht. Es spricht zuerst mit leiser Stimme zu mir. Es spricht wie von ferne. Darum läßt es sich am Anfang auch leicht übertönen, zuschütten oder beiseitesetzen oder noch viel einfacher: wir überhören seine Stimme. Hat aber das Gewissen einmal begonnen zu sprechen, dann nähert es sich uns immer mehr, und sein Spruch nimmt an Stärke und Deutlichkeit zu. Es gibt so etwas wie ein Crescendo des Gewissensrufes. Zuerst ist es oft nur ein unbehagliches, ungutes Gefühl, aber dann stülpt sich aus dem Gefühl ein artikulierter Ruf, ein Spruch, ein Urteilssatz heraus wie der: „Das war (ist) schlecht von dir." Merkwürdigerweise kann man nun bei solchen Gewissensanrufen zwar die Stärke der Vernehmlichkeit und die Deutlichkeitsgrade unterscheiden, aber es findet sich keine Reflexion über Groß und Klein, über die Wichtigkeit oder Geringfügigkeit einer Handlung. Die kleinsten Sachen, die „Puppensünden 0 , — um den Ausdruck von Staupitz gegenüber Luther in Erinnerung zu rufen — können die schwersten Gewissensqualen verursachen. Alle Tröstungen des Gewissens, die auf die Geringfügigkeit des Anlasses hinweisen, müssen schon aus diesem Grunde versagen. Es kommt aber noch ein weiterer Grund für dieses Versagen solcher Tröstungen hinzu. Der Gewissensspruch weist nämlich nicht nur insofern eine Wandlung auf, als er sich verstärkt und verdeutlicht, sondern auch indem er zunächst nur auf den Anlaß deutet. Dann aber weitet sich dieser Gewissensspruch; er greift durch den Anlaß hindurch bis zum Personkern. Er wird ein Totalurteil. Zuerst hieß es „Das war schlecht von dir." Dann aber heißt es: „Du bist schlecht." Der Gewissensspruch kann an Intensität so sehr zunehmen, daß man glaubt, alle Menschen wüßten, was man verbrochen hat, und teilten den Spruch des Gewissens. Man hat das Gefühl, von allen Leuten angesehen zu werden. Die Flucht des vom Gewissen Gepeinigten vor den Erinnyen, die in Sartres „Fliegen" eine Wiederkehr in der
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Nachfolgendes und vorausgehendes Gewissen
modernen Literatur erlebt haben, dokumentiert diese Erfahrungen. Man sieht dem gewissensgepeinigten Menschen das Verfolgungsgefühl förmlich an und sagt von ihm, er gehe herum wie das schlechte Gewissen. 2. Nachfolgendes
und vorausgehendes
Gewissen
Der Gewissensspruch, von dem bisher die Rede war, blickt nur in die Vergangenheit; er bezieht sich immer nur auf vorliegende geschlossene Akte. Die Unbedingtheit des Gewissensspruches
ab-
erklärt
sich zu einem Teil sicher auch daraus, daß die T a t , das Wort, worauf er sich bezieht, in ihrer Vergangenheit unabänderlich sind. Unmittelbar stellt sich da die Frage, ob das Gewissen sich nicht auch mit zukünftigen Dingen, also etwa mit dem Inhalt von Absichten oder Plänen beschäftigen könnte. Das ist vorweg zuzugestehen. Es bedarf aber einer genauen Untersuchung, wie sich das Gewissen verhält je nachdem, ob es sich mit geschehenen Dingen oder mit Absichten befaßt. In der ethischen Tradition unterscheidet man das rückblickende oder nachfolgende Gewissen (conscientia consequens) vom vorausgehenden oder vorausblickenden Gewissen (conscientia antecedens). Die conscientia consequens tut sich im Gewissensspruch kund, der sich stets auf vollendete Tatsachen bezieht, seien es Worte, Handlungen oder Unterlassungen. D o r t hakt sich das Gewissen ein, es bohrt und wächst, aber man kann nicht damit rechnen, daß es, ist es einmal erwacht, wieder vergeht. Man muß damit rechnen, daß es über lange Zeiträume hinweg, in denen es vielleicht noch nicht erwacht war oder in denen es geschwiegen hatte, sich wieder meldet. Haben wir durch den Gewissensspruch unser Urteil empfangen, so kann das Gewissen nur noch durch eine volle Wiedergutmachung, durch eine Sühne oder Strafe gestillt werden, wenn es nicht in einer Beichte den Zuspruch der
Vergebung
empfängt. Man wird sich aber nicht darauf verlassen können, daß in jedem Falle eine Wiedergutmachung möglich ist oder daß Sühne oder Strafe beliebig zur Verfügung stehen. Man wird auch nicht damit rechnen können, daß die Tröstung der Beichte immer erreichbar ist, ganz zu schweigen davon, daß man sich selbst damit bedienen kann. Es ist ein schwerer und weiter Weg zu einem getrösteten Gewissen, und doch ist es der einzige Weg, sich von dem Gewissensspruch zu lösen. Die conscientia antecedens zeigt erhebliche Unterschiede vom Gewissensspruch. Diese Unterschiede sind schon darin begründet, daß sich j a das vorausgehende Gewissen nur auf künftige Handlungen, Worte oder Unterlassungen beziehen kann, die ihrer N a t u r nach nicht abge-
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II. D a s sittliche Bewußtsein
schlossen sind. Gewiß, auch das vorausblickende Gewissen ist durch das Crescendo gekennzeichnet. Je näher wir der Ausführung einer Absicht kommen, desto lauter und deutlicher meldet sich die Warnung des vorausblickenden Gewissens. Der Steigerung, die wir auf dem Weg zu einer verbotenen Tat erfahren: vom Reiz zur Versuchung, von der sündhaften Erwägung hin zur Absicht und zum Entschluß, entspricht genau eine stufenweise Verstärkung der Warnung. Aber immer nodi ist ja nichts geschehen, immer noch kann die Warnung zum Ziel führen, indem die Absicht nicht ausgeführt, die Handlung nicht vollendet wird. Es ist denkbar, daß diese Gewissenswarnung mich lähmt, so daß ich im entscheidenden Augenblick erfahre: „Ich kann nicht." Sofort wird die Gewissenswarnung erlöschen. Sie schweigt in dem Augenblick, in dem sie beachtet worden ist. Die Entscheidung selbst ist nicht Sache des Gewissens. Die Entscheidung kann ja auch gegen das Gewissen ausfallen. Die Entscheidung ist umso weniger eine Sache des Gewissens, als auch bei der Gewissenswarnung nur eine negative Stimme laut wird, aber dieses negative Element nicht ausreicht, um menschliche Entscheidungen inhaltlich zu begründen und zu erfüllen. Auch diese eigenartige conscientia antecedens hat insofern etwas Aktuelles, als sie nur aus gegebenem Anlaß ruft, warnt, aber nie im Eventualis eines ethischen Urteils auftritt, z. B.: Wenn du deine Nachbarn verleumden würdest, dann wäre deine Handlung verwerflich. Auch in der Form der conscientia antecedens hat das Gewissen nichts mit dem ethischen Urteil zu tun. Auch in dieser zweiten Form beschäftigt sich das Gewissen nur mit mir selber. Auch hier zeigt sich jene Spontaneität des Gewissens, die uns zwingt, den Gewissensspruch wahrhaft als „unverfügbar" zu bezeichnen. Die beiden Formen der Gewissensäußerung vollziehen sich ganz abgesehen von ihren inneren Verschiedenheiten in derartig verschiedenen Räumen, daß man geradezu sagen könnte, sie wissen nidits voneinander. Wenn sie nämlich innerlich zusammenhingen, dann müßte man ja damit rechnen, daß jedem Spruch des rückblickenden Gewissens auch eine Gewissenswarnung vorhergegangen sein müßte. Dies ist nicht der Fall. Erst im Rückblick offenbart manches Wort und manche Tat den verderblichen Charakter, von dem wir vorblickend nichts wahrgenommen haben. Ein andres Antlitz, eh' sie geschehen, Ein anderes zeigt die vollbrachte Tat. Mutvoll blickt sie und kühn dir entgegen,
Gutes und schlechtes Gewissen
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Wenn der Rache Gefühle den Busen bewegen; Aber ist sie geschehen und begangen, Blickt sie dich an mit erbleichenden Wangen. (Schiller, Braut von Messina III 5) Man hat diese Gewissenswarnung, die conscientia antecedens häufig auch mit dem Daimonion des Sokrates verglichen, von dem er in der Apologie 31 C/D spricht. Er sagt dort — und wiederholt, wovon er schon öfters gesprochen habe —, daß ihm häufig „etwas Göttliches und Dämonisches (θεΐόν τι καΐ δαιμόνιον) widerfährt, eine Stimme nämlich, welche jedesmal, wenn sie sich hören läßt, mir von etwas abredet, was ich tun will. Zugeredet aber hat sie mir nie." Die negative Beschreibung dieser Erscheinung könnte in der Tat darauf hindeuten, daß wir hier so etwas wie eine conscientia antecedens vor uns haben. Indessen verbietet uns der von Sokrates herangezogene Anwendungsfall diese Gleichsetzung. Er spricht nämlich davon, daß er durch jene Stimme abgehalten worden sei, sich an den Staatsgeschäften zu beteiligen. Das liegt die Vermutung nahe, daß es sich hier nicht um ein Gewissensphänomen im eigentlichen Sinn handelt, das ja durch seinen ethischen Charakter ausgezeichnet sein müßte, sondern daß es sich doch nur um ein unheimliches Sensorium für das Richtige handelt, dem Ortssinn des Wanderers in der Nacht vergleichbar, der durch diesen Ortssinn nicht etwa vor moralisch schlechten, sondern vor falschen und irrigen Wegen bewahrt wird. 3. Gutes und schlechtes
Gewissen
Sowohl das verurteilende wie das warnende Gewissen erscheinen in unserer bisherigen Überlegung im wesentlichen als negativ wirksam. Beidemale stand uns das „schlechte Gewissen" vor Augen. Wie steht es aber mit dem „guten Gewissen"? Wir meinen damit natürlich nicht das stumme Gewissen, das schläft, taub ist und nicht funktioniert. Wir meinen auch nicht den Zustand, in dem wir überhaupt keinen Gewissensruf vernehmen, w o f ü r das bekannte Sprichwort gilt: „Ein gutes Gewissen ist ein sanftes Ruhekissen." Vielmehr meinen wir mit dem guten Gewissen ein solches, das uns anstelle der negativen Sprüche ein positives Urteil zusendet. In der Tat gibt es das. Aus jener hintergründigen anonymen Tiefe, aus der eben Gewissensurteile zu kommen pflegen, vernehmen wir dann: „Das w a r gut (von dir)", „Das w a r recht". D a ß es sich in soldien Fällen um ein echtes Gewissensphänomen handelt, mag daran z u erkennen sein, daß auch dieses Urteil — denn der Spruch ergeht ja in Urteilsform — nicht in unserer eigenen H a n d liegt, sondern daß seine Herkunft a n o n y m ist. Auch dieser Spruch gilt nur mir und ist in voller Kompetenz nur mir selbst vernehmbar. A u d i ihn vernehme ich unter Umständen in steigender Deutlichkeit. Zu unserer Überraschung zeigt das Neue Testament, daß dessen Aussagen über das Gewissen überwiegend das „gute Gewissen" im Auge haben. So lehnt Paulus die Kompetenz eines fremden Gewissens in Sachen seiner eigenen Frei-
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II. Das sittliche Bewußtsein
heit ab und will sich seine christliche Freiheit vom guten Gewissen bestätigen lassen: 1 Kor 10, 29 f. vgl. auch 2 Kor 1, 12. Im übrigen gilt in der Tat die Beobachtung von Martin Dibelius (Handbuch zum Neuen Testament 13, Die Pastoralbriefe, 1931 2 , Exkurs zu 1 Tim 1 , 5 ) : „Der Begriff ,gutes Gewissen' erweist sich als Kennzeichen einer literarischen Schicht", was natürlich nicht nur auf eine gewisse Verbürgerlichung des Christentums deuten muß, wie Dibelius meint, sondern auch mit der apologetischen Situation zusammenhängt, in welche die zweite Generation der Christenheit geraten ist. Die Echtheit der Phänomene wird dadurch in keiner Weise berührt. So begegnet der Begriff in den Pastoralbriefen viermal: 1 Tim 1, 5.19; 3, 9; 2 Tim 1, 3; ferner Apg 23, 1; 2 4 , 1 6 ; 1 Petr 3,16.21 und Hebr. 13,18.
Trotz der aufgezählten Kennzeichen, die ein echtes Gewissensphänomen erkennen lassen, werden bei diesem „guten Gewissen" doch audi sehr bezeichnende Unterschiede zum sog. „schlechten Gewissen" sichtbar. Zunächst muß es auffallen, daß sich dieses gute Gewissen nicht von selbst meldet, sondern nur, wenn man es befragt. Dem sog. „guten Gewissen" fehlt also die Spontaneität seiner Kundgabe. Meistens sind es Gewissenszweifel, die durch Einreden, Angriffe, Verdächtigungen oder Verurteilungen unserer Worte, Handlungen oder Unterlassungen von anderen Leuten in uns erregt werden. Wir befragen dann unser Gewissen, d. h. wir lauschen in die Tiefe zurück, aus der wir sonst Gewissenssprüche empfangen. Das gute Gewissen begründet die innere Freiheit des Angefochtenen und stärkt sie. Es macht ihn unabhängig von den Vorwürfen, und sollte der Angefochtene mit seinem guten Gewissen ganz allein in der Welt stehen. Der Ruf des guten Gewissens, die Uberzeugung „Ich brauche mir nichts vorwerfen zu lassen" überzeugt natürlich niemals andere Menschen. Vor allem reicht das gute Gewissen nie weiter als zu einem rechtfertigenden Spruch in dem einen fraglichen Fall: Das war gut oder redit. Während das schlechte Gewissen dann durchstößt durch den Anlaß zu einer totalen Verurteilung des Menschen: „Du bist schlecht", kann das gute Gewissen niemals rufen: „Du bist gut". Es gibt also keine Parallelität zwischen dem guten und dem bösen Gewissen. Das sog. gute Gewissen hat sein Ziel erreicht, wenn es mich in einem konkreten Fall rechtfertigt und meine Unabhängigkeit vom sittlichen Urteil anderer Menschen sichert. Das böse Gewissen hingegen klagt mich selbst an. Das böse Gewissen ist nicht erledigt, wenn es gerufen hat. Es bezieht sich auf Geschehenes, das nicht ungeschehen gemacht werden kann. Das gute Gewissen bedarf keiner besonderen Erfüllung mehr, aber das böse Gewissen schreit zum Himmel. Es kann nur gesühnt oder getröstet werden. Die iustificatio impii, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden ist die Tröstung unseres Gewissens.
Die Erziehung des Gewissens
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4. Die Erziehung des Gewissens Der Mensch hat nicht vom Anfang seines Lebens an ein waches Gewissen. Vielmehr schläft das Gewissen in vielen Fällen bei Kindern, wenn es eigentlich rufen sollte. Wir alle kennen die Erscheinung aus eigener Erfahrung, daß man über einer Sache „noch nach Jahren" bzw. „erst nach Jahren" ein schlechtes Gewissen bekommt. Das Schlafen des Gewissens, das Ausbleiben eines Gewissensspruches, etwa bei Schülern, die ihren Lehrer bis zum Exzeß quälen, oder bei jugendlichen Verbrechern ist kein Gegenbeweis gegen das, was wir vom Gewissen gesagt haben, sondern es bezeichnet nur in sehr charakteristischer Weise eine infantile Phase der Entwicklung. Das Erwachen des Gewissens ist im Rahmen der menschlichen Entwicklung ein Vorgang von eigener Art und nach eigenen Gesetzen; er bezeichnet wohl erst den Eintritt der sittlichen Reife. Dodi sind religiöse Erweckungsbewegungen dann, wenn sie echt sind, durch spontane Erweckungen der schlafenden Gewissen ausgewiesen. Die Erziehung wird zur Weckung des Gewissens viel beitragen können. Natürlich hat eine bloße Belehrung gar keine Wirkung, und man wird sich das nicht so vorstellen dürfen, 'daß etwa ein Lehrer vor der Klasse für die Erweckung des Gewissens wirkt. Vielmehr handelt es sich gerade hier um unausgesprochene Einwirkungen, um so etwas wie atmosphärische Übertragung und Verlebendigung des schlummernden Gewissens durch eine sittlich wache Umgebung. Die Erziehung wird aber auch dadurch wirken können und müssen, daß bestimmte Maßstäbe und Inhalte des Gewissensrufes, besser: der bei anderen Menschen sichtbar werdenden Gewissenhaftigkeit erkennbar werden. Das Gewissen des unerweckten Menschen wird zwar dadurch nicht geweckt, daß ihm Maßstäbe des Gewissenslebens anderer Menschen sichtbar werden, die ihm nicht einleuchten. Wohl aber repräsentieren im frühen Stadium des Gewissenslebens für den sittlidi heranreifenden Menschen häufig äußere Autoritäten jene Instanz, die sich im Gewissen kundgibt. Da sidi der Gewissensruf auch im reifen Leben immer als etwas Elementares kundgibt, ist es nicht verwunderlich, wenn selbst bei alten Menschen die Gewissensinstanz sich erneut mit der Erinnerung an leibhaftige Autoritäten vermengt. Im Gedanken an Lehrer, Seelsorger oder die Eltern kann man hören: „Der würde sich im Grab herumdrehen, wenn er wüßte . . Das erstarkende Gewissen wird sich aus solchen Schranken, d. h. aus solchen Bindungen an leibhaftige Autoritäten lösen. Ja, das wache Ge-
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II. Das sittliche Bewußtsein
wissen ist die wichtigste Macht sittlicher und religiöser Emanzipation. Die großen Wendungen sittlicher und religiöser Entwicklung sind nur dadurch möglich, sie gewinnen dadurch überhaupt erst ihren Rang und ihr Gewicht, daß das Gewissen ihnen Zeugnis gibt. Unter der Sanktion des Gewissens gilt dann: Was mich früher gebunden hat, bindet mich jetzt nicht mehr; und was mich früher nicht gebunden hat, bindet mich jetzt. Das Gewissen schafft die Inhalte dieser Bindung nicht, aber es sanktioniert sowohl die Bindungen wie die Lösungen. Das Gewissen ist eine bindende und eine befreiende Macht. Daß in solchen Entwicklungen die Inhalte der Bindung völlig wechseln, tangiert die Selbigkeit des Gewissens nicht, aber es macht zugleich das Wesen solcher Entwicklungen aus. Das Gewissen kommt in solchen Entwicklungen durch die Abfolge solcher bindenden Instanzen geradezu erst zu sich selbst. Anders ausgedrückt: Die Phänomenalität des Gewissens ist von den Gegenständen, die von dem Gewissensspruch betroffen werden, unabhängig. 5. Zur Deutung
des
Gewissens
Die Versuchung ist groß, die sehr mannigfaltigen Gewissensphänomene in einer Wesensdeutung des Gewissens abzurunden. Wesensdeutung bedeutet hier eine metaphysische Frage. Als metaphysische Frage verstanden, führt uns freilich die Wesensdeutung über alle Phänomenalität hinaus ins Ungewisse. Die Fülle sich widersprechender Aussagen über das Wesen des Gewissens ist eine äußere Dokumentation der Unsicherheit, in die man sofort hineingerät, sobald man hier mehr sagen möchte, als man sagen kann. Es lohnt kaum, die verschiedenen Formen der Deutung des Gewissens in unserem Zusammenhang einzeln aufzuzählen und zu diskutieren. Im großen und ganzen kann man zwei Gruppen unterscheiden. Nach der einen stellt sich das Gewissen dar als eine von außen ins Dasein der Menschen hereintretende Macht. Darin spricht sich die an sich sehr zutreffende Erfahrung aus, daß der Gewissensruf nicht von mir stammt, sondern über mich ergeht. Die einfachste Form dieser Deutungen besagt, das Gewissen sei die Stimme Gottes. Man versucht also, die Anonymität des Gewissensrufes durch diese Deutung aufzuheben und dem „es ruft" ein Subjekt zu geben. Für diese Deutung des Gewissens als Stimme Gottes gibt es freilich keinen Grund in der Bibel. Komplizierter ist die Antwort der soziologischen Theorie, das Gewissen sei der Gesamtwille der Gesellschaft (Darwin u. a.), was dann von anderen noch biologisch-evolutionistisdi verdeutlicht wird: Das Gewissen
Zur Deutung des Gewissens
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sei der Niederschlag der Erfahrungen der Gattung von dem, was der Gattung oder dem einzelnen förderlich oder zuwider ist (ζ. B. Herbert Spencer u. a.). Audi hat man daran gedacht, daß sich im Gewissen die Erinnerung an Strafen vererbt hat, die durch viele Generationen hindurdi dem Täter für seine unsittlichen Taten auferlegt wurden, so daß sich im Gewissen „die Lust oder Unlust der Gattung über die Tat, die in uns zu Wort kommt", äußert (G. Simmel: Einleitung in die Moralwissensdiaft I, 1892, S. 409). — Die andere Gruppe deutet das Gewissen immanent, meist als Wirkung eines ursprünglich transzendentalen Vermögens, sei es als Intuition der angeborenen inhaltlichen Imperative oder als formale Kraft der Vernunft (Kant, Fidite) oder kraft des in der Geschichte zu sich kommenden Geistes (Hegel). Die Möglichkeit solcher immanenten Deutungen ist außerordentlich breit; sie kann auch auf ein unmittelbares Wertgefühl im Menschen rekurrieren (Nie. Hartmann). Die heute besonders einflußreidie Deutung des Gewissens durch S. Freud folgt in gewissem Sinne dem sozialgesdiiditlichen Deutungstypus. Sie findet sich an vielen Stellen seines Schrifttums, ζ. B. in: Das Unbehagen in der Kultur, V I I . u. V I I I . Die Autoritäten, bes. der Vater, setzen nach dieser Lehre willkürlich fest, was Gut und Böse heißen soll. Das Ich-Ideal identifiziert sich mit diesen Autoritäten und übernimmt die das Ich und sein Verhalten kritisierenden Funktionen. Das Uber-Ich, mit dem Ich-Ideal eins, sondert sich unter hoher Spannung vom Ich ab. Das Ich wird von Gewissensangst beherrscht. Diese Deutung dient heute nicht nur zu einer Entlarvung der repressiven Wirkung autoritärer Erziehung, sondern sie trägt auch eine tiefgreifende Kritik der öffentlichen Moral und des kollektiven Verhaltens. Ich verweise wenigstens auf H . Zulliger: Umgang mit dem kindlichen Gewissen, I 9 6 0 ' (Fischerb. 1969) — A. u. M. Mitscherlich: Die Unfähigkeit zu trauern, 1968 — A. Plack: Die Gesellschaft und das Böse, 1967. — Hier werden die Phänomene der Identifikation, auf die idi oben hingewiesen habe, zur Achse der Deutung des Gewissens gemacht. Aber die Phänomenologie des „unbedingten" Gewissensspruches rettet doch die Wertungssysteme von Gut und Böse niemals vor einer kritischen Nachprüfung. Und so wichtig die Analyse einer frühkindlidien Manipulierbarkeit des Gewissens ist, so wenig vermag doch diese Deutung die Phänomene zu entkräften oder gar zu erklären, daß das Gewissen in kritischen Situationen gerade die Emanzipation des Idi von der Bindung an bisher geltende Autoritäten sanktioniert.
Alle diese Deutungen haben aus der Phänomenalität heraus natürlich etwas für sich geltend zu madien. Aber sie überschreiten nach der einen oder nach der anderen Seite doch das, was hier vertreten werden kann. Einerseits heben die Deutungen die Letztlichkeit und Unübersteigbarkeit des Gewissensrufes auf, in der sich das Gewissen gerade dem Dasein des einzelnen Menschen gegenüber kundgibt. Der Anruf
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II. Das sittliche Bewußtsein
des Gewissens kann gegen alle vererbten Erfahrungen und Überzeugungen, gegen alles Bewußtsein der Gesellschaft als der eigentliche Zwang zur Emanzipation des einzelnen erfahren werden. Gleichzeitig aber sagen die immanenten Deutungen wieder zu viel. Sie kommen durchweg auf eine absolute Stellungnahme heraus und erklären insofern nicht, wie das Gewissen dem Menschen radikale Wendungen seiner Stellungnahme ermöglicht, und zwar dergestalt, daß sowohl die alte wie die entgegengesetzte neue Stellungnahme beide Male vom Gewissen sanktioniert worden sind. Insofern ist die Deutungsrichtung, die Martin Heidegger (Sein und Zeit § 54 fi.) einschlägt, indem er auf alle Metaphysik im älteren Stil verzichtet und auf das Dasein und seine rätselhafte Kundgabe im Gewissen selbst rekurriert, einleuchtend genug. Man wird natürlich einem Satz wie dem: „Das Dasein ruft im Gewissen sich selbst" keinen hypostatischen Rang einräumen können; trotzdem ist das Gewissen als Phänomen des Daseins hier gerade vom Anrufcharakter und seiner Bezogenheit auf unsere Schuld und auf die Sorge richtig gedeutet. Nur so kann man das Gewissen in seiner Instanzfunktion richtig begreifen. Lediglich was diese letzte subjektive Instanz passiert hat, die vom Gewissen bezeichnet ist, ist ethisch zu rechtfertigen. Umgekehrt ist keine Handlung, mag sie der Sadie nach noch so richtig und vertretbar sein, sittlich zu rechtfertigen, die gegen den Spruch des Gewissens unternommen wird. Der berühmte Satz des Paulus: „Was nicht aus dem Glauben geschieht, ist Sünde" (Rom 14, 23 b) bezeichnet präzis diesen Sachverhalt, wobei die pistis hier die subjektive Überzeugung bedeutet. Man wird dem Gewissen daher auch nicht mehr zumuten dürfen als dies, eine subjektive Instanz zu sein. Eine Überforderung des Gewissens erfolgt überall dort, wo man es gleichsam als ein Organ des Naturrechts deutet und ihm so etwas wie eine wegweisende Kraft im Gebiet der natürlichen Sittlichkeit zusprechen möchte. Ich sehe dabei von Belegen, die sich im theologischen Liberalismus reichlich finden ließen, ab und beziehe mich lediglich auf das klassische Dokument aus dem Goetheschen „Vermächtnis" („Kein Wesen kann zu nichts zerfallen" vom Febr. 1829): Sofort nun wende dich nach innen, Das Zentrum findest du da drinnen, Woran kein Edler zweifeln mag. Wirst keine Regel da vermissen: Denn das selbständige Gewissen Ist Sonne deinem Sittentag.
Entartungserscheinungen des Gewissens
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So großartig dieser Vers ist, so wird man leider doch zugestehen müssen, daß dem Gewissen keine prometheische Kraft zu eigen ist. Wo der Phantasie des Menschen nicht einfällt, wohin der Mensch in den „freien Raum" hinausschreiten soll, wird ihm das Gewissen das audi nicht sagen können. Das Gewissen kann nur die Taten begleiten, kann vielleicht dem Menschen eine Warnung bezüglich seiner Absichten geben, aber das Gewissen ist nicht selbst die schöpferische Phantasie und das zukunftweisende Wort. 6. Entartungserscheinungen
des
Gewissens
Gegen eine übersteigerte Einschätzung des Gewissens und gegen den Versuch, es als solches schon absolut zu setzen, spricht die einfache Beobachtung, daß das Gewissen in verschiedener Weise entarten kann. a) Die bekannteste Form der Entartung ist die, sich aus allem „ein Gewissen zu machen". Die kleinsten Anlässe des täglichen Lebens rufen einen wirklichen oder vielleicht doch nur vermeintlichen Gewissensruf hervor. Es ist die übertriebene Gewissenhaftigkeit, die Skrupulanz, die ja bekanntlich bei Manisch-depressiven in der Form des Versündigungswahnes das Erscheinungsbild der Krankheit mit bedingt. Über den Versündigungswahn vgl. K. Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, 19464, 89 f. In der Geschichte der Frömmigkeit ist die Erscheinung schon seit dem Mittelalter bekannt und wird in der Pastoraltheologie als Skrupulosität oder Skrupulanz bezeichnet. Es ist die ans Pathologische grenzende übertriebene Sündenangst, die aus kleinsten Anlässen in die schwersten Gewissensqualen und -ängste stürzt (vgl. hierüber Th. Müncker a. a. O., S. 216 ff., sowie LThK1 IX, 626 ff.; hier weitere Literatur).
b) Ebenso ist das Gegenteil zu den Entartungserscheinungen zu rechnen, nämlich die völlige Stumpfheit des Gewissens. In der Diagnose eines bestimmten Falles wird man der Frage nachzugehen haben, ob das Gewissen noch nicht erweckt ist wie bei Kindern oder Infantilen oder ob das Gewissen übertönt ist durch übertriebene Aktivität des Menschen oder durch ein Ubermaß an Eindrücken, die den Betreffenden noch nicht zur Ruhe kommen lassen, oder ob schlechtweg ein ethischer Defekt vorliegt. Handelt es sich um diesen, so muß in der Tat gefragt werden, ob der Täter als sittlich zurechnungsfähig angesprochen werden kann. c) Ein besonderer Fall von Abwegigkeit liegt vor, wo das Gewissen sich zwar normal meldet, wo aber der betreffende Mensch die Verantwortung für seine Taten vor der Instanz des eigenen Gewissensrufes abgibt. Er läßt sich von seinem Gewissen nicht ansprechen, weil
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II. Das sittlidie Bewußtsein
er die Verantwortung für seine eigenen Taten verleugnet. Was er getan hat, das hat er nach seiner Meinung nur im Gehorsam gegen Vorgesetzte, gegen die Partei, auch gegen kirchliche Obere getan. Man hat sein eigenes Gewissen suspendiert. Man hat dieses Gewissen an andere Instanzen verpachtet und hat sich selbst zum Funktionär gemacht. Wo solche Instanzen suggestiv auf das Gewissen einwirken, seine Kompetenz bestreiten und dem einzelnen Menschen das Gewissen förmlich wegnehmen oder umformen, kann man von einer „Manipulation" des Gewissens sprechen. Man ist nur noch ein Instrument, das so sehr auf seine eigene sittliche Würde verzichtet, so sehr seine Autonomie preisgegeben hat, daß man nicht einmal mehr sein Gewissen für sich selbst hat und diesem Gewissen Rechenschaft gibt. Bei dieser Manipulation des Gewissens handelt es sich nicht nur um eine Anomalie, bei der ohnehin abzuwarten bleibt, wie lange man sie aufrechterhalten kann. Es handelt sich vielmehr um eine Selbstentwürdigung des Menschen und um einen Verzicht darauf, als sittlich ansprechbares Individuum ernstgenommen zu werden.
9. Kapitel Der guteWille — Die
Gesinnung
Zur L i t e r a t u r : Grundlegend für die Analyse der Gesinnungen ist: A. Pfänder: Zur Psychologie der Gesinnungen, 2 Teile, (1913/16) 1922/30* (zuerst abgedruckt im Jahrbudi für Philosophie und phänomenologische Forschung, Bd. 1 u.2). Daneben verweise ich auf die schönen Untersuchungen über die Schicht der elementaren Sittlichkeit bei O. F. Bollnow: Einfache Sittlichkeit, (1947) 1968.4 Zum Problem der Gesinnungsethik vgl. H. Reiner : Der Grund der sittlichen Bindung und das sittlich Gute, 1932 — Ders.: Das Prinzip von gut und böse, 1949 — Ders.: Pflicht und Neigung, 1951 — Ders.: Gesinnung und Haltung, in: Die Sammlung, 1958, S. 292 fï. — W. Schulze-Sölde: Über das Wesen der Gesinnung, in: Zeitschrift für philos. Forschung, 1955, S. 431 ff.
1. Die Auseinandersetzung
mit dem
Eudämonismus
Seit Kant ist es zu einer Aufgabe der Ethik geworden, die Reinheit des Sittlidien dadurch zu sichern, daß man es unabhängig macht von allen materialen Elementen, also von der Rücksicht auf Nutzen und Zweck, überhaupt auf den Effekt der Handlung. Kant fragt danach, wie denn das Sittengesetz begründet werden kann, wenn es von allen
Die Auseinandersetzung mit dem £udämonismus
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fremden Faktoren unabhängig gemacht und auf sich selbst gestellt wird. So ist auch der an sich seltsame Titel „Metaphysik der Sitten" zu verstehen: daß nämlich die Ethik in ihrer eigenen Tiefe begründet werden soll, daß also keine fremden Stützen und Hilfslinien zur Begründung des Sittengesetzes herangezogen werden sollen. Kant hat in diesem Zusammenhang auf die Person und den guten Willen verwiesen. Der schon S. 93 erwähnte Eingang zur „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) ist die kürzeste Formel für diesen Gedanken. Warum hat diese These in der Geschichte der Ethik eine so revolutionierende Bedeutung gehabt? In ihr wird zum ersten Mal die Gutheit im sittlichen Sinn von allen außerhalb der Sittlichkeit liegenden Kriterien unabhängig gemacht. Wir müssen uns die Bedeutung dieses Vorganges vergegenwärtigen. Welcher Art sind denn diese außerhalb des Sittlichen selbst liegenden Kriterien für die Gutheit einer Handlung bis dahin gewesen? In der primitiven Form des ethischen Denkens ist es das Gesetz. Sittlich handelt, wer dem geltenden Gesetz gemäß handelt. Im Bewußtsein des Kindes tritt uns dieser Maßstab für Gut und Böse (brav und böse) unablässig entgegen. Kant hat dieses Denken und die ihm gemäße Sittlichkeit als Legalität bezeichnet und ihm die Moralität entgegengesetzt. Für die Ethik der Legalität entsteht dann die Frage, welchem Gesetz der moralisch handelnde Mensch zu folgen hat. Typisch und in ihrer Art klassisch ist die Auskunft von John Locke: Die Gesetze stammen von der öffentlichen Meinung, vom Staat und von Gott. Es liegt auf der Hand, daß der Hang zur Legalität allenthalben wirksam ist. Es ist auch die bequemste Moral; denn hier muß nicht lange überlegt werden, was denn sittlich sei, sondern man muß nur tun, was das Gesetz vorschreibt. Schon in der sich immer bewußter werdenden Aufklärung empfand man jedoch, daß die bloße Gesetzlichkeit für die wahre Sittlichkeit nicht genügt. Man fragte nach einem metaphysischen Grund der Moral und glaubte ihn im Wesen des Menschen zu finden. Dem entspricht die Grundstimmung der Ethik von Leibniz: zweckvolle Lebensbestimmung, Bewahren der Natur und Streben nach Vollkommenheit. Jede Vervollkommnung aber ist mit Lust verbunden. So kommt es doch praktisch darauf an, den Menschen auf vernünftige Weise darüber aufzuklären, welcher Art die beste, die vertretbarste Befriedigung seiner Lust sei. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, eine Geschichte des Eudämonismus auch nur in Umrissen zu geben. Es wäre sehr reizvoll. In ihm gehen nämlich die erhabensten Motive — die menschliche Vollkommenheit — mit der Bezugnahme auf recht hand8 Trillhaas, E t h i k
114
II. Das sittliche Bewußtsein
feste Ziele des menschlichen Handelns Hand in Hand: mit der Lust, dem Glück und dem Nutzen. Diese drei Motive sind natürlich begrifflich schwer zu trennen. Sie werden in der ethischen Theorie unterschieden, als ob es sich um drei verschiedene Systeme, um den Hedonismus, den Eudämonismus und den Utilitarismus handelte, die doch im Grunde, in den Wurzeln eins sind. Der Eudämonismus hat eine hohe Abkunft. Er ist die Seele der antiken Ethik, vor allem derjenigen Epikurs. Bei den älteren Moralisten der Aufklärung erhebt sich der Eudämonismus zu einer immer bewußteren Systematik. Was ist das Utile? Die Antwort liegt nahe: daß es dem Menschen gut geht. Diese Formel ist aus mehreren Gründen bestrickend: a) Sie knüpft an die Natur des durchschnittlichen Menschen und an seine Wünsche an. Der Eudämonismus ist ehrlich. b) In der eudämonistischen Formel haben Egoismus und Altruismus gleichermaßen Platz. Handelt der Egoismus von dem eigenen Nutzen und dem eigenen Glück, so ist der Altruismus auf Glück und Nutzen des anderen Menschen bedacht, c) Der Eudämonismus bringt, indem er den Nutzen des anderen Menschen bedenkt, ein wirklich ethisches Interesse zum Ausdruck. Natürlich ergibt sich nun ein Problem. Nicht jedermann strebt nach demselben Glück. Jeder strebt zwar nach Glück, aber dieses Glücksstreben ist doch nur unter bestimmten Bedingungen ethisch zu rechtfertigen. Man empfindet unmittelbar (ohne solche Bezugnahme auf ethische Evidenzen kommt auch die eudämonistische Ethik nicht aus), daß ein Glück um so mehr als ethisches Ziel zu rechtfertigen ist, je weniger das Glück des anderen darunter leidet. Und nun entsteht eine quantitative Rechnung. Es gilt nicht nur nach dem Glück zu trachten, sondern nach immer mehr Glück für möglichst viele Menschen, d. h. also nach möglichst viel Glück für die anderen zu streben. Jeremy Bentham hat — in Anknüpfung an Hutcheson — die klassische Formel für das Ziel der eudämanistischen Ethik geprägt: „The greatest happiness of the greatest number". Geht diese Rechnung aber nun schon auf? Auch die Eudämonisten werden ein bloß dem eigenen Selbst zugewendetes Glücksstreben gewiß ablehnen und fordern, daß man vor allem um das Glück des Nächsten besorgt zu sein hat. Aber dieser Ubergang vom eigenen zum fremden Glück oder — um es theoretisch zu formulieren — vom individuellen zum sozialen Eudämonismus läßt sich nicht mehr nur quantitativ begründen. J a , es ist eine Eudämonie im Sinn einer sittlichen Befriedigung denkbar, bei der ich mich selbst völlig ver-
Gesinnungsethik
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gesse und sogar aufopfere. Die großen Eudämonisten, Jeremy Bentham und John Stuart Mill, haben in ihrer Ethik noch förmliche Lustbilanzen, ein moralisches Kalkül aufgestellt, aber wie soll nun die sittliche Befriedigung, die in der Selbstvergessenheit, sogar in der Aufopferung gefunden wird, darin verankert werden? Mit anderen Worten: Der quantitative Maßstab genügt nicht. In irgendeiner Form muß ein qualitatives Element auch in die Rechnung des Eudämonismus aufgenommen werden. Die Höhe der Eudämonie, d. h. des erreichten Glücksgefühls, die Tiefe der Befriedigung wird in jedem einzelnen Falle qualitativ gemessen werden müssen, und der Maßstab, an dem der einzelne sein Glück mißt, kann aus dem Begriff der Eudämonie, des Utile, bzw. der Lust allein nicht mehr entwickelt werden. Das relative Recht des Eudämonismus bzw. der materialen Ethik soll unbestritten bleiben, um so mehr als hier wesentliche Schichten der Lebenswirklichkeit in der Ethik zu ihrem Redit kommen. Aber in einem letzten Sinn wird dann die Frage danach, was denn nun sittlich sei und warum es dies sei, aus den Voraussetzungen des Eudämonismus heraus nicht mehr entschieden werden können. 2.
Gesinnungsethik
Das Ergebnis wirft uns in der Beurteilung menschlicher Handlungen (actus) auf die Person zurück. Die Gesinnungsethik, die doch wohl in voller und folgerichtiger Reinheit erst durch Kant begründet worden ist, geht von dem Grundsatz aus: Über die sittliche Gutheit einer Handlung entscheidet nicht deren Nutzeffekt, Glück oder Unlust, sondern allein die Gesinnung, bzw. die Absicht oder der Wille des Handelnden. Damit ist die sittliche Qualität der Handlung von allen materialen Gesichtspunkten gelöst, soweit sie der Sphäre der Zwecke unserer Handlungen zugehören. Kant hat aber die sittliche Qualität der Handlung auch von einem anderen außerhalb ihrer selbst gelegenen Gesichtspunkt gelöst, nämlich: er hat sie unabhängig gemacht von der äußeren Übereinstimmung mit dem äußeren Gesetz. Seine Formel lautet: Nicht die Legalität, sondern die Moralität der Handlung ist entscheidend. Nicht ob wir einem von außen auf uns zukommenden Willen und Gesetz entsprechen, bestimmt über die Gutheit unserer Handlung, sondern allein die innere Ubereinstimmung des menschlichen Willens mit dem Sittengesetz. Damit sind so prägnant wie möglich die Grundsätze der Gesinnungsethik formuliert, die sich nach zwei Seiten hin als ein Programm der sittlichen Unabhängigkeit (Autonomie) darstellt. Man kann es mit s*
116
II. Das sittliche Bewußtsein
Kant kurz so ausdrücken: Gut im sittlichen Sinn vermag allein der Wille zu sein. Damit stehen wir vor einem entscheidenden ethischen Begriff, vor dem der Gesinnung. Was hat es mit den Gesinnungen auf sich? In den Gesinnungen ist die Art von Geneigtheit ausgesprochen, in der sich unser Idi zu bestimmten Menschen, zu Gegenständen oder Bereichen der äußeren Welt verhält. Wir legen uns in diese Gesinnungen hinein. Der liebende oder hassende Mensch ist in seinen Gesinnungen beschlossen, er ist aus seinen Gesinnungen zu erkennen. Es ist nichts zwischen dem Menschen und seiner Gesinnung. Die Gesinnung ist die unmittelbare Sprache seines Herzens. Freilich ist das Idi seinen Gesinnungen auch nicht willenlos hingegeben. Es kontrolliert und bewacht seine Gesinnungen. Es steuert seine Gesinnungen und strahlt sie aus. Das Ich wird sich seiner Gesinnungen bewußt. Es pflegt sie oder vernachlässigt sie auch. Wir müssen (mit Pfänder) aktuelle und virtuelle Gesinnungen unterscheiden. Aktuelle Gesinnungen sind nie ohne ein Objekt denkbar. Sie strahlen unmittelbar zu diesem Objekt hin. Sie können natürlich audi nachlassen. Sie können, besonders wenn das Objekt aus unserem Blick entschwindet, unaktuell werden und in Vergessenheit geraten. Man kann sie pflegen oder vernachlässigen. Davon sind die virtuellen Gesinnungen zu unterscheiden. Sie sind fortdauernde Dispositionen, die man auch als Typen des inneren Verhaltens bezeichnen könnte. So sprechen wir etwa von einer Gesinnung des guten alten Bürgertums, von Ritterlichkeit, vornehmer Gesinnung und dgl. Solche allgemeinen Gesinnungen liegen bereit, um dem Ich ohne langes Besinnen eine Reaktion auf bestimmte Erscheinungen zu ermöglichen. Virtuelle Gesinnungen werden dann von Fall zu Fall zu aktuellen Gesinnungen, die aber auch dann, wenn die aktuellen unaktuell geworden sind, als virtuelle weiterhin erhalten bleiben. Bezüglich der Stellung zum Gegenstand lassen sich die Gesinnungen (im Anschluß an Pfänder) etwa folgendermaßen einteilen: Wir sprechen von aufblickenden Gesinnungen der Verehrung, Hochachtung, Dankbarkeit und bereitwilligen Unterordnung; aber auch der Gegensatz gehört hierher: Ablehnung, Undankbarkeit und Auflehnung. — Auf gleicher Höhe des Idi mit dem Gegenstand kann man von „gleichblickender Gesinnung" sprechen. Es sind Zuneigung, Freundschaft, Liebe, Wohlwollen, Gunst; ebenso gehören hierher die Gegensätze: Abneigung, Feindschaft, Haß, Übelwollen und Mißgunst. — Schließlich
Die fundierende Bedeutung der Gesinnung
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sind die herabblickenden Gesinnungen zu erwähnen, ζ. B. Wohlwollen und Mitleid wie das Gegenteil: Verachtung und Grausamkeit. Diese schlichte Vergegenwärtigung der Mannigfaltigkeit des Gesinnungslebens hat dodi eine bestimmte Bedeutung für das Verständnis der Gesinnungen im ethischen Sinn. Gerade das Widerspiel, das jede mögliche Gesinnung in sich trägt, z. B. Liebe und H a ß oder Gunst und Mißgunst, Dankbarkeit und Undankbarkeit, zeigt, daß bei jeder Gesinnung eine Einstellung des Ich zugunsten einer anderen ebenso denkbaren Einstellung zurückgedrängt oder unterlassen wird. Aristoteles hat in der Nikomachischen Ethik (II, 6) von einem habitus des Wählens, von einer εξις προαιρετική gesprochen. Er gebraucht diesen Begriff im Blick auf die Tugenden. Er ist ebenso treffend im Blick auf die Gesinnungen. Wieweit dieses Vorziehen der einen Gesinnungseinstellung vor der entgegengesetzten Möglichkeit in der Helle des Bewußtseins lebendig ist, wieweit nicht, ist von untergeordneter Bedeutung für die Theorie der Sache. Praktisch kann es von großer Bedeutung sein, wieweit eine Gesinnung mit Willen und Wissen bewußt gepflegt, d. h. im Bewußtsein wach erhalten wird oder nicht. Das ist praktisch um so wichtiger, als ja, wovon gleich die Rede sein wird, auf den Gesinnungen Willensakte, Absichten, Entschlüsse und Handlungen aufgebaut werden sollen. Dadurch tritt der fundierende Charakter der Gesinnungen deutlich ans Licht. Es ist natürlich möglich, daß das Ich sich in seiner gesinnungsmäßigen Hingabe selbst vergißt und diese mangelnde Wachsamkeit auf die Dauer mit einem Verlust der Gesinnungen erkauft. Aber das Ich kann, trotzdem es sich ganz und gar in die Gesinnungen hineinlegt, diese Gesinnungen im wachen Bewußtsein behalten. Es kann der Gesinnungen bewußt inne sein und kann durch diese bewußten Gesinnungen geradezu zu sich selbst kommen. Ein waches Gesinnungsleben, d. h. eine Ordnung und Pflege der Gesinnungsbeziehungen nach den verschiedensten Seiten kann unerachtet dessen, daß wir uns in die Gesinnungen hineinbegeben, recht eigentlich zu einer Konstituierung der bewußten Persönlichkeit gereichen.
3. Die fundierende Bedeutung der Gesinnung Wodurch wird die Gesinnung zu einem ethischen Grundbegriff? Diese Frage ist nicht mit einer einzigen Antwort zu befriedigen. a) Die reine Gesinnung ist nicht erkennbar. Sie wird erst dadurch erkennbar, daß sie sich äußert, daß sie zu bestimmten Absichten führt, die dann in Entschlüssen und Handlungen realisiert werden. Es liegt aber in der Natur der Gesinnungen, daß sie auf solche Äußerungen
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II. Das sittliche Bcwußtsein
hindrängen. Dabei spielt es keine Rolle, ob man sich diese Äußerungen in Worten oder in Taten vorstellt, ob man also seine Gesinnung ausspricht oder in Handlungen ausdrückt. Jedenfalls werden die Gesinnungen erst im Zusammenhang mit solchen Äußerungen überhaupt für die Beurteilung greifbar. Daraus erwachsen besondere Probleme, denen wir im Zusammenhang dieses Kapitels nodi nidit nachgehen können und die wir dem folgenden Kapitel vorbehalten müssen. Für den Augenblick mag es genügen zu sehen, daß einerseits nur die geäußerten Gesinnungen überhaupt zum Gegenstand fremder Wahrnehmung und Beurteilung werden können. Zum anderen aber geht man bei der Wahrnehmung und der sittlichen Beurteilung von „Äußerungen" des Mensdien, sei es von Worten oder von Taten, unwillkürlich auf die Gesinnungen zurück. Es ist, als ob die Gesinnungen sich durch die Handlungen oder Worte hindurch als von diesen Worten und Handlungen unterschieden abheben würden. Und das entspricht der sittlichen Grunderfahrung des Menschen. Das Selbstverständnis des handelnden Menschen ist vor allen Entschlüssen und Handlungen seiner eigenen Gesinnungen inne und weiß, daß diese Gesinnungen selbst über den sittlichen Wert alles dessen entscheiden, was aus den Gesinnungen heraus geschieht. (Vgl. Kap. 10.) b) Gesinnungen sind die Träger der persönlichen Stellungnahmen eines Menschen. In ihnen wird sichtbar, wie sehr er selbst sittlichen Werten und Forderungen gegenüber aufgeschlossen ist. Wir meinen, in den Gesinnungen dem Menschen selbst zu begegnen. Das hat zur Folge, daß man bei gewissen Forderungen sittlicher Art eigentlich nicht unterscheiden kann, ob diese Forderungen an den Menschen selbst oder an Gesinnungen gerichtet werden. Bei den meisten Forderungen spielt dieser Unterschied keine Rolle. Aber es sind Forderungen denkbar, die sich sehr deutlich an das Gesinnungsleben des Menschen richten. Und zwar handelt es sich dabei um Forderungen, die bezüglich der Gesinnungen einen gewissen formalen Charakter haben. Eine ist folgende: Die Gesinnungen sollen klar und rein sein, ja, das Prädikat der L a u t e r k e i t wird schon durch den Sprachgebrauch wesentlich auf die menschlichen Gesinnungen bezogen. Wenn eine Gesinnung etwas taugt, dann sollte man durch sie hindurch dem Menschen ins Herz blicken. In seinen Gesinnungen haben wir den Menschen selbst; das setzt aber die Lauterkeit der Gesinnungen voraus. Denn diese Lauterkeit bedeutet nichts anderes als die Durchsichtigkeit der Gesinnung. Darum ist es ein Greuel, wenn ein Mensch Gesinnungen vortäuscht, die er gar nicht hegt. Die vorgetäuschten Gesinnungen werden als
Die fundierende Bedeutung der Gesinnung
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Heuchelei (Hypokrisie) bezeichnet. W i r meinen also mit Heuchelei das bewußte oder absichtliche Vortäuschen von Gesinnungen, die man nicht hat. Der Heuchler täuscht gute oder bessere Gesinnungen v o r ; denn er möchte sich einen sittlich wertvollen C h a r a k t e r beilegen, den er nicht hat, um Ansehen und Vertrauen zu gewinnen. Von der Heudielei ist zu unterscheiden die u n e c h t e Gesinnung. Diese Verkümmerung des Gesinnungslebens zur Unechtheit hat A. Pfänder förmlich entdeckt und a. a. Ο. I, 58 ff. genau beschrieben. Vgl. hierzu ferner Ph. Lersch: Das Problem der Echtheit, Zeitschrift für angewandte Psychologie, 1935, 145 ff., sowie W. Trillhaas: Die innere Welt, 1953, 50 ff. und 180 ff. Unechte Gesinnungen unterscheiden sich von der Heuchelei dadurch, daß sie subjektiv ehrlich sein können, aber sie reichen nicht in die Tiefe. Sie sind nicht im Personkern verwurzelt, sondern erschöpfen sich in dem gestus der entsprechenden Gesinnung, sei es der Sympathie, der Freundlichkeit oder der Gunst usw. Unechte Gesinnungen führen zu einem Getue, dessen Hohlheit aber mitunter dem Träger dieser unechten Gesinnungen gar nicht bewußt wird. So gibt es unaufrichtige Menschen, die ständig ihre Aufrichtigkeit und Wahrheit betonen und gar nicht verstehen können, warum ihre wohlberedineten Wahrheitsbeteuerungen ihnen nicht abgenommen werden, zumal diese Wahrheitsbeteuerungen in der Tat subjektiv ehrlich sind. Mit diesen unechten Gesinnungen darf nun allerdings eine andere menschliche Haltung nicht verwechselt werden. Es ist die V e r s c h l o s s e n h e i t . Niemand hat Anspruch darauf, daß ich ihm meine Gesinnung zeige. Es gibt sogar eine Pflicht, Gesinnungen zu verschließen. Diese Pflicht liegt auf allen Berufen, die eine gerechte und gleichmäßige Behandlung von verschiedenartigen Menschen erfordern. Es sind die Berufe des Lehrers und des Richters, und es gilt für den Vorgesetzten und den Examinator in jedem Beruf. Diese Berufe oder Funktionen erfordern eine Verhaltenheit im Zeigen der Gesinnung. Sie legen die Pflicht auf, sowohl Zuneigungen als Abneigungen zu verschließen; denn das eine wie das andere würde den Lehrer, Richter usw. in den Verdacht der Ungerechtigkeit bringen. Ebenso darf weder mit der Heudielei noch mit der Erscheinung der unechten Gesinnung die H ö f l i c h k e i t verwechselt werden, obwohl primitive Gemüter die Höflichkeit häufig für Heuchelei erklären. Indessen kann die Höflichkeit selbst ein Ausdruck jener Gesinnung sein, die auf einen reibungslosen Umgang audi mit schwierigen Menschen wohlmeinenden Bedacht nimmt. Höflichkeit kann als Zucht des Verhaltens eine Tugend sein, die sidi nach innen zu einer Zucht des Herzens fortgestalten kann. Aus Freundlichkeit der Mienen kann echte Güte werden. Das Lächeln der Asiaten, das sprichwörtlich geworden ist, ist ein Ausdruck ethischer Weisheit. Wenn der Mensch, wie wir sahen, in seinen echten Gesinnungen selbst darinnen ist, dann ist er für seine Gesinnungen verantwortlich. E r muß für seine Liebe, für seinen H a ß , für seine Verehrungen einstehen und die Folgen daraus auf sich nehmen. E r muß sich also zu seinen Gesinnungen bekennen. Auch derjenige, welcher seine Gesinnungen verschließen muß, darf doch nicht wider diese Gesinnungen
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II. Das sittliche Bewußtsein
handeln. So ist die oberste Gesinnung des Richters immer die Gerechtigkeit; es ist aber kein Unrecht, wenn ihn andere Gesinnungen hindern, gerecht zu sein. Er hat dann die sittliche Pflicht, sich als „befangen" für sein Richteramt zu erklären. c) Ein schweres Problem bleibt immer, ob man Gesinnungen fordern kann. Sind Gesinnungen geeignete Gegenstände, bzw. Inhalte von Imperativen? Diese Problematik ergibt sich aus zwei Gründen: Imperative, Pflichten können sich nur auf Handlungen beziehen. Ihre Befolgung muß kontrolliert werden können und vergleichbar sein (vgl. Kap. 7, 3). Gesinnungen haben etwas Wachstümliches. Sie entstehen als Widerspiel aus Erfahrungen, die wir mit Menschen oder mit ganzen Wertbereichen gemacht haben. Anders ausgedrückt: Gesinnungen haben immer ihre Gründe. Diese sehr allgemein gehaltene Problemstellung hat nun eine unmittelbar christliche Anwendung. Sie stellt nämlich das sog. Liebesgebot in Frage, das doch der exemplarische Fall von Gesinnungsethik überhaupt ist. Es ist die uralte Frage, ob man die Liebe fordern kann, wie es doch in dem Gebot der Heiligen Schrift vorausgesetzt ist: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Überdies ist es nicht nur das Liebesgebot, an dem die Problematik entsteht. Man kann auch an das Verbot zu sorgen denken (Mt 6, 25—34 par.) oder an das Gebot, dankbar zu sein. Man wird das Problem zunächst einschränken müssen. Viele Forderungen, die sich scheinbar auf Gesinnungen beziehen, sind tatsächlich auf Handlungen gerichtet. Sie lassen sich ohne Schwierigkeit so umformen, daß die erwünschte, erwartete oder geforderte Handlung siditbar wird. So ist ja auch die Anwendung des schrankenlosen Gebotes der Nächstenliebe (Lk 10, 27) eine Handlung, nämlich die Rettung und Pflege des Überfallenen am Wege nach Jericho durch den Samaritaner. In der Geschichte vom barmherzigen Samaritan wird auf die Handlungen und nicht auf die Gesinnungen der Beteiligten reflektiert. Der Mann befolgt das Gebot der Nächstenliebe, indem er entsprechend handelt. Ebenso ist in den meisten Fällen die Dankespflicht weniger eine Sache der Gesinnung als eine Angelegenheit der Abstattung des Dankes entsprechend der lateinischen Sprachform: gratiarum actio. Ferner ist daran zu erinnern, daß das Liebesgebot eine Forderung Gottes ist. Es ist keine Forderung, die ein Mensch an den anderen stellt; denn kein Mensch kann an einen anderen eine totale Forderung von sich aus richten. Gott kann es. Gott will unser Herz. E r kann den ganzen Menschen fordern, so wie es kein Mensch dem anderen gegen-
Die fundierende Bedeutung der Gesinnung
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über vermag. Die Forderung Gottes bleibt nicht dabei stehen, daß wir dies oder jenes Gebot erfüllen, sondern er greift durch alle Gebote hindurch und will unser Herz, er will — um mit Luthers Auslegung des Dekalogs zu sprechen — daß wir ihn fürchten und lieben. Dieser totalen Forderung des Herzens kann in der Tat nur in der Gesinnung des Herzens entsprochen werden. Aber es ist eben die Frage, ob wir hier von einer an sich bestehenden Forderung oder gar von einem kategorischen Imperativ sprechen können. Ich glaube das nicht. Vielmehr handelt es sich um die Einzigartigkeit der Beziehung Gottes zu uns. Auch für die Predigt ist es wichtig zu wissen, daß man Gesinnungen nicht befehlen kann. Selbst wenn es sich um die Forderung Gottes handelt, so wird dodi die Predigt dieser Forderung — um es einmal bei diesen Begriffen zu belassen — zu einer Forderung in Mensdienmund. Damit aber wird die Sache unklar. Bekanntlich reagieren auch die Hörer auf solche Postulate immer wieder mit dem berechtigten Einwand: Wie kann man denn Gesinnungen befehlen? Man kann es in der Tat nicht. Der Prediger hat in diesem Zusammenhang nämlich keine Befehle auszusprechen, sondern er, der ja als Prediger nidit an Gottes Stelle ist, sondern Beauftragter, d. h. Vermittler, kann nur mit Argumenten kommen. Er muß zeigen, warum wir zu den Gesinnungen der Liebe, der Sorglosigkeit, der Dankbarkeit Gott gegenüber Anlaß haben. Gesinnungen — so haben wir gesagt — haben etwas Wachstümliches; sie sind nie ohne Gründe. Der Prediger hat für die von Gott geforderten Gesinnungen die Gründe zu nennen. Und da alles Einsiditigmadien einen Appell an die Vernunft des Hörers bedeutet, so ist eben dieser Weg zu den rechten Gesinnungen ein Weg über die Gründe. Vernunft bedeutet hier: zu vernehmen, was Gott getan hat und was nun unser Herz bewegen kann. Wir gehorchen nicht blindlings einem Befehl, sondern wir beugen unser Herz dem Gewidit der starken Argumente Gottes. d) Die Ethik hat noch eine andere elementare Beziehung zu den Gesinnungen. Wir sprachen schon von der ganz allgemeinen Forderung, daß die Gesinnungen lauter sein müssen. Im allgemeinen Empfinden wird ebenso die Beständigkeit unseres Gesinnungslebens gefordert. In der Regel erscheint uns der Wechsel der Gesinnung als ein ethischer Mangel. Wir bezeichnen die Beharrlichkeit der Gesinnungen als Treue, und wir betonen gelegentlich zur Bekräftigung unserer gegenseitigen Verbundenheit die „unwandelbare Gesinnung". Daraus erklärt sich das allgemein verbreitete Mißtrauen gegen Konversionen und gegen Konvertiten, gegen Leute, die die Partei gewechselt haben. Freilich bedarf
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IL Das sittliche Bcwußtsein
diese Auffassung einer näheren Betrachtung. Wer seine Gesinnungen und Überzeugungen leichthin wechselt, der verrät dadurch in der Tat, daß sie bei ihm nicht tief und wurzelhaft begründet sind, sondern daß sie nur an der Oberfläche liegen. Man entnimmt dieser Beobachtung, daß man sich daher vermutlich auf den Betreffenden nicht verlassen kann, daß er kaum bereit ist, für seine Gesinnungen einzustehen. Echte Gesinnungen — wir sahen es — liegen in der Person selbst begründet und strömen aus ihr. Daher ist ein Wandel der Gesinnung auch ein Wandel der Person, bzw. ein Ausdruck solchen Wandels. Nun ist es aber möglich, daß jemand entdeckt, daß seine bisherigen Gesinnungen und Uberzeugungen des echten Grundes entbehren. Vielleicht waren sie in früheren Jahren wohlbegründet. Aber unmerklich haben sich die Gründe verschoben, ohne daß wir es recht beachtet haben. Wir alle halten ja bestimmte Stellungnahmen fest, ohne sie jedesmal von Fall zu Fall wieder auf ihre gute Begründung in die Tiefe zu untersuchen. So kann es vorkommen, daß durch Verlagerungen in der Tiefe unserer Überzeugungen solche Überzeugungen eines Tages in der Luft hängen. Ebenso ist es natürlich möglich, daß wir beispielsweise in jungen Jahren Überzeugungen auf Autoritäten hin übernommen und konventionell weitergepflegt haben. Prüfen wir sie dann auf ihre Gründe, so entdecken wir, daß wir für sie nicht mehr einzustehen vermögen. Dann ist der Wandel der Gesinnung geboten. Ein soldier Wandel der Gesinnung kann dann geradezu die Geburt der Persönlichkeit bedeuten; er kann bedeuten, daß der Mensch zu sich selbst, zu seinem eigenen Wesen kommt. Das klassische Beispiel dafür ist die Bekehrung. Sie ist die Abkehr vom Unhaltbargewordenen und die Heimkehr zum Eigentlichen und Wesentlichen: die Entdeckung der Wahrheit. Der Aufruf zur Bekehrung, mit dem Johannes und Jesus zu Beginn seiner Wirksamkeit in die Öffentlichkeit getreten sind: Μεταυοεΐτε drückt das aus. Er besagt: Ändert eure Gesinnung! und das bedeutet: Werdet andere, werdet neue Menschen! 10. Kapitel Das
Gute
und
das
1. Die sittliche
Richtige
Gutheit
Die Geschichte des sittlichen Bewußtseins der Menschheit zeigt eine eindeutige Richtung. Ursprünglich ist das sittliche Bewußtsein daran interessiert, daß die äußeren Handlungen mit bestimmten Gesetzen
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Die sittliche Gutheit
übereinstimmen. Es ist das Interesse an der Legalität der Handlungen, wie K a n t das ausgedrückt hat, ein Interesse, das wir in jedem kindlichen Urteil über das Gute wiederfinden. Aber es bleibt nicht bei diesem primitiven
Maßstab.
Mehr und mehr
verlagert
das
sittliche
Bewußtsein im eigenen Nachdenken sein Interesse auf die handelnde Person und ihre Gesinnungen. M a n entdeckt eines Tages: Die wahre Sittlichkeit bemißt sich nicht so sehr nach der äußeren H a n d l u n g und ihrer Wirkung, sondern nach der Gesinnung, die der Handlung zugrunde liegt. Im biblisdien Denken kommt das darin zum Ausdrude, daß die böse Lust, das Begehren, die concupiscentia die Wurzel alles Übels ist. Darum schließt der Dekalog mit dem Angriff auf diese Wurzel des Bösen: „Du sollst dich nicht lassen g e l ü s t e n . . . ! " Dementsprechend ist die Liebe die Wurzel alles Guten, und das Doppelgebot der Liebe befaßt alle einzelnen Gebote in sich und macht sie gleichsam überflüssig. In der Perikope vom Scherflein der Witwe (Mk 12, 41 ff.) ist das beispielhaft durchgeführt: Diese Witwe hat zwar in äußerem Betracht wenig eingelegt. Das Wenig gilt relativ zu den Beträgen, welche die anderen Tempelbesucher eingelegt haben. Man darf aber die Geschichte nidit so verstehen, als ob der Gegensatz nun der wäre: relativ zu dem, was sie zur Verfügung hatte, hat sie viel eingelegt! Dann käme ja die ganze Perikope nur auf einen Wechsel in der Prozentberechnung hinaus. Wir hätten dann eine gesetzliche Deutung, deren Anwendung darauf hinausliefe, einen möglichst hohen Prozentsatz des Vermögens jeweils zu stiften und die Geschichte würde dadurdi überdies eine reine Kollektenregel. Jesus hat offenkundig keine solchen unmittelbar „kirchlichen" Absichten gehabt. Was sich hier an der Tür des Gotteshauses ereignet, ist nur ein Probefall für die viel allgemeinere Regel: Gott will nicht euer Geld — da hat ihm diese Witwe nämlich sehr wenig geboten —, sondern er will euer Herz. Mit dieser Deutung ist die Geschichte nicht nur aus dem Banne einer gesetzlichen Deutung befreit, sondern sie ist auch aus den Schranken einer kirchlichen Kollektenrcgel herausgelöst. Sie sagt uns, daß Gott allein die Gesinnung, das Herz ansieht, nicht den äußeren Effekt der Handlung, audi nicht des „Opfers". Das höchste Prädikat, das man der sittlichen Gesinnung zubilligen kann, ist „gut". In diesem Sinne spricht K a n t v o m guten Willen. Dieses P r ä d i k a t ist deshalb auffällig, weil es einen allgemeinsten sittlichen Begriff darstellt. Es bedarf nach jeder Richtung der „Füllung" und Konkretisierung. Das Prädikat „ g u t " ist sozusagen noch nicht — weder psychologisch noch charakterologisch — verunreinigt. Echt kantisch ist also auch hier die Reinheit des Sittlichen durch die größtmögliche Allgemeinheit — um nicht zu sagen: begriffliche Leere — garantiert. Das Prädikat „ g u t " als Bezeichnung höchster sittlicher Qualität bereitet aber auch darum Schwierigkeiten, weil es nicht ausschließlich auf sittliche Tatbestände angewendet wird.
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II. Das sittliche Bewußtsein
Zunächst steht Gott selbst außerhalb aller sittlichen Kategorien. Gottes Gutsein ist ursprüngliche Vollkommenheit und kommt keiner Kreatur, nur ihm allein zu. Wenn Jesus auf die Anrede des reichen Jünglings antwortet: „Was nennt du mich gut? Niemand ist gut, nur der eine Gott" (Mk 10, 18), so bestreitet Jesus damit nicht seine Sündlosigkeit, sondern er nimmt das „gut" im theologischen Sinne und argumentiert: Wer ihn in diesem Sinne gut nennt, bekennt, daß er, Jesus, ganz auf Gottes Seite gehört. Wer das nicht weiß, der darf ihn nicht — im theologischen Sinne — gut nennen. Dieses Gutsein Gottes meint eben seine Vollkommenheit, seine unvergleichliche Heiligkeit, an der sein Gesetz (Rom 7, 12f., 16) Anteil hat, die wir aber nicht für uns in Anspruch nehmen können: Rom 3,12. Es handelt sich an dieser Stelle um ein alttestamentliches Zitat (Ps. 14, 3 LXX), also nicht um eine eigene Formulierung des Paulus, wodurch sich der Terminus χρηστότης anstelle von άγαθόν erklärt. Die Grenzen zwischen dem theologischen und dem ethischen Begriff von „gut" wurden durch Duns Scotus verwischt, der die unglückselige Frage ins Spiel brachte, ob Gott das Gute wolle, weil es gut sei, oder ob das Gute gut sei, weil es Gott so wolle. Duns entschied sich in diesem spekulativen Dilemma für die zweite Möglichkeit. Freilich hat bei Duns die potentia absoluta Gottes seine bonitas als Grenze und Maß, und die potentia absoluta ist zugleich die potentia ordinata, sie wirkt also nicht in schrankenloser Willkür. Trotzdem kann man es nur als einen verhängnisvollen Irrweg bezeichnen, daß hier das ethische Problem des Guten gleichsam in der Lehre von den göttlichen Eigenschaften verankert worden ist. Vgl. R. Seeberg- Lehrbuch der Dogmengeschichte III, 1913®, 578 f., N D 19594. Diese Verklammerung, die der spätmittelalterliche Voluntarismus vollzog und die ihn kennzeichnet, hat eine suggestive Kraft. Denn wer diese Klammer zu lösen unternimmt, gerät natürlich in den Verdacht, er wolle der Ethik behilflich sein, sich der theologischen Verantwortung zu entziehen und so etwas wie eine emanzipierte („eigenständige") Ethik zu entwickeln. Es ist aber kein Ausweis theologischer Einsicht, jede billige gedankliche Verkürzung zu vollziehen, nur um einem Verdacht auszuweichen. — Es bleibt dabei, daß die Ethik nur in dem begrenzten Bereich des Menschlichen gilt. Wir fragen nach der dem Menschen möglichen und erreichbaren Gutheit, nicht nach dem Gutsein Gottes. Das Gutsein Gottes kommt dem Schöpfer zu, von dem wir als Sünder und als Kreatur kategorial unterschieden sind. Menschenmögliche Gutheit kommt dem Willen, der Gesinnung zu, sie kann nur an personalen Trägern erscheinen. Wir gebrauchen den Begriff „gut" aber gemeinhin auch im technischen Sinne. In diesem Sinne ist gut, was für seine Zwecke wohl geeignet ist: ein Handwerkszeug etwa. Auch in dem Neuen Testament ñndet sich diese technische Bedeutung von αγαθός: Lk 8, 8 (guter Boden); Lk 23, 50 (ein wackerer Mann); 1 Petr 3, 10 (glückliche Tage). — Schließlich kann unser Begriff auch einen substantivischen Sinn haben:
Die sittliche Gutheit
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αγαθόν (bonum) ist ein Wertgegenstand im gewöhnlichen wie im höheren Sinne (Lk 1, 53; 12, 18; 16, 25). Als Wertträger kann das αγαθόν natürlich auch ein Gegenstand der Ethik werden, insofern man „Güter" um ihres Wertes willen begehrt und höherwertige Güter den geringeren vorziehen soll. Aber trotzdem ist auch dies nicht der reine sittliche Begriff des Guten, der eben keine Steigerung, keinen Komparativ und Superlativ erträgt. Wir bringen die Eigenart des sittlichen Begriffes in der deutschen Sprache dadurch zum Ausdruck, daß wir hier nicht von „Güte" sprechen, sondern von Gutheit. Audi die Güte kann ja in mehrfachem Sinne verstanden werden. Sie kann schlechthin irgendeine Qualität bezeichnen, sie kann aber audi eine bestimmte Geneigtheit zu anderen Menschen, Wohlwollen, „Gütigkeit" bezeichnen. Unser Problem liegt bei dem sittlichen Prädikat „gut", das in schlechthinniger Allgemeinheit und in einer gewissen inhaltlichen Unbestimmtheit, in sich nicht steigerungsfähig, nur dem Willen selbst und der Gesinnung zukommen kann und dort ein ethisches Urdatum darstellen soll. Diese Gutheit kann überhaupt nicht an Sachen haften. Sie kommt nur personalen Trägern zu, also dem Willen, den Ansichten, Gesinnungen, Entschlüssen und von da aus wohl auch im abgeleiteten Sinne den Handlungen einer Person. Die Person selbst mag dann gut geheißen werden, wenn sie sich eben in diesen Akten ganz zentral als „gut" ausweist. Aber ist denn der Mensch dieses Guten fähig? H a t er zu dieser Gutheit überhaupt Zugang? Diese Frage ist ganz eindeutig zu bejahen, auch im Sinne der Bibel. Das Gute soll getan werden. Bonum est faciendum. Das ist der Sinn des Gesetzes, vorab des Dekalogs. Ganz ohne Rücksicht auf seinen Charakter als Sünder hat der Mensch ferner die Möglichkeit und Fähigkeit, das Gute als solches zu erkennen. Wie sollte er sich denn anders schon dem Gesetz beugen und in den Gehorsam fügen, wenn er dieses ihm mitgeteilte Gesetz nicht als gut erkennen könnte (Rom 7, 12)? Die Obrigkeit kann nicht die Guten belohnen und die Bösen bestrafen, wenn diese und wenn die Obrigkeit selbst Gut und Böse nidit unterscheiden können. Das Schwertamt der Obrigkeit setzt die unmittelbare Einsicht in Gut und Böse voraus (Rom 13, 1—7; vgl. überdies Rom 12,9 u. 21; 15,2; 16,19; Gal 4,18; 6, 9f; 1 Petr 3,11). Es ist mit einer Evidenz des Guten zu rechnen, mit einer Evidenz dessen, „was sein soll". Trotzdem geht ein Bruch durch die sittliche Gestalt des Menschen. Es ist einmal der Brudi zwischen dem guten Willen und der Tat. „Wollen habe idi wohl, aber das Gute zu tun finde idi nicht". Der gute Wille
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II. D a s sittliche B e w u ß t s e i n
allein genügt nicht, wenn er nicht zur Tat führt. Erst die gute Tat wäre ja eine Bestätigung unserer vollen Gutheit. Die Meinung ist also diese, daß ein Wollen des Guten allein (Rom 7,18) ebensowenig genügt, wie das dem Guten Anhangen (Rom 12, 9), wenn keine Tat folgt. Ebenso genügen hinwiederum nicht die bloßen Taten, wenn unsere Gesinnung nicht bis auf den Grund dieses Gute widerspiegelt. Wo die guten Taten nur um des vernommenen Gesetzes willen geschehen, also aus einer so oder so gearteten Furcht, da fließen sie ja gerade nicht aus uns selbst. Und wo wir in einem Falle wirklich das Gute tun, hilft es uns nichts, wenn wir es nicht ganz und in allen Fällen tun (Gal 3,10; 5, 3). Paulus spricht daher Rom 7 von einem zweigeteilten Menschen: vom inneren und vom äußeren Menschen, von dem der will und dem der tut, bzw. von dem Gesetz in meinen Gliedern (meinem Fleische) und in meinem Sinn. Nun ist freilich nicht zu verkennen, daß diese Gedanken des Paulus zu unserer ursprünglichen Problematik nodi neue Gesichtspunkte hinzubringen, die uns hier nicht unmittelbar beschäftigen. Es sind vor allem zwei: Die Frage des Gelingens der sittlichen Tat. Sie muß unter dem Eindruck der mehrfachen Gebrochenheit des Menschen skeptisch beurteilt werden. Und es ist die Frage unseres Heilsverlangens. Da gilt: Auch die „guten" Taten, die in der äußeren Sphäre wohl möglich sind, rechtfertigen die Person nicht vor Gott. Beides gilt also: Der gute Wille führt nicht einfach zur Tat; und gute Taten beweisen nichts für die Güte der Absicht und des Willens. Unerachtet dieser Erwägungen bleibt freilich auch dies wahr: Der Mensch hat durchaus Zugang zur sittlichen Gutheit. Er kann das Gute erkennen und wollen. Ja, er vermag es audi zu tun, wie es — noch einmal sei es gesagt — nicht des christlichen Glaubens oder auch nur eines christlichen Kriteriums bedarf, um in der Sphäre der äußeren Handlungen Gut und Böse zu unterscheiden. Aber was hat es nun mit dem Guten auf sich? Wonach bemißt sich denn überhaupt dieser gute Wille, wenn er sich nicht nach der äußeren Legalität bemessen soll? Und ist es nicht eben dieser Bruch im Verhältnis von Wille und Tat, der uns auf das spezifische Problem der Gutheit des W i l l e n s aufmerksam macht, einer Gutheit, die eben aus der Beobachtung und Beurteilung der Tat allein nicht abgelesen werden kann? Dieser Frage haben wir uns nunmehr zuzuwenden. 2. Kritik der reinen
Gesinnungsethik
Zwei ethische Urphänomene sind es, die schlicht zugunsten einer reinen Gesinnungsethik sprechen.
Kritik der reinen Gesinnungsethik
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a) Es erzielt jemand mit seinen Handlungen vorzügliche Erfolge, die uns allen offenkundigen Nutzen bringen und durchaus verdienen, wegen der daraus erwachsenen Förderung als „gut" bezeichnet zu werden. Aber zugleich erkennen wir, daß diese Taten aus unreinen Motiven entsprungen sind, etwa aus Ehrgeiz oder Machthunger. b) Umgekehrt kennen wir alle den Fall, daß etwa ein Kind ein Geschirr zur Küche tragen möchte, um der Mutter zu helfen. Aber das Geschirr entgleitet seinen Händen und zerbricht. Diesem Kinde kann man zwar seine Ungeschicklichkeit vorwerfen, aber man kann ihm keinen ethischen Vorwurf machen; denn das Kind hat ja diesen Schaden nicht beabsichtigt, sondern hat helfen wollen. Beide Beispiele sprechen so eindeutig zugunsten der Gesinnungsethik, d. h. zugunsten einer ethischen Beurteilung nach dem Willen und der Absicht, daß keine weiteren Erörterungen nötig zu sein scheinen. Und doch melden sich bei näherem Zusehen einige Bedenken. a) Der Vorstellung vom „guten Willen" eignet — wir sahen es schon — eine eigenartige Blässe. Wann ist denn eigentlich eine Absicht, ein Wille, eine Gesinnung „gut"? Es gibt ja keinen in sich ruhenden Willen, keine in sich verschlossene Absicht. Absicht, Wille und Gesinnung sind nur als „auf etwas gerichtet" denkbar. Sie sind durch diese Richtung (intendo) charakterisiert. Ein Wille ist dann gut, wenn seine Intention gut ist. Man muß also auf die Ziele jener Absichten, jenes Willens blicken, um ermessen zu können, ob auch der Wille selbst gut genannt werden kann. Wir werden vielleicht zunächst ganz pauschal und vorläufig sagen, ein Wille, eine Absicht sei dann gut,wenn etwas Nützliches beabsichtigt, etwas Schädliches verhindert werden soll, oder dem anderen Menschen etwa eine Annehmlichkeit zugedacht ist. Dieses noch sehr elementare Beispiel kompliziert sich, sobald wir die Voraussetzung machen, es stünden zwei positive Zwecke vor uns und böten sich an, Ziele unserer Absichten zu werden. Dann wird sich die Gutheit des Willens darin erweisen müssen, daß wir das Wichtigere dem Unwichtigeren, das Wertvolle dem minder Wertvollen vorziehen usw. So abstrakt man sich auch den guten Willen mitunter vorstellt, es läßt sich doch nicht von der Hand weisen, daß der gute Wille auf Erfolg bedacht ist und eben in dieser Bedachtheit auf Erfolg liegt seine Gutheit beschlossen. Es stimmt eben nicht, daß die reine Gesinnungsethik auf die Beiziehung materialer Elemente in ihrer Argumentation verzichten könnte. Theodor Storm hat in epigrammatischer Kürze die Gesinnungsethik in dem bekannten Vers zusammcngefaßt:
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II. Das sittlidie Bewußtsein Der eine f r a g t : Was kommt danach? Der andere fragt nur: Ist es recht? Und also unterscheidet sich Der Freie von dem Knecht.
Dieser Vers mag richtig sein, wenn man ihn so versteht: Knechtische Gesinnung fragt besorgt danach, ob aus meinem Handeln f ü r m i c h ein Nachteil oder ein Vorteil erwächst. Abgesehen von einer solchen einschränkenden Interpretation aber ist der Vers unwahr; denn idi kann ja niemals bei meinem Vorhaben fragen, was redit sei, ohne zugleich die Folgen abzuschätzen, die durch die Ausführung meines Vorhabens f ü r andere Menschen, für Beteiligte wie Unbeteiligte und f ü r die Sache selbst erwachsen. — Eine ausführliche Analyse der reinen Gesinnungsethik und ihrer offenen und geheimen Voraussetzungen hat Max Scheler vollzogen in seinem Buch: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, (1913/16) 19665, S. 131—178. In seiner Sicht sind Gesinnungen aktuell erfahrbare Zuwendungen in Richtung auf bestimmte positive oder negative Werte. Absichten zielen hingegen auf einen bestimmten Erfolg. Im einen Fall handelt es sich um allgemeine Einstellungen, im anderen Falle um veranlaßte Einstellungen. — Vgl. ferner zu unserem Thema M. Weber: Politik als Beruf (1919), abgedruckt in: Gesammelte politische Schriften, 1921, S. 396 ff.; G. Weippert: Der Mensch als homo politicus, in: Aus Geschidite und Politik, Festschrift f ü r Ludwig Bergsträsser, 1954, S. 207 ff.; H . Reiner: Pflicht und Neigung, 1951; ders.: Gesinnungsethik und Erfolgsethik. Archiv f ü r Rechts- und Sozialphilosophie, 1952/53, S. 520 ff.
b) Jeder kennt die Erfahrung eines Mißerfolges, trotzdem die vorausgegangene Absicht gut war. Nun mag es wohl bei der Beurteilung eines fremden Mißerfolges (denken wir etwa an das Kind in dem oben erwähnten Beispiel) richtig, ja sogar geboten erscheinen, nicht den Mißerfolg, sondern den guten Willen allein unserem sittlichen Urteil zugrunde zu legen. Aber im Falle des eigenen Mißerfolges versagt dieser Ausweg. Die Berufung auf den eigenen guten Willen angesichts eines offenkundigen Mißerfolges wirkt einfach als Ausrede. Der gute Wille zielte ja auf einen bestimmten Erfolg, und wenn dieser Erfolg ausbleibt, dann fehlt unserem guten Willen vor unserem eigenen Forum der Ausweis vor der Öffentlichkeit, der durch eine bloße Beteuerung nidit zu ersetzen ist. c) Audi auf folgendem Wege schleichen sich unweigerlich materiale Gesichtspunkte in die reine Gesinnungsethik ein. Es ist der Gedanke an die Mittel, die idi zur Erreichung meiner Ziele, zur Verwirklichung meiner Absichten wähle. An sich stehen ja die Mittel häufig unter dem Niveau der Zwecke. Man denke an einen schmerzhaften ärztlichen Eingriff, der uns von Schmerzen befreien und unsere Gesundheit wiederherstellen soll. Trotzdem gibt es in der Wahl der Mittel ethische Grenzen. Sie sind sehr schwer allgemein zu beschreiben. Der Zweck ist zwar in der Absicht, im Willen schon irgendwie drin, wie wir sahen.
Kritik der reinen Gesinnungsethik
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Aber er „heiligt" dodi nicht unbedenklich jedes Mittel. Die Mittel dürfen in ihrem sittlichen Charakter dem sittlichen Charakter des Zieles nicht widersprechen, dürfen es nidit desavouieren. Anders ausgedrückt: Die Verantwortung des Handelnden begreift audi die Wahl der Mittel mit ein. Die Mittel sind nicht in jedem Falle unbedenklich, sondern sie sind immer mitzubedenken. d) Lasse ich hingegen die Verantwortung für die Mittel meines Handelns ganz und gar dominieren, so kann es in der Tat geschehen, daß idi das Ziel, den Erfolg meines Handelns gefährde. Es gibt einen Rigorismus in der Wahl der Mittel, der dem Handeln selbst einen gewissen „weltfremden" und wirklichkeitsfernen Charakter verleiht. Man denke an einen Arzt, der den sdimerzenssdieuen Patienten übers Maß schont, oder an eine tatsächlich praktizierte Widerstandslosigkeit im öffentlichen Leben, oder an einen Politiker, der aus idealen Vorstellungen von demokratischer Verantwortung oder Wahrheitspflicht keine Geheimverhandlungen dulden oder gar führen würde. Jeder dieser übergewissenhaften Vertreter einer reinen Gesinnungsethik würde sich doch schwer verschulden; denn er würde den Erfolg seines Handelns in Frage stellen. Man könnte füglich fragen, ob ein solcher ethischer Rigorist wirklich einen guten W i l l e n hat, oder ob er nicht vielmehr statt eines guten Willens ein gutes Meinen, ein gutes Möchten oder bloß Wünschen in sich trägt. Fassen wir nun diese vier kritischen Bedenken gegen eine reine Gesinnungsethik zusammen, so ergibt sich Folgendes. Je mehr wir uns — der Blickrichtung, der intentio des guten Willens folgend — am Ziel unseres Handelns orientieren, je mehr wir dieses Ziel und dann auch die Mittel unseres Handelns in unsere Verantwortung aufnehmen, desto mehr wird es zur entscheidenden Frage des Handelnden selbst, ob er r i c h t i g handelt. Im Sinne eines vertretbaren und wünschbaren Erfolges der Handlung und der Wahl vertretbarer Mittel tritt neben das G u t e als Leitgedanke für mein Handeln das R i c h t i g e . Neben die Gesinnungsethik tritt — um mit Max Scheler zu sprechen — die Erfolgsethik. Allerdings möchte ich dem von Max Weber stammenden Begriff der V e r a n t w o r t u n g s e t h i k den Vorzug geben. Die Gesinnungsethik führt zur Analyse der Entstehung der Handlung in der Persönlichkeit und ist an der Lauterkeit der Motive interessiert. Die Verantwortungsethik führt in Sachfragen hinein. Beide Denkweisen der Ethik stehen nicht in einem ausschließenden Gegensatz, sondern sind zur gegenseitigen Ergänzung bestimmt. Je mehr wir im Sinne der Gesinnungsethik an der Person bleiben, desto mehr bleiben wir 9 Trillhaas, Ethik
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II. Das sittliche Bewußtsein
im Allgemeinen, bleiben wir auch bei dem, was allen sittlich Handelnden gemeinsam ist: der Alternative von Gut und Böse. Je weiter wir unseren Blick von dem Personkern entfernen, je weiter wir selbst in der Richtung blicken, in der die handelnde, d. h. zunächst wollende, sich entschließende, ihre Mittel prüfende Person blickt, desto mehr lautet die ethische Alternative: Richtig oder Unrichtig. Es leuchtet ohne weiteres ein, daß diese Form der ethischen Alternative alsbald nicht mehr rein ethischer Natur ist. Sie ist — im Sinne Kants — „unrein" geworden. Sachfragen des jeweiligen Gebietes, das der H a n delnde zu verantworten hat, mischen sich ein. Wir werden das auf dem Felde der Gesellschaftsethik und der politischen Ethik noch besonders zu bedenken haben. Zugleich leuchtet ein, daß, so allgemein die Fragen der Gesinnungsethik sind, so ähnlich sie bei den verschiedenartigsten Menschen aussehen, die Fragen der Verantwortungsethik nun aufs höchste differieren. So verschieden wie die individuellen Menschen, so verschieden sind nun inhaltlich die Probleme ihrer jeweiligen Verantwortungen, bzw. ist das Ermessen, ob jeder einzelne in seinem eigenen und unvertretbaren Fall richtig oder unrichtig handelt. Ein Mensch, der richtig handelt, hat damit freilich nicht bewiesen, daß er gut ist. Er könnte ja auch um des bloßen Gewinnes willen oder aus Furcht, Ehrgeiz und Machtgier „das Richtige" tun. Es bleibt dann zwar das Richtige, und es bleibt auch weiterhin für uns eine wichtige Aufgabe, in exemplarischen Bereichen des Menschlichen über das Richtige nachzudenken. Aber die persönliche „Gutheit", um die sich die Gesinnungsethik zu kümmern hat, ist dann doch in anderen Räumen, und es mag gerade vom Standpunkt der Verantwortungsethik aus die Frage entstehen, ob etwa der gute Wille auch erkennbar sei, wer denn die richtige Instanz sei, diesen guten Willen anzuerkennen und den Menschen darin zu rechtfertigen, und es mag von der Verantwortungsethik her sich die Frage ergeben, ob man sich denn des guten Willens rühmen oder auch nur getrösten könne. Jedenfalls müssen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik einander ergänzen. Sie kommen nicht ohne einander aus. 3. Die Evidenz des Guten Die gute Absicht läßt sich keinesfalls ohne weiteres einem anderen Menschen einleuchtend machen. Um sich von der guten Absicht eines anderen Menschen zu überzeugen, müßte man sich in die innere Einstellung dieses Menschen, in seine Gesinnung hineinversetzen können, müßte seine Absichten und Entschlüsse kennen und nachvollziehen,
Die Evidenz des Guten
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müßte m. a. W. den geraden Durchblick von diesem Subjekt zu den Zielen seines Handelns haben. Dies ist aber nur in der Form der Einfühlung möglich, also niemals exakt und überhaupt nur in gewissen Glücksfällen. Ob eine Gesinnung und Absicht gut ist, ob eine Handlung notwendig aus dieser Gesinnung und Absicht hervorgeht, das ist angesichts einer fremden Handlung immer nur vermutungsweise und annäherungsweise auszumachen. Diese diagnostische Unsicherheit ändert aber nichts an der Richtigkeit der Wesenseinsichten, auf die es uns hier allein ankommt. Wenn wir also davon ausgehen, daß das sittlich Gute immer relativ zum materiell Guten, d. h. zum Richtigen ist, dann können wir bezüglich der Erkenntnis des Guten zwei Fälle annehmen, deren Unterscheidung sowohl theoretisch wie praktisch von erheblicher Tragweite ist. a) Im ersten Fall begegnet uns das Gute in unmittelbar überzeugender und bezwingender Weise. Wir stehen dem Guten gleichsam Auge in Auge gegenüber, ohne daß es audi nur einen Augenblick zweifelhaft ist, daß es das Gute ist. Ich denke zunächst an die Art und Weise, wie eine Forderung uns unmittelbar innerlich bezwingt, nicht aus Gründen praktischer Notwendigkeit, sondern eben aus unmittelbar wirkendem sittlichem Zwang. So fordert uns ein Verunglückter auf der Straße oder ein weinendes Kind unmittelbar zur Hilfe auf. Das Gute erscheint uns in unmittelbarer Evidenz. Angesichts des evident Guten wissen wir sofort: Das muß jetzt geschehen und sonst nichts. Das Gute und das Richtige — um in der Terminologie dieses Kapitels zu bleiben — fallen in solchen Fällen unmittelbar zusammen, sie werden eins. Man kann die Gegenprobe machen, indem man sich vorstellt, jemand würde sich dieser Evidenz nicht beugen; der Zuruf »Und da zögerst du noch?" käme unmittelbar einer sittlichen Verurteilung gleich. Es würde schon als ein ethischer Mangel erscheinen, sich dieser ethischen Evidenz nicht zu erschließen. Die sechs Barmherzigkeiten (nach Mt 25, 35f.) bzw. die sieben nach der kirchlichen Tradition, sind möglicherweise als exemplarische Fälle solcher ethischen Evidenz, in denen sich die Notwendigkeit des guten Handelns unvermittelt erschließt, aufzufassen. Damit ist nicht gesagt, daß ich in jedem Falle dieses evident Gute audi tue oder auch nur tun könnte. Der Nichtsdiwimmer sieht den Ertrinkenden, kann ihn aber nicht retten, und bei einem Großbrand jenseits des Flusses kann ich nicht eingreifen, obwohl ich in beiden Fällen wohl weiß, daß idi es tun müßte. Und wo man dieses evident Gute
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II. Das sittliche Bewußtsein
tut, ist noch nicht gesagt, daß ich midi selbst nun meiner Gutheit rühmen oder gar trösten könnte. Wir sind, wenn wir alles getan haben, was wir zu tun schuldig waren, nur unnütze Knechte (Lk 17,10), und die Belobigung und Belohnung über den frommen und getreuen Knecht zu sprechen, steht einem anderen zu (Mt 25, 23). Es bedarf nur noch eines Hinweises. Wir haben hier vom evident Guten nur in dem Sinne gesprochen, daß es das faciendum ist. Was wir ausführten, gilt aber ebenso vom Guten als factum. Wie das gute Gewissen mir sagen kann: Was du hier getan hast, war recht!, so kann sich der sittliche Charakter einer fremden Handlung vor unseren Augen als unmittelbar gegeben erweisen. Idi zweifle dann keinen Augenblick, sobald ich Zeuge dieser Handlung gewesen bin, etwa dieser Selbstüberwindung des Zornmütigen oder dieser Rettungstat, daß es eine sittlich gute Tat gewesen ist. Es geht dabei in keiner Weise um Lohn oder Ruhm, es geht nur darum, daß es auch in dieser Form möglich ist, daß wir, wenn auch vielleicht nur für flüchtige Augenblicke im Leben, des Guten unmittelbar ansichtig werden. Ich darf zu diesem Thema auf meinen Beitrag zur Festschrift für Hedwig Conrad-Martius hinweisen: Über sittliche Evidenz. Philosophisches Jahrbuch Bd. 66, 1958; K. E. Logstrup: Die ethische Forderung, (1959) 1968 2 ; G. Ebeling: Die Evidenz des Ethischen und die Theologie, ZThK 1960, 318 ff.
b) Im anderen Fall ist das sittlich Richtige nicht evident. Ich muß mich besinnen, muß eine Situation förmlich durchrechnen, um zu ermitteln, was das Richtige ist und worauf ich demzufolge meine Absicht richten soll. Und wenn ich selbst zu einer bestimmten Überzeugung gekommen bin, wenn ich meine, auf gutem Wege zu sein, kann ich doch nicht hoffen, daß zu dieser meiner wohlerworbenen Uberzeugung auch eine sittliche Evidenz wirksam ist. Diese mangelnde Evidenz ist häufig eine Erschwerung, wenn man glaubt, politische Entscheidungen aus sittlichen, nicht nur aus Zweckmäßigkeitsgründen fällen zu sollen. Man denke etwa an Entscheidungen über die Überführung von Privatbesitz in Gemeineigentum oder an die Fragen, die in Westdeutschland nach dem 2. Weltkrieg die Gemüter erregt haben, die der Wiederbewaffnung oder besonderer Rüstungsformen. Wer hier meint, eine ethische Evidenz annehmen zu müssen, der identifiziert nicht nur die sittliche und die politisdie Forderung, sondern er behaftet denjenigen, welcher hier keine Evidenz anzuerkennen vermag, mit einem sittlichen Mangel, obwohl ihm der andere vielleicht sogar in der sachlichen Entscheidung zu folgen bereit wäre. So entstehen große Verwirrungen, indem nicht nur eine Gegnerschaft in der Sachfrage aufbricht, sondern überdies eine — womöglich dieselbe — Entscheidung von den einen nur als eine politisdie Entscheidung aus rein sachlichen Erwägungen, von den anderen aus sittlichem Urteil und im Modus der Unbedingtheit gefordert wird. —
Zurechnung und Verantwortung
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Übrigens wird man audi auf sittlichem Gebiet mit dem Charismatiker rechnen dürfen, der die besondere Gabe (Gnadengabe) hat, komplizierte in einfache Situationen zu verwandeln und verworrene Fälle dergestalt zu siditen, daß sich auch anderen Menschen in ihnen eine sittliche Evidenz enthüllt.
Beim sittlichen Handeln kann man niemals auf die eigene Gutheit reflektieren. Man darf nicht auf sich selbst blicken, wenn man sittlich handeln will. Hierauf und auf die absurden Konsequenzen einer solchen Reflexion hat schon Max Sdieler hingewiesen: Formalismus, 120.
Man kann gewissermaßen immer nur von sich weg sittlich handeln. Unsere Reflexion kann und darf nicht der eigenen Gutheit, sondern nur der materialen Gutheit, d. h. praktisch dem Richtigen gelten. Wir bedenken, ob wir in der Wahl unserer Ziele auf „rechtem" Wege sind, ob wir uns in den Mitteln nicht vergriffen haben. Aber wir wissen inmitten des sittlich entscheidungsvollen Handelns nichts von uns. Es gilt auch hier jenes ausschließliche Vorwärtssehen, das Jesus dem in seine Nachfolge berufenen jungen Manne als Gesetz des Reiches Gottes sagt: Wer seine H a n d an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt zum Reiche Gottes (Lk 9, 62). Man darf sich gar nicht mehr um sich selbst kümmern, sondern nur noch um das Richtige. Alle Bedenklichkeit, auf diese Weise erneut in Sünde zu fallen, gilt nicht. Das ist der Sinn des vielzitierten Satzes von Luther: Pecca fortiter, sed fortius crede et gaude in Christo, qui victor est peccati, mortis et mundi (Enders III 208,118 ff.). In demselben Sinne ist es auch zu verstehen, wenn Luther für die Sittlichkeit jede Reflexion auf opus und meritum abwehrt. In dieser Reflexion nämlich orientiert sich der H a n delnde wieder rückwärts auf sich selbst, auf seine sittliche Qualität und auf seine Belohnungen. Er soll sich vielmehr nach vorne orientieren, und darum ist die Liebe die allein gültige Motivierung des christlichen Handelns. Sie bedeutet, daß man sich selbst vergißt und sich ganz und gar an die Sache, an den Nächsten hingibt. Die Gutheit der Person rückt damit merkwürdig aus der Mitte des Interesses. Sie ist nur noch die Sache eines fremden Urteils. Wie unsere Handlungen zu beurteilen sind, was unsere Taten wert waren, darüber richtet ein anderer. Im günstigen Fall wird uns in der Rechtfertigung die Gerechtigkeit durch Gott beigelegt. 4. Zurechnung und
Verantwortung
Von der Person bis zum Erfolg einer Handlung spannt sich ein weiter Bogen. Die P e r s o n ist in ihren G e s i n n u n g e n der
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II. Das sittliche Bcwußtsein
Zielsphäre der Handlungen grundsätzlich und allgemein zugewendet. Sie richtet bestimmte A b s i c h t e n auf künftige Handlungen und faßt E n t s c h l ü s s e , die sich in H a n d l u n g e n förmlich entladen. Je nachdem, ob diese Handlungen dann die in der Absicht gesetzte Erwartung erfüllen, sprechen wir von einem E r f o l g oder Mißerfolg dieser Handlungen. Wendet die Ethik ihren forschenden Blick aus der Welt äußerer Handlungen zu deren Ursprüngen, zur Person zurück, so charakterisieren wir diese Ethik als Gesinnungsethik. Nehmen wir hingegen den Standort unserer ethischen Überlegungen bei der Person und blicken von ihr aus hin zu den Zielen unseres Handelns, fragen, welche Ziele wohl ethisch gerechtfertigt sein könnten und welche Mittel wir zur Erreichung dieser Ziele vertreten können, so charakterisieren wir diese Ethik als Verantwortungsethik. Damit ist dem Begriff der Verantwortung eine zentrale Bedeutung zugestanden. Ihm entspricht der verwandte Begriff der Zurechnung, mit dem wir gemeinhin Verantwortlichkeiten feststellen und Personen bei ihrer Verantwortung behaften. Machen wir uns zunächst an zwei ähnlich gelagerten Beispielen klar, um welche Sachverhalte es sich hier handelt und welche Probleme an ihnen entstehen. E r s t e s B e i s p i e l : A übernimmt es, Β eine Mitteilung zu überbringen, da er sich in der Regel jeden Tag mit Β ohnehin an einem dritten Ort trifft. A kann aber diese Zusage nicht halten, da Β just an diesem Tage wider alles Erwarten an jenem dritten Orte nicht erscheint. Zwisdien die Absicht und den Erfolg ist also wider alle Voraussicht ein hindernder Faktor getreten. Dafür ist A nicht verantwortlich zu machen. Von seiner Seite ist alles geschehen, was er versprochen hat. Z w e i t e s B e i s p i e l : A übernimmt es, Β an einem anderen Ort binnen einer Stunde eine wichtige Mitteilung zu überbringen. Er ist bereit, zu diesem Zweck mit einem Fahrrad zu Β zu fahren. Aber er kann diese Zusage nicht halten, da er trotz höchster Eile erst nach zwei Stunden bei Β eintrifft. Er hat sich in der Entfernung getäuscht, obwohl er den Weg schon vor einiger Zeit einmal zurückgelegt hat. Dieses Versagen rechnen wir ihm zu; denn „er hätte es wissen können".
Aus diesem zweiten Beispiel geht nun hervor, daß jede Art von Zurechnung (imputatio) eine Einsicht in das Mögliche voraussetzt. Wir muten dem verantwortlichen Menschen eine bestimmte Einsicht zu. Worauf kann sich diese beziehen? Wir erwarten Einsicht in die eigene Kraft und Fähigkeit, in die gegebenen Möglichkeiten (ζ. B. die Weite des Weges, in entstehende Kosten usw.), in eingeflochtene fremde Interessen, in vorauszusehende Gegenkräfte, in absehbare Folgen meiner Handlung im Falle des Gelingens. Es gibt allerdings Menschen, bei denen eine solche Einsicht nicht vorausgesetzt werden und aller Voraus-
Zurechnung und Verantwortung
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sieht nach gar nicht erwartet werden kann. Die Eigenart dieser Einsicht liegt darin, daß sie gar nicht nur intellektueller, sondern in einer spezifischen Weise ethischer Natur ist. Es gibt hochintellektuelle Personen, deren ethisches Einsichtsvermögen gemindert ist, wie es intellektuell primitive Personen gibt, die über ein hohes Verantwortungsvermögen verfügen. Im großen und ganzen freilich kennt man die typischen Voraussetzungen der „mangelnden Zurechnungsfähigkeit". Kinder, Geisteskranke und abnorm Erregbare stehen nicht auf der vollen Höhe der Zurechnungsfähigkeit. Das ist aber nicht nur ein strafrechtlicher, sondern vorausliegend schon ein ethischer Mangel. „Einsicht" in das eigene Tun und seine Folgen ist ein unerläßlicher Bestandteil der sittlichen Persönlichkeit. Der Begriff der Zurechnungsfähigkeit spielt begreiflicherweise sowohl im Zivilrecht wie auch im Strafrecht eine erhebliche Rolle. Er muß in beiden Fällen möglichst genau definiert werden. Zurechnungsfähigkeit wird nur bei Erwachsenen (Volljährigen) und bei geistig Gesunden angenommen. Der Mangel an Zurechnungsfähigkeit (Unzurechnungsfähigkeit) ist im Straf redit ein Schuldausschließungsgrund, der Straflosigkeit zur Folge hat ( § 5 1 StGB im deutschen Strafrecht; ähnliche Grundsätze im österreichischen und schweizerischen Strafrecht). Für die Zuredinungsfähigkeit der Minderjährigen und Jugendlichen gelten in genau abgesteckten Altersgrenzen modifizierte Vorschriften, die uns in diesem Zusammenhang ebenso wenig beschäftigen können wie die Vorschriften über die Unterbringung in Pflegeanstalten, falls ein Unzurechnungsfähiger strafwürdige Handlungen begangen hat. Das verständige und kluge Verhalten hat im N e u e n Testament eine mannigfache Beschreibung gefunden. Mit ganz wenigen Ausnahmen, w o Paulus in ironischem Sinne von Klugheit spricht (z.B. Rom 11, 25 u. 12, 16) steht die Lebensklugheit, die Vorsicht im Sinne einer verantwortlichen Voraussicht überall in gutem Ansehen. Es sind vor allem die Wortstämme φρόνιμος (ζ. Β. Mt 7, 24; 10, 16; 24, 45; 25, 2 ff.; Lk 16, 8), σοφός und σοφία (ζ. Β. Rom 16, 19; 1 Kor 6, 5; Eph 5, 15; Jak 1, 5; 3, 13 ff., σωφρονέω κτλ. (ζ. Β. 1 Tim 3, 2; Tit 2 , 1 2 ) einschlägig.
Diese Einsicht begründet also sowohl die Zurechenbarkeit wie auch die Verantwortung. Beide Begriffe sind nicht ganz identisch. Der traditionelle Sprachgebrauch macht zwar in der Regel keinen Unterschied (respondere = vor Gericht antworten; responsibility). Bei dem Begriff der Zurechnung (imputatio) liegt folgende Vorstellung zugrunde: Der von einer Tat Betroffene oder aber auch ein unbeteiligter Dritter stellen eine Verursachung dieser Tat, eine Urheberschaft fest. Ich kann audi einem Tier oder einem Naturereignis etwas zurechnen, wenn idi etwa sage: „Dieser Brand ist nicht auf ein Verbrechen, sondern auf einen Blitzschlag zurückzuführen". Im Akt der Zurechnung blicke ich zuerst auf das Faktum und führe es dann, indem ida sein Zustande-
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II. Das sittliche Bewußtsein
kommen gleichsam in einem Rückgriff rekonstruiere, auf seine Ursadie oder auf seinen Urheber zurück. Das Problem der Zurechnung ist immer das Problem des von außen her Urteilenden. Sein Blick dringt nie ganz nach innen. Trotzdem sind zwei Gesichtspunkte geltend zu machen. Es erhebt sich einmal die Frage, inwieweit alle Faktoren, die zum „Faktum" selbst beigetragen haben, dem Täter unmittelbar zugerechnet werden können. Gesinnungen, Absichten und Entschlüsse des Täters sind ja bei der Tat nie alles. Nicht jeder Mißerfolg ist in schlechten Absichten oder in mangelnder Einsicht begründet. Nidit jeder Erfolg kann dem Täter als Verdienst angerechnet werden. Und es erhebt sich zweitens folgende Frage: Bis zu welcher Grenze kann man denn überhaupt einem Menschen Einsicht zumuten? Ein Politiker soll weitsichtig, vorausschauend sein. Aber wie weit soll denn der Blick des Politikers reichen? Man erwartet von ihm ein sachkundiges Urteil über die „voraussichtlichen" Entwicklungen, man erwartet vielleicht so etwas wie Divination von ihm. Aber man erwartet von ihm doch keine politische Prophetie. — Wieviel Einsicht kann man, darf man, muß man in der Demokratie von den Wählern erwarten? Offenbar rechnen wir mit einem exakt gewiß nicht mehr feststellbaren Horizont, bis zu dem einem verantwortlich handelnden Menschen eine solche Voraussicht bzw. eine Einsicht in die zu erwartenden Folgen seiner Handlungen zugemutet werden kann. Man kann jedenfalls ganz allgemein sagen: Mit der zunehmenden Entfernung der Wirkungen unserer Entschlüsse, mit der wachsenden Entfernung der Folgen unserer Taten von unseren Entschlüssen selbst, von unseren Absichten nimmt auch die Verantwortung des Täters und die Zurechenbarkeit seiner Taten ab. Wir sprachen zunächst vorwiegend von der Zurechnung. Uber die Zurechnung einer Tat läßt sich nachdenken, ohne daß der Täter von diesem Nachdenken etwas weiß oder zu ihm Stellung nehmen kann. Anders verhält es sich mit der Verantwortung. Sie setzt immer eine bewußte Teilnahme der Person voraus. Es gibt keine Verantwortung ohne das „Ich" des Verantwortlichen. Die Verantwortung entsteht, indem man die Pflicht zum Handeln, oder die Forderung, ein geltendes Gesetz, eine sich unmittelbar ergebende sittliche Notwendigkeit w a h r n i m m t . Zwar existieren solche Pflichten usw. auch „objektiv", d. h. ein Gesetz gilt auch, ohne daß ich davon weiß, eine sittliche Notwendigkeit zum Handeln ergibt sich, bevor ich von ihr Notiz genommen habe. Und doch ist der Fall einer
Zurechnung und Verantwortung
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vollen Verantwortlichkeit erst in dem Augenblick gegeben, in dem der Verantwortliche Pflicht, Gesetz, Notwendigkeit oder worum es sich immer handeln mag, zur Kenntnis genommen hat. Die Person muß sich der Pflicht stellen, muß sie nicht nur zur Kenntnis nehmen, sondern sie audi bejahen, sie muß „antworten". Es ist für alle Verantwortung und damit im Grunde für das sittliche Leben tödlich, wenn Verantwortung abgeschoben, geleugnet oder gar nicht empfunden, ja wenn sie vergessen wird. Nehmen wir für diese Bejahung der geltenden Verantwortung eine angemessene und normale Lage an, so wird sich zwar erweisen, daß inhaltlich keine Verantwortung der anderen gleicht, daß aber die gewissenhafte und je in ihrer Art sachliche Einstellung zu unserer Verantwortung die Menschen eint. Freilich gibt es nun hierbei Abweichungen nach oben und unten. Das Veranwortungsbewußtsein kann herabgemindert sein. Das Bewußtsein liegt dann unterhalb des normalen Standes, die Verbindlichkeit der Pflicht wird nur schwach oder gar nicht empfunden, sie wird einfach vergessen. Solche Menschen sind sittlich nur in sehr begrenztem Sinne oder überhaupt nicht ansprechbar. Das Verantwortungsbewußtsein kann aber auch übersteigert sein. Man kann natürlich sagen, daß in jedem einzelnen Fall einer bestehenden Verantwortung diese unsere Verantwortung keine angebbare Grenze kennt. Sie ist in ihrer Tragweite nicht abzusehen. Aber das bedeutet dodi nicht, daß unsere Verantwortung auch schrankenlos wäre. Man wird gut tun, sich die hier in Frage stehenden Unterschiede zu verdeutlichen. Die Verantwortung, die man beim Eingehen einer Ehe übernimmt, ist in ihrer Tragweite nicht abzusehen. Man muß bereit sein, bis zum äußersten für einander einzustehen. Zugleich ist dieselbe Verantwortung aber begrenzt; denn sie bezieht sich nur auf den Ehegatten. Wer es übernimmt, auf Kinder aufzupassen, und wäre es auch nur für wenige Stunden, kann nicht absehen, was diese Verantwortung von ihm fordert. Es ist denkbar, daß er in die Lage kommt, innerhalb dieser wenigen Stunden für diese Kinder sein Leben einzusetzen. Zugleich ist aber diese Verantwortung nicht unbegrenzt; denn sie bezieht sich nur auf diese anvertrauten Kinder und nicht auf andere oder gar auf alle Kinder überhaupt.
Wer seine Verantwortung ausdehnt über das Maß und die Grenzen hinaus, innerhalb deren seine Verantwortung gilt, verrät ein abnormes und übersteigertes Verantwortungsgefühl. Menschen mit solchem übersteigerten Verantwortungsgefühl kümmern sich um Dinge, die sie nichts angehen; sie greifen in fremde Ämter, worauf 1 Petr 4,15 möglicherweise anspielt. Stellt sich dann überdies heraus, daß sie diesem über-
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I I . D a s sittliche B e w u ß t s c i n
steigerten Verantwortungsgefühl nicht gerecht werden können, dann schlägt dieses ebenso in ein übersteigertes Schuldgefühl um. Wie die Zurechenbarkeit, so nimmt auch die Verantwortung mit der Entfernung der Wirkungen und Folgen unserer Taten vom Täter ab. Für die Beurteilung von Zurechenbarkeit und Verantwortung ist ein „ethischer Horizont" in Rechnung zu stellen, bis zu dem jedem sittlich verantwortlichen Menschen eine Einsicht in seine Taten und ihre Folgen, in Recht und Unrecht zugemutet werden kann, und jenseits dessen diese Zumutung erlischt. Dieser ethische Horizont ist aber nicht exakt festlegbar, er kann nur unter gerechter Erwägung aller Umstände und in angemessener Würdigung der Individualität jedes einzelnen ermittelt werden. Während alle Zurechnung etwas Rückschauendes hat, d. h. von gegebenen Folgen oder Fakten fragend zu deren Ursache zurückrechnet, appelliert der Begriff der Verantwortung an den Täter selbst. Er treibt ihn zum Handeln an oder fordert ihn auf, sich zu seinen Taten zu bekennen. Immer hat er seine Taten, gleich ob sie schon getan sind oder nicht, vor sich. Aber seltsamerweise wirft der Begriff der Verantwortung keine positiven Urteile ab in dem Sinne, daß wir uns der wahrgenommenen Verantwortung rühmen könnten. Das gilt nun aber nicht etwa einer irgendwie depravierenden „theologischen" Tendenz zuliebe, die noch einmal beteuern müßte, daß auch hier kein Verdienstgedanke Platz greifen darf. Es gilt vielmehr aus sachlichen Gründen. Im Begriff der Verantwortung ist ein Maß dessen abgesteckt, was wir zu tun schuldig sind. Wir können darunter bleiben, d. h. wir können unserer Verantwortlichkeit etwas schuldig bleiben. Wir können aber auch darüber hinausgehen in Räume, welche durch keine Verantwortung mehr beschrieben sind. Man denke etwa an den schaffenden Künstler; es ist keine Art von Verantwortung denkbar, die ihm sein Werk vorschreiben könnte. Der Verantwortliche aber ist gebunden an das, was er zu tun schuldig ist. Aus diesem Grunde allein ist es nichts Besonderes, wenn er es auch tatsächlich getan hat. Seine Befriedigung liegt nicht in der besonderen Leistung, sondern in dem „satis est", das freilich oft nicht minder schwer zu erreichen ist. Es ist das Genügen der Treue, die der Herr wahrnimmt und der er seine Gnade zuwendet (Mt 25, 21).
Lebensgestaltung
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Β. Die Verantwortung des eigenen Lebens 11. Kapitel Die 1.
Lebensziele Lebensgestaltung
Die ethische Überlegung jedes denkenden und verantwortlichen Menschen entscheidet sich an der allerpersönlichsten Frage: Was wird aus mir? Was kann ich und was soll ich werden? Wo will es mit mir hinaus? Welches sind die Ziele meines Lebens? Welche Ziele sind mir gesetzt? Welche soll ich mir selbst setzen? Religiös ausgedrückt: Wie können wir erkennen, was Gott gerade von uns, von mir erwartet, wie er mich haben will? Wir kennen diese Frage in der Tradition der neueren Ethik zunächst nur in der Form, in der sie von der deutschen Klassik und Romantik gestellt wurde. Hier war das sittliche Denken ganz wesentlich auf die Wahrnehmung des Individuums ausgerichtet. In der Klassik ist es neben Wilhelm von Humboldt vor allem Goethe selbst, der nach dem in der Individualität angelegten Gesetz fragt. Jedes individuelle Wesen bringt von seinem ersten Erdentag her das unabänderliche Gesetz seines Seins mit. Im ersten der „Urworte. Orphisch" ist es ausgesprochen: Wie an dem Tag, der dich der Welt verliehen, Die Sonne stand zum Gruße der Planeten, Bist alsobald und fort und fort gediehen, Nach dem Gesetz wonach du angetreten. So mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen, So sagten schon Sibyllen, so Propheten ; U n d keine Zeit und keine Macht zerstückelt Geprägte Form, die lebend sich entwickelt.
Das eigene Leben wird zum Kunstwerk und man befreit sich von der Last und den Leiden dieses Lebens, indem man es in der künstlerischen Wiedergabe und Neugestaltung von sich ablöst. So rückt vollends bei den Romantikern — etwa bei Friedrich Schlegel — die Ethik in das engste Verhältnis zur Ästhetik: die Selbstbildung des Menschen — ein Kunstwerk, das nicht ohne die ironische Distanz zu sich selbst gelingen kann. Diese Zusammenhänge sind dann erst bei dem größten späten Schüler der Romantiker, bei S. Kierkegaard, vor allem im 2. Teil von „Entweder-Oder" durchleuchtet und kritisch aufgelöst worden.
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II. Das sittliche Bewußtsein
Wir haben uns im allgemeinen von der Fragestellung und der Lebensauffassung der Romantik so gelöst, daß es fast kompromittierend wirken muß, eine eigene und heutige Fragestellung an diese Tradition anzuknüpfen. Dodi lohnt es sich, zu sehen, in welcher Form die individuelle ethische Frage hier erscheint. Wir haben vor allem an Schleiermacher zu erinnern, der in den „Monologen" (1800) ganzen Generationen voraus der Bedeutung der Individualität für die Sittlichkeit nachgedacht hat. „Jeder Mensdi soll auf eigene Art die Menschheit darstellen". Nach seinem Bekenntnis hat ihn der Gedanke der Eigentümlichkeit des Einzelwesens ergriffen. „Nicht lange beruhigte mich das Gefühl der Freiheit allein; ich fragte, warum doch die Persönlichkeit und die Einheit des fliehenden vergänglichen Bewußtseins in mir? Und es drängte midi, ein höheres Sittliches zu suchen, dessen Bedeutung sie wäre. Mir wollte nicht genügen, daß die Menschheit nur dasein sollte als eine gleichförmige Masse, die zwar äußerlich zerstückelt erschiene, doch so, daß alles innerlich dasselbe sei". Aus unzähligen Möglichkeiten gilt es, das Gesetz der Individualität herauszufinden. „Wo ich jetzt, was es sei, nadi meinem Geist und Sinn betreibe, da stellt die Phantasie, zum deutlichsten Beweis der inneren Bestimmtheit, noch tausend Arten vor, wie, ohne der Mensdiheit Gesetze zu verletzen, anders gehandelt werden konnte, in anderem Geist und Sinn; idi denke mich in tausend Bildungen hinein, um desto deutlicher die eigene zu erblicken" (Monologen, Sämtl. Werke I I I , 1 367 f.). Und so kommt es nicht darauf an, daß der eine dem anderen ein Gesetz auferlegt. „Frei sollte jeder jeden gewähren lassen, wozu der Geist ihn treibt, und nur sich hilfreich zeigen, wo es jenem fehlt, nicht seinem Gedanken den eigenen unterschiebend" (a. a. O. 386). Erst die Erfassung des eigenen Wesens und der eigenen Fähigkeiten ermöglicht es allein, unseren großen Beruf in der Mensdiheit zu verstehen und auszufüllen. Soll doch „jeder Mensch auf eigene Art die Mensdiheit darstellen" (a. a. O . 367). Dabei ist dem Denken der Klassiker und Romantiker mit dem kantischen Denken ein Interesse gemeinsam: es ist die Autonomie der Sittlichkeit. Das sittlidie Gesetz soll aus uns selbst, nicht anderswoher stammen. Aber sonst liegt die Differenz am Tage. Sie erwächst an dem Erlebnis, das jeder kennt: Eines schickt sich nicht für alle. Es ist die drängende Frage, der keiner ausweichen kann: Was ist meine Aufgabe, meine Pflicht im Unterschied zu der des anderen? Es ist die Einsicht, daß der Hinweis Kants auf die Verallgemeinerung der Maximen insofern fiktiv ist, als diese Verallgemeinerung ja tatsächlich nicht statt-
Die Lebensziele — Ordnung der Zielsphäre
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findet, sondern an der Verschiedenheit der Individualitäten, an der Unauswechselbarkeit der Lebenslagen, der Situationen anstößt. Mit der Wahrnehmung der Eigenart des Individuellen ist es natürlich noch nicht getan. Denn nun ergibt sich die Frage, ob denn dieses Individuelle selbst so etwas wie ein Maßstab sein kann, nadi dem wir die sittlichen Forderungen, die an uns gerichtet werden, erkennen, nach dem wir unsere Strebungen und Wünsche bemessen, unsere speziellen und aktuellen Pflichten unterscheiden können. Ergibt sich von der Einsicht in die Individualität eine spezifische Unterscheidung des Richtigen und des Unrichtigen, ja des in concreto Guten und Bösen? Gibt es Gesichtspunkte, nach denen wir das unserer Individualität Zukommende richtig wählen können, und sind solche Gesichtspunkte, wenn es sie gibt, auch ethisdi beachtlich? Wir stehen damit vor der Frage nach den Lebenszielen und ihrer Bedeutung für die Ethik und das heißt ganz unmittelbar für die Gestaltung unseres Lebens. Diese Fragestellung ist mit dem Untergang der Romantik audi wieder aus dem Gesichtskreis der Philosophie versdiwunden. Doch hat die Pädagogik dafür gesorgt, daß sie nicht ganz aus dem Blickfeld geriet. Idi erinnere statt mancher Dokumentation dieses fortdauernden Interesses am Individuellen an H e r m a n N o h l : Charakter und Schicksal. Eine pädagogische Menschenkunde, (1938) 1949 4 , wo die pädagogischen Ansätze der Fragestellung in glückhafter Weise in die Weite geführt sind. Ebenso haben Charakterologie und die anthropologische Richtung der neueren Psychologie das Interesse an der individuellen Auszeugung des Allgemein-Menschlichen wadigehalten, erneuert und vertieft. Wichtig ist Alexander P f ä n d e r : Philosophie der Lebensziele, aus dem Nachlaß herausgegeben von Wolfgang Trillhaas, 1948. Idi habe freilich Pfänders Positionen jetzt erheblich überschritten. Von der neueren theologischen Ethik hat, soviel ich sehe, nur Alfred Dedo Müller in seiner Ethik, 1937, 191 ff. unserem Problem Sorgfalt und Aufmerksamkeit gewidmet.
2. Die Lebensziele — Ordnung der Zielsphäre Nicht alle Ziele, die wir haben und die unser Leben bestimmen, sind Lebensziele. Wenn ich den Besitz eines bestimmten Gegenstandes wünsche und ihn kaufen möchte, so ist das ein Ziel, aber dodi kein Lebensziel. Wenn idi einen gekauften Gegenstand bis zum Ende des Monats abgezahlt haben will oder wenn ich im heutigen Tageslauf eine Stunde zu einer wichtigen Zusammenkunft erübrigen will, so können derartige Ziele nicht das Gewicht von Lebenszielen in Anspruch nehmen. Lebensziele hängen damit zusammen, daß und wie sich unser Wesen im Laufe des Lebens entwickelt. Diese Entwicklung ist ein lebendiger Vorgang, in dem das mensdilidie Subjekt sidi durdi eine
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II. D a s sittliche B e w u ß t s e i n
Reihe sinnvoller Veränderungen hindurch doch gleichbleibt. Mögen die Gestaltungen, die das sich entwickelnde Subjekt durchläuft, noch so verschieden voneinander sein, wie das in dem klassischen Beispiel der Raupe der Fall ist, die sich zur Puppe und schließlich zum Schmetterling verwandelt, so liegt doch diesem Wandel eine gleichbleibende Idee zugrunde. Aus einer Wurzel geht diese Entwicklung hervor, und das Entscheidende daran hat Dilthey mit dem Satze beschrieben, daß die Entwicklung in den Wirkungen mehr enthält, als in den Ursachen ist. Zudem gehört es zu jeder Entwicklung, daß sie nicht umkehrbar ist. Sie geht aus einem Anfang hervor und eilt einem geheimen Ziele entgegen. Es gibt keine Entwicklung ohne dies ausgesprochene oder unausgesprochene Ziel, und weil unsere Entwicklung als eine Entwicklung unseres Wesens erscheint, darum reden wir von Lebensziel. Freilich, was wir darunter begreifen, ist ein verwirrendes Vielerlei. Würde man einen Menschen nach seinen Lebenszielen fragen, so würde er, wenn es ein junger Mensch ist, seine Berufswünsche nennen. Ältere Menschen haben vielleicht den Wunsch, einen ruhigen Lebensabend zu haben, den letzten und endgültigen Wohnsitz an einem bestimmten ersehnten Orte aufzuschlagen. Für manchen ist es das geheime Ziel, sich auszuleben oder um jeden Preis die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Der eine will, wenn auch unter den größten Opfern, ein Werk schaffen, der andere will genießen; der eine will eine Welt, der andere sich selbst gestalten. Wie bringen wir nun in diese verworrene Welt menschlicher Zielsetzungen, in diese Sphäre vorschwebender Ziele, einigermaßen Ordnung? Es gibt verschiedene Gesichtspunkte, unter denen wir die möglichen Zielsetzungen unseres Lebens überschaubar machen können. a) Die Ziele unterscheiden sich n a c h d e m Realitätsgrad. Es gibt festumrissene, greifbare Ziele, Ziele, die man nicht nur sicher verwirklichen kann, sondern die sich der betreffende Mensch auch fest vorgenommen hat. Wir pflegen zu sagen: Der weiß, was er will! Von diesen Zielen unterscheiden sich nebelhafte, träumerisch erschaute Ziele, die eigentlich nur Wünsche, Utopien sind, die wir gleichsam als inneres Spielzeug behandeln, ohne daß wir ernsthaft an ihre Realisierung glauben; so etwa, wenn wir uns in die Goethezeit zurückwünschen. b) Hinsichtlich der R e l a t i o n zum Zielenden kann man reflexive und transzendente Ziele unterscheiden. Transzendente Ziele sind solche, die ich erreichen möchte, die also außerhalb meiner selbst vor mir stehen: ich möchte Italien kennen lernen, ich möchte mir ein Pferd kaufen. Wenn ich etwas werden möchte, liegt das Ziel in
Die Lebensziele — Ordnung der Zielsphäre
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mir selbst, es ist reflexiv. Idi muß auf mich selbst reflektieren, an mir selbst arbeiten, wenn ich es erreichen will. c) Nach der Q u a l i t ä t sind die Ziele positiv oder negativ. Im einen Fall möchte ich etwas erreichen, gewinnen, haben oder sein. Im anderen Fall ist das Ziel, daß etwas nicht sei, daß etwas um jeden Preis verhindert, etwas vernichtet werde. d) Gewisse Ziele haben ihrer N a t u r nach einen endgültigen Charakter. Es sind E n d z i e l e , Ziele, hinter denen kein weiteres Ziel mehr sichtbar werden kann. Diese Endziele aber setzen andere Ziele aus sich heraus. Diese tragen dann den Charakter von D u r c h g a n g s z i e l e n , so wenn ich ein Examen machen muß, um in einen Beruf einzutreten. Endziele fundieren Durchgangsziele, und an einem Endziel kann je nach Lage der Dinge ein ganzes System von vorläufigen Zielen, von transitorischen oder Durchgangszielen hängen. e) Die E n t f e r n u n g des Z i e l e s vom Zielenden kann sich sehr verschiedenartig erweisen. Nahziele sind in der Regel auch erreichbare Ziele, Ziele, die sich klar und deutlich abzeichnen und die auch einem Menschen ohne große Spannkraft zugemutet werden können. Fernziele setzen voraus, daß sich der Mensch überhaupt nach solchen ausstrecken, zu solchen Fernzielen aufschwingen kann. Für Menschen ohne diese ideale Spannkraft verdämmern häufig die Fernziele ins Irreale, ohne daß diese Fernziele ihrer N a t u r nach schon irreal sein müßten; sie sind es lediglich in Ansehung der Willensschwäche und Resignation des Zielenden. Hier wird sichtbar, daß wohl auch gewisse Differenzen des Zielens selbst, Unterschiede in der Wurfweite beachtet werden müssen. f) Schließlich unterscheiden sich die Ziele im Flusse der lebendigen Entwicklung eines Menschen auch bezüglich ihrer D a u e r h a f t i g k e i t . Es gibt Menschen, vor denen von früher Jugend an ein Ziel unveränderlich und unwandelbar steht. Von ihm mag der Vers Friedrich Rückerts gelten: „Vor jedem steht ein Bild des, das er werden soll. Solang er das nicht ist, ist nicht sein Friede voll". Davon unterscheiden sich andere Ziele, die flüchtig sind, vorübergehend. Das muß nicht auf Schwäche des Zielens oder auf ein wandelbares Gemüt deuten. Wir möchten etwa wieder einmal nach Hause kommen, aber doch nicht in der alten Heimat bleiben. Wir möchten seit langem einem bekannten Menschen einmal wieder begegnen, aber ohne uns mit ihm dauernd zu verbinden. Jedes Lebensziel kann unter diesen Gesichtspunkten begriffen und geordnet werden. Eine Mehrheit von Lebenszielen schließt sich gegen-
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II. Das sittliche Bewußtsein
seitig gar nicht aus, ja, es gibt von den selbständigen Zielen, den „Endzielen" her sogar ganze Zielsysteme, d. h. Bündelungen von Zielen, die sachlich miteinander eng zusammenhängen. Ebenso gibt es freilich auch Lebensziele, die sich gegenseitig ausschließen. Man kann nicht Bauer und Weltreisender zugleich sein. Jede Wahl innerhalb der Zielsphäre, jedes Sichverankern in einem Lebensziel setzt einen Verzicht voraus bzw. schließt ihn in sich. Keiner kann alles auf einmal wollen. Es ist die berühmte Resignation Goethes, die er 1802 in dem Sonett des Lauchstädter Vorspiels („Natur und K u n s t . . . " ) unvergänglich zum Ausdruck brachte: Wer Großes will muß sich zusammenraffen; In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister, Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben.
Dieser Verzicht hindert viele Menschen daran, die nötige Klarheit über ihr Lebensziel zu suchen, und veranlaßt sie, die ganze Frage des Lebenszieles im Dämmer der Unklarheit zu lassen. Aber „wer vom Ziel nicht weiß, kann den Weg nicht haben". Christian Morgenstern hat in den so beginnenden Versen (in „Wir fanden einen Pfad", 1925, 40) gezeigt, wie sich in der Erkenntnis des Lebenszieles Resignation und Gewinn für das ganze Leben verbinden. 3. Die Erkenntnis
des Lebenszieles
— Typische
Störungen
Wir meinen gewöhnlidi, daß die Lebensziele ebenso individuell verschieden sind, wie die Menschen selbst in ihrem Wesen verschieden sind. Das würde bedeuten, daß die Zielsetzung mit dem Wesen zusammenhängt, ja aus dem Wesen selbst sich ergibt. Dann ist die Frage nach den Lebenszielen eine Frage der Selbsterkenntnis. Es ist uns so, als hätten wir unser Lebensziel schon und müßten es nur noch erkennen. Dies kann freilich in verschiedener Weise gedacht werden. Es kann so sein, daß wir uns mit diesem Lebensziel krisenlos und kampflos innerlich einen, so wie in ruhigen alten Zeiten viele junge Menschen in den elterlichen Beruf, ja in Haus und Hof der Eltern hineingewachsen sind und darin die Erfüllung ihres Lebens gefunden haben. Es ist aber ebenso denkbar, daß nach langer oder kürzerer Irrfahrt das Ziel des Lebens plötzlich aufleuchtet, etwa im Anblick eines geliebten Menschen oder in der Erkenntnis eines Vorbildes. Nun ist das Ziel erkannt. Nun kann man es bewußt erfassen und ihm entgegenleben. Es wird nicht immer daran zu denken sein, daß der Mensch diese Erkenntnis seines Lebenszieles für sich selber leistet. Andere Menschen können stellvertretend das Ziel seines Lebens erkennen. Darin liegt die
Die Erkenntnis des Lebenszieles — Typische Störungen
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Verantwortung des Erziehers, die seine Kraft allerdings oft übersteigt. Auch in der Seelsorge können sich solche Notwendigkeiten ergeben, daß einer es für den anderen übernimmt, stellvertretend das Ziel seines Lebens zu erkennen. Aber wie dem auch sei, in jedem Fall sind wir der Meinung, daß das Lebensziel aus dem Wesen des Menschen erkannt werden muß. Es ist gewissermaßen so, als ob das Wesen des Menschen in Bewegung geriete, aus sich heraus in einer bestimmten Richtung Triebe entsende, die sich einem nodi undeutlichen Ziel entgegenstrecken. Aber damit ergibt sich eine neue Frage: H a t die Welt für die Entfaltung dieses Triebes bzw. für die Verwirklichung dieses Zieles Raum? Die Möglichkeiten der Welt sind beschränkt. Im Räume stoßen sich nicht nur die Sachen, sondern auch die Verwirklichungsmöglichkeiten für unsere Lebensziele. Die Welt hat nur für wenige Künstler Platz. Viele Blüten werden im Existenzkampf geknickt, Tausende von Idealen bleiben unerfüllt. Wir beobachten, daß der aus dem Wesen des Menschen sich heraustastende Trieb, der sich nach der Erfüllung des Lebenszieles ausstreckt, gewissermaßen im Spielraum der Möglichkeiten sich hin- und herbewegt, um eine Stelle zu suchen, wo er bleiben und sich entfalten kann. Mit anderen Worten: der subjektiven Seite entspricht eine objektive, und auf beide ist der Erkenntnisvorgang gerichtet. Man kann erst dann von einer Erkenntnis der Lebensziele im vollen Sinne sprechen, wenn für das aus der Subjektivität hervorgetriebene Lebensziel sich zugleich eine objektive Möglichkeit der Verwirklichung ergeben hat, wenn zwischen dem Individuum und der Welt gewissermaßen ein geheimes Einverständnis zustande gekommen ist über die Verwirklichung des Lebenszieles. In jedem anderen Falle kommt es zu einem tragischen Konflikt oder aber, wie das bei Tausenden von Menschen der Fall sein muß, zu einem Kompromiß: der Mensch muß sich fügen. Er muß sich den Notwendigkeiten beugen, aber das schließt nicht aus, daß er auch dann und dann erst recht zu seinem Lebensziel hindurdifindet. Mit der Erkenntnis des Lebenszieles ist es noch nicht getan; denn dieses Ziel ist ja nicht nur emotional zu verstehen, sondern es ist erst dann ein „Ziel", wenn es zum Gegenstand unserer Strebungen wird. Mag das Lebensziel nodi so richtig erkannt sein, erst wenn wir es uns als Ziel bewußt gesetzt haben, können wir es anstreben. Manche Menschen bringen die Kraft nicht auf, ihr Ziel tatkräftig zu erfassen, es sich vorzusetzen und anzustreben. Sie träumen sich in ihr Ziel hinein. Ihr Lebensziel verblaßt zum Wunschziel. Es verliert seine deutlichen Um10 T r i l l h a a s , E t h i k
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II. Das sittliche Bewußtsein
risse, es entrückt in eine utopische Ferne, der Mensch versinkt seinem Lebensziel gegenüber in völlige Kraftlosigkeit. Das Leben kann auf diese Weise den Zusammenhang mit seinem Ziel verlieren. Wenn das Ziel aber richtig erkannt und überdies bewußt gesetzt ist, so daß wir es anstreben können, dann können alle Teile, alle Elemente dieses Lebens zu diesem Ziel in Beziehung gesetzt werden. Man kann das dann den verschiedenen Stadien des Lebens, den Jahren, den Wochen, den Tagen, selbst den Stunden des Lebens ansehen, ob sie auf dieses Ziel hin ausgerichtet sind. Ist das der Fall, dann bezeichnet man dieses Leben als zielstrebig. Wir reden davon, daß das Leben einen „Sinn" hat. Es gibt eine Erfülltheit des Tages, die deswegen so beglückend wirkt, weil wir ein Vorwärts- und Näherkommen an das Ziel darin erleben. Einen solchen Tag, ja eine solche Stunde nennen wir „sinnerfüllt". Wir meinen dann mit diesem „Sinn" sowohl die Richtung auf das Ziel hin als audi einen spürbaren Fortschritt in dieser Richtung. Umgekehrt pflegen wir zu meinen, wenn der Blick auf unser Ziel hin uns verschlossen ist, so daß wir keinen Zugang zu ihm mehr haben, es hätten unsere Tage, es habe unser Leben keinen „Sinn" mehr. An der Unterscheidung der subjektiven Klarheit über das Lebensziel und der objektiven Möglichkeit seiner Verwirklichung ist uns bereits vorübergehend deutlich geworden, daß wir auf dem Weg zum Lebensziel mit erheblichen Störungen zu redinen haben. Von diesen Störungen soll nun zunächst die Rede sein. Der Weg zum Lebensziel wird damit bewußt begonnen, daß wir unser Lebensziel — so sahen wir — erkennen. Aber ist das ohne weiteres der Fall? Wir können uns über unser Lebensziel auch täuschen. Dies geschieht eben dann, wenn wir unser Ziel mit unseren Wünschen verwechseln. In Zeiten großer materieller Not kann es zum elementaren Wunsch werden, einmal wieder gut zu essen, menschenwürdig zu leben, von materiellen Sorgen frei zu sein. Aber ist das ein Lebensziel? Gewisse Annehmlichkeiten, die man erwartet, können uns über unsere Ziele täuschen. Wir können uns über unsere K r i f t e täuschen. Junge Menschen entwickeln in der Pubertätszeit vorübergehend künstlerische Fähigkeiten. Sie machen Liebesgedichte, meinen, sie seien Dichter, und täuschen sich über ihre Lebensziele. Besonders verhängnisvoll ist es, wenn Erzieher sich über die Begabung ihrer Zöglinge täuschen. In allen Schulen erben sich diese typischen Täuschungen von Geschlecht zu Geschlecht fort: spät reifende Kinder werden für unbegabt erklärt. Knaben, die mit Interesse eine Blecheisenbahn auseinanderlegen, werden für technisch veranlagt er-
Die Erkenntnis des Lebenszieles — Typische Störungen
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klärt. Gewisse formale Gewandtheiten werden für Begabung genommen. Welche verhängnisvollen Wirkungen muß es haben, wenn solche Erzieherurteile für das Schicksal junger Menschen ausschlaggebend werden! Es kann nicht genug zur Vorsicht, zum Mißtrauen gegen das eigene Urteil geraten werden. Immer und immer wieder muß der urteilende Erzieher sich alle Quellen möglicher Fehlurteile vergegenwärtigen. Aber nehmen wir nun an, das Lebensziel sei richtig erkannt, so ergeben sich weitere Störungsmöglichkeiten. Es ist möglich, daß die Durchgangsziele mit den Endzielen verwechselt werden und daß die vorläufige Befriedigung, die aus der Erreichung eines Durchgangszieles fließt, für die eigentliche Lebenserfüllung genommen wird. Die scheinbare Erfüllung unseres Lebenszieles nimmt uns die Kraft, dem eigentlichen Ziel weiter nachzustreben. Es ist aber ebenso möglich, daß im späteren Leben die Breite des Verweilens auf einer Lebensstufe zum Stillstand führt. Es ist die Gefahr Fausts, daß wir zum Augenblicke sagen: Verweile doch, du bist so schön. Es ist die Gefahr des Nachlassens. Die Ziele versinken, sie entfernen sich in die Wunschsphäre. Es ist aber audi möglich, daß der Glaube an das Ziel erlisdit. Das Ziel verliert seine Leuchtkraft, und der Mensch gibt ihm dann bewußt den Abschied. In der deutschen Geschichte haben wir in der Neuzeit diesen Vorgang in verhängnisvoller Weise erlebt. So hat etwa für viele Menschen das Hochziel der Humanität eines Tages seine Leuchtkraft verloren. Man glaubte, mit ihm nicht durchs Leben kommen zu können, und gab ihm bewußt den Abschied. Der bekannte Hohn auf die „Humanitätsduselei" gehört hierher. Dahinter verbirgt sich eine Tragödie. Es ist die Tragödie des Menschen, der sein Ziel nicht nur aus dem Auge verloren hat, sondern der ihm bewußt abgeschworen hat und es dadurch büßen muß, daß er ins Bodenlose versinkt und seine eigene Menschenwürde preisgibt. Die möglichen Störungen im Hinstreben auf das Lebensziel sind bis hierher nur vom Subjekt aus erklärt worden. Im realen Leben wiegen vielleicht die äußeren Hemmungen nodi viel schwerer. Größtmögliche Klarheit über das Ziel des Lebens, ja größtmögliche Energie des Strebens hilft uns nicht mehr, wenn schwere äußere Hemmungen und Störungen dazukommen. Vielleicht gelingt es einmal, soziale Hemmnisse grundlegend zu beseitigen und wirklich Tüchtigen den Aufstieg zu ermöglichen. Bis zur Stunde wiederholt sich in allen sozialen Variationen die Geschichte, daß einer aus Geldmangel, aus der Nötigung bald zu verdienen, um irgendeiner familiären Katastrophe willen von seiia»
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II. Das sittliche Bewußtsein
nem Ziel abgedrängt und in ganz andere Richtung getrieben wird. Man denke an die Kriegsschicksale, Vertreibungen, Trennungen, Verstümmelungen. Sie bedeuten in ungezählten Fällen, daß die Erfüllung eines Lebenszieles unmöglich geworden ist. Und dann die äußerste Möglichkeit, daß ein früher Tod, den wir in unserem Zusammenhang erst recht als vorzeitig, d. h. vor der vermeintlichen Erreichung des Lebenszieles eingetreten bezeichnen, alle Planung, alles Streben zunichtemacht. Ist uns das Problem der Lebensziele zunächst nur als Bildungsproblem gegeben gewesen, so stößt es hier auf die Frage des „Schicksals", auf metaphysische Probleme auf. Doch soll uns zunächst noch eine andere Frage beschäftigen. 4. Die Individualisierung
des Ethischen
Was hat das alles mit Ethik zu tun? Man könnte sich ja auf den Standpunkt stellen, daß das Erreichen des Lebenszieles über Glück oder Unglück entscheidet. Wer geworden ist, was er werden wollte und sollte, ist glücklich. Wer sein Lebensziel verfehlt, wer sich vielleicht schon von Anfang an in diesem Ziel geirrt hat, wer im Trachten nach diesem Ziel erlahmte oder vor der Zeit vom Schicksal am Weiterverfolgen des Zieles gehindert worden ist, ist unglücklich. H a t das etwas mit Ethik zu tun? Geht es in der Ethik nicht vielmehr um Gut und Böse? Man wird sich nicht täuschen lassen dürfen. Auch Glück und Unglück gehören in die Ethik. Es gilt nun einmal, ganz unabhängig von aller ethischen Theorie, daß wir den Menschen um uns her dazu helfen sollen, glücklich zu werden. Wer glücklich ist, kann Wärme, Glück, Freude und Zufriedenheit audi in seiner Umgebung verbreiten. Unglückliche Menschen sind leicht gehemmt, verbittert, neigen zu negativen Werturteilen und wirken auf ihre Nächsten hemmend, lähmend, bedrückend und verdüsternd. Es ist gar nicht zu leugnen, daß in diesem Sinn Glück und Unglück der Menschen unmittelbare Folgen für ihr ethisches Verhalten haben. Man kann zwar die Ethik nicht von Glück und Unglück her konstruieren, wie das der Eudämonismus ge an hat. Daß aber Glück und Unglück Themen sind, an denen keine Ethik vorbeigehen kann, das müßte außer Zweifel sein (vgl. auch Herman Nohl: Die sittlichen Grunderfahrung, (1939) 1949», 34 ff.). Trotzdem ergibt sich die Bedeutung der Lebensziele für die Ethik nicht nur auf dem Umweg über Glück und Unglück. Sahen wir doch schon, daß die Lebensziele selbst einer ethischen Bewertung unterliegen. Sie selber sind Gegenstand der ethischen Beurteilung. Es ist eine Frage
Die Individualisierung des Ethischen
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der Ethik jedes einzelnen Menschen, zu welchem Lebensziel er sich bekennen will und welche möglichen Lebensziele er aus seinem eigenen Zielstreben ausscheiden muß. Es ist eine Sache der Ethik, wie der Mensch sich zu seinem Lebensziel verhält. Die Erkenntnis des Lebenszieles ist ein ethisches Problem. Ebenso ist es ethisch von Bedeutung, in welchem Maß von Bewußtheit dieses Lebensziel „gesetzt" wird, welcher Akzent im alltäglichen Verhalten, das ja von Stunde zu Stunde auch mit sehr vielen anderen Gegenständen beschäftigt ist, gerade auf das Lebensziel gesetzt wird. Es ist eine Frage der persönlichen Ethik, in welcher Intensität der Mensch sein Lebensziel anstrebt und festhält und wie er es vermeidet, in der Linie seiner Lebensführung von dem Streben nach seinem als gültig anerkannten und bewußt gesetzten Ziel abzuweichen. Aber noch in einem anderen Sinn haben die Lebensziele f ü r die Ethik Bedeutung, und in diesem Sinne sind sie uns hier besonders interessant. Wir müssen nämlich vorbehaltlich aller näheren Klärung des Zusammenhanges feststellen, daß sich f ü r das Individuum je nach seinem eigenen Lebensziel das „Gute" relativiert. Was nämlich für den einen Menschen erstrebenswert ist, ist es f ü r den anderen nicht. Und wenn auch vielleicht das Gute, als Allgemeinbegriff genommen, f ü r alle Menschen gilt, so ist doch alsbald die inhaltliche Füllung dieses Begriffes so speziell, daß sie nur nodi für einen Teil der Menschen gilt, f ü r einen anderen nicht. Sich auf eine Anklage hin zu verteidigen, kann je nach den beteiligten Personen richtig oder auch unwürdig sein. Für den einen kann es richtig sein, nach hochgesteckten Zielen zu trachten, für den anderen, auf dieselben Dinge zu verzichten und sich zu bescheiden. Mit anderen Worten: An den Lebenszielen des Menschen entscheidet es sich, was ihm angemessen ist und was nicht. N u r was dem Menschen angemessen ist, ist auch für ihn sittlich wertvoll. Das, was ihm angemessen ist, kann für andere sittlich wertlos sein. Entscheidend d a f ü r ist immer zuletzt das Lebensziel. Unser ethisches Denken geht in der Regel von allgemeinen Begriffen aus. Wir haben einen allgemeinen Begriff von Pflicht im Auge, und das sittliche Gesetz ist für uns zunächst ein allgemeines Gesetz. Kant hat uns gelehrt, daß die Reinheit dieses Gesetzes sich danach bemißt, daß es die größtmögliche Unabhängigkeit von allen Bedingtheiten hat. Aber in seinen bekannten Formeln läßt sich ja die Problematik erkennen, die darin besteht, daß der einzelne sich dieses allgemeine Gesetz aneignen muß. Genau besehen, existiert diese Allgemeinheit selbst bei Kant nur als Hilfslinie. Die subjektiven G r u n d s ä u e unseres Handelns, die er als
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II. Das sittliche Bewußtsein
Maximen bezeichnet, sind dann sittlich gut, wenn sie es ertragen können, zum allgemeinen Gesetz erhoben zu werden. Tatsächlich sind sie aber als Maximen Grundsätze des Subjekts. Dieses Subjekt ist in seiner Situation allein, es ist nicht auswechselbar. Es ist Mann oder Frau, jung oder auf der Höhe der Kraft oder alt. Es steht in diesem oder jenem Lebenszusammenhang, hat diesen oder jenen Beruf. Nur so weit könnte seine Maxime allgemein anwendbar werden, als der andere Mensch in ebenderselben unauswechselbaren Situation steht. Die Generalisierbarkeit der Maximen ist also ein Hilfsgedanke, eine Hilfslinie, die im gelebten Leben so niemals realisierbar ist. Gebote und Gesetze sind immer etwas Allgemeines. Sie sind nach Nietzsche (Werke VI, 287f.) Tafeln, die über uns aufgehängt sind. Solange sie für uns nicht aktuell sind, haben sie keine Bedeutung für uns und belästigen uns nicht. Vater- und Mutterpflichten plagen den nicht, der kein Kind hat. Erst in der speziellen und individuellen Zuspitzung einer Pflicht fährt mir der Pflichtstrahl ins Gewissen. Aber es zeigt sich dann, daß die Forderung gar nicht unmittelbar von diesem Gebot ausgeht, sondern daß sie von einem Vorgesetzten, von einem Kinde oder sonst jemandem, vielleicht aus der Erwartung herstammt, die sich in einer bestimmten Situation auf uns richtet; das Gesetz selbst steht im Hintergrund, seine Befolgung wird jetzt „fällig", und wiederum die Sittlichkeit steht sanktionierend dahinter und darüber. Solange das Lebensziel noch nicht deutlich erkannt ist, kann es mir auch noch keine Pflichtstrahlen zusenden. Es ist noch nicht aktuell. Das ist die Lage des Kindes. Das Kind ist darum nicht glücklicher als der Erwachsene; denn Kinder sind noch empfänglicher für Angst und Freude, für Leid und Schmerz. Kinder finden in der Welt viel zu weinen, und man sollte darum die Kindheit nicht zu sehr idealisieren. Aber in einem unterscheidet sich doch das Kind grundsätzlich vom Erwachsenen: es lebt noch ohne letzte Pflicht. Vater, Mutter oder Lehrer geben ihm von Tag zu Tag seine Pflichten auf. Es muß angehalten werden, daß es diese Pflichten nicht vergißt, und wenn es diese Pflichten erfüllt hat, dann lebt es pflichtenlos. Die Welt des Kindes hat auf weite Strekken den Charakter der Unverbindlichkeit, d. h. nur das Kind vermag im Spiel zu leben. Wenn der Erwachsene sich dem Spiel ergibt, dann tritt er aus dem existenziellen Ernst seines Lebens für einen Augenblick heraus. Er begibt sich in einen anderen Bezirk, in dem nicht die Gesetze des „eigentlichen" Lebens, sondern die Gesetze des Spieles gelten. Hier schweigen die Sorgen, und darum bedeutet das Spiel für den reifen Menschen Entlastung und eine Pause des Daseins. Für das Kind ist die
Die Individualisierung des Ethischen
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Pflicht eine Unterbrechung seines Spiels oder doch seiner spielerisdien Existenz. Wenn der heranwachsende Mensdi in das verantwortliche Leben beruflichen Ernstes und dauernder Verpflichtungen hinübertritt, dann verengt sich der Spiel-Raum und das Verhältnis kehrt sich um. Der Mensch wird vor die Frage seiner Lebensziele gestellt. Der Blick geht weiter hinaus, den Zielen entgegen, und die Ziele blicken den jungen Menschen an und fordern ihn. Sie senden ihm Pflichtstrahlen entgegen, denen er standhalten und vor denen er sich verantworten soll. Gewiß hat er in den kindlichen Spielen vorgegriffen und den Ernst des späteren Lebens vorweg auszukosten versucht. Der Ernst war im Spiel und insofern war das Spiel „ernst". Wenn der Mensch aber hernach den förmlich aus der Ferne des Absoluten ihm entgegenkommenden Pflichtstrahlen ausweicht und ihnen nicht standhält, dann sinkt er ins Spiel zurück. Es gibt eine spielerische Haltung, die keine Verantwortung vor den Lebenszielen kennt, und aus diesem „Spielerischen" ist allerdings der Ernst gewichen, der im Spiel des Kindes war und der gewiß auch im echten „Spiel" des reifen Menschen sein kann. Das Kind hat ein Recht darauf, sich an das Spiel zu verlieren. Es kommt aber eine Zeit, wo dieses Spiel aufhört, das eigentliche Lebenselement zu sein. Wer das Leben spielerisch nimmt, der hat es „verspielt". „Wer mit dem Leben spielt, kommt nie zurecht". Über das Verhältnis von Spiel und Ernst finden sidi wesentliche und weitreichende Beobachtungen in der Spielphilosophie von J. Huizinga: Homo ludens, (1938) 1949 4 , bes. in Kap. I und II.
Neben dem „Verspielten", der sich dem Ernst des Lebens verweigert und immer gern in den Unernst, in Witz und Verstellung ausbiegt, stellt der „Spieler" sicher einen gewichtigeren Typus dar. Man wird ihn nur von der eigenartigen Unbefriedigtheit her verstehen können, die das geordnete bürgerliche Leben in ihm hervorruft. Der Spieler möchte die Grenzen der Bürgerlichkeit überschreiten, möchte den Pfahlbürger herausfordern und das, was er hat, aufs Spiel setzen. Man denke an das Leben junger Offiziere in entlegenen Garnisonen in alten Tagen, an Künstler, an Trinker und Schuldenmacher aller Art. Der Spieler lebt gefährlich mitten in einer geordneten Welt; es kann noch einmal gut gehen, möglich, daß er „sich fängt", aber es ist ebenso möglich, daß er sich entgleitet. Irgendwo hat auch der Spieler nicht vergessen, worauf er hinauswill, aber er zögert offenbar, sich in die unvermeidliche Zucht seines Standes zu fügen. In dem Spieler ist etwas verklemmt; denn er läßt die Rebellion seiner Vitalität gegen ein fades Leben vorherrschen, wo er doch den Blick für seine eigentlichen Möglichkeiten freibekom-
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II. Das sittliche Bewußtsein
men sollte. Irgendwie lebt in dem Spieler ein Ressentiment, von dem er nicht freikommt, er existiert „gegen" etwas, und die Unkraft einer überzeugenden Gestaltung seines Lebens bringt ihn in die Gefahr, sich seinem Lebensziel gegenüber zu verspäten. Der Abenteurer ist ebenfalls nicht ausgefüllt, vielleicht sogar angewidert von der Alltäglichkeit. Er lebt im Konflikt mit der friedlichen Ordnung und mit der Gesellschaft. Er verläßt sie und brüskiert sie. Er geht einer schwer definierbaren Sehnsucht nach, folgt einer Neugierde auf ein Unbekanntes, dessen Sein er nur vermutet. Der Abenteurer verzichtet auf alle Planung, er verläßt, was er hat, er wagt das in den Augen der guten Bürger Unvernünftige. Er fordert das Schicksal heraus, geht auf Entdeckungen. Alle großen Entdecker waren Abenteurer, und die, welche „Glück" hatten, gingen in die Geschichte ein. Aber der Abenteurer riskiert auch den Untergang. Er scheut die Gefahr nicht, ja, er verachtet sie. Der „Landsknecht" aller Jahrhunderte verkauft seine Dienste um einen geringen Sold. Der Abenteurer hat nicht, wie Abraham, eine Verheißung, wenn er seine Heimat verläßt; er geht ins Unbekannte. Und doch ist er, verglichen mit dem Spieler, die ernstere Gestalt. Er wagt alles. Und es ist nicht unmöglich, daß der Abenteurer schließlich einen großen Gewinn nach Hause bringt. Er ist eine Randgestalt der Menschheit; er erinnert die Menschheit daran, daß sie nicht den ganzen Preis eines gewonnenen Lebens von Planung und Ordnung erhoffen darf: das Lebensziel kennen wir nicht so sicher, wie wir es zu kennen meinen. Und vielleicht kommt es uns in unerwarteter Fülle entgegen. So gewann der Abenteurer Columbus Amerika. — Und wie der Abenteurer eine Randgestalt menschlicher Möglichkeiten ist, so ist der Gedanke des Glücks, an das der Abenteurer glaubt, eine sehr „heidnische" Randbemerkung zum Problem der Lebensziele. Vgl. Hierzu audi Hans Lipps: Die menschliche Natur, 1941, 119. 5. Das Lebensziel
und die Zwecke des Lebens
Der spielerische Charakter, in dem sich das Kind erstmals mit Lebenszielen überhaupt beschäftigt, offenbart sich darin, daß es vielerlei Möglichkeiten ausprobiert, indem es die eine Lebensform verwirft und wiederum eine andere für kurze Zeit wählt, um sie durchzuspielen. Je zahlreicher die Möglichkeiten des jungen Menschen sind, die er auskostet, desto geringer ihre verbindliche Kraft. Solche Lebensziele tauchen heute über dem Horizont auf, um morgen wieder unter dem Horizont zu verschwinden.
Das Lebensziel und die Zwecke des Lebens
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Im Laufe des Lebens, schon des jungen Lebens, ändert sich das. Es tritt eine Annäherung an das Ziel ein. Diese Annäherung ist doppelter Art: Der Mensch geht auf ein Lebensziel zu, er wählt es, er bejaht es, es kommt in ihm zum Akt der bewußten Setzung, wie wir oben sahen. Auf der anderen Seite erlebt es der junge Mensch, wie das Lebensziel nun auch seinerseits auf ihn zukommt. Er kann ihm nicht wie früher ausweichen. Der „Ernst des Lebens" wird spürbar, was sich unter anderem darin auswirkt, daß aus der Vielzahl jugendlicher Möglichkeiten eine nach der anderen ausscheidet. Der Spielraum möglicher Lebensziele wird immer kleiner, und der Mensch darf froh sein, wenn er am Schluß noch ein einziges Lebensziel übrig hat. Er darf von Glück sagen, wenn er am Ende seiner Reifezeit Auge in Auge seinem Lebensziel gegenübersteht. Dieses Lebensziel mag zunächst einen gewissen abstrakten Charakter haben. Es könnte darin bestehen, ein Mensch von einer bestimmten Art werden zu wollen, in einer gewissen allgemeinen Richtung tätig zu sein usw. Man wird sich das vom Menschen ins Auge gefaßte Lebensziel vielleicht gar nicht zu konkret vorstellen dürfen. Die Begegnung mit diesem Lebensziel hat aber jedenfalls zur Folge, daß es uns gewisse Zwecke zusendet. Aus dem Lebensziel werden ständig bestimmte Lebenszwecke entlassen, die allerdings der Konkretion nicht ermangeln. Durch diese Zwecke hindurch sendet uns das Lebensziel fortwährend Pflichtstrahlungen zu, kürzere oder längere, intensivere oder weniger intensive, positive oder negative, dauernde oder vorübergehende. Die Autorität dieser Pflichtstrahlen für den sittlichen Menschen beruht darin, daß sich hinter den fordernden Zwecken das Lebensziel verbirgt, dem sich der Mensdi verpflichtet weiß. Mag diese entscheidende Begegnung des Menschen mit seinem Lebensziel die innere Form einer freien und beglückenden Wahl haben, so bedeutet die Erfüllung der Pflichten, die uns das Lebensziel vermittels der Lebenszwecke zusendet, alsbald eine harte Selbstüberwindung. Das Lebensziel kommt über uns, und wir fühlen uns ihm nicht zu allen Zeiten in gleicher Weise gewachsen. In schwachen und müden Stunden müssen wir es uns etwas kosten lassen, ihm gerecht zu werden. Das Lebensziel nimmt uns vermittels der Lebenszwecke in Zucht, es hält uns, es fordert die Anstrengung aller Kräfte. Wir müssen uns diesen Lebenszwecken angleichen. Es wird nicht ohne Widersprudi abgehen, aber es kommt doch auch zu einer gewissen Technik, diesen Lebenszwecken gerecht zu werden. Die Erfüllung der Pflichtstrahlen, die bei aller Verschiedenheit untereinander durch einen gemeinsamen Sinn zusammengehalten werden, wird uns immer mehr zur Natur, bis
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II. D a s sittliche Bewußtsein
schließlich dieses Eingehen auf die Pflichtstrahlungen einen gewissen Habitus des Menschen zuwegebringt, eine Formung des Charakters, eine Bereitschaft der Gesinnung zur Erfüllung dieser bestimmten Pflichten. Wir pflegen das seit alters als Tugenden zu bezeichnen. Es ist von größter Bedeutung, die Unterscheidung von Lebensziel und Lebenszweck sich noch des näheren zu verdeutlichen. Das ist deswegen notwendig, weil es kein Menschenschicksal geben wird, dem nicht wenigstens einmal eine Vernichtung des Lebenszweckes widerfahren ist. Es sind jene Augenblicke, die jeder, sei es aus fremder, sei es aus eigener Erfahrung, kennt, in denen wir uns zu dem Urteil gezwungen sehen, unser Leben habe keinen Sinn mehr. Vergegenwärtigen wir uns das Gemeinte an einem Beispiel! Das Lebensziel einer bestimmten Frau war es etwa, ihre Mütterlichkeit auszuwirken, ganz und gar Mutter zu sein. Dieses Lebensziel wird darin konkret, daß diese Frau ein Kind oder viele Kinder hat, die nun ihren eigentlichen Lebenszweck darstellen. Aber nun kann der Fall eintreten, daß ihr das Kind genommen wird. Der Lebenszweck erlischt. Es sind die Augenblicke, in denen völlige Verzweiflung den Menschen überkommt. Wenn wir nun inmitten dieser Tragik eines solchen angenommenen Falles uns den Sinn des bisher Dargelegten vergegenwärtigen, so wird sich folgendes ergeben: Der L e b e n s s i n n , so sahen wir, bedeutet die Bezogenheit des menschlichen Lebens in allen seinen Teilen auf das Lebensziel. Aber dieses Lebensziel liegt über alle Lebenszwecke hinaus. Die Lebenszwecke sind uns ja aus dem Lebensziel heraus zugesandt. Sie repräsentieren das Lebensziel. Während sie vernichtet werden können, erweist sich das Lebensziel als unberührbar durch solche Schicksalsschläge. Man gewinnt eine entscheidende Einsicht: Das Lebensziel ist zu unserem Lebenslauf transzendent. Wir meinen zwar, es in unser Leben hineingenommen zu haben, aber es liegt trotz aller solcher Hineinnahme, trotz aller Bejahung und Setzung doch zuletzt jenseits. Nur deswegen vermag es auch, unser Leben wirklich zu bewegen und teleologisch in Gang zu halten. Auch wenn der Lebenszweck im Augenblick vernichtet zu sein scheint, kann es aus sich heraus immer wieder neue Lebenszwecke setzen. Das wird nicht sofort geschehen. Es tritt also nach solchen Schicksalsschlägen eine Pause ein. Diese Pause muß überwunden werden. Der Sinn dieser Pause ist, in Geduld abzuwarten, bis es dem Lebensziel gelungen ist, uns einen neuen Lebenszweck zuzusenden. Es könnte etwa in dem erwähnten Fall der Mutter darin bestehen, daß sie nun künftig vielen fremden Kindern mütterlich zur Seite steht und dadurch einen Lebenszweck bekommt, in dem sich ihr Lebenssinn
Der Glaube als Zumutung und Hilfe
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erfüllt, Mutter zu sein. Lebensziele im strengen Sinn haben also immer einen zum Leben transzendenten Charakter, die Lebenszwecke sind immanent. 6. Der Glaube ais Zumutung
und
Hilfe
Mit der letzten Erwägung sind wir zum zweiten Mal im Lauf unseserer Darlegungen an einen Grenzfall gekommen. Diese Grenzfälle sind für Überlegungen wie die unsrigen die eigentlich fruchtbaren. Es sind freilich zugleich auch die Fälle, die bei genauerer Analyse eine religiöse Betrachtung unausweichlich machen. In unserer Betrachtung der Lebensziele scheint sich nunmehr nämlich eine Drehung anzubahnen. Wir waren ausgegangen von der Tatsache, daß jeder Mensch sich einer Fülle von möglichen Lebenszielen gegenüber sieht, daß er es dann unternimmt, das ihm gemäße Lebensziel zu erkennen, auszuwählen, sich zu setzen und konsequent anzustreben. Er hat sich den Lebenszwecken, die das Lebensziel ihm zusendet, zu stellen. Aber wenn ihm das gelingt, so scheint er doch Herr der Situation, Herr und Gestalter seines Lebens zu bleiben. Nun sahen wir an dem zuletzt besprochenen Grenzfall, daß wir mit dieser Möglichkeit nidit rechnen können. Wir sahen den Fall, daß der Lebenszweck ohne unser Zutun zerstört wird und daß wir abwarten müssen, was aus der in ihrem transzendenten Charakter immer deutlicher werdenden Zielsphäre uns für Zwecke zugesandt werden. Mit anderen Worten: Wir erkennen, daß das Lebensziel gar nicht unser Produkt ist. Es ist nur scheinbar ein Gegenstand unserer Wahl. Ja, wir können es nur insoweit „wählen", als es uns „gezeigt" wird. Wir sind gar nicht Herren unseres Lebenszieles. Das Lebensziel wird uns gegeben. Gott zeigt mir mein Lebensziel und gibt mir Raum. Er gibt meinem Leben einen Sinn, und wir werden es als eine erste, aber grundlegende Folge unseres Glaubens an Gott betrachten müssen, daß er nicht bloß der Schöpfer unseres Lebens ist, sondern daß er zugleich jedem geschaffenen Leben auch einen Sinn gibt. Dieser Glaube schließt also zweierlei in sich. Er besagt einmal, daß Gott unserem Leben ganz persönlich zugewendet ist, d. h. daß wir einen „persönlichen Gott" haben. Und er besagt zweitens, daß in diesem Glauben an den persönlichen Gott eine Bejahung meines Lebens liegt. Das eine wie das andere ist zunächst eine Sadie des Glaubens und bedeutet, daß es nicht von Anfang an durch unsere Erfahrung bestätigt wird. Gott setzt unserem Leben ein Ziel. Er gibt ihm einen Sinn. Er gibt mir einen „Beruf" (vgl. hierzu Kap. 27, 1). Aber eben nach diesem Ver-
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II. Das sittliche Bewußtsein
ständnis wird nun das Lebensziel zum Ausdruck dessen, was Gott von uns erwartet. Schien es uns anfangs so, als sei das Lebensziel ein Gegenstand unserer Wahl, so wird es jetzt recht eigentlich unser „Schicksal", d. h. es wird uns gezeigt, es wird uns „zugeschickt". Bei aller inneren Einung mit dem Lebensziel behalten daher die Pflichten, die es uns durch Vermittlung der Lebenszwecke zusendet, einen eigenartigen Härte- und Fremdheitscharakter. Wir vermögen am Anfang unseres Weges bei der ersten Begegnung mit unserem Lebensziel, bei seiner Bejahung und Setzung noch gar nicht abzumessen, welche Pflichten es uns zusenden wird. Wir können ihr Gewicht, ihre Schwere noch nicht ermessen. So steht der zunehmenden inneren Einung mit unserem Lebensziel eine gleichzeitige Fremdheit desselben zur Seite. Wir haben es bei der Begegnung mit einer höheren Macht zu tun, und es gilt auch bezüglich des Lebenszieles in einem abgewandelten Sinne: „Da du jung warst, gürtetest du dich selbst und wandeltest, wohin du wolltest. Wenn du aber alt wirst, wirst du deine H a n d ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wohin du nicht willst" (Joh21,18). Auch der Begriff der Lebensführung erweist sich als doppelsinnig. Wir meinen zunächst, unser Leben selbst zu führen. N u n zeigt es sich, daß wir geführt werden. Wir mischen zwar in die Erkenntnis unserer Lebensziele immer wieder unsere Wünsche ein. Haben wir aber die neue Sicht auf unsere Ziele gewonnen, dann tritt eine Umbesinnung, eine Läuterung unseres Willens ein. Unsere Wünsche treten zurück, Gottes Wille tritt hervor. Das bedeutet nicht, daß unser Wünschen und Wollen darum umsonst wäre. Dies Wünschen und Wollen ist einer der stärksten Antriebe unseres Daseins. Es ist nicht umsonst in jedes Herz gepflanzt, und es wird ohne dieses starke eigene Wünschen und Wollen audi kaum zu einer Erkenntnis dessen kommen, was uns entgegen unseren eigenen Wünschen widerfährt. Wir sahen, daß man dann von einem „Sinn" des Lebens reden kann, wenn die einzelnen Strecken und sogar die einzelnen Augenblicke unseres Lebens auf das Ziel hin bezogen und von der Zielbezogenheit ganz erfüllt sind. Der Lebenssinn bezieht sich also nicht auf die Zwecke des Lebens, sondern auf ein ferneres Ziel. Deswegen kann eine Vernichtung der Lebenszwecke doch den Sinn des Lebens nicht ohne weiteres antasten, wenn es uns nur gelingt, audi die unvorhergesehenen Situationen, auch eine ganz aus den Fugen geratene Lebensführung, auch Leid und N o t auf den Sinn des Lebens hin zu ordnen. Das ist sehr schwer. Es ist deswegen schwer, weil das Ziel des Lebens um der erkannten Transzendenz willen ja nicht unmittelbar zugänglich, sinnen-
Der Glaube als Zumutung und Hilfe
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fällig und greifbar ist. Es ist, strenggenommen, ein Gegenstand unseres Glaubens. Die Schwierigkeit der Zielbeziehung kommt in soldien Fällen aber auch daher, daß die übliche Vorstellung von Lebensführung nun völlig versagt. Nicht wir führen unser Leben, sondern wir erleiden Krankheit, Verluste, Schicksalsschläge usw. Mit anderen Worten: An die Stelle der Frage nach dem Sinn des Lebens tritt nun die nach dem Sinn des Leidens und ruft uns zur Bewährung auf. Diese Bewährung ist aber davon abhängig, daß wir den Glauben an ein Ziel unseres Lebens auch im Leiden nicht preisgeben. Es wird überhaupt von grundlegender Bedeutung sein, daß das Festhalten am Ziel des Lebens und an der Transzendenz dieses Zieles schlechthin ausschlaggebend für die Würde des Menschen ist. Dies läßt sich am Schluß noch nach zwei Seiten hin zeigen. Das eine bedarf keiner langen Ausführungen. Die sozialen Zustände, unter denen die moderne Menschheit lebt, sind deswegen für die Würde des Menschen so bedrohlich, weil sie es oft unmöglich zu machen scheinen, das Individuum zu seinem Lebensziel gelangen zu lassen. Das Individuum hat nur eine sehr begrenzte Wahl für die Gestaltung seines Lebens. Es muß häufig damit rechnen, durch den Zwang der äußeren Verhältnisse von den Bahnen abgedrängt zu werden, auf denen es sich frei entfalten kann. Damit ist die soziale Aufgabe klar bezeichnet. Sie besteht nidit in erster Linie darin, daß Machtverhältnisse besonders geordnet werden müssen, obwohl auch das von erheblicher Bedeutung sein wird. Sie besteht auch nicht darin in erster Linie, daß die Besitzverhältnisse verlagert werden, so wichtig auch das in seiner Weise sein kann. Das Ziel für alle soziale Arbeit muß vielmehr vor allem darin bestehen, so viel Freiheit unter den Menschen zu gewähren, daß die Individuen sich im Sinn ihrer Veranlagung wirklich zu ihren Lebenszielen hin entwickeln und zu Persönlichkeiten entfalten können. Es soll dahin kommen, daß jeder, der will und kann, in freier Entfaltung seiner Anlagen zu dem finis sibi conveniens gelangen kann, ein Hochziel, das trotz der wachsenden Menschenzahl, trotz hemmender gesellschaftlich-politischer Verhältnisse nicht zur Utopie werden darf. Die Transzendenz des Lebenszieles hat aber außerdem noch Folgen für ein Gebiet, das nicht so weiträumig ist wie die soziale Frage, das aber um so grundsätzlicher ist. Es ist die Frage des sogenannten lebensunwerten Lebens. Das Problem, das wir damit berühren, hat bekanntlich während der Herrschaft des Nationalsozialismus in Deutschland eine ebenso verschwiegene wie aufregende Rolle gespielt. Es wäre sehr abwegig zu meinen, daß es erledigt sei. Worum handelt es sich? Mit
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II. Das sittliche Bcwußtsein
dem „lebensunwerten Leben" ist das Schicksal solcher Menschen gemeint, die vermeintlich ohne Lebensziel existieren. Es geht um Menschen, die nicht entwicklungsfähig sind und zeitlebens auf der Stufe des kleinsten Kindes bleiben, ferner um solche, die in anderer Weise krankheitshalber behindert sind, noch eine Entwicklung zu einem brauchbaren Glied der menschlichen Gesellschaft durchzumachen. Bekanntlich wurde solchen Menschen, da ihnen scheinbar das Lebensziel fehlte, auch das Lebensrecht abgesprochen und demzufolge audi in Tausenden von Fällen das Leben genommen. Wir befinden uns hier in einem metaphysischen Gedankengang. Aus diesem Grund haben psychologische Erwägungen zurückzutreten. Solche psychologischen Erwägungen pflegen sich darauf zu erstrecken, ob solche Menschen, deren Leben als lebensunwert bezeichnet wird, glücklich oder unglücklich sind. Diese Frage ist völlig abwegig. Gibt es doch viele hochwertige und produktive Menschen, die sich durch Unglück und Leiden hindurchfinden müssen, und gerade bei Imbezillen finden wir vielfach Gleichmut und heitere Euphorie. Darauf kommt es aber nicht eigentlich an. Wir stehen tatsächlich vor der Frage, ob wir ein menschliches Leben ohne Lebensziel für möglich halten. Es ist eine Frage, die sich nicht empirisch beantworten läßt, sondern die eine Sache des Glaubens ist. Es hängt aber von ihrer Entscheidung sehr viel ab. Es hängt nämlich davon nicht mehr und nicht weniger ab als eben unsere Menschenwürde. Wir sahen aber mehrfach, daß das eigentliche Ziel unseres Lebens gar nicht in der sichtbaren Sphäre, im Raum des unmittelbar Erreichbaren zu suchen ist, sondern zu der ganzen Erstreckung unseres Lebens transzendent ist. Es läßt sich also schlechterdings aus dem, was an einem Leben feststellbar ist, nicht entscheiden, daß ein menschliches Leben kein Lebensziel hätte. Was ihm allenfalls abgesprochen werden kann, ist ein erkennbarer Lebenszweck. Die Anomalie, die Krankheit, vielleicht sogar der metaphysische Schaden bei solchen Menschensdiicksalen liegt also offenbar darin, daß das Lebensziel nicht die Kraft besitzt, immerfort audi erkennbare Zwecke aus sich herauszusetzen. Das letzte und entscheidende Lebensziel liegt in der Transzendenz: Gott allein weiß es. Von diesen Voraussetzungen aus ergibt sich nun eine Reihe einschneidender Folgerungen. Zunächst erwächst der christlichen Liebestätigkeit ein wichtiges Ziel: Sie soll auch den schwergeschädigten Menschen in der sichtbaren Welt einen Lebenszweck geben. Die Liebe macht erfinderisch; denn sie lehrt uns, durch die Setzung solcher Lebens-
Der Glaube als Zumutung und Hilfe
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zwecke, und wären sie noch so klein, die geheimen transzendenten Lebensziele solcher Menschen zu bestätigen. Der ältere wie der jüngere Friedrich von Bodelschwingh waren hierin Meister. Der Sinn ihres Lebens war nicht nur der, den Ärmsten der Armen wohlzutun im äußeren Sinn, sondern zugleich der viel höhere, auch diese Ärmsten der Armen in ihrer Menschenwürde zu bestätigen. Die kleinen Dienste und stillen Zwecksetzungen, durdi welche das geschah und geschieht, sind nur irdische Zeichen des höheren Lebenszieles, durch das der Mensch zum Menschen wird. Läßt sidi doch der Mensch nicht einfach von seinen Lebenszwecken her erklären. Darum ist die Liebe, die sich dem Menschen zuwendet, erst dann ganz groß und rein, wenn sie nach keinem Zweck, nadi keinem Ertrag mehr fragt. Aber eben zu dieser zweckfreien Liebe geben uns die Menschen Anlaß, deren Leben so häufig als lebensunwert bezeichnet wird. Es ist die Liebe, die überhaupt nicht mehr auf sich selbst reflektiert, die nicht das Ihre sucht, sondern alles erträgt, glaubt und duldet (1 Kor 13, 5 ff.). Diese Liebe ist unter völliger Absehung vom Subjekt der Liebe ganz und gar in ihren Gegenstand versunken. Wie können aber Menschen wie die Besprochenen, deren Leben und Erscheinung doch offenbar nichts von Werthaftigkeit, von Wertverwirklichung und Wertstreben verkörpert, Gegenstand solcher Liebe werden? Das Evangelium gibt uns die Antwort. Es lehrt uns, solche hilfsbedürftigen Menschen als die Repräsentanten Christi zu verstehen. Mt 25, 40 steht das Wort Jesu: „Was ihr getan habt einem unter diesen meinen geringsten Brüdern, das habt ihr mir getan". Diese Menschen bekommen also durch das Wort Christi eine Würde, von der sie selber nichts wissen. Von sich aus führen sie in der Tat, wenn auch durchaus ohne eigenes Verschulden, ein „zweckloses", d. h. spielerisch kindliches Dasein. Sie sind wie die Kinder. Sie haben damit aber auch Teil an der Würde der Kinder und an deren Nähe zum Himmelreich. Es ist ein großes Geheimnis, daß diese Nähe zum Himmelreich dem Menschen gerade dort zugesprochen wird, wo durch das spielerisch kindliche und zweckfreie Dasein alles Streben, alles strebende Bemühen auf ein Ziel hin so ganz ausgeschaltet zu sein scheint. Wie leicht zieht dieses Spielen und Verweilen im Kindlichen die Verachtung der Welt auf sich! Aber gerade dann tritt das Wort Jesu schützend vor diese Verachteten: „Sehet zu, daß ihr nicht jemanden von diesen Kleinen verachtet; denn ich sage euch, ihre Engel im Himmel sehen allezeit das Angesicht meines Vaters im Himmel" (Mt 18, 10).
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II. Das sittlidie Bewußtsein
Wir stehen am Ende unserer Überlegungen vor einer eigenartigen Erkenntnis. Das ursprünglich so eindeutige Verhältnis des normalen Menschen zu seinem Lebensziel ist durch die Betrachtung der Grenzfälle stark erschüttert worden. Man möchte einen Augenblick fragen, welche Fälle von den besprochenen nun eigentlich die „normalen", d. h. die normgebenden seien. Sind es nicht vielleicht doch die, die wir für anormal halten und so gern beiseiteschieben? Aber der erwachsene, verantwortungsvolle und vollsinnige Mensch ist jedenfalls durch die Frage nach seinem Lebensziel zur Entscheidung und Verantwortung gerufen. Er spürt, daß Gewinn und Verlust seines Lebens sich an dieser Frage entscheiden. Er spürt freilich auch, daß er in einem viel geringeren Maße, als ihm das lieb ist, wirklich Herr seines Lebens ist. Er spürt ferner, daß es Weichenstellungen gibt, die, einmal verfehlt, unser ganzes Leben beeinflussen. Keiner, der nachdenkt, kann sich dem dunklen Ineinanderwirken von Schuld und Schicksal entziehen. Wo wir spüren, daß eine falsche Weichenstellung unsere Lebensführung beeinflußt, da ergreiftt uns die Reue. Das Verständnis der Reue und ihr Wesen wird oft dadurch verbaut, daß man sie allzu moralisch versteht, als Einsicht, etwas falsch gemacht zu haben, womöglich gar als eine klerikale Zumutung. Das Wesen der Reue wird nur, worauf seinerzeit schon Max Scheler aufmerksam gemacht hat (Reue und Wiedergeburt, in: Vom Ewigen Menschen, (1921, 19685),sub specie aeterni verstanden. In unserem Zusammenhang bedeutet das, daß sich erst von der Erkenntnis des Lebenszieles her ein Mensch wirklich der Reue hingeben kann. Wer in der Reue steht, der steht vor der existenziellen Frage nach dem Gelingen oder nach dem Scheitern seines Lebens. Aber diese Reue ist doch zugleich heilsam, weil wir in ihr unseren Blick zum Lebensziel erheben und in diesem Aufblick unser Leben vor dem von Gott gesetzten Maßstab revidieren.
12. Kapitel Die
Tugenden
1. Krisis der
Tugendlehre
Das Nachdenken über Tugenden und Laster ist eine der ältesten und elementarsten Formen, sich mit ethischen Fragen zu beschäftigen. H a t die ethische Frage für viele Denker die ursprüngliche Form: „Was sol-
Krisis der Tugendlehre
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len wir denn tun?", so gewinnt sie hier die Gestalt: „Wie sollen wir denn sein?" Frühe kindliche Urteile ethischen Charakters haben daher auch meistens die Form, daß über andere Menschen oder über Taten charakterisierende Urteile, Wertprädikationen ausgesprochen werden. „Der ist böse", „das war gemein", „ein anständiger Mensch", „der Lehrer ist gerecht". Tugenden und Laster spielen auch in den primiven Mahnungen und Warnungen, die Kindern erteilt werden, eine grundlegende Rolle und verleihen leicht dieser Form der sittlichen Belehrung etwas langweilig Moralisches, womit die Kinder dann auch auf die Dauer nicht gefesselt werden können. Das Nachdenken über die Tugenden hat im Abendland eine mehr als zweitausendjährige Tradition. Noch bis an das Ende des 19. Jahrhunderts stellt die Tugendlehre vielfach einen Hauptbestandteil der Ethik überhaupt dar. Ich erinnere an die Philosophische Ethik Schleiermachers, die in eine Güter-, Tugend- und Pflichtenlehre zerfällt. Während des ganzen 19. Jahrhunderts haben die protestantischen Ethiker im allgemeinen unbekümmert in ihre ethischen Systeme Tugendlehren eingefügt, ohne daß damit eine grundsätzliche Option für Aristoteles zum Ausdruck kommen sollte. So enthält Martensens Ethik ebenso eine Tugendlehre wie die weitverbreitete Theologische Ethik von Chr. E. Luthardt, und Otto Pfleiderers Grundriß der christlichen Sittenlehre teilt die Individualethik schlicht in Tugend- und Pflichtenlehre ein. Die Tugendlehre liegt auch weiterhin im Gesichtskreis der Ethiker, soweit diese in irgend einem Sinne auf den Bahnen der aristotelischen Traditionen bleiben. Dies trifft auf die gesamte thomistische bzw. neuthomistische Moralphilosophie zu, wie es ferner von Max Schelers und Nicolai Hartmanns Ethik gilt. Aber auf dem Felde der evangelischen Ethik verschwindet die Tugendlehre seit der Jahrhundertwende so radikal, daß in neueren Hand- und Lehrbüchern nicht einmal mehr der Begriff, oder der Begriff nur noch, um abgewehrt zu werden, auftaucht. Ich nenne an Stelle vieler anderer die Ethiken von A. Schlatter, A. Nygren, P. Althaus, W. Eiert, N . H . S0e, H . Thielicke, H . van Oyen, P. L. Lehmann, J. Murray. Es lohnt sich, den Gründen für dieses jähe Abreißen einer ehrwürdigen Tradition nachzugehen. Ganz allgemein wird in der Abkehr von einer Tugendlehre die stärkere Rückbeziehung der protestantischen Theologie zu ihren reformatorischen Anfängen und die Neigung zur Biblizität ihres Denkens wirken. Damit ist einmal verbunden eine Abneigung gegen alle Reflexionen auf den menschlichen Habitus. Die Tugend ist verdächtig als eine Leitidee, unter deren Herrschaft der Mensch sich selbst vor 11 Trillha«, Ethik
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II. D a s sittliche Bewußtsein
anderen bespiegelt und die ihn verführt, sittlich eitel zu werden. Die Ethik soll zwischen Glaube und Tat vermitteln und Wege vom Glauben zur Tat weisen — da ist für alles Zuständliche kein Platz. Es kommt hinzu, daß in dem Maß, als die christliche Ethik bewußt biblisch ausgerichtet wird, der Tugendgedanke als ein griechisches Erbe empfunden wird. Dies ist schon in der Theologischen Ethik von J. Chr. K. von Hofmann im Unterschied zu der Christlichen Ethik von A. von Harleß zu beobachten und tritt bei A. Schlatter deutlich zutage. Die biblische Ethik soll von allen fremden Problembestandteilen gelöst werden. Es kommen aber noch weitere Gründe hinzu. Es ist einmal die begriffliche Schwierigkeit, die in der Systematik von jeher empfunden worden ist und über die sich Schleiermacher in seinem Berliner Akademievortrag vom 4. März 1819 „Uber die wissenschaftliche Behandlung des Tugendbegriffs" (Philos. u. vermischte Schriften II, 1838, 350 ff.) verbreitet hat. Einerseits ist die Tugend ihrer Idee nach e i n e , und andererseits finden sich ja seit den Anfängen der klassischen Tugendlehre auch klassische und doch miteinander nicht übereinkommende Schemata, die immer bis zu einem gewissen Grade den Eindruck erwecken müssen, willkürlich gegriffen und ausgewählt zu sein. Wirken aber, anders ausgedrückt, die traditionellen Tugendschemata nicht überzeugend, so erhebt sich der Verdacht, und dies wird sich auf die Dauer als das durchschlagendste Argument erweisen, es könnte sich hier um eine Moraltheorie handeln, in der der heutige Mensch überhaupt sein Leben nicht wiederzuerkennen bzw. in der er es nicht unterzubringen vermag. Es gibt gerade in der Ethik angesichts des tiefgreifenden Wandels des Menschenbildes und des menschlichen Bewußtseins Theoreme, die sich eines Tages, ohne eigentlich widerlegt zu sein, als leere Gehäuse erweisen, in denen nichts mehr steckt, die uns nichts mehr sagen und die abgestoßen werden müssen, um der Ethik einen lebendigen Kontakt zu sichern mit dem gelebten Leben, dem sie allemal zu dienen und das sie zu interpretieren hat. Gerade angesichts der Tugendschemata, die uns von Plato und Aristoteles her vererbt sind, läßt sich der Verdacht nicht abweisen, daß sie uns nichts mehr zu sagen haben und daß sie tot sind. Trotz dieses Verdachtes behalte ich hier im Anschluß an die Tradition den Tugendbegriff bei. Er weist auf wichtige Beobachtungen hin und bezeichnet Probleme, die auf andere Weise nicht zur Sprache kommen. 2. Zur Geschichte der
Tugendlehre
Das deutsche Wort „Tugend" kommt von „taugen". In ähnlicher Weise sind audi virtus und άρετή nicht von vornherein ethische Be-
Zur Geschichte der Tugendlehre
163
griffe. Die speziell ethische Bedeutung des Tugendbegriffs scheint mit Sokrates bzw. mit Plato zu beginnen. In Piatos Politela IV, 428ff. findet sich die fertige klassische Lehre von den vier Kardinaltugenden der Weisheit (σοφία), Tapferkeit (ανδρεία), Besonnenheit (σωφροσύνη) und Gerechtigkeit (δικαιοσύνη). Diese vier Tugenden stehen in Beziehung zu den vier Seelenteilen und sind im Staat wiederum auf die drei Stände verteilt, so jedoch, daß die Gerechtigkeit eine umfassende Rolle im gesamten Staatsorganismus spielt. Piatos Schema hat über zwei Jahrtausende nachgewirkt. Albertus Magnus hat im Gefolge von Hugo v. St. Victor die vier platonischen („philosophischen") Kardinaltugenden prudentia, fortidudo, temperantia, justitia mit den drei christlichen (audi „theologischen" oder „göttlichen") Tugenden, nämlich Glaube, Hoffnung, Liebe (1. Kor 13, 13), zu einer siebengliedrigen Tugendlehre verbunden. Piatos Sdiema hat sich dann bis Pierre Gassendi (1592—1655) erhalten, es wirkt fort in den vierteiligen Tugendschemata, auch wenn diese inhaltlich sehr von Plato abweichen, wie das bei Arnold Geulincx der Fall ist, dessen Ethik (De virtute et primis eius proprietatibus, quae vulgo virtutes cardinales vocantur, 1665) Fleiß, Gehorsam, Gerechtigkeit und Demut als die Kardinaltugenden beschreibt, oder noch bei Schleiermacher, der in der Philosophischen Ethik von 1812/13 den Tugenden der Gesinnung (Weisheit und Liebe) die Tugenden der Fertigkeit (Besonnenheit und Beharrlichkeit) gegenüberstellt. Einen völlig anderen, selbständig konzipierten und selbständig nachwirkenden Typus der Tugendlehre zeigt die Nikomachische Ethik des Aristoteles. Zwar bringt audi er einen Tugendkatalog, aber er ist sichtlich nicht abgeschlossen. Die Eigenart der aristotelischen Tugendlehre zeigt sich vor allem darin, daß die innere Struktur der Tugenden untersucht wird und daß durch die beiden von Aristoteles postulierten Gruppen von Tugenden, die dianoetischen und die ethischen Tugenden eine Wesenslehre der Tugend durchzuschimmern scheint. Wir verdanken N . Hartmanns Ethik eine durchsichtige Analyse der aristotelischen Tugendlehre, die der in ihrer Art sehr genauen von G. Kafka: Aristoteles, 1922 (Geschichte der Philosophie in Einzeldarstellungen II, 8) überlegen ist. Wichtig ist, daß die Tugend Sache der Vernunft ist, die sich über das in Extremen bestehende Böse erhebt und den Menschen auf das Richtige blicken läßt. »Die Tugend ist ein Habitus βίξις) des Wählens, der die nach uns bemessene Mitte hält und durch die Vernunft bestimmt wird und zwar so, wie ein kluger Mann ihn zu bestimmen pflegt" (Nik. Ethik II, 6). Als dianoetische Tugenden werden Weisheit, Verstand und Klugheit genannt, als ethische Tugenden Freigebigkeit, Mäßigkeit, Tapferkeit. Es ist nidit ganz leicht, eine abschließende bzw. abgeschlossene Tafel der aristotelischen Tugen11
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II. Das sittliche Bewußtsein
den aufzustellen. Denn die Verstandestugenden sind (nach VI, 3 ff.) auf fünf Vermögen der Seele bezogen, auf Kunst, Wissenschaft, Klugheit, Weisheit und Verstand. Es liegt auf der Hand, wie schwer diese Tugenden voneinander abzugrenzen sind. Wiederum wird das Bündel der ethischen Tugenden von der Gerechtigkeit umgriffen und überragt, so daß später Melanchthon in seiner Philosophiae moralis epitome (1538/46; CR 16, 63 ff.) als vereinfachender Aristoteliker mit gutem Recht der justitia eine Zentralstellung geben konnte.
Daß es sidi tatsächlich um zwei Stränge der antiken Tugendlehre handelt, läßt sich deutlich an der Art zeigen, wie bei Thomas von Aquin beide Traditionen nebeneinander stehen. Die virtutes intellectuales sind sapientia, scientia, intellectus. Die Erwägungen über die Zuzählung der ars und der prudentia zu dieser Reihe zeigen auch hier die gewisse Unabgeschlossenheit der Aufzählung (S. Th. l/II, 57). Als virtutes morales werden iustitia und — im Anschluß an Aristoteles — fortitudo, temperantia, liberalitas, magnificentia, magnanimitas, philotimia, mansuetudo, amicitia, Veritas, eutrapelia genannt (qu. 60). In einem Neueinsatz stellt Thomas (qu. 61) prudentia, iustitia, temperantia und fortitudo als virtutes cardinales vor. In der folgenden Quaestio erscheinen dann die virtutes theologicae, nämlidi fides, spes und caritas. Es ist mit Händen zu greifen, wie hier die beiden Traditionen nodi nebeneinander auftreten und nur notdürftig zu einer systematischen Harmonie gebracht werden. Die weitere Fortsetzung der Moraltheologie des Thomas soll uns in diesem Zusammenhang nicht beschäftigen. Es wäre aber eine unzureidiende Vorstellung, wenn es bei dem Eindruck bleiben würde, daß die ganze Übernahme des Tugendschemas in die christlidie Ethik nur auf das frühe Eindringen der platonischen Tugendlehre und auf das Hinzukommen des aristotelischen Sdiemas mit der Rezeption des Aristoteles im 13. Jahrhundert zurückzuführen sei. Nicht nur die Überhöhung des antiken Tugendschemas durch „Glaube, Liebe, Hoffnung" zeigt frühe selbständige christlidie Versuche zur Aneignung des Tugendbegriffes. Die paulinisdie Trias ist unzweifelhaft seit Augustin zentraler Bestandteil der praktischen Theologie; denn der Kirchenvater macht sie ja zur Leitidee seines Enchiridions. Es gibt aber noch eine ganz andere und in ihrer Art selbständige Eingangspforte der Tugendlehre in die christliche Tradition. Es ist zugleich die älteste, nämlich die Tugend- und vor allem die Lasterkataloge der apostolischen und nadiapostolisdien Literatur. Das Corpus Paulinum enthält nicht weniger als 11 Lasterkataloge: Rom 1,29—31; 13, 13; 1 Kor 5, 10 f.; 6, 9 f.; 2 Kor 12, 20 f.; Gal 5, 19—21; ferner Eph 4,31; 5,3 f.; Kol 3, 5. 8; 1 Tim 1,9 f.; 2 Tim 3,2—5. Offenkundig
Was sind Tugenden?
165
handelt es sich audi hierbei um einen antiken Einfluß, nämlidi um das Vorbild der stoischen Lasterkataloge. Das positive Gegenstück, nämlich ein Tugendkatalog, findet sich wenigstens Gal 5, 22 f. im Widerspiel zum dortigen Lasterkatalog. Man wird verwandte Stellen (z. B. die Früchte der Liebe 1 Kor 13, 4—7; ferner Kol 3,12—14; Eph 4, 32; 1 Tim 6,11 ; Jak 3,17) nur mit Zurückhaltung hinzufügen dürfen; doch finden sich Tugendkataloge dann in der nachapostolischen Literatur häufiger, z. B. Hermas Vis III, 8, 7; Sim. IX, 15, 2. Vgl. hierzu H . Lietzmann: Handbuch zum N T I I I , Exkurs zu Rom 1,31. Diese Kataloge unter stoischem Einfluß entbehren der Systematik, bieten aber reiches Material zu Tugend- und Lasterverzeichnissen, etwa zu der seit Cassian (etwa 400) üblichen Zählung von sieben vitia capitalia, nämlich Hofïart, Neid, Unkeuschheit, Geiz, Unmäßigkeit, Zorn, Trägheit. Zur Lit. vgl. außer der schon genannten noch RE X X , 159 ff.; RGG 2 V, 1319ff. und LThK 1 VI, 399; LThK 2 VI, 805 f. und X, 325 ff. — O. Zöckler: Die Tugendlehre des Christentums, geschichtlich dargestellt, 1904 — Anhangsweise sei noch erwähnt, daß sich bei Richard Rothe eine eigenartige Modifikation der Tugendlehre findet. In seiner Theologischen Ethik III, 18702, §5 602—797 verbindet Rothe den Tugendbegriff mit einem Entwicklungsschema und stellt „die Untugend des alten Menschen" an den Anfang des Bildungsprozesses. Die sittliche Entwicklung führt zur Tugend des neuen Menschen. In diesem Rahmen treten dann begreiflicherweise sogar Bekehrungsprobleme auf. Rothe bleibt aber nicht bei der Betrachtung eines sittlichen Endzustandes im irdischen Leben stehen, sondern führt die Entwicklung über die Grenze dieses Lebens hinaus und läßt die Tugend in der Seligkeit vollendet sein. — O. F. Bollnow: Wesen und Wandel der Tugenden, 1958, bringt neue Gesichtspunkte und reiches Material zum Thema hinzu. — Paul Tillichs Schriften: The Courage to Be, 1952 (dt.: Der Mut zum Sein) und: Love, Power and Justice, 1954 (dt.: Liebe, Macht, Gerechtigkeit), jetzt Ges. W. XI, 1969, sind exemplarische Beiträge zur Tugendlehre in einem modernen Kontext.
3. Was sind Tugenden? a) Mit Tugenden meinen wir bestimmte an einem Menschen zutage tretende Vorzüge sittlicher Art. (Wenn 1 Petr 2, 9 und 2 Petr 1, 3 von Tugenden Gottes die Rede ist, so liegt im Anschluß an alttestamentliche Redeweise ein anderer Begriff vor: Lob, Preis, bzw. göttliche Machterweisung, Gotteskraft, Wunder). Tugenden sind immer etwas Positives, sie sind Kräfte („virtutes"), sie „taugen" zu etwas — daher das deutsche Wort. Dieser positive Sinn ist audi dann anzunehmen, wenn die sprachliche Bezeichnung negativ ist wie z. B. in der Sparsamkeit, Schweigsamkeit und Enthaltsamkeit. Dieser positive Sinn kommt auch darin zum Ausdruck, daß keine Tugend die andere
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II. Das sittliche Bewußtsein
ausschließt. So geprägt auch einzelne Tugenden sein mögen, so hat — anders als in der Pflichtenlehre — die Vorstellung von Kollisionen der Tugenden untereinander keinen Sinn. Das leuchtet bei Tugenden ohne weiteres ein, die weit voneinander abliegen, wie etwa der Fleiß und die Tapferkeit. Aber selbst Freigebigkeit und Sparsamkeit können sich in einem Charakter vereinigen, wie sich auch Tapferkeit und Vorsicht nicht ausschließen müssen. b) Die Tugend bezeichnet nun immer etwas Konstantes im Verhalten des Menschen. Aristoteles bezeichnet sie als Ιξις, die Scholastik als habitus. Vereinzelte menschliche Handlungen, die etwa als Reaktionen auf ganz einzigartige Erlebnisse gedacht werden können, fallen, wie wir zu sagen pflegen, völlig aus dem Rahmen. Wie sich einer verhalten wird, wenn er sich aus dem Schlafe gerissen einem Einbrecher gegenüber sieht, oder ein älterer Mensch, der, ganz in seine Gewohnheiten eingesponnen, plötzlich mit dem Flugzeug in wenigen Stunden in einen anderen Erdteil versetzt ist, das läßt sich schlechterdings nicht voraussagen. In diesem Sinne trägt also jeder Charakter einen gewissen Spielraum der Unberechenbarkeit in sich. Das mag audi in sittlicher Hinsicht gelten, weil es unberechenbare Beweise von Tapferkeit oder von Versagen gibt; und welche sittlichen Reaktionen Katastrophen oder sonstige sensationelle Ereignisse aus einem verschlossenen oder harten, verknöcherten Menschen herauslocken, das läßt sich nicht voraussehen. Tugenden aber bedeuten eine Konstanz, die eine gewisse Berechenbarkeit des sittlichen Verhaltens gewährleistet. Man weiß im großen und ganzen, wie ein tapferer Mann, wie ein abgeklärt versöhnlicher Charakter sich in bestimmten Lagen verhalten wird. Die Tugend bringt einen gewissen sittlichen Stil in das Verhalten des Menschen. Die Tugend ist der Boden, aus dem die einzelnen Akte des Menschen herauswachsen. Darauf beruht — und hier kommt ein für alle Tugenden gleichermaßen gültiger Wesenszug heraus — die Zuverlässigkeit des Menschen und damit auch das Vertrauen, das wir zu ihm haben können. Vertrauen setzt ja voraus, daß der, zu dem wir das Vertrauen gefaßt haben, sich heute und morgen sittlich genau so entscheiden wird, wie wir es von ihm nicht erst seit gestern gewohnt sind. Ich weiß nicht, wie man den sittlichen Begriff des Vertrauens wahren kann, ohne auch den Gedanken der Tugend zu bewahren und zu pflegen; denn auf ihr beruht ja die sittliche Zuverlässigkeit. c) So ist die Tugend also die Basis sittlicher Akte. Sie hat geradezu etwas Naturhaftes an sich. Sie ermöglicht es, daß die einzelnen Akte „leicht", „gleichsam spielend" in einem bestimmten Sinne gesetzt wer-
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Was sind Tugenden?
den k ö n n e n . Sie e r s p a r t die A n s t r e n g u n g der v o n F a l l z u F a l l in g a n z e r Gewichtigkeit n o t w e n d i g w e r d e n d e n Entscheidungen, ein G e d a n k e , d e r f ü r Schleiermacher i m m e r sehr wichtig gewesen ist. E b e n d a r u m entscheidet sich a n d e r T u g e n d so viel, weil sich a n ihr erweist, w i e w e i t sittliche N o r m u n g u n d W e r t u n g uns z u r N a t u r g e w o r d e n ist. D a s b e d e u t e t keinen Dispens v o n der sittlichen „ E n t s c h e i d u n g " . A b e r die sittliche Entscheidung w i r d gleichsam eine Stufe z u r ü c k v e r l e g t ins I n n e r e d e r P e r s o n , in die R e g i o n des G r u n d s ä t z l i c h e n , dessen, w a s nun „ein für a l l e m a l " gilt. E s heißt n u n nicht: in d e m v o r l i e g e n d e n F a l l trifft die P e r s o n diese Entscheidung, sondern die P e r s o n „ h a t sich für dieses V e r h a l t e n entschieden" u n d d e m z u f o l g e entscheidet sie auch in d e m v o r l i e g e n d e n F a l l e so. Sie übt diese T u g e n d . Sie b e w ä h r t diesen Stil des V e r h a l t e n s . I n dieser T u g e n d h a b e n w i r die P e r s o n selbst. „ L e style est l ' h o m m e m ê m e " , sagt B u f f o n ( 1 7 5 3 ) . A b e r dieser Stil o d e r diese T u g e n d ist doch selbst in jeder ihrer R e g u n g e n v o n d e m W i l l e n und d e r Einsicht der P e r s o n g e t r a g e n . M i t diesem H a b i t u s c h a r a k t e r h ä n g t es n u n a u d i z u s a m m e n , d a ß die echte T u g e n d als ein Entschiedensein m i t d e r p r o n o n c i e r t e n Z u r s c h a u stellung der T u g e n d i m W i d e r s p r u c h steht. E b e n diese N a h r h a f t i g k e i t ermöglicht es j a , die eigene T u g e n d z u vergessen, v o n i h r g a r nichts z u wissen. W e i l m a n v o n seiner eigenen T u g e n d g a r nichts w e i ß , nichts wissen soll u n d wissen k a n n , d a r u m ist sie z w a r f ü r a n d e r e Menschen ein G r u n d des V e r t r a u e n s , das sie z u uns t r a g e n , aber w i r selber k ö n nen kein V e r t r a u e n z u uns selbst u n d z u unserer T u g e n d h a b e n . W i r spüren in kritischen M o m e n t e n unsere Unsicherheit s t a r k u n d wissen nicht, w i e w i r die P r o b e n bestehen k ö n n e n . M a n c h e r , der seiner T u g e n d sicher z u sein meint, besteht die P r o b e nicht, u n d a n d e r e , die sich g a n z u n m i t t e l b a r f ü r u n f ä h i g h a l t e n , eine schwierige L a g e z u meistern, bestehen sie w i d e r E r w a r t e n , u n d z w a r kraft d e r „ T u g e n d " , die in ihnen ist u n d v o n der sie selbst nichts wissen. A u s diesen S a c h v e r h a l t e n h e r aus m u ß d a h e r die D e u t u n g des Tugendbegriffes abgelehnt w e r d e n , die m a n vielfach in evangelischen E t h i k e n
findet,
nach der m a n sich
seiner T u g e n d — w o m ö g l i c h im G e g e n s a t z z u a n d e r e n Menschen
—
b e w u ß t sei, sich d a r a u f e t w a s einbilde, w o m ö g l i c h g a r sie sich z u m V e r d i e n s t anrechne u. dgl. M i t
solchen D e u t u n g e n ,
bei
denen
Ver-
dachtsgründe als A r g u m e n t e b e h a n d e l t u n d Entartungserscheinungen, die es bei allen lebendigen P h ä n o m e n e n gibt, als W e s e n s z ü g e i n t e r p r e tiert w e r d e n , k o m p r o m i t t i e r t m a n nicht n u r das eigene wissenschaftliche V e r f a h r e n , sondern m a n e n g t auch den freien Blick a u f die ethische Wirklichkeit in v e r h ä n g n i s v o l l e r Weise ein.
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II. Das sittlidie Bewußtsein
d) Das Gesagte gilt nun natürlich mutatis mutandis von den Lastern, den Gegenbildern der Tugenden. In ihnen wird freiwillig eine grundsätzliche Entscheidung gegen das Gute und Vernünftige vollzogen. Die einzelnen Akte sind dann keine neuen Entscheidungen mehr, sie haben nicht die Bedeutung von überraschenden Reaktionen, sondern sie sind Konsequenzen aus vorausgegangenen Entscheidungen. Sie sind Dauerentscheidungen, die durch eine immer neue Hineingabe des Willens und der Neigung neu bestätigt werden, die aber dann auch zuweilen als Gewalt empfunden werden, der der Lasterhafte mit einem gesdiwächten Willen mehr ausgeliefert als hingegeben ist. Zum Bilde des Lasters gehört die Schwächung der Widerstände; es wird immer schwerer, gegen das Laster anzukämpfen. Es nistet sich immer tiefer ein. Es sind gleichsam ausgefahrene Gleise, die dem Willen, den Entscheidungen und Handlungen die Bahn vorschreiben, die sie einzuhalten haben. Natürlich haben die Tugenden wie die Laster verschiedene Grade der Tiefe. Sie werden zunächst die Form bewußter Entscheidungen haben. Man hat dann die Tugenden in Form von Grundsätzen, die Laster in Form von Angewohnheiten, über die man selber spricht. In tieferen Schichten bzw. in den Formen einer tiefergegründeten Einwurzelung werden dann beide gewissermaßen naturalisiert. Ebenso kann man sich das eine wie das andere audi leicht zu einlinig vorstellen. Man hat nicht diese Tugend, dieses Laster, sondern in der Regel finden sich erhebliche Überlagerungen und Zusammenordnungen, welche den Charakter kompliziert erscheinen lassen. Die Entschiedenheit für bestimmte sittliche Einstellungen oder Handlungen verbindet sich mit ebenso bestimmten Schwächen, Untugenden und möglicherweise förmlichen Lastern. Dies ist nach der diagnostischen Seite in einer systematischen Ethik nicht weiter zu verfolgen. Es hat aber hier nach einer Seite hin doch eine erhebliche Bedeutung. Es ist nämlich nicht so, als vollzöge der Mensch die sittliche Entscheidung immer neu. Vielmehr handelt er in der überwiegenden Zahl von Absichten, Entschlüssen und Vorhaben aufgrund von weit zurückliegenden, längst schon — wer weiß aus welchen ganz anderen Gründen — getroffenen Entscheidungen, die festliegen und dem Menschen seinen ihn selbst innerlich bindenden, ihn vor sich selbst verpflichtenden „Charakter" geben. Die Einzelentscheidungen fließen keineswegs frei und neu aus der Begegnung mit der Situation, aus der Unmittelbarkeit meines Entschlusses jetzt und hier, sondern sie sind alle angebahnt, vorgezeichnet, im Charakter der handelnden Person angelegt. Im Bilde des Charakters stel-
Was sind Tugenden?
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len Tugenden und Laster dann freilich nur die äußersten Möglichkeiten sittlicher Grundeinstellungen dar, vieles andere ist Ubergang, Anlage, ungefestigter Ansatz. In der Ausgestaltung menschlicher Individualitäten ist der Spielraum charakterlicher Erscheinungsbilder unendlich breit und nicht abzuschreiten. Es ist dafür gesorgt, daß auch in den idealsten Fällen die Umrisse der Individualitäten nicht verwischt werden. Das ist der Sinn der Rede von den vielerlei Tugenden, die sich zwar untereinander, wie wir sahen, nicht ausschließen, die aber in concreto zu sehr differenten Charakterbildern führen. Im Räume des Menschlichen verflüchtigt sich das Individuelle nicht, auch wenn die Annäherung an die Tugend zu immer reinerer Verwirklichung kommen sollte. Ob dasselbe audi von der Zunahme des Lasters gilt, mag offen bleiben. Es wäre denkbar, daß audi hier eine Ausprägung der Individualität stattfindet, wie sie etwa in alten Verbredier-Originalen verkörpert ist. Aber die wohlwollende Art, mit der solche „Typen" dann behandelt werden, ja gelegentlich sogar mit Namennennung in die Geschichte eingehen, könnte die Vermutung nahelegen, daß sich in solchen Ausformungen der Lasterhaftigkeit so etwas wie eine Nachbarschaft zur Gnade ankündigt. In der Literatur ist darum häufig das Laster das „Große", das eigentlich Interessante und die Gewährleistung menschlicher Wahrheit, oft auch die Wurzel der Tragödie wie bei Shakespeare. Daraus erklärt sich audi die faszinierende Wirkung des guten Kriminalromans. Hingegen sind davon sehr deutlich unterschieden jene Formen von Lasterhaftigkeit, in denen die Individualität verloren geht. Wir pflegen zu sagen: „Er hat sein Gesicht verloren." Audi die Prädikate „gewöhnlich" und „gemein" scheinen darauf hinzudeuten, daß einer gewissen Schicht von Handlungen der völlige Verlust individueller Züge zu eigen ist und der Originalität keinen Raum mehr läßt. Mit den ersten Spuren von Originalität und von selbstbewußter, auf sich haltender Persönlichkeit beginnen in der Regel audi sdion die ersten Merkmale des Sittlichen erkennbar zu werden.
Sobald die Reinheit der Tugend alle individuellen Möglichkeiten hinter sich läßt, transzendiert die Tugend audi den Bereich des Menschlichen überhaupt. Dann differieren die verschiedenen Tugenden nicht mehr erkennbar voneinander, und man wird damit rechnen müssen, daß manche Tugenden von ihrem Begriff her schon außerhalb des menschlichen Bereichs gegenstandslos werden, ζ. B. die Enthaltsamkeit, die Sparsamkeit. Es ist außerhalb des menschlichen Bereichs auch nicht mit einer Uber-, Zwischen- oder Unterlagerung der Tugend durch böse Regungen mehr zu rechnen. Diese Reinheit der Tugend — oder doch auch im umgekehrten Sinne des Lasters — wäre eine reine und absolute, darum auch nidit mehr aufhebbare Entschiedenheit für das Gute bzw.
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II. Das sittliche Bewußtscin
für das Böse. Es wäre damit die Seinsweise der guten oder der bösen Engel beschrieben. Nur von den guten Engeln, nicht von irgendeinem Menschen gilt: Angeli boni sunt, qui in concreata vera sapientia et sanetitate perstiterunt, et a Deo lumine gloriae illustrati atque adeo in bono confirmati sunt, ut a periculo peccandi immunes Deum clare intueantur, eiusque bonitate perpetuo fruantur (Hollaz). Ein dogmatischer Gedanke, der in unserer Argumentation zur Ethik nur eine Grenzlinie bezeichnen soll.
4. Entstehung und Entartung der Tugend Die Entstehung der Tugend ist eigentlich ein pädagogisches Thema, und nicht einmal ein sehr modernes. Wir brauchen hierzu nicht viel zu sagen. Die Bildung zur Tugend setzt eine Atmosphäre voraus, in der gewisse Gesinnungen und Laster ausgeschlossen oder doch als das gekennzeichnet sind, was sie wert sind. Die „saubere Luft" der Erziehung besteht nicht darin, daß man das Böse aus dem Blick rückt, sondern daß es durch die volle Offenheit der Erzieher seine Verführungsmacht verloren hat. Zur Atmosphäre kommen dann aber die Vorbilder hinzu. So wenig sinnvoll es ist, irgendwie dem Gedanken nachzuhängen, ein Vorbild werden zu wollen, so sinnvoll ist es, der unbeabsichtigten Wirkung des Vorbildes große Wirkungen zuzutrauen. Jeder junge Mensch wird auf Vorbilder achten und auch andere darauf aufmerksam machen. An Vorbildern kann man ablesen, „wie mans macht", und mehr als durch Worte werden wir angeleitet und in der Tugend bestärkt durch die Anschauung, wie sich ein anderer Mensch im Gebrauch seiner sittlichen Freiheit verhält. Wir verlassen aber den Interessenkreis der Pädagogik im engeren Sinne, wenn wir daran erinnern, daß auch das Wachstum des Menschen dazu führen kann, daß er sich zum Guten entscheidet und daß die Versuchung zum Bösen an Macht verliert. Sittliche Schlacken fallen dann ab, Schwächen, Leidenschaften verlieren ihren Einfluß. Die Läuterungen, die die Lebenserfahrung und manches Leid einbringen, bestärken uns in der Gewißheit des Guten. Das „Alte" nimmt immer mehr ab, das „Neue" gewinnt an Stärke, Uberzeugungskraft und Durchsichtigkeit. „Wenn der alte Mensch zerstäubt, wird der neue wach". Sind wir einmal auf diesem Wege, dann darf auch noch der Übung gedacht werden. Man kann sittliche Entscheidungen so lange wiederholen, bis die Hemmungen und Widerstände immer geringer werden, bis uns die betreffende Entscheidung oder Handlung geläufig wird und
Entstehung und Entartung der Tugend
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wir sie unserem Lebensstil einverleibt haben. Hier wird noch einmal der diätetische Wert der Erleichterung des sittlichen Verhaltens wichtig. Die zunehmende Regelhaftigkeit des Verhaltens überhebt uns weit ausholender Anläufe zu jeweils neuer „Entscheidung". Wir setzen bei diesen Erwägungen allerdings voraus, daß sidi in den Gedanken der Tugend kein fremder Ton misdit. Dies wäre dann der Fall, wenn die „Tugend" nur ein Niedersdilag unseres Ressentiments wäre. Fr. Nietzsche hat die „Moral", d. h. das System von Wertschätzungen und Tugenden vor allem des Christentums aus dem Ressentiment erklärt. Die Lebensschwachen, Unterdrückten und Beleidigten nehmen im Ressentiment eine intellektuelle Rache an den Starken und Bevorzugten. Sie setzen ein diesen entgegengesetztes System von Bewertungen in Kraft, in dem die Schwäche und der Lebensneid die Wertskala bestimmen. Das Schwache und was ihm dienlich ist, gilt als „gut", das Starke und seine Tugenden als „böse". Diese Lehre von der schöpferischen Bedeutung des Ressentiments hat Nietzsche in der Schrift „Zur Genealogie der Moral" (1887; Werke, Bd. VII) und dann im „Antichrist" (1888; Werke, Bd. VIII) dargelegt. Es war zweifellos eine Meisterleistung philosophischer Kritik, deren Ertrag auch dann bleibt, wenn man in ihr nur die Entdeckung einer Pseudogenese, nidit eine gültige Wesensdeutung erblickt. Max Scheler hat seine Untersuchung über „Das Ressentiment im Aufbau der Moralen", in: Vom Umsturz der Werte, 19554, in Weiterführung der Entdeckung Nietzsches durchgeführt. Vgl. ferner Karl Jaspers : Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, (1936) 1950 s , 117 ff. und ders.: Nietzsche und das Christentum, (1946) 19522.
In dieser Deutung bekommt die „Tugend" in der Tat einen völlig anderen Sinn. Ihre Wertungen werden zur Waffe gegen andere, stärkere Naturen, deren Stärke verdächtigt und deren Wertungen herabgesetzt werden sollen. Dabei handelt es sich natürlich nicht um eine bewußte Planung; dann wäre ja das ganze eine ausgesprochene Heuchelei, und das Inszenesetzen dieser „Tugend" käme auf eine absichtliche Herabsetzung stolzer, hoher und wertvoller, kraftvoller Naturen hinaus. Tatsächlich aber ist die Genese der sog. Moral aus dem Ressentiment viel komplizierter. Sie ist ein unbewußter Vorgang. Der Lebens- und Machtwille — um die Sache im Sinne Nietzsches zu interpretieren — dieser Schlechtweggekommenen spielt ihnen einen Streich, ohne daß sie es wissen. Die wahren Werte werden, ohne daß es den Schwachen und Schlechtweggekommenen zum Bewußtsein kommt, durch ein neues und anderes Wertungs- und Tugendsystem ersetzt, das den Starken ihre ethische Legitimität raubt.
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II. D a s sittliche Bewußtsein
Diese Auffassung der Tugend ist auch darum gegenüber ihrem eigentlichen Wesen eine Verfälschung — deren Entdeckung freilich ein bleibendes Verdienst Nietzsches ist! —, weil aus dieser pervertierten Sinngebung heraus nur im „schielenden" Hinblick auf andere Menschen Moral und „Tugend" gelebt werden können. Indem man „tugendhaft" lebt, bringt man dem anderen seinen Unwert zum Bewußtsein. In der Konsequenz des bekannten Sprichwortes „Junge Huren — alte Betschwestern" treten sofort junge, vitale Menschen in den Gesichtskreis, deren Vitalität verdächtigt, deren Liebesleben herabgewürdigt und als unsittlich beschmutzt wird und gegen welche die Meinung anderer Menschen eingenommen werden soll. Von dieser Auffassung der Tugend aus kommt es dann zu jener Herabsetzung des Begriffs überhaupt, der schließlich dazu geführt hat, daß man im Zusammenhang mit dem Wort sofort die mißliche Vorstellung von einem widerwärtigen Tugendbold hatte, der sich mit anderen Menschen vergleicht, der anderen als Vorbild hingestellt wird und für alle unverbildeten Menschen die Moral nur lächerlich macht. Wahrscheinlich hat diese Abnormität in der Auffassung der Tugend ganz wesentlich dazu beigetragen, den Begriff der Tugend aus der neueren, vor allem auch der neueren evangelischen Ethik verschwinden zu lassen. Aber auch ganz abgesehen von dieser Pseudogenese der Tugend, durch welche sie für ganze Generationen einen unerträglichen säuerlichen Geschmack bekommen hat, ist auch daran zu denken, daß die Tugend zu einem leeren Gestus werden kann. Das bescheidene Gehabe, die allezeit rücksichtslose Tapferkeit des Landsknechts, die kühle Filzigkeit des Sparsamen — das alles sind Leerformen der Tugend; es sind nicht mehr Beweise der Tugend in ihrer Fülle, die zwar, wie wir zu zeigen versuchten, in einer gewissen Leichtigkeit die der Tugend gemäßen Akte aus sich entläßt, ohne daß jedesmal die Mühe einer vollen Entscheidung aufgeboten werden müßte, in der aber doch der Mensch, die Person selbst ganz und gar „drin" ist. Leerformen sind eben darum leer, weil die Person selbst nicht mehr in ihnen wohnt. Die vermeintliche Tugend ist ein Gehäuse geworden, das aber nicht mehr bewohnt ist. Solche entleerte Tugend zeigt sich unmittelbar darin, daß sie im geselligen Umgang nicht mehr als wohltätig, als förderlich und erfreulich empfunden wird. Sie wird zur Last. Man fühlt sich bedrückt davon, wie wohltätig, wie tadellos solche Menschen sind. Es ist bedrückend, wie sie sich jedes gewagten Witzes enthalten, wie sie maßvoll im Genuß sind, und man empfindet ihre vorbildliche Lebensführung als Vorwurf. Aber das ist nun etwas ganz anderes als das
Tugend als Gemeinschaftsbezug
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Vorbild, von dem wir vorhin sprachen. Das Vorbild löst, es befreit und beglückt. Der Jugendliche ahmt es heimlich nach; denn er ist wie ein Verliebter durch die Anschauung dieses Vorbildes gebannt. Aber der als Gesetz wirkende Anblick der zum Grundsätzlichen erstarrten Tugendhaftigkeit ist lähmend und nicht befreiend. 5. Tugend als Gemeinschaftsbezug Die Problematik, die nach meiner Meinung durch den Tugendbegriff gedeckt ist, ist für unser Interesse und in unserem Zusammenhang nicht mehr die Problematik Humboldts und Goethes. Das muß deshalb ausdrücklich gesagt werden, weil allerdings in der klassischen Periode die philosophische und theologische Aufmerksamkeit den Problemen der Individualität entschlossener zugewendet war als in der späteren Zeit, entschlossener auch als heute. Das rechtfertigt unsere Orientierung an den Meistern der damaligen Zeit. Und doch sind ihre schließlichen Meinungen nicht mehr die unseren. Für die Klassiker — und für die mit ihnen zusammengehörigen Romantiker — war die Individualität alles. Die Persönlichkeit, höchstes Glück der Erdenkinder, sanktionierte als solche das Verständnis der Ethik als Individualethik. Die Sozialethik stand zu ihr doch immer nur im Verhältnis der Ergänzung, veranlaßt einerseits durch die realen Notwendigkeiten, veranlaßt auch durch die antiken und späteren Traditionen der klassischen Soziallehren, vor allem aber auch durch die Auffassung, daß sich die Persönlichkeit in der Gemeinschaft erfüllt und auswirkt, daß sie dort ihre Ergänzung findet und über sich hinauswächst. In den Lebensgeschichten sowohl Wilhelm von Humboldts als auch Goethes, die beide im Fortschreiten ihrer Lebensentwicklung Ämter übernahmen, in denen sie dodi recht eigentlich sich selbst auswirkten und, vom Glück begünstigt, unvergeßlich widerspiegelten, kommen diese Zusammenhänge gleichnishaft zutage. Das eigentliche Herzstück und der wahre Sinn der neuzeitlichen Ethik ist die Individualethik. Ein Blick auf Kant und die in seiner Folge stehende Geschichte der neuzeitlichen Ethik zeigt das. Wenn, was hier zum Problem der Tugend gesagt wurde, in eine sehr betonte Hervorhebung des Begriffs der Individualität und des Charakters mündete, so darf das nicht im Sinne einer wenn auch christlich geprägten Persönlichkeitskultur oder eines ethischen Individualismus verstanden werden. Individualität heißt vielmehr — wenn diese Formulierung einmal erlaubt sein mag — daß der Mensch, christlich verstanden, als Gedanke Gottes immer Individualität ist und nur als sol-
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II. Das sittliche Bewußtsein
che Individualität in freilich unübersehbarer und nie wiederholter Fülle aussagt, was Gott mit der Menschheit gemeint hat. Der Mensch existiert nur als Individualität, als Einzelner. Die Möglichkeit, daß er vereinzelt, daß er vereinsamt, daß er als Individuum seinen Kontakt mit der Gemeinschaft verliert, daß seine Relationen zum Mitmenschen verkümmern, alle diese Möglichkeiten bestehen, weil sie in seiner, des Menschen Individualität angelegt sind. Aber in diesen Möglichkeiten und Spielarten der Vereinzelung exzediert der Mensch und stellt nicht mehr das dar, was der Sinn seiner Individualität ist. Die Frage nach der Individualität und der Glaube an sie entspringt nicht einer bürgerlichen Ideologie. Sie stellt nicht ein „Ideal" dar, das überwunden werden muß. Mag im Gedanken der Individualität auch das bürgerliche Zeitalter etwas gefunden haben, was dann in einer ganz welthaften und sinnverändernden Weise zur Ausprägung gekommen ist, so ist doch der Gedanke des Einzelnen und seines spezifischen Lebenssinnes ein unaufgebbarer christlicher Gedanke. Der individuelle Mensch muß nicht dazu befreit werden, ein Gattungswesen zu sein. Die Wahrheit des Menschen ist nicht der „sozialisierte Mensch". Dieser Mensch geht nicht darin auf, daß er in den universalen Arbeitsprozeß eingegliedert ist, in dem die technisch-wissenschaftliche Herrschaft des Menschen über die Welt angetreten wird. Der Mensch ist, unerachtet seiner Gliedschaft am Volk und in der Gesellschaft, immer auch ein Einzelner, und was er als Einzelner, mit seinem Lebensziel und mit seinem Todesschicksal konfrontiert, bedeutet, das geht nie schlechthin darin auf, daß er ein Gattungswesen ist. Überhaupt bezeichnet der Ausdruck Gattungswesen die entscheidenden Gemeinschaftsbezüge gar nicht. Der Mensch, so sehr er Einzelner ist, so sehr er Individualität ist, ist dies doch in der Zusammenordnung mit anderen Menschen. Wir haben von diesen Bezügen im 4. Teil dieses Buches ausführlich zu handeln. Und nun ist es die Meinung, daß die in diesem Kapitel verhandelten Tugenden und Laster, also der ganze in jedem Einzelleben unwiederholbar geprägte sittliche „Habitus", ebenso den unverwechselbaren Charakter dieses Einzelnen beschreibt, „charakterisiert", wie er Zug um Zug Formen des menschlichen Miteinanders beschreibt. Es hängt mit der Individualität des Menschen zusammen, daß keine „Tugend" denkbar ist, in der nicht ein mitmenschlicher Bezug sein ethisches Kolorit bekäme. Stolz und Bescheidenheit, Weisheit und Gerechtigkeit, Besonnenheit in schwierigen Lagen und Zurückhaltung angesichts der Reizung unserer Leidenschaften, das alles trägt seine Bedeutung für das menschliche Mit-
Wurzel und Wesen der Gotteskindschaft
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einander auf der Stirn. Und es ist eben in dieser mitmenschlichen Beziehung von besonderer Bedeutung, daß diese sittlichen Relationen auf den anderen Menschen hin in der Form der Tugend zur Stabilität weisen, Konstanz fordern. Nur unter dieser Bedingung ist — wir wiesen schon darauf hin — überhaupt Vertrauen von Mensch zu Mensch, ist Verlaß auf den Mitmenschen möglich. Tugend und Laster bezeichnen die Erwartungen, zu denen mich der Mitmensdi berechtigt. In dieser Region kann und darf der Entscheidungsbegriff das sittliche Verhältnis zueinander gerade nicht beschreiben, weil hier nicht das immer Neue und Unerwartete, sondern das, was Zuverlässigkeit gewährleistet, allein die Ethik interessieren kann. Aus allen diesen Gründen können wir, entgegen modernen Meinungen, auf den Tugendbegriff nicht verzichten, so wichtig es ist, ihn gedanklich für unsere veränderte Weltsituation neu zu verstehen.
13. Kapitel Gotteskindschaft 1. Wurzel und Wesen der Gotteskindschafl In unserer Überlegung über die Lebensziele waren wir auf einen Doppelsinn des Begriffs der Lebensführung gestoßen. Während wir selbst unser Leben zu führen meinen, werden wir von einer anderen Hand geführt. Ebenso geht es uns mit unserem Beruf. Er ist zunächst Gegenstand unserer Wünsche, unserer Wahl und unseres Strebens; dann aber entdecken wir, vielleicht erst durch unerwartete Wendungen unseres Lebensweges belehrt, daß audi in dem Beruf ein anderer mit uns handelt. Solche Erkenntnisse sind nicht theoretischer Art. Sie erwachsen uns, indem wir unsere ursprünglichen Ziele mit unserem tatsächlichen „Schicksal" vergleichen. Im Rückblick werden wir skeptisch im Hinblick auf das eigene Führen und Wählen, und doch ist das Gewahren der göttlichen Führung eine Sache des Glaubens. Dieser Umschlag der Betrachtung wird uns durch das neutestamentliche Zeugnis gedeutet und bestätigt. Wir sind in Gottes Hand. Wir haben einen Vater. Wir sind Gottes Kinder. Die Gewißheit der Gotteskindschaft führt uns an die Grenze des Allgemeinmenschlichen; denn hier gibt sich eine letzte Erfüllung menschlichen Daseins kund. Zugleich aber ist der christliche Glaube an die Gotteskindschaft aus vielen Gründen nicht jedermanns Ding. Der Begriff der Gotteskindschaft
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II. Das sittliche Bewußtsein
entspricht in gewissen Zügen dem, was das humanistische Denken mit „Persönlichkeit" meint, weil er die unendliche Würde des Einzelnen zum Ausdruck bringt. Andererseits überschreitet der Gedanke der Gotteskindschaft weit jeden humanistischen Persönlichkeitsgedanken; denn die Gotteskindschaft trägt der Mensch ia nicht einfach in sich, sie bezeichnet eine Würde, zu der der Mensch erhoben wird. Die Geborgenheit unseres Lebens in einem jenseitigen Ziel ist hierin wohl eingeschlossen, aber es geht dodi darüber hinaus um einen ganz persönlichen Vorgang, daß nämlich Gott sich uns zum Vater gibt und wir seine Kinder sein dürfen. Entsprechend dem sdiwer umreißbaren Charakter dessen, was hier zur Verhandlung steht, würde sich manches im seelsorgerlichen Gespräch oder vollends in der Predigt sachgemäßer aussprechen lassen als in der wissenschaftlichen Form der Ethik. Immerhin verweise ich auf K.Barth: K D 1/2, § 18; P. Althaus: Grundriß, §§ 10,11,13, 14; W. Eiert: Ethos, §§ 47 u. 49. — Nadi dem, was ich über die Lebensziele ausgeführt habe, ist die Gotteskindschaft kein neues Thema, sondern gleichsam die Innenseite der Sache, die Ermöglichung und Erfüllung für den Glauben.
Daß wir Kinder Gottes sind, entspricht der Verkündigung Jesu, daß Gott unser Vater ist. Gelegentlich ist das eine mit dem anderen in einem Satz verknüpft: Mt 5, 45 und Lk 6, 35 f., sowie in dem Zitat 2 Kor 6,18. Alle entscheidenden Gebetsbelehrungen beruhen darauf, daß wir als Kinder Gott als unseren Vater anrufen sollen: Mt 6, 9 und Lk 11,2, ferner Rom 8,14 f. und Gal 4,6. Drei gedankliche Eigentümlichkeiten scheinen mir den Begriff der Gotteskindschaft auszuzeichnen. a) Die Gotteskindschaft ist Gottes Werk. Sie ist ein Stand, in den wir versetzt werden, und zwar durch Bekehrung (μετάνοια) und Taufe (vgl. Mt 3,11; Mk 1,4; Lk 3, 3; Apg. 2, 38 u. ö.). Wir werden Kinder (Söhne) Gottes durch den Glauben an Christus Jesus und die Taufe. Die Gotteskindschaft wird „empfangen": Gal 4, 5 vgl. Eph 1, 5, sie geht also aller Erfahrung voraus. b) Dem entspricht, daß in der Gotteskindschaft ein altes Leben seinen Abschluß findet und ein neues Leben beginnt. Die „Umkehr" ist eine Abkehr von den toten Werken (Hebr 6,1) und eine Hinkehr zu Gott (Apg 20, 21) und zu Werken, die der Umkehr entsprechen (Mt 3, 8 und Apg 26,20). Wer in der Kindschaft steht, darf den Geist der Kindschaft empfangen (Rom 8,15) und soll auch im Geiste wandeln (Gal 5,25). Die Vergebung hat das vorige Leben zugedeckt und ein Neues begonnen, wenn es auch erst in der zukünftigen Vollendung des Reiches Gottes vollendet werden wird. Im Johannesevangelium ist die
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„Vollmacht", Kinder Gottes (τέκνα θεοί) zu werden, im Zusammenhang mit der Menschwerdung erwähnt ( 1 , 1 2 ) , und dementsprechend ist auch die Vollendung und das Sichtbarwerden der uns schon verliehenen Gotteskindschafl an die zukünftige Erscheinung Jesu Christi als der Imago Dei geknüpft (1 J o h 3 , 1 — 3 ) . c) Schließlich ist die Gotteskindschafl eine den Christen verliehene Sonderstellung in der Welt, zwar nodi nicht offenkundig und ebensowenig in den Voraussetzungen zu begründen, welche diese Christen in ihrer Geburt mitbekommen haben. Sie sind vielmehr zur Kindschaft erwählt, prädestiniert, wofür auf die Grundstelle dieses Glaubens Rom 8, 29 f. pauschal verwiesen sein muß. Es ist eine christliche Grundüberzeugung: Ich bin ein Kind Gottes, aber idi kann dafür keinen anderen Grund angeben als die unbegreifliche Gnade Gottes selbst. In dieser Form ausgedrückt, kann diese innerste Lebensgewißheit der Gotteskindsdiaft nicht so unverständlich sein. Sie ist — wenn man es philosophisch vermitteln will — ein Äußerstes an Subjektivität. Die Frage, wie sich dieser Glaube zu der Uberzeugung verhält, daß Gott allen Menschen Lebensziele setzt und dadurch ihrem Leben Sinn und Würde verleiht, ist unbeantwortbar. So wenig die beiden Überzeugungen identisch sind, so wenig schließen sie sich aus. Der christliche Glaube an die Gotteskindschaft ist die subjektive Überzeugung, daß Gott in der mir widerfahrenen Wahl und in der mir begegnenden Gnade Jesu Christi mir die Wohltat erwiesen hat, midi zu seinem Kinde zu machen. Aber derselbe Gott ist der Herr der Welt und aller Menschen; er handelt mit diesen anderen Menschen gewiß ebenso unbegreiflich und doch fürsorglich, wie er mit mir handelt; er hat über seine ganze Schöpfung eine ebenso verborgene wie offenkundige Ordnung gebreitet; und er hat schließlich alle Menschen gewürdigt, als er sich menschlich offenbarte. Und darum wird der rätselhafte Glaube der Christen an die Gotteskindschaft nicht den Rahmen der Humanität sprengen können und dürfen, in dem sich unser ethisches Nachdenken vollzieht. Drei unmittelbare Folgen dieses Glaubens sind im Rahmen der christlichen Ethik zu nennen. a) Der Glaube an die Gotteskindschaft übersteigt zunächst alle Erfahrung. Aber er drängt zur Erfahrung hin. Es ist die Erfahrung der Kindschaft, der Geborgenheit in der Fürsorge des Vaters. Wo Er ist und wir bei Ihm, da ist die Mitte der Welt. Diese Mitte der Welt ist nicht dort, wo „die Welt" sie selber sucht und uns zeigen möchte: in den Zentralen der Macht, in den Schwerpunkten irdischen Ruhmes, dort, wo die aktuellen Maßstäbe gesetzt werden. Die Mitte der Welt 12 Trillhaas, Ethik
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II. Das sittliche Bewußtsein
ist für das Kind Gottes dort, wo wir in Gott geborgen sind, wo wir genug haben und nicht mehr verlangen. Diese Geborgenheit macht uns dankbar für alles: für die Gesundheit und für unsere Kinder, für unser Haus, für die Treue eines Menschen. Wir erfahren, wie Gott uns versorgt, und das ist genug. b) Das darf nicht mißverstanden werden. Wir haben Ziele, Pflichten, Verantwortungen; unerfüllte Notwendigkeiten sehen uns an. Es ist dafür gesorgt, daß wir in Bewegung bleiben und daß wir nicht in schaler Zufriedenheit mit uns selbst und der Welt auf der Stelle treten. Und dodi ändert sich für den, der mit Gott lebt, etwas von Grund auf: er lernt, auf Gott zu warten. Dominus providebit! Gott weiß Zeit und Stunde; er weiß warum. Das schließt die Bewährung der Kindschaft im Leid in sich. Wer Gottes Hand ergriffen hat, darf sie auch im Leid nicht loslassen, sondern wird lernen müssen, sie nur um so fester zu ergreifen. Audi die Prüfungen können der Befestigung der Kindschaft dienen. Gottes Kinder müssen die Geduld lernen; denn wer vom Leid heimgesucht wird, der muß warten, bis er den Segen des Leides erfahren darf. c) Schließlich bedarf unsere Kindschaft auch der Reifung zur Selbständigkeit: 1 Kor 3, 1—3; Hebr 5, 11—14. Gott läßt den in seiner Gemeinde gesammelten Christen darum ein ununterbrochene deutliche und öffentlidie Fürsorge dadurch zukommen, daß er durch seine Kirche das rechte Wort zur rechten Zeit gibt. Die hohe Bedeutung dieser Fürsorge kommt im 3. Gebot zum Ausdruck, das in der christlichen Deutung kein Sabbatgesetz mehr bedeutet, sondern den lebendigen Dienst des göttlichen Wortes als unverzichtbare Mitte des Gemeindelebens schützt. Es steht gewiß nicht in Menschenmacht, daß wir in der Kirdie immer hören können, was zu hören sich in Zeit und Ewigkeit lohnt. Gott hat dieses sein Wort immer in seiner Macht, und es weckt Glauben, „wo und wann es Gott gefällt" (CA V). Aber es ist auch möglidi, daß wir uns diese Gaben versdierzen, indem wir sie nicht mehr gebrauchen und aus dem Dienst am Wort ein routiniertes geistliches Gerede madien. Es liegt in der mit der Gotteskindschaft gesetzten Verantwortung, in dem Gottesdienst den Ort zu hüten, wo wir auf Erden Gottes Wort hören, seine Gaben empfangen und im Gebet und Lobgesang mit ihm reden können. Die Ordnung des Gottesdienstes verlangt darüber hinaus aber audi nach der Zone der Stille, durch welche die geschäftige Welt daran erinnert wird, daß ihre Geschäftigkeit vor Gott zu schweigen hat und ihre Zwecke dort klein werden, wo sich die Ruhe ankündigt, die Gott seiner Erde verheißen hat.
Die Sammlung des inneren Menschen — Das Gebet
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2. Die Sammlung des inneren Menschen — Das Gebet Das Bewußtsein der Geborgenheit und Dankbarkeit macht die Kinder Gottes zu gesammelten Menschen. Jesus ruft der sidi in „vielen" Sorgen und Mühen zerstreuenden Martha zu: „Wenig ist nötig, oder gar nur eines" (Lk 10, 42). Der unbeständige, „zwiespältige" Mensdi wird im Jakobusbrief zweimal als das eigentliche Gegenbild des Christen apostrophiert (1,8; 4, 8). Der „innere Mensdi" soll nach Paulus von Tag zu Tag erneuert werden. Wenn auch der äußere Mensdi nicht an dieser Erneuerung teilhat — im Gegenteil — so soll der innere doch reifen und wachsen (vgl. Rom 7, 22 u. Eph 3,16). Nur der gesammelte Mensch kann schweigen und das Wort meditieren; nur der gesammelte Mensch kann daher auch Prediger sein. In dieser Sammlung kann sich allein auch die Selbstprüfung vollziehen, ohne die es kein Wachsen und Reifen gibt, ohne die wir in der unerträglichen Fertigkeit und Unbelehrbarkeit auch des geistlichen und theologischen Urteils beharren. Es gibt keine Gotteskindsdiaft ohne diese Sammlung in der Selbstprüfung vor Gottes Angesicht. In ihr lösen wir uns von aller Eigenliebe und überprüfen rückblickend unseren Tag, den letzten Zeitabschnitt unseres Lebens, überprüfen die eigene Schuld und alles Meßlingen — nicht im Sinne des verfehlten Erfolges gemeint —, wir prüfen unser Verhältnis zu den nächsten Menschen und erwägen das Ziel, das vor uns steht. Grillparzers Wort von der Sammlung, dem „mächtgen Weltenhebel, der alles Große tausendfach erhöht" (Des Meeres und der Liebe Wellen III, 1), spricht einen zentralen Gedanken des Dichters aus, der sicher in der Nähe des Obigen liegt. In der Libussa III/2 läßt er Kasdia sprechen: Wem nicht gelungen, all die bunten Kräfte Im Mittelpunkt zu sammeln seines Wesens . . . Wem irdsche Sorgen, Wünsche und das Schlimmste Von allem, was da stört — Erinnerung Das weitverbreitete Gemüt zerstreun, Für den gibts fürder keine Einsamkeit, In der der Mensch allein ist mit sich selbst. Hier tritt dann dodi in tiefer Melancholie ein Begriff von innerer Sammlung zutage, dem es um die Einsamkeit und das Beisichselbstsein zu tun ist. Der Unterschied zu dem hier entwickelten Gedanken liegt auf der Hand.
In diesem Zusammenhang ist noch vom Gebet zu sprechen. Es ist das große Vorrecht der Christen, daß sie in allen Nöten ihren himmlischen Vater anrufen, mit ihm sprechen und seines Hörens gewiß sein dürfen, wenn er auch wahrlich nicht jedes Begehren erfüllt und oft schwere und fremde Wege führt. 12'
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I I . Das sittlidie Bewußtsein
D a s T h e m a berührt die allerpersönlichste E r f a h r u n g . Es ist hinwiederum kein Spezialthema der Christen, sondern es stellt die Christenheit rätselvoll in den Zusammenhang der Religionsgeschichte. Die Belehrungen über das Gebet M t 6, 5 ff. und L k 11, I f f . sowie die Einladung z u m Gebet ( R o m 8 , 1 4 f . ; 1 2 , 1 2 ; K o l 4, 2 ; 1 Thess 5 , 1 7 ) sind kein Gebetsgesetz, sondern rufen z u r Betätigung der Gotteskindschaft auf. Sie setzen offenbar voraus, d a ß die Christen leicht im Gebet ermüden, es vergessen, ihm nicht v o l l k o m m e n trauen, und sie rufen in Erinnerung, d a ß nur, wer viel und regelmäßig betet, wer i m Gebet lebt, den verborgenen Segen des Gebetes empfängt. Das Gebet hat der theologischen Theorie immer Widerstände entgegengesetzt. Dabei ist zwar in der Regel das Dankgebet und der betende Lobpreis unbestritten gewesen, wenn nicht gar das Gebet in ein allgemeines „Offensein für Gott" aufgelöst worden ist. Hingegen ist die Möglichkeit des Bittgebetes in der modernen Theologie immer wieder ein Gegenstand der Kritik gewesen. Diese Kritik nährt sich aus der Einwirkung der Philosophie auf die Theologie. Sie steht unter dem Eindruck des Gedankens, daß das Bittgebet, sofern sein Begehren sich im Laufe des natürlichen Ganges der Dinge von selbst erfüllt, eigentlich nur eine vorweggenommene Ergebung in den Willen Gottes darstellt. Meint das Bittgebet jedoch eine Abweichung vom natürlichen Lauf der Dinge, so postuliert es eine Aufhebung der Kausalität durch ein unmittelbares Eingreifen Gottes zu unseren Gunsten und auf unsere Veranlassung hin. Ein solches Eingreifen Gottes sich zu denken ist aber nicht nur deshalb — und damit wendet sich die Kritik ins Religiöse — „unwürdig", weil es unsere Selbstsucht bestätigen würde, sondern auch deshalb, weil Gott durch unser Bitten zu einer Korrektur der doch von ihm selbst gesetzten und bewirkten »Kausalität" veranlaßt werden soll. Schleiermacher hat (Der christliche Glaube §§ 1 4 6 , 1 und 147) im wesentlichen diese Kritik vorgetragen, sie freilich in einer starken Akkommodation an den kirchlichen Sprachgebrauch gemäßigt. Der Christ lebt in Ergebung und Dankbarkeit. Für dasjenige aber, was noch unentschieden ist, wird sein Gefühl zum Gebet, d. h. zur innigen Verbindung des auf das beste Gelingen gerichteten Wunsches mit dem Gottesbewußtsein. Das Gebet im Namen Jesu hat die Verheißung der Erhörung, „aber auch nur ein solches", nämlich ein Gebet, „welchem das ganze Selbstbewußtsein der Kirche zum Grunde liegt". Ähnlich akkommodierend und doch in einer unverkennbaren Zurückschiebung des Bittgebetes verfährt A. Ritsehl (Rechtfertigung und Versöhnung, I I I , 1888 s , § 66). Für die christliche Gemeinde ist das Danken die dem Bitten übergeordnete Anerkennung Gottes. Das Danken ist nicht eine Art neben dem Bitten, sondern es ist die allgemeine Form des Betens und das Bitten ist nur eine Modifikation des Dankgebetes. Dennoch ist das Gebet in Jesu N a m e n und nach Jesu R e g e l : M t 6, 5 — 1 5 und L k 1 1 , 1 — 1 3 ein Bittgebet. E s beruht a u f dem Glauben, d a ß G o t t unser V a t e r ist und w i r seine K i n d e r sind. Dieser Glaube
Die Sammlung des inneren Menschen — Das Gebet
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liegt samt seinen Konsequenzen denkbar weit von allem philosophisch Möglichen und Vertretbaren ab. Ohne Rücksicht darauf gilt aber, daß wir Gott ohne Vorbehalte und Hintergedanken bitten dürfen. Das Bittgebet ist der Erweis der Kindschaft. Diese biblische Auffassung hängt zweifellos mit der Überzeugung zusammen, daß Gott auch Wunder tun kann. Gott trägt die ganze Welt und unser Sein in der absoluten Gegenwärtigkeit seines Wollens. Gott kann, was er will, und der Beter wird Wunder schauen. Das sagt jedes Evangelium, in dem einer Jesus um Hilfe anschreit ( z . B . Mk 2, 1 ff.; 4, 35 ff.; 10, 4 6 f f . u.ö.). Der Einwand der Durchbrechung der Naturgesetzlichkeit, an sich von seinen Voraussetzungen aus unwiderleglich, ignoriert den tragenden Gedanken, daß Gott seine Schöpfung nicht nur ein für allemal geordnet hat, sondern daß er sie fortwährend erhält und daß sie ohne diese seine Erhaltung zerfällt. Sodann geht der Einwand an der Tatsache vorbei, daß sowohl das Bittgebet wie auch seine Erhörung — nicht „Erfüllung" — eine Sache der inneren Erfahrung ist, die sich aller Demonstrierbarkeit entzieht. Es gibt schlechterdings kein „Wunder", das sich objektivieren läßt. Beten ist immer mehr, ja etwas grundsätzlich anderes als Wünschen. Beten heißt mit dem lebendigen Gott denken, und in dieser „Zwiesprache" — der Ausdruck ist unvollkommen genug — verändert sich schon unser Wünschen selbst: es kommen manche Wünsche zum Erliegen, andere Dringlichkeiten erwachen; es kommt zur Vertauschung des „Willens", den das Evangelium an seinen geheimnisvollsten Stellen andeutet (Mt 6 , 1 0 und 26, 42). Sicher ist, daß Jesu eigenes Gebet keine „Parallele" zu unserem Beten darstellt. Die altüberlieferte Gebetsschule der Christenheit ist der Psalter. Eiert hat gelegentlich (Ethos 404 f.) anhand von Ps 50 das ganze Gebet als Phasen eines Dialogs gekennzeichnet, der durch Bitte, Dank und Lob hindurchgeht. Damit ist schon gesagt, daß das Bittgebet niemals ein isoliertes Gebet darstellt und als ein isoliertes Problem behandelt werden darf. Es gibt eine Tiefe des Gebets, wo die Grenzen zwischen Lob, Dank und Bitte überhaupt verfließen. Wie wir Christen kein Gebet kennen, das sich ohne Heuchelei nur auf „geistliche" Gegenstände bezöge, so gibt es auch kein Gebet, das nur das meine wäre. Alles Beten der Christen geschieht auch in der größten Einsamkeit mit der Gemeinde, der Kirche. Die Gemeinschaft der mit uns lebenden Christen tritt unserem Gebet teilnehmend und fürbittend zur Seite, und die Kirche, zu der ja immer die Generationen der Väter gehören, nährt unser Gebet durch ihre Erfahrung und die Fülle ihrer Gebetsschätze. Die Kirche ist ebenso das betende wie das
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II. Das sittliche Bewußtsein
hörende Gottesvolk. Sie ist nur unter der Bedingung, daß sie hörende Kirche ist, auch Kirche des Wortes. Nur als betende Kirche kann sie aktive Kirche sein, wie sie auch nur als Kirche des kindlichen Gebetsglaubens die Verheißung der Zukunft hat. Diese „Betgemeinde" betet im Namen Jesu, d. h. unter Appell an die durch Jesus uns eröffnete und offenbarte Kindschaft: Joh 14, 13 f.; 15, 7; 16, 23 f.; sie betet im Geist: Rom 8,14 f.; Gal 4, 6, d. h. sie tritt betend in den Machtkreis der Trinität. Wir sprechen von einem Geheimnis, wenn wir hier von der Gotteskindsdiaft sprechen. Es sei in diesem Zusammenhang mit diesem Wenigen genug: Das Gotteskind ist der auf Gott hin gesammelte und in ihm geborgene Mensch, der Mensch, der Gott, den Schöpfer der Welt und Vater Jesu Christi, als seinen Vater weiß. Dieses Gotteskind lebt in der betenden Kirche und nimmt teil an der Gewißheit, daß Gott um dieses Betens willen und in diesem Gebet erfahrbar die Welt erhält. Zu verweisen ist im allgemeinen auf Fr. Heiler: Das Gebet (1918) N D 1969 — G. van der Leeuw: Phänomenologie der Religion, passim — mein Buch: Die innere Welt, Religionspsychologie, 1953*, Kap. 4 — F. Mildenberger: Das Gebet als Übung und Probe des Glaubens, 1968 — RGG II, 1209 ff. (F. Heiler u. a.). Es liegt in der Natur des Themas, daß sich die theologisch zentralen Aussagen meist in der praktischen Lit., bes. in den Auslegungen des Vaterunsers, finden. Aber auch die Lehre von der Seelsorge (z. B. E. Thurneysen, ebda. 1965 s , 165 ff.) erweist sich als zuständig.
III. DIE U N S A N V E R T R A U T E WELT (Ethik der Natur und der Kultur) Vorbemerkung Es gehört zum Menschsein, daß es „In-der-Welt-Sein" ist. Der Mensch lebt in bestimmten Horizonten. Er hat — im allgemeinsten Sinne verstanden — immer etwas um sich her und ist immer mit irgend etwas beschäftigt. Er hat etwas vor sich, sei es ein „Thema" seines Denkens, sei es ein „Gegenstand" oder ein ganzes System, an dem er arbeitet, sei es ein anderer Mensch oder ein Gemeinschaftsverband von Menschen, zu dem er in Beziehung steht. In Anbetracht dieser Sachverhalte gibt es keine in sich ruhende Persönlichkeit, keine reine Individualität — somit auch keine Individualethik im klassischen Sinne —, sondern jeder Mensch ist eben in der Weise Mensch, wie er in der Welt ist. Es gilt beides: Er spiegelt in seinem Wesen die Welt und drückt dieser Welt den Stempel seines Wesens auf. Die Welt ist in seinem Verstehen, in seinen Gedanken, und zugleich weiß der Mensch sich als das Zentrum intentionaler Leistungen. Der Mensch als „handelndes Wesen" ist den überkommenen Horizonten handelnd zugewendet. Verstehen heißt zugleich Begreifen und Ergreifen, also der intentionalen Gegenstände sich bemächtigen, ihrer Herr werden. Eins geht ins andere über. Der Mensch ist in der Welt, wie auch diese Welt in ihm ist. Dieser allgemeinste Weltbegriff ist ein anthropologischer: Die Welt ist das zum Menschen selbst unlöslich gehörende Gegenüber. Wie gesagt, es handelt sidi hier zunächst um eine allgemeinste Aussage. Sie bedarf der Differenzierung. Diese Differenzierung kann nun in verschiedenen Richtungen durchgeführt werden. Ich sehe dabei von der Differenzierung in der Form der Einzelwissenschaften ab. Sie kann philosophisch die verschiedenen Schichten oder — um mit Husserl zu sprechen — „Regionen" des Seienden in Betradit ziehen. Für die Ethik ergibt sich dodi wieder ein besonderer Gesichtspunkt der Betrachtung. Verstehen wir den Menschen als handelndes Wesen, so ergeben sich zwei Weisen, in denen er sein „In-der-Welt-Sein" erfährt. Einmal tritt ihm die Welt so gegenüber, daß sie ihn begrenzt, ihm Hemmungen bereitet, Wege zeigt, Möglichkeiten bietet, Kräfte zuführt und dergleichen. Es ist die Erfahrung der Welt als Natur. Dann aber erfährt der
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III. Die uns anvertraute Welt
Mensch die Welt wieder ganz anders, nämlich als Gegenstand seines Handelns, als das Feld, in das er seine Planungen einzeichnet, als die Horizonte, die er nicht nur wie ein Schicksal hinnimmt, sondern die er selbst wandelt, hinausrückt; er erfährt die Welt als Aufgabe neuer Gestaltung, als Materie seines Schaffens. Die so erfahrene und begriffene Welt ist die Kultur. Sie ist die sich dem Menschen als Aufgabe seines Handelns darbietende Welt. Es ließe sich audi eine Variation denken, die so aussieht: Die Welt, in der der Mensch handelt und leidet, in der er sein Werden und Vergehen hat und in die er sein Geschick einzeichnet, ist die Geschichte. Die Welt als N a t u r und die Welt als Geschichte sind die beiden Formen, in denen sich die Welt unserem wissenschaftlichen Verstehen darbietet. In beiden Gestalten stellt uns die Welt vor die Aufgabe, nach ihren „Gesetzen" zu fragen, und in beiden Gestalten unternimmt es die Welt, uns mit dem Anspruch der lückenlosen Gültigkeit ihrer Gesetze zu überwältigen. Die Welt, die uns umgibt, in der wir unser Sein haben, ist ganz und gar nur Welt. Sie ist als N a t u r ganz und gar N a t u r , und die Gesetze dieser N a t u r lassen per definitionem keine Ausnahme zu. Es liegt im Begriff des Naturgesetzes, keine Lücke offen zu lassen — was nicht ausschließt, daß eben dieser Begriff selbst Fragen offen läßt. Ebenso ist die Welt als Geschichte ganz und gar geschichtlich. Es ist nichts denkbar unter allem, was das Sein des Menschen in der Welt betrifft, was nicht sofort auch „nur geschichtlich" gedacht werden müßte. Ich verweise hierzu auf L. Landgrebe: Philosophie der Gegenwart, 1957, ferner auf Fr. Gogarten: Verhängnis und H o f f n u n g der Neuzeit, (1953) N D 1966, und auf meine Aufsätze: Vom geschichtlichen Denken in der Theologie, ThLZ 1955, Sp. 513 ff.; In welchem Sinne sprechen wir beim Menschen von „ N a t u r " ? Z T h K 1955, 272 ff. u n d : Die Gegenwart als Grenze der Gesdiidite, in: D a n k an Paul Althaus, 1958, 217 ff. — In der Fragestellung der Ethik möchte ich jedenfalls N a t u r und Kultur als die beiden Erfahrungsweisen verstehen, unter denen sich eben die Welt dem handelnden Menschen phänomenal kundgibt. In diesem Sinne stellen wir die ethische Problematik der Weltgestaltung unter die beiden Gesichtspunkte der N a t u r und der Kultur. Bei den Kulturproblemen sollen aber die weiten Gebiete des Gemeinschaftslebens ausgeklammert bleiben. Das mag aus der Sache selbst nicht streng zu rechtfertigen sein. Einmal ist ja die Kultur nicht ohne Einbeziehung des menschlichen Miteinanders denkbar; jeder Wohnraum, jedes Kunstwerk erinnert an die sozialen Bezüge. Und andererseits zeigt jede soziologische Überlegung, wie sich ihre Konsequenzen auf die Einzelheiten der Kulturgestaltung auswirken: der Sport, die kirchliche Gemeinde, die patriarchalischen Familienformen älterer Zeit oder die Verkehrsmittel des Massenzeitalters, das alles sind nicht nur soziologische Probleme, sondern sie haben unmittelbare Folgen f ü r die Kulturgestaltung. Und doch zeigt die damit angewandte Doppelseitigkeit der Betrachtung, d a ß die Kulturfragen und die Fragen der Vergesellschaftung zwar zusammenhängen, aber doch nicht ineinander aufgehen. Das mag es rechtfertigen, wenn wir im Aufbau dieser Ethik die beiden Fragenkreise trennen. Würden wir diese Trennung unterlassen, dann würden vermutlich die hier
Der Begriff der Natur und unser Verhältnis zu ihm
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behandelten Fragenkreise der Kulturethik, Tedinik, Wissenschaft und Kunst, nur zu schnell in der soziologischen Fragestellung versickern. So aber ist zu hoffen, daß die Fragen der Weltgestaltung, geteilt in die aus der Naturproblematik und aus dem Kulturbegriff entstammenden Themen, ihre eigenen Gewichte behalten.
14. Kapitel Die
Natur
1. Der Begriff der Natur und unser Verhältnis
zu ihm
Der Begriff der Natur ist nicht eindeutig, so häufig wir ihn auch verwenden. Wir sprechen etwa von Natur im Sinne von „Wesen", also im Sinne des scholastischen Begriffs der „essentia". So sprechen wir von der „Natur" des Staates, der Stimmungen oder von der Natur des modernen Wirtschaftslebens. Charakteristische Züge eines Menschen, sein spezifisches Wesen bezeichnen wir als seine Natur, ja wir pflegen ganz pauschal bei einer Konstellation von äußeren Umständen, bei Verflechtungen verschiedener Ursachen zu sagen: „Es liegt in der Natur der Sache". Man kann natürlich bei etwas genauerer Ausdrucksweise — die dann schon fast eine philosophische Gewissenhaftigkeit verrät — den Begriff des Wesens, der „essentia" der statischen Ordnung vorbehalten und von Natur bzw. natura dann sprechen, wenn man eine dynamische Ordnung, etwa wachstümliche Abfolgen oder Entwicklungen bezeichnen will. Es ist demgegenüber wieder etwas ganz anderes, wenn wir den vom Mensdien nicht berührten Teil der Welt als Natur bezeichnen. Der Naturbegriff steht dann im Gegensatz zur Zivilisation oder gar zur Kultur; das Natürliche gilt als das Unverbildete, und wir pflegen geradezu zu sagen: „Wir sind hier umgeben von einer herrlichen Natur". Mit diesem Sprachgebrauch hängt es zusammen, wenn wir die uns nicht verfügbaren, nicht durchschaubaren und nicht kalkulierbaren Kräfte der Welt als „Natur" bezeichnen, mögen sich diese Kräfte im übrigen mitten durch unsere Leiblichkeit oder durch unsere Seele hindurchziehen. Wenn der Arzt auf die „gesunde Natur" des Patienten hofft oder meint, „hier müsse sich die Natur selbst helfen", so möchte man fragen, ob das dieselbe Natur ist, wie wir sie in anderen Redensarten ansprechen oder wie man sie in den „Natur"-Wissenschaften glaubt exakt verrechnen zu können. Eben dieses Unverrechenbare zwingt den Naturwissenschaftler dort, wo die naturwissenschaftliche
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III. Die uns anvertraute Welt
Formel nicht mehr ausreicht, sich paradoxerweise auf die Natur zu berufen, ebenso wie der Techniker den Vorbehalt der „rohen Naturgewalten " macht, um die Grenze der Exaktheit seines Konstruierens zu bezeichnen. Wenn wir vom Naturrecht sprechen, so gebrauchen wir ein Stichwort, das eine alte Tradition des abendländischen Rationalismus für sich in Anspruch nehmen kann und das doch bis heute nicht geklärt ist. Soll der Begriff jene Ordnungen bezeichnen, die der Mensch mit den Tieren gemeinsam hat, oder die ihn gerade vom Tier unterscheiden? Wir haben die Probleme dieser Theorie hier nicht weiter zu verfolgen. Wohl aber ist der Popularität dieser Theorie zu gedenken. Sie beruht darauf, daß man die Natur als ein geheimes und untrügliches System des Richtigen im Auge hat und daß man glaubt, die gesunden und ursprünglichen, audi die gerechten Ordnungen zu finden, wenn es nur gelingt, der „Natur" auf die Spur zu kommen und ihr die Regel des Lebens abzulauschen. In dieser Übersicht zeigt sich aber unerachtet der Vielgestaltigkeit in der Verwendung des Begriffs eines: Diese „Natur" ist in allen Auffassungsformen ganz wesentlich ein summarischer Begriff, in dem verschiedenartige „Natur"erfahrungen zum Ausdruck kommen. Es ist also nicht sinnvoll zu fragen, was denn diese Natur nun in Wirklichkeit, was sie womöglich „an sich" sei, sondern welches die Erfahrungen sind, die in der Anwendung dieses Begriffs sich aussprechen. Es ist eine bestimmte Welterfahrung, mannigfach und in sich schwer deutbar, die im Naturbegriff nach Auslegung drängt. Es wird damit zu rechnen sein, daß auch die „Ethik der Natur", in welcher dieser Ausdruck einer bestimmten Welterfahrung mit dem Menschen als einem handelnden Wesen zusammenstößt, Wesentliches zum Verständnis des Naturbegriffes selbst beiträgt. Merkwürdigerweise treffen nun diese Sachverhalte im Christentum auf eine denkbar unbefriedigende Situation. Gerade das neuzeitliche Christentum, vor allem das Christentum der Protestanten, ist durch ein eigenartiges Wegsehen von der Natur gekennzeichnet. Die Reformation hat ein gebrochenes Verhältnis zum Naturbegriff und damit zur Naturerfahrung. Das Natürliche ist der eigentliche Sitz der Sündhaftigkeit. Die mittelalterliche Askese will das Natürliche durch die Kräfte der Übernatur überwinden und heilen. In der Reformation, vor allem in der durch Melanchthon gelenkten Lehrbildung, wird gemäß dem Naturalismus der traduzianischen Anthropologie die Erbsünde auf dem Wege des natürlichen Zusammenhanges der Generatio-
Die Entdeckung der Natur in der Neuzeit
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nen, d. h. auf dem Wege der fleischlichen Zeugung „übertragen". Die „Natur" ist Boden, Basis und Nexus der Sünde. In dem Artikel II der C A „De peccato originis (sie!)" heißt es: „Item docent, quod post lapsum Adae omnes homines, secundum naturam propagati, nascantur cum peccato etc." (BSLK 53, 1 ff.). Die entsprechende Stelle der Apologie verstärkt den Ausdruck dieser Begründung noch: „propagati secundum carnalem naturam" (BSLK 146, 36). Der Schatten auf dem Natürlichen wechselt seine Spielarten in der Folgezeit, je nachdem wir auf das Zeugnis des Pietismus oder auf den Idealismus blicken. Für den Pietismus finden sidi reiche Belege, schon wenn man das Gesangbuch befragt. Idi erinnere an Tersteegens „Kommt Kinder, laßt uns gehen...",wo es heißt: „Gehts der Natur entgegen, so geht es grad und f e i n . . D i e Natur ist vor dem Licht der Gnade in die Sünde getaucht, die Beachtung der Natur oder gar die Differenzierung ihrer Werte, etwa der Unterschied von Natürlich und Unnatürlich, Gesund und Krank trägt theologisch nichts aus. Dieser Rigorismus des protestantischen Denkens erfuhr dann im Idealismus eine Bestätigung von einer ganz anderen Seite. Die Natur ist das dem Geist Entgegengesetzte. Im Denken Fichtes ist sie das Nicht-Ich schlechthin. Die Uberwindung der Natur wird zu einem Grundgedanken der Ethik, wie das nodi bei Wilhelm Herrmann erkennbar ist. In der Theologie Karl Barths wird dann der Offenbarungsgedanke zum Kriterium: die Natur ist keine Offenbarung Gottes, die Offenbarung stammt nicht aus natürlichen Quellen, alle „natürliche" Theologie ist ein Abweg. Wenn ich redit sehe, gibt es in der Geschichte der neueren evangelischen Theologie nur eine Ausnahme von dieser Diskreditierung der Natur, und das ist der Biblizismus. J. T. Beck und vor allem A. Schlatter, nicht zuletzt in seiner Ethik (Die christliche Ethik, 19614 bes. 374 ff.) sind auf das Problem aufmerksam gewesen. In der letzten Zeit verdankt das Naturproblem der Belebung der Seelsorgelehre und dem Austausch von Seelsorge und Medizin, besonders der zunehmenden Aufnahme der Psychotherapie in das pastorale Interesse eine stärkere Beachtung. Man kann aber auf die Gesamtlage gesehen nicht behaupten, daß die evangelische Theologie zum Naturbegriff grundsätzlich ein positiveres Verhältnis gefunden hätte. Noch immer liegt die Natur im Schatten des Interesses und des Verstehens. Und das hat, von den theologiegeschiditlichen Gründen ganz abgesehen, auch tiefreichende geistesgeschichtliche Wurzeln. 2. Die Entdeckung der Natur in der
Neuzeit
Natur ist ein Urwort des modernen Lebensgefühls. Sie ist bis heute ein Feld unabsehbarer Entdeckungen. Aber es ist nicht nur die Erfahrung der Wissenschaft, daß die Natur viele Geheimnisse in sich birgt, welche darauf warten, entdeckt zu werden. Sie reizt ja auch das Kind zur Entdeckung und Entschleierung. Die Naturalia sind im Lebens-
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III. Die uns anvertraute Welt
gefiihl des Kindes das bisher Verheimlichte, dessen Kenntnis sich das Kind mitunter geradezu erschleichen muß. Der Reiz der Entdeckung, der seit Jahrhunderten im modernen Lebensgefühl die Natur umgibt, hat die vielfältigsten Formen. Man muß die Entdeckungen immer durchsetzen. Ich meine das aber hier nicht in dem unmittelbaren Sinne einer Durchsetzung gegen wissenschaftliche Vorurteile, gegen Hemmungen, die der Entdeckungsvorgang selbst mit sich bringt, wie etwa die gegebene Entfernung des „Objekts" vom Forscher oder unzureichende Instrumente der Beobachtung. Die Durchsetzung der Entdeckung gilt gleichsam der Natur selbst. Mit der Entdeckung der Natur nämlich fällt die Last des bloßen Humanismus, der in Literatur gefaßten überlieferten „Welt", es fällt die Geschichtsschwere der abendländischen Existenz von uns ab. Die Natur ist das immer noch und immer von neuem Ursprüngliche, Unverbildete. Der Humanismus der „alten" Bildung schaltet immer eine Schicht von vermittelndem, indirektem Wissen, von Wissenschaftsgeschichte zwischen die Dinge und uns. Sobald der Forscher durchs Mikroskop blickt, ist diese „Zwischenschicht" weg und wir erblicken die Dinge selbst. Für Descartes war das sezierte Kalb eine ganze Bibliothek. Es ist wichtig zu sehen, daß bei unserer Analyse des modernen Naturgefühls diese wissenschaftliche und etwa die künstlerische Naturerfahrung ganz eng zusammenrücken. Ist doch auch die Entdeckung der Natur in der Malerei der Neuzeit eine Entdeckung dessen, wie es „eigentlich" ist: die Farben und das Licht und die verschwimmenden Konturen der Bäume. Man ist getragen von dem Glücksgefühl, näher an die Dinge, wie sie in Wahrheit sind, heranzurücken. So wird die Natur zum Quell der Erneuerung. Der Eislauf — Klopstocks Entdeckung für die Dichtung! — , der Spaziergang — man denke an Schillers Gedicht und an Seumes „Spaziergang nach Syrakus" —, sie sind Quellen der Kraft und der erneuerten Gesundheit. Die Landschaft und der Mond sind schon vor der romantischen Epoche der Menschheit zum Inbegriff ursprünglichen Lebens geworden. Der Mensch im Naturzustand ist „unverbildet"; Seumes „Kanadier, der von Europens übertünchter Höflichkeit nichts wußte", hat in der Literatur Englands und vor allem Frankreichs viele Kollegen, die der verbildeten Gesellschaft des 18. Jahrhunderts Gesundheit und rechtlichen Sinn, ja die ursprüngliche Vernünftigkeit des Menschen im „Naturzustand" bezeugen sollten. Die Natur ist ferner das stets Gegenwärtige. Die geschichtliche Welt ist vergangen, sie ist Erinnerung und nur durch die Vermittlung der
Die Entdeckung der Natur in der Neuzeit
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Bildung zugänglich. Natur ist — so sdieint es — immer Gegenwart. Darum entdeckt die Naturforschung in ihren Geheimnissen das eigentliche Buch Gottes, das aufgeschlagen ist und besser, unmittelbarer zu uns redet als das geschichtliche Dokument der Bibel und das Dogma der Kirche. Die Menschen der von starkem Sündengefühl beseelten Zeiten gingen nicht spazieren, sie bestiegen keinen Berg, ihr Blick war vor der Schönheit der Landschaft verschlossen. Luthers Romfahrt hat sich in keiner „Italienischen Reise" niedergeschlagen. Für den modernen Menschen bis zum heutigen Tag wird die Natur der Inbegriff der Reinheit, der Gesundheit und Ursprünglichkeit, die Quelle des unverbildeten Lebens. Sie weiß nichts von einem »Fall", sie ist „göttlich". Es ist hier nicht möglich, die Differenzierung dieses Naturverhältnisses audi nur andeutungsweise zu beschreiben. Es trägt den Empirismus der Philosophie ebenso wie die Entdeckung des Nationalen und das starke Empfinden des Volkstümlichen. Es durchwaltet ebenso die Erneuerung des Naturrechts wie es den Aufschwung der Pädagogik im Zeitalter der Aufklärung erklärt. Die optimistische Grundstimmung des Weltgefühls begleitet die zunehmende Entdeckung und Bemächtigung der Natur. Paul Hazard hat in seinen beiden großartigen Bänden: ,La Crise de la Conscience Européenne' und: ,La Pensée Européenne au XVIII e siècle de Montesquieu à Lessing' (deutsch: Die Krise des europäischen Geistes, 1939, und: Die Herrschaft der Vernunft, 1949) den Beginn dieser Entwicklung seit 1680 hinreißend geschildert.
Man wird wohl diese Grundeinstellung zur „Natur" als ein Merkmal des neuzeitlichen Weltgefühls in Anspruch nehmen können. Mir scheint, daß diese so kurz skizzierte Grundeinstellung bis zum heutigen Tag durch eine oft nur ganz latente Anti-Stimmung im Untergrund des Gefühls charakterisiert ist, die an sich ganz verschiedene, mehr oder auch weniger harmlose Tendenzen haben kann. „Natur" kann die Parole sein, unter der man sich von der religiösen, von der christlichen Tradition emanzipiert. „Aus der Kirchen ehrwürdiger Nacht sind sie alle ans Licht gebracht" gilt von den Leuten, die in der „Natur" ihren Osterspaziergang machen. „Natur" kann das Prinzip der Emanzipation von den überkommenen gesellschaftlichen Formen sein, und sie kann in sehr allgemeiner Weise die Zufluchtsrichtung sein, in der man sich der Last der Geschichte entwindet. In allem zeigt sich der Naturbegriff als merkwürdig undefinierbar. Und ich meine, hier könne auch nichts definiert werden, weil hier ja gar keine „Region" der Objektwelt angesprochen ist, sondern eine bestimmte Weise der Welterfahrung ihren Ausdruck sucht. Es sdieint mir sehr bezeichnend zu sein, daß der „Naturwissenschaftler den Begriff ebenfalls nur in
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III. Die uns anvertraute Welt
einer solch indefiniten Weise gebraucht und schon bei dem Versuch, die Region zu beschreiben, in der die sog. „Naturgesetze" Geltung haben sollen, zugunsten der Physik, der Chemie, der Biologie usw. auf den vagen Natuibegriff verzichten muß. Vgl. hierzu H. Heimsoeth: Die sechs großen Themen der abendländischen Metaphysik, 19645, 1. Kap. Eine andere Situation als die hier geschilderte tritt ein, wenn der Begriff der Natur als ein ontologischer verstanden wird. Dann begegnen sich, wenn ich recht sehe, in überraschender Weise unerachtet aller tiefen Verschiedenheiten die ältere Metaphysik und die moderne philosophische Fragestellung. Man vergleiche dazu L. Landgrebe: Philosophie der Gegenwart, 1957, 3. Kap.: Die Welt als Natur. Auch unser Weg wird sich sofort in diese Richtung wenden. Es schien mir aber wichtig, diese geistesgeschichtliche Reflexion dazwisdienzuschalten, weil sie das Widerspiel zu der Abneigung der protestantischen Theologie gegen den Naturbegriff darstellt und vielleicht in dieser Hinsicht manches erklärt. 3. Theologische Deutung des
Naturbegriffs
Die unserer Problematik entsprechenden Begriffe des Neuen Testaments sind zunächst nicht von der gleichen Geladenheit. Der Begriff βίος, irdisches Leben, Lebenszeit oder auch Lebensunterhalt (ζ. B. Mk 12, 44) gehört nicht hierher. Dagegen ist der Begriff der φύσις einschlägig. Er bedeutet Abstammung, Naturanlage, Naturordnung, auch Geschlecht oder Gattung. Er findet sich in den paulinischen Briefen (zehnmal), in Jak (zweimal), ferner in Eph und 2 Petr je einmal. Paulus denkt ohne Frage auch an eine normative Bedeutung der φύσις: Man kann sich bei ihr erkundigen, dann bekommt man Bescheid. Die Heiden tun φύσει τά τοΰ νόμου (Rom 2,14). Die Verkehrung der „natürlichen" Geschlechtsordnung ist der Inbegriff der sittlichen Unordnung (Rom 1, 26 f.). Die Heiden weihen ihren Kult τοις φύσει μή οδσιν θεοϊς, also vermeintlichen Göttern, die es „von Natur" — ihrem Wesen nach — gar nicht sind (Gal 4, 8). Sogar bezüglich der weiblichen Haartracht gilt ein ή φύσις διδάσκει υμάς (1 Kor 11, 14). Von diesem Begriff der φύσις ist der der χτίσις unterschieden. Er bezeichnet entweder den Schöpfungsakt (Rom 1,20) oder das Schöpfungswerk, das Geschöpf (Rom 8, 39; Hebr 4, 13). In diesem Sinne ist Christus πρωτότοκος πάσης κτίσεως (Kol 1, 15). Gelegentlich wird der Begriff auch verwendet, um das Geschaffene im Gegensatz zum Schöpfer zu bezeichnen (Rom 1,25), oder auch die „Kreatur" mit Ausnahme des Menschen (Rom 8,19—22). Was ist nun diese Physis, diese natura? Was bedeutet sie für unser Menschsein? Natur ist auch in dem paulinischen Sprachgebrauch das, was wir an uns und für uns schon vorfinden, bevor wir uns besinnen, bevor wir Stellung beziehen und handeln. Es ist — mag man das nun mit einem theologischen Gewicht versehen oder nicht — das, was wir ererbt haben, was als materielle und zugleich lebendige Grundlage unseres Daseins „da ist", womit wir uns auseinanderzusetzen haben.
Theologische Deutung des Naturbegriffs
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Diese Physis trägt uns, aber sie hat zugleich audi einen unübersehbaren Aufforderungscharakter. Natur ist das Kreatürliche in einer relativen Eigenständigkeit gegenüber dem Schöpfer. Das Wort Schöpfung erinnert immer klar an den Schöpfer. Beim Naturbegriff ist es anders. Die Natur hat etwas von einem unschuldigen Zwischenwesen an sich. Die Kreatur ist gottunmittelbar, der Natur eignet im Unterschiede dazu eine relative Freiheit ihres „natürlichen" Lebens. Der strenge Kreaturbegriff läßt keine relativen Unterschiede zu; er begreift das Geschaffene wesentlich von daher, daß es von Gott geschaffen ist. Hingegen kennt das Natürliche relative Unterschiede in vielfachem Betracht. Es wird qualifiziert durch den Unterschied des Gesunden und des Kranken, des Normalen und des Abnormen, des Ursprünglichen und des Entarteten. Aber zu diesen relativen Unterschieden innerhalb des Natürlichen kommen auch noch theologische Unterschiede hinzu, die dementsprechend eine verschiedene theologische Qualifikation hineintragen. Das Natürliche kann nämlich für Gott offen oder verschlossen sein. Man kann das vorläufig und allgemein so beschreiben: auch die Natur erinnert uns an den Schöpfer, aber nicht klar und eindeutig. Wenn ich ein Lebewesen als Kreatur bezeichne, so ist das ein Glaubensurteil. Idi sehe ganz davon ab, was mir dieses Lebewesen zeigt, wenn ich es als aus Gottes Schöpferhand hervorgegangen in Anspruch nehme. Es ist gleichermaßen Kreatur, ob es eine herrliche Blume oder ein erbarmungswürdiger Krüppel ist. Ich kann aber von der Natur niemals sprechen, ohne sie anzusehen und das zu bedenken, was sie mir zeigt. Sie zeigt mir mitunter die Größe und Madit des Schöpfers, d. h. ich meine diese Größe und Macht des Schöpfers im Anschauen der Natur zu sehen. Aber es läßt sich nicht leugnen, daß mir die Natur diesen Anblick ebenso oft verwehrt und zweifelhaft macht. Die Natur ist nicht ohne Erfahrung der Natur vorstellbar. Die Natur kann sich für uns als die eigentliche Last des Daseins auswirken. Sie ist das Element unserer Tierheit. Zeugung und Geburt, das Verhängnis des Erbganges, Wachstum, Krankheit und Tod, „Menschenrassen" und der Zwang der physiologischen und psychologischen Gesetze — das alles ist die „Natur" des Menschen. Sie ist insofern die Fessel unseres Menschentums, sie ist das, „was überwunden werden soll". — Aber das ist doch nur die eine Seite. Zum anderen hat eben diese Natur etwas Ursprüngliches an sich. Sie erinnert an den Ursprung aller Ursprünge, sie trägt das Ursprüngliche in ihrer Gegenwart und ist Gegenwart des Ursprünglichen. Sie ist erfahrbare reine Gegenwart. Sie
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I I I . Die uns anvertraute Welt
hat kein geschichtliches Bewußtsein neben sidi, das abgesehen von dem, was sie gegenwärtig zeigt, audi nodi ihre Geschichte weiß. Vielmehr ist alles, was von Naturgeschichte aus ihr erkennbar ist, aus ihrer reinen Gegenwart erkennbar. Irgendwie will die N a t u r von ihrem Gewordensein nichts wissen. Sie ist Ursprünglichkeit im K o n t r a s t zum Gewordensein, zum Schuldiggewordensein, wie es das menschliche D a sein kennzeichnet. Der Mensch ist als geschichtliches Wesen immer noch mehr, als seine reine Gegenwärtigkeit ausweist. Der Vogel unter dem Himmel und die Blume auf dem Felde sagen uns, daß sie ursprünglicher sind als wir. Es ist darum nicht zufällig, wenn wir uns in die N a t u r flüchten, um uns in ihr zu erholen und uns an ihr und in ihr darüber zu freuen, daß es die N a t u r noch gibt. „Das Natürliche ist die von G o t t der gefallenen Welt erhaltene Gestalt des Lebens." (Vgl. Gen 8, 2 2 ) Dieser grundlegende Satz findet sich in der Ethik von D. Bonhoeffer (1949) 1966 7 , 154, die überhaupt in der neueren Theologie in der Behandlung der Fragen des Natürlichen bahnbrechend gewesen ist. Hier ist vor allem der Unterschied von Gesdiöpflichkeit und Natürlichkeit, soweit ich sehe, überhaupt zum erstenmal so behandelt, daß er nicht einfach im Schema des Gegensatzes gesehen wird. „Der Begriff des Natürlichen . . . muß . . . vom Evangelium her wieder gewonnen werden. Wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Geschöpflichen, um die Tatsache des Sündenfalles mit einzuschließen, wir sprechen vom Natürlichen im Unterschied zum Sündhaften, um das Geschöpf lidie mit einzuschließen" (a. a. O. 153). Ebenso ist es von grundlegender Bedeutung, daß Bonhoeffer dem Unterschied des Natürlichen („das nach dem Fall auf das Kommen Jesu Christi hin Ausgerichtete") und des Unnatürlichen („das nach dem Fall dem Kommen Jesu Christi Sich-Versdiließende") eben unter den auch von mir angewandten Kategorien des Offen- und Verschlossenseins einen theologischen Sinn abgewonnen hat. — Idi verweise übrigens auch auf Karl Barth K D III/4, 366 ff., mit dessen Ausführungen ich midi hier weitgehend in Übereinstimmung befinde. Auf ihn sei auch im Blick auf das folgende Kapitel verwiesen. Ferner: M. Doerne: Christlicher Schöpfungsglaube, 1950. Zum Verhältnis von „Schöpfung" und „Natur" vgl. auch meine Dogmatik, 137 ff. 4. Sünde und Entartung
der
Natur
Wenn unsere bisherige Deutung des Weltbegriffes richtig ist, dann ist es widersinnig, von einem Fall der Welt zu sprechen. Es ist ebenso zu verwerfen, von einem Fall der Schöpfung zu sprechen. Die Schöpfung als A k t Gottes entzieht sich überhaupt solcher Redeweise. Aber auch die aus Gottes H a n d hervorgegangene K r e a t u r bezeichnen wir im Hinblidt auf dieses Hervorgegangensein aus seiner H a n d als Schöpfung. Es ist nichts zwischen dem Schöpfer und dem Geschöpf seiner
Sünde und Entartung der Natur
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Hand. Kann man aber, ja, muß man nicht von einem Fall der Natur reden? Ist das nicht der Sinn der Unterscheidung von Schöpfung und Natur, daß in dem Begriff der Natur der Fall mitgesetzt ist? Gewiß hat die Natur einen Bezug zur Sünde. Aber dieser Bezug ist ein anderer als beim Menschen; denn die Sünde ist unmittelbar die Sünde des gefallenen Menschen. Die Natur hat zur Sünde nur einen durch den Menschen vermittelten Bezug. Der Mensch hat die Natur, zu der er gehört und deren Krone er ist, in die Mitleidenschaft seiner Sünde hineingezogen. Die Natur leidet mit an dem Fall und seinen Folgen. Die Natur leidet unter dem Menschen und durch ihn. Die Natur birgt für uns Übel in sich; sie kann uns schrecklich werden, so daß wir sie hassen, und sie ist dennoch unschuldig an dieser Feindschaft. Die Natur hat keine Erlösungsmacht. Sie erinnert uns wohl an die Ursprünge und verbindet uns mit dem Ursprünglichen und Ersten, aber nidit mit dem Zukünftigen, mit dem Neuen und Letzten. Das zeigt sich daran, daß sie selbst der Zerstörung anheimgegeben ist. Die Natur ist geradezu ein Friedhof verfallener, nicht eingelöster Möglichkeiten: ausgestorbene und vernichtete Tierarten, Degeneration, massenhafter Tod, Domestizierung des Wilden und Ursprünglichen — das ist a u c h eine Gestalt der Natur, in welcher der Mensch überdies vielfach seiner eigenen Schuld ins Angesicht blickt. Die relative Selbständigkeit der Natur, von der wir sprachen, zeigt sich audi darin, daß sie uns Menschen anvertraut, daß sie uns in die Hand gegeben, ausgeliefert ist. Das eröffnet Möglichkeiten, die audi theologisch nicht ohne Bedeutung sind. Wir sind zum Herren der geschöpflichen Dinge gemacht worden (Gen 1, 28; 2,19 f.). Welche furditbare Möglichkeit damit für den Menschen eröffnet ist, das wird siditbar, sobald wir unsere Verantwortung für die Natur in die Form fassen: Wir können mit ihr machen, was wir wollen. Das Absdirekkende dieser Formulierung liegt darin, daß wir in einem willkürlichen Verfahren mit der Natur offenbar gewisse Wesensgesetze verletzen, die in einer mehr oder weniger deutlichen Weise in der Natur selbst verborgen sind. Noch einmal madit uns die schon erwähnte Undefiniertheit der Natur zu schaffen. Wäre ihr Wesen définit, so wie es die neuscholastische Definition der Natur als eines „Wesenssprinzips dynamischer Ordnung" nahelegt, dann wären ja auch ihre inneren Gesetzlichkeiten aussagbar. Aber sie sind es nidit in diesem Sinne. Es bleibt immer noch eine offene Frage, ob etwas, was physikalisch, chemisch, 13 Trillhaas, Ethik
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III. Die uns anvertraute Welt
ja selbst biologisch mit einem Naturwesen „gemacht werden kann", audi seiner Natur entspricht. Ich nenne als Beispiel willkürlich herbeigeführte Mutationen, also förmliche Denaturierungen des Ursprünglichen. Wir stoßen hier auf ein Problem, für dessen Bewältigung wir, wie mir scheint, noch keine präzisen Begriffe haben bzw. wo wir mit verschiedenen Begriffssystemen hantieren müssen, die nicht zueinander passen. Drei Formen der Entartung des Natürlichen scheinen die Verantwortung des Menschen der Natur gegenüber besonders zu beleuchten. a) Die Natur kann in unserer Hand ihre Ursprünglichkeit verlieren, indem sie zur Unnatürlichkeit entartet. Entsprechend dem eben Gesagten ist diese Entartung allerdings schwer fixierbar. Die Unnatur ist ein Verlassen des Ursprünglichen und Wahren, das wir in den Gebilden der Natur wahrzunehmen glauben. Ich habe auf die bewußt herbeigeführten Entartungen durdi künstliche Mutationen schon hingewiesen. Es ist keine Frage, daß man in einem vordergründigen, nurtechnischen Sinne das alles „machen kann". Für die Beantwortung der Frage, wieweit wir darin auch eine ethisch vertretbare Möglichkeit sehen können, wieweit man das, was man hier „machen kann", auch „verantworten kann", dafür fehlen uns im Augenblick noch die begrifflichen Mittel. Es ist denkbar, daß uns durch die weiteren Konsequenzen soldier Züchtungsexperimente audi unsere Verantwortung gegenüber der Ursprünglichkeit der Natur deutlicher wird, die wir im Augenblick nur als Problem umreißen und in concreto oft nur im Gefühl wahrnehmen können. Aber auch die Auflösung der Familienordnungen, die Außerkraftsetzung der schlichten Pietätspflichten (Lk 21,16) gehört zur Zerstörung der Natürlichkeit. Mit der Feststellung, daß wir nicht mehr im patriarchalischen Zeitalter leben — was ohne Frage stimmt — wird heute oft, sogar bis in die christliche Soziallehre hinein, audi eine „Mutation" der Familienordnung zur vaterlosen Familie bis zur platonischen Auflösung der Familie als Erziehungs- jnd Lebensverbandes befürwortet. Wieder gilt: Man „kann das machen". Aber die Frage bleibt — sie wird uns noch im Zusammenhang der Technik (17. Kapitel) beschäftigen —, wie weit man hier von der „Natur" der menschlichen Gemeinschaftsformen her ein „Gesetz" empfängt, an das wir gebunden sind. b) Die zweite Form der durdi unsere Schuld entstehenden Entartung ist die Mechanisierung. Sie ist besonders schwer zu begrenzen und muß doch als eine Richtung erkannt werden, in der die Natur sich
Teleologie der Natur
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selbst entfremdet wird. Sie wird als mechanisierte N a t u r wie eine leblose Sache behandelt und zu fremden Zwecken ausgebeutet. Man kann hier sofort einwenden, daß uns dazu ja die N a t u r ausdrücklich anvertraut sei. Wir können uns von ihr ernähren, können ihre wilden Flüsse kanalisieren, ihre Tiere domestizieren, Pflanzensorten züchten, die „von Natur" gar nicht vorhanden sind und dgl. Dieser Einwand läßt sich nicht entkräften. Wenn ich trotzdem die Mechanisierung unter den typischen Formen einer durch uns verschuldeten Entartung der Natur nenne, dann geschieht dies aus zwei Gründen. Es wird nämlich durch diese Mechanisierung der N a t u r das Problem bereits vorgedeutet, dem wir wiederum im Zusammenhang mit den Fragen der Technik begegnen werden, inwieweit sich die N a t u r gleichsam „überspannen" lasse, ohne daß ihr geheimes „Gesetz" verletzt wird. Was bezüglich der untermenschlichen N a t u r vielleicht ein für allemal nidit völlig klargestellt werden kann, wird sofort in ganzer Deutlichkeit sichtbar, sobald wir an die N a t u r des Menschen denken. Davon haben wir im nächsten Kapitel zu handeln. c) Eine Entartung der Natur, die vollends ohne den Menschen und seine Einwirkung gar nicht denkbar ist, ist schließlich der Vitalismus. Vitalismus bedeutet zunächst etwas, was allein den Menschen selbst betrifft. Er sinkt in die N a t u r zurück, aus der er sich erhoben hat und immer wieder erheben soll. Er gibt die Teleologie preis, die Zielstrebigkeit, kraft deren er sich über die Natur erhebt. Da aber die Teleologie des Menschen allein seine Suprematie in der Schöpfung bestätigt und die Schöpfung nur im Menschen sich selbst zu transzendieren vermag, beraubt der Mensch im bloßen Vitalismus die Natur, die er ja repräsentiert, ihrer Hoffnung, über sich selbst hinausgeführt zu werden. N u r durch die Vermittlung des Menschen hat die N a t u r teil an der Eschatologie, an der Hoffnung für die Welt. 5. Teleologie
der
Natur
Damit sind wir unmittelbar vor das letzte Thema dieser Ethik — oder soll man doch sagen: dieses Abrisses einer Theologie der Natur gekommen. Die Bewegung und Belebung der N a t u r ist an sich eine Bewegung ohne Sinn und Ziel. Die Naturwesen bewegen sich, weil die Triebe sie treiben. Aus diesem Grunde hat die Natur keine Erlösungsmacht. Die Naturwesen wissen nidits von ihrem Ziel, sie wissen nichts von ihrem Tode. Das Menschsein in der Natur bedeutet, daß die N a t u r allein 13»
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durch den Menschen an ihre Zukunft erinnert wird. Sie ist von sich aus, ohne den Menschen, dieser Erinnerung nicht fähig. Wie die Natur an der Sünde nur über den Menschen teilhat, nur durch ihn an den Folgen der Sünde und an der Verderbnis der Schöpfung leidet, so hat die Natur auch nur durch den Menschen an der Hoffnung auf die Erlösung teil. Der Mensch nimmt die Natur also im Guten wie im Bösen mit auf seinem Wege. Das ist der Sinn von Rom 8,19—23. Die Kosmologie dieser Stelle ist von der „Anthropologie" schlechterdings nicht zu trennen. Zugleich aber kann der Mensch auf die Natur nicht verzichten. Wie sie den Zustand darstellt, in dem er sich befindet und in dem er das unreflektierte Gesetz seines alltäglichen Daseins hat, so stellt die Natur auch das Modell dar für alles das, was durch das Wirken des Menschen auf Erden wieder entstehen soll. Wenn der Mensch die Natur in Zucht und in der Kraft des Geistes, in geistiger wie in ethischer Anstrengung überwunden hat, dann soll doch als Ergebnis „eine zweite Natur" entstehen, in der der Zwang und vielleicht die Krampfhaftigkeit der von Schritt zu Schritt bewußten Anstrengung sich lösen und in die Leichtigkeit und Unbewußtheit einer neuen „Natürlichkeit" übergehen. Die Natur ist das Modell des Künftigen. Das gilt im vordergründigen Sinne menschlicher Entwicklung und Erziehung, es gilt in dem hintergründigen Sinne der christlichen Hoffnung nicht minder. Die Natur ist das Modell des Künftigen auch hier, die neue Schöpfung ist eine zweite Natur. So trägt der Mensch die Natur und die Natur den Menschen. Immer wieder drängt sich in den Erwägungen über die Natur der Begriff des Gesetzes auf. Und doch wird man ihn nicht uneingeschränkt anwenden können. Was hier an Gesetzhaftigkeit sichtbar wird, das ist dunkel, undeutlich, umstritten, es entbehrt der Artikulation durch das Wort und durch die gebende Autorität. Es kann also nur in einer schattenhaften Form von einem Gesetz die Rede sein. Die Natur ist eine Erinnerung an das Gesetz Gottes, aber sie ist nicht das Gesetz Gottes selbst. Und doch können in dem, was wir auf unserem behutsamen Wege über die Natur ermittelt haben, auch die schattenhaften Umrisse der Theologie des Gesetzes erkannt werden. Vielleicht läßt sich sogar sagen, daß die Theologie des Gesetzes eben durch die schattenhaften Umrisse, in denen sich das Gesetz in der Natur abspiegelt — „abschattet" —, einen geheimnisvollen Sitz im erfahrbaren Leben empfängt: Die Natur erinnert an den Ursprung des Guten, sie erinnert daran, daß das Gute das Ursprüngliche, das Ursprüngliche das Gute ist.
Teleologie der Natur
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Die Natur schreibt uns hier und da durch ihre Strukturen vor, was wir tun sollen. Alle Gesundheit ist an den Strukturen des natürlichen Lebens orientiert. Die Natur macht uns eindrücklich, was wir schuldig bleiben. Sie ist durch unsere Schuld in die Folgen dieser Schuld, in Leid und Zerstörung verstrickt. Die Natur ist aber auch das Modell des Zukünftigen. Wie es keine Theologie des Gesetzes gibt, ohne der über alles Gesetz hinausweisenden Verheißung zu gedenken, so weist audi die Natur, die jetzt eine leidende und durch uns verstörte und denaturierte ist, über sich hinaus : Am Ende wird eine neue Natur sein. Die menschliche Natur hat eine besondere Fähigkeit, auf alles Natürliche überhaupt einzugehen. Es gibt eine Affinität, die in der menschlichen Konstitution liegt und die es dem Menschen ermöglicht, das Natürliche zu begreifen, zu erkennen, zu verstehen, sein Wesen zu „vernehmen". Es ist die Vernunft. In der Vernunft des Menschen erwacht die Natur zu sich selbst. Natur ohne Vernunft des Menschen hat etwas Schlummerndes, Traumhaftes. Die Vernunft ist das Organ des Menschen für die Erkenntnis des Natürlichen. Die Vernunft ist nicht etwas Außerweltliches, Göttliches, sondern sie ist genau das der Natur komplementäre Vermögen des Menschen, zu „vernehmen", zu gestalten, sie ist auch als die Vernunft des gefallenen Menschen noch Vernunft, das von Gott dem gefallenen Menschen erhaltene Vermögen, das Gegebene der uns umgebenden Welt und der uns tragenden Natur zu vernehmen. "Wiederum schließe idi midi damit weithin — wenn auch mit gewissen Abweidlungen — dem an, was D. Bonhoefïer in seiner Ethik (155 f.) sagt. Welche nahe Entsprechung zwischen dem Natur- und dem Vernunftproblem besteht, kommt schon in der schlichten Tatsache der theologischen Tradition zum Ausdruck, daß die rationale Theologie auch als natürliche Theologie bezeichnet wird. Die beiden Begriffe sind in dieser Anwendung geradezu austauschbar. Was wir von der Natur auszusagen haben, das gilt überdies weitgehend von der Vernunft in Analogie. So gewinnt, was wir über das Unnatürliche zu sagen versuchten — und idi erinnere an die dabei sichtbar gewordenen begrifflichen Schwierigkeiten — eine überraschende Zuspitzung, wenn wir das Unnatürliche zugleich als das Unvernünftige bezeichnen. Wissen wir die Grenze des einen nicht zu präzisieren, so meinen wir doch in praxi die Grenze des Unvernünftigen zu wissen. So ist im Sinne der vernehmenden Vernunft audi die Einsicht in das Vernünftige und seine Grenzen mehr eine Sache des „Gespürs" als der Definition. Was hier in allgemeinem Hinblick auf den Begriff der Natur erörtert worden ist und dabei mitunter offene Frage bleiben mußte, wird nun sofort in sehr deutliches Licht treten, wenn wir die Anwendung auf die Natur des
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Menschen machen und die Fragen des Lebens, seines Schutzes und seines Rechts behandeln. Die dem uns anvertrauten Leben gegenüber sich ergebenden Grundsätze werden sofort jene Präzision erbringen, die uns bezüglich der außermenschlichen Natur nodi fehlt. Die Fragen der Technik werden uns erneut daran erinnern.
15. Kapitel Die E h r f u r c h t vor dem Leben (Der Bios) Man hat oft das Wort Friedrich Schillers nachgesprochen: „Das Leben ist der Güter höchstes nicht." Dennoch ist das physische Leben der Inbegriff der uns anvertrauten Natur. Man kann sagen, es ist in gewissem Sinn der Mensch selbst. Gewiß ist das Leben an sich noch nicht alles. Es kommt darauf an, was einer aus seinem Leben macht. Aber das Leben selbst ist die Voraussetzung dafür, daß man aus diesem Leben etwas macht. Das natürliche Leben ist — menschlich gesprochen — die Chance, die jedem eingeräumt ist; im Glauben gesprochen ist das Leben selbst eine Gnade, ein Angebot Gottes. Es ist von einzigartiger Bedeutung, so daß wir es als kostbare und für unsere ganze sittliche Lebens- und Weltgestaltung grundlegende Gabe Gottes achten und bewahren. Das Leben wird dadurch zu einem Thema der Ethik, daß es eine Gabe darstellt, die Gott in unsere Hand gelegt hat. Ist schon die Natur in einem allgemeinen Sinn die unseren Händen anvertraute Natur, so ist die Natur in der Gestalt des menschlichen Lebens im speziellen Sinn unserer Verantwortung übergeben. Menschenleben in Menschenhand — das ist das Problem unseres Kapitels. Im Dekalog repräsentiert das Gebot „Du sollst nicht töten" unsere Verantwortung für das in unsere Hand gelegte fremde und eigene Leben. Das Dekaloggebot ist der Inbegriff dieser Verantwortung in seiner elementarsten Form. Es enthält aber eine Reihe von Themen, die wir nachfolgend zu behandeln haben. Neben A. Schlatters Christlicher Ethik ist zu verweisen auf W. Stählin: Vom Sinn des Leibes, 1968 4 , sowie auf K. Barth K D III/4, 366 ff. Die cthisdie Tradition kann für den ganzen Themenkreis zurückgreifen auf Aristoteles: Nikomadiische Ethik VII. — Viele Gründe sprechen dafür, dieses Kapitel und vor allem einzelne der hier zur Verhandlung stehenden Themen in die Ethik der Gemeinschaft aufzunehmen. Aber der Gesichtspunkt der Würde des natürlichen Lebens und der Verantwortung für seinen
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Schutz soll hier den Vorrang behalten. Das irdische Leben selbst ist Gabe und Gnade Gottes und es begründet schlechthin unser In-der-Welt-Sein.
1. Die Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung a) D e r M o r d . Das Gebot des Dekalogs „Du sollst nicht töten" besagt in seinem unmittelbaren Verständnis, daß es verboten ist zu morden. Wir stehen zunächst angesichts dieses Verbots anscheinend vor einer sittlichen Evidenz. In verallgemeinernder Form hat Bonhoeffer in seiner Ethik (S. 171) es so ausgelegt: „Die Schonung des Lebens hat ein unvergleichliches Vorrecht vor der Vernichtung." Das leibliche Leben hat eine hohe Würde; denn es ist aus Gottes Hand hevorgegangen. Und doch ist es nötig zu fragen: Was meinen wir eigentlich mit Mord? Wir meinen damit die willkürliche und widerrechtliche Tötung eines Menschen. Diese schlichte Erklärung muß auseinandergelegt werden. Der Mord ist die Tötung eines Menschen. Die Tötung eines Tieres — wie immer sie auch im einzelnen Fall sittlich zu beurteilen ist — nennen wir noch nicht so. Ferner meinen wir mit dem Mord die wirklich vollzogene Tötung. Die Gesinnungsethik wird freilich auch die ernsthafte Absicht, die sich auf eine solche Tötung richtet, in einem übertragenen Sinn als Mord bezeichnen. Immerhin muß bedacht werden, daß es nähere und entferntere Absichten gibt, die es auch unter dem Gesichtspunkt einer rigorosen Gesinnungsethik nicht erlauben, den Begriff des Mordes anzuwenden. Wer sich beispielsweise im Schießen übt, ist kein Mörder, obwohl er natürlich in einem weitesten Sinn auch mit der Möglichkeit rechnen muß, durch einen gezielten Schuß einen Menschen zu töten. Ferner gehört es zum Mord im Vollsinn, daß die Tötung willkürlich, d. h. mit Absicht geschehen ist. Das hat die Folge, daß die tatsächliche Tötung eines Menschen, die „ohne Absicht" geschehen ist, nicht als Mord gewertet wird. Das ältere Strafrecht hat darum die Überlegung zu einem konstitutiven Faktor des Mordes gemacht. Der Leichtsinn, mit dem z. B. ein Autofahrer mit dem Leben des Straßenpassanten umgeht, kann in der Tat verbrecherisch sein; dennoch ist ein unfreiwillig herbeigeführter tödlicher Unfall niemals im strengen Sinn als „Mord" zu bezeichnen. Zum Begriff des Mordes gehört vor allem die Widerrechtlichkeit der Tötung. Niemals kann eine Tötung, für die eine Legitimation geltend gemacht werden kann, als Mord bezeichnet werden. Es ist dabei nicht nur an den Beruf des Soldaten zu denken, sondern auch an den Dienst
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der Polizei oder irgendeines Wachtpostens, der genau nach Vorschrift auf jemanden schießt, der auf seine Warnung hin nicht stehengeblieben ist. Man wird in den seltensten Fällen bei einem Mord eine grundlose Tötung annehmen können. Wo aber die förmliche Legitimation fehlt, kommen nur noch andere Beweggründe in Betracht, Rache, Befriedigung des Geschlechtstriebes, Habgier oder Haß. Es ist sogar daran zu denken, daß eine besondere Heimtücke, Grausamkeit oder die Anwendung gemeingefährlicher Mittel einen Mord in seiner Verwerflichkeit überdies noch besonders steigern. Wie sehr diese Reflexion beachtet werden muß, zeigt sich darin, daß die Abwehr oder der Schutz, den man den Nächsten zuteil werden läßt, unter Umständen die Tötung eines Angreifers rechtfertigt, obwohl dafür eine öffentliche Legitimation nicht unmittelbar vorzubringen ist. Diese formalen Gesichtspunkte führen unsere Überlegungen in unmittelbare Nähe des Strafrechts, das im § 211 StGB im deutschen Recht und analog in jedem Strafrecht den Tatbestand des Mordes genau umreißt. Trotzdem haben wir uns hier nicht einfach dem Strafrecht anzuschließen. Einmal muß die Ethik Klarheit über die Gründe der Verwerflichkeit des Mordes verbreiten, und sie muß das Licht über diese sittlichen Gründe aus eigenen Voraussetzungen gewinnen. Es ist in jedem Falle die Ehrfurcht vor dem Leben, womit wir den zentralen Begriff der Ethik Albert Schweitzers zu Ehren bringen. Auch aus einem anderen Grund ist es nicht möglich, daß sich die Ethik mit dem Strafrecht schlechterdings deckt. Wir werden nämlich damit zu rechnen haben, daß die christliche Ethik auch dann von einem Mord reden muß, wenn im Sinn des geltenden Strafrechts nur ein Totschlag angenommen werden kann. Aber nun hat die Wirklichkeit des modernen Lebens viele Formen der Gefährdung des Lebens gezeitigt, die abseits vom Feld der klaren Kriminalität uns vor die Frage des Lebens und seines Schutzes stellen. Es gibt viele Spielarten der Bedrohung des Lebens, mit denen wir uns zu beschäftigen haben, wobei uns immer der Schutz des Lebens als oberstes Gebot vor Augen stehen muß. b) D i e s o g e n a n n t e
Euthanasie
Zur Literatur: R G G II, 743 f. — V. v. Weizsäcker: „Euthanasie" und Menschenversuche, 1947 — Karl Barth: K D III/4, 484 ff.; StL III, 149 ff. (Lit.) — Die Euthanasie. Ihre theol., medizin. und jurist. Aspekte. Hrsg. von F. Valentin 1969 ( = Ev. Forum, Bd. 11)
Die Bewahrung des leiblichen Lebens vor willkürlicher Tötung
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Genau genommen, bezeichnet der Begriff der Euthanasie die Sterbehilfe, d. h. die Erleichterung und die Abkürzung der Qualen eines Sterbenden im Fall des sicheren Todes. Für die Euthanasie wird in der Regel dann ein ausdrückliches Recht in Anspruch genommen, wenn der Leidende den Wunsch danach kundgibt. Wiederum soll hier die strafrechtliche Seite des Problems (hierüber § 216 StGB) außer Betracht bleiben. Die ganze Problematik ist dadurch außerordentlich verschärft worden, daß während der Herrschaft des Nationalsozialismus die schmerzlose Vernichtung des sog. lebensunwerten Lebens damit verkoppelt worden ist. Bei diesen Vernichtungsaktionen, die fälschlicherweise auch mit dem Begriff der Euthanasie gedeckt wurden, wurde natürlich nach einem ausdrücklichen Wunsch der Betroffenen nicht gefragt. So müßten eigentlich die beiden Problemkreise begrifflich getrennt werden. Trotzdem hängen sie sachlich zusammen; die Argumente gehen im einen wie im anderen Fall ineinander über und laufen auf dasselbe hinaus, nämlich auf die Behauptung, daß ein Recht und ein zureichender Grund zur Tötung bestände und daß es sich dabei keinesfalls um einen Mord handle. Man bemäntelt diese Tötung sogar, indem man sie als einen Akt der Barmherzigkeit hinstellt. Geht man den Argumenten zugunsten dieser sog. Euthanasie nach, so stößt man freilich teils auf Unrichtigkeiten, teils auf ausgesprochen niedrige Beweggründe, ζ. T . aber führen die Erwägungen zu anderen Problemen hinüber. Um gleich beim Letzten zu beginnen: Das Verlangen des Patienten nach seinem eigenen Tod durch die Hilfe und Hand des Arztes ist nur eine andere Form des Selbstmordes. Es ist — wenn man so sagen darf — indirekter Selbstmord, zu dem der Leidende vielleicht nicht mehr die Kraft, auch nicht den unmittelbaren Mut aufbringt (vgl. unten Abs. d). Ausgesprochen niedere Motive für die sog. Euthanasie sind es, wenn materielle Gesichtspunkte ins Feld geführt werden. Dazu gehören die Einsparungen von Kosten und Pflegekräften für hilflose Pfleglinge öffentlicher Anstalten oder die Einsparung von Nahrung für solche Menschen, ein Gesichtspunkt, der vor allem in Notzeiten eine Rolle spielen kann. Es sind untermenschliche Gesichtspunkte, die die Menschenwürde schänden, und zwar nicht nur die Menschenwürde der Bedrohten, sondern auch die Würde derer, die sich selber zu einer solchen Bedrohung des Lebens der „Geringsten" (Mt 2 5 , 4 0 ) hergeben. Diese Argumente sind um so verwerflicher, als nicht einzusehen ist, warum in ihrer Konsequenz nicht überhaupt Alte, Kranke, schwache und hinfällige Menschen zur allgemeinen Erleichterung der Kosten-
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und Wirtschaftslage beseitigt werden sollten. Sobald die ethischen Hemmungen durch materielle Erwägungen niedergelegt werden, gibt es auch keine sittlichen Grenzen mehr, die für das Lebensrecht jedes Alten und Kranken einen unbedingten Schutzwall darstellen. Natürlich wird man in vielen Fällen die Unheilbarkeit eines Leidens oder überhaupt eines abnormen Zustandes mit ziemlicher Sicherheit feststellen können. Aber wir haben an anderer Stelle (Kap. 11) bereits dargelegt, wie selbst in solchen Fällen jede Erwägung über den Nutzwert eines Lebens verwerflich ist und wie unmöglich es ist, aus der mangelnden Kenntnis eines Lebenszweckes auch eine Schlußfolgerung über den fehlenden Lebenssinn zu ziehen. Daß aber Menschen mit geistigen Defekten, Imbezille und andere häufig weniger leiden als körperlich Kranke und solche, die ein besonders differenziertes geistiges und seelisches Leben pflegen, ist bekannt. Gerade in solchen Fällen ist es daher Heuchelei, von einer Abkürzung eines Leidens zu sprechen, von dem die angeblich Leidenden in dem Maße gar nichts wissen. Soviel zum Grundsätzlichen. Wie schwer sind freilich oft in der Praxis die Entscheidungen! Das qualvolle Leiden eines hoffnungslos Kranken und Sterbenden ruft nach einer wirklichen Hilfe, und diese liegt vorerst darin, daß man dem Leidenden seine Schmerzen erleichtert. Das ist nicht nur unbedenklich, es ist nicht nur „erlaubt", es ist unbedingt geboten. Aber wie kurz ist in der Wirklichkeit von da aus der Schritt zu einer Abkürzung des Lebens! Man denke nur an die Wirkung, die durch geringe Überdosierungen schmerzlindernder Mittel eintritt! Hier kommen wir an eine Grenze, die nicht nur eine Grenze der ethischen Theorie, sondern ebensosehr eine Grenze der Entscheidung von Fall zu Fall darstellt. Es ist eine Grenze, in der die Grundsätze allein nicht ausreichen, sondern wo das Gewissen des Arztes unmittelbar vor Gott steht. Es kommt hinzu, daß das Sterben das „natürliche" Ende und insofern eine Befreiung vom Leiden darstellt. Lebensverlängernde Maßnahmen können unsinnig und qualvoll werden, und die Unterlassung von lebensverlängernden Maßnahmen ist dann kein Töten. Wir kommen im 4. Abschnitt von einer anderen Seite her noch einmal auf dasselbe Thema zuriidc. c) D i e
Todesstrafe
Das Für und Wider hinsichtlich der Todesstrafe hat eine unübersehbare Literatur hervorgebracht. Von den Befürwortern nenne idi vor allem W. Künneth, Politik zwischen Dämon und Gott, 1954, 261 ff. und P. Althaus,
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Grundriß der Ethik, 1953a, 135 f. sowie: Die Todesstrafe als Problem der christlichen Ethik, A AM phil. hist. Kl. 1955, H. 2. Zur Übersicht über die Problemlage: Art. Todesstrafe in RGG VI, 921 ff. (F. Horst, E. Schmidthäuscr, T. Rendtorff) und in StL e VII, 1002 ff. (A. Kaufmann); ferner E. Wolf: Naturrecht und Christusredit, Todesstrafe, 1960(Unterwegs 11);W.Middendorf (Hrsg.): Todesstrafe — J a oder Nein?, 1962; E. Schmidthäuser: Vom Sinne der Strafe, 1963. G. Gloege: Die Todesstrafe als theol. Problem, 1966. (Arbeitsgem. für Forschg. d. Landes N R W 138, Geisteswiss. Reihe). Zur Kritik des Sühnebegriffes in diesem Zusammenhang mein Aufsatz: Theologie der Strafe. Heidelberger Jahrb. 1961, 40 ff. Das Problem gehört nicht unbedingt in diesen Zusammenhang. Für die Befürworter der Todesstrafe gehört das Problem vielmehr in die Lehre von der Obrigkeit, welche nicht nur das Recht, sondern die Pflicht hat, kraft ihres von Gott gesetzten Amtes für Verbrechen wider das Leben Sühne zu fordern. Infolgedessen steht für die Verteidiger der Todesstrafe, jedenfalls für die Theologen unter ihnen, das göttliche Redit der staatlichen Gewalt, seine sakrale Legitimation und ihre biblische Begründung im Vordergrund. Für diese biblisdie Begründung kommen im wesentlichen alttestamentlichc Stellen in Betradit: Gen 9 , 6 ; Ex 21,12 und Num 35, 30 f. In aller Regel wird dann darauf hingewiesen, daß das fünfte Gebot „Du sollst nicht töten" als Verbot der privaten Mordhandlung mit dem „Töten im Amt", also sowohl mit dem Soldatenberuf als audi mit der Todesstrafe nichts zu tun hat. Die neutestamentlidien Stellen, also etwa Rom 13, 4 vom Schwertamt der Obrigkeit, Joh 19, 10 f. oder 1 Petr 2,13 f., vor allem die Warnung Jesu an den Jünger Mt 26, 52 — „Wer das Sdiwert nimmt, wird durchs Schwert umkommen" — beziehen sich auf das bestehende Amt der römisdien Herrschaft, von dem auch Paulus durchaus in den Kategorien seiner Zeit redet, das die Christen ertragen und dem sie sich gehorsam fügen sollen. Wir haben keine neutestamentlidie Weisung darüber, wie ein von den Christen selbst zu verantwortendes Strafrecht auszusehen hat. Sowohl die Argumente, welche die Strafpraxis auf den Sühnegedanken gründen, als audi diejenigen, welche paradoxerweise selbst bei der Todesstrafe so etwas wie „Besserung", nämlich eine häufige Bekehrung und Einsicht des Delinquenten v o r seinem letzten Gang geltend machen, setzen im Grunde alle ein sakrales Redit voraus, ein Überleben dieser letzten irdischen Sühneleistung durch den Verbrecher, der nach seiner Strafe geläutert in die andere Welt eingeht. Alle kritischen Gedanken gegen das Recht und die Anwendung der Todesstrafe liegen unterhalb dieser hohen Ideen. Sie haben aber alle das Gemeinsame, daß sie wesentlich an der Ehrfurcht vor dem Leben orientiert sind, pragmatisch und nüchtern argumentieren und insofern hierher gehören.
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Schon diese Ernüchterung der ganzen Debatte sdieint mir eine wesentlich „christliche" Forderung im Zusammenhang unserer Ethik zu sein. Es läßt sich ja gar nicht leugnen, daß hier eine Fülle ungeklärter und unterschwelliger sentimentaler Argumente wirksam ist, die sich meist an sensationellen Anlässen entzünden, ein „hartes" Durchgreifen fordern, die „Weichheit" und „Humanität" in der Ablehnung der Todesstrafe verurteilen und an das unmittelbare Empfinden des „Volkes" bzw. der Massen appellieren. In der Tat zeigt die lange Geschichte der Todesstrafe eine enge Verbindung derselben mit den niedrigsten Instinkten der Massen: Die „Sühne" wird in zahllosen Fällen zur primitiven Rache, die Hinrichtung ein mit eindrucksvollen Grausamkeiten gewürztes öffentliches Schauspiel. Und dennoch gehört es zu den statistischen Tatsachen, die eigentlich jedem bekannt sein sollten, der hier ein Mitspracherecht in Anspruch nimmt, daß die Abschaffung der Todesstrafe offenbar nirgends zu einem merklichen Ansteigen der schweren Verbrechen geführt hat, wie andererseits die Abschreckung nicht von der Höhe der zu erwartenden Strafe, sondern von der Entdeckung des Verbrechens ausgeht. Die Zweifel an dem Recht der Todesstrafe haben, wenn ich recht sehe, ziemlich genau mit der Säkularisierung der Staatsidee begonnen. Nur ein Staat, welcher an den göttlichen Rang seiner Regierenden unmittelbar zu glauben vermag, könnte sich in seiner Justiz mit einigem guten Gewissen zum Herren über Leben und Tod der Übeltäter seines Landes machen. Will er das nicht, weil er sich ehrlicherweise säkular und profan versteht, dann kann er nur pragmatische Argumente in dieser Sache gelten lassen. Von den schon erörterten Gründen abgesehen, scheinen mir nun im wesentlichen drei Gesichtspunkte in Betracht zu kommen. Da ist zunächst die Definition der Vergehen, welche mit der Todesstrafe bedroht werden sollen. Es ist ja keinesfalls an dem, daß man sich hier selbstverständlich nur auf die Sühne des Mordes beschränkt. Weiter würde ohnehin kein einziges „biblisches" Argument zugunsten der Todesstrafe tragen. Aber noch im vorigen Jahrhundert (bis 1832) wurden in England auch Ladendiebe bei einer bestimmten Werthöhe des Diebesgutes und Pferdediebe an den Galgen gehängt (Material bei Schmidthäuser). In unserem Jahrhundert wurde in Deutschland audi politische Opposition und das Abhören verbotener Sender mit dem Tode bestraft. Ein grundsätzliches Zugeständnis des Rechtes der Todesstrafe macht die Definition der von ihr bedrohten Straftaten immer zu einer untergeordneten Sache. Gerade in solchen politischen Systemen, in
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denen die Regierung häufig wechsele oder doch von einem Wechsel, bzw. von politischen Gegnern bedroht ist, kommt es sehr schnell dazu, daß sich die Vorstellungen von Hoch- und Landesverrat verwischen und der Umkreis der todeswürdigen Verbrechen unter der Hand in unkontrollierte Bereiche ausgedehnt wird. Ein Zweites. Die Geschichte des Strafrechts und der Strafpraxis zeigt zur Neuzeit hin eine eindeutige Richtung zur Humanisierung. Diese Humanisierung besteht konkret darin, daß die Verbrechen nicht mehr im Schema des ius talionis, also im Sinne des „Auge um Auge, Zahn um Zahn" geahndet werden, sondern daß die Strafe in einem allerdings schwer definierbaren Ineinander von Abschreckung, moralischer Mißbilligung, Schutzbestreben zugunsten der Gesellschaft und Erziehungsabsicht — je nach Lage des Falles — verhängt wird. Keinesfalls aber mehr als ein tale-quale. Die Todesstrafe stellt in diesem Zusammenhang eine Inkonsequenz dar. In allen Fällen ist heutzutage das verhängte Strafübel von ganz anderer Art als das Verbrechen, nämlich als Freiheitsentzug oder als Geldstrafe gleichsam entschärft, jedenfalls humanisiert und damit selbst ein Hinweis auf die noch im Strafvollzug wirksame Tendenz der Humanisierung auch des Übeltäters. Ich weiß wohl, wie unvollkommen diese Dinge in Wirklichkeit sind. Aber sie sind jedenfalls bei aller Unvollkommenheit so eindeutig, daß die Todesstrafe nur noch als ein atavistischer Restbestand empfunden werden kann. Man sollte sich aber darüber klar sein, daß wir hinter die hier geschilderten Tendenzen der Entwicklung unseres Strafvollzuges nicht mehr zurückgehen können, jedenfalls am allerwenigsten im Namen einer christlich genannten und theologisch begründeten Ethik. Schließlich ist aber auch daran zu erinnern, daß bis in die unmittelbare Gegenwart die Geschichte der Todesstrafe bzw. die Kriminalgeschichte durchzogen ist von den nicht restlos aufgeklärten Fällen. Es hat den Anschein, als ob der Schatten des Justizirrtums in der komplizierten Massengesellschaft nicht, etwa dank der Polizeitechniken, kürzer, sondern eher länger und drohender würde. Wie dem auch sei, die Todesstrafe ist die einzige Strafe, welche keine Möglichkeit der Korrektur eines Justizirrtums mehr zuläßt. Ich gebe ohne weiteres zu, daß alle diese Argumente einen relativen Charakter haben. Keines ist für sich allein schon von zwingender Kraft. Wäre das der Fall, dann wäre das Problem längst erloschen. Es ist es nicht, weil sich in die Grundsatzerwägungen seit jeher nicht nur unwägbare Gefühle eindrängen, sondern vor allem kriminalpolitische Gesichtspunkte verschiedener Art. Man wird aber sagen können, daß
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auch nur der kleinste Mißbrauch und die geringe Möglichkeit eines Justizirrtums jede Humanität rechtfertigt und daß die Abschaffung der Todesstrafe bei nüchterner Abwägung aller Gründe ein solches Ubergewicht an Argumenten für sich hat, daß es einen ganzen und ausnahmslosen Entscheid rechtfertigt. Was ist an diesem Schluß, den ich aus den Überlegungen ziehe, aber eigentlich „christlich''? Christlich sdieint mir dabei die entschlossene Entsakralisierung des Staates zu sein. Sie hat mit der Zubilligung einer hohen theologischen Würde an Staat und staatliche Gewalt, von der noch zu reden sein wird, nichts zu tun. Eben diese Nüchternheit der Betrachtung scheint mir ein unabdingbares Kennzeichen christlichen Urteils in der modernen Welt zu sein. Christlich scheint mir auch der Widerstand gegen alle sentimentalen Argumente geboten zu sein, die ja immer hart an die ideologischen Argumente heranreichen. Ein starker Staat hat das überdies nicht nötig; er handelt nicht aus Angst vor seinen Gegnern und bekämpft das Verbrechen in seinen Grenzen nicht mit dem Schrecken der härtesten Mittel. Christlich aber sdieint mir zuletzt eben die Ehrfurcht vor dem Leben zu sein, welche diesen — gewiß relativen — Entscheid erzwingt. Jede Entscheidung im anderen Sinne, jeder Entscheid zugunsten der Todesstrafe hat ein so unverhältnismäßiges Ubergewicht zugunsten der allgemeinen Racheinstinkte in der Öffentlichkeit, der Grausamkeit, der ungezügelten Volksjustiz und überdies der Gefahr des Mißbraudis auf seiner Seite, daß es nicht zweifelhaft sein sollte, das Urteil der Christen müsse hier dem grundsätzlichen Bekenntnis zum Leben die Ehre geben. d ) D e r S e l b s t m o r d (suicidium). Man muß den Begriff des Selbstmordes streng abheben gegen die Selbstaufopferung, die stets für andere geschieht. Wo ein Pfleger ansteckend Kranker, wo ein Forscher oder ein Soldat seinem Beruf zum Opfer fällt, da kann von einem Selbstmord audi dann keine Rede sein, wenn der Betreffende das Risiko seines Lebens sehenden Auges eingegangen ist. Auch die Verschuldung des eigenen Todes durch Unvorsichtigkeit oder durch einen „Zufall" kommt hier nicht in Betracht. Der Begriff des Selbstmordes wird nicht durch das Faktum bestimmt, sondern durch den Sinn des Vorganges, nämlich dadurch, daß einer sich selbst letztlich im eigenen Interesse tötet. D a s Problem ist uralt. Bereits eines mutigen Gebrauchs der (Seneca!). Bei Römern wie bei Heldentums verklärt. In J a p a n
in der Stoa ist der Selbstmord ein Ausdruck Freiheit, ja philosophischer Abgeklärtheit Germanen ist er mitunter v o m G l a n z des war der Selbstmord bis in die neueste Zeit
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herein der Achtung heischende Vollzug notwendig gewordener Sühne an sidi selbst. Das Christentum hat in den Anfängen seiner Geschichte geschwankt, wenigstens den Selbstmord soldier Jungfrauen zu rechtfertigen, die sich zur Erhaltung der Jungfräulichkeit selbst den Tod gaben. Augustin setzt sich in De civitate Dei 1,17 ff. mit dem Problem auseinander, kommt aber zu einer radikalen Ablehnung, ebenso wie in dem Brief Nr. 204 (an Dulcitius), 5 ff. Hier treten bereits entscheidende Gründe der späteren christlichen Moraltheologie hervor : Auch der Selbstmord ist Mord. Die Sündhaftigkeit des Judas wird durch seinen Selbstmord gesteigert und bestätigt. Es ist eine schwere Sünde, die Hoffnung auf die Gnade Gottes zu verwerfen. Zu diesen bei Augustin auftretenden Gründen treten dann in der späteren christlichen Tradition ältere Motive aus der antiken Moral hinzu. Bereits bei Cicero (De senectute 20) wird citatim erwähnt, daß es verboten sei, seinen Platz im Leben ohne Gottes Befehl aufzugeben. Aristoteles (Nikomadiisdie Ethik V 15) erklärt den Selbstmord als im Widerspruch mit der Vernunft und mit dem Gesetz. Die Argumente der älteren Moral finden sich dann zusammengefaßt bei Thomas von Aquin STh 2/II Qu. 64 Art. 5. Hier wird noch hervorgehoben, daß niemandem zusteht, sich selbst zu richten. Durch alle Darlegungen aber zieht sich das deutliche Gefühl für die Widernatürlichkeit des Selbstmordes und die Scheu vor den ewigen Strafen, die den Selbstmörder für die Sünde seines Mordes in der anderen Welt erwarten. Vom 6. Jahrhundert ab finden sich kirchliche Bestimmungen, die dem Selbstmörder das kirchliche Begräbnis und die Exequien verweigern. Die staatliche Gesetzgebung hat sich dann dem Verhalten der Kirche angeschlossen. Die karolinische Halsgerichtsordnung von 1532 erklärt die Erben des Selbstmörders als erbunfähig. Eine Wende zur Milde der Beurteilung zeichnet sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ab. Literatur und Gesetzgebung der Aufklärungszeit beweisen auch dem Selbstmörder „Toleranz". David Humes Essay on Suicide (posthum 1783) und Goethes Werther (1774) dokumentieren den Wandel der Auffassung in der Literatur. Die Statistik des Selbstmordes zeigt von da an ein unablässiges Ansteigen der Selbstmordziffern, und man meint, die Folgen der Auflösung des Unsterblichkeitsglaubens und die nachlassende Einwirkung der kirchlichen Erziehung und Zucht mit Händen greifen zu können. Zur Literatur vgl. ferner RGG 2 V, 406 ff. — RGG S V, 1675 ff. — LThK« IX, 440 ff. — G. Füllkrug: Der Selbstmord, 1920 — K. Jaspers: Philosophie II, (1932), 1956s 300 ff. — Wichtig ist die große statistische Untersuchung von H. W. Gruhle: Selbstmord, 1940 (Lit.) — P. L. Landsberg: Der Selbstmord als moralisches Problem, Hochland 1947, 401 ff. — K. Thomas: Handbuch der Selbstmordverhütung, 1964. Die Behandlung bei den Ethikern ist unterschiedlich. Das Thema fehlt bei Eiert, ist jedoch bei A. D. Müller: Ethik, 380 ff,, bei P. Althaus: Grundriß § 15, bei Emil Brunner und anderen behandelt. Die häufigen, ja typischen Motive der Selbstmörder sind neben der Angst vor Schande vor allem tiefe Depression, taedium vitae; häufig ist der Selbstmord ein letzter Versuch des Menschen, auf sich selbst aufmerksam zu machen, geradezu sich an den nächsten Menschen dadurch zu rächen, daß man ihnen nodi durch den eigenen Tod ein schlechtes
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Gewissen für Versäumnisse aufbürdet. Man will mit dem freiwilligen Tod etwas Abschließendes sagen und kommentiert das häufig mit einem hinterlassenen Brief an die Angehörigen. Bei tiefen Depressionen spielt auch der Gedanke eine Rolle, durch den eigenen Tod eine Sühne anzutreten. Der Wille zum Protest, die Lust daran, nahe Menschen zu verletzen — und im Widerspruch dazu gleichzeitig die Bitte um Verzeihung —, die heimliche Neigung, in einer letzten Aufbäumung gegen das Leben zu demonstrieren, ja geradezu sich ein letztes Mal wichtig zu machen — das alles liegt gewiß in vielen Fällen unauflösbar ineinander. So wird es wohl richtig sein, daß der Selbstmord häufig den Versuch des Menschen darstellt, einem scheinbar sinnlos gewordenen Leben einen menschlich letzten Sinn zu verleihen. Bei der Analyse der Selbstmorde hat von jeher auch der soziale Faktor eine Rolle gespielt. Der Selbstmord ist ansteckend, häufig überredet einer den anderen dazu. Die suggestive Kraft bestimmter ö r t lichkeiten und Vorbilder ist bekannt (vgl. Gruhle a. a. O. 76 f. und 126). Zu dem sozialen Faktor gehört audi die Wahrscheinlichkeit, daß moralische und religiöse Entwurzelung den Selbstmord begünstigen (vgl. Gruhle a . a . O . 132 und 141 ff.). Es gibt Selbstmordepidemien; diejenige nach dem Erscheinen von Goethes Werther ist in der Literaturgeschichte berühmt geworden. Die christliche Ethik kann angesichts dieser Sachlage nicht deutlich genug die Ehrfurcht vor dem Leben bis in alle Konsequenzen hinein betonen. Gott allein ist der Herr des Lebens, er hat es gegeben, er allein kann es nehmen. Alle Voreiligkeit greift in Gottes Majestätsrechte ein. Der Selbstmörder macht die Reue unmöglich, die er nur selber leisten kann und die ihm offenstand. Er macht es unmöglich, daß die eigenen und vielleicht auch gemeinschaftlichen Verhältnisse wieder in Ordnung kommen. Er verhindert selbst die Vergebung und findet den Zugang zur Gnade nicht mehr. Aber das ist immer nur als Wort an die Lebenden sinnvoll und kann nie zu einem Urteil über die Abgeschiedenen ein Recht geben. Die Gründe des Selbstmordes sind doch überwiegend in schweren Depressionen, aber auch in gesellschaftlicher Verzweiflung zu suchen. Hier hilft keine Art von Gesetz mehr, sondern nur die Behutsamkeit der Liebe und ärztliche Therapie. Das eine appeliert an die Verantwortung der Gesellschaft, die so oft die Schuld an der Verzweiflung des Einsamen trägt. Das andere bedarf des Spürsinnes, der die bedrohten Mensdien auffindet. In allen Fällen muß der Glaube an den Sinn des Lebens zur rettenden Kraft werden.
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Die nachfolgende Thematik habe idi in meiner „Sexualethik", 1970*, in einem größeren Rahmen behandelt. Ich verweise hier grundsätzlich audi auf dieses Buch. Vgl. ferner G. Barczay: Revolution der Moral? Die Wandlung der Sexualnormen . . . , 1967. (Lit.) Es läßt sich k a u m ein Fragenkreis denken, der uns so unmittelbar v o r die Probleme des natürlichen Lebens stellt w i e der ganze K o m p l e x der Geburtenregelung. D a s natürliche Leben liegt hier offenbar bis in seine Ursprünge in unserer H a n d u n d ruft uns zur Verantwortung auf. K ö n nen w i r der N a t u r aber audi N o r m e n für unser Verhalten ablauschen? Es ist, w i e w i r sehen werden, ein vielschichtiges Problem, das uns in immer neuen W e n d u n g e n z u schaffen macht und in jeder dieser W e n dungen auch wieder neue und andere Zusammenhänge u n d Verantw o r t u n g e n dringlich macht. Es handelt sich überdies um ein altes Problem. D i e verhalten asketische Regel 1 Petr. 3,7 (s. Windisch z . St.) stellt das eheliche Zusammenleben unter das Gebot der Vernunft. Vernunft aber bedeutet, d a ß N a t u r u n d Triebleben in der Fortpflanzung nicht einfach wuchern sollen. Seit alters hat jedenfalls das Problem als solches z w e i tiefe Spuren in der Moralgeschichte hinterlassen, nämlich die schon in vorgeschichtlicher Zeit geübte T ö t u n g der Neugeborenen auf der einen Seite, andererseits die K a t a l o g e der praktischen Regeln, welche Askese, Abstinenz u n d „Keuschheit" z u Elementen des Lebens machen sollten. In der Antike hat die Anerkennung bzw. die Ablehnung des Neugeborenen durch den Vater eine weitläufige Geschichte. Die Aussetzung schwächlicher Spartanerkinder am Taygetos ist bekannt. Für die ausgesetzten oder vor den Kirchentüren niedergelegten Neugeborenen wurden Findelhäuser errichtet. In den Bestimmungen über die Kirchenzucht der reformatorischen Kirchenordnungen spielen die Fälle eine nicht unerhebliche Rolle, in denen Frauen ihre Neugeborenen „im Schlaf t o t g e d r ü d u " haben (vgl. 1 Kön 3 , 1 6 ff.). Die „Kindsmörderin" — Fausts Gretchen! — welche die Schande der unehelichen Geburt auf gewaltsame Weise beseitigt, ist ein Thema ohne Ende, das bis in die Gegenwart hineinreicht. Zum Wandel der strafrechtlichen Beurteilung und Behandlung haben wir hier nichts beizutragen; d a ß sich hier keine Wege zur ethischen Bewältigung des Problems eröffnen, liegt ohne weitere Worte auf der H a n d . Aber es ist wichtig, daß man sich anhand dieser wenigen H i n weise das Alter des Problems überhaupt zum Bewußtsein bringt. Man darf sidi aber auch darüber nicht täuschen, daß mit den Stichworten Askese und Abstinenz das lösende Wort in der fraglichen Sache noch nicht gesagt ist. Ich sehe hier davon ab, d a ß nicht nur f ü r protestantisches, sondern wahrscheinlich für modernes Empfinden überhaupt die Askese nicht mehr an bestimmte Regeln und Gelübde, wahrscheinlich auch nicht an bestimmte „geschlossene Zeiten" im Laufe des Kirchenjahres gebunden ist. Andererseits wirkt noch immer die Meinung fort, d a ß man sidi in der Ehe der körperlichen
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Vereinigung zu enthalten habe, wenn nicht beide Eheleute im ehelichen Akte vom Willen zum Kinde erfüllt seien. Die Folge dieses sexualethischen Rigorismus ist dann paradoxerweise oft eine besonders hohe Kinderzahl trotz des asketischen Prinzip. In der katholischen Moraltheologie wird der eheliche Verkehr bei gleichzeitiger Verhinderung der Empfängnis als Onanismus coniugalis (zum Begriff Gen 38, 8 f.) verpönt. Die Empfehlung des Ausweges — unter Berufung auf die Gynäkologen Knaus und den Japaner Ogino —, eheliche Vereinigung der Gatten gegebenenfalls auf die sog. „konzeptionsfreien Tage" zu verlegen, kann nur, von der medizinischen Unsicherheit einmal abgesehen, als ein kasuistischer Ausweg bezeichnet werden, in dem man den eigenen rigorosen Prinzipien ein Schnippdien schlägt.
Das Problem der Geburtenregelung besteht also für die christliche Ethik in unverminderter Dringlichkeit fort. Es erfährt in der Gegenwart insofern eine unerhörte Verschärfung, als die rapide Bevölkerungsvermehrung, bes. in den sog. Entwicklungsländern, nach umfassenden Maßnahmen zur Geburtenbeschränkung ruft. Die Bevölkerungsexplosion wirft nicht nur das Problem auf, wie die wachsenden Bevölkerungsmassen ernährt werden sollen, sondern die sozialen Notstände, die abzusehende Verelendung sind kaum zu bewältigen. Die Schwierigkeit für die christliche Ethik liegt darin, daß hier zum einen die ethischen in allgemein bevölkerungspolitische Probleme übergehen, und daß hier zum anderen Räume der Welt in Frage stehen, die von der christlichen Ethik überhaupt nicht erreicht werden. Wir erörtern also die hier einschlägigen Fragenkreise im vollen Bewußtsein dessen, daß nicht überall schlüssige, eindeutige und wirksame Lösungen erreichbar sind. Bevor ich aber in die konkrete Thematik eintrete, möchte ich kurz noch einmal auf den Gesichtspunkt der Askese eingehen. Er ist der Schlüssel zu allen rein ethischen Antworten auf die hier ins Auge gefaßten Notstände. Askese bedeutet natürlich nicht irgendeine bestimmte Gesetzlichkeit. Das Wort soll auch nicht eine religiöse oder weltanschauliche Entscheidung implizieren, es soll lediglieli eine vernünftige Beherrschung des Trieblebens, Selbstkontrolle, Einübung einer maßvollen Rücksicht auf den Ehegatten und seine leiblichen und seelischen Kräfte bedeuten. Diese elementaren sittlichen Kräfte sind grundlegend und überwiegen in ihrer Bedeutung alle außerethischen Mittel und Maßnahmen bei weitem. Die materiale Thematik empfängt ihre Ordnung aus dem heimlichen, aber nicht gut wegzuleugnenden Umstand, daß das Problem schrittweise immer weiter zurückverlegt wird. Die Tötung der geborenen Kinder ist und bleibt Mord, und zwar ebenso in ethischer wie in juristischer Beurteilung. Verlegt man die Maßnahmen zur Geburten-
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Beschränkung vor die Geburt, so steht man vor dem Problem der Schwangerschaftsunterbrechung. a) D i e k ü n s t l i c h e U n t e r b r e c h u n g d e r S c h w a n g e r s c h a f t . Die Ehrfurcht vor dem Leben erstreckt sich grundsätzlich auf die Unantastbarkeit des werdenden Lebens, auf den Schutz der Leibesfrucht. Die Gründe dafür sind einfach: Jeder Embryo ist „Mensch in nuce", er ist Gabe Gottes nach Ps 127, 3. Jede Beseitigung der Leibesfrucht ist beabsichtigte Tötung. Sie wird nicht im rechtlichen Sinne als Mord anzusprechen sein; denn das geltende Recht kennt die „Person" nur von der Geburt bis zum Tode. Da der Embryo nodi nicht geboren ist, ist er also im Sinne des öffentlich geltenden Redites noch keine Person. Die theologische Beurteilung weicht davon ab, denn der Embryo trägt Menschengestalt und hat mensdilidies Leben in sich. Nun fehlt es nicht an Gründen, die in bestimmten typischen Fällen für ein Redit zur Unterbrechung der Schwangerschaft geltend gemacht werden. Diese üblichen Motivierungen der Schwangerschaftsunterbrechung (abortus artificialis) nennt man Indikationen. Es werden deren mehrere geltend gemacht, die freilich unterschiedlich zu beurteilen sind. Eine sehr umsichtige Erörterung dieser Indikationen vom juristischen Standpunkt bei stark ethischen Akzenten vollzieht W. Becker: Sdiwangersdiaftsbeseitigung in rechtlicher Sicht (ZEE 1960, 102 ff.). Zum Problem der Schwangerschaftsunterbrechung überhaupt H. van Oyen: Liebe und Ehe (Evang. Ethik 11,1957) 346 ff. und H.-J. Gamm: Schwangerschaftsunterbrechung als religiöses und sittliches Problem, ZEE 1961, 193 ff. Zur sog. ethischen Indikation (s. u.) K. Jansen, ZEE I960, 65 ff. Hier jeweils weitere Lit. — Α. Glaus: Über Schwangerschaftsunterbrechungen und deren Verhütung, 1962. G. Hornig: Schwangerschaftsunterbrechung. Aspekte und Konsequenzen, 1967.
Die sog. soziale Indikation beruft sich auf die Erwartung, daß durch die Geburt des Kindes die (kinderreiche) Familie wirtschaftlich überfordert wird und die Kräfte der Mutter den vermehrten Ansprüchen nicht mehr standhalten werden. Besondere Notzeiten werfen dann zuweilen in besonderer Dringlichkeit die Frage auf, ob nicht aus humanen Gründen den ungeborenen Kindern der Zutritt zur menschlichen Gesellschaft verwehrt werden soll. Es kann keinen Augenblick zweifelhaft sein, daß jede Anerkennung solcher Gründe eine schwere Schuld der Gesellschaft und insonderheit der christlichen Gemeinde bedeuten würde, welche ihre schwachen Glieder allein, ohne Hilfe und Versorgung läßt. Bei allem Mitgefühl für die sozialen Notstände lassen sidi daher keine Gründe nennen, aus diesem Motiv ein Recht zur Tötung des werdenden Lebens zu nehmen. 14""
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Auch die sog. eugenisdie Indikation bedeutet ein Ausweichen der menschlichen Gesellschaft vor sittlichen Pflichten, die ihr möglicherweise durch den Zuwachs kranker und erblich belasteter Glieder entstehen können. Denn es handelt sich in diesem Falle darum, daß die Geburt von solchen Kindern verhindert wird, deren Eltern erblich belastet sind. Nun muß die Frage nach Unfruchtbarmachung erbkranker Personen hier noch zurückgestellt werden. Im Falle der sog. eugenischen Indikation steht ja auch nicht die Verhinderung der Entstehung neuen erbkranken Lebens überhaupt, sondern die Tötung bereits entstandenen Lebens in Frage. Sie muß umsomehr abgewiesen werden, als hier ein ganz unsicherer Kalkül aufgeboten wird, wovon noch zu sprechen ist. Vor allem aber würde der sehr fragwürdige sozialpolitische „Nutzen" der Schwangerschaftsunterbrechung aus eugenischen Gründen niemals den Schaden rechtfertigen, den die Mißachtung der Heiligkeit und Unverletzlichkeit des Lebens überhaupt bedeuten würde. Auch die sog. ethische Indikation, die vor allem bei den Folgen von Vergewaltigungen, also bei unfreiwilligen Schwangerschaften aufgeboten wird, weist in völlig ungesicherte Gründe, ja in reine Mutmaßungen hinein. Wie oft folgt der ersten Wahrnehmung einer Schwangerschaft der Schrecken und das Urteil, das entstehende Kind sei ungeliebt, unerwünscht und nur eine Last. Wie oft wandelt sich nicht nur dieses Urteil, sondern wie oft sind gerade die Kinder, die für ihre Eltern eine besondere Probe der Liebe und Hingabe darzustellen scheinen, Gegenstand besonders herzlicher Fürsorge. Aber selbst wenn das nicht der Fall sein sollte, so können solche menschlichen Konflikte, wie sie im Umschluß einer sonst gesunden und intakten Familie gewiß denkbar sind, immer noch auf andere, humane Art, etwa durch das subsidiäre Eintreten anderer Erziehungsmächte, gelöst werden. Niemals kann und darf eine Tötung der Leibesfrucht auf solche Weise gerechtfertigt werden. Es bleibt schließlich als gewichtigste Begründung für die Unterbrechung der Schwangerschaft die sog. medizinische Indikation. Audi bei ihr handelt es sich zwar um Prognosen, aber doch immerhin um Erwägungen des ärztlichen Urteils darüber, ob die Austragung der Schwangerschaft der Mutter zugemutet werden kann. Die medizinische Indikation setzt, hart ausgedrückt, die Vermutung, die werdende Mutter würde die Geburt nicht überleben, gegen den sicheren Tod des Kindes. Es handelt sich hier um eine Abwägung, bei der die ärztliche Kunst und ganz allgemein der Stand der Forschung nicht außer acht gelassen werden können. Es war ζ. B. in früheren Zeiten nicht bekannt, daß sich
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die Tuberkulose der Mutter nicht auf das werdende Kind überträgt und daß dieses vor Ansteckung bewahrt werden kann, wenn es sofort nadi der Geburt räumlidi von der Mutter getrennt wird. Die freie Verantwortung des Arztes muß hier in ihrem ganzen Gewicht aufgerufen und bestätigt werden. Und dodi ist es das unaufhebbare Dilemma, was audi unter sorgfältigster Beachtung aller Gesichtspunkte nicht völlig aus der Situation ausgeschlossen werden kann. Der Widerstreit der ärztlichen Pflichten, nämlich gegebenenfalls das eine oder das andere Leben zu retten, und d. h. jeweils das andere dem Tode preiszugeben, wiegt schwer. In aller Regel ist die medizinische Indikation beschränkt auf die Fälle, in denen das Leben der Mutter erkennbar gefährdet ist. Der Arzt, der die Entscheidung über eine Beseitigung der Leibesfrucht zu treffen hat, sollte nach Möglichkeit diese Entscheidung nicht allein, sondern unter der Kontrolle eines anderen Arztes oder eines fachärztlidien Ausschusses treffen. Die Mitentscheidung der werdenden Mutter sollte in jedem Falle Bedingung sein. Eine gesetzliche Regelung, die sittlich verantwortet werden kann, ist deswegen anzustreben, wie sie ja in concreto besteht, weil jeder Mißbrauch ausgeschlossen werden muß. Es leuchtet wohl ein, daß es keine Grundsätze gibt, welche für alle vorkommenden Situationen der Entscheidung des Arztes vorgreifen. Letzte Unlösbarkeiten bleiben immer zurück. Doch lassen sich, so will mir scheinen, für die sittliche Beurteilung des ganzen Komplexes, und damit auch für die sittliche Entscheidung des Arztes im gegebenen Falle, einige Grundsätze aussprechen. Diese Grundsätze sind ethisch, und darum von rechtlichen Antworten zu unterscheiden, wenn es auch schwer denkbar ist, daß die Legislatur und überhaupt das richterliche Urteil von den sittlichen Gesichtspunkten zu trennen ist. Grundsätzlich ist die Geburtenregelung auch in christlicher Verantwortung zu bejahen, weil die Naturtriebe unter der Kontrolle der Vernunft bleiben müssen und die Verantwortung für den Nachwuchs des menschlichen Geschlechtes auch die vernünftige Begrenzung dieses Nachwuchses einschließt. In der Frage der Schwangerschaftsunterbrechung sind alle anderen Indikationen als die rein ärztliche zu verwerfen. In die christliche Beurteilung ist auch die Rücksicht auf nachfolgende Schuldkomplexe aufzunehmen. Wie oft sind nach der Beseitigung der Leibesfrucht schwere Selbstvorwürfe der Mutter, die eingewilligt hat, oder Vorwürfe gegen den Eheteil, der die Veranlassung zu der Unterbrechung gegeben hat, die Folge. Ehezerrüttungen bleiben dann nicht
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aus. Der Einsatz dieser seelsorgerlichen Bedenken erfordert alle Weisheit; er wird wohl in nahezu allen Fällen gegen eine Unterbrechung der Schwangerschaft den Ausschlag geben. Schließlich muß auch hier noch einmal an den schon genannten Grundsatz erinnert werden, daß ethisch vertretbare Mittel den unethischen bzw. außerethischen Hilfsmitteln vorzuziehen sind. b) D i e S t e r i l i s a t i o n . Bei der Frage der Sterilisation handelt es sich ebenfalls um das Bedürfnis der Geburtenbeschränkung. Aber hier ist die Frage eingegrenzt auf das Interesse, erbkranken Nachwuchs zu verhindern, bzw. darauf, daß nicht die Tötung beginnenden Lebens in Frage steht, sondern die Entstehung neuen Lebens durch einen operativen Eingriff in die Zeugungsorgane überhaupt verhindert werden soll. Die Erörterung der evangelischen Ethik über die Sterilisation ist durch zwei äußere Tatsachen beeinflußt. Einmal durch die rassenpolitischen Maßnahmen des Nationalsozialismus in Deutschland, zum anderen durch die Lehrentscheidungen der katholischen Kirche in dieser Frage. Das deutsche „Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses" vom 14. 7. 1933 ist nadi dem Kriege wieder aufgehoben worden. Es handelt sich aber keineswegs nur um eine Maßnahme der nationalsozialistischen Bevölkerungsund Rassenpolitik, sondern es bestehen in einer Reihe anderer Länder bis heute ähnliche Gesetze. Für die katholische Moraltheologie ist die Enzyklika Casti connubii Pius' XI. vom 31.12. 1930 von entscheidender Bedeutung. Sie besagt folgendes: Der Mensch hat keine absolute Verfügungsgewalt über seinen Körper, wohl aber das Recht, seine Glieder im Sinne naturgemäßer Zwecksetzung verantwortungsbewußt zu gebrauchen. Zwar kann zu Strafzwecken dieses Recht nicht unbestritten bleiben. Doch kann dem Staat kein Recht zugebilligt werden, zu sozialen und eugenischen Zwecken in die Gesdileditsanlagen unschuldiger Bürger einzugreifen. Wo ein triebhafter Mißbrauch der Gesdilechtsanlagen zu befürchten steht, da wird Schutzaufsicht und Asylierung empfohlen.
Das Problem, um das es sich hier handelt, kann nicht wohl bestritten werden. Bestimmte krankhafte, imbezille und oft überdies sittlich minderwertige (enthemmte) Menschen stellen ein bevölkerungspolitisches Problem dar. Infolge der oftmals geringen moralischen Hemmungen vermehren sie sich verhältnismäßig zahlreicher als die Gesunden, und es droht eine Verschiebung der sozialen Gesamtstruktur zum biologisch und sittlich Minderwertigen hin. Wie sich das in der Kriminalstatistik und in der Sozialfürsorge niederschlägt, muß hier nicht dargelegt werden.
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Die evangelische Ethik kann diese Dinge nicht ausschließlich vom Individualrecht der einzelnen Person her beurteilen. Die sozialen Notstände rufen in der Tat nach öffentlichen Maßnahmen. Es kann nicht bestritten werden, daß hier die Verantwortung des Staates angesprochen ist. Aber es scheint mir zweifelhaft, ob nicht eine Freiheitsberaubung erbkranker Menschen — denn darauf läuft ja jede Asylierung hinaus — das Recht und die Würde der Person nodi schwerer bedroht als ein körperlicher Eingriff. Der Einwand gegen die eugenischen Maßnahmen kann sich nidit einfach gegen die Tendenz als solche richten. Im übrigen wird es unsere Ethik bei einigen kritischen Bemerkungen bewenden lassen müssen. Die erste Bemerkung bezieht sich auf die schematische Anwendung soldier Schutzmaßnahmen. Erbkranke Personen sind ja keineswegs durchweg sittlich minderwertig. Es finden sich unter ihnen Menschen, die einen hinreichenden sittlichen Fundus besitzen, um freiwillig auf sich zu nehmen, was ihre gefährdete Konstitution von ihnen fordert. Feinfühlige Kranke werden überdies die Sterilisierung als eine schwere Beeinträchtigung ihrer Persönlichkeit empfinden und durdi eine entwürdigende Behandlung entweder in Depressionen getrieben oder sich gleichsam ihrer Verantwortung enthoben fühlen. Uberhaupt dürfen die seelischen Wirkungen dieser eugenischen Maßnahmen nicht vergessen werden. Sie können tiefe Minderwertigkeitsgefühle erzeugen. Schlimmer ist es aber, wenn nun nach erfolgter Sterilisierung eine Enthemmung der sexuellen Begierde eintritt, die ja um so mehr zu befürchten ist, als diese sexuelle Begierde auch nach der Unfruchtbarmachung erhalten bleibt. Erbkranke Personen, die sich ohnehin in Anstaltsaufsicht befinden, werden auch in dieser Rücksicht unter Kontrolle sein, so daß es nicht nötig ist, durch einen operativen Eingriff ihre Menschenwürde zu beeinträchtigen. Keine Maßnahme ist sittlich zu rechtfertigen, welche die Würdigung der Persönlichkeit des Menschen unterläßt. Aber ebenso wird das grundsätzliche Recht eugenischer Maßnahmen bei hemmungslosen und sittlich nicht ansprechbaren Menschen im Bereich gesetzlicher Möglichkeiten bleiben müssen. c) D i e E m p f ä n g n i s v e r h ü t u n g (Antikonzeption). Mit der Frage der Empfängnisverhütung wird die Geburtenkontrolle abermals um einen Schritt zurückverlegt: es soll gar nicht mehr zur Schwangerschaft kommen. Die Sexualität darf in allen ihren Stufen und Verwirklichungen unter Liebenden als eine Sprachform der Liebe verstanden werden. Um so schwerer ist es, sich dieser „Sprache" auf
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längere Zeit freiwillig und radikal zu enthalten. So wird der Gebrauch der Verhütungsmittel zu einem unausweichlichen sittlichen Problem. Idi verweise bes. auf meine Sexualethik (1970*), vor allem auf das 6. Kap., sowie auf die dort verzeichnete Lit.
Es gibt heute die mechanische, die chemische und die medikamentöse Empfängnisverhütung. Die mechanischen Mittel sind zum einen Teil (Kondom, Präservativ) vom Mann, zum anderen Teil (Kappenpessar, Segelpessar, Intrauterinpessar) von der Fau anzuwenden. Die chemischen Mittel (Tabletten, Zäpfchen, Gelees und Schaumpräparate) betreffen ausschließlich die Frau. Für die medizinische Seite des Problems verweise ich auf das Buch von Karl-Horst Wrage: Mann und Frau, Grundfragen der Geschlechterbeziehung (1966). Die medikamentöse Empfängnisverhütung geschieht durch die Einnahme von Pillen, deren eine ganze Reihe angeboten wird, so daß der üblidie Singular „die Pille" irreführend ist. Diese Medikamente sind apotheken- und rezeptpflichtig. Ihre Wirkung beruht auf einer Hormonzufuhr, welche die Eireifung im Eierstock hemmt und den Eisprung verhindert (Ovulationshemmung). Die Frau wird auf hormonalem Wege vorübergehend unfruchtbar. Die ärztliche Prüfung der angebotenen Mittel hat sich auf die Zuverlässigkeit der Wirkung und auf die Unbedenklichkeit hinsichtlich möglicher Nebenwirkungen zu erstredten, audi ist die Zuträglichkeit der Medikamente in bestimmten Altersphasen der Frau (Jugend, Wechseljahre) ärztlich zu prüfen. Aber das sind die Probleme des Arztes. Ohne Frage hat die medikamentöse Empfängnisverhütung gegenüber den mechanischen und chemischen Mitteln die Leichtigkeit der Anwendung, wohl auch die größere Zuverlässigkeit für sich. Wir dürfen auch die Unschädlichkeit bei Anwendung über nicht zu lange Zeiträume und bei ärztlicher Kontrolle annehmen. Der Vorwurf, daß die künstliche Antikonzeption den Gesetzen der „Natur" widerstreitet, läßt sich nicht aufrechterhalten. Er wurde in der Enzyklika Papst Paul VI. „Humanae vitae" (1968) zum ausdrücklichen Verbot, und dieses beschränkte sich nicht auf die sog. Antibabypille, sondern bezog auch andere Formen der Empfängnisverhütung (z. B. Präservative, Coitus interruptus) mit ein. Hier wird von einem Naturrecht aus argumentiert, das alle Lebensäußerungen, wie etwa den Geschlechtsakt, an ihre Zwecke bindet und jede Abweichung von diesen Zwecken, also im Falle des Geschlechtsaktes von der Zeugung neuen Lebens, als Verirrung und sündhaft erklärt. Sehen wir aber von der einseitigen Deutung des Geschlechtsaktes einmal ab: auch die hier infrage stehenden Mittel sind
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ja Elemente des Natürlichen. Jedes Medikament beruht auf Gesetzen und Kräften der „Natur". Die ganze ärztliche Kunst lebt davon. Die Problematik eines naiven „natura docet" kommt hier noch einmal zu deutlichem Ausdruck (vgl. 14. Kap.). Es bleiben aber zwei folgenreiche ethische Probleme, die uns zu einer klaren Entscheidung herausfordern. Einmal wird nicht ohne Affekt die Frage aufgeworfen: Soll man die Pille audi an Unverheiratete geben? Entweder erwartet man ein „Nein" und hofft, daßdem außerehelichen und vorehelichen Geschlechtsverkehr dadurch ein Riegel vorgeschoben würde, weil ja ohne Pille „Folgen" befürchtet werden müßten. Oder man erhofft sich ein „ J a " und damit eine Lizenz für sexuelle Freizügigkeit. Aber die Frage ist zunächst unrealistisch. Wer soll denn die Pille „geben" bzw. verweigern? Es kommt doch nur der Arzt in Betracht. Gewiß bleibt es eine an jeden Arzt herantretende Gewissensfrage, ob er nicht auch die seelische Ausgewogenheit und die Verhütung späterer Traumata in die Verantwortung für seine Patientinnen einbeziehen muß. Natürlich muß er prüfen, ob das, wie ich immer unterstelle, unbedenkliche Medikament im speziellen Falle verträglich ist; denn es ist in den kritischen Ubergangsjahren der Frau, d. h. solange sich der Monatszyklus noch nicht eingespielt hat, und dann wieder im Klimakterium keineswegs unbedenklich. (Daß der Arzt in konkreten und besonderen Vertrauensbeziehungen mehr als nur ein medizinisches Votum abgeben kann, steht jetzt nicht zur Debatte.) Der Arzt als Arzt ist aber nicht zur Zensur der Sitten berufen. E r ist nicht Wächter der Moral. Und daran schließen sich dann noch ganz andere, wenn auch pragmatische Überlegungen an. Wenn man bedenkt, daß die unabsehbare Dunkelziffer der jährlichen Abtreibungen stille und massenhafte Tötungen und zudem gesundheitliche Schädigungen der Frauen bedeutet, dann ist die Frage nicht abzuwehren, was dagegen wirksam eingesetzt werden kann. Eine rechtzeitige Anwendung der „Pille" würde zwar nicht die öffentliche Sittlichkeit heben, aber sie würde die Zahl der Abtreibungen und der damit verbundenen Schädigungen verringern. Die Abtreibungen betreffen, wie man trotz fehlender statistischer Unterlagen mit Sicherheit annehmen darf, überwiegend uneheliche Schwangerschaften. Hier kann die medikamentöse Empfängnisverhütung ein großes Übel einschränken, ohne daß man nach größerem oder kleinerem Übel fragen dürfte. Diese Abwägung führt aber zu dem m. E. zwingenden Urteil, daß die Pille auch Unverheirateten zugänglich sein muß.
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Das andere Problem ergibt sich aus dem Unterschied der angebotenen Pillen. Ich habe bisher nur die ovulationshemmenden Pillen vorausgesetzt. Sie verhindern im voraus den Eisprung, und die Befruchtung kommt nicht zustande. Diese Pillenform wird aber in ihrer Wirkung überboten durch die nidationshemmenden Pillen. Sie setzen die bereits vollzogene Befruchtung des Eies voraus, aber sie verhindern die anschließende Einnistung (Nidation) des befruchteten Eies in der Gebärmutter. Das bereits befruchtete Ei wird also förmlich abgetrieben. Die Anwendung der nidationshemmenden Pillen („Pille f ü r den Morgen darnach") bedeutet somit Abtreibung in dem frühestdenkbaren Augenblick. Sie ist die frühestmögliche Unterbrechung der Schwangerschaft. Die Unterscheidung von Ovulationshemmern und Nidationshemmern zwingt uns nun tatsächlich zu einer kasuistischen Überlegung. Wenn man auch damit rechnen muß, daß diese Unterscheidung den meisten Menschen im Falle der Anwendung kaum zum Bewußtsein kommt, so ist dodi die prinzipielle Entscheidung nicht zu umgehen. Die ethische Verwerfung der Nidationshemmer wird damit begründet, daß es sich bei dem befruchteten Ei bereits um menschliches Leben handelt, das sich geradlinig zum voll ausgebildeten Menschen entwickeln wird. Infolgedessen muß die Verhinderung der Nidation als Abtreibung angesehen werden, und es ist nicht einzusehen, warum die Abtreibung im frühen Stadium erlaubt, im späteren Stadium aber verboten sein soll. Diese Entscheidung hat zwei Vorzüge. Sie vertritt ein sittliches Prinzip radikal und läßt keine Ausnahme zu. Und sie verbindet die rigorose ethische mit einer ebenso kompromißlosen biologischen Betrachtung der Entstehung des foetus. Dennoch ist diese Entscheidung nicht unbestritten. Man kann fragen, ob denn vor einer Einnistung des befruchteten Eies schon von einer Schwangerschaft gesprochen werden kann. Wichtiger ist ein anderes Bedenken. Von wann ab ist eigentlich ein werdendes Leben als „menschliches Leben" anzusehen? Es ist ein anthropologisches Problem, von wann ab der Mensch eigentlich ein „Mensch" ist. Dieser offenen Frage entspricht die andere, wann eigentlich der sterbende Mensch, dessen Bewußtsein und dessen einzelne Vitalfunktionen zu sehr verschiedenen Zeitpunkten erlöschen (und deren Ende künstlich noch weiter auseinandergelegt werden kann) aufhört, ein „Mensch" zu sein. Die Alten haben darüber ihre eigenen Theorien gehabt, wann dieses werdende Lebewesen von Gott mit einer menschlichen Seele begabt wird. Sie waren jedenfalls nicht der Ansicht, daß das von Anfang der Schwangerschaft an der Fall sei. Auch die menschliche Gestalt tritt ja erst im Laufe der Zeit, etwa in der achten Woche der Schwangerschaft
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in Erscheinung. Im Sinne des phylogenetischen Gesetzes durchläuft das werdende Lebewesen niedere Lebensformen, bis es sich zur menschlichen Form entwickelt. Sind die wahrnehmbaren Vitalfunktionen schon Anzeichen menschlichen Lebens? Ich gebe zu, daß uns die Anthropologie keine solchen Gewißheiten liefert, daß wir absolut sichere Entscheidungen treffen könnten. Aber das gilt auch für die bloß biologische Argumentation, so sehr sie durch Eindeutigkeit und Konsequenz Eindruck macht. Ich möchte daher unter dem Vorbehalt einer besseren Belehrung für die Praxis der Unterscheidung von Ovulationshemmern und nidationshemmenden Pillen keine ethische Folge geben. Man könnte hier an die Erörterung der Antikonzeption noch psychologische Überlegungen anschließen. Denn es liegen folgende Fragen in der Nähe: Hat die medikamentöse Empfängnisverhütung nicht im durchschnittlichen Sexualverhalten eine enthemmende Wirkung? Und man könnte auch darüber reflektieren, wieweit die Manipulation der weiblichen Fruchtbarkeit zur Verunsicherung des menschlichen Selbstverständnisses beiträgt. Aber wir geraten hier in Vermutungen, die aufs Ganze gesehen ohne statistischen Rückhalt sind. Die Ethik selbst gewinnt hier keine neuen Erkenntnisse. Hingegen öffnet sich hier ein Feld für tendenziöse Behauptungen, deren kulturkritische und reaktionäre Konsequenzen sich rasch der Kontrolle entziehen. d ) D i e k ü n s t l i c h e I n s e m i n a t i o n . In neuerer Zeit hat die Frage der Geburtenregulierung insofern eine neue Wendung genommen, als sich die Gedanken nicht nur der Beschränkung der Fortpflanzung, sondern dem Gegenteil zugewendet haben: der Ermöglichung von Nachwuchs auch dort, wo ihn die „Natur" zunächst zu versagen scheint. Es handelt sich um das Problem der operativen Befruchtung der Ehefrau (Artificial Human Insemination). Wiederum liegt die medizinisch-technische Möglichkeit, auf veterinärmedizinischem Gebiet längst in die alltägliche Praxis übernommen, außerhalb der ethischen Kompetenz. Immerhin ist es eine Wirkung der ethischen Kontrolle in den hierbei geführten Debatten, wenn sich das ganze Problem wenigstens darauf hat beschränken lassen, daß nur die Behebung ehelicher Notstände, also praktisch der Kinderlosigkeit in bestehenden Ehen, ins Auge gefaßt wird und nicht die Befruchtung lediger Frauen oder Witwen. Immerhin treten audi in dieser engeren ethischen Begrenzung zwei Typen hervor: einmal die ärztliche Nachhilfe innerhalb der Ehe, wenn es nämlich, sei es aus psychischer oder physischer Unfähigkeit des Ehemannes, sei es wegen sexueller Kälte der Ehefrau, nicht zu einer natürlichen Konzeption kommt (homologe Insemination). Zum anderen aber, wenn der A r z t im beiderseitigen
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Einverständnis der Ehegatten einen fremden „Spender" des Spermas auswählt und zu Hilfe nimmt (heterologe I.). Schon hier treten freilich rechtliche Erfordernisse zutage, die das Unnatürliche des Vorganges hervortreten lassen: beide Ehegatten müssen ihr Einverständnis schriftlich erteilen. Aber wer soll dann in Zukunft als der Vater des zu erwartenden Kindes gelten? Es ist keine Frage: Man kann das alles „machen". Man kann zugunsten der künstlichen Insemination auch manche Vorteile geltend machen: Die Kinderlosigkeit kann behoben werden, ohne daß sich die Ehefrau einem anderen Manne hingibt; die Ehe wird durch den Zuwachs von Kindern zur Familie integriert, ohne daß durch Adoption nicht leiblich verwandte Kinder aufgenommen werden müssen. Aber es liegt auf der Hand, daß sich bei näherem Zusehen die Bedenken häufen. Und gerade hier werden sich die ethischen Bedenken sehr genau substantiieren lassen. Was bedeutet ein Zeugungswille in der Ehe ohne Liebe? Und ist es erträglich, daß jene Vorgänge, die den intimsten Charakter haben — und das gilt ebenso mit Rücksicht auf die beteiligte Frau wie auf den beteiligten (eigenen oder auch den fremden) Mann — durch die Beteiligung eines Dritten entschleiert werden? Wird die Einheit der Ehe nicht verletzt, wenn die Ausschließlichkeit des Gebens und Empfangens so grundsätzlich beschädigt wird? Ist der Nachwuchs selbst beim tiefsten Verständnis der Ehe ein Eheziel, zu dessen Erreichung jeder Preis bezahlt werden darf? Diesen unmittelbar ethischen Bedenken treten dann aber rechtliche Bedenken zur Seite. Sie datieren nicht nur aus dem Umstand, daß die künstliche Befruchtung in Deutschland im Eheredit nodi immer ohne Deckung ist. Die Kinder sind bei „heterologer" Insemination der Mutter illegal; Geburtserklärungen sind notwendig falsch und die Gefahr blutschänderischer Verbindungen zwischen Kindern des gleichen Vaters liegt im nahen Bereich des Möglichen. Insbesondere aber werden die psychologischen Bedenken sich bei näherem Zusehen als Einwände ethischer Art erweisen. Es läßt sich ja kaum aufhalten, daß der Ehegatte unter den schwersten Insuffizienzgefühlen, die Ehefrau aber unter Schuldgefühlen zu leiden haben, daß eine Entfremdung der Ehegatten nicht ausgeschlossen werden kann. Wie soll nach solchen Vorgängen der Ehegatte dem geborenen Kinde gegenüber noch eine wirkliche Vaterschaft in Anspruch nehmen können? Die umfassendste Erörterung des Problems der künstlichen Insemination, die mir bekannt geworden ist, findet sidi in: Praxis, Schweizerische Rundschau für Medizin 1958, Nr. 48; darin auch juristische Stellungnahmen; von A. de Quervain: Künstliche Befruchtung und evangelischer Glaube ebda. 1167 ff. Ferner: F. Bioemhof: Das Problem der künstlichen Insemination beim Menschen, Z E E 1958,15 ff. — H . H . Schmidt: Die künstliche Samenübertragung beim Menschen in der juristischen Diskussion in Deutschland, Z E E 1961, 242 ff. — F. Bioemhof: Künstliche Befruchtung — Ausweg oder Gefahr? 1963.
Zusatz über strafrechtliche Folgerungen aus ethischen Normen Bei der Erörterung der Fragenkreise der Geburtenregelung habe ich nur die ethische Beurteilung der Sachverhalte und die reinen Verhaltensnormen im Auge gehabt, ohne die strafrechtlichen Fragen zu be-
Zusatz über strafrechtliche Folgerungen aus ethischen Normen
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rühren. Aber die strafrechtliche Seite des ganzen Komplexes berührt auch die Ethik selbst. Sie ist es, welche die öffentliche Aufmerksamkeit immer wieder diesen Fragen zuwendet und ihre Problematik im öffentlichen Bewußtsein wacherhält. Ich kann daher die Frage der strafrechtlichen Behandlung der Tatbestände, die hier einschlägig sind, nicht völlig außer acht lassen. Einmal fragt der Gesetzgeber, also etwa der christlichen Grundüberzeugungen verpflichtete Abgeordnete, aber auch der Kriminologe, der Kriminalpolitiker und nicht zuletzt der Strafrichter nach dem Urteil der evangelischen Ethik. Und dann ist es eine grundsätzliche Frage an das ethische Denken selbst, wieweit der Schutz des natürlidien Lebens in den genannten Problemkreisen nach einem strafrechtlichen Schutz ruft, wieweit hier überhaupt von der Ethik her strafrechtlich faßbare Tatbestände sichtbar werden. Die hier einschlägigen Verhaltensweisen bzw. Verfehlungen entziehen sich aber weithin einer strafrechtlichen Erfassung, einer tatbestandsmäßigen Definition und demzufolge einer eindeutigen Strafbedrohung. Sie entziehen sich deshalb, weil sie so sehr der Intimsphäre angehören und dem reinen Gewissensurteil unterliegen, daß sie aus ihrer Natur heraus nicht öffentlich judizierbar sind. Es wäre ein schwerer Irrtum, wenn diese Einsicht in die Grenzen des strafrechtlich Möglichen als „laxe Moral" verstanden würde. Für das Verhalten des sittlich verantwortlichen Menschen und für die Gewissensberatung christlicher Seelsorge werden im einzelnen Falle viel weiterreichende Normen gelten. Überdies wird auch ohne ausdrückliche Gewissensberatung das natürliche Gefühl, die Scham und die elementare Ehrfurcht vor dem uns anvertrauten Leben einen Anruf an das Gewissen bedeuten, der auch dem an sich Möglichen eine sichere und unübersteigliche Schranke setzt. Hinsichtlich der Empfängnisverhütung wird die Schädlichkeit der Mittel und ihre allgemeine Zulässigkeit gesetzlich geregelt werden müssen, ebenso die Öffentlichkeit des Angebotes dieser Mittel im Zusammenhang des Jugendschutzes und der Reglementierung der Unzucht. Soweit das öffentliche Interesse reicht und durch öffentliche Maßnahmen auch geschützt werden kann, besteht ein ethisches Interesse an Maßnahmen des Strafrechtes. Die zwangsweise Sterilisierung wird in nahezu allen Fällen durch Asylierung ersetzt werden können. Wie weit eine Nötigung zur operativen Sterilisierung außerdem bestehen mag, das kann nur durch eine gerechte Abwägung aller Interessen entschieden werden; hier ist über die ethischen Gesichtspunkte oben alles Nötige gesagt. — Viel schwieriger ist die Frage einer Unfruchtbarmachung auf eigenen Antrag des Betroffenen zu beurteilen. Es handelt sidi dabei vorwiegend um den Wunsch von Ehefrauen, die sich wider ihren Willen immer neuen Schwangerschaften ausgesetzt sehen. Auch hier kann das Straf-
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recht nur insoweit hereingezogen werden, als dieser intimste Problemkreis dodi die öffentliche Sittlichkeit und insoweit dann auch das öffentliche Interesse berührt. Das ist denkbar im Bilde auf die Erschütterung der Ehen durdi die Aufkündigung des ehelichen Vertrauens, die gewissermaßen durch den ärztlichen Eingriff sanktioniert wird. Hier könnte die Zugänglidikeit einzelner Ärzte gegenüber solchen Wünschen einen gewissen Sog auf die Erweckung ähnlicher Wünsche bei anderen Frauen ausüben. Dem muß der Gesetzgeber gewiß einen Riegel vorschieben. Aber ebenso liegt am Tage, daß dieser prekäre Problemkreis eine besonders schwierige Anforderung an die Weisheit des Gesetzgebers und an den zur Abwägung der sittlichen Güter bestellten Richter bedeutet. Die Unterbrechung der Schwangerschaft aus anderen als medizinischen Indikationen muß unter Strafe gestellt werden, wie das Leben überhaupt den Schutz des Strafrechts genießt. Ebenso erfordern dann freilich auch die Fälle der medizinischen Indikation nodi sehr enge und unmißverständliche Grenzen durch das geltende Recht, nicht nur im Interesse des Schutzes für das keimende Leben, sondern auch im Interesse des ärztlichen Ansehens, das gegen den Verdadit der gewerbsmäßigen Abtreibung geschützt werden muß. Die künstliche Insemination wird sich schon tatbestandsmäßig in der Regel einer strafrechtlichen Beurteilung entziehen. Sie bleibt als homologe Insemination überdies eine persönlidie Angelegenheit der Ehegatten; als heterologe ist sie, gegenseitiges Einverständnis vorausgesetzt, für den männlichen Partner eine Art von Adoption und auch insoweit kein Gegenstand der Bestrafung. Kirche und Sexualstrafrecht. Stellungnahmen des öffentlidikeitsausschusses der Ev. Kirche im Rheinland, Vorwort von H. Ehmke, 1970. 3. Die
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Muß nodi ausdrücklich hervorgehoben werden, daß das christliche Interesse an den Fragen des leiblichen Lebens positiv ist? Jedenfalls soll im Blick auf das leiblich-seelische Leben ausdrücklich gesagt w e r den, daß wir es in Freiheit genießen dürfen und anderen zu diesem Genuß in Freiheit verhelfen sollen. W i r bedürfen der Gesundheit. „Gesundheit heißt Fähigkeit, Rüstigkeit, Freiheit, heißt Kraft zum menschlichen Leben, Integrität seiner Organe z u r Ausübung seiner seelischleiblichen Funktionen" ( K . B a r t h : K D I I I / 4 , 4 0 5 ) . In der christlichen Tradition lag oft die Verachtung des Leibes und die Geringschätzung der Gesundheit nahe, und dies aus begreiflichen Gründen. Hunger und Durst, Essen und Trinken, der Geschlechtstrieb und seine Verirrungen, Wachen und Schlafen — das alles repräsentiert die Gebundenheit des Menschen an die Triebhaftigkeit und an die Schwächen seines leiblichen Lebens. Das alles bedeutet auch eine Gefangenschaft. Die extreme Askese, die „ A b t ö t u n g " des Fleisches, ist doch immer nur eine Bestätigung dieser Gefangenschaft gewesen. Sie machte nicht wirklich frei.
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Fr. Nietzsche blieb hieran hängen und verdächtigte das Christentum einer grundsätzlichen Feindschaft gegen die Gesundheit. Die Schrift „Zur Genealogie der Moral" (1887) enthält alles wünschenswerte Material hierzu. Freilich hat Nietzsche selbst über die Dialektik von Gesundheit und Krankheit sehr erhebliche Einsichten gehabt, worüber der Nadilaß manche wichtigen Belege enthält. „Maßstab bleibt die Effloreszenz des Leibes, die Sprungkraft, Mut und Lustigkeit des Geistes — aber natürlich audi, wie viel von Krankhaftem er auf sich nehmen und überwinden kann, — gesund machen kann. Das, woran die zarteren Menschen zugrunde gehen würden, gehört zu den Stimulanz-Mitteln der großen Gesundheit" (Werke XVI, 366). Ein Satz, der möglicherweise ein christliches Analogon zuließe.
Frei macht dodi erst die Gewißheit, daß der Leib ein Tempel des Heiligen Geistes ist (1 Kor 6, 19 f.). Frei zum guten Gewissen in der Gesundheit macht uns erst die Dankbarkeit für dieses Leben und für die Gesundheit des Leibes. Der Leib ist der Träger des irdischen Lebens einschließlich aller biologischen Funktionen, ohne die wir nicht sein können. Der Leib repräsentiert den Menschen. Der Mensch ist dort, wo sein Leib ist, er tut und kann, was sein Leib tut und kann. Was wir Gutes und Böses tun, gesdiieht „durch den Leib" (2 Kor 5,10). Der Leib ist der Ausdruck des Menschen, der Spiegel seines Wesens, Inbegriff seiner Organe. Ohne den Leib keine Beziehung zwischen den Menschen! Am Leib und durch den Leib vollzieht sich, was der Mensch denkt und sagt, singt und schreibt. Ausdruck und Gebärden des Leibes teilen den anderen Menschen unsere Freude oder Trauer, Liebe und Haß, die ganze Fülle möglicher Gesinnungen mit. Der Leib ist aber auch der Empfänger aller Wohltaten und Freuden, die Gott und Menschen uns in dieser Zeitlichkeit zukommen lassen. Hören und Sehen sind nicht ohne den Leib; der Leib vermittelt uns auch Gottes Wort und den Empfang der Sakramente. Leiblich empfangen wir allen zeitlichen Segen, der Leib ist audi das Element aller Freude und allen Vergnügens. Aus alledem resultieren Pflichten gegen den eigenen Leib. Es gibt eine Pflicht zur Gesundheit. Sie ist natürlich nur begrenzt zu verstehen; denn wir haben ja die Geschicke unseres leiblichen Lebens nur zu einem Teil in der Hand. Immerhin gilt: Es ist unsere Pflicht, uns gesund zu erhalten und die Gabe Gottes zu bewahren, die uns in unserer leiblichen Gesundheit gegeben ist. Wir müssen uns für unsere Pflichten und Aufgaben tüchtig erhalten. Was daraus an Pflichten der Reinerhaltung und äußeren Sauberkeit, an Pflicht zu einer vernünftigen Ernährung, zur Enthaltung von schädigenden Giften folgt, das muß hier nicht im einzelnen ausgeführt werden. Widitiger ist es vielleicht, auch daran zu
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erinnern, daß es ein Übermaß an Pflege des Leibes gibt. Alles, was zum Überwuchern des leiblichen Lebens führt, alles, was das Interesse im Übermaß auf das leibliche Leben konzentriert — dazu kann auch Askese, kann auch Hypochondrie gehören, bringt unsere Gesundheit in Unordnung. Ebenso ist auch das Ubermaß an Pflege des eigenen Seelenlebens zu beurteilen, sei es auf Kosten des Leibes, sei es auf Kosten der Pflichten gegen andere Menschen und gegen den Beruf. Das alles ist dann nur die Kehrseite der schuldhaften Verkümmerungen. Diese Erwägungen, so moralisierend sie klingen mögen, führen aber doch auf einen wichtigen Schluß. Gesundheit ist nämlich in jeder Hinsicht eine Sache des M a ß e s . „Mäßig" wird zu einem Grundbegriff in unserer Fürsorge für die eigene Gesundheit. Gesundheit heißt immer: Ordnung im leib-seelischen Bereich, Ordnung der Bedürfnisse, Indienststellung und Hinordnung auf höhere Ziele. Gesundheit erweist sich ja immer auch darin, daß wir unseren Leib und das Funktionieren seiner Organe vergessen, daß wir absehen können und absehen dürfen von uns selbst. Wir haben Wichtigeres zu bedenken und zu besorgen als unseren Leib. Das eben ist die Freiheit und verhilft uns zu der unbefangenen Freude, die dann, eben in dieser Unbefangenheit auch dem Spiel, audi der Schönheit des Leibes und vielleicht sogar einmal der Gesundheit selber gelten darf. Diese Unbefangenheit ist das entscheidend Christliche im Bereich dieses Themas. Wir sind nicht dauernd vor den Spiegel unserer Selbstreflexion gestellt, um uns in unserer Würdigkeit oder Unwürdigkeit, Schönheit oder Unsdiönheit zu betrachten. Unbefangenheit heißt hier: „Alles ist euer! Ihr aber seid Christi. Christus aber ist Gottes" (1 Kor 3, 22 f.), und: „Ihr seid teuer erkauft; darum preiset Gott mit eurem Leibe" (1 Kor 6, 20). Die K r a n k h e i t erinnert uns daran, daß alle leibliche Gesundheit ein zeitliches, und das heißt ein vergängliches Gut ist. Was ist ihr Sinn, nachdem wir so von der Gesundheit gesprochen haben? Sicher zeigt sie uns die Gesundheit in ihrer Relativität; sie nimmt uns die Selbstverständlichkeit, mit der wir „gesund" zu sein und uns in unserer Gesundheit wohlzufühlen pflegen. Die Heilungen Jesu, die von Zeit zu Zeit in der Christenheit charismatisch erneuert wurden, machen freilich auch die Krankheit relativ. Wie die irdische Gesundheit kein ewiges Gut ist, so wird auch die Krankheit nur zeitlich sein, und nach dieser Zeit, in Gottes Reich werden wir über irdisches Kranksein und irdische Gesundheit hinaus wunderbar erneuert werden. Dennoch ist die Krankheit nicht einfach ein widerstandslos hinzunehmendes Schicksal. Sie kann als Leid, als große Störung uns zu höhe-
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ren Zielen erwecken. Sie kann uns in die Stille führen, kann uns an vergessene Tiefen, an vergessene Ziele, sie kann uns audi daran erinnern, daß wir nicht unersetzlich sind. Sie gehört zweifellos zu den Vorformen und Vorboten des Todes, und dabei wird der Tod als Gericht erfahren. Sie weist uns an Gottes Gnade und Gottes Erbarmen in Jesus Christus. Sie soll im Gehorsam gegen Gottes Willen angenommen werden. Krankheit ist nicht „Schicksal". Sie kann in einem tieferen Sinne zum Boten und zum Mittel des Lebens werden. Wir erfahren in ihr anderes und mehr, als wir in gesunden Tagen erfahren können. Wir werden ihr überhaupt erst dann ganz gerecht werden, wenn wir lernen, daß Gesundheit und Krankheit nicht wie kontradiktorische Gegensätze zu unterscheiden sind. In jedem Gesunden ist etwas von Krankheit, und mancher Kranke findet in seinem Kranksein neue Zugänge zum Leben. Die wahre Menschlichkeit wird immer irgendwie zwischen Gesundheit und Krankheit angesiedelt sein. Unmenschlich ist hier wahrscheinlich doch nur die „unverschämte Gesundheit", die von der Krankheit nidits weiß und kein Teil an ihr haben möchte, und die Krankheit, die den selbstzerstörerisdien, rechthaberischen Willen zur Krankheit in sich birgt. Eben diese letzte Möglichkeit macht sichtbar, daß in aller Krankheit, christlich verstanden, der Wille zur Gesundung leben muß, sei es in der Zeit, sei es durchs Ende hindurch. Hier ist aber der Dienst des Arztes gerechtfertigt, der in jedem Falle dem Kranken zur „Kraft zum Menschsein" verhelfen soll (K. Barth). Er wird darum unerachtet aller Spezialisierung den ganzen Menschen nie aus dem Auge lassen dürfen. Und nur insoweit er das vermag, ist er „Arzt". Er wird nicht meinen, so etwas wie eine pure Gesundheit herstellen zu können. Aber darin ist der Arzt in seinem Dienste gerechtfertigt, daß er dem Menschen, der sich ihm anvertraut, so oder so dazu hilft, seinen gestörten leib-seelischen Haushalt in Ordnung zu bringen, so daß er wieder ein freier, für seine Ziele offener Mensch wird. F. Tillmann: Handbuch der katholischen Sittenlehre IV/2, 1950 4 , 36 ff.; K . B a r t h : K D III/4, 404 f ï . ; Die wichtige Rolle, welche die Krankheit im Leben und Denken Pascals, Dostojewskijs, Kierkegaards und Fr. Nietzsches jeweils in der versdiiedensten Weise gespielt hat, und zu der sich die fremdartig-direkten Erfahrungen J . Chr. Blumhardts als wunderlicher Gegensatz verhalten mögen, kann hier nur Gegenstand eines Hinweises sein. 15 T r i l l h a a s , E t h i k
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4. Ärztliche Manipulation des menschlichen Lebens Im Zusammenhang dieses Kapitels drängen besonders auch jene Probleme zu einer ethischen Klärung, welche durch den Fortschritt der ärztlichen Technik in der Gegenwart aufgeworfen werden. Es handelt sich um Möglichkeiten, welche nahezu die gesamte leibliche Natur des Menschen in allen seinen Organen betreffen. In der Präambel zu seinem Aufsatz „Die ärztliche Manipulation des menschlichen Lebens" (Umschau in Wissenschaft und Technik, 1968, 193 f.) hat R. Kautzky die hier angesprochene Situation geschildert: „In der heutigen Medizin sind medikamentöse, radiologische und vor allem chirurgische Eingriffe möglich geworden, die mit Recht als ärztliche Manipulation des menschlichen Lebens bezeichnet werden können. Man denke nur an die Beeinflussung der Empfängnis im positiven oder negativen Sinn, an Bluttransfusionen bei ungeborenen Kindern oder an das Aufziehen menschlicher Früchte außerhalb des Mutterleibes. Es ist möglich, fast eine ganze erkrankte Hirnhälfte oder — zur Behandlung bösartiger Geschwülste — große Teile des Gesichtes oder die untere Körperhälfte zu entfernen. Die Tätigkeit des Herzens kann man jahrelang durch einen Schrittmacher, die der Lunge durch eine Beatmungsapparatur aufrechterhalten. Aber nicht nur ihre Tätigkeit, sondern auch diese Organe selbst lassen sich vorübergehend durch eine Maschine ersetzen, wobei häufig die Körpertemperatur um 10 Grad oder mehr gesenkt wird. Ja, sogar der dauernde Ersatz des Herzens durch Transplantation wurde bekanntlich versucht, und die erfolgreiche Konstruktion eines Plastikherzens dürfte nicht mehr lange auf sich warten lassen."
In allen diesen Fällen ist das menschliche Leben in einem zuvor noch nie dagewesenen Ausmaß in die Hand des Arztes gelegt. Neu erscheint, wie der Arzt das vitale Leben, jedenfalls die Funktionen einzelner Organe eines Sterbenden verlängern kann. Neu ist es, daß man mit den weiterfunktionierenden Organen eines Sterbenden oder soeben Gestorbenen das bedrohte Leben eines anderen Menschen verlängern kann. Neu ist es, daß man menschliches Leben von bisher für lebenswichtig gehaltenen Organen unabhängig machen und davon unabhängig sogar entwickeln kann. Auf den ersten Blick ist die ethische Frage eine sehr allgemeine. Sie ist darum nicht weniger bedrängend, und möglicherweise führen die auf einzelne konkrete Entscheidungen bezüglichen Überlegungen immer wieder zu dieser allgemeinsten Form des Problems zurück. Was man tun kann, liegt jedenfalls und ausschließlich in der Kompetenz des medizinischen Urteils. Aber d a r f man das auch in jedem Falle tun, was man doch tun k a n n ? Ist die Unterlassung dessen, was man tun kann, ein Tötungsdelikt? Anders ausgedrückt: M u ß man nicht das tun, was man doch tun k a n n ?
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Freilich zeigt sich sehr bald, daß auch in diese Entscheidung über „Müssen" und „Dürfen" unter der Voraussetzung des Könnens ein Überblick über die Situation eingebracht werden muß, der nur dem fachkundigen Arzt abverlangt werden kann. Er allein ist in der Lage, das Risiko eines Eingriffes zu beurteilen und vorauszusehende Nebenwirkungen einer Maßnahme abzuwägen. Die „Güterabwägung" ist im gegebenen Falle eine medizinische Entscheidung. Die Kompetenz der Ethik als soldier ist außerordentlich begrenzt. So ist es allein der Arzt, der darüber entscheiden kann, wann ein Mensch als tot anzusehen ist. Ist der Mensch tot, dann handelt es sich um eine Leiche; und es gibt keine Theologie der Leiche. Pietätspflichten stehen 'auf einem anderen Blatt, und sie sind auch Rechtsfragen. Es ist auch bislang nicht damit zu rechnen, daß durch Organtransplantationen allein schon Veränderungen der Persönlichkeitsstruktur eintreten, und von der rechtlichen Sicherung, daß kein Eingriff ohne die freie Zustimmung der Beteiligten erfolgen dürfe, ist immer auszugehen. Trotzdem gilt, was Kautzky in dem zitierten Aufsatz schreibt: „Allerdings muß zugestanden werden, daß die Frage nach der Berechtigung zur Manipulation menschlichen Lebens nicht nur auf der von allen anerkannten naturwissenschaftlichen Grundlage in Angriff genommen werden kann. Der Versuch einer Antwort setzt außermedizinische Entscheidungen voraus, denen nicht alle in gleicher Weise zustimmen. Es sollte daher eine Grundposition gesucht werden, die wenigstens von möglichst vielen akzeptiert werden kann". Lassen wir im Augenblick die nicht ganz belanglose Frage nach der Gesinnung, aus der heraus solche Manipulationen vorgenommen werden können (Eitelkeit, Sucht nach Publizität, Waghalsigkeit u. ä.) aus dem Spiel. So gilt doch als der beunruhigende Faktor, daß die biologische Natur „keine ethische Norm bedeutet, obgleich sie große hinweisende Bedeutung hat" (R. Kautzky a. a. O.). Welches sind nun die Entscheidungen, die von einer christlichen Ethik geltend gemacht werden sollten und die als ethische sich dem allgemeinen sittlichen Bewußtsein vermitteln lassen müßten? Es ist, wie mir scheint, einmal eine Entscheidung über das Ziel des ärztlichen Handelns. Es hat die Aufgabe, dem Wohl des Menschen zu dienen, aber nicht, das vitale Leben des Menschen „um jeden Preis" zu erhalten bzw. zu verlängern. Im allgemeinen ist sicher davon auszugehen, daß die Erhaltung des vitalen Lebens dem Wohle des Menschen dient. Es stehen also Grenzfälle zur Debatte. Lebenverlängernde Maßnahmen können ein solches Maß an Qual bedeuten, daß von einem 15'
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Leben, das „menschlich" genannt zu werden verdient, nicht mehr die Rede sein kann. Eine solche Verlängerung der Qual anstatt des Lebens ist etwa dann gegeben, wenn mit einem dauernden Verlust nicht nur der Sprache, sondern auch des Vermögens, mit der Umwelt noch Kontakt zu haben, gerechnet werden muß. Die Alternative ist dann aber nicht „aktive Euthanasie", sondern die Unterlassung lebensverlängernder Maßnahmen. Diese Maßnahmen sind eben keineswegs in allen Fällen ein Triumph, sondern auch eine Entwürdigung des Menschen. In der Schrift „Moral Responsibility. Situation Ethics at Work" (1967) sagt J . Fletcher: „Künstliche Beatmung, künstliche Niere, Organverpflanzungen, Antibiotika, intravenöse Ernährung — diese und andere Maßnahmen haben den doppelten Effekt, daß sie zugleich das Leben und zugleich das Sterben verlängern. Nicht, wenn die ärztliche Kunst versagt, sondern häufiger, wenn sie erfolgreich ist, stellt sich die Frage nach dem Recht des Patienten, in Würde zu sterben" (dt. Ausg. 58). Der Verfasser behandelt in großer Unbefangenheit die Euthanasie, den „Gnadentod", und stellt die „Todeskontrolle" darin der Geburtenkontrolle gleich, daß beide eine „Sache menschlicher Würde" seien. Darin ist sicher so viel richtig, daß in der Tat ein „guter Tod" nicht nur eine Sache der menschlichen Würde, sondern auch ein religiöses Ziel ist. Daß. in alter Sprache, aber doch nicht in einem überholten Sinne, der Lebenslauf vollendet sein kann und ein Mensch für sich mit allem Recht vom Leben nichts mehr erwarten will, daß man mit Recht darnach Verlangen haben kann abzuscheiden, das sollte hier als ein Einklang von Naturlauf und Gnade zugestanden werden. Ob das nun lediglich bedeutet, daß die medizinischen Maßnahmen dem nicht in den Weg zu treten haben, oder ob es in extremen Fällen Sache des Arztes sein darf und kann, dazu eine lindernde und helfende Hand zu bieten, das muß eine Entscheidung in der Situation bleiben und kann auf keinen Fall durch ein Dekret entschieden werden. Die uniibersteigbare Grenze ist in jedem Falle die aktive Sterbehilfe. Schon die Tötung auf Verlangen ist mit sittlichem Recht durch das Gesetz mit Strafe bedroht, und das mitunter als Minimum vorausgesetzte „Einverständnis des Betroffenen" kommt der Tötung auf Verlangen nahezu gleich. Es geht t a t sächlich nur darum, daß wie der Sterbende, so audi der A r z t den Tod als natürlich akzeptieren muß. Das mag nicht jedermann als eine religiöse Frage erscheinen, und für den A r z t mag es schlechthin die Grenze seines Wirkens bedeuten. Dennoch — an dieser Grenze sollte keine Rebellion stattfinden.
Die zweite außermedizinische Entscheidung betrifft einen Grundsatz, den wir in seiner Klarheit der Kantischen Ethik verdanken. Kant hat in seiner „Grundlegung zur Metaphysik der Sitten" (1785) gesagt: ^Der
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Mensch und überhaupt jedes vernünftige Wesen existiert als Zweck an sich selbst, nicht bloß als Mittel zum beliebigen Gebrauch für diesen oder jenen Willen, sondern muß in allen seinen sowohl auf sich selbst, als auch auf andere vernünftige Wesen gerichteten Handlungen jederzeit zugleich als Zweck betrachtet werden." In demselben zweiten Abschnitt heißt es dann wenig später: „Im Reich der Zwecke hat alles entweder seinen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde". Es ist die unüberbietbare Begründung des Begriffes der Menschenwürde. Er bezeichnet in unmittelbarer Anwendung auf die hier verhandelten Probleme der ärztlichen Manipulation eine Grenze des Zulässigen, die niemals überschritten werden darf. Sie ist dann überschritten, wenn ein Mensch, und wäre es ein Sterbender, nur noch als Mittel zum Zweck, vor allem nur noch als „Spender von Organen" betrachtet wird. Keine Ethik darf den Unterschied wegdiskutieren: Solange ein Mensch noch lebt, kommt ihm die Würde des Menschen zu, die es verbietet, ihn als ausschließliches Mittel zum Zweck, als Lieferanten von geeigneten Organen anzusehen und zu behandeln. Wenn er tot ist, dann hat er allerdings aufgehört, eine leib-geistige Person zu sein. Aus diesem Grunde ist Klarheit über den Eintritt des Todes für das ethische wie für das medizinische Urteil von grundlegender Bedeutung. Biologisch erscheint ja das Sterben sich über eine gewisse Zeit hin zu erstrecken, in der nacheinander einzelne Funktionen zum Erliegen kommen. Das Aussetzen der Herztätigkeit und der Atemstillstand sind sicher nicht die entscheidenden Kennzeichen des Todes. „All unsere Kenntnisse konvergieren zu der Auffassung, daß erst oder schon bei der endgültigen Funktionseinstellung des Gehirns der Tod des Menschen eingetreten ist. Sollte dies gesichert sein, hörte jede Verpflichtung zu Maßnahmen auf, die einige Organfunktionen weiter aufrechterhalten — wie etwa die künstliche Beatmung oder Herztätigkeit. Es handelt sich dann um eine Leiche mit Restfunktionen. Diese Feststellung ist als Voraussetzung für Organtransplantationen, die dann unbedenklich vorgenommen werden dürfen, praktisch außerordentlich wichtig. Es wäre dann aber auch vertretbar, diese Leiche durch künstliche Beatmung oder durch eine Herz-Lungen-Maschine in einem Zustand zu erhalten, der das Uberleben einzelner Organe, ζ. B. des Herzens oder der Niere, garantiert, bis die Transplantation ausgeführt werden kann" (Kautzky a. a. O.).
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Wenn man einen Menschen, und wäre er ein Sterbender, nur noch als präsumptiven Organlieferanten ansieht, dann hat das neben dem dargelegten ethischen Gesichtspunkt nodi eine andere Seite. Sie mag in praxi manchem mehr einleuchten. Ein Arzt, der seinen Patienten nur nodi als Mittel für das Gelingen einer nächsten Operation betrachtet, verliert mit Recht jedes Vertrauen, ohne das kein Arzt seinen Beruf erfüllen kann. In diesem Vertrauen ist seine Berufsehre begründet. Sehen wir von der durch Kant gelieferten philosophischen Begründung der Menschenwürde ab, so steht mit demselben Entscheid auch die Ehre des Arztes als Arzt auf dem Spiel.
Nodi eine dritte Entscheidung in diesem Zusammenhang ist ohne Zweifel rein ethischer Natur. Besteht, für wen auch immer, eine allgemeingültige Pflicht sich für die Spendung transplantierbarer Organe zur Verfügung zu stellen? Man wird die Frage eingrenzen müssen, um sie verständlich zu machen. Bluttransfusionen scheiden aus unserer Überlegung aus; denn bei ihnen handelt es sich nicht um die Ubertragung eines Organs, und die Natur erstattet dem Spender das abgenommene Blut unmittelbar wieder. Trotzdem erfolgt die Spendung auf freiwilliger Basis. Auf der anderen Seite scheiden unersetzbare und einzige Organe, wie das Herz oder die Leber, aus; kein Lebender könnte sie spenden, ohne zu sterben. Aber je häufiger und erfolgssicherer z. B. Nierentransplantationen vorgenommen werden, desto häufiger wird das Problem auftauchen. Denn der Spender kann ja noch eine Niere behalten. Wir haben hier nicht davon zu sprechen, daß sich ein individueller Mensch in einem gegebenen Falle zu einer solchen Opferung, z. B. einer Niere, entschließt. Wir sprechen nur von einer allgemeinen Verpflichtung. Denn auf ihr könnte sich dann ja eines Tages auch ein Anspruch gründen, der audi dann, wenn er freiwillig von einem „Spender" bejaht würde, doch später audi bereut werden könnte. Ich möchte diese allgemeingültige „Pflicht" zur Organspendung daher ausschließen. Es ist keine konkrete Instanz, sei es nun Arzt oder Familie, denkbar, die einem gesunden Menschen den Verzicht auf ein gesundes Organ, also die Einwilligung in eine Verstümmelung abverlangen könnte, womöglich noch unter dem Vorgeben einer makabren Güterabwägung des Organverlustes gegen das Erfolgsrisiko einer Einpflanzung. Zur Literatur: Dieter Walther: Theologisch-ethische Aspekte einer Herztransplantation. ZEE 1969, 52 ff. — Außer dem schon zitierten Aufsatz von R. Kautzky noch J. Gerlach: Die Definition des Todes in ihrer heutigen Problematik für Medizin und Rechtslehre. Arztrecht 1968, 83 ff. — Das zitierte Buch von J. Fletcher ist in deutscher Ausgabe unter dem irreführenden Titel „Leben ohne Moral?" (1969) erschienen.
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5. Die Scham Wir können das Kapitel über die Ehrfurcht vor dem Leben nicht beenden, ohne jenen eigenartigen Abwehrinstinkt betrachtet zu haben, der jeden Menschen veranlaßt, seine innerste Vitalsphäre zu verbergen: die Scham bzw. die Schamhaftigkeit. Es ist zunächst eine durchaus vormoralische Reaktionsweise des Menschen, wenn er seine spezifisch menschliche Würde gegen Gefährdungen abschirmt, die das Intime bloßstellen wollen. Ursprünglich scheint sich alles, was damit zusammenhängt, auf das Angesehenwerden, Beobachtetwerden des einzelnen durch andere, durch eine Gruppe von Menschen zu beziehen. Was an Verhalten von uns erwartet wird, ist offenbar die Norm, nach der sich diese Scham bemißt. Man entdeckt mit Schrecken, daß man sich in einer bestimmten Situation zu schämen hat. Man hat „sich eine Blöße gegeben", man ist „unliebsam aufgefallen", man möchte sich verbergen, möchte „vor Scham in den Boden sinken", „sich in ein Mauseloch verkriechen". Ohne diese Relation zur Gesellschaft oder zur Gruppe, die uns beobachtet und an ihrer Norm mißt, ist „Scham" eigentlich nicht denkbar. Man gehe eine Reihe von Fällen durdi, in denen wir Anlaß finden, uns zu schämen, um sofort einzusehen, daß das Phänomen keineswegs von Hause aus einen sittlichen Charakter hat. Man schämt sich wegen einer Ungeschicklichkeit, etwa bei einer beiläufigen Verletzung uns unbekannter Tischsitten, oder bei der Verletzung eines Tabus : Man hat „in aller Harmlosigkeit" ein Thema berührt, von dem man „in diesem Kreise nicht spricht", und das ist uns „peinlich".
Wann wird die Scham aber zu einem sittlichen Phänomen? Wenn man sich wegen eines sittlichen oder charakterlichen Versagens schämt, dann geschieht das doch wesentlich im Blick auf die Gesellschaf!:, vor der dieses Versagen offenkundig geworden ist. Diese Gesellschaft hat uns möglicherweise dieses Versagen durch ihre Beobachtung, durch die Art, wie sie plötzlich von uns Abstand genommen hat, erst fühlbar gemacht. Auch hier scheint weniger der ethisch-negative Tatbestand, als das OfTenbarwerden unserer Schande, die „Bloßstellung" als solche Grund der Schamgefühle zu sein. Sittlich bedeutsam wird der ganze Komplex von Scham und Schamgefühl erst dort, wo dieses Verbergen des mit Recht Verborgenen, dieser Schutz der Intimsphäre selbst ein sittliches Faktum werden. Das mag dann überdies noch von den latenten oder ausgesprochenen Normen der Gesellschaft oder ihrer Gruppen bestätigt werden, die mit der Intimsphäre ihrer Glieder nicht behelligt werden wollen. Es ist dann so
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III. Die uns anvertraute Welt
etwas wie ein stilles Übereinkommen über die Dinge in Kraft, die absolut unter die privacy gehören. Aber nicht dieses stille Übereinkommen verleiht Scham und Schamhaftigkeit ihren sittlichen Charakter. Der sittliche Charakter entstammt vielmehr dem Umstand, daß die Zone des innersten Lebens, das Geheimnis der Person, tiefste Gefühle und intimste Lebensvorgänge den Schutz der Verborgenheit in Anspruch nehmen müssen. Nur so erklärt es sich, daß auch sehr geistige Vorgänge unter den Schutz der Schamhaftigkeit kommen. So verbergen wir schamhaft Angstgefühle, gestehen sie nicht ein und überspielen sie mit ablenkenden Gesprächen oder mit täuschender Heiterkeit. Nicht eine sittliche Verwerflichkeit, „Unmännlichkeit" der Angst ist der Grund dafür; denn die Angst kann sehr wohl berechtigt sein. Vielmehr ist es der intime Charakter der Angst, ebenso wie der einer geheimen freudigen Erwartung, der uns diese Gefühle vor den Blicken Unberufener verbergen läßt. Wir verbergen schamhaft das persönliche Gebet. Das persönliche Beten vor den Augen anderer ist vielleicht nicht richtig gedeutet, wenn wir es Heuchelei nennen, aber es gehört seinem Wesen nach, einfach seiner Intimität wegen in das „Kämmerlein" (Mt 6, 6). Das gemeinsame und vollends das liturgische Beten steht unter anderen Bedingungen. Wir verbergen schließlich „schamhaft" auch unsere Liebe. Die Dezenz und die Zartheit echter Liebesbeziehungen gehört in die Verborgenheit. Der Volksmund kennzeichnet sie: „heimliche Liebe, von der niemand nichts weiß", brennt heißer als Feuer und Kohle. Diese Schamhaftigkeit steht darum auch gar nicht im Gegensatz zu der realen Beziehung der Liebenden, aber diese Liebenden haben eben ihre Liebe nur für sich. Was für jeden Dritten schamhaft verhüllt, verdeckt sein muß, das unterliegt in der Liebesbeziehung keiner Verhüllung mehr. Man schämt sich nicht mehr voreinander. Die Scham, als ein vorwegeilender Abwehrinstinkt, sucht diese Beweise des innersten Lebens vor jedem Blick, vor jeder wenn auch noch so distanzierten Einmischung, vor jeder Neugier, vor der Betastung zu bewahren. Immer wieder legt sich, will man das bezeichnen, was abgewehrt werden soll, der Begriff der „Blöße" nahe. Man will, was das Allerpersönlichste ist, nicht „bloßlegen", „bloßstellen", man will sich selbst nicht bloßstellen. Wir können zwei Formen der Scham und des Schamgefühls unterscheiden, die im Entscheidenden doch zusammenstimmen. Es ist diese vorgreifende Abwehr, die es gar nicht zur Bloßstellung kommen lassen will. Daneben aber steht dann die Scham, die
Die Scham
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uns überfällt, wenn man sich bloßgestellt hat. Man hat daher in der Theorie — wenn auch etwas abgekürzt — „Vorscham" und „Nachschäm" unterschieden. Die sexuelle Scham, die ja gelegentlich die ganze Begrifflichkeit auf sich gezogen hat, ist unter den hier ins Auge gefaßten Phänomenen doch nur ein Sonderfall. Sie betrifft die Intimsphäre im Leiblichen. Dieser sexuelle Bezug hat sich unter allen Scham-Phänomenen derart nach vorn gedrängt, daß man sowohl das Wort „Scham" als audi den Begriff der „Blöße" auf die geschlechtlich betonten Leibzonen, ja auf die Geschlechtsorgane des Menschen selbst bezogen hat. Zusammen mit diesen Leibzonen fallen auch die sexuellen Gefühle und die sexuellen Akte unter diesen speziell sexuell verstandenen SchambegrifF. Diese ausschließliche Anwendung ist eine Täuschung. Es gilt in dieser besonderen Beziehung nur drastisch und alltäglich, was allgemein von dem Verbergen der Intimsphäre gilt. Freilich hat hier die Scham und die Sdiamhaftigkeit einen besonderen Bezug zum Leben, d. h. zum leiblichen Leben und bringt in besonderer Weise die „Ehrfurcht vor dem Leben" zum Ausdruck; denn dieses Leben ist in den intimsten Zonen „mein" Leben und „dein" Leben, anders ist überhaupt menschliches Leben nicht denkbar. Dieses immer schon der einzelnen Person zugeordnete Leben wird dadurch verletzt, daß es „bloßgestellt" wird. (Unter Voraussetzung dieser Anwendung aufs Geschlechtliche nennen wir ein entwickeltes und waches Schamgefühl auch Keuschheit.) Es lassen sich ganz allgemein zwei Formen der Verletzung des Schamgefühls denken. Einmal dadurdi, daß jemand selbst die Verborgenheit seiner Intimsphäre mißachtet und sein Inneres entblößt. Dafür kann es manche Motive geben: man will andere sexuell reizen, will durch Frechheit und Zynismus brillieren, oder aber man verrät einfach, daß einem die Maßstäbe der Dezenz und des guten Geschmacks im menschlichen Verkehr abgehen. Die andere Form der Verletzung des Schamgefühls ist das unberufene Eindringen in die Intimsphäre des Anderen. Man verletzt, indem man hinblickt, indem man die Aufmerksamkeit der Leute auf die Blöße des anderen lenkt, diese Intimsphäre selbst. Man verletzt die Sdiamhaftigkeit, indem man den anderen zwingt, sich zu schämen. Man „be-schämt" ihn. Nun kann diese bei dem Bloßgestellten erregte Scham diesen zwar ganz und gar „überfluten", so daß er sich schlagartig aus der Gesellschaft ausgeschlossen führt; er möchte sofort verschwinden usw. Aber es ist gar nicht gesagt, daß diese Blöße wirklich ein sittlicher Mangel des Beschämten ist. Es kann ja nur ein Abweichen von der Konvention sein, ein kleiner Verstoß gegen den Stil
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III. Die uns anvertraute Welt
— wenn etwa einem kleinen Jungen eine Mädchenschürze umgebunden wird. So „schämt" sich der Beschämte zwar, aber er hat keinen Anlaß, Reue zu empfinden. Und damit sind wir bei einem sehr wichtigen Unterschied. Die Reue kommt von innen. Ich kann meine Reue mit mir selbst ganz allein abmachen. Die Scham hingegen empfinde idi immer im Angesicht anderer Leute, angesichts einer Gesellschaft und ihrer mich zwingenden Normen. Reue ist immer ein sittliches Urteil. Scham ist es nicht. Scham kann zum sittlichen Urteil noch hinzukommen, sie kann mir vielleicht ein charakterliches und sittliches Versagen bewußt machen, das mir ohne die Beschämung gar nicht bewußt geworden wäre. Aber das bedeutet nicht, daß diese Scham als solche einen sittlichen Charakter hat. H a t sie einen sittlichen Mangel entdeckt, dann erweckt sie in mir zusätzlich zur Beschämung auch noch brennende Reue. Beschämung hat immer etwas von Ausstoßung aus dem Sozialgefüge an sich. Ich entdecke, daß ich mindestens für einen Augenblick im Urteil der Gesellschaft, der Gruppe den Boden unter den Füßen verloren habe. Diese Abhängigkeit der Scham von den sozialen Faktoren bewirkt es, daß die Inhalte, die unser Schamgefühl wachrufen, sehr verschieden sind und sich mitunter sehr schnell wandeln. So wandelt sich der Begriff von „Männlichkeit" in einer Generation von Grund auf, audi die Vorstellungen von dem, was an Freiheiten im Umgang der Geschlechter möglich und erträglich ist, sind erheblichen Wandlungen ausgesetzt. Speziell in der Geschlechterbeziehung ist der eigenartige Wechsel von Annäherung und Entfernung, von Entblößung und Verhüllung ein weites Feld soziologischer Studien. Es gibt Verhüllungen, die tatsächlich entblößen, es gibt verkappte Verhüllungen — z. B. das Schminken —, so daß man keinesfalls materielle Normierungen aussprechen kann, die nicht sofort dazu verurteilt wären zu veralten. Das berührt aber nicht den Grundsinn der Scham und der Schamhaftigkeit. Man kann vielleicht sagen: jede Epoche interpretiert durch ihre Sitten, durch Kleidermoden u. a. diese Elementarbedürfnisse wieder neu. Man wird auch beobachten, daß immer wieder die alte, zum Abtreten verurteilte Interpretation dessen, was schamhaft ist, die bisherige Norm eben als „ N o r m " abgelehnt wird, während sich das Neue im Namen des „Natürlichen" etabliert. Darin kommt „natürlich" auch immer das Freiheitsbedürfnis der Vitalität zum Ausdruck; und immer von Neuem gilt es, die tiefere Vitalfunktion der „Scham" als einer Form der Ehrfurcht vor dem Leben, vor dem Persönlichsten in
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Die Scham
der Person selbst, verständlich zu machen. Sie ist ganz unabhängig v o m wechselnden Sittenkodex. D i e Scham ist sozial bedingt, was ihre jeweiligen N o r m e n betrifft. D i e Gesellschaft umgibt und durchdringt uns mit ihren N o r m e n , die wir ganz und g a r z u den unseren machen. Sie legt damit die K a n ä l e unseres Verhaltens (Schelsky) und schützt zugleich unsere Intimsphäre, indem sie der Öffentlichkeit verbietet, etwas darüber wissen z u wollen. Diese soziale Bedingtheit der Scham bedeutet aber audi, d a ß wir nicht ohne die Beaditung der Sdiamhaftigkeit sowohl in der Gesellschaft leben wie echte A k t e der Liebe vollziehen z u können. E s gibt eine übersteigerte Schamhaftigkeit, die darin besteht, d a ß w i r das „übliche" M a ß — m a n beachte die N o r m i e r u n g durch das gesellschaftliche Urteil —
durch persönliche Steigerung, durch übertriebene Empfindlichkeit
entstellen. E s ist die Prüderie, die dann tatsächlich die möglichen K o n t a k t e zum Scheitern bringt, die lächerlidi macht und überdies durch die
nun
einsetzenden
Verdrängungen
zurückgestauter
Triebe
der
Psychoanalyse allen Stoff liefert. In der Bibel spielt die Sdiam, und zwar deutlich im geschlechtlichen Sinne, als Folge des Sündenfalls eine Rolle. Während sich Mann und Weib vor dem Fall ihrer Nacktheit nicht schämen (Gen 2 , 2 5 ) , ist nach dem Fall die Scham „das erste vorbewußte Signal eines geheimnisvollen Bruches". Nach jahwistischem Bericht machen sich die ersten Menschen Schurze, um ihre Blöße zu bedecken. Trotzdem berufen sie sich auf ihrer Flucht vor Jahwe auf ihre Nacktheit. Nach Gen 3, 21 macht Gott selber dann den Menschen Kleider, er selber verhüllt ihre Scham, um „ihrem Miteinander durch diese Verhüllung eine neue Möglichkeit" zu geben. Vgl. G. von R a d : Theologie des Alten Testaments I, 1966 5 , 171 ff. Sonst trägt die Vernehmung des biblischen Zeugnisses nicht viel zur Klärung der Sache selbst bei. Der sexuelle Bezug des Begriffskomplexes „Scham, sich schämen etc." tritt schon im Laufe der fortschreitenden atl. Literatur zurück und taucht im N T nur noch an einigen Stellen am Rande auf (2 Kor 4, 2 ; Rom 1, 26; Phil 3 , 1 9 ; Apk 3 , 1 8 ) . Abgesehen von den Stellen, wo es in epischem Zusammenhang steht oder auf das „Zuschanden werden" der Feinde bezogen ist, ist der Unterschied des berechtigten Sichschämens (ζ. B. J e r 3, 3 ; Sir 41 passim u. ö.) von jener Scham hervorzuheben, die man abtun soll, weil man im Recht ist und sich nicht zu schämen braucht (ζ. B. Ps 119, 4 6 ; Rom 1 , 1 6 u. ö.). Vgl. T h W 1,168 ff., 188 ff., (R. Bultmann). Besonders zu beachten: Mk 8, 38! Wl. Solowjew hat in seiner Ethik: Die Rechtfertigung des Guten (1897), dt. Ausg. 1916, das Schamgefühl als die sittliche Urerfahrung bezeichnet und beschrieben, aber durch sein impulsives und impressionistisches Verfahren zur Klärung der Phänomene wenig beigetragen (vgl. 29 ff. und 149 ff. der dt. Ausg.). Erst Max Scheler hat in seiner bis heute wichtigen Arbeit „Über Scham und Schamgefühl" in: Schriften aus dem Nachlaß I, 195 7 2 , 65—154 die Sachverhalte grundlegend gesichtet. In der kath. Moraltheologie hat dann Th. Müncker wichtige Beiträge geliefert: L T h K 1 I X , 213 ff.; Handbuch der
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III. Die uns anvertraute Welt
katholischen Sittenlehre II, 1953 4 , 283 ff.; ferner F. Tillmann: Handbuch der katholischen Sittenlehre IV/2, 1950 4 , 50 f. und 108 f. Vgl. ferner H. Lipps: Die menschliche Natur, 1941, 29—43; H. W. Gruhle: Verstehende Psychologie, 1948; H. Schelsky: Soziologie der Sexualität, (1955) 1968, 169 — 175. Tsd. Die evang. Ethik hat zu dem Thema wenig Beiträge geliefert, immerhin O. Piper: Sinn und Geheimnis der Geschlechter, 1936, 219 ff.; jetzt: Die Geschlechter, 1954, 344 ff. und H. van Oyen: Evangelische Ethik II (Liebe und Ehe), 1957, 133 ff. handeln davon, aber unter ausschließlicher Bezugnahme auf die geschlechtliche Sdiam und ohne auf die psychologischen Strukturen einzugehen. Am umfassendsten geht D. Bonhoeffer in seiner Ethik (1966 7 , 22 ff., 196) auf unser Thema ein.
16. Kapitel Die
Kultur
Das Thema ist, auf die Tradition der christlichen Ethik gesehen, modern. Schleichermachers „Christlidie Sitte" stellt vielleicht die erste große Kulturtheologie des Protestantismus dar. Ihm folgen Richard Rothe, dessen Ethik auf der ganzen Linie als Kulturethik bezeichnet werden kann, und HansLassen Martensen, dessen Christliche Ethik wenigstens im 3. Band eine Kulturlehre enthält. Albrecht Ritsdll ist hierin also nicht vorangegangen, aber seine Lehre vom Reiche Gottes, die er mannigfach entwickelt hat, besonders im 3. Band von „Rechtfertigung und Versöhnung", und seine andere Lehre von der im Berufswirken sich erfüllenden christlichen Vollkommenheit legen recht eigentlich die Wurzeln der Kulturlehre des bürgerlichen Zeitalters bloß. — Die unüberhörbare Gegenstimme im 19. Jahrhundert ist Seren Kierkegaard, der bes. am Ende seines Wirkens in den Artikeln des „Augenblick" das kulturselige und weltselige Christentum seines Zeitalters gegeißelt hat. In ganz anderer Weise, von der historischen Arbeit herkommend, aber die dort gewonnenen Einsichten dann programmatisch vertiefend, hat sich Franz Overbeck zum Anwalt des unüberbrückbaren Gegensatzes von Christentum und Kultur gemacht, vgl. seine Aufsätze zu diesem Thema: Christentum und Kultur (posthum), 1919. Die Geschichte von „Synthese" und „Diastase" beider entwickelt W. Eiert in: Der Kampf um das Christentum, 1921. Vgl. auch P. Althaus: Grundriß § 27 (weitere Literatur). 1. Kulturfeindschafi
des
Christentums?
Zu unserem Thema gibt es zwei weit auseinanderliegende Stellungnahmen. Einerseits wird auf die Kulturfremdheit, wenn nicht gar Kulturfeindlichkeit des Urchristentums hingewiesen und im Blick auf die prinzipielle Eschatologie jedes christliche Interesse an Kulturfragen verneint. Andererseits glaubt der sog. Kulturprotestantismus einen besonderen
Kulturauftrag
des
Christentums
wahrnehmen
zu
müssen.
Kulturfeindschaft des Christentums?
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W. Eiert hat für die beiden Haltungen die Bezeichnungen „Diastase" und „Synthese" angewendet. Beginnen wir mit der urchristlichen Diastase zur Kultur und mit der Untersuchung ihrer Gründe. Da ist vor allem die Naherwartung der ältesten Christen zu nennen. Für die kulturellen Aufgaben bleibt einfach keine Zeit und kein Interesse mehr übrig. Dieser Äon währt nur noch kurze Zeit. Daher ist Distanz zu den Dingen dieser Welt geboten : zu Staat und Politik, zu Kriegs- und Beamtendienst, zu Geld und Wirtschaft, zu Kunst und Wissenschaft, ja selbst die Ehe liegt im Schatten des Zukünftigen. Die Diastase ändert sich auch nicht nach dem Ausbleiben der Parusie, d. h. nach der Umstellung von der Naherwartung zu einem Dasein auf längere Sicht, zu einer Etablierung in der „Geschichte". Es ändert sich aber die Motivierung des Abstandes von der Kultur. Er wird nun moralisch begründet. Der Abstand ist geboten, weil es gilt, sich von der „Welt" und ihrer Lust, ihren Verführungen und Nichtigkeiten abzukehren und dem zuzuwenden, was allein Bestand hat. Die Askese der Stoa hatte diese Grundstimmung in der antiken Welt schon vorbereitet — und nicht nur sie! So begegnete dieses christliche Pathos sehr bald entgegenkommenden Tendenzen der heidnischen Ethik, wobei freilich die Bevorzugung des kontemplativen vor dem tätigen Leben schon wieder ein kulturelles Motiv von größter Tragweite in sich schloß. Zu diesem ursprünglich esdiatologischen Motiv gesellt sich allerdings noch ein inhaltliches. Es ist der „heidnische" Charakter der antiken Kultur, d.h. die kultische Geladenheit. Das Fleisch auf dem Markt, das Theater und der Fahneneid des Soldaten — alles brachte den Christen in Berührung mit kultischen Bezügen und verpflichtete ihn religiös. Die Kultur war also für den Christen der Frühzeit eine religiöse Weihe der Sünde. Diese alten Motive können sich aber jederzeit erneuern. Wo die Verpflichtung gegenüber der Lebensauffassung und den Lebensformen des Urchristentums erwacht, überall ferner, wo Theologie und Kirche eine lebendige und ungebrochene Eschatologie besitzen, schließlich auch dann, wenn heute noch die Kultur — ζ. B. die Kunst — „religiös" verklärt wird, erneuert sich das Abstandsgefühl zur Kultur, und das Interesse wie die Fürsorge für kulturelle Aufgaben werden als unchristlich verdächtigt. Demgegenüber steht der Kulturprotestantismus. A. Ritsehl, der nicht entfernt soviel für eine ernsthafte Theologie der Kultur geleistet hat wie etwa Schleiermacher oder Rothe, hat jedenfalls für die spätbürger-
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III. Die uns anvertraute Welt
liehe Epoche des ausgehenden 19. Jahrhunderts die Hintergründe des „Kulturprotestantismus" sichtbar gemacht. Sie liegen in Folgendem. Einmal tritt die Eschatologie völlig zurück, sie spielt als Motiv der Ethik überhaupt keine Rolle mehr. Zweitens werden bei ihm die sittlichen und kulturellen Zwecke mit dem „Reich Gottes" gleichgesetzt und die „Förderung" des Reiches Gottes als Inbegriff der sittlichen Aufgabe bezeichnet. Drittens vollzieht sich diese Tätigkeit für das Reich Gottes schlicht in der Form des bürgerlichen Berufslebens. Es ist der einzige Weg zur christlichen Vollkommenheit. Unser Weg wird abseits von diesen extremen Positionen verlaufen müssen. Das Thema „Kultur" kann deshalb nicht vermieden werden, weil es den Inbegriff unausweichlicher Verantwortlichkeiten in dieser Welt bezeichnet. Man könnte natürlich diesem Thema dadurch ausweidien, daß man es in einzelne Aufgabenkreise zerlegt, also etwa in das Problem der Erziehung, des Geldes und der Wirtschaft, der Politik und der verschiedenen Gemeinschaftsformen. Tatsächlich geschieht auch in dieser Ethik wie in jeder Ethik, die es auf ein umfassendes Gesamtbild der Lebensproblematik abgestellt hat. Aber das Kulturproblem selbst wäre damit doch nicht hinreichend erfaßt. Es ist mehr als die Summe seiner konkreten Teilprobleme. Die Kultur stellt immer ein Fluidum dar, in dem wir leben, ob wir wollen oder nicht, das uns mit unseren Zeit- und Volksgenossen gemeinsam ist und das uns in einer zunächst sicher sehr schwer faßbaren Weise verantwortlich in Anspruch nimmt. Das Thema enthält audi seine spezifischen Gefahren. Ich erinnere an die religiöse Verklärung der Kultur, an den Versuch, die „Kultur" in irgendeinem Sinne zum Ersatz des christlichen Glaubens, der Religion überhaupt zu machen, das „Kulturhaus" an die Stelle der Kirche zu setzen. Indem wir auf diese Fragen aufmerksam werden, verschiebt sich freilich schon wieder die Sache, die wir ursprünglich im Auge hatten; denn Kultur ist wirklich mehr als „Kulturarbeit" und was dafür ausgegeben wird. Die wahre Kultur beginnt geradezu dort, wo man über die Kultur nicht mehr bewußt reflektiert, so wie audi der Künstler im Vollzug seines Schaffens alles andere tut als über „die Kunst" zu reflektieren. Darum muß nun die vordringliche Frage ins Auge gefaßt werden: In welchem Sinne sprechen wir von Kultur? Welche Möglichkeiten bieten sich überhaupt für eine ethische Kulturlehre und welche Grenzen sind der Bedeutung der Kultur zu setzen?
Der Begriff der Kultur
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2. Der Begriff der Kultur Es kann sich hier nur darum handeln zu beschreiben, wie das Wort „Kultur" etwas Urmensdiliches aussagt. Es geht nidit um eine Definition. Nur das Allgemeine, die anthropologisch wichtige Seite der Sache soll erörtert werden, und die nächsten Kapitel über Technik, Wissenschaft und Kunst werden das Gesagte dann teils fortsetzen, teils spezialisieren. Es wäre audi ein Mißverständnis, ja wir würden gerade den anthropologischen Sinn der Fragestellung verfehlen, würden wir sofort auf eine besondere Höhenlage der Kultur, auf besondere Reifephasen, auf „innerliche" Kultur oder eine besondere „Kultiviertheit" reflektieren. Vielmehr geht es um die Kultur als ein fundamentales Weltverhältnis. In Form von „Kultur" ordnet der Mensch die Welt um sich her, in der er sich befindet. Kultur ist, ganz vorläufig begriffen, die vom Menschen geprägte und gestaltete Umwelt. Darum kann auch am einfachsten, am primitiven Mensdien schon prinzipiell anschaulich gemacht werden, was wir meinen. 1. Zur Kultur gehört zunächst ein organisiertes Wissen und ein organisiertes Können. Wenn das Wissen methodisch begründet, überindividuell organisiert und schulmäßig mitteilbar gemacht ist, sprechen wir von Wissenschaft. Davon mehr im 18. Kapitel. Das die Kultur konstituierende und ausweisende Wissen muß aber nicht „wissenschaftlich" im engeren Sinne sein. Es kann audi religiöses, es kann technisches Wissen sein. Entscheidend ist es, daß man mit diesem Wissen die Welt in den Griff bekommt. Das geschieht ζ. B. damit, daß die Dinge einen Namen bekommen und man weiß, wie man sie nennt. Man weiß, was die anderen meinen, wenn sie diesen Namen gebraudien. Was ich benennen kann, hat aufgehört, mir völlig fremd zu sein. Wissen nimmt einer Sache die Fremdheit. Wissen kann auch die Angst vor einer Sache nehmen. Ebenso ist es mit dem Können; es steht mit dem Wissen in engstem Zusammenhang. Man „weiß", wie man es madit. Man zeigt einander die Technik, man verrät sidi die Griffe. „Dies oder jenes madit man bei uns so." Vielleicht wird dasselbe in einer anderen Gegend anders, vielleicht sogar praktischer gemacht, aber die hier übliche Art, es zu machen, ist unausweichlich. Es ist der Stil, es so oder so zu machen, der die Kultur charakterisiert. Darum gehören zur Beschreibung einer bestimmten Kultur audi immer bestimmteTediniken, eine bestimmte Art, mit Holz, mit Stein, mit Textilien umzugehen. Wissen und Können stehen in Verbindung, aber sie sind nicht kongruent. Man kann mehr wissen als man „kann", und man kann mehr
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III. Die uns anvertraute Welt
„können" als man weiß. Dadurch entsteht in einer Kultur jeweils ein verschiedener Rhythmus, sich die Welt zur Verfügung zu halten. Es gibt ein praktisches Können, ein Verfügen über die Dinge, ein tatsächliches Wissen der Wege, ein Kennen der Heilkräuter — ohne daß man dazu eine Theorie hat, z.B. bei Schäfern, bei Bauern; und es gibt hinwiederum ein Uberwiegen des theoretischen Elements, das nur unter Uberwindung von Hemmungen in angewandte Technik übersetzt werden kann. 2. Zur Kultur gehört ferner ein bewußtes Leben in der Zeit, ein Innehaben der Vergangenheit, ein Bewußtsein von Tradition. Auch hier muß wieder ein Mißverständnis abgewehrt werden. Die Meinung ist nicht, es gehöre zur Kultur historisches Bewußtsein. Es ist durchaus möglich, daß das von uns hier angesprochene Zeitgefühl sich nicht in ein Geschichtsbewußtsein überführen läßt. Aber es ist möglich, daß im Verhältnis zu den Toten eine zweite Dimension zur Gegenwart bewußt wird. Ein Präsentsein der Toten ist etwas anderes als ein Gegenwärtigsein eines Besuchs, der vorhin nicht da war und gleich wieder gehen wird. Auch das Gelten von Traditionen in Sitte und Brauch, das Begehen von Ereignissen im Umlauf des Jahres oder in der Periodizität des Lebens, Liturgie, Sage und Legende — das alles übersteigt die reine Gegenwärtigkeit des Daseins. Werden solche Traditionen gewaltsam abgerissen und zerstört, etwa durch die Kolonisation eines Landes oder durdi Revolutionen, dann wird das gewachsene Zeitraum-Gefüge des Menschen beschädigt und jedenfalls damit seine Kultur erschüttert. Natürlich besteht dieses Zeitraum-Gefüge nicht nur aus einem Verhältnis des Menschen zu seiner Vergangenheit, sondern es schließt ebenso Fortschritt und Bewegung zur Zukunft hin in sich. 3. Zur Kultur gehört weiter das Wahrnehmen der Form in jeder Weise und ein menschliches Besorgtsein um ein adäquates Verhältnis von Form und Inhalt. Dies gilt im weitesten Sinne. Natürlich schließt es audi das Problem der Kunst mit ein, von dem hier nicht die Rede sein soll. Ebenso wie im zwischenmenschlichen Verkehr, im Briefstil, in der Rede soll alles, was wir gestalten, zu einem rechten und gemäßen Ausdruck unseres Wesens werden. Die wildgewadisene Natur wird gebändigt, sie wird bezwungen und in ihren freien, allzufreien Trieben beschnitten. Und so ist in der Tat der Anfang aller Formung ein Einbruch in das Natürliche, eine Veränderung der Natur und eine Hemmung ihrer Kräfte. Tritt diese Bändigung nicht ein, so wird doch die „Natur" des Mensdien dadurch nicht reiner hervortreten, denn im Unterschied zum Tier hat der Mensch keine unbewußt wirkende und
D e r Begriff der Kultur
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sich unbewußt ordnende Natur. Es kommt — wenn man es einmal etwas dialektisch ausdrücken darf — der Natur des Menschen zu, in der Kultur eine Hemmung, Bändigung seiner Natur zu vollziehen und einen Uberbau über sie zu errichten. Nur im Ubergang trägt diese Hemmung den scheinbaren Charakter des Unnatürlichen. Sobald sie gelungen ist, wird eben diese Kultur zur zweiten Natur des Menschen. Die Kultur als Form ist der Ausdruck des menschlichen Wesens. Ununterbrochen prägt der Mensch bewußt und unbewußt durch alles, was er sagt, tut und gestaltet mehr oder weniger flüchtig seiner Umwelt den Stempel seines Wesens auf. 4. Versteht man also die Kultur als eine im beschriebenen Sinne geformte „zweite Natur", so kann man sagen: In der ersten Natur ist der Mensch ursprünglich drin, in die zweite Natur muß er erst hineinwachsen. Alles, was in der geformten zweiten Natur gilt, muß sich der Mensch erst aneignen. Das gilt vor allem von der Sprache, dann von allen Arten des Wissens, des Könnens, vollends dann von mehreren Sprachen, welche zu beherrschen gleichsam eine Komplizierung selbst der zweiten Natur bedeutet. Die Hilfe beim Ubergang von der ersten in die zweite Natur, der audi in vergleichsweise primitiven Verhältnissen keinem erspart bleibt, ist die Erziehung. Zu jeder Kultur gehört ein Erziehungssystem, gehören pädagogische Sitten, Institutionen. Es muß nicht gleich an eine Wissenschaft von der Erziehung gedacht werden; denn es gibt tausendfach Erziehung unter den Menschen ohne Pädagogik. Aber es gibt kein Menschsein ohne eine wenn auch noch so unbewußte und ungekünstelte Leitung des jungen Menschen aus der ersten Natur in die zweite Natur hinein. 5. Die Beschreibung der Kultur nahm bislang keine Rücksicht auf die Höhe der Kultur und die Möglichkeit ihrer Verfeinerungen und Steigerungen. Woran entscheidet sich überhaupt die „Höhe" einer Kultur, wonach richten wir uns, wenn wir über den Grad ihrer Reife und Verfeinerung urteilen? Es ist, kurz gesagt, die innere Kompliziertheit, die Reflexion des Menschen auf sich selbst. Man kann doch bei aller Kultur gleichsam in Dumpfheit in dieser Kultur drin sein und sie in allen ihren Bezügen reflexionslos für selbstverständlich nehmen. Wenn der Mensch sich aber nicht mehr mit dieser Selbstverständlichkeit selbst hinnimmt, wenn er sich kontrolliert, sich bewacht und beobachtet, dann beginnt ein höherer Grad kulturellen Lebens, dann beginnt die „höhere Kultur". Insofern trägt die religiöse Selbstprüfung des Menschen im Spiegel religiöser Grundsätze, tragen Beichte und Gebet auch etwas zur 16 Trillhaas, Ethik
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III. Die uns anvertraute Welt
Kultur des Menschen bei, so wenig sie in diesem Beitrag ihren Sinn erfüllen. Wenn aber der Mensch Menschen anderer Art, anderer Kultur und anderen Wesens begegnet, dann wird das auf jeden Fall für ihn ein Anlaß zum Vergleich und damit zur Selbstprüfung. Es ist möglich, daß er diese in der Selbstprüfung an ihn herantretende Probe in einem tieferen Sinne nicht besteht und daß er den andersartigen Menschen einfach verachtet und verwirft. Erschließt er sich aber den ihm hier entgegentretenden fremden Wesensmöglichkeiten und fremden Seinsbereichen, dann wädist er im Verstehen des anderen zugleich in seiner eigenen Menschlichkeit. Zur Kultur gehört die Bildung, die sich im Verstehen fremder Art und fremder Seinsmöglichkeiten erweist. Eine hochstehende Kultur fordert die Toleranz. Einseitigkeit des Wissens, wie es den Spezialisten kennzeichnet, Einseitigkeit des Könnens, wie es uns im reinen Techniker begegnet, erfüllt zwar das eine Merkmal der Kultur, daß sie nämlich überhaupt im Wissen und Können sich zeigt, aber die Einseitigkeit dieses Wissens und Könnens hemmt zugleich den Fortschritt zur höheren Kultur. Dieser ist nur möglich, wo die Distanznahme von sich selbst, Sinn und Geschmack für das Andersartige die Wege offen halten, auf denen der Mensch sich selbst und seine ursprünglichen Grenzen überschreiten kann. 6. Abschließend muß dann zur Kennzeichnung aller Kultur noch dies gesagt werden: Kultur bedeutet immer ein volles Leben, nicht nur ein Beharren beim Minimum, ein Vegetieren. Echte Kultur beschränkt sich nicht auf das Lebensnotwendige. Sie hat Sinn für das Überschießende, Sinn für den Luxus. Der Raum des Lebens, den die Kultur erfüllt, ist ein Raum mit Bildern, mit offenem Ausblick auf Wege, Häuser und Gärten, es ist ein Raum, in dem Musik erklingt, in dem man sich trifft, er ist kein Gefängnis. Es ist nicht nur die Kunst, von der wir nodi zu sprechen haben werden, es ist das Lachen, alles, was uns vom Druck der reinen Notwendigkeit enthebt, die Gastlichkeit, das Noble und Ungemeine, das Schöne, der Genuß, worin sirh der Reichtum der Kultur erweist. Freilich wird man sich auch den freien Raum, den jede Kultur bietet, nicht zu einseitig nach der Seite des Luxus hin vorstellen dürfen. Das, was „ich mir leisten kann", kann sich auch in der Zucht des Geistes, im freien Verzicht und in der produktiven Muße zeigen. Man hat Zeit, zu studieren und etwas zu schaffen; man ist kein Sklave des Augenblicks, freilich audi nicht der Notwendigkeit des steten Gelderwerbs. In diesem Sinne ist es gemeint, wenn wir sagen: Kultur bedeutet, aufs Ganze gesehen, immer ein volles Leben.
Kultur als Aufgabe der Ethik
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3. Kultur als Aufgabe der Ethik Wenn die Kultur in dem beschriebenen Sinne z u m Menschsein gehört, dann ist die „Bejahung der K u l t u r " kein echtes Problem der Ethik mehr. Sie ist es ebensowenig, wie die „Weltgestaltung" ein Problem darstellt; denn es ist schlechthin kein Menschsein möglich, in dem sich nicht, so oder so, eine Gestaltung der W e l t vollzöge. Die N a t u r , die nicht unablässig „gestaltet" und zur Kultur hin gerufen wird, verfällt und wuchert. Die objektive Kultur stellt sidi uns als die v o m Menschen selbst gestaltete „ W e l t " dar, als eine zweite, gemachte — nidit geschaffene — Welt, die uns in allen ihren Erscheinungen anspricht, als wertvoll anmutet. Die Kultur ist ein großes, umfassendes System der W e r t v e r w i r k lichung. Verwirklichte W e r t e sind „ G ü t e r " , und in diesem Sinne sprechen wir zu Recht von Kulturgütern. M a n kann demnach eine Kultur als eine Güterordnung bezeichnen, d. h. als eine Ordnung von verwirklichten Werten. Der Unterschied der verschiedenen Kulturen liegt dann — philosophisch ausgedrückt und reichlich allgemein gesagt — darin, daß jeweils verschiedene Wertbereiche prävalieren und demzufolge die Güterordnungen verschiedenartige Wertordnungen zum Ausdrude bringen. Wir beziehen uns also hier auf die Tradition der Wertphilosophie, welche etwa seit A. v. Meinong: Psychologisch-ethische Untersuchungen zur Werttheorie, 1894 (2. Aufl. u. d. Titel: Zur Grundlegung der allgemeinen Werttheorie, hg. v. E. Mally, 1923) Gestalt gewonnen hat. Vgl. H. Rickert: System der Philosophie 1,1921 — J . Cohn: Wertwissenschaft, 1932 — O. Kraus: Die Werttheorien, 1937 — R . Reininger: Wertphilosophie und Ethik, (1939) 1947» — Die wichtigsten Werke zur Wertethik sind natürlich M. Sdieler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, (1913/1916) 19&65 und N. Hartmann: Ethik (1926) 1962 4 . Exkurs Allerdings trenne idi mich im entscheidenden Interesse von der sog. Wertethik. Ich möchte hier die Wertlehre nur zur Klärung des Kulturproblems in der Ethik heranziehen, nicht zur Erörterung der „ethischen Werte" im eigentlichen Sinne. Zu ihnen gewendet, muß ich midi auf folgende Bemerkungen beschränken. Ethische Werte sind grundsätzlich personale Werte, nicht Sachwerte, d. h. sie können nur personale Träger haben, also das Leben, Gesinnungen, Tätigkeiten, Gewohnheiten, Absichten, Kräfte, und alles in allem immer die menschliche Person selbst. Man kann bezüglich dieser möglichen „Träger" ethischer Werte Tafeln soldier Werte aufstellen, denen dann jeweils entsprechende Unwerte korrespondieren. 16"
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III. Die uns anvertraute Welt Werte gut vornehm und edel rein und lauter reich großzügig bescheiden fleißig gerecht tapfer
Unwerte böse oder schlecht gewöhnlich, gemein verdeckt, undurchsichtig, verschlagen karg filzig, kleinlich aufdringlich faul ungerecht feige
Es kommt auf die Länge bei einer solchen Tafel ethischer Werte doch auf eine Charakterologie heraus und läßt die schwachen Stellen der Wertethik schon ahnen, über die audi Scheler und Hartmann nicht hinausgeführt haben. Die Problematik scheint mir in folgenden vier Fragen sichtbar zu werden. Einmal: Geht man von der Annahme aus, es sei eine Rangordnung der Wertregionen möglich, bei der von untersten Werten an aufsteigend schließlich zu höchsten Wertbereidien vorgeschritten wird, etwa dem von R. Otto entdeckten „Werte" des Heiligen, so ergibt sich die Frage, ob eben die untersten Stufen dieser Tafel, etwa das Angenehme oder das Nützliche und wiederum der angenommene oberste Wert des Heiligen nodi als ethische Werte anzusprechen seien. Wenn das nicht der Fall ist, dann erscheinen die ethischen Werte in einer mittleren Lage der Rangordnung, wie denn überhaupt der Gesichtspunkt für die Aufstellung der Rangordnung selbst immer außerhalb der Wertetafel liegen dürfte. Eine zweite Schwierigkeit ergibt sich dadurdi, daß man ethische Werte immer nur an anderen Menschen in Reinheit wahrnehmen kann. Man kann nicht über sich selbst positive ethische Werturteile abgeben. Ethische Werte verdunsten gleichsam, sobald man sie von sich selbst aussagen möchte. Die Eitelkeit macht alle ethischen Werte zunichte. Audi die Heudielei, die Hypokrisie (Luk 18, 9—14) besagt ja nicht, daß der Heudiler nidit namhafte sittliche Vorzüge hat, aber der Aufbau einer Fassade des sittlichen Scheins, der gute und böse Eigenschaften deckt, macht doch den Wert des ganzen sittlichen Habitus zunichte. Unsere Gutheit vermag nur im Urteil anderer, nicht im eigenen Urteil wahr zu sein. Damit hängt eine dritte Schwierigkeit zusammen, die alle Wertethiker empfunden haben. Es ist die Frage, wie man auf der Tafel ethischer Werte Forderungen und Pflichten aufbauen kann. Man wird an die mögliche Forderung denken, daß man jeweils den höheren Wert den1 niederen vorziehen soll. Aber es ist die Frage, ob es im Alltag, wo es eben nur Kleinigkeiten zu verarbeiten, „niedere Werte zu verwirklichen" gilt, immer möglidi ist, nach den sittlichen Sternen zu greifen. Kann der kategorische Imperativ so lauten: „Handle wertvoll!"? Das müßte ja bedeuten: „Handle so, daß du ethisch wertvoll bist!"; denn wenn es sich nicht um personale Werte des Handelnden drehen würde, dann wären es ja keine sittlichen Werte. Kann man aber seine sittlichen Handlungen vor dem Spiegel vorbereiten? Es ist dodi so, daß ethische Werturteile immer nur nachträglich in concreto ausgesprochen werden können. Es widerspricht dem Wesen sittlichen Handelns schlechthin, im
Kultur als Aufgabe der Ethik
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Gewahrwerden einer Forderung und in der Bereitschaft, ihr zu folgen, nach sittlichen Wertprädikaten zu schielen. Im Vorausblick des Handelnden spielt der Wertaspekt überhaupt keine Rolle. Sollensethik und Wertethik sind nicht nur zwei Hemisphären der Ethik, es sind auch zwei fast entgegengesetzte Betrachtungsweisen, zwei Blickrichtungen der Ethik, die nicht in eins gesetzt werden können. Die letzte Schwierigkeit ergibt sidi wiederum aus dem eben Gesagten. Die ethischen Wertprädikate sind, wie schon erwähnt, Konkretisierungen des Guten in Richtung auf die Charakterologie hin. Nicht jeder Wert ist jedem Menschen in der gleichen Weise zumutbar. Die Wertfähigkeit ist relativ zum Charakter und zur Struktur der Persönlichkeit. Vollendet gut — aber das ist immer schon ein relativer Begriff — wäre der, der jeweils die ihm allein gemäßen Werte vollkommen verwirklichen würde. E r würde aber das Gute in ganz anderer Weise verwirklichen als der Nächste und so fort. Zum Erkennen einer solchen Wertverwirklichung würde das Auge der Liebe gehören; und die ewige Liebe würde auch dort noch Werte erkennen und als diesem Menschen gemäß zu beurteilen vermögen, wo unser Auge vielleicht gar keine Werte mehr sieht. Damit ist aber eine Grenze der Wertethik erreicht, an der sie von uns nicht mehr als ein Urteilssystem durchschaut und gehandhabt werden kann. — Dieser E x k u r s w a r nötig, um den wertphilosophischen Gesichtspunkt a u f unsere Kulturlehre einzuschränken. Idi möchte hier nicht in die F r a g e der personalen ethischen W e r t e eintreten. Es sind v o r allem drei Gesichtspunkte, unter denen die W e r t l e h r e unmittelbare Beiträge z u r E t h i k der K u l t u r z u leisten v e r m a g . a ) W o w i r W e r t e z u gewahren meinen, da vermitteln sie uns den Eindruck v o n einer unterschiedlichen idealen „ H ö h e " des Wertes oder W e r t t r ä g e r s im Verhältnis zu anderen. So steht das E d l e über dem Gemeinen, eine Melodie v o n M o z a r t über einer A r i e v o n V e r d i usw. E s w i r d vielleicht niemals möglich sein, eine zwingende Rangfolge bei solchen Bewertungen aufzustellen und vollends die Wertbereiche selbst untereinander endgültig in eine R a n g o r d n u n g zu bringen. Für die Unterscheidung des Höheren und des Niederen hat M. Scheler (im „Formalismus", 1966®, 110) allerdings einige überzeugende Kriterien beigebradit. Nach seiner Aufstellung ist ein Wert um so größer, 1. je dauerhafter er ist, 2. je weniger er an der Extensität oder Teilbarkeit teilnimmt, 3. je weniger er durch andere Werte fundiert ist, 4. je tiefer die Befriedigung ist, die er gewährt, 5. je abgelöster er ist vom Fühlen dessen, der den Wert erfaßt und beurteilt (z. B. ist der Wert des Angenehmen ganz vom Gefühl des Genießenden abhängig). Das Gesamtbild der Rangordnung der Wertbereiche unter sich selbst wird man etwa so angeben können: Sakralwerte im Sinne R. Ottos nehmen die oberste Stufe ein, es folgen nach abwärts ethische Werte, Erkenntniswerte, ästhetische Werte, Nützlichkeitswerte, Annehmlichkeitswerte, Vitalwerte. Diese „Tafel" der Rangfolge ist aber ganz hypothetisch. Es spricht sehr viel gegen sie. Einmal ist kein zwingendes Kriterium für die Rangfolge namhaft
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III. Die uns anvertraute Welt
zu machen. Dann wird im völligen Eindringen in eine Wertregion in der Regel jede andere Wertregion „versinken"; der schaffende Künstler kennt nur noch seine Kunst, der den Nützlichkeitswerten hingegebene Mann der Wirtschaft wird alle anderen Werte seinem Realismus zum Opfer bringen u.s.f. Wiederum können Wertbereiche in bestimmten Erlebnisformen kombiniert werden: ästhetische und sakrale Werte, ästhetische Werte und Vitalwerte, reine Nützlichkeits- und sittliche Werte wie Mut und Aufrichtigkeit können in eins zusammenfallen.
b) Alle Werte haben sodann einen Aufforderungsdiarakter. Sie fordern uns zur Teilnahme auf, etwa ein Bild, das uns zur Betrachtung einlädt. Sie fordern uns zum Erwerb auf, wo der Wert uns in einem Gut realisiert begegnet. Sie fordern uns gegebenenfalls audi zum Genuß auf oder zur Tat, je nachdem es dem Wertbereidi selbst entspricht. Ohne eine allgemein affektive Wirkung kann man sich überhaupt keine Werte vorstellen. c) Kombinieren wir nun die Tatsache der Wertdifferenzen mit dem eben erörterten affektiven Charakter der Werte, so ergibt sich als Drittes aus der Wertdifferenziertheit der Kultur die ständige Wahlsituation. Immerfort werden Werte und Güter bevorzugt oder zurückgesetzt, und es müssen Entscheidungen innerhalb des Kulturlebens getroffen werden. Die Gutheit des Willens wird auch hier zunächst dadurch konstituiert, daß er die richtige Wahl trifft und auf Grund dieser Wahl handelt. Aber nun wird durch das Liebesgebot ein kritischer Faktor eingeführt. Die Pflichten der Nächstenliebe können freilich nidit in abstracto und generell geltend gemadit werden, sondern nur angesichts einer bestimmten Situation. Es kann — anders ausgedrückt — jederzeit eine Situation eintreten, in der die geschilderten Wertdifferenzierungen der Kultur unvermittelt relativiert werden. Die Aufforderung, die natürlidi nur in einer Situation sichtbar werden kann, gegen einen „Nächsten" Liebespflichten wahrzunehmen, kann alle Rangordnungen der Wertbereiche umstürzen. Es gibt einen situationsbedingten ordo amoris, besser nodi ordo caritatis, in dem Vi tal werte und Nutzwerte zu schlechthin obersten Werten werden. Das vermeintlich — und im Sinne echten Wertbewußtseins wirklich — Höhere und Sublimere wird angesichts der Not des Nächsten bedeutungslos. In größerer Grundsätzlichkeit wird man freilich dies sagen können: Alles Uberschießende an einer Kultur, das was man mit Luxus im weitesten Sinne meint, das, was ich mir leisten kann, das hohe Gut meiner Bewegungsfreiheit sowohl in zeitlicher wie in finanzieller Hinsicht, das alles ist grundsätzlich verzichtbar. Im Falle der Not des
Einige offene Fragen christlicher Kulturethik
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Nächsten, angesichts der Notwendigkeit einer Hilfeleistung, muß man audi „lassen" können. Das ist eine christliche Grenze der Kulturpflichten, durch die die geschilderte innere Differenziertheit der Kultur — idi möchte geradezu sagen, die Pflicht zur Kultur nicht aufgehoben wird. 4. Einige offene Fragen christlicher
Kulturethik
Die nachfolgenden Fragen ergeben sidi z. T. aus dem Gesagten, teils stehen sie außerhalb jeder Systematik und verdeutlichen in ihrer unmittelbaren Dringlichkeit nur die Absicht dieses Kapitels. a) Kann man über Kulturprobleme predigen? Grundsätzlich soll ja kein Thema bloß um seiner Thematik willen der christlichen Predigt fremd sein. Ebenso liegt es auf der Hand, daß die christliche Predigt — kurz gesagt — das Wort Gottes in Gesetz und Evangelium zu verkündigen hat und nicht fremden Zwecken, also auch nicht kulturellen Zwecken zu dienen hat. Aber es ergeben sich sofort zwei wichtige Einwände. Einmal liegt es im Interesse der christlichen Seelsorge, das Evangelium so zu sagen, daß seine Konsequenzen für das kulturelle Leben deutlich werden. Man denke nur an den weiten Komplex der Schule und der Erziehung. Und dann ist die heute viel grundsätzlicher als früher erkannte Möglichkeit zu nennen, das Zeugnis der Welt, und wäre es nur in der verhältnismäßigen Ferne des literarischen Zeugnisses, für die Wahrheit des Evangeliums aufzurufen. Voraussetzung ist allemal, daß der Prediger und der Hörer Sinn und Geschmack für kulturelle Dinge haben. Sonst wird das alles zu einem unechten, gewollten und krampfhaften Gerede. Wem die kulturellen Dinge zur Hand sind, wem sie zum Lebenselement geworden sind, der vermag dann ganz ungezwungen und „natürlich" damit umzugehen. Es bedarf wohl keiner besonderen Versicherung, daß idi damit nicht nur die dem „Gebildeten" zugängliche Kultur meine. b) H a t die persönliche Kultur auch eine innere Beziehung zum „Glaubensstand" des Christen? Diese Frage ist, wie mir scheint, unbedingt zu bejahen. Es gibt eine Distanzlosigkeit und Taktlosigkeit, mit der Bekehrungsversuche unternommen werden, wobei eben die abstoßende Zudringlichkeit und der offenkundige Mangel an Herzensbildung alle „Kultur" im Sinne eines feineren Empfindens vermissen lassen. Es gibt kein echtes, wurzelhaftes Christentum, das sich nicht in überzeugender Herzensbildung äußert. Solche christliche „Bildung" wirkt oft gerade beim schlichten Menschen am überwältigendsten. Sie ist durch keinen Verhaltenskodex geregelt, sondern unmittelbar durch
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III. Die uns anvertraute Welt
den Takt des Herzens eingegeben. Lebendiger Glaube äußert sidi in jener Liebe zum Nächsten, die bis in die Feinheiten taktvollen Verhaltens und wahrer Herzensbildung reicht. Die Unbescheidenheit und Zudringlichkeit vieler „Bekehrter" ist zunächst ein Mangel an Kultur des Herzens, der doch auf eine tiefsitzende innere Unsicherheit, und — mehr als das — auf tiefe sittliche Mängel solchen Christentums hinweist. c) Bekanntlich ist keine Kultur ohne das Genie denkbar, dessen überragende Leistung und Bedeutung nur zu oft durch ein aus allen Regeln springendes Leben erkauft wird. Soll und kann die Ethik dem Genie ein Sonderrecht einräumen? Es ist eine Frage, die gelegentlich in der Romantik als ethische Frage verhandelt worden ist, die aber allezeit herandrängt. Wir stehen hier wahrscheinlich an einer Grenze, an der die hin- und hergehenden Erwägungen zwar alle Geltung und Respekt beanspruchen müssen, ohne daß sie doch zu abschließenden, die widerstreitenden Wahrheiten ausgleichenden Sätzen führen. Zunächst muß wohl gelten, daß die Ethik, philosophisch oder theologisch oder wie immer man sie fassen mag, keine Sonderrechte zugestehen kann. Wo sollte sie anfangen? Wer dürfte sie beanspruchen? Woher sollten die anderen Normen stammen? Aber zugleich muß gelten: Der Ethiker ist nicht Sittenrichter, er ist überhaupt nicht zum Richter eines Menschen bestellt. So wenig man es mit und ohne Ethik zulassen kann, daß sich jemand als Genie aufspielt und damit für sich eine Ausnahme begründet, so wichtig ist es, daß auch die Christenheit Sinn für Größe und Einmaligkeit der Leistung wie des Menschen beweist. Wo eine Vergötzung des kulturellen und künstlerischen Schaffens droht, da wird sie mit Ernst zur Sachlichkeit rufen dürfen und dafür sorgen, daß die menschlichen Dinge an ihrem Ort bleiben. Im einen wie im anderen kommt es aber ganz offenbar auf die Unterscheidungsgabe an. Diese gilt den Menschen, oder, wie es 1 Kor 1 2 , 1 0 heißt, der Unterscheidung der Geister (διακρίσεις πνευμάτων). Sie gilt der Unterscheidung des wirklichen Könners, also meinetwegen des Genies, von dem, der es zu sein nur vorgibt. Ebenso freilich gilt die Unterscheidungsgabe, die in jedem Falle zu den Charismata zu rechnen ist, auch der Unterscheidung des wirklichen Wertes von bloßem Schein, ζ. B. bei einer künstlerischen oder auch geistigen Leistung, so daß man auch zu unterscheiden vermag, wo nur leere Ansprüche erhoben werden und wo uns beim geistig oder künstlerisch Schaffenden ein echtes Wertgefühl, das ja auch ein Selbstwertgefühl sein kann, entgegentritt.
Wesen und Gewinn der Technik
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17. Kapitel Die
Technik
Nichts bestimmt die Modernität des modernen Menschen so sehr wie die Technik. Sie charakterisiert die neueste Zeit, die wir deswegen als das technische Zeitalter bezeichnen. Der Ausdruck ist umfassender und spezifischer als der andere „industrielles Zeitalter"; denn Industrien hat es audi schon in alter Zeit gegeben, und die Wirkung der Technik beschränkt sich nicht auf die Industrie, da sie auch den Haushalt, auch die Heilkunde bestimmt, ja keinen Bereich des Lebens überhaupt unberührt läßt. Trotzdem also die Technik dem heutigen Menschen alltäglich geworden ist und aus seinem Leben schlechterdings nicht mehr weggedacht werden kann, wird sie unablässig von diesem modernen Menschen als Problem empfunden. Man kann sidi der Technik nicht bedienen, ohne gleichzeitig über sie nachzudenken. Man freut sich der Technik, aber man erschrickt über ihre Möglichkeiten. Die Technik ist des Menschen Geschöpf, aber sie wächst ihm gleichzeitig über den Kopf, sie entgleitet ihm, schreibt ihm das Gesetz seines Handelns vor und bedroht ihn. Vor allem aber: der Mensch kann von ihr nicht mehr ablassen. Es gibt kein Zurück auf dem Wege der Technik. Auch hier wird es unsere vordringliche Aufgabe sein, das Wesen der Technik zu verstehen, eine Bilanz über sie aufzumachen, bevor wir die ethische Aufgabe ermessen, die uns hier erwächst. Zur sachlichen Information über die technische Entwicklung selbst verweisen wir statt vieler anderer Angaben summarisch auf Fr. Klemm: Technik. Eine Geschichte ihrer Probleme, 1954. Die philosophische und soziologische Analyse unseres Zeitalters geht allenthalben auf das Problem der Technik ein, so K. Jaspers: Vom Ursprung und Ziel der Geschichte, (1949) 1966 5 ; ferner H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, (1955) 1961 1 1 -—Tsd.; A. Gehlen: Die Seele im technischen Zeitalter (Rowohlts deutsche Enzyklopädie 53), 1957. — Die ethische und insbesondere die christliche Problematik der Technik verhandelt Fr. Dessauer. Aus seiner schon 1927 erschienenen Philosophie der Technik ist das stattliche Werk: Streit um die Technik, 1956, herausgewachsen, das für die Jahre 1807 bis 1956 eine annähernd vollständige Literaturangabe zu den Grundsatzfragen der Technik enthält. Ferner Kl. Brockmöller S. J.: Christentum am Morgen des Atomzeitalters, 1955 e — Κ. Steinbuch: Automat und Mensch, 1965 — Ders.: Die informierte Gesellschaft, 1966.
1. Wesen und Gewinn der Technik Es ist wohl neben der Sprache das älteste Merkmal des Menschen und die älteste Spur menschlicher Kultur, daß der Mensch Werkzeuge
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III. Die uns anvertraute Welt
gebraucht. Sie sind zunächst einfach der verlängerte Arm des Menschen, wie ζ. B. Hammer, Zange, Schaufel u. dgl. In der Hebelwirkung wird die Kraft des Armes, in Zahnrad und Transmission — etwa beim Fahrrad — die Kraft des Fußes vervielfacht, oder es werden der menschlichen Hand, wie ζ. B. durch das Messer oder die Feile, Effekte ermöglicht, die ihr von Natur aus nicht möglich sind. Zunächst hat aber diese Art von Werkzeug das gemeinsam, daß es die menschliche Kraft selbst weitergibt. In all den genannten Werkzeugen ist noch die menschliche Kraft selbst drin. Das schließt weitere Zwischenschaltungen nicht aus. So kann der Mensch die Kräfte der fließenden Gewässer, des Windes, der Zugtiere, er kann den Sonnenschein in seine Dienste nehmen. Nimmt man hinzu, daß durch überlegte Planung eine immer weitergreifende Komplizierung und Verfeinerung erreicht wird, ζ. B. in der Ausbildung — wie wir zu sagen pflegen — von „Techniken" auf allen Gebieten, nimmt man hinzu, daß die belebte Welt selbst durch die Züchtung erwünschter, durch die Ausrottung unerwünschter Tierarten planvoll beeinflußt wird, so läßt sich leicht ein Eindruck davon gewinnen, wie der Mensch über der „natürlichen" Welt eine unnatürliche Welt, d. h. über der gewachsenen Natur und mit Hilfe der Mittel und Kräfte, welche diese gewachsene Natur darreicht, eine „gemachte" Welt errichtet. Er macht sogar Kunststoffe, indem er die Erde brennt, Ziegelsteine und Holzkohle herstellt und Metalle legiert. Es läßt sich keine Kultur denken, auf die das nicht zuträfe. Immer hat man das Wort Gen 1, 28: „Füllet die Erde und machet sie euch Untertan" auf dieses Walten des Menschen in und mit der Natur bezogen. Man kann die moderne Technik als eine geradlinige Fortsetzung dieser werkzeuglichen Kultur verstehen. Der Mensch hat sich immer schon ein künstliches Haus gebaut und sein Verhalten den Umständen angepaßt. Immer schon hat sich der Mensch bewußt verhalten, im Unterschied etwa zum Vogel, der sein Nest triebhaft baut und immer so wie bisher baut. Selbst wo der Mensch kopiert, tut er es bewußt; immer handelt er im Bewußtsein seiner Zwecke, immer bedient er sich der Naturstoffe — und selbst die Kernphysik hat darin keine Änderung vollzogen. Wie gesagt: man kann die moderne Technik so verstehen und wird dann geneigt sein, die Besonderheit der durch sie aufgeworfenen Probleme zu leugnen bzw. nur als Abwandlungen der mit der Technik schon immer verbundenen Probleme anzusehen. Dennoch, glaube ich, sind zwei Faktoren zu nennen, welche die moderne Technik in einer deutlichen Zäsur von der älteren werkzeugliclien Kultur abheben.
Wesen und Gewinn der Technik
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Einmal gestaltet der Mensch in der modernen Technik das Werkzeug mit Hilfe der exakten Wissenschaft zu einem planvollen Apparat. Es ist möglich, daß die wissenschaftliche Berechnung Aufgaben und Ziele zeigt, die überdies auch als „theoretisch möglich" erwiesen werden, für die jedoch die Technik im engeren Sinne noch keine Zugänge, noch keine Wege der Verwirklichung gefunden hat. Oder es ist möglich, daß die theoretische Physik rechnerisch oder axiomatisch Zusammenhänge zeigt, die rein technisch nicht ermittelt werden können, die aber dann insofern experimentell bestätigt werden können, als die Axiomata vorausgesetzt werden und „tatsächlich stimmen". Etwas Zweites kommt hinzu. Im alten Werkzeug ist die menschliche Kraft, oder doch die vom Menschen unmittelbar geworbene Kraft der Natur (tierische Kraft, Wasser, Feuer, Wind usw.) selbst drin. Der technische Apparat, die Maschine hingegen nimmt dem Menschen die Sorge für diesen Kräfteaufwand immer mehr ab und liefert auch noch die Kraft selbst. Das Fahrrad tritt der Mensch mit seiner Kraft, das Motorrad wird von den Zündungen in den Zylindern bewegt. Mit der Maschine beginnt die radikale menschliche Kraftersparnis und damit eine bis heute noch nicht abzusehende Verselbständigung des Apparates, der arbeitend für den Menschen eintritt. Und er tritt nicht nur in dem Sinne für den Menschen ein, daß er die dem Menschen mögliche Leistung potenziert, auch nicht nur so, daß er dem Menschen seine Arbeit abnimmt, sondern er leistet mehr und mehr Arbeiten, zu denen der Mensch überhaupt nicht in der Lage wäre. Er garantiert Präzisionen — ζ. B. in der Flugtechnik — die dem Menschen selbst nicht mehr möglich sind. Er löst mathematische Aufgaben, er speichert Informationen, er gibt Auskünfte, er weist den Weg zur richtigen politischen Entscheidung und übersteigt in diesen Leistungen hinsichtlich der Schnelligkeit und Zuverlässigkeit das dem Menschen Mögliche, so sehr dieser selbe Mensch den Computer gebaut und seinen Arbeitsgang programmiert hat. Erst diese beiden Faktoren, die Voraussetzung der exakten Wissenschaften und die grundsätzliche Uberbietung, ja der Ersatz der menschlichen Leistung, machen das Wesen der modernen Technik aus. Ich bin daher der Meinung, daß diese moderne Technik nicht nur eine geradlinige Fortsetzung der alten werkzeuglichen Kultur darstellt. Die moderne Technik hat freilich diese werkzeugliche Kultur ganz und gar in sich aufgenommen, so daß diese nicht mehr als etwas Besonderes neben der heutigen Technik betrachtet werden kann. Auch sind fliessende Entwicklungen anzunehmen; man wird nicht in jedem Falle
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I I I . Die uns anvertraute Welt
genau angeben können, ob eine „technisdie" Errungenschaft noch in die ältere oder in die im geschilderten Sinne „moderne" Technik geredinet werden muß. Viele technisdie Neuerungen werden in ihren Frühformen noch schlichten werkzeuglichen C h a r a k t e r tragen. T r o t z d e m beginnt erst mit dem klaren Heraustreten der genannten Kennzeichen die moderne technische Kultur. Vergegenwärtigen wir uns zunächst den Gewinn, den uns diese moderne Technik unablässig einbringt. Die Technik hilft uns heute überhaupt zu leben. Sie verbreitert und intensiviert die Lebensgrundlage. Die Landwirtschaft technisiert jeden Handgriff, Fütterung, Melkvorgang, Pflügen, Ernten, alles. Sie bedarf zur Behandlung der Böden der Bodenchemie. Der Verkehr mit den Konsumgütern, vor allem den schnellverderblichen, wird unerhört beschleunigt. Die Technik erhält die Lebensmittel bis zum Verbraucher hin frisch — Voraussetzungen, ohne die Millionenstädte nicht sein könnten. — Die Medizin wird technisiert. Der Diagnose sind in einem halben Jahrhundert unerhörte technische Mittel in die Hand gegeben worden, bei der Röntgendiagnose angefangen. Die Hygiene ist ebenso wie die moderne Operationspraxis eine Sadie verfeinerter Technik, wofür einfach an die differenzierten Methoden der Anästhesie erinnert sei. Die ärztliche Behandlung gewinnt dadurch freilich erheblich an Unpersönlichkeit. Wie die Spezialisierung das persönliche Verhältnis zum Arzt aufhebt, so wirkt das moderne technisierte Krankenhaus in derselben Richtung. Die Technik vermenschlicht das Leben. Eine für viele gewiß überraschende Behauptung. Dennoch verliert die Natur mit ihren Unbilden für den Reisenden ihre Schrecken durch die Technik. Dank der Technik verringern sich die Gefahren einer See- oder Luftreise auf ein Minimum, ganz zu schweigen von der Möglichkeit, in dieser Sicherheit gleichzeitig die Länder und Meere in kurzer Zeit zu überqueren. Nun erst wird die einst „öde Flur" allenthalben urbar, es entsteht die ganz und gar zurechtgemachte „Landschaft" mit ihren Wegen, Brücken, Bahnen, regulierten Flußläufen, wo kein Baum ist, der nicht gepflanzt oder doch stehen gelassen wäre. Die Technik hilft weite Räume und viele Menschen beherrschen. Das Nachrichtenwesen bedarf hier keiner ausführlichen Schilderung. Dank einer ganz und gar technisierten Verwaltung kann mit verschwindenden Ausnahmen in zivilisierten Ländern kein Mensch untertauchen. Die Polizei fahndet mit allem Raffinement der Technik nach dem Verbrecher. Jede Verwaltung ist technisiert, und Eignungsprüfungen für wichtige Dienste werden mit den Mitteln der Psychotechnik vorgenommen. Die Technik schaltet zwischen den Menschen und das Ding den A p p a rat. Das ist an sich beim Werkzeug audi schon der Fall. Aber doch nur formal. Erst die technische Apparatur entfernt uns prinzipiell vom Ding, vom anderen Menschen. Man sieht das Objekt gar nicht mehr. Das hat in der modernen Kriegstechnik erhebliche Wirkungen gehabt. Der Artillerist schießt „indirekt",
Der Wandel des Menschen im technischen Zeitalter
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d. h. nach einer Planskizze, er sieht das Ziel nidit mehr unmittelbar. Der Bombenflieger ist von seinem Ziel in einer fast anonymen Ferne. Die Gefühle der Liebe oder des Hasses, des Mitleids mit dem Opfer oder die aufwallende Grausamkeit der Vernichtung — das alles wird durch die Technik scheinbar gegenstandslos. Man könnte audi hier von einer Art — wenn auch satanischer — „Humanisierung" sprechen, wenn nicht dadurch das menschliche Risiko und die Verantwortung ganz und gar an den Kalkül der reinen Zweckmäßigkeit abgetreten würden. Der in der Technik dazwischengeschaltete Apparat neutralisiert und objektiviert. Er fördert jedenfalls bei demjenigen, dem er zur Verfügung steht, die Sekurität des Daseins.
2. Der Wandel des Menschen im technischen Zeitalter Diese konkrete Veranschaulichung war nötig, um dem vielfältig zutage tretenden Ressentiment vorzubeugen, das sidi häufig bei technischen Laien gegenüber der Technik und ihren Begleiterscheinungen einstellt. Tatsächlich können wir uns ein Leben ohne Technik heute nicht mehr vorstellen; es wäre schlechterdings unerträglich, und alle gegenteiligen Meinungen sind romantisierende Gedankenlosigkeiten. Wenn wir trotzdem nodi nicht in die ethische Überlegung eintreten können, so liegt das daran, daß wir tatsächlich eine Gegenrechnung aufzumachen haben. Diese Gegenrechnung kann sich freilich nicht in der populären Weise vollziehen, daß man die in der Technik enthaltenen Kräfte der Zerstörung und Vernichtung, natürlich unter besonderem Hinweis auf die tedmische Kriegführung, aufzählt. Diese Hinweise sind durchaus berechtigt, und wir müssen später (im 33. Kapitel) gelegentlich der Kriegsproblematik ausführlicher darauf eingehen. Trotzdem trifft die Hervorkehrung möglicher Gefahren der Technik selbst nicht den Kern des Problems. Alles hat seine Gefahr, und immer gilt: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch" (Hölderlin). Alle zerstörenden Kräfte — wie etwa die der Kernspaltung — lassen sich auch für friedliche Zwecke einsetzen, und der Erfindung der Waffe folgt immer auch die Suche nach dem entsprechenden Abwehrmittel. Alle Technik veraltet rasch, und mit der Überholung einer Stufe technischer Entwicklung wird auch die mit ihr verbundene Gefahr überholt. Alle Erwägungen, welche hier herüber und hinüber angestellt werden können, haben ihr eigenes Gewicht, fallen aber doch mehr in die Verantwortung des Technikers selbst und treffen nicht den Kern des Problems, d. h. sie berühren nicht die Philosophie der Technik. Die Gegenrechnung, von der wir hier zu sprechen haben, betrifft den Wandel des Menschen selbst. Und eben damit nähern wir uns dann auch der ethischen Frage, die in der Technik verborgen liegt. Die Tech-
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III. Die uns anvertraute Welt
nik hat Folgen für den Menschen selbst. Der Inbegriff dieser Folgen ist das technische Zeitalter. Diese Folgen waren in der Zeit einer bloß werkzeuglichen Kultur noch nicht sichtbar. Es handelt sich um folgende einschneidende Tatbestände. a) Es tritt eine N i v e l l i e r u n g der menschlichen Kultur und eine unabsehbare S p e z i a l i s i e r u n g der menschlichen Fähigkeiten ein. Das Leben ist im technischen Zeitalter ohne bestimmte Apparaturen nicht mehr denkbar. Wenn wir einige derselben nennen: Radio, Television, elektronische Rechenmaschine, Automobil, Flugzeug, Eisenbahn, Telephon, so mag das zur Verdeutlichung des Folgenden genügen. Diese Apparaturen sehen nämlich überall, wo sie gebraucht werden, im großen und ganzen gleich aus. Alles, was im weitesten Sinne dem „Verkehr" dient, muß schon deshalb nach den gleichen Gesetzen gebaut sein und denselben Stil haben, weil es audi am anderen Ende des Verkehrsstranges „stimmen" muß — angefangen bei der Spurweite der Eisenbahnen. Ebenso ist „die Fabrik" in aller Welt die gleiche. Das Wohnhaus verliert seine landschaftlichen Eigentümlichkeiten. Die technische Kultur ist grundsätzlich großräumig, ihr eignet in unvorstellbarer Weise Ubertragbarkeit von einem Land, von einem Erdteil zum anderen. Dem entspricht das Bedürfnis nach weiten Sprachgebieten. Dialekte, ihrer Natur nach auf kleinsten Raum beschränkt, sind in der technischen Kultur unbrauchbar. Kleine Völker mit eigener Sprache können sich heute schon keine wissenschaftliche Literatur in ihrer Sprache mehr leisten, da sie ja dazu verurteilt wäre, jenseits der Grenzen nicht mehr verstanden zu werden. Kleinkulturen verschwinden, eigene Sprachen kleiner Völker — und es handelt sich dabei mitunter um Völker bis zu 10 Millionen Einwohnern — werden provinziell, alles drängt zum Zwecke der Verständigung zu den großen Sprachen hin, etwa zum Englischen oder zum Russischen. Im Grunde stellt die technische Kultur auf der ganzen Welt einen Typus dar. Im Abendland hat diese Entwicklung zur technischen Kultur fünf Generationen beschäftigt. Die Völker Ostasiens und Afrikas sollen diese Entwicklung in einer einzigen Generation bewältigen. Es gibt kaum einen Tatbestand, der in ähnlicher Weise den revolutionären Charakter unseres Zeitalters beleuchten könnte. Wie tief diese Umwälzung greift, mag dann durch die Gegenrechnung veranschaulicht werden, die wir hier ja nur andeuten können. Alle Besonderheiten der Kultur eines Landes und eines Stammes werden überspielt und alle Individualität wird problematisch. Lokalstolz, Stammeseigentümlichkeiten, ja der Nationalismus, das alles bekommt im Zeitalter einer alle
Der Wandel des Menschen im technischen Zeitalter
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Grenzen überflutenden technischen Kultur einen veränderten Charakter. Wenden wir uns aber wieder den unmittelbaren Problemen der technischen Kultur selbst zu. Der Apparat erfordert eine „Bedienung", die jedenfalls umso besser ist, je spezieller der Techniker auf diese Bedienung eingespielt ist. Die Reaktionsfähigkeit ist der Inbegriff aller Fähigkeiten, welche für die Bedienung des Apparates erforderlich sind. Bis in die Schulen hinein, weitab von allen Gedanken an einen späteren technischen Beruf, werden „schnelle Auffassungsgabe" und Gewandtheit in der Anwendung des angeeigneten Wissens oberste Maßstäbe bei der Beurteilung des Schülers. Wir haben in diesem Zusammenhang die verschiedenen Erscheinungen der Spezialisierung etwa auf dem Gebiete der Wissenschaft nicht weiter zu verfolgen. Interessant ist aber, daß diese Spezialisierung eine ungeheure Zunahme des esoterischen Wissens mit sich bringt. Jede Technik, jeder Apparat, aber auch das Geldwesen, jedes Teilgebiet der Medizin, kurz, alles hat seine Esoterik, und trotz der demokratischen Grundsätze beginnt sogar der Politiker unbequemen Einreden gegenüber sich als Esoteriker seine „Spezialgebietes" abzuschirmen. Denn dies ist die Folge der Esoterik: man verzichtet darauf, ja man verlernt im Zuge des tatsächlichen Verlustes allgemeiner Bildung, dem „Fachmann" dreinzureden. Daher jene überraschende Erscheinung unseres öffentlichen Lebens, auf welche Gehlen hingewiesen hat, daß man auf Polemik verzichtet, daß sogar die „Spezialisten" der Religion in Ruhe gelassen werden, weil man auf ihrem „Gebiet" nicht zuständig ist. b) Das technische Zeitalter hat uns ferner gleichzeitig eine Simplifizierung des Lebens und eine eigenartige Verfeinerung beschert. Die Technik verhilft uns zunächst zum Glück, sie erleichtert das Leben. Sie erspart uns Anstrengungen der körperlichen Arbeit, sie erspart dem Patienten körperlichen Schmerz, die Maschine zählt und redinet für uns fehlerlos, sie bringt uns das Licht, das Konzert und im Fernsehen das Theater, Politiker und den Papst „persönlich" in den Wohnraum. Man möchte sich daher der Technik ganz hingeben. Im Zuge dieser Erleichterung des Lebens — zuzüglich der geschilderten Spezialisierung — versteht der Mensch die Maschine nicht mehr, die er bedient. Alle Technik bedeutet ja auch Rationalisierung, zunehmende Arbeitsteilung; der Autofahrer kann nicht selbst seinen Wagen, der Radiohörer nicht seinen Empfänger reparieren, er braucht den Fachmann. Der Hausarzt schickt den Patienten zum Spezialarzt, und überall zeitigt die Höchstentwicklung der technischen Spezialisierung
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III. Die uns anvertraute Welt
eine Verkümmerung nicht nur der allgemeinen Bildung, sondern audi der Fähigkeiten bis zur „Idiotie". Die manuellen Handfertigkeiten verkümmern. Weibliche Handarbeiten, die nodi in der vorigen Generation jedes Mädchen herstellen konnte, werden von der Maschine geliefert, und die Hände verlieren die Fähigkeiten zu stricken, zu klöppeln. Der Gelehrte, ausgezeichnet durch universale Bildung, verschwindet und macht dem „Wissenschaftler" Platz, d. h. jenem Spezialisten, der vielleicht schon in der nächsten Nachbarschaft seines Faches völliger Laie ist. Dem entspricht es dann nur, wenn der Student seine Unfähigkeit eingestehen muß, sich geistig zu konzentrieren und schwierigere, ungewohnte Gedankengänge in sich aufzunehmen. Und doch ist das nur die eine Seite im Erscheinungsbild dieses Zeitalters. Auf der anderen Seite nämlich ergibt sich nun eine eigenartige Verinnerlichung, Psychologisierung und Sensibilisierung des Menschen. Die Zwischenschaltung der Apparaturen zwischen die Menschen, die Uniformierung des Lebensstils macht den Menschen einsam. Er ist viel mit sich selbst allein. Sein Innenleben reichert sich an. Aber zugleidi wird er hinsichtlich seiner „Brauchbarkeit", seiner Einsatzfähigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit in ebenso grundsätzlicher wie pauschaler Weise psychologisch getestet, also eben auf diese Intimsphäre hin, und was aus dieser etwa herauszuholen sei, angesprochen. Gehlen hat die hier sich aufdrängenden Paradoxien sichtbar gemacht. Es kommt hinzu, daß da, wo dieser Mensch etwas kann, wo er sich individuell ausspridit, also etwa in der Kunst, er unter dem spezialistischen Verzicht auf Allgemeinverständlichkeit und unter der spezialistischen Forderung auf höchste Verfeinerung einen Grad der Subtilität erreicht, der in dieses Gesamtbild des technischen Zeitalters gar nicht zu passen scheint. Das eigenartige Phänomen der „Schwerverständlichkeit der Kunst", auf das Plessner aufmerksam gemacht hat, — man könnte die Schwerverständlichkeit der heutigen Philosophie hinzurechnen — wird hier im Zusammenhang sinnvoll. Es handelt sich dabei natürlich nicht um ausgeformte Kulturerscheinungen, sondern um entgegengesetzte Richtungen, um trends, die im technischen Zeitalter hervortreten und die Kultur charakterisieren. Die Bindekraft der alten gewachsenen Gemeinschaftsformen läßt nach, und in Richtung auf die massenhaft werdende Gesellschaft treten Ausdrucksformen hervor, die gleichsam überall verständlich sind, die audi dem puerilen Sinn noch einleuchten, die aber an Primitivität nicht zu überbieten sind. Die Erotisierung des Geschmacks, pin-up-girls und Schönheitskonkurrenzen, dazu die Ablenkung lokaler oder audi nationaler Atavismen auf den Sport, das sind Erscheinungen, die alles an einstmals volkhafter, gewachsener Kunst überrunden und die Menge in Anspruch nehmen.
Der Wandel des Menschen im technischen Zeitalter
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Das Gegenbild ist eine nur nodi schwer mitteilbare Subtilität auch des künstlerischen Ausdrucks. Die Seele ist durch die Zwischenschaltungen der technischen Apparaturen ihrer realen Kontakte beraubt. Die Seele wird immer empfindsamer. Sie wird in gewissem Sinne auch einsamer und erzählt, wenn sie erzählt, von sich selbst. Sie trägt den Reichtum und die Abenteuerlichkeit, die ihr vordem die reale Welt selbst vermittelt hat, nun in sich. Im übrigen ist diese Kunst wirklich ein genuines Kind des tedinischen Zeitalters, denn audi sie experimentiert. Sie wendet sich, wie die transzendentale Philosophie zur Frage nadi den Voraussetzungen der Erkenntnis, so zur Auskostung des Materials des künstlerischen Ausdrucks selbst: Papier, Farbe, Drucktediniken werden ausgekostet und auf die feinsten Nuancen der in ihnen liegenden Ausdrucksmöglichkciten hin geprüft. Es ist der Wirklidikeitshunger des von den Dingen immer mehr getrennten Menschen, der die Dinge selbst abtastet und liebend berührt, was man schon an den gleichgültigen Gegenständen erkennen kann, die van Gogh einst gemalt hat. Nicht nach vorwärts, zu neuen Gegenständen hin, sondern gleidisam nach rückwärts werden neue Regionen erschlossen, in der Richtung auf das Primitive hin, im Auskosten des Striches wie bei Joan Miró, im Staunen über das Dasein der Dinge wie bei Henri Matisse. „Das Sichtbare im Verhältnis zum Weltganzen nur isoliertes Beispiel" und „Verwesentlidiung des Zufälligen", so drückt es Paul Klee aus. Das ist keine „volkstümliche" Kunst mehr. Und doch gehört sie zu den Signaturen des tedinisdien Zeitalters, als Kehrseite der Simplifizierung. Es handelt sich dabei nicht nur um heutige Gestalten: van Gogh starb schon 1890, Henri Rousseau 1910. c) D a s technische Zeitalter bringt in jeder Hinsicht ein quantitatives Anschwellen mit sich. Zunächst einfach ein sprunghaftes Ansteigen der Bevölkerungszahlen. Wahrscheinlich wird die Erdbevölkerung a m Ende des 20. Jahrhunderts etwa das Fünffache der beim Jahrhundertbeginn gültigen Zahl betragen. Rein zahlenmäßig hat die Menschheit schon im L a u f e des 19. Jahrhunderts das Idyll verlassen. D a s ist eine unmittelbare Folge der Technisierung; denn eben die Technik hat durch die Gesundung ganzer Landstriche, durch Wasserleitungen und Kanalisation, durch die Seuchenbekämpfung und den Rückgang der Kindersterblichkeit unmittelbar das Anwachsen der Menschheit bewirkt. Dementsprechend wird nun auch die Produktion, werden Angebot und N a c h f r a g e massenhaft, die Massenhaftigkeit des Angebots verbilligt und die Verbilligung ermöglicht den Massenverbrauch. D e r Verkehr w i r d massenhaft usw. Alles das läßt sich nur noch mit dem technischen A p p a r a t bewältigen. Aber nun tritt etwas Merkwürdiges ein. Diese quantitative Steigerung führt auch z u einem qualitativen Umschlag. D e r A p p a r a t wird z u m Selbstzweck. Er frißt die Menschen und Energien, und das beginnt schon damit, daß alle A p p a r a t e sehr viel kosten. Beim Werkzeug im alten Sinne tritt die K o s t e n f r a g e in den Hintergrund. Wenn das Werk17 Trillhaas, Ethik
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I I I . Die uns anvertraute Welt
zeug einmal angeschafft ist, bedarf es der „Pflege", aber der A p p a r a t , die Maschine kostet in der Herstellung und Anschaffung etwas, und auch ihre E r h a l t u n g „kostet" etwas. Man veranschauliche sich das an einem Kraftwagen. Er kostet auch dann etwas, wenn er gar nidit gebraucht wird, nämlich Garagenmiete, Steuern, und wenn er gebraucht wird, dann kostet er zusätzlich Treibstoff, ö l und immer wieder anfallende Reparaturen. Ferner veraltet er, ein Gesichtspunkt, der dem Werkzeug, etwa einem Schnitzmesser gegenüber noch gar nicht in Betracht gekommen ist. Damit wirft die Maschine bereits ein Problem auf, das die werkzeugliche Kultur angesichts ihrer Werkzeuge so nicht gekannt hat: die Maschine muß sich rentieren. Das bedeutet aber, daß die Maschine dem Besitzer Pflichten auferlegt, die er erfüllen muß. Er muß für die Rentabilität der Maschine sorgen. Wir pflegen in einer sehr bezeichnenden Umkehr des Sachverhaltes, daß nämlich alle Werkzeuge und Maschinen uns zu dienen haben, zu sagen: die Maschine muß „bedient werden". Was hier bereits an der Maschine sichtbar wird, das gilt in unverhältnismäßig stärkerer Weise von den großen Apparaturen des technischen Zeitalters, von „der Wirtschaft", dem Bankwesen, der Wehrmacht, „dem Verkehr" u. dgl. Der Verkehr ist zweifellos nur Mittel zum Zweck. Als Apparatur aber wird er Selbstzweck. Das Beispiel jeder beliebigen Großstadt zeigt, was alles zu dieser Apparatur gehört: die Eisenbahn einschließlich aller Werkstätten, die Straßenbahnen und Omnibuslinien, Fahrzeugfabriken, Reifenfabriken, Tankstellen, ein ganzes Dezernat der Polizei, Fahrschulen und schließlich noch die Apparatur zur Hilfe bei Verkehrsunfällen. Es bedarf keines weiteren Beweises, wie hier der Apparat seine eigenen Gesetze hat, seine Forderungen an den Menschen stellt, eine eigene Ethik — das Verkehrsethos bzw. die Verkehrsdisziplin — aus sich heraussetzt und — seine „Opfer" fordert. Schon sprachlich gewinnt der Apparat dabei mythische Gestalt, und in der Tat ist es eine bis in die entlegensten Einzelheiten zu verfolgende Stileigentümlichkeit der Technik, wie in ihr die Maschine personifiziert wird, mit Namen, Charakter und „Tücken" begabt wird und ihren Fetisch bekommt. 3. Ethische
Folgerungen
E r s t durdi diese Gegenrechnung w i r d deutlich, d a ß es sich bei der Technik nicht um ein sittliches A d i a p h o r o n handelt und d a ß w i r uns der technischen Errungenschaften nicht nur freuen können. Vielmehr greift die Technik die Lebensformen
des Menschen selber an
und
schränkt seine Freiheit ein. I n d e m wir das herausheben, setzen wir freilich die Analyse nodi einige Schritte weiter fort, ohne den Anspruch erheben z u können, das P r o b l e m der Technik d a m i t z u erschöpfen. A b e r durch den Fortschritt in der Analyse verdeutlichen w i r uns in zunehmender Weise eben das sittliche Problem der Technik. Die Klassiker des ethischen Denkens haben das P r o b l e m der Technik in unserem Sinne überhaupt nicht gekannt. Dieses Problem ist uns unter den H ä n d e n erwachsen, es h a t uns nicht nur v o r neue F r a g e n
Ethisdie Folgerungen
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gestellt, sondern es hat den Menschen unserer Tage in eine absolut neue Lage gebracht. Aber — um es einmal ganz einfach zu sagen — die Ethik selbst ist nicht mitgewachsen. Sie verweist noch immer auf die alten Tafeln. Um das Problem als ethisches richtig zu fassen, wird man zunächst darauf bedacht sein müssen, es nicht am falschen Orte und zu vordergründig zu suchen. Dies geschieht etwa durch eine voreilige Eintragung der Wertfrage. Ob die Technik Segen oder Fluch bedeutet, ist sicherlich eine wichtige Frage, die aber in dieser Form immer nur gestellt, nie beantwortet werden kann. Sie wird auch nicht dadurch beantwortet, daß man die Technik heute als eine bloße Steigerung, Differenzierung und Intensivierung dessen betrachtet, was immer schon von den Menschen als Technik versucht worden ist. Die heutige Technik hat die ursprüngliche bloß instrumentale Funktion überschritten und tritt in einer eigenartigen Selbstmächtigkeit über den Menschen auf, den sie in Dienst nimmt und dem sie Ziele zeigt, indem sie ihm sagt, was er kann. Natürlich stellt sich immer die Frage nach dem rechten Gebrauch und dem Mißbrauch und danach — besonders angesichts der Kernwaffen —, in welcher Hand die gewonnene Macht liegt. Dodi werden Umwege des Nachdenkens nötig sein. Es mag zunächst genügen zu sagen, daß die Technik „an sich" nicht verwerflich ist, daß der in ihr gegebene Gewinn und die dem Menschen erschlossenen Möglichkeiten jede Dankbarkeit rechtfertigen. Ebenso mag man sich, falls es nötig ist, verdeutlichen, daß die hier beschriebene Entwicklung irreversibel ist. Es ist nicht möglich, sie aufzuheben, man kann nur darauf hoffen, daß der Mensch die Aufgabe, die ihm hier gestellt ist, mehr und mehr bewältigt, und das ist eben eine ethische Aufgabe. Diese ethische Aufgabe erwächst audi schon an gewissen Randerscheinungen der technischen Kultur, daran etwa, daß sidi die Menschen unendlich näher rücken, daß „Nächstenschaft" über weite Räume entstehen kann oder daß sich der moderne Mensch mit Reizüberflutungen auseinanderzusetzen hat — mit intensivem Lärm, mit ständigen aktuellen Nadiriditen, mit den Eindrücken weiter Reisen, mit optischen Reizen —, aber das berührt nicht das Grundsätzliche, so wichtig es für den Menschen ist, der in der technischen Kultur lebt. Vielmehr scheint es sich um folgende, aus unserer Analyse erwachsende ethische Probleme zu handeln. a) Wir sprachen von den Apparaturen, also von „dem Verkehr", dem Finanzwesen usw. Diese Apparaturen nehmen zunächst dem Men17
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III. Die uns anvertraute Welt
sehen viele Kraftanstrengungen ab, sie ersparen ihm weithin einfach das mühselige Denken, etwa, wenn er sich zum Zwecke einer Auslandsreise einer Reisegesellschaft anvertraut. Man tut, was durch die Logik des Apparats vorgeschrieben ist. Diese Situation ist beglückend, weil sie Kräfte und Entscheidungen erspart, weil sie uns über Schwierigkeiten hinweghebt, die wir in Ermangelung eigener Kenntnisse und Fähigkeiten — ζ. B. sprachlicher oder eben „technischer" Art — selbst gar nicht meistern könnten. Der Apparat meistert sie für uns. Wir genießen den Fortschritt und die Überlegenheit des heutigen Menschen, obwohl jeder Einzelne tatsächlich viel weniger „kann" als vergleichsweise der Mensch früherer Epochen. Der Apparat ermöglicht es uns, die spezialistische Fähigkeit eines Einzelnen für viele Unfähige einzusetzen, und so kommt der „Fortschritt" allen zugute. Die Fiktion ist, dieser Apparat sei unser Werk. Tatsächlich nimmt er uns die Entscheidungen ab, indem er uns befiehlt zu tun, was von der Logik des Apparats her jetzt geboten ist. Wir werden Befehlsempfänger, und zwar nicht nur in den unteren Rängen der Gesellschaft, sondern auch in der Rolle der Funktionäre. Der Befehlsempfänger aber lehnt für das, was er tut, die Verantwortung ab. Das Gesamtbild zeigt eine erschreckende Verkümmerung. Die Spezialisierung schränkt nicht nur die Fähigkeiten ein: sie züchtet eine Fähigkeit auf Kosten der anderen, sie schränkt durch das Gesetz des Apparats auch die Entscheidungsmöglichkeiten und vor allem die Verantwortlichkeit ein. Damit aber beginnt die Menschlichkeit des Menschen fragwürdig zu werden. Denn der Mensch in den Apparaturen des technischen Zeitalters will und darf auf seine Verantwortlichkeit hin nicht mehr befragt werden. Die Personifikation der Apparaturen zu selbsttätigen „Mächten", die Herrschaft der Ideologien, die uns ihre Gesetze auferlegen, und in den primitiveren Schichten ein Neuerstehen des Aberglaubens bestätigen nur auf Schritt und Tritt diese Tatbestände.
Die Ethik steht und fällt mit der Verantwortung des Menschen. Der Mensch darf sich die Verantwortung für sein Tun und für die Folgen seines Tuns nicht abkaufen lassen. Das kann freilich nicht bedeuten, daß wir hinter die moderne Technik zurückgehen, sondern die Verantwortung kann nur nach vorne, in der Richtung auf eine innere Bewältigung der Technik gesucht werden. Es kann nicht die Aufgabe der Ethik sein, bestimmte Handgriffe nahezulegen, sondern eben die Einsicht, um die es uns hier zu tun ist, ist der erste Schritt in die Freiheit der Verantwortung.
Ethische Folgerungen
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b) Das Problem erwächst nodi von einer anderen Seite her. Die Technik stellt uns nämlich in die Erfahrung eines doppelten Könnens. Auf der einen Seite das technische Können, das uns zunächst immer in Staunen versetzt. Der Mensch hat — so ist die immer neue Erfahrung — „bisher nicht gewußt, daß er das kann". Man „kann" — ich nenne nur einige Beispiele dieser Erfahrung — Lebensvorgänge im Körper in der Vivisektion von Tieren beobachten. Man „kann" Tiere und Menschen künstlich befruchten. Man „kann" die Schnelligkeit über die Schallgrenze steigern, in wenigen Stunden Ozeane überqueren. Man „kann" lebenswichtige Organe, selbst das Herz verpflanzen und die Vitalfunktionen des Körpers auch nach dem Gehirntod für Stunden und Tage aufrechterhalten. Man „kann" auf den Mond und vielleidit bald auch auf andere Gestirne fliegen. Diesem technischen Können steht nun die durchaus andere Erfahrung eines ethischen „Könnens" gegenüber. Sie wirkt sich bezeichnenderweise gerade in dieser Gegenüberstellung negativ aus. Sie ist die Erfahrung einer ethischen Hemmung. Von der reinen Technik her steht z. B. nichts im Wege, wie an Tieren, so auch an Menschen zu experimentieren. Von der reinen Technik aus gesehen „kann" ich die künstliche Insemination auch bei Menschen vornehmen. Das ethische „Können" schaltet hier Hemmungen ein. Ethisch gilt dann: Ich „kann" nicht! Nun fragt die Technik die Ethik nach ihren Gründen. Die Ethik wird gegen das Experimentieren am lebenden Menschen Mensdienrechte geltend machen, die man dadurch wieder in Frage stellen wird, daß man das Experiment auf solche Menschen einschränkt, die — wie z. B. Verbrecher — ihre „Rechte" eingebüßt haben oder sich freiwillig zur Verfügung stellen. Die Ethik wird sich durch solche Kasuistik nicht überzeugen lassen. Ebenso bei der künstlichen Insemination, wo Gründe und Gegengründe in langen Reihen stehen, zwischen denen dann dodi die Entscheidung aus anderen Tiefen getroffen wird. Aber die Frage läßt sich nicht abweisen, ob denn die Ethik mit dem Geltendmachen ihres eigenartigen „Könnens" bzw. „Nichtkönnens" nicht doch eine tiefere Einsicht in die Natur des Menschen verrät als die Technik. Ein Mekkapilger, der am Ziel seiner Wallfahrt angelangt aus dem Flugzeug stieg, antwortete auf die Frage nach dem Verlauf seiner Reise: „Die Reise ist wohl gut verlaufen, aber — der Geist geht zu F u ß ! " Dieser Hinweis auf den Geist und seine Maße läßt sich in keine technischen Kategorien mehr fassen. Es gibt keine Anthropologie, die diesen menschlichen Geist außer acht lassen könnte, aber es gibt auch keine Kategorie, nach der dieser Geist und seine rätselhaften Lebensbedingungen technisch manipulierbar gemacht werden könnten.
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III. Die uns anvertraute Welt
Das technische „Können" stellt uns ethisch deswegen vor ein so großes Problem, weil es unmittelbaren Aufforderungscharakter hat. Im Sinne der rein technischen Logik gilt immer: Weil ich das und das „kann", darum soll ich auch davon Gebrauch machen. Sobald die Medizin ein Medikament hat, „muß" sie es auch entsprechend anwenden. Sobald ich eine Schiffsreise, sobald idi den Flugverkehr mit Radar sichern kann, muß ich es auch tun. Diese Beispiele sind einleuchtend und unverfänglich. Sie hören auf, unverfänglich zu sein, sobald ich sie analog anwende: Man „kann" fernsehen, also „muß" ich mir einen Fernsehempfänger anschaffen. Die Fülle der technischen Möglichkeiten wirkt auf den Menschen, der sich ihrer bedienen kann, als unbedinger Anreiz, ja als Versuchung, sich ihrer zu bedienen. Und die Natur des Menschen erweist sich auch in der Tat als ungemein dehnbar. Der Radius der Reisen, das Tempo der Reizbewältigung, die Routine der Reaktionsfähigkeit an den Apparaten — z. B. in der Kanzel eines Düsenflugzeuges — das alles zeigt nach 150 Jahren einen im Vergleich zur Zeit Goethes völlig verwandelten Menschen. Die Weltraumfahrt bedeutet in diesem Zusammenhang nur einen äußersten Anwendungsfall. Aber wie weit kann die Natur des Menschen eigentlich gedehnt werden? Das ist sicher eine zunächst von der Physiologie und von der Psychologie zu beantwortende Frage. Vielleicht lassen sich die zur Beantwortung dieser Frage erforderlichen Zeiträume gar nicht absehen. Aber es scheint doch zugleich zu gelten, daß die „Natur" des Menschen von der Physiologie und — wenn man die Psychologie naturwissenschaftlich versteht — von der Psychologie her gar nicht zulänglich erfaßt werden kann. Die Ethik steht bei der Geltendmachung ihres spezifischen „Könnens" oder „Nichtkönnens" immer in einer mißlichen Situation. Sie wird nämlich immer retardierend wirken, wird Hemmungen geltend machen müssen und so leicht den Charakter besorgter Rückständigkeit annehmen. Und sie wird, da ihre letzten Interessen der reinen Technik nicht kommensurabel sind, nie ganz hinreichend vermögen, ihr Können oder Nichtkönnen gegen das technische Können abzugrenzen. Sie kann aber etwas anderes. Sie kann dem Zwang, ja der Suggestion entgegentreten, daß das rein technisch festzustellende Können immer zugleich schon eine Aufforderung, ein „Müssen" bedeute. Daraus, daß die ersten Menschen im Paradies den Apfel essen „konnten", folgte nicht, daß sie ihn essen mußten. Die Ethik muß um des Menschen willen an die Kraft und an das Recht zum „Nein" erinnern, ja dieses Nein kann der eigentliche Erweis der menschlichen Freiheit sein. Es ist der Ausweis des
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sittlichen Menschen, daß er angesichts einer ihm gegebenen Möglichkeit auch „Nein" sagen kann. Wann er das tun muß, dafür gibt es keine von außen kommenden Kriterien. Die evangelische Ethik kann hier keine Kasuistik werden. Gibt es ein für alle gültiges Gesetz, das uns angesichts technischer Möglichkeiten J a oder Nein gebietet? Der Reichtum der Individualitäten und die Freiheit der Kinder Gottes — letztlich voneinander nicht zu trennen — müssen hier ihr Königsrecht durchsetzen. In der Kraft zu diesem Nein gegenüber der aus den technischen Möglichkeiten erwachsenden Versuchung entscheidet es sich, ob die Technik uns zu Diensten steht oder ob sie uns zu ihren Sklaven und zu Funktionären der technischen Logik macht. c) Der große Gewinn der Technik, der der entscheidende Grund unserer Dankbarkeit für sie sein muß, ist darin zu sehen, daß sie uns freistellt. Erst im 20. Jahrhundert hat sich die säkulare Verheißung der Technik zu erfüllen begonnen, daß sie dem Menschen so viel an Kraftleistung abnimmt, daß er sich anderen Aufgaben zuwenden kann. Es war unter den Philosophen der Technik vor allem Walther Rathenau, der in seinen großen Schriften (Zur Kritik der Zeit, 1 9 1 2 ; Zur Mechanik des Geistes, 1 9 1 3 ; Von kommenden Dingen, 1917) die Freistellung des Menschen durch die Technik vorausgesagt hat. E r ist dadurch zu einem eindringlichen Anwalt der Technik geworden, deren Sendung für die Befreiung des Geistes er eindringlich verkündete. Die von ihm vorgeschlagene Planwirtschaft, freilich durch den Gedanken der Selbstverwaltung aufgelockert, sollte diesem Ziele dienen.
Die technische Entwicklung kommt hier der sozialpolitischen Forderung auf Verkürzung der Arbeitszeit entgegen. Die Bestrebungen zur Verkürzung und Kontrolle der Arbeitszeit in der Industrie setzen bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts ein. Es sind zunächst nur einzelne fortschrittliche Unternehmer, z. B. R. Owen in England, die hier vorangehen. Immerhin sind in der englischen Textilindustrie in den dreißiger Jahren des vorigen Jahrhunderts noch 11 VíStündige Arbeitstage üblich. Unter dem Druck der gewerkschaftlichen Forderungen und im Zuge einer entsprechenden Sozialgesetzgebung beträgt die tägliche Arbeitszeit in den meisten Industrien um 1910 9 bis 10 Stunden, nur in seltenen Fällen weniger als 9 Stunden. Erst nach dem 1. Weltkrieg wurde von vielen Industrieländern der Achtstundentag gesetzlich eingeführt. Ernst Abbe in Jena hatte in den Zeißwerken damit schon lange zuvor den Anfang gemacht, da er, was er auch statistich belegen konnte, davon überzeugt war, daß die Verkürzung der Arbeitszeit eine Steigerung der Arbeitsintensität zur Folge haben würde, welche im
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I I I . Die uns anvertraute Welt
Endergebnis den gleichen Arbeitsertrag gewährleistete. Der achtstündige Arbeitstag galt nach dem 1. Weltkrieg längere Zeit als der normale und optimale Arbeitstag. Doch wurde schon vor dem 2. Weltkrieg in den USA die Arbeitszeit weithin auf die Vierzig-Stundenwodie reduziert. Auch anderwärts bekamen zunächst die Untertagearbeiter des Bergbaues Schichtverkürzungen zugestanden. Etwa seit Anfang 1956 kam eine große Zahl tariflicher Vereinbarungen in Deutschland zustande, welche die Aditundvierzig-Stundenwoche auf eine Fünfundvierzig-Stundenwoche reduzierten. Immer bleibt dabei die Erhaltung des gleichen Lohnsatzes leitender Gesichtspunkt. Seit dem Jahre 1954 ist aber audi in Deutschland die Vierzig-Stundenwoche bei nur noch fünf Arbeitstagen wichtigster Punkt der gewerkschaftlichen Forderungen. Diese Forderungen sind nicht utopisch. Einmal bringt die Verkürzung der reinen Arbeitszeit eine Steigerung der Arbeitsintensität mit sich. Dann aber ermöglicht eben der Einsatz der Technik so gesteigerte Arbeitseffekte, daß der Aufwand vieler und noch dazu langarbeitender Handarbeiter in früheren Jahren weitaus aufgewogen wird. Ich verweise zur Information über die sozialgeschichtliche Problematik von Arbeitszeit, Arbeitsmarkt und verwandte Fragen auf StL I, Sp. 396 ff., bes. 534 ff. Hier weitere Lit. Diese Freistellung des Menschen von dem Zwang der wirtschaftlich unerläßlichen Arbeit hat nun freilich eine Kehrseite. Sie besteht einmal darin, daß die Nachfrage nach menschlicher Arbeitskraft abnimmt. Die Anforderungen des Arbeitsprozesses an Wissen und Können des Arbeiters wachsen unaufhaltsam. Wer ihnen nicht nachkommen kann, unterliegt der immer härter werdenden Konkurrenz und fällt aus dem Produktionsprozeß heraus oder rückt an das äußerste Ende der Sozialordnung. Die Hebung und Ausweitung des Bildungssystems wird so zu einer wirtschaftlichen Existenzfrage der kommenden Generation. Die Kehrseite der Verkürzung der Arbeitszeit liegt aber auch darin, daß viele Menschen mit der gewonnen Freizeit nichts anzufangen wissen. Dieses Problem der wachsenden Freizeit tritt freilich bei vielen Mensdien nicht unmittelbar ins Bewußtsein. Eine berufstätige Frau, die gleichzeitig Hausfrau ist, ist nach wie vor überlastet. Ferner existiert das Problem nicht für den Arbeiter, dem Haus und Garten oder ein „Hobby" die Freizeit nie zu lange werden lassen. Aber bei dem erheblichen Rest fehlt es an der nötigen Ausfüllung der Zeit, und der Ausweg: ein „zweiter J o b " , d. h. ein zweiter Beruf, oder die Überstunden im Betrieb bedeuten nichts anderes, als daß die Flucht aus der Freizeit in die Arbeit gewählt wird. Vgl. hierüber audi Kap. 27, 4.
Daraus erwächst eine große Verantwortung für alle, denen die Fürsorge für den Arbeiter anvertraut ist, vor allem für die Erzieher der Jugend, die auf die Füllung der Freizeit hin erzogen werden muß. Nicht zuletzt wird sich die Kirche darüber klar werden müssen, daß
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sie die ihr anvertrauten Menschen mit dem Gottesdienst, vollends mit dem Predigtgottesdienst allein nicht hinreichend „beschäftigt", und daß für das Gemeinschaftsleben christlicher Gemeinden neue Formen gesucht und gefunden werden müssen. Es ist schon richtig, worauf Kl. Brockmöller aufmerksam gemacht hat, daß mit der Parole „Kürzere Arbeitszeit und höhere Löhne" der Kern der sozialen Frage nicht getroffen ist. Dieses Programm ist nämlich durchaus erfüllbar und vielerorts tatsächlich schon erfüllt. Aber diese Erfüllung stellt uns vor die Tatsache, daß nun erst recht für viele Menschen Arbeitswelt und persönliche Welt auseinanderbrechen. Das hängt damit zusammen, daß diese Arbeitswelt für sie nur die Stätte des Lohnerwerbs ist und demzufolge die Freizeit als ein Angebot erscheint, im individualistischen Sinne „für sich" zu leben. Darum kann die Lösung dieses Dilemmas sidi nicht darauf beschränken, eben die Freizeit einigermaßen sinnvoll zu füllen, sondern es gilt, die Arbeit selbst als menschliche Lebensentfaltung, d. h. als die eigenste Sache des „Arbeiters" zu verstehen und die bürgerliche Existenz des Menschen über die Verlegenheiten eines schalen Individualismus hinaus sinnvoll zu machen. d) Schließlich muß noch ein Gesichtspunkt kurz erwähnt werden, der allerdings nicht mehr unmittelbar ethischen Charakter hat. Es ist die Tatsache, daß sich durch die Entwicklung der Technik das Weltbild eben in Hinsicht auf seine Zugänglichkeit und seinen Aufforderungscharakter ändert. Kurz gesagt: Die Welt scheint für den Menschen durch die heutige Technik „unbegrenzt verfügbar" zu werden. Es ist zwar in der Geschichte der Technik immer so gewesen, daß der Traum der Menschen durch den Entwurf von Utopien der technischen Entwicklung vorausgeeilt ist. Daß man fliegen, in einem Schiff unter Wasser fahren, gewisse ärztliche Operationen ausführen kann, das alles hat man lange, bevor man es konnte, erträumt. Solange man etwas erträumt, läßt sich der mögliche Realitätsgrad, der in einer Utopie stekken kann, nicht ermessen. Heutzutage treten nun viele einst unerreichbare Träume Än den Bereich des Möglichen ein. Die Kernspaltung hat uns eine so neue Energiequelle eröffnet, daß die älteren Energiequellen überholt erscheinen und die Sorge, eben diese Energiequellen könnten sidi eines Tages erschöpfen, gegenstandslos zu werden beginnt. Die Automation hat die prinzipielle Möglichkeit eröffnet, auch kompliziertere Tätigkeiten des Menschen durch die Maschine verrichten zu lassen. Die Schrumpfung des Raumes bewirkt, daß die Erdatmosphäre durchstoßen wird, daß man heute schon Echowirkungen von künstlichen Erdsatelliten und vom Mond her in dieNachrichtentechnik mit einbezieht usw.
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I I I . D i e uns anvertraute W e l t
Es läßt sich natürlich nicht absehen, wie technische „Unmöglichkeiten" heute schon zu beurteilen sind. Sie können bedeuten, daß etwas grundsätzlich unmöglich ist, und sie können bedeuten, daß etwas zunächst noch unmöglich ist, aber eines künftigen Tages möglich sein wird. Ich habe hier nicht davon zu sprechen, inwieweit die Tatsache, daß das technische Können immer schrankenloser die ganze „Welt" durchdringt, eine religiöse Krise heraufführt. Diese Krise ist deswegen so schwer zu artikulieren, weil sie nicht eigentlich auf dogmatischem Gebiet liegt, sondern auf dem des unmittelbaren Weltgefühls. Die Welt wird grundsätzlich zugänglich und grundsätzlich verfügbar. Die Weltraumfahrt hat begonnen und ihre Wege wie ihre Folgen sind nicht abzusehen. Wieweit ist diese unsere Erde, sind unsere Raum- und Zeitmaße die Heimat des Menschen? Aber sind diese Bedenken nun eigentlich ethischer Natur? Ist es ein Anliegen christlicher Ethik, technischen Möglichkeiten in Hinsicht auf die unbegrenzt erscheinende Verfügbarkeit der Welt entgegenzutreten? Hätte die Ethik dafür Gründe, die nicht nur ein Ausfluß altväterlicher Bedenklichkeit oder gar des Ressentiments wären, d. h. der unausgesprochenen Freude am menschlichen Unvermögen und Versagen? Man wird nur daran erinnern müssen, daß alle technischen Möglichkeiten, wie idi schon zeigte, die Eigentümlichkeit haben, als Aufforderung, um nicht zu sagen als Versuchung an uns heranzutreten. Müssen wir dieser Versuchung folgen? Es kann der Ausweis eines freien Kindes Gottes sein, der Aufforderung zu widerstehen, wie es auch der Ausweis der Freiheit sein kann, einen Weg zur Erforschung des Unerforschten zu wagen. Dies bleibt der Entscheidung des verantwortlichen Einzelnen überlassen. Das „Gewinnen der ganzen Welt" ist jedenfalls in dem gegenwärtigen Stande der technischen Entwicklung in unerhörter Greifbarkeit aktuell geworden. Dieses Gewinnen ist Mt 16,26 von Jesus nicht „verboten". Es ist aber in dem betreffenden Wort Jesu und was ihm vorausgeht, eine andere Dimension gezeigt, es ist eine allen diesen Problemen gegenüber vordringliche Problematik sichtbar gemacht: die „Seele" bzw. das „Leben" (ψυχή) zu retten bzw. zu verlieren. Offenbar handelt es sich dabei nicht um eine Angelegenheit der „Seligkeit" des einzelnen, die dementsprechend audi in das Belieben des einzelnen gestellt bleiben müßte. Sondern es handelt sich um „den Menschen". Was ihn betrifft, das ist nidit in das Belieben des einzelnen gestellt. Dem einzelnen ist vielmehr die Verantwortung dafür auferlegt, was er aus dem ihm anvertrauten Menschenbild macht. Diese
Die Wissenschaft und das Christentum
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Frage hat den Vorrang vor allen durdi die Technik eventuell gebotenen Möglichkeiten. 18. Kapitel Die
Wissenschaft
Die Wissenschaft ist ein Teilproblem im Gesamtproblem der Kultur. Wie aber wird diese Wissenschaft zu einer Frage der Ethik? Sie wird es dadurch, daß sie in eminenter Weise den Menschen herausfordert, ihn in seiner Leistungsfähigkeit erprobt und ihm auf dem Wege der Erkenntnis die Welt anbietet. An der Wissenschaft entscheidet es sich, was der Mensch aus der von ihm zu erkennenden und erkenntnismäßig zu ordnenden Welt macht. Die Ethik, vorab die christliche Ethik ist häufig an dieser Fragestellung vorbeigegangen (z. B. Eiert) oder hat sie mit dem sittlichen Problem der Wahrheit vermengt (See). Vgl. P. Althaus: Grundriß, § 28 (hier weitere Literatur), ferner bei K. Jaspers passim, bes.: Vom Ursprung und Ziel der Gesdiichte, (1949) 19665, 109 ff. Für den Einfluß, den das Christentum auf das Werden der abendländischen Wissenschaft ausgeübt hat, verdanken wir Fr. Nietzsche entscheidende Beobachtungen, die freilich in seine negativen Werturteile über das Christliche hintersinnig und beziehungsvoll eingesprengt sind; vgl. hierüber und über die latent christlichen Motive im Denken Nietzsches überhaupt K. Jaspers: Nietzsche, Einführung in das Verständnis seines Philosophicrens, (1936) 1950 3 ; bes. 155 ff. und: Nietzsche und das Christentum, (1946), ND 1963, 40 ff.
1. Die Wissenschafl und das
Christentum
Wissenschaft ist methodisch angewandte Vernunft des Menschen. Sie sucht methodische Erkenntnis, d. h. Erkenntnis, die nicht nur in dem vordergründigen Sinne „wahr" ist, daß sie in dem vorliegenden Falle „stimmt", sondern die in ihrer Wahrheit auch begründet und einsichtig gemacht werden kann. Wissenschaftliche Erkenntnis ist also einsichtig zu machende, nachprüfbare Erkenntnis. Sie zielt auf eine Erkenntnis, die dem, der sich der methodisch angewandten Vernunft aufschließt, mitgeteilt werden kann. Arcana, Mysterien und Glaubenssätze, mögen sie im übrigen noch so „wahr" sein, sind darum keine wissenschaftlichen Erkenntnisse. Es liegt im Wesen einer wissenschaftlichen Erkenntnis, daß sie jedem Menschen mitgeteilt, daß sie grundsätzlich über die Menschheit verbreitet werden kann. Eine wissenschaftliche Einsicht kann und darf nicht verschlossen, vorenthalten werden, zumal sie im Prinzip jederzeit von einem anderen Menschen ebenso gewonnen werden kann. Wenn es trotzdem nicht zu einer allgemeinen Verbreitung der Wissenschaft kommt, so hat das andere Gründe. Sie liegen in den
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III. Die uns anvertraute Welt
individuellen Fähigkeiten. Sie liegen aber auch in der Zugänglichkeit des Materials, ζ. B. historischer Stoffe und Quellen, in der Begrenztheit des Lebensbezuges der Menschen zu dem, was man wissen kann, ζ. B. in der Begrenztheit des Interesses für bestimmte Parteien der Gesdiichte (Lokalgeschichte, „fernes" Altertum) oder in der Begrenztheit von gewissen Erfahrungen, welche zum Gegenstande der Erforschung gemacht werden (Psychologie u. ä.). Wissenschaftliche Erkenntnis kennt keine thematischen Grenzen. Sie läßt nichts aus, sie prüft schlechthin alles und macht vor keiner Tür halt. Sie i s t nicht de facto an allem interessiert, aber sie k a n n alles zum Gegenstand ihres Interesses und ihrer Forschung machen. Sie wird dabei durch kein Vorurteil und durch keine Rücksicht gehemmt. Nichts ist zu groß oder zu klein, nichts zu schön oder zu häßlich, nichts ist ihr zu heilig, auch keine Art von unmittelbarem Abscheu kann sie hindern, sich mit einem Gegenstande zu befassen. Es handelt sich um das Grundsätzliche. Tatsächlich befaßt sich die Wissenschaft nicht mit jedem Gegenstand, weil nicht jeder Gegenstand auch einen Ertrag an wissenschaftlichen Erkenntnissen verspricht. Mancher Gegenstand ist auch schon hinreichend erforscht und manche Erkenntnis entschlüsselt einfach durch ihre analoge Anwendung unerforschte Gegenstände. Es ist auch denkbar, daß der Aufwand oder gar das einzugehende Risiko den Ertrag überwiegt, der selbst im günstigsten Falle von der Forschung erhofft werden kann. Wissenschaft fragt bis zum äußersten und ist rücksichtslos in ihren Konsequenzen. Sie wagt im Experiment viel, ja alles und wartet ab, was kommt. Sie nimmt auch Enttäuschungen in Kauf und muß bereit sein, liebgewordene und längst eingewurzelte Vorstellungen der neuen Erkenntnis preiszugeben. Die Wissenschaft ist prinzipiell unfertig. Sie hat immer noch etwas vor sich, was sie nicht weiß, und muß grundsätzlich zur Revision bereit sein. Zugleich aber sucht sie für alle ihre Erkenntnisse den größeren Zusammenhang. Das völlig isolierte Faktum, daß Herr X gestern 15 Uhr 34 Minuten die Hauptstraße überquerte, ist kein Gegenstand der Wissenschaft. Wissenschaftlich interessant ist nur, was sich in größere Zusammenhänge — seien sie nun naturwissenschaftlicher oder geschichtlicher Art — „einordnen" läßt. Alle Wissenschaft drängt nach einem Gesamtbild des Seins, nach einer „weltanschaulichen" Abrundung des Verständnisses ihrer Gegenstände. Das ist natürlich eine Quelle der Vereinfachungen, der schweren Irrtümer und des gegenseitigen Widerspruchs der „Philosophien". Trotzdem ist es nicht minder eine
Die Wissenschaft und das Christentum
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unerhörte Quelle des Erkennens: Idealismus, Materialismus und Biologismus, Historismus usw. „meinen alle etwas Richtiges" und sind in diesem Sinne nebeneinander in einer vorsichtig einschätzenden Relativität „wahr". Es wäre nun nicht schwer, schon hier innezuhalten und eine sehr elementare „Ethik der Wissenschaft" aufzustellen, die nach dem Gesagten fast mit Händen zu greifen ist. Sie würde etwa auf folgende Grundsätze abkommen: Keine Angst vor der Wahrheit! N u r vertreten, was man begründen kann! N u r sagen, was man wirklich glaubt, was eigene Einsicht ist, und nicht nur nachsprechen, was man gehört oder gelesen hat und was der Mode entspricht! Bewußtsein davon, wo man nichts weiß oder nur populäre Kenntnisse hat! Sinn audi für fremde Seinsbereiche! Aufgeschlossenheit für die unerwartete Erkenntnis 1 Überblick über die Konsequenzen und wissenschaftliche Verantwortung für die Folgen dessen, was man ausspricht!
Aber ist das schon die ganze „Ethik der Wissenschaft"? Bevor wir uns der Frage zuwenden, was ethisch zu diesem eigenartigen Weltverhältnis und zu dieser Art von Bewältigung der Welt zu sagen ist, die wir Wissenschaft nennen, muß noch ein Wort darüber gesagt werden, welches denn das Verhältnis des Christentums dazu ist. Diese Frage ist unmittelbar wichtig. Einmal trägt das soeben summarisch und ebenso vorläufig wie vordergründig überblickte Ethos der Wissenschaft latente dem christlichen Ethos verwandte Züge. Andererseits aber scheint in der Geschichte auch ein gewisser Antagonismus herüber und hinüber gewaltet zu haben, der sich dann zeigte, wenn die Wissenschaft dem christlichen Glauben — die etwas pauschale Formulierung mag gestattet sein — Grenzen setzte und Mißtrauen entgegenbrachte — und umgekehrt. Uberblicken wir die Motive, die das Christentum der Wissenschaft gegenüber durchwalten, so muß freilich zuvor gesagt werden: Die Wissenschaft ist ursprünglich kein christliches Thema. Es geht den Boten Jesu um den Glauben an das hereinbrechende und hereingebrochene Reich Gottes und keineswegs um die Wissenschaft. Die Urgemeinde ist vorwiegend eine Gemeinde der Ungelehrten und kleinen Leute. Der frühen Kirche geht jedes ausgesprochene Kulturinteresse ab. Diese Welt vergeht! Es dauert geraume Zeit, bis in den Apologeten so etwas wie wissenschaftliches Interesse sidi mit der Bezeugung des Glaubens verbindet.
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III. D i e uns anvertraute Welt
Folgende Elemente werden dann dodi zur stärksten Förderung der abendländischen Wissenschaft: Die heidnischen Mythen verfallen einer tödlichen Kritik. Der zur Selbstbeobachtung angeleitete Mensch wird in Beschauung und Selbstkontrolle verinnerlicht und verfeinert. Die Wissenschaft ist das jüngste und vornehmste Kind des asketischen Ideals. Das frühe Christentum hat bereits gelehrt, nichts selbstverständlich hinzunehmen, weder die eigenen Triebe und Wünsche noch die Uberlieferungen der bisherigen Religion. Das Christentum lehrt die Autoritäten prüfen. Es vertieft das komtemplative Ideal neben und vor dem Ideal der vita activa. Dodi fehlt es nicht an entgegengesetzten Motiven. Das christliche Dogma setzt der freien wissenschaftlichen Arbeit im Laufe der Geschichte Grenzen und Schranken. Ein festgefügtes Weltbild mit zeitenweise geradezu mythischen Zügen setzt sich der inneren Logik der Wissenschaft entgegen. Das Christentum erfährt darum im Zeitalter der Aufklärung den „wissenschaftlichen" Geist als Angriff auf die Religion. Der Begriff der Vernunft, in deren Dienst die Wissenschaft steht, wandelt sidi zeitweise so, daß die Kirche in der Vernunft den eigentlichen Gegner des Glaubens erkennen zu müssen glaubt. Die Ethik der Wissenschaft kann — entsprechend unserem Gesamtverständnis von Ethik — nicht darin bestehen, daß der Wissenschaft einfach „Normen" gesetzt werden. Es geht vielmehr um eine Bewältigung des Problems der Wissenschaft ebenso, wie es in der Wissenschaft um eine Bewältigung des Problems der Welt geht. Was kann nun „ethisch" über die Wissenschaft als eine Form der Weltbemächtigung und Weltgestaltung des Menschen gesagt werden? 2. Zur Ethik der
Wissenschaft
In dem hier gegebenen Bilde der Wissenschaft, so eindeutig es zunächst zu sein sdieint, sind doch erhebliche Spannungen enthalten. a) Die wissenschaftliche Erkenntnis gehört — wir sahen es — prinzipiell allen Menschen. Wissenschaft muß in ihrer Begründbarkeit allen Menschen zugänglich sein, sie ist potentiell „öffentlich". Tatsächlich ist das aber nicht der Fall. Wir haben uns die Gründe dafür vor Augen geführt. Mehr als das aber: Die öffentliche Wissenschaft ist unmöglich. Wissenschaftliche Erkenntnis ist dem Fachmann vorbehalten, sie ist mehr oder weniger esoterisch. Der Fadimann verwaltet die wissenschaftliche Erkenntnis, er weiß, was hier möglich und unmöglich ist, er kennt den „Stil" seines Faches, er hat es in den Fingerspitzen, was man hier sagen und folgern „kann" und was nicht. Der Laie ist auf den
Zur Ethik der Wissenschaft
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Fadimann angewiesen, der die Erkenntnis verwaltet. Wissen ist Macht, und zwar nicht nur Madit über die Gegenstände des Wissens, sondern auch über die Mensdien, die nicht wissen und dodi auf dieses Wissen angewiesen sind. b) Wir sahen ferner, daß die Wissenschaft sowohl in der Art und Wahl ihrer Forschungsobjekte wie auch in dem Ziehen ihrer Konsequenzen ohne Bedenken und Rücksichten ist. Sie fragt zunächst jedenfalls nicht danach, was dem Menschen heilig ist, was er für schicklich erachtet, was ihm ein pudendum ist, was er liebt und was ihm nützt. Tatsächlich aber lebt der Mensch von der Rücksicht auf unantastbare Werte, von heilig gehaltenen Überzeugungen; er kann nicht ohne Bindungen sein. Das reine Experiment nimmt keine Rücksicht auf die zerstörende Wirkung strahlender Körper. Der Schutz dagegen ist Sache der Technik und gehört nicht zum Zweck des Experiments selbst, im Gegenteil, die Feststellung der zerstörenden Kräfte kann Gegenstand des Experiments sein. Eine historische Kritik des Neuen Testaments kann von dem rein wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht auf „kirchliche" Wirkungen reflektieren; trotzdem ist das Lebensinteresse der christlichen Gemeinde an einem gläubigen Verhältnis zum Bibeltext, das mit einem guten Gewissen gepaart sein muß, in sich berechtigt. Wissenschaftliche Forschung fragt nicht nach dem Nutzwert ihres Tuns, nur nach dem Erkenntniswert; und doch besteht ein Recht des Staates, nach der nutzbaren Anwendung der Gelder zu fragen, die er in die wissenschaftliche Forschung steckt. Wie soll das vitale Interesse des Menschen mit der Konsequenz der „reinen" Wissenschaft in Einklang gebracht werden? c) Ebenso streiten immerfort die prinzipielle Unfertigkeit der Wissenschaft mit ihrem Recht und mit ihrer Pflicht zu abschließender Erkenntnis. Auf das Wagnis abschließender Erkenntnis verzichten zu wollen, verrät immer eine Unkraft und eine Arroganz, die meint, sich mit der abschließenden „Frage" dem Dilemma des riskanten „Abschlusses" der Erkenntnis entziehen zu können. Aber eben an diesem Abschluß hat nun das Leben selbst ein Interesse; man denke an den Arzt, der auf Grund der — unerachtet des Bewußtseins der Vorläufigkeit — abschließenden Erkenntnis dazu übergeht, ärztlich zu handeln. Von dem so gezeichneten vielfältigen Dilemma aus kann es nicht mehr genügen, sich bei einem allgemeinen wissenschaftlichen Ethos als Inbegriff einer Ethik der Wissenschaft zu begnügen. Wissenschaft ist Dienst am Mensdien. Sie ist es aber doch so, daß sich in ihr etwas „für d e n Menschen" vollzieht. Das heißt ins Konkrete übersetzt: es voll-
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III. Die uns anvertraute Welt
zieht sich in der Wissenschaft etwas „stellvertretend für d i e Menschen". Der Mensch, der beteiligte Mann der Wissenschaft und durch seine Vermittlung auch der „Laie", konstituiert sich im Vollzug der Wissenschaft. Aber dieser Vollzug enthält in sich die Spannungen, von denen wir sprachen. Eben dieser stellvertretende Dienst des Mannes der Wissenschaft, der sehr wohl in einer formalen Übertragung als ein priesterlicher Dienst bezeichnet werden kann, ist der Grund seiner Macht und jener verführerischen Stellung, in welche alle Macht auf Erden einen Menschen bringt. Die Gefahr läßt sich in mehrfacher Hinsicht beschreiben. Sie besteht zunächst einmal einfach darin, daß der Wissenschaftler jene „Macht" ernster nimmt, als sie genommen zu werden verdient. Wenn er sie ernster nimmt, als es ihren wahren Maßen entspricht, dann verliert er die Tugend der Bescheidenheit, die allein sein wissenschaftliches „Priestertum" glaubwürdig macht. Denn mit wissenschaftlicher Gesinnung ist ja immer das Bewußtsein von dem verbunden, was man nicht weiß. Der Wissenschaftler, der seine Bescheidenheit verliert, wird lächerlich. Die Gefahr hat aber nodi einen anderen Grund. Der Mann der Wissenschaft glaubt nämlich leicht an die ausschließliche Geltung seiner Wissenschaft und der Gesetze seiner Disziplin. Das hat dann und hatte in praxi sehr oft die Form, daß sich der Glaube an das eigene Fadi zur Weltanschauung steigert. Charakteristisch ist der Ausspruch eines Wiener Professors um 1900: „Meine Frau ist katholisch und ich bin Mediziner." Vor dieser Gefährdung bewahrt freilich den Mann der Wissenschaft die Einsicht in die Unfertigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnis; es bewahrt ihn ferner die Einsicht, daß es im Sinne der wissenschaftlichen Wahrheit mehrere geltende Wahrheiten nebeneinander gibt. Wenn der Naturwissenschaftler erkennt, daß eine Einsicht seines Faches zugleich ein Faktum der „geschichtlichen Welt" ist, daß es geschichtliche Wirkungen hat und daß womöglich quer durch dieses Faktum ganz andersgeartete Problemsysteme laufen, etwa Fragen der Erkenntiskritik, Fragen der Logik, dann begibt sich etwas Entscheidendes: Der „Wissenschaftler" verwandelt sich in einen Gelehrten. Die Gelehrsamkeit ist sicherlich in heutiger Zeit nicht mehr in demselben Stil möglich, wie in der Zeit Humboldts und Rankes. Sie hat vielmehr die Symptome eines bestimmten „skeptischen Stiles" an sich. Er zeigt sich — so würde ich meinen — etwa in der Einsicht in die Grenzen des eigenen Wissens. Er zeigt sich in der Toleranz gegenüber fremden Fächern, ja sogar gegenüber entlegenen Fachrichtungen und fremdartigen Forschungsmethoden. Er zeigt sich ferner in einem Sinn
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für die doxischen Modalitäten unserer wissenschaftlichen Aussagen: man unterscheidet, was man absolut sicher weiß, was nur vorläufig sicher zu sein scheint, was möglich, was „eminent wahrscheinlich" ist, was unmöglich, unwahrscheinlich ist usw. Der Gelehrte unterläßt es, immerfort mit starken Behauptungsschlägen und mit Urteilen aufzutreten, die das begründete Wissen des anderen Menschen ausschließen, verurteilen oder lächerlich machen. Die Ethik der Wissenschaft in ihrer heutigen Gestalt ist dodi nur eine eindrückliche Wiederholung des augustinischen Problems, wie sidi Liebe und Erkenntnis zueinander verhalten. Man kann ganz allgemein sagen: Liebe und Erkenntnis erfüllen sich gegenseitig und sie allein vermögen sich gegenseitig ihre Grenzen zu setzen. Dies gilt zunächst bezüglich dessen, der im Dienste der Wissenschaft steht. Ein Gelehrter ist nidit der, der in vielen Seinsbereichen wissenschaftlicher Fachmann ist — das ist heutzutage immer schwerer möglidi —, sondern es ist derjenige, welcher auch fremde Seinsbereiche und fremde Methoden der Forschung und der Weltbetrachtung in seine „bejahende Haltung" einbezogen hat. Mitunter ist die Form des amor intellectualis auf dem Felde der Erkenntnis einfach das Interesse. Der Gelehrte „interessiert sich" für mehr als nur für sein eigenes Fach. Und dieses Interesse über den eigenen Bereich hinaus verleiht ihm jene fruchtbare Skepsis im antiken Sinne, die ihn auf die Grenzen des eigenen Feldes und der von ihm geübten Methoden sowie auf die Bedingtheiten seiner Ergebnisse aufmerksam macht. Zur Zusammenordnung von Liebe und Erkenntnis gehört ferner dies, daß sich der Mann der Wissenschaft um die Folgen seiner Erkenntnis zu kümmern hat. Ein Satz, der gewiß lange Zeit umstritten war und heute noch umstritten werden kann. Doch scheint es mir einer der grundsätzlichsten Gewinne der kernphysikalischen Entwicklung zu sein, daß der Wissenschaftler — gewiß in den gewiesenen Grenzen seines Berufes — die Folgen seiner Forschung, die sog. „Anwendung" in den Bereich seiner Verantwortung mit einbezieht. Der Vorgang der Atomphysik ist nicht ohne Analogien. Die historische Forschung kann unmittelbare politische Folgen haben. Sie bestehen, soweit ich sehe, im überwiegenden Maße in der Zerstörung von Vorurteilen und eingewurzelten Ressentiments und können viel zur Entgiftung der politischen Atmosphäre beitragen. Der Geschichtsforscher, wenigstens der Fachmann der neueren Geschichte empfängt von seiner Zeit Aufgaben der Forschung. Er trägt Verantwortung dafür, daß der Ertrag der historischen Arbeit nicht wieder der Demagogie, sondern der Versach1S T r i l l h a a s , E t h i k
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III. Die uns anvertraute Welt
lidiung des politischen Urteils dient. Ebenso können auf die historisdikritische Erforschung der biblischen Texte Analogien gezogen werden. Der Exeget kann die Konsequenzen seiner kritischen Gänge nicht einfach „dem Systematiker" oder dem praktischen Theologen überbürden. In der Theologie ist jeder verantwortlich f ü r das Ganze, verantwortlich f ü r die Folgen, f ü r die Frucht. Jeder hat zum mindesten der mißverständlichen und mißbräuchlichen Anwendung zu wehren, die man von den Ergebnissen seiner Arbeit machen kann. Auch in der Wissenschaft ist der Exzeß möglich, das „fiat Veritas, pereat mundus". Auch die Wissenschaft kann das Leben bedrohen, wenn sie jene Skepsis gegen sich selbst aufgibt, die aus der Ausgewogenheit von Liebe und Erkenntnis entspringt. So entschieden diese innere Ausgewogenheit von Liebe und Erkenntnis als innere Kontrolle der Wissenschaft in Erinnerung gebracht werden muß, so entschieden muß es abgewiesen werden, daß irgendeine von außen kommende Kontrolle, sei es von dem Staat oder — was in der Theologie naheliegt — von der Kirchenleitung her, die Tragbarkeit der Wissenschaft sicherstellt. Solche Kontrollen sind immer Produkte der Angst, sind Zeichen der heimlichen Schwäche. Sie stellen sich dort ein, wo die Regierenden die Wahrheit fürchten oder w o eine Kirchenleitung im Anspruch auf Geltung, Ansehen und Rechtgläubigkeit über ihre Verhältnisse lebt. Beides sensibilisiert außerordentlich gegen eine unbekümmerte Wahrheitssuche. Wer sich aber stark fühlt, hat nichts zu fürchten. Staat und Kirche, die ein eigenes und unmittelbares Verhältnis zur Wahrheit haben, eben zur Wahrheit im wissenschaftlichen Sinne, werden andere Wege finden, gelegentliche Sorgen zu beheben, die ihnen die akademische Wissenschaft zu bereiten scheint, als es der Weg einer institutionalisierten Kontrolle ist. Es gibt keine Einheit der Wissenschaft, und die fortschreitende Spezialisierung arbeitet der Vorstellung von dieser Einheit immer mehr entgegen. Es ist demzufolge auch immer schwerer, als Mann der Wissenschaft ein gebildeter Mensch zu sein, d. h. für die Forschungsbereiche rechts und links vom eigenen Gebiet Sinn und Verständnis und doch auch ein gewisses Maß an Elementarkenntnissen aufzubringen. Trotzdem ist es grundsätzlich möglich. Eben die hier umrissene „Ethik der Wissenschaft" versucht ja, nicht nur eine Gesinnung zu beschreiben, die allen der Wissenschaft Verschworenen gemeinsam sein kann, sondern sie gibt darüber hinaus der Wissenschaft selbst einen einheitlichen, zusammenschließenden Sinn. Die Spezialisierung der Wissenschaft, d. h. ihre Spaltung nach Bereichen, Methoden und möglichen Ergebnissen, ist
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eine Erinnerung an die unabdingbare Skepsis, die der Mann der Wissenschaft in seiner Arbeit ständig beweisen muß. Gerade angesichts dieser hoffnungslos erscheinenden Z e r s p a l t u n g der Wiss e n s c h a f t gewinnt der Glaube an die l e t z t e E i n h e i t d e r W a h r h e i t einen besonderen Sinn, wenn er auch in diesem Äon nur ein Glaube bleibt. Er ist als dieser Glaube doch von unverzichtbarem Wert. Er ist einmal eine starke Triebkraft alles Forschens. Und er ist zugleich die Basis des Zusammenhaltes, jener Toleranz, die auch in dem Forscher auf entlegenen Feldern nodi einen Mann im Dienste der gemeinsamen Erkenntnis ehrt. M a x Sdieler hat diesen Zusammenhängen in allen Phasen seines Philosophierens intensive Aufmerksamkeit gewidmet. D a s Verhältnis von Liebe und Erkenntnis beschäftigt ihn wiederholt; idi erinnere an seinen A u f s a t z : ,Vom Wesen der Philosophie und der moralischen Bedingung des philosophischen Erkennens', in: ,Vom Ewigen im Mensdien', (1921) 1968 5 , an seine Arbeiten zur Soziologie des Wissens und der Bildung und an den A u f s a t z : , O r d o anion s ' in: Sdiriften aus dem Nachlaß, Bd. I, 1957*, 345 ff. In der evang.theologischen Literatur zeigt auch in dieser Frage die Ethik von A. D . Müller (1937) eine bemerkenswerte Aufgeschlossenheit.
19. Kapitel Die
Kunst
In einzigartiger und unvergleichlicher Weise zeigt uns die Kunst den weltgestaltenden Mensdien. Die Kunst ist selbst eine Welt, die der Mensch gesdiaffen hat und immerfort schafft, und zwar in einer Freiheit, die sich an keine Zwecke bindet und deren Grenzen nur in der Materie der Ausdrucksmittel selbst liegen. Die Kunst erschließt uns den Mensdien, der als schaffender oder doch nachschaffender Mensch sich in die Nähe zum Deus creator begibt. Der unmittelbar erfindende und schaffende Künstler geht auf diesem Wege zwar voran, aber der nachschaffende Künstler erweckt — z. B. als Schauspieler, als ausübender Musiker — sein Werk immer neu zum Leben, und der „genießende" Mensch, selbst im Banne des künstlerischen Unvermögens, erkennt dodi die Gestaltung des Künstlers als für ihn selbst geschehen an. „Genießen" der Kunst heißt doch: Wenn ich es vermöchte, hätte ich es auch so gesagt und gemacht; der Genießende bestätigt das Werk des schaffenden Künstlers gleichsam mit seinem Amen. Aus diesem Grunde wird in unserem vorliegenden Kapitel der Unterschied des Produktiven und Rezeptiven, des schaffenden Künst18*
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III. Die uns anvertraute Welt
lers und des von der Kunst ergriffenen Mensdien, so wichtig der Unterschied in einer eingehenden Philosophie der Kunst sein müßte, keine Rolle spielen. Ebenso müssen wir hier davon absehen, über die sehr differenten Gesetze des verschiedenartigen künstlerischen Ausdrucks etwas zu sagen, also über die Bindung an den „Stoff" in der bildenden Kunst oder die Unstofflichkeit, ζ. B. der Musik, über die Einmaligkeit des Ausdrucks hier und die nach Wiederholung verlangende Kunst dort, über die Gestaltung des Beharrenden und die Kunst der Bewegung. Es geht uns kurz gesagt um eine Anthropologie der Kunst, aus der sich dann herausheben muß, was für die Ethik wichtig ist. Zwei Auffassungen unseres Themas müssen wir allerdings sofort von der Schwelle weisen. Unser Interesse ist nicht der „religiösen" oder „christlichen" Kunst im engeren Sinne zugewendet, sei es, daß man sie sich durch eine bestimmte Thematik begrenzt vorstellt oder auch durch ein bestimmtes, etwa kultisches Anwendungsgebiet. Vielmehr handelt es sich um jede denkbare Art von Kunst, in der uns der Homo faber entgegentritt und die überhaupt den Namen Kunst verdient. Und dann meinen wir nicht eine Kunst, die ein „Gebiet" darstellt, einen „Sektor" der Kultur etwa, für den man Verständnis haben kann oder dessen dringlicher Problematik man sidi dadurch entzieht, daß man das Verständnis für eine Privatsache der Kenner erklärt und sich mit eigenem Unverständnis entschuldigt. Versteht man die Kunst als „Gebiet", dann kommt es wesentlich darauf an, ihre Verbindlichkeit oder Unverbindlichkeit für die Allgemeinheit zu ermitteln und eine Modifikation sittlicher Grundsätze und Pflichten, der Wahrheits- und Keuschheitspflicht etwa, für das Verhältnis zur Kunst vorzunehmen. Diese beiden Mißverständnisse scheiden also aus. Es bleibt die Aufgabe, eine Anthropologie der Kunst in Umrissen zu entwerfen, aus der wir dann erheben können, was an ethischer Problematik in ihr enthalten ist. Richard Rothe hat in seiner Theologischen Ethik (2. Aufl. V, 1871, § 1097ÉF.) unser Thema bezeichnenderweise im wesentlichen unter dem.Gesichtspunkt der Pflichtenlehre abgehandelt (vgl. aber nodi II, § 330 ff.). Er denkt an bestimmte „künstlerische Pflichten", bei deren Verhandlung er ein erstaunliches Sensorium für die Zeitsituation bekundet, und an eine Förderung des Kunstlebens, die vorwiegend eine reinigende und ausbildende ist und der Sache nach eine Christianisierung darstellt. E r greift damit Kategorien der Schleiermachersdien Ethik wieder auf, die (Christi. Sitte, ed. Jonas, 1884 1 , 476 ff. und Beil. A, 58 ff.; Beil. D, 190 f.) in einer ziemlich eingehenden Lehre über Kunst und Spiel im Rahmen des „darstellenden Handelns" auf das Thema eingegangen ist, stellenweise überraschend skrupulös, z. B. in seinem Urteil über den Sdiauspielerberuf. Bei aller Freiheit, die Sdileiermadier
Anthropologie der Kunst
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dem individuellen Urteil einräumt, ist es wohl wesentlich, daß er das Problem der Kunst unter den Gesichtspunkt des „geselligen Lebens" stellt. Das wirkt bei Rothe darin fort, daß die „künstlerischen Pflichten" unter den „Staatspfliditen" erscheinen. Ähnlich, dodi im einzelnen Urteil bes. über das Theater wesentlich freier Martensen: Christi. Ethik II/2,1879', § 100 ff. Bei S. Kierkegaard ist das Ästhetische dem Ethischen entgegengesetzt, es ist — entsprechend dem Rigorismus Kierkegaards — die das Ethische geradezu suspendierende Lebensauffassung. Hierzu sind „Entweder — Oder" und „Stadien auf dem Lebenswege" heranzuziehen. Die heutige Literatur zum Problem der Kunst in ihrem Verhältnis zum diristlichen Glauben und zur Ethik ist schmal. Ich nenne der Vollständigkeit halber Leo Fremgen: Kunst und Schöpfung, Ethik der Kunst, 1942; Ders.: Offenbarung und Symbol, 1954. G. Nebel: Das Ereignis des Schönen, 1953 — Dorothy L. Sayers: Homo creator. Eine trinitarisdie Exegese des künstlerischen Schaffens, 1953 — Hch. Vogel hat in: Der Christ und das Schöne, 1955, Förderliches zur Sadie gesagt. — G. van der Leeuw: Wegen en Grenzen. Dt. Ausg.: Vom Heiligen in der Kunst, 1957 — H.-E. Bahr: Poiesis. Theologische Untersuchung der Kunst, 1961 — K. Marti, K. Lüthi, K. von Fischer: Moderne Literatur, Malerei und Musik, drei Entwürfe zu einer Begegnung zwischen Glaube und Kunst, 1963 — O. Söhngen: Theologie der Musik, 1967. 1. Anthropologie
der Kunst
a) Die Kunst als Grenzüberschreitung Es geht offenbar im Leben zu Zeiten audi ohne Kunst. Im Kriege gilt: Inter arma silent musae. In Zeiten der N o t und Armut, im Gefängnis muß der Mensch verzichten, und auch die harte Berufspflicht, z. B. in Büro und Fabrik schließt in der Regel die Kunst aus. Aber das ist dann kein vollmenschliches Leben. Wenn Krieg, N o t , Armut zu Ende sind, wenn der Beruf uns aus dem engen Zaun seiner Pflichten entlassen hat, dann verhilft uns die Kunst zum Aufatmen: Wir können, wir dürfen wieder! Im künstlerischen Schaffen wie im reinen Genießen der Kunst gilt, daß wir die engen Grenzen des bloß Lebensnotwendigen überschreiten. Wir gelangen in den Besitz von Möglichkeiten, die jenseits aller Notwendigkeit sind. Es gibt zwar audi „Möglichkeiten", die eben darin gekennzeichnet sind, daß sie uns den Weg freigeben, unsere Pflicht zu tun und das Notwendige zu empfangen; denn auch das ist nicht selbstverständlich. Aber d i e Möglichkeiten, welche uns die Kunst erschließt, liegen nun vollends jenseits aller von außen kommenden Zwänge, Pflichten und Notwendigkeiten. Darum hängt die Kunst innerlich mit dem Spiel zusammen. Der Begriff des Spiels deutet auf diese Freiheit hin. Die Musik, ein Theaterstück wird „gespielt", d. h. die Kunst setzt hier Gestaltungskräfte frei, die selbst noch der Zuschauer bzw. Zuhörer in ihrem Spielcharakter nachempfindet, ob-
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III. Die uns anvertraute Welt
wohl er doch für Stunden zum Stillsitzen verurteilt ist. Wir spredien audi von einem „Spiel" der Phantasie. Die Kunst baut ein zweites, zweckfreies Reich. Die Architektur, die doch dem Reich der Nützlichkeit und der Zwecke am nächsten ist, überwindet die Zwedkhaftigkeit ihres Bauwerkes im freien Spiel und in der „Leichtigkeit" und Selbstverständlichkeit ihres Gestaltens. Was an dem Bauwerk nutzbar und zweckhaft ist, das wird durch die Kunst gleichsam weggezaubert, es wird gar nicht mehr empfindlich, daß hier in der Zwecksetzung gegebene harte Widerstände zu überwinden waren. Natürlich kann im Architekturwerk dann die reine Zweckhaftigkeit im Format, im zusätzlichen Ornament überdies noch überspielt werden. Wer den künstlerisch gestalteten Raum, das schöne Haus betritt, der vergißt die Zwecke, für die es gebaut wurde, er vergißt mindestens ihre sonst so begrenzende und bedrückende Funktion. Wer ins Theater geht, betritt eine andere Welt. Diese Welt engt nicht mehr ein, sie weiß nichts von meinen Plänen, Pflichten und Zwecken. Die Bühne ist ein anderer Raum als der ist, der mich alltäglich umgibt. Und wo etwa die Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum aufgehoben wird, da kann es nur den Sinn haben, daß der Zuschauer näher an die Bühne herangenommen, vielleicht gar selbst auf sie versetzt wird, nicht umgekehrt. Der Theaterbesucher wird verwandelt — schon das andere Kleid läßt die Verwandlung beginnen. Der Künstler ist der Mensch, der für sich und für andere diese zweite Welt schafft. Er überschreitet also die Grenze dieser ersten Welt und läßt sie hinter sich. Was dort gegolten hat, gilt hier nicht mehr. Man kann das am besten an der Situation des Schauspielers auf der Bühne zeigen. E r trägt dort andere Kleider und lebt in einer anderen Zeit, er hat einen anderen Charakter und eine andere Frau. Der Schauspieler lebt in einer Spaltung seiner Person, aber doch nicht nur der Schauspieler. Die Photographie gibt die eine Welt, unsere Welt wieder, in der wir leben. Die Photographie zeigt uns vielleicht diese Welt von einer neuen Seite, indem sie eine unerwartete Perspektive wahrnimmt und unbeachtete Momente festhält. Aber der Maler erschafft auch dann, wenn er diese unsere Welt wiederzugeben vorgibt, tatsächlich eine neue und andere Welt, eine neue Landschaft, er gestaltet im Porträt ein anderes, ein zweites Gesicht. Beide Welten hängen sicher zusammen; sonst könnten wir uns ja in dem Kunstwerk gar nicht zurechtfinden und könnten es nicht mit unserem Gefühl, mit unserem eigenen Erleben bestätigen. Was wir da auf der Bühne an Liebe und Haß, an Freude und Leid miterleben, das kennen wir, aber zugleich wissen wir, daß es
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nur gespielt ist. Es ist doch nicht meine Wirklichkeit, mein eigentlicher Haß, es ist nicht meine Liebe, es „ist" nicht eigentlich. Auch die Grenze, welche von der Ordnung und vom Recht her unserer Welt gezogen wird, überschreitet die Kunst. In dieser unserer Welt herrschen Gesetz und Autoritäten. Hat man aber die Grenze überschritten, dann gilt alles das nicht mehr. Karikatur, Witz und Komödie vergreifen sich dann an den Größen dieser Welt, und wir folgen mit befreiendem Lachen. Wir weichen mit unserem Lachen in eine zweite Dimension aus. Der tierische Ernst der Diktatoren kann Witz und Karikatur nicht ertragen, weil er es nicht zulassen kann, daß der Mensch seine ihm zugewiesene Grenze verläßt und sich neben dieser Existenz, aber doch noch im Blick auf sie, auf der Spielwiese anderer Möglichkeiten tummelt. Das Verharren in nur einer Wirklichkeit und ihrem pausenlosen Ernst ist nicht nur für die Kunst selbst tödlich. Es setzt auch den Menschen gefangen. Es beraubt ihn der Differenzierungen, die durch den Zugang zu anderen Räumen, zu einer zweiten Wirklichkeit eintreten. Menschen, die gewaltsam auf das Notwendige beschränkt werden, entbehren der Verfeinerung der Seele, die eintritt, wenn sie gewohnt wird, in andere Welten hinüberzulauschen, Töne, Verse, Takte zu vernehmen und Nuancen zu prüfen, die im alltäglichen Raum nichts bedeuten. Über die Doppelrolle des Menschen und die anthropologischen Grenzsituationen, die durch Sprache, Gestus, Komik, Witz usw. aufgedeckt werden, vgl. H. Plessner: Lachen und Weinen, eine Untersuchung nach den Grenzen menschlichen Verhaltens, (1941) 1950*. Ders.: Zur Anthropologie des Schauspielers, in: Festschrift für H . J. Pos, 1948; jetzt in: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, 1953, 180 ff. Ferner J . Huizinga, a. a. O. und die Festgabe Maskerspel, 1955, für W. Leendertz, in der 7 Mitglieder der theol. Fakultät Amsterdam (M. A. Beek u. a.) sich zu einer geistvollen Theologie und Philosophie der Maske verbunden haben.
b) Spaltung und Einheit Was wir von der in der Kunst erschaffenen zweiten Wirklichkeit sagten, macht einen Verlust der Einheit des Menschen sichtbar. Es ist nicht nur beim modernen Menschen so, es ist nicht nur ein Symptom der modernen Kunst, wenn auch in jeder Epoche der Geschichte des menschlichen Schaffens diese Spaltung ihre eigenen Modifikationen und auch Verschärfungen zeigen mag. Die Unheimlichkeit des Schauspielers wurde gerade in naiveren Generationen immer lebhaft empfunden und hat dahin geführt, daß man den Schauspieler nidit als ehrliches Gewerbe gelten lassen wollte. Die Künstlerexistenz ist nur zu oft eine gespaltene: Schüchternheiten fallen dahin, schlummernde Fähigkeiten
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III. Die uns anvertraute Welt
kommen zutage. Man kennt den Menschen gar nicht mehr, der hier plötzlich zu malen, zu singen beginnt. Das kann sehr weit gehen. Die reale Welt mit ihren Sorgen, Schulden und Pflichten erscheint dem Künstler plötzlich als irreale Welt: er nimmt Schulden wie Pflichten nicht mehr ernst. Die Treulosigkeiten und Inkonsequenzen des Künstlers, sein Auskosten der anderen Möglichkeiten, immer neue Verwandlungen und Verkleidungen, — das alles hebt die Einheit des Menschen auf; man weiß nicht, als welcher Mensch der Künstler eigentlich angesprochen werden will. Zugleich ist das künstlerische Schaffen aber ein Einheitsakt. Er möchte dem Zerfall der Person wehren und Seele und Welt zur Einheit sammeln. In der künstlerischen Leidenschaft ist ebenso wie in der Liebe der ganze Mensch drin. Wir stellen nicht zufällig an das Kunstwerk die Forderung, daß es ein Werk „aus einem Guß" sein soll. Die Macht des großen Kunstwerkes besteht darin, daß es uns zur Einheit sammelt. Es erhebt uns oder es drückt uns nieder, es beschwingt uns und macht uns froh, wir sprechen von seiner Erhabenheit, von seinem Ernst, seiner Gelöstheit, Heiterkeit und Fröhlichkeit und beschreiben mit alledem dodi nur seine Wirkung auf uns. Wir können unsere eigene „Stimmung" und die des Kunstwerkes gar nicht mehr unterscheiden. Das eigenartig Indefinite des Begriffs der Stimmung drückt es sehr gut aus, daß die Stimmung keine Grenzen innerhalb der Persönlichkeit mehr kennt, sondern alles in uns erfüllt. Zugleich besagt der Begriff aber auch, daß das einheitliche Wesen des Werkes, indem es uns seine Stimmung mitteilt, mit uns übereinstimmt". Es gibt verschiedene Begriffe, die in immer neuer Perspektive diese Einheitserfahrung an der Kunst zum Ausdruck bringen. Dazu gehört die Einfachheit, die der Ausweis des Klassischen geworden ist und die schon das griechische Kunstwerk durchsichtig gemacht hat. Die sich zur Kindlichkeit steigernde Einfachheit der Melodie bewirkt es, daß uns an Mozarts Musik die Virtuosität des Entwurfs und die technische Anforderung, welche die Aufführung bewältigen muß, gar nicht mehr zum Bewußtsein kommen, daß uns das Werk vielmehr bis in die Tiefe ergreift. Es ist die Einfalt, die aus Goethes Gedichten spricht und die in Matthias Claudius' „Der Mond ist aufgegangen" eine äußerste Grenze des reinen Ausdrucks erreicht hat. Man möchte dieses Geschenk, daß uns nämlich die Kunst die Einheit des Wesens zu vermitteln scheint, nicht preisgeben. Bringt sie doch selbst den analysierenden Verstand für einen Augenblick zum Schweigen. Er meldet sich dann freilich bald und prüft, was das Gefühl ihm
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angetan hat. Der Verstand übt Kritik. Aber das edite Kunstwerk und eine gültige Erfahrung der Kunst brauchen die Kritik nicht zu fürditen. Im Gegenteil: Das Kunstwerk vermag den Verstand zu überzeugen und der Verstand wiederum die Wirkung der Kunst zu bestätigen, und gerade diese Bestätigung befestigt das Einheitserlebnis. Der Kritiker, der in Deutschland immer in einer gegensätzlichen Funktion zum künstlerischen Schaffen gesehen wird, gehört bei rechtem Verständnis selbst zur Welt der schaffenden Künstler; die Kritik ist ja Reinigung, Bestätigung und in ihren hohen Möglichkeiten so etwas wie ein Nachschaffen der Kunst. Es ist nicht schwer, dieses Einheitserlebnis als Phantom zu bezeichnen. Es ist ja nicht eigentlich, es hat alles von Irrealität an sich, sobald man es in der „ersten Wirklichkeit" bestätigt sehen möchte. Es verflüchtigt sich, es täuscht uns etwas vor. Und dodi hat uns die Kunst diese andere Möglichkeit gezeigt, sie hat uns — wenn auch nur für Augenblicke — zu dieser Einheit gesammelt, so daß wir sie wie eine Verheißung erfahren und nicht mehr vergessen können. c) Kunst als Bestätigung des Menschen In der modernen Wissenschaft und Tedinik ist das Verhältnis des Menschen zur Welt insofern unsicher geworden, als der Mensch aufgehört hat, das Maß aller Dinge zu sein. Man kann sich das an einigen Beispielen verdeutlichen. Im Kosmos haben die fundamentalen Begriffe „Oben" und „Unten" keinen Sinn mehr. Das ist schon seit Kopernikus so. Die Folge ist, daß die Vorstellungen über Himmel und Hölle nicht mehr kosmologisch lokalisiert werden können und entweder neu durchdacht werden müssen oder verschwinden, wie sie in der Tat für unzählige Menschen wesenlos geworden sind. Oben und Unten haben einen sehr relativen anthropologischen Sinn: oben ist der Kopf, unten sind von Rechts wegen die Füße des Menschen. Aber wo kann der Mensch diese seine kleinen Maßstäbe noch in der Kosmologie unterbringen? Ebenso ist es uns zum Besitz unseres alltäglichen Bewußtseins geworden, daß das natürliche Auge nur einen verschwindend kleinen Ausschnitt aus der Wirklichkeit zu sehen vermag. Die Mikroskopie dringt ins unendlich Kleine, die Röntgenstrahlen dringen ins Innere der Dinge, ohne daß wir sie mechanisch öffnen müssen, Fernrohr und Spektralanalyse dringen in den Weltraum und raffen nicht nur die äußere Gestalt der Dinge zu uns heran, sondern ermöglichen sogar durch den Weltraum hindurch chemische Analysen.
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Schließlich schrumpft der Geltungsbereich der klassischen Mechanik zusammen. Oberhalb wie unterhalb ihres Bereiches rechnen wir mit anderen Baugesetzen des Kosmos, die ζ. T . nur in Hypothesenform — freilich mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit — erfaßbar sind. Der Mensch kommt aber in dieser mikrokosmischen wie in der makrokosmischen Welt nicht mehr vor. In der Kunst hingegen ist der Mensch das Maß der Dinge. Und hier bleibt er es auch, wenn die Kunst nicht ihren Sinn verlieren soll. Hier hat das unbewaffnete Auge recht. Man kann kein Bild durchs Mikroskop malen oder den Beschauer auffordern, es durchs Mikroskop zu betrachten. Hier hat der Ultraschall keinen Platz; denn Töne können nur in den Grenzen des Hörbaren zur Musik gestaltet werden. Hier haben nur die sichtbaren Farben einen Sinn; Ultrarot und Ultraviolett sind keine möglichen Mittel bildhaften Ausdrucks mehr. Selbst Groß und Klein — in sich immer nur relative und daher im Verhältnis zu erläuternde Begriffe — gelten hier selbstverständlich im Bezug auf den Menschen: ein Raum ist groß, wenn sich der Mensch in ihm klein vorkommt, ein Platz ist groß, wenn viele Menschen auf ihm unterzubringen sind oder wenn gar der einzelne auf ihm förmlich verschwindet. Gegen diese Sätze steht, was Hans Sedlmayr über die Umwälzungen in der modernen Kunst gesagt h a t ; vgl.: Die Kugel als Gebäude, oder das Bodenlose (in: Das Werk des Künstlers, 1 9 3 9 / 4 0 , 2 7 8 — 3 0 8 ) , und: Verlust der Mitte, Neudrude 1958, bes. 76 ff. und 121 f. Das Kugelhaus und das Haus als Kubus heben das selbstverständliche Ruhen des Oben auf dem Unten auf. Das „schwebende H a u s " leugnet die Erdbasis. Der Architekt wird zum Ingenieur, das Haus zur Maschine. Das auf dem Boden gemalte Bild kennt kein Oben und Unten mehr, man kann es so oder so aufhängen. Ich muß aber meine Sätze trotz dieses scheinbaren Widerspruches zu Sedlmayrs Beobachtung aufrechterhalten. M. E . ist diese Kunst nur ein Ausprobieren neuer Möglichkeiten, wie denn überhaupt die moderne Kunst „experimentiert". Sie tastet nicht nur die Dinge ab, sondern sie erprobt auch den Menschen aufs neue in den Horizonten eines veränderten Weltbildes. Wenn man so will: sie unternimmt eine Neuorientierung, nachdem der alte Begriff des „Orients" relativ geworden ist.
Vor allem aber gibt es in der Kunst nicht in demselben Sinne wie in Wissenschaft und Technik einen Fortschritt. Wissenschaftlicher und technischer Fortschritt läßt die überwundenen Erkenntnisse und Techniken veralten. Man kann zwar noch in einer alten Postkutsche fahren, aber man tut es nicht. Ein veraltetes Automobil wirkt lächerlich. Der wissenschaftliche Fortschritt bedroht die Wahrheit des bisher für wahr Erkannten, die Technik „überholt" die alten Modelle, und als unrationell und unrentabel widersprechen sie dann in sich dem Geiste der Technik.
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Auch die Kunst kennt einen Fortschritt, einen Wandel des Geschmacks, auch sie spiegelt ihre Epoche und auch sie kennt „Techniken", die sich verbessern lassen. Aber die Kunst kennt nur in einem momentanen Sinne ein Veralten. In Wahrheit hat jede Zeit die Möglichkeit, sich zu früheren Epochen der Kunst zurückzuwenden und in ihr Verwandtschaften, wenn nicht gar einen gültigen Ausdruck des Eigenen zu finden. Die Rückkehr zum „Primitiven" steht offen. Die Rückkehr zur Antike in der Renaissance, zum Mittelalter in der Romantik waren und brachten natürlich keine Wiederholungen, sondern bedeuteten in sich etwas Neues und Eigenes. Und doch läßt sich die intentionale Rückwendung, die Neuerschließung der Kammern vergangener Geschlechter aus dem Bilde dieser Epochen — und leicht könnten die Beispiele für die Gegenwart erbracht werden — nicht mehr herausnehmen. Hier hat das Gewesene Dauer, es vermag jederzeit als eine Aussage über das Gegenwärtige und Zukünftige erneuert zu werden. Hier regiert die ewig alte und darum ewig neue Thematik von Gott, Welt und Mensch. Die Kunst hat etwas gemeinsam mit der Bibel, die ja auch nicht veraltet, weil ihre rechtverstandene Thematik bleibt und weil, unerachtet ihrer Auslegung durch immer neue Geschlechter und unerachtet der stets verfallenden Zeitbedingheit dieser Auslegungen, immer neue Rückwendung zu ihr möglich ist. Es ist jederzeit möglich, zu ihr zurückzukehren und in ihr das Eigene zu finden. Die Kunst ist freilich nicht selbst Gehalt, sie ist nicht selbst die Seele, das was wir suchen. Sie ist nicht selbst die Erfüllung, sondern nur eine Erinnerung daran, daß die Tiefen des Menschen selbst nicht veralten. Sie ist damit doch eine Bestätigung des Menschen. d) Die Kunst als Enthebung vom Zwang des Daseins Im Verhältnis zur Welt zeigt die Kunst zwei sehr verschiedene Weisen des Verhaltens. Einerseits der Sinnenrausch, die völlige Hingabe seiner selbst, das Schwelgen in der Erscheinungswelt, das Abtasten ihrer Formen, kurz alles, was den Genuß zum „Genuß" macht. Wir kennen die Unersättlichkeit, in der wir eine Melodie immer wieder zurückrufen, die selbstsüchtige und sinnliche Hingabe an die Dinge. Daneben aber das Gegenteil. Es ist die Distanznahme von der Welt, ja vom eigenen Erleben. Man stellt die Erscheinungen der Welt ebenso wie seine eigenen Erlebnisse in einem gewissen Abstand vor sich hin. Dieser Abstand ermöglicht zugleich die Betrachtung und trennt uns von den Dingen. Es ist eine selbstlose Distanzierung, in welcher zugleich eine tiefe Bejahung liegt. Es ist die Bejahung der kleinen Dinge, die
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von sich aus so unwert und unwichtig sind, daß sie eine solche Bejahung oder gar Rechtfertigung in ihrer Existenz gar nicht erwarten können. Die ereignislose Landschaft, Cézannes Bahndurchstich, van Goghs Ackerfurchen, Utrillos Pariser Vorstadtstraßen und Dürers Rasenstück sind in diesem Geiste gesehen worden. „So seh ich in allem die ewige Zier und wie mirs gefallen, gefall ich auch mir". Hier ist nichts mehr nebensächlich, alles ist gleichsam in dieser Sphäre liebender Betrachtung geborgen und aufgehoben. Auch die geringste Kreatur rühmt hier noch ihren Schöpfer und wird für schön befunden. Diese Distanznahme ist das Befreiende. Die Leidenschaften der Liebe und des Hasses tun uns in der künstlerischen Distanz der Bühne nicht mehr weh. Selbst der Mord, die Predigt, das Gebet und die Kommunion in Schillers Maria Stuart — sie sind nur gespielt. Es ist von Goethe bekannt, doch nicht auf ihn allein zutreffend, sondern tausendfältig wahr, daß der Dichter sich dichtend von seiner Liebe auch befreit. Er nimmt Distanz von Not und Zwang und stellt, was sich von ihm durch die künstlerische Gestaltung losgelöst hat, vor sidi hin. Es ist sein und ist es schon nicht mehr. Diese Distanz befreit, aber sie nimmt zugleich den letzten Ernst der Dinge hinweg. Was da gestaltet wird, ist nicht mehr „eigentlich". Das lutherische Christentum, das in den Kantaten und vollends in den Passionen von J. S. Bach vielleicht seinen tiefsten Ausdruck nach Luther gefunden hat, wird im Konzertsaal und sogar im Kirchenkonzert doch „genossen", d. h. in ästhetischer Distanz begriffen. Diese Anschauung, die es doch vermeidet, sich an und in die Dinge selbst zu verlieren, ist der Grundgedanke der Kantischen Ästhetik: es ist die interesselose Anschauung, der amour désintéressé, der die Dinge liebt, ohne sie zu begehren. Er ermöglicht es, die Sünde darzustellen, zu beschreiben, ohne an ihr teilzuhaben, wie wir das in etwa in den Romanen von François Mauriac sehen. Diese reine Anschauung verhilft den kleinen Dingen dieser Welt zur Beachtung und stellt sie in den Blickpunkt des künstlerischen Interesses. Sie ermöglicht den Humor, der die Dinge nicht völlig ernst nimmt, ja der sie ihres Ernstes und des Anspruches auf Wichtigkeit beraubt, so daß wir darüber lachen können. So sehr diese Möglichkeit der Distanznahme eine Grenze des Menschen sichtbar macht und so wenig sie ein eindeutiges Faktum ist, so unerläßlich ist diese Möglichkeit für das Menschsein. Es ist etwas Schreckliches geschehen, wenn der Mensch nicht mehr aus seiner gewiesenen Bahn, aus seinen Sielen heraustreten und Distanz nehmen kann.
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Schrecklich, wenn er nicht mehr ladien, wenn er nicht mehr Pause machen und von seinen Pflichten Abstand nehmen kann. Gott nimmt am Abend jedes Schöpfungstages Distanz und „sah an, was er gemacht hatte". Wir können uns kein Leben, das diesen Namen verdient, vorstellen ohne diese Distanznahme, ohne die Feier des Feiertags. Wir treten in der Feier aus den Zwecken des Alltags heraus und erfahren, daß der Sinn unseres Daseins nicht in diesen engen Grenzen sich erschöpft. Die Kunst „verschönt" uns nicht nur die Feier, sie ist in sich ein Urbild der Feier, d. h. des Abstandnehmens vom Zwang des Daseins. In den Konzentrationslagern des sog. Dritten Reiches wurde die hier vollzogene Schändung des Menschen dadurch bestätigt, daß weder Sonntage noch Feiertage gehalten wurden.
2. Ethik der Kunst Das Verhältnis der Kunst zur Ethik gilt nicht nur in einer Beziehung allein. Die Kunst macht in ihrer Weise den Menschen offenbar. Aber sie weist eben diesen Menschen über sich hinaus und sie stellt zugleich die besondere Gefährdung des Menschen ins Licht. Bevor wir aber dieser dreifachen Beziehung nachgehen, in der je die Kunst eine Herausforderung der Ethik bedeutet, haben wir einer überraschend schlichten und vorläufigen Form dieser Beziehung zu gedenken. Die Kunst, bzw. die künstlerische Einstellung des Menschen, oder sagen wir: die Verfeinerung, welche die Kunst dem Menschen einträgt, ist selbst eine Vorform von Ethik. Gehen wir davon aus, daß Kunst als Weltverhältnis eben diese Verfeinerung des Wertgefühls mit sich bringt, so ist das natürlich nicht einfach und ohne weiteres ein ethisches Wertgefühl. Ich habe im 16. Kapitel, Abs. 3 von dem Ungenügen der Wertethik und von der Einbettung aller ethischen Werte in eine allgemeine Tafel der Werte gesprochen. Man kann nidit mit letzter Sicherheit die ethischen Werte kategorial von den Werten anderer Wertbereiche trennen. Sind dodi manche „ethischen" Werte in Wahrheit ebenso ästhetische Werte oder doch an der Grenze zu ihnen, z. B. die Vornehmheit. Und wiederum sind Werte, die nicht von Hause aus sich als ethische präsentieren, aus der Ethik nicht wegzudenken, z. B. der Nutzwert, der hereingehört, sobald man an den sozialen Nutzen denkt. Nun, wir haben diese Zusammenhänge hier nicht erneut kritisch zu beleuchten. Bedenken wir aber, daß ja auch andere Werte als ausgesprochen und eindeutig ethische das Verhalten des Menschen bestimmen können, so muß es unmittelbar einleuchten, daß auch ästhetische Werte, anders ausgedrückt: die künstlerische Sensibilität das mensch-
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liehe Verhalten bestimmen können. So können Ordnung und Reinlichkeit, ja eine geradezu kosmische Harmonie im inneren und äußeren Haushalt einfach aus ästhetischen Gründen angestrebt werden, ohne daß eigentlich „ethische" Erwägungen angestellt worden wären. Und es kann ein gewisser sittlicher Stil das Verhalten einfach aus dem Grunde regieren, weil das Gegenteil „geschmacklos" wäre. Es gibt eine gewisse moralische Rechthaberei, eine ethische Silbenstecherei, eine durch hundert ethische Begründungen hindurchgehende Rechtlichkeit, die in ihrer tieferen sittlichen Mangelhaftigkeit einfach durch eine ästhetische Reaktion entschleiert wird: die künstlerische Sensibilität vernimmt, was die „ethische" Beurteilung vielleicht gar nicht wahrnimmt, daß jenes Verhalten einfach filzig, unvornehm, kleinlich ist, mag es noch so richtig und rechtlich sein. Und umgekehrt kann ein großzügiges, gütiges und nachsichtiges Verhalten — man denke an Nietzsches „schenkende Tugend" — sich einfach deshalb nahelegen, weil es „schön" ist. Es kann einem ästhetischen Bedürfnis entspringen, darauf zu verzichten, nachzutragen und über die Bosheiten anderer eine Kartei zu führen. In einem anderen Sinne verstanden, wird aber die Kunst zu einem Problem der Ethik. Man kann sich zunächst in dem ganz positiven Sinne daran halten, daß sie den Menschen offenbar macht. Sie ist die freieste Form der menschlichen Selbstentfaltung, das Element, in dem der Mensch sidi selbst zur Darstellung bringt. Hier bleibt der Mensch das Maß, was in anderer Hinsicht längst nicht mehr selbstverständlich ist. In der Kunst probiert der Mensch seine Möglichkeiten aus, hier nimmt er Distanz vom Zwang der Alltäglichkeiten. Kunst ist sicher nicht allezeit notwendig, sie ist vorübergehend verzichtbar, sie ist es aber nicht auf die Dauer, wie audi kein Mensch auf die Dauer auf Feier und Muße verzichten kann. Die Kunst ist ein Vorgeschmack der endgültigen Freiheit des Menschen, seiner Lösung aus dem Druck der Pflichten. Man darf dem Menschen diese stete Erinnerung an den Sabbat des Lebens, an die Feier schlechthin, an die Suspension vom Zwang seines Werktages nicht rauben. Und doch ist die Kunst nicht alles. Sie ist nur eine Erinnerung an das Mögliche und Künftige, sie ist nicht das Leben selbst. Sie ist nur die „Anschauung" des Lebens im Schopenhauerschen Sinne. Sie wird zum Trug, wenn sie sich an die Stelle des Lebens selbst setzt, wenn sie uns suggeriert, das Ganze des Lebens, die „erste Wirklichkeit" zu sein. Die Kunst ist nicht die „erste Wirklichkeit". Sie setzt den Alltag zwar für Augenblicke außer K r a f t und enthebt uns seines Zwanges, aber sie kann
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nicht an die Stelle des Alltages und des eingezäunten Weges der Pflicht treten. Daraus darf nicht gefolgert werden, wie das gelegentlich in der protestantischen Ethik geschehen ist, die Kunst, und was man im weiteren Sinne hierher rechnen mag, sei das „Erlaubte", sie sei womöglich die „sittlich erlaubte E r holung" im Sinne Wilhelm Herrmanns. Bei diesen Bezeichnungen scheint das schlechte Gewissen durch, das im Rahmen der rigorosen Pflichtenlehre einzig noch übrigbleibt, wenn der Mensch „seine Grenzen überschreitet".
Die hohe Bedeutung der Kunst zeigt sich nidit nur darin, daß wir sie aus dem Leben des Menschen, aus seinem Bilde nicht hinwegnehmen können. Zugleich macht sie eine besondere Gefährdung des Menschen offenkundig. Mit dieser Gefährdung wird es wohl zusammenhängen, wenn dieses Feld Menschen mit einer engen rigorosen Lebensauffassung überhaupt unheimlich ist. Die Gefährdung des Menschen liegt wesentlich darin, daß wir in der Kunst, in der künstlerischen Schöpfung ebenso wie im nachschaffenden Spiel, die Grenzen unserer eigentlichen Existenz verlassen und eine zweite, uneigentliche Möglichkeit auskosten. Wir nehmen eine Maske vors Angesicht, spielen eine neue „Rolle", treten auch in andere menschliche Relationen ein, wohin dem Künstler vielleicht seine nächsten Angehörigen gar nicht folgen können. Der Künstler schafft sidi diese zweite Welt selbst, er meint, sie sich selber zu verdanken. Der Homo faber genießt sich selbst in seiner Macht. Überspringt er doch schaffend alle Phasen einer möglichen Entwicklung, die der „schaffende" Techniker immer vor Augen hat, wenn er Schrauben, Drähte, Glühbirnen in die Hand nimmt, die er der Entwicklung der Technik verdankt. Der Künstler, der mit primitiven Werkzeugen aus dem Ton, aus dem rohen Stein sein Werk herausholt, der die Töne aus den Sphären auf die Erde zwingt, er erfährt immer so etwas wie die Gnade des ersten Schöpfungstages. Der Autor steht immer in der versuchlichen Nähe des Creator, er möchte (man denke an Rom 1, 23 u. 25) für die Kreatur schöpferische Vollmacht und Würde in Anspruch nehmen. Das gilt selbst für das nach Gestaltung schreiende Chaos, für das nodi ungeformte Material, für die zur Einheit zusammengefaßten Trümmer der jüngsten Kunst. Diese Erfahrung wird aber dann dadurch ergänzt und bestätigt, daß die andere, hemmende Wirklichkeit weg ist. Sie gilt nicht mehr, sie ist vergessen. Die Versuchlichkeit ist eine doppelte. Einmal ist sie die Versuchung, mit Hilfe und unter Berufung auf die Kunst dem Leben auszuweichen. Das eigentliche Leben ist immer das schwerere, es ist in jeder Beziehung härter. In jenem anderen Dasein fällt die Härte und Häßlidikeit weg. Im eigentlichen Leben, im „Alltag" bestehen Zahlungsverpflichtungen, eheliche Bindungen, Grenzen der Möglichkeiten in jeder Hinsicht. In
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der zweiten Wirklichkeit ist das weg. Es ist die Versuchung des Lebensuntüchtigen, dieses harte Leben, dem man doch nicht gewachsen ist, überdies auch noch zu verachten und alle Menschen zu verachten, die seinen Anforderungen besser gerecht werden. Die romantische Überheblichkeit, auf den „Spießer" und „Philister" herabzuschauen, entspringt aber nur zu häufig dem uneingestandenen Gefühl der tatsächlichen Unterlegenheit, wie denn audi vielfach eine entsprechende geringe künstlerische Leistung offenkundig macht, daß es sich hier tatsächlich um Impotenz handelt. Die andere Form der Versuchlichkeit ist einfach die Kehrseite dazu. Es ist die Verwechslung der künstlerischen Welt mit der Realität. Ich möchte — indem ich ein Mißverständnis riskiere — von der erotischen Versuchung des Künstlers sprechen. Der Künstler verfällt in dieser Versuchung dem Zauber der anderen Welt, er möchte in den Armen bleiben, in denen er im „Spiel" gelegen hat. Er möchte zum Augenblick, in dem sich ihm andere Möglichkeiten des Seins entschleiert haben, um sich alsbald wieder zu verbergen, sagen: Verweile doch, du bist so schön. Es ist der Künstler, der sich an das Objekt seines Schaffens verliert, wie es in der Figur des „Pygmalion" in alter und neuer Fassung klassisch verkörpert ist. Man bringt die Kraft nicht mehr auf, auf sein Werk zu verzichten, es freizugeben, man möchte es haben und behalten. Der amour désintéressé scheitert am Eros. Die Versuchung des Künstlers liegt in der Emanzipation des schöpferischen Menschen von den ethischen Bindungen. Ich sagte, damit sei ein Mißverständnis riskiert. Es liegt darin, daß man das Gesagte moralisch im primitiven Sinne versteht. Das würde bedeuten, daß die „moralischen" Grundsätze einen Selbstwert beanspruchen und daß die Einhaltung der moralischen Gesetze an sich wichtig, ihre Überschreitung an sich verwerflich ist. Dies ist hier nicht die Meinung, hier und überhaupt nicht. Vielmehr bedroht die geschilderte Versuchlichkeit den schaffenden Künstler selbst. Die Impotenz dessen, der unter Berufung auf die Kunst dem Leben ausweicht, wird sich auch auf dem Felde des Schaffens als ein Unvermögen erweisen. Der Architekt liefert die Probe seines Könnens gegen den Widerstand des Alltags und angesichts der fordernden Zwecke. Aber nicht nur er. Das wahre Können des Künstlers hat auch im Alltag nichts zu fürchten. Er durchdringt ihn mit dem schöpferischen Blick, dem auch die kleinen Dinge liebenswert sind. Der Künstler kann seine Werke „entlassen", wie die Eltern ihre Kinder in der endlichen Bestätigung ihres Vertrauens am Ende der Erziehung entlassen. Es ist die entscheidende Probe der Liebe, daß sie freigeben kann, was sie doch nicht halten kann und darf. Der
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Dirigent, der am Schluß des Konzerts den Taktstock hinlegt, in der Freude am Gelingen der Aufführung auf alle Zugaben und Wiederholungen verzichtend, der entläßt sein Werk. Es ist die g r o ß e Kunst, die im Entlassen des Werkes einen Verzicht fordert, wie der Architekt seinen Bau in der Schlüsselübergabe in fremde Hände befiehlt. Die Kunst wird zum Exzeß, wenn sie nicht durch die Distanzierung in der ratio ihre Bändigung erfährt. Der Künstler darf sich nicht ganz an das Werk verlieren, und das gilt lange vor der Freigabe schon im Schaffen selbst. Der Maler tritt im Malen einen Sdiritt oder zwei zurück und prüft sein Werk. Der Künstler kann nicht ohne diese Pausen der Selbstprüfung schaffen. Er muß von dem heimlidien Wertgefühl begleitet sein, das ihn in ständiger Kontrolle berät. Noch einmal wird sichtbar, daß die Kritik keinen Gegensatz zum künstlerischen Schaffen darstellt, sondern daß sie das Schaffen begleitet, wobei es eine untergeordnete Frage bleibt, ob die Kritik in der Seele des Künstlers selbst oder in der Figur des nachvollziehenden und verstehenden Kritikers ihren unerläßlichen Dienst tut. Das alles sind im Grunde Strukturfragen der Kunst selbst. Sie sind wichtig, weil sie jeden angehen, der an der Kunst teilnimmt und sich in ihrem Schaffen wiedererkennt, auch wenn er selbst kein Schaffender im unmittelbaren Sinne ist. In der Kunst überschreitet der Mensch allemal, sei es als Schaffender, sei es rezeptiv, die Grenze seines Daseins und versucht, ein anderer zu sein. Hier erfährt er, daß diese Welt unseres Alltages nicht das Letzte ist, sondern daß noch andere Möglichkeiten auf uns warten. Sie erinnert uns an das Erste, an die Schöpfung. Denn der Mensch erfährt sich selbst noch einmal in abbildlicher Weise im Besitz gestaltender Kräfte und Vollmachten. Noch einmal benennt er die Dinge und macht sich die Materie Untertan. Die Erinnerung an das Erste, an die Schöpfung, und die Erinnerung an das Letzte, an die Enthebung vom Zwang der Verschuldungen und Pflichten, die Entlastung von den Gewöhnlichkeiten — dieses beides begrüAdet das Interesse der Ethik an der Kunst. Es ist eine Beschädigung des Menschen und eine Entwürdigung, wenn ihm die Begleitung seines Lebens durch die Kunst, durch die Feier und durch den Ausblick in zweckfreie Sphären genommen wird. Die Kunst ruft unser Leben an seine Grenze. Sie wird zum Blendwerk, wenn uns das Auskosten der anderen Möglichkeiten als die wahre Wirklichkeit erscheint. So bringt die Kunst nach beiden Seiten ans Licht, was es um den Menschen ist.
19 Trillhaas, Ethik
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III. Die uns anvertraute Welt 3. Zum Problem der christlichen
Kunst
Alles bisher Gesagte gilt auch für die christliche Kunst, obwohl ich von ihr bewußt abgesehen habe. Sie bedeutet eine gewisse Verlegenheit. Man gesteht hier vielfach gar nicht mehr zu, daß ein besonderes Problem existiert. Dementsprechend ist audi die vorliegende Literatur gering. Außer der auf S. 245 f. genannten verweise idi noch auf H. v. Soden : Vom Wesen diristlidier Kunst (1926), jetzt in: Urchristentum und Gesdiidite I, 1951, 90—105 — Das Gottesbild im Abendland (Sammelband), mit Beiträgen von W. Schöne, J. Kollwitz, Η. v. Campenhausen (Glaube und Forschung 15), 1957 — Kurt Marti: Christus, die Befreiung der bildenden Künste zur Profanität, EvTh 1958, 371—375. Das Problem wird kaum damit zu erledigen sein, daß man von der „Kunstindifferenz" des N T ausgeht, die grundsätzliche Profanität der Kunst behauptet und einer Sakralisierung entgegentritt. Richtig ist es freilich, daß die Last der uralten Thesen und Gegenthesen zur Bilderfrage der christlichen Gemeinde nodi immer die Unbefangenheit in dieser Sache nimmt. Das alttestamentlidie und dann jüdische Bilderverbot, das durdi mehrfache christliche Erneuerungen in der griechischen Kirdie, in der schweizerischen Reformation und bei den Enthusiasten gegangen ist, blickt uns immer nodi aus der Ferne an. Andererseits wirkt das Gebot, den Tempel zu schmücken, und fordern uns die Psalmen zum Lobe Gottes auf. Gottes Eintreten in die Sichtbarkeit fordert das Bekenntnis zur Menschwerdung in allen seinen Konsequenzen noch heute, wie das katechetisdie Bedürfnis bis zur Stunde nadi dem Bilde verlangt. Uber die Geschichte der Bilderfrage muß idi grundsätzlich auf die einschlägige Lit., bes. auf die Aufsätze von v. Campenhausen in dem gen. Sammelband verweisen. Aber was bedeutet überhaupt der Begriff „christliche Kunst"? Die Frage ist naheliegend. Der Bilderstreit vom Ende des 4. bis ins 8. Jahrhundert betraf die gemalten Bilder, vorweg die Darstellungen Christi. Er betraf nie die Rundplastik, die man im Orient übereinstimmend als heidnisch empfand, während man sie im Abendland unbefangen aufstellte. N i e war das Kirchenhaus Gegenstand eines theologischen Prinzipienstreites. Und in der Musik wurden höchstens einzelne Instrumente (die Orgel) verboten. Die äußerst problematischen Mysterienspiele, jetzt im Laienspiel in der Kirche bei ungeminderter Problematik fortgesetzt, sind überraschend wenig angefochten worden. Was ist also christliche Kunst? Man wird ganz allgemein sagen müssen: Es ist Kunst, die christliche Inhalte darstellt und die christlichen Zwecken dient, d. h. also, daß der Begriff nicht von einer bestimmten „Gesinnung" des Schaffenden her oder von einem bestimmten Stil aus, sondern nur von einer fest umrissenen Sache aus, von Inhalt und Zweck her bestimmt werden kann.
Zum Problem der diristlichcn Kunst
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Christlidie Kunst ist also sachgebundene Kunst. Damit ist der erste Hinweis für die Ethik gegeben. Die christliche Kunst ist als solche verfehlt, wenn sie vom Sachlichen ins Ästhetische ausbiegt. Christliche Kunst hat vielmehr an ihrem Inhalt ihr Maß. Das schließt sicherlich eine ästhetische Würdigung nicht aus, aber selbst diese kann den inneren Maßstab nicht übersehen. Was die darstellende Kunst betrifft, so ist jedenfalls der ikonographische Kern der Darstellung die Mitte, an der es sidi entscheidet, ob die Darstellung gemäß ist. Im Sinne der christlichen Kunst ist also damit zu rechnen, daß ein am Inhalt der Darstellung gewonnener Maßstab für die „Kunst" den rein ästhetischen Gesichtspunkt relativiert. Ich erinnere an die frühchristliche Malerei der Katakomben ebenso wie an manche mittelalterlichen Altäre, an die Hinterglasmalereien, an manche Erzeugnisse der Friedhofkunst, denen insgesamt mit den „klassischen" Maßstäben der Ästhetik und Kunstgeschichte allein nicht beizukommen ist. Wer die Matthäuspassion J. S. Bachs nur als Kunstwerk würdigt, hat ihr Verständnis verfehlt. Der Begriff der sachgebundenen Kunst, angewandt auf die christliche Kunst, setzt derselben eine doppelte Grenze. Es ist einmal die Grenze zum Kitsch, die natürlich für alle Kunst Geltung hat. Kitsch ist in der Tat ein Ästhetikum, das wahrscheinlich ohne Zuhilfenahme der Ethik nicht hinreichend erklärt werden kann. Kitsch ist immer ein Appell an das Instinkthafte, an die im Beschauer, im Genießenden vermutete Vorliebe fürs Billige. An Stelle des geistigen Aufrufs, den jedes Kunstwerk in sich schließt, biegt der Kitsch ins vermeintlich Annehmliche ab, in das billig Sinnliche. Er degradiert den Betrachter, und er degradiert die Sache, was die ganz und gar sach- und zweckgebundene christliche Kunst unmittelbar vernichtet. Die andere Grenze, die im Begriff der sachlichen Kunst liegt, ist die zum „Religiösen" hin. Wenn ich recht sehe, datiert die Deutung der Kunst als „Religion" genau von dem Moment des Verlustes der christlichen Inhalte. In dem Goetheschen Wort aus den Zahmen Xenien ist das Bekenntnis eines Zeitalters enthalten: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat Religion; wer jene beiden nicht besitzt, der habe Religion." Was man an Glaubensinhalten verloren hat, das soll die Kunst als solche ersetzen. Damit ist aber der Weg zu einer neuen Sakralisierung der Kunst beschritten — um es nicht härter zu sagen: damit ist der Kunst wieder ein Appell an das Gefühl (wenn auch zunächst noch an das religiöse) mitgegeben, was leicht dahin führen kann, daß die Kunst zum Kitsch hinüberkippt. Les extrêmes se touchent. Hier 19*
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III. Die uns anvertraute Welt
wird vollends sichtbar, welcher Gewinn der Gedanke der Sachlichkeit für die christlidie Kunst als Kunst ist. Jeder künstlerische Ausdrude ist menschlicher Ausdruck und darum geschichtlich. Aber die Intention der Kunst geht ins Ungeschichtlidie, ins Bleibende. Die Kunst sucht jene Zone auf, in der es kein Veralten gibt, wie wir vorhin sahen. Wie das künstlerische Porträt das Menschenantlitz ins „Bleibende" zu heben versucht, so wendet sich die historisierende Malerei umgekehrt dem Vergänglichen als solchem zu und verfällt mit ihm. Christliche Kunst, an ihre Inhalte, nämlich an die Geschichte Gottes mit uns gebunden, verrät die Kunst und verrät das Evangelium, wenn sie ihren Inhalt als vergangen erzählt. Sie hat aber ihre christliche Sendung als Kunst gerade darin, daß sie vergegenwärtigt, daß sie „keine Zeit kennt", daß sie also ihre Sache „bezeugen" muß, schon wenn sie ihre Sendung als Kunst, vollends als christliche Kunst nicht verleugnen will. Was „Sachgemäßheit" dann im einzelnen bedeuten müßte, also im Kirdienbau, in den Bildern, in der gesammelten Erinnerung an die Wahrheit Gottes im Symbol — das auszuführen wäre Sache einer christlichen Ästhetik und überschreitet Auftrag und thematisches Ziel der Ethik.
IV. LEBEN I N G E M E I N S C H A F T U N D D I E GESELLSCHAFTLICHEN M Ä C H T E (Sozialethik) A. Die elementaren Gemeinschaftsbezüge 20. Kapitel Der
Nächstc
Das Liebesgebot ist bei Augustin oft Gegenstand des Nachdenkens. Ich verweise besonders auf De doctrina Christiana I, 23—30, wo sich audi (26) der von da an so bezeichnende Gedanke findet, daß die berechtigte Selbstliebe Norm der Liebe zum Nächsten ist. Hierzu K. Holl: Augustins innere Entwicklung, in: Ges. Aufsätze III, 1928, 87 u. 109 ff. Bei Luther ist der Gedanke des Nächsten in knapper Härte gefaßt: der Nächste ist der, der uns braucht. Er ist durch sein Bedürfnis nach Liebe und Hilfe hinreichend gekennzeichnet, wodurch die Nächstenliebe fast etwas Zweckhaftes bekommt, und die „frommen Werke" dadurch charakterisiert werden, daß sie dem Nächsten nicht dienen, daß sie also — von aller Werkgerechtigkeit ganz abgesehen — einfach überflüssig sind. Reiche Belege bei W. v. Loewenich: Luther als Ausleger der Synoptiker, 1954 passim, bes. 188 ff. — Ferner A. Nygren: Eros und Agape (I 1930; II 1937) 1957* — Fr. K. Schumann: Natürliche Liebe und christliche Liebe, in: Um Kirche und Lehre, 1936, 175 ff. — W. Eiert: Ethos, §§ 42 u. 43 (hier weitere Lit.) — O. Fr. Bollnow: Einfädle Sittlichkeit, (1947) 19684. 1. Der andere Mensch Das Evangelium hat für den anderen Menschen, dem wir in Liebe begegnen sollen, einen unberechenbaren und unprinzipiellen Einsatzpunkt: es redet vom Nächsten. Diesem Nächsten sind wir Liebe schuldig. Das Gebot „Liebe deinen Nächsten" findet sich im Neuen Testament achtmal: Mt 5 , 4 3 ; 19,19; 2 2 , 3 9 ; Mk 12, 31 ff.; Lk 10, 27 ff.; Rom 13, 9; Gal 5 , 1 4 ; Jak 2, 8. Der Begriff ist schon sprachlich auffallend: ό πλησίον, also wörtlich „der zunächst (stehende)". Wenn auch im Alten Testament vor allem im Sprachgebrauch der LXX der Nächste den räumlich Benachbarten, den Nebenmann bzw. den Genossen des Bundes meint (Lev 19, 18), so ist doch im Neuen Testament unmerklich eine Verschiebung eingetreten, die eine Ausweitung des Liebesgebotes auf alle Menschen bedeutet, aber dies wiederum nicht in abstracto, sondern so, wie wir
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
es nachstehend zu beschreiben versuchen. Vgl. im übrigen A r t . πλησίον T h W VI, 3 0 9 ff. Knud E . Legstrup hat in seinem Buch: Die ethische Forderung, (1959) 1968* die Nächstenschaft in einer großartigen Existenzanalyse gedeutet und zum Ausgangspunkt einer radikalen ethischen Konzeption gemacht.
Die „Menschheit" spielt im Evangelium keine Rolle. Demzufolge fehlt auch die ebenso kollektive wie abstrakte „allgemeine Menschenliebe". Würde man diese Vorstellung von der unbegrenzt erscheinenden Zahl aller Menschen zugrunde legen, so läge es allerdings nahe, die Zunächststehenden innerhalb der Ordnungen des natürlichen Lebens, bzw. der sog. Schöpfungsordnungen deutlich zu bezeichnen. Das würde die Vorstellung hervorrufen, diese „Nächsten" hätten vor den weiter Entfernten einen vorzüglichen Anspruch auf unseren Liebesdienst. Praktisch würden dann die Volksgenossen den Volksfremden vorzuziehen sein, Rassegenossen — sofern man immer genau feststellen kann, wer eigentlich dazugehört — den Artfremden, die Verwandtschaft vor den Nichtverwandten und schließlich innerhalb der Familie die Glieder des engsten Familienbereichs vor den Verwandten entfernterer Grade. Das Gebot der Nächstenliebe, so verstanden, würde dann geradezu einen Dispens von der Liebe zu eben diesen Fernerstehenden bedeuten. Der aktuelle Fall, daß die Nächstenliebe über weite Entfernungen zum Gebot wird, ist die » E n t w i c k l u n g s h i l f e " , welche die reichen Länder den sog. „unterentwickelten" Völkern vor allem dadurch zu leisten haben, daß sie ihnen zu eigener Verantwortung ihres politischen Weges und zu wirtschaftlicher Selbständigkeit verhelfen. Die Nächstenschaft ist in der Verflechtung der Schicksale audi weit auseinanderliegender Völker begründet.
Natürlich bedeutet auch die blutsmäßige oder geschichtliche Zusammengehörigkeit, also die natürliche Zusammenordnung der Menschen sehr viel. Sie ist eine sehr entscheidende Bedingung für unsere Zusammengehörigkeit nach natürlicher Weise, und wir werden uns die Pflichten, die daraus erwachsen, in ihrem ganzen Gewicht sofort zu verdeutlichen haben. Zuvor aber die Frage: Was bedeutet der zentrale Begriff der Nächstenliebe eigentlich? Die Geschichte vom barmherzigen Samaritan (Lk 10, 25—37) ist ein für allemal das Paradigma für das Verständnis des Begriffs geworden. Das Gleichnis sagt uns folgendes: a) Die Nächstenschaft im Sinne Jesu ist absolut „kontingent", d. h. sie ist für menschliche Betrachtung zufälliger Art. Sie kann in gar keiner Weise vorausberechnet werden, es läßt sich keine Reihenfolge unserer Gemeinschaftsbezüge oder sozialen Bindungen angeben, nach denen diese Nächstenschaft von vornherein gilt. Vielmehr e n t s t e h t diese
Der andere Meliseli
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Nächstensdiaft von Fall zu Fall, und zwar in unübersehbarer Weise so, daß alle Rücksichten auf ständische, völkische oder volkhafte, gesellschaftliche, berufliche, familiäre oder freundschaftliche Bindungen beiseite bleiben. Ja, gelegentlich hat diese sich ergebende Nächstenschaft geradezu einen Kontrastdiarakter. In dem Gleichnis Lk 10,25 ff. kommt das darin zum Ausdruck, daß die vorbildliche Gestalt der rasse- und religionsfremde Samaritaner ist. Diese Kontrastwirkung meldet sidi dann dadurch an, daß der zur Nächstenschaft Gerufene sich dem Gefühl einer gewissen Peinlichkeit nicht entziehen kann. b) Der Nächste existiert nie in abstracto, sondern er wird mir hier und jetzt in concreto gezeigt: „der da" ist dein Nädister! Zwischen „dem da" und dir besteht jetzt im Augenblick Nächstensdiaft. Nicht jeder kann mein Nächster sein, und oft ist es gerade der, von dem ich es wünschen möchte, nicht. Nächstenschaft ist, wenn man so will, ein Grundelement einer christlichen Situationsethik, denn sie ergibt sich aus der Situation, und sie kann uneraditet ihrer Absolutheit schon morgen wieder erloschen sein. c) Alle Nächstenschaft fordert meine Bejahung. Sobald mir der Nächste gezeigt wird, stellt er einen Anruf Gottes an mich dar. Er ist ein Appell an meinen Willen. Der Nächste ist immer der auf mich angewiesene Nächste, alle Nächstenschaft ist Forderung. Wenn ich mich ihr entziehe, bekomme ich es mit meinem Gewissen zu tun. Ich muß den Anruf Gottes in Gestalt dieser mir gezeigten Nächstensdiaft bewußt und freiwillig bejahen. Idi muß es auf midi nehmen, Nächster zu sein. d) Die Pharisäer-Frage „Wer ist denn mein Nächster?" wird beantwortet durch die Aufforderung, die eigene Nächstensdiaft bzw. die Nächstenpflicht zu erkennen und zu bejahen. Man könnte geradezu so sagen: Erkenne jeden Fall, in dem du der Nächste bist (vgl. Lk 10, 36). Wenn Jesus bei der Beschreibung der Nächstenliebe sagt, man solle den Nächsten „lieben wie sich selbst", so ist nicht etwa, wie man es oft erklärt hat, ein berechtigtes Maß an Selbstliebe der Maßstab für unsere Aufwendung an Nächstenliebe, sondern es ist gemeint, daß ich midi mit dem Nächsten gleichsam identifiziere: im Nächsten erkenne idi mich selbst, und meine Hingabe an ihn wird dadurch zu einer selbstverständlichen Handlung. Die Frage der Selbstliebe verschwindet überhaupt, wenn man es nicht so verstehen will, daß diese Selbstliebe einen vollen Wandel durchmacht, indem ich den anderen in mein Selbst aufnehme. Die Sache und das Leben des Nächsten ist nun meine Sache, mein Leben.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
2. Abgrenzung des Begriffs der Nächstenliebe Nächstenschaft und Nächstenliebe nehmen, wie wir sahen, auf die gewachsenen Ordnungen der menschlichen Gemeinschaft, auf Rasse, Volk, Staat, Beruf, Familie und dgl. keine Rücksicht. Das heißt nun nicht, daß alle diese Bezüge durch die Nächstenliebe aufgehoben würden. Vielmehr bedeuten auch diese Ordnungen große, das ganze Leben des Menschen ausfüllende Pflichten, man denke nur an Vaterund Mutterpflichten oder an die Kindespflicht. Aber es ist doch ein anderer Pflichtenkreis als der in der Nächstenschaft enthaltene und aus ihr erwachsende. Nächstenschaft geht quer durch die gewachsenen Ordnungen hindurch. Eine ans Kasuistische angrenzende Frage mag es dann sein, ob nicht innerhalb der gewachsenen Ordnungen, etwa auf Grund der Familienbeziehungen audi reine Pflichten der Nächstenliebe erwachsen können. Idi möchte das nicht in Abrede stellen. So wäre etwa denkbar, daß bei einer völligen Zerrüttung der Familienverhältnisse, wie sie etwa François Mauriac: Le Noeud de Vipères (deutsch unter dem Titel: Natterngezücht, Herder-Bücherei, 1957) beschreibt, ein Glied der Familie in tiefe Vereinsamung oder selbstverschuldete Not gerät und eines Tages von Familiengliedern eben in dieser N o t entdeckt wird. Die plötzliche Besinnung auf die Pflicht, die man dem Vereinsamten gegenüber trägt, wird dann kaum mehr als eine Wiederbelebung der Familienbande bezeichnet werden können, sondern was sich hier begibt, ist um so elementarer und dringlicher, als es eine Besinnung auf die Nächstenpflicht im Kontrast zu den abgestorbenen Familienbanden darstellt.
Die Verbindung der Christen untereinander wird im Neuen Testament als Bruderschaft bezeichnet. Gelegentlich wird die christliche Bruderschaft auch noch institutionell unterbaut und qualifiziert, wie das in Ordensgemeinschaften oder auf beruflicher Grundlage — man denke an den „Amtsbruder" — geschieht. Die Bruderliebe ist nach 1 Joh 3, 23 ein Gebot Christi. Diese Bruderliebe ist wechselseitig, und sie ist nach der Beschreibung des 1. Johannesbriefes ganz offenkundig auf die Gemeinde beschränkt (vgl. 1 Joh 4, 7—21). Darum ist diese Bruderliebe mit der Nächstenliebe nicht zu verwechseln. Ein „Heide" kann zwar mein Nächster sein, er ist aber nicht mein christlicher „Bruder". Durch das άγαπδν αλλήλους wird die αγάπη zur φιλαδελφία (vgl. Rom 12, 9 f.; 1 Thess 4, 9 und 1 Petr 1, 22; weniger prägnant 2 Petr 1, 7). Die Wechselseitigkeit der Bruderliebe schließt den Vorteil des Liebens in sich und ist darum ohne Verdienst bzw. sie ist „nichts Besonderes". Jesus hebt in der Bergpredigt Mt 5, 46 f. hervor, daß die gegenseitige Liebe nur natürlich ist und auch die Christen in ihrer Übung vor Jen Zöllnern und Heiden nichts voraushaben.
Die Nächstenliebe im Alltag
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Würde man das in der Kirche sorgfältiger beobachten, so würde die Unsitte eingeschränkt, mit der gegenseitigen Bezeichnung von Amtsträgern als „Brüdern" vor der Welt zu kokettieren und überall diesen Brudertitel doch nur den Kollegen vorzubehalten. Wahre Bruderschaft in der Gemeinde Jesu sollte selbstverständlich sein. Durch ihre wörtliche Hervorhebung und Betonung wird entweder eine gewisse Krampfhaftigkeit des gegenseitigen Umganges erzeugt oder die Kritik an der tatsächlich vorhandenen Gesinnung herausgefordert.
Die Eigenart der Nächstenliebe und der schon hervorgehobene Kontrastcharakter derselben werden im Neuen Testament am stärksten dadurch betont, daß Jesus audi die Liebe zu den Feinden fordert (Mt 5, 44; vgl. Rom 12,14. 20; Lk 23, 34 und Apg 7, 59). Die Feindesliebe ist die eigentliche Probe auf die Selbstlosigkeit der Liebe und hat ihren Grund darin und ihren Maßstab daran, daß Gottes Liebe seinen Feinden gilt. Diese Feindesliebe ist vollends keine abstrakte und grenzenlose Liebe; denn sie gilt dem Feind, dem ich in der vollen Kontingenz der Begegnung gegenübertrete, den ich um so weniger gewählt habe, mit dem ich um so weniger verbunden bin, als er ja mein Feind ist. Auch Feindschaft entbindet mich nicht von der Nächstenpflicht, mich — gegebenenfalls — selbst in diesem Feind wiederzuerkennen. Umgekehrt verpflichtet mich die Nächstenliebe, den Feind von meinem Nächsten zu dessen Schutz abzuwehren. Zunächst ist der Begriff der Nächstenliebe gewiß ein Appell an den einzelnen, sich in der gegebenen Situation seines „Nächsten" anzunehmen. Bedenkt man aber, daß es Sozialstrukturen, meinetwegen „Weltanschauungen" gibt, welche diese Nächstenschaft ausschließen (ζ. B. Rassismus oder Feudalsysteme), dann wird nicht ausgeschlossen werden können, daß die radikale Nächstenliebe auch einen Angriff auf diese Strukturen in sich schließt.
3. Die Nächstenliebe
im
Alltag
Es könnte sein, daß die Forderung der Nächstenliebe nur auf die außerordentlichen Fälle des Lebens bezogen wird, in denen uns ein fremder Mensch in seiner Not ein ganzes Opfer abfordert. Demgegenüber muß daran erinnert werden, daß wir unablässig von Nächsten umgeben sind und ihnen in jeder Lage etwas schuldig sind. Oft gelingen die großen Leistungen der Nächstenliebe, die großen Opfer, aber wir versagen in den kleinen Proben des Alltags. Freilich darf nun aus diesem Ubergang in die Alltagssituation nicht die Schlußfolgerung gezogen werden, die das Verständnis der Nächstenliebe bei Friedrich Nietzsche bedeutet. Ihm war die Nächstenliebe deswegen ein Gegenstand des Abscheus, weil er sie als das
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Ideal verstand, unter dem sich die kleinen Leute und die Schlechtweggekommenen des Lebens mit ihresgleichen verbinden sollen. Nächstenliebe war für ihn eine Tugend der Schlechtweggekommenen, die sich damit ein Alibi verschaffen, um sich in ihrem kleinen und bescheidenen Raum bei ihresgleichen anzusiedeln und auf die hohen Ziele und auf die großen Ideale zu verzichten. Dieses Ideal erschien dann im Gegensatz zum Nächsten im Freund. „Nicht den Nächsten lehre idi euch, sondern den Freund. Der Freund sei euch das Fest der Erde und ein Vorgefühl des Ubermenschen . . . Meine Brüder, zur Nächstenliebe rate ich euch nicht, ich rate euch zur Fernsten-Liebe" (Also sprach Zarathustra. Werke Bd. VI, 88 ff.). Nietzsche übersieht dabei das Überwindungsmotiv, das der Nächstenliebe eignet, das wir als die Erfahrung des Kontrastes bezeichnet haben. Das Paradigma der Nächstenliebe (Lk 10, 25—37) lehrt uns den Nächsten als einen verletzten Menschen sehen. Aber es ist nicht nur die schwere Verletzung im groben Wortverstand, die uns auf den Nächsten aufmerksam machen soll, es ist die grundsätzliche Verletzlichkeit des anderen Menschen, auf die die Nächstenliebe achten lehrt. Die tägliche Reibung von Mensch zu Mensch und die Rücksichtslosigkeit, mit der sich der eine auf Kosten des anderen durchsetzt, bedeutet einen unablässigen Appell an die Nächstenliebe. Einer ist dem anderen im Wege, und das bedeutet, genaugenommen, im Sinn der Bergpredigt schon fast einen Totschlag. Wir nehmen uns nicht nur des verletzten Nächsten nicht an, sondern verletzten ihn durch die Grobheit, die Rücksichtslosigkeit und die mangelnde Ehrerbietung unablässig. Daraus ergibt sich als Erweis der Nächstenliebe im Alltag die Forderung der Güte und der Ehrerbietung zu den Eltern und Vorgesetzten (Rom 12,10; 13, 7) und das lauschende Entgegenkommen, die Rücksicht des Zuhörenkönnens. Wir nennen dieses Eingehen auf die Verletzlichkeit des Nächsten mit einem schwer aufzuklärenden Begriff den Takt. Er bedeutet die Respektierung des anderen Menschen angesichts seiner grundsätzlichen Verletzlichkeit und ebenso die Beachtung seiner wohlgehüteten Privatsphäre, der Verschlossenheit seiner Persönlichkeit. Die Verletzung dieser schwer anzugebenden, im Grunde nur fühlend zu erfassenden Zonen bezeichnen wir als Taktlosigkeit. Man kann im allgemeinen folgende Kennzeichen dafür nennen: a) Wir sprechen von einer Zumutung des Taktgefühls, aber wir muten es einem Menschen doch erst im reiferen Alter zu. Ein Kind kann kindlich unbekümmert oder auch mangels einer Erziehung Gren-
Das cthische Interesse am Wahrheitsbegriff
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zen überschreiten, aber wir bezeichnen es nicht im unmittelbaren Sinn als taktlos. Umgekehrt ist die innere sittliche Reife eines Menschen gerade an dem Taktgefühl ablesbar, das er erkennen läßt. Alle T a k t losigkeit, wie sie etwa an Jugendlichen beobachtet werden kann, ist ein ausgesprochenes Symptom der Unreife, bei älteren Menschen einer tiefgehenden Unbildung des Herzens. b) Der T a k t setzt eine Einfühlung in fremdes Wesen voraus. Das eben ist das Bildungselement an echtem Takt. Der T a k t , nicht eine Sache des Wissens und der Ausbildung, wohl aber des tiefen Gefühls, zeigt an, wie sehr echte Bildung audi dem ungelehrten und einfachen Menschen eigen sein kann, wie denn umgekehrt die Taktlosigkeit des intelligenten Menschen dartut, daß eine ausgebildete Intelligenz noch keine Gewähr echter Bildung ist. Die Beispiele der Taktlosigkeit auf dem Grunde mangelnder Einfühlung sind ungezählt, sie sind eine Quelle der Komik und der ironischen Beobachtung: Die Taktlosigkeit des Städters gegenüber dem Bauern, ungebildeter Reisender im Ausland oder die Ausnützung der Überlegenheit gegenüber dem Schwächeren in hundertfältigen Lebenslagen. c) T a k t bedeutet immer das Einhalten der Grenzen, Respektierung des anderen, Zurückhaltung. Die Verletzung dieser Grenzen in der Taktlosigkeit ist als unabsichtliche Verletzung zu erkennen. Ist die Verletzung absichtlich, so reden wir von der förmlichen Beleidigung, vom Angriff und dgl. Es ist kennzeichnend für die Taktlosigkeit, daß sie eine rüde Unbekümmertheit im Umgang mit den anderen Menschen übt und die Selbstkontrolle vermissen läßt. d) Schließlich ist die Taktlosigkeit nur unter Menschen möglich. Sie ist kein Begriff, mit dem wir menschliches Verhalten gegenüber Gott oder auch gegenüber der untermenschlichen Kreatur bezeichnen können. Umgekehrt ist der T a k t als der alltägliche Erweis der Nächstenliebe um so mehr eine Form, in der wir innerhalb der Nächstenschaft wahre Menschlichkeit üben können.
21. Kapitel Ethik
der
Sprache
—
1. Das ethische Interesse am
Die
Wahrheit
Wahrheitsbegriff
Ohne Sprache können wir uns keine menschliche Gemeinschaft vorstellen. Jeder Verkehr eines Menschen mit dem anderen setzt die
300
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
Sprache voraus und bedient sich der Sprache. Die Sprache ist die Brücke zum anderen. Sprache ist mehr als was sich in Worten ausdrückt. Auch das Mienenspiel, auch die Gesten und das Schweigen sind Sprache. In der Sprache ist der Geist, kein Geist ohne Sprache. Klarheit des Denkens und des Geistes müssen sich in der Klarheit der Sprache spiegeln. Unklares Gerede ist nicht nur ein Zeichen innerer Verwirrung, sondern es kann auch eine sittliche Minderwertigkeit anzeigen. Aus allen diesen Gründen muß sich die Ethik im Zusammenhang mit den elementaren Gemeinschaftsbezügen auch über die Sprache besinnen, und sie tut es herkömmlicherweise, indem sie über die Wahrheit nachdenkt. Die theologische Ethik zeigt weithin eine große Verwirrung in den Aussagen über die Wahrheit. Es ist daher nötig, einige Unterscheidungen vorweg zu treffen; denn „Wahrheit" ist keineswegs ausschließlich oder gar selbstverständlich ein ethischer Begriff. Wir reden außerhalb der Ethik in einem doppelten Sinn von Wahrheit. a) Wir sprechen von ontologisdier Wahrheit. W a h r ist etwas, sofern es das wirklich ist, was es sein soll. Wenn wir von einem Apfel sagen, er sei „in Wahrheit" ein Apfel, dann meinen wir, daß über die N a t u r dieser Frucht kein Zweifel mehr obwaltet. Ersatzstücke können mit dem Namen dessen bezeichnet werden, was sie ersetzen sollen, aber sie sind „in Wahrheit" doch etwas ganz anderes. Der Maßstab für diesen ontologischen Wahrheitsbegriff ist die reine Wesenheit, und wir sprechen dann von ontologisdier Wahrheit, wenn ein Ding mit dem Wesen, das es realisieren soll, übereinstimmt. b) W i r sprechen ferner von logischer Wahrheit. Die herkömmliche Definition dieser logischen Wahrheit ist die Ubereinstimmung des Urteils mit dem vom Urteil beschriebenen Sachverhalt, die „adaequatio intellectus ad r e m " . Diese logische Wahrheit ist unabhängig davon, ob jemand dieses wahre Urteil audi vollzieht. Der Vollzug eines Urteils ist ein psychologischer Tatbestand. „Wahrheit" im logischen Sinn ist auch unabhängig davon, daß jemand dies wahre Urteil als wahr anerkennt. Die Anerkenntnis ist eine Rechtsfrage. Die logische Wahrheit trägt ihren W e r t ohne Rücksicht auf alle Erlebnisse des Fürwahrhaltens, der Gewißheit, des Uberzeugtseins und unabhängig vom Nutzen der Wahrheit in sich selbst.
Wie wird nun aber die Wahrheit zu einem ethischen Begriff? Sie wird es dadurch, daß sie zu einer Grundbedingung des menschlichen Daseins und des menschlichen Zusammenseins wird. Wahrheit wird zu einem ethischen Begriff, indem sie unsere Sprache qualifiziert, in der wir unsere Gemeinschaft und unseren Verkehr mit anderen Menschen zum Ausdruck bringen und in der wir zugleich unsere eigenen Gedanken artikulieren, uns mit uns selbst verständigen. Wahrheit bedeutet ein Offensein des Menschen für den anderen, ja sie will, daß der Mensch selbst sich ihr öffnet und erschließt. Wahrheit ist ein ethischer Begriff, weil Wahrheit allein die Voraussetzung des Vertrauens ist.
Das ethische Interesse am Wahrheitsbegrifï
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Zunächst ist das eigene Verhältnis zur Wahrheit von Bedeutung. Dabei kommen die zwischenmenschlichen Beziehungen noch gar nicht in Sidit, genauso wie auch die Förderung der wissenschaftlichen Wahrheit außerhalb des Gesichtskreises liegt. Es handelt sich vielmehr darum, daß wir uns selbst der Wahrheit öffnen. Wer sich selbst nichts vormacht und aller Eitelkeit, Verblendung und Selbsttäuschung den Abschied gibt, der öffnet sidi der Wahrheit. Insofern gibt es keine Sündenerkenntnis ohne ein persönliches Verhältnis des Sünders zur Wahrheit. Es gibt aber auch kein Gottesverhältnis, ohne daß wir uns der Wahrheit erschließen. In diesem Sinne nennt sich Jesus selbst die Wahrheit (Joh 14, 6) und will uns den Geist der Wahrheit vermitteln (Joh 14,17; 15, 26; 16,13). Jesus will für die Wahrheit offene Menschen haben. Unser Wesen soll wahr sein. Dann wird auch unser Wort als Ausfluß des Wesens wahr sein. Wir werden davon im vierten Abschnitt nodi zu sprechen haben. Aber ebensosehr muß die Wahrheit unsere Beziehung zum anderen Menschen beherrschen. Nur unter dieser Voraussetzung entsteht nämlich Vertrauen. Ebenso setzt das Sagen der Wahrheit wiederum Vertrauen voraus, so daß man zwischen der Wahrheit und dem Vertrauen keine Reihenfolge feststellen kann, sondern sagen muß: beides liegt ineinander, eins bedingt das andere. Und doch hat es erhebliche Folgen, daß die Wahrheit Vertrauen voraussetzt. Wir stoßen dabei auf eine Reihe von Eingrenzungen unserer Pflicht, die Wahrheit auszusprechen. Diese Eingrenzungen sind wichtig genug, um sie sich vor Augen zu führen. Eine erste Grenze für die Pflicht, die Wahrheit auszusprechen, bedeutet es, daß nicht jeder Beliebige einen Anspruch auf jede beliebige Wahrheit hat. Es gibt zahlreiche Fälle, in denen der Anspruch, die Wahrheit zu erfahren, fest umgrenzt und wohlbegründet sein muß. So sind Amtsgeheimnisse Wahrheiten, die unter Verschluß gehalten werden müssen, genauso wie das Beichtsiegel den Seelsorger verpflichtet, die ihm anvertrauten Wahrheiten verborgen zu halten. Die Achtung des Briefgeheimnisses gehört ebenso hierher wie ganz allgemein die Respektierung von Privatangelegenheiten, sofern man sie nicht förmlich einem Berater oder Seelsorger anvertrauen will. Hier hat audi die viel erörterte Geheimdiplomatie ihr sittliches Recht; denn mitunter kann aus der Preisgabe diplomatischer Geheimnisse großer Schaden erwachsen, obwohl die Mitteilung dieser Geheimnisse der Wahrheit entsprechen mag. Die Wahrheitspflicht ist nidit eine Pflicht zur Indiskretion. Es gehört zur täglichen Ethik des Journalisten, die Informa-
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
tionspflidit, die ja der Inhalt seines Berufes ist, mit der nicht geringeren Pflicht der Diskretion in Ausgleich zu bringen. Das hängt sachlich sehr eng mit einem Zweiten zusammen. Die Pflidit, die Wahrheit auszusprechen, ist audi dadurch begrenzt, daß man die Wahrheit nur einem Menschen sagen kann, der mit der Wahrheit auch umzugehen vermag. Es genügt nicht, die Wahrheit zu sagen, man muß audi dessen versichert sein, daß die Wahrheit im Geiste der Wahrheit gehört, aufgenommen und gegebenenfalls bewahrt wird. Wenn man aber damit rechnen muß, daß der Hörer die Wahrheit verfälscht, sei es aus bösem Willen, etwa um mich oder andere zu schädigen, sei es einfach deshalb, weil er die Wahrheit in ihrer Feinheit gar nicht versteht oder verstehen kann, dann darf man diese Wahrheit überhaupt nicht sagen. Die Wahrheitspflicht bedeutet überhaupt nicht die Pflicht, die Wahrheit überall und rücksichtslos zu sagen, sondern sie bedeutet die Pflicht, nur die Wahrheit zu sprechen. Die Wahrheitspflicht kann uns in der Tat in eine Kollision mit der Liebespflicht bringen. Wir müssen damit rechnen, daß der andere die Wahrheit nicht ertragen kann, die wir ihm sagen möchten. Ich denke dabei nicht an solche Fälle, wo unethische Motive geltend gemacht werden, um die Wahrheit zum Schweigen zu bringen; wohl aber kann durch das rücksichtslose Ausspredien der Wahrheit etwa die Ehre eines anderen Menschen ohne Not verletzt werden. Die Ehrabschneidung (obtrectatio), die Verletzung der Keuschheit, die Einmischung in fremde Privatangelegenheiten, die wir schonungslos der Öffentlichkeit übergeben — alles das sind offenkundige Verletzungen der Liebespflicht. Gewiß, man wird mitunter die Wahrheit rücksichtslos geltend machen müssen, und die Liebe darf nicht zum Vorwand dienen, das Königsrecht der Wahrheit einzuschränken, wo die Wahrheit ein höheres Interesse für sich geltend machen kann. Aber immer muß wohl erwogen werden, in welchem Interesse das eine und das andere geschieht, und ob die Wahrheit oder die Liebe das höhere Interesse in Ansprudi nehmen kann. Es ist immer damit zu rechnen, daß die Berufung auf die Wahrheit zu einem Deckmantel der Klatschsucht und der Eitelkeit wird. Die Alternative ist in allen diesen Fällen nicht, ob wir die Wahrheit oder Unwahrheit sagen wollen, sondern es ist zu entscheiden, ob wir die Wahrheit sagen oder schweigen wollen. Im Einzelfall, ζ. B. gegenüber Schwerkranken oder überempfindlichen Menschen, kann es sich sogar um eine „Dosierung" der Wahrheit handeln. Es ist durchaus im Geiste der Wahrheit gehandelt und kann durch die Liebe erzwungen sein, sich darüber Gedanken zu machen, wie wir sozusagen die
Die Verleugnung der Wahrheit
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Wahrheit an den Mann bringen. — Schweigen ist ja nicht nur eine Unterlassung des Sprechens, sondern Schweigen kann eine Form der Aussage sein. Schweigen kann der Pflicht zur Wahrheit adäquat entsprechen, und Vertrauen findet nicht nur der, der mit allem Sprechen der Wahrheit dient, sondern auch, wer im Dienste des Nächsten zur rechten Zeit zu schweigen versteht. Geheimnisse werden nur schweigend gewahrt, und wir haben für die Wahrung der Geheimnisse den sehr bezeichnenden Ausdruck „Vertraulichkeit". In der Zeit des Kirchenkampfes während der nationalsozialistischen Herrschaft war es innerhalb der Bekennenden Kirdie ein Streitpunkt, ob sie zu jedem Anlaß audi ein Wort des Bekennens sagen müsse. Es unterliegt keinem Zweifel, daß auch das Schweigen ein Bekenntnis sein kann. Sdion das Unterlassen eines Geläuts, einer Beflaggung spricht für sidi. Es ist sehr bezeichnend, daß totalitäre Systeme sich nicht nur darum bemühen, die Kirdie zum Schweigen zu bringen, sondern daß sie nidit minder bemüht sind, die Kirche oder wen auch immer am ungeeigneten Ort bzw. zu bestimmten Gegenständen zum Reden zu bringen.
2. Die Verleugnung der
Wahrheit
Im achten Gebot ist das falsche Zeugnis verboten. Auch dieses Gebot dient dem Sdiutz des Nächsten. Aber die rigorose Wahrheitsforderung des Neuen Testaments geht weiter. Eph 4,25 heißt es: „Leget die Lüge ab . . w o b e i die Vorstellung besteht, daß sie uns wie ein Kleid umgibt. In Jesu Mund ist kein Betrug erfunden worden (1 Petr 2, 22) und nach Jak 3, 2 ist der ein vollkommener Mann, der mit keinem Worte fehlt. Während der Gegensatz zur logischen Wahrheit das Falsche oder allenfalls der Irrtum ist, gehört es zum Wesen der Lüge, daß die falsche Aussage mit Absicht gemacht wird. Fragt man nach den Gründen dafür, so liegen viele mögliche Motive für die Angst vor der Wahrheit auf der Hand, sei es das böse Gewissen, das die Wahrheit verbergen möchte, sei es die Hoffnung auf Vorteil oder die Absicht, anderen zu schaden. Der Tatbestand ist noch komplizierter. Denn es ist seit alters die Vorstellung der Menschen, daß sie sich mit ihrem Wort binden und daß Wort und Sache eins sind. Damit hängt die Neigung zusammen, das wahre Wort zu vermeiden, um keine bedenklichen Tatsachen zu schaffen bzw. zu „berufen". Hier hat die umschreibende Metapher ihren religionsgeschichtlichen Ort. Die bewußte Aussage des glatten Gegenteils der Wahrheit steht in solchen Zusammenhängen: die Euphemie und die Meidungslüge. Wo sich die metaphysische Einheit von Wort und Sache dann löst, beginnt das Spiel mit dem Wort,
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
da kann die Lüge geradezu zu einem künstlerischen Motiv werden. Man denke an den Lügenbaron, den Freiherrn von Münchhausen, an das Jägerlatein oder an die Welt der Märdien. Aus diesem Grunde entscheidet sich das ethische Faktum der Lüge nicht an der absichtlichen Unrichtigkeit einzelner Sätze. Vielmehr ist das Sein in der Wahrheit tiefer und umfassender als es in einzelnen Richtigkeiten zum Ausdruck kommen kann. Auch die Lüge wird erst dort zu einem tiefen sittlichen Problem, wo sie den Menschen erfüllt. Dies ist in der Verlogenheit der Fall. Ein äußerst komplizierter Tatbestand! Der verlogene Mensch baut willentlich, um sich selbst und andere zu täuschen, ein System von vermeintlichen Wahrheiten und Halbwahrheiten um sich her auf, für das er nicht nur von anderen Menschen Glauben in Anspruch nimmt, sondern an das er selbst glaubt. Die Verlogenheit ist deshalb so schwer zu fassen, weil dieses Netz von Lügen, das „Lügengewebe", aus lauter Richtigkeiten bzw. relativen „Wahrheiten" zusammengesetzt sein kann und der verlogene Mensch an die Wahrheit dieses seines Gewebes auch mehr oder weniger glauben mag. Bezeichnend ist für die Verlogenheit des Verlogenen, daß er sein gutes Gewissen in bezug auf die Wahrheit seiner Behauptungen immer wieder erneuern und diese Wahrheit beteuern muß. Das Johannesevangelium macht innerhalb des Neuen Testamentes am deutlichsten sichtbar, daß das Verhältnis des Menschen zur Wahrheit oder zur Lüge eine Sache der Substanz, ja der geistigen Herkunft ist (vgl. 8, 44). Das Problem der Notlüge kommt im Neuen Testament nicht zur Sprache. Es wird ebenso oft überschätzt, wie der Begriff der Notlüge mißbraucht wird. Auf keinen Fall besagt dieses Wort, daß man etwa in jeder beliebigen Notlage zur Lüge greifen dürfe; denn damit wäre dann letzten Endes wohl jede Lüge zu rechtfertigen. Es kann sich überhaupt nicht um irgendeine Verwendung der Lüge im eigenen Interesse handeln, sondern höchstens um die Abwendung einer Gefahr für andere Menschen durch eine bewußte Täuschung des Feindes oder dgl. Das Problem stellt einen klassischen Fall der Kasuistik dar. In concreto erweisen sich dann solche Fälle in der Regel als noch weiterhin kompliziert und nuanciert. Muß im Fall eines offenen Feindverhältnisses nicht auch Frage und Antwort auf beiden Seiten in den Kalkül des Kampfes mit einbezogen werden?
J. Der
Eid
Das Problem des Eides ist uralt und kein spezifisch christliches Problem. Die Reditsgesdiidite wie die ethische Literatur sind heranzuziehen. Zur Ethik besonders de Quervain: Ethik I, 346 ff. und Eiert: Ethos § 2 1 — Ν . H. See: Ethik § 44 — Fr. Thudichum: Geschichte des Eides, 1911 — Ich schwöre.
Der Eid
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Theol. u. jurist. Studien zur Eidesfrage. Hgg. von G. Niemeier, 1968 — R G G II, 347 ff. (hier weitere Lit.) — StL II, 1 0 5 5 — 1 0 6 0 (Lit.). E S t L 368 ff. (Schick u. a.).
Seinem Begriff nach ist der Eid die Anrufung Gottes als Zeugen der Wahrheit. In alter und heidnischer Wendung hat diese Anrufung nodi den besonderen Sinn, daß Gott zum Radier angerufen wird für den Fall, daß dieser in seiner Anrufung geschworene Eid nicht gehalten wird. Der Eid kommt in doppelter Form vor: als Zeugeneid oder Aussageeid (assertorischer Eid); der Gegensatz dazu ist der Meineid. Die andere Form ist der Gelübdeeid oder Versprechenseid, auch Treueid genannt (promissorischer Eid); der Gegensatz ist hier der Treubruch. In beiden Fällen, die im übrigen je ihre besonderen Fragen in sich bergen, ist übereinstimmend festzuhalten, daß die Anrufung Gottes zum Zeugen das Charakteristikum des Eides schlechthin ist. Nimmt man diesen Bezug auf Gott weg, dann verkümmert der Eid zu einer bloßen feierlichen Aussage unter Hinweis bzw. im Bewußtsein der schweren Straffolgen, falls sidi die Aussage als unwahr erweisen sollte. Man kann daher schwerlich widersprechen, wenn in der katholisdien Moraltheologie die religiöse Beteuerungsformel — wie man die Anrufung Gottes heute nicht sehr geschmackvoll nennt — als unabdingbar bezeichnet wird. Pius X . erklärt in der Enzyklika „Iam dudum" vom 2 4 . 5 . 1911 es für verwerflich, dem Eid „insitam religionis notam detrahere". Wenn die katholische Moral den Eid als einen Akt der Gottesverehrung bezeichnet, so mag das im übrigen als eine terminologische Frage dahingestellt bleiben.
Die heute übliche Alternative, ob man den Eid mit oder ohne religiöse Beteuerungsformel schwören solle und dürfe, scheint mir aus diesen genannten sachlichen Gründen gegenstandslos zu sein. Ein „Eid" ohne Anrufung Gottes ist keiner. Vielmehr wird man sich die Frage stellen müssen, ob überhaupt ein Eid geschworen werden dürfe oder nicht. In welcher Weise im Falle einer negativen Entscheidung das staatlidie Interesse an einer feierlichen Versicherung oder eidesstattlichen Erklärung, bei denen im Falle der Unwahrheit schwere Strafen drohen, befriedigt werden soll, gehört nicht in diesen Zusammenhang. — Ganz allgemein wird man auf eine weitestgehende Einschränkung der Eidesforderung und Eidesleistungen bedacht sein müssen. Ist dodi jede Unwahrheit, die eidlich bekräftigt wird, ein Mißbrauch des Namens Gottes. Aber dieser Mißbrauch ist nicht geringer, wenn für geringfügige Aussagen, unter Umständen für Nichtigkeiten innerhalb eines Gerichtsverfahrens das ganze Gewicht einer öffentlichen Anrufung Gottes in Anspruch genommen wird. Das Bestreben nach mög20 T r i l l h a a s , E t h i k
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
lichster Einschränkung der Eide überhaupt hat seinen Ursprung im zweiten Gebot. Aber die Eidesproblematik ist damit nodi nicht berührt. Sie entspringt bekanntlich aus dem Wort Jesu in der Bergpredigt, daß wir überhaupt nicht schwören sollen (Mt 5, 33—37), ein Eidesverbot, das Jak 5,12 seine nachdrückliche Wiederholung findet. Ob Mt 23, 16—22 auch als Eidesverbot zu verstehen ist, mag offen bleiben. Die Lage ist deshalb nicht einfach, weil wir auf der anderen Seite Belege für den Eid auch innerhalb des Neuen Testamentes haben. Jesus wird Mt 26, 63 f. vom Hohenpriester in Eid genommen. Hebr 6,16 wird der Eid Gottes mit dem menschlichen Eid in erklärende Parallele gesetzt und Paulus ruft 2 Kor 1,15 ff., besonders Vers 23, Gott zum Zeugen an für das, was er sagt. Die christliche Tradition hat daher gute Gründe gehabt, in der Frage der Eidesleistung nicht einfach eine rigorose Ablehnung zu vertreten. Aber aus welchen Gründen ist das Eidesverbot Jesu zu erklären? Und wie ist das Eidesverbot Jesu mit der relativen Unbedenklichkeit dem Eid gegenüber, die sich im Neuen Testament daneben findet, in Einklang zu bringen? Wir können zunächst von der Bezugnahme auf das zweite Gebot, von der Möglichkeit, den Namen Gottes zu mißbrauchen, absehen. Wesentlicher wird der Grund sein, daß kein Mensch über Gott als Zeugen verfügen kann. O. Bauernfeind (RGG 1. c.) meint, daß Gott zwar nicht als Zeuge zu meinen Gunsten für Tatbestände in Anspruch genommen werden kann, die nicht zu seinem Heilswerk gehören, daß er aber als Zeuge für seine eigene Wahrheit gar wohl angerufen werden könne. Naheliegender ist es, Mt 5, 37 einfadi als eine Verschärfung der christlichen Wahrheitspflicht zu verstehen. Jede Anrufung Gottes zum Zeugen für meine Aussage straft ja meine anderen Aussagen Lügen oder macht sie doch der Lüge verdächtig, sofern ich hier die eidliche Versicherung unterlasse. In eine besondere Problematik versetzt uns der Treueid. Ich gebe mich mit dem Treueid aus der Hand und übernehme eine Gehorsamspflicht, die im Sinn des Soldateneides etwa auch die Verfügung über Leib und Leben aus der Hand gibt. Dieser Treueid setzt voraus, daß das Verhältnis zwischen dem Eidgeber und dem Eidnehmer in Ordnung ist und daß auch die Instanz, der ich den Treueid geschworen habe, von der Treuepflicht ihrer Untergebenen in der Verantwortung vor Gott Gebrauch macht. Aber haben wir eine Garantie dafür? Mt 14, 6 ff. wird berichtet, wie Herodes Johannes den Täufer wider seinen eigentlichen Willen ent-
Der Eid
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haupten läßt, weil er durch einen Eid zum Vollzug der Wünsche seiner Tochter verbunden ist. Man beruft sich auf die sog. Clausula Petri (Apg 5, 29). Audi in dieser Berufung liegt keine Lösung des Problems; denn es liegt im Wesen des Eides, daß er die volle Geltung der Zusage ausdrückt, die wir geben. Die Jünger hatten hier übrigens gar nichts geschworen, sondern sich gegen Gebot und Drohung verwahrt. Keine Obrigkeit kann es im Prinzip zulassen, daß der in den Treueid Genommene hernach von Fall zu Fall in subjektiver Weise selbst bestimmt, wann er gelten soll. Andererseits kann keine Obrigkeit dem Schwörenden die Verantwortung für die in Erfüllung eines Eides geschehenen Taten völlig abnehmen, wenn der Schwörende Gott zum Zeugen angerufen hat. Es ist ein Widersinn, um eines Eides willen in eine Sünde willigen zu sollen, wo doch der Eid die Anrufung des heiligen Gottes in sich schließt. Das Dilemma ist kaum aufzulösen. Man wird sagen müssen, daß der Eid, dessen Zeuge Gott ist, auch von dem respektiert werden muß, der ihn empfangen hat. Man wird ferner zugeben müssen, daß die Konfliktsituation durch keinen Eid aus der Welt geschafft werden kann, und man wird aus diesem Grunde noch einmal die Dringlichkeit einer Einschränkung alles Schwörens in Erinnerung bringen müssen. Es bleibt aber eine offene Frage, ob der säkulare moderne Staat überhaupt den Eid verlangen soll, um sich der Wahrhaftigkeit der Zeugen vor Gericht oder der Treue seiner Beamten und Soldaten zu versichern. Er hat im Falle der Abschaffung dieser religiösen Versicherung genug Sanktionen gegen unwahre Zeugen und untreue Beamte zur Verfügung. Freilich besteht die ganze hier gepflogene Erörterung überhaupt nur zwischen den Christen und weltlichen Instanzen, welche den Eid aus Gründen ihrer eigenen Sicherheit fordern. Das Problem besteht nicht unter Christen, bzw. in der christlichen Gemeinde. Es scheint mir eine unumgängliche Konsequenz aus dem Eidesverbot Jesu zu sein, daß in der Kirche selbst nicht geschworen werden kann und darf, weder bei der Ordination noch bei der Konfirmation, bei der Trauung oder bei der Übertragung kirchlicher Ämter. Das schließt nicht aus, daß in der feierlichen Form eines Gelübdes oder Gelöbnisses der unverbrüchliche Entschluß zur Treue bestätigt wird. Aber eigentliche Eidesleistungen im vollen Sinn haben innerhalb der Christenheit keinen Raum. Hier öffnet sich eine tiefe Kluft zwischen der evangelischen Auffassung und den Eidesvorschriften des kanonischen Rechts.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
4. Die
Wahrhaftigkeit
W i r greifen noch einmal auf den Anfang des Kapitels zurück und erinnern daran, daß die Wahrheit nicht nur die Beziehung zum anderen beherrschen soll, sondern daß sie auch eine Aufforderung an jeden einzelnen in sich enthält. W i r reden in diesem Sinn von Wahrhaftigkeit. Es mag etwas schematisch klingen, wenn wir im Unterschied von der logischen Wahrheit (Übereinstimmung der Aussage mit der Sache) und von der ontologischen Wahrheit (Ubereinstimmung einer Sache mit ihrem Wesen) die Wahrhaftigkeit die Übereinstimmung unserer Äußerungen mit den eigenen Uberzeugungen nennen. D a m i t ist das Wesen der Wahrhaftigkeit sicher nicht hinreichend beschrieben, aber es ist die Richtung angezeigt, in der wir zu gehen haben, um ihr Wesen zu verstehen. In einem tieferen Sinne rührt das Problem der Wahrhaftigkeit an das Verhältnis zwischen menschlichem Sein und menschlicher Aussage, von Sein und Scheinen. W i r müssen freilich alle Gedanken an A b sichtlichkeit beiseitesetzen. Weder die Heudielei noch die Verstellung treffen den Gegensatz zur Wahrhaftigkeit; denn Heuchelei und Verstellung können nicht ohne Absichtlichkeit gedacht werden. Am ehesten stellt die Verlogenheit in dem oben geschilderten Sinn einen Gegenbegriff zur Wahrhaftigkeit dar; denn die Verlogenheit geht ebenso wie die Wahrhaftigkeit nach innen. W i r werden im Gegensatz zur W a h r haftigkeit darum von einer inneren Unwahrheit eines Menschen reden müssen. Die Wahrhaftigkeit des Menschen hat viele Weisen, sich anderen Menschen gegenüber zu äußern. Diese verschiedenen Weisen der Äußerung sind charakterologisch modifiziert. Die Aufrichtigkeit, mit der einer dem anderen begegnet und die leicht etwas von Derbheit und Unbekümmertheit an sich hat, ist zweifellos ein Ausdruck von W a h r haftigkeit. Überdies mag die Vorstellung von Aufrichtigkeit sich gern mit einzelnen Äußerungen verbinden; sie muß notwendig eine Dauererscheinung an einem Charakter sein. In ähnlicher Weise verbinden wir mit der Vorstellung von Ehrlichkeit ein besonderes Moment
der
Schlichtheit. Die Offenheit geht nach unseren Vorstellungen viel tiefer, sie spricht mitunter schon aus dem Blick, der das Wesen des anderen bloßlegt, der aber ebenso den Blick anderer in einer geheimnisvollen Weise fesseln und erschließen kann. Wiederum bezieht sich die Echtheit in der Regel auf Äußerungen, in die der andere sein Wesen oder auch seine Gefühle unverfälscht hineingelegt hat. So kann die Freude oder die Trauer, die wir am anderen wahrnehmen, echt oder unecht sein.
Die Wahrhaftigkeit
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Auch Glaubensaussagen pflegen wir unmittelbar auf ihre Echtheit hin zu beurteilen. In alledem mag sich die Wahrhaftigkeit kundgeben. Aber sie ist mehr als Aufrichtigkeit, Ehrlichkeit, Offenheit oder Echtheit unserer Aussagen und unserer Gesinnungen; denn die Wahrhaftigkeit kann der Mensdi auch ganz für sich selbst haben. Der Mensch ist in seiner Wahrhaftigkeit nicht abhängig von anderen. Wahrhaftigkeit ist „die frei gewählte Durchsichtigkeit des Menschen für sich selbst" (Bollnow), die Eigentlichkeit seines Existierens. Es gibt verschlossene Menschen, die im Gespräch gar nicht selbst da sind, sondern die ihren Leib mit einer Maske versehen und auch irgendwelche Gesinnungen äußern, irgendeine Sprache sprechen, die gar nicht die ihre ist. Sie selbst befinden sich gleichsam weit hinter den Linien ihrer eigenen Erscheinung in einer Art von abwartender Stellung und von berechnender Beobachtung. Bei dem Verschlossenen, uneigentlich Lebenden weiß man nicht, wer er im Grunde ist und wo er sich befindet. Seine Substanz ist nicht mehr erkennbar. Hingegen ist es durchaus denkbar, daß ein bösartiger Mensch unerachtet seiner Bösartigkeit doch Substanz hat und in seiner Art wahrhaftig ist, während der scheinbar Tugendreiche alle seine Werte zunichte macht, wenn er nicht wahrhaftig ist. Für die diristlidie Verkündigung sind diese Erwägungen von größter Bedeutung. Wer im Amte der Verkündigung steht, muß ja ein Zeuge sein, d. h. er muß sich selbst in seine Aussagen mit einbringen, er muß im Vollsinne wahrhaftig sein. Die Wahrheit muß „in uns sein" (1 Joh 1, 8 ; 2, 4). N u r wer im Geiste der Wahrheit predigt, d. h. wer nicht nur auf die formale oder dogmatische „Richtigkeit" seiner Aussage achtet, sondern sich unter das hohe Gesetz der Wahrhaftigkeit gestellt hat, der kann auch die Menschen von der Wahrheit überzeugen. Vgl. hierzu O. F. Bollnow: Die Wahrhaftigkeit, in: Wesen und Wandel der Tugenden, 1 9 5 8 , 1 3 5 ff.
22. Kapitel Mann
und
Frau
1. Die Geschlechter Zur Literatur muß ich mich auf wenige Angaben beschränken. O. Piper: Die Geschlechter. Ihr Sinn und ihr Geheimnis in biblischer Sicht, 1954 (Lit.) — H . Sdielsky: Soziologie der Sexualität, ( 1 9 5 5 ) 1968 — H . van Oyen: Ethik II (Liebe und Ehe), 1957 — Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Eine Deutung der Frau (gekürzte dt. Ausg. von Le Deuxième Sexe, 1949) 1960 — D. S. Bailey: Mann und Frau im christlichen Den-
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
ken, 1963 (The Man-Woman Relation in Christian Thought, London 1959) — Die Literatur zur Stellung der Frau in der Gesellschaft kann hier nicht annähernd aufgeführt werden. Ich verweise auf den Sammelartikel Frau in RGG II, 1065 ff. (Lit.), bes. V: Die Stellung der Frau in der gegenwärtigen Gesellschaft (R. Ludwig, H. Dombois), sowie auf die Art. Frau und Frauenarbeit und Frauenberufe in StL III, 478 ff. u. 498 ff. (Lit.) — meine Sexualethik (1970 2 ) und die dort aufgeführte weitere Lit. — H. ScarbathGeschlechtserziehung, 1969 2 (Lit.).
Die Geschlechter weisen auf eine elementare Gemeinschaftsbeziehung hin, die sich nicht in einem Begriff fassen läßt. Es liegt zwar nahe, gleich auf die Ehe zu verweisen und die Ehe als den Inbegriff und die vollkommene Grundordnung der Zusammengehörigkeit von Mann und Frau darzustellen und zu beschreiben. Indessen erschöpft die Ehe das Problem nicht, von dem hier die Rede sein soll. Das Geschlecht bestimmt nicht nur die soziale Situation, sondern auch die ganze Existenz des Menschen, sein Selbstverständnis vor der Ehe abgesehen von jedem Gedanken an Ehe und an das andere Geschlecht. Ehelosigkeit heißt nicht nur vor einer Ehe leben, es kann auch einen bewußten Entschluß, eine freiwillige Entscheidung zum Zölibat bedeuten, sie kann durch das Lebensschicksal auferlegt sein — von der Rückkehr in die Ehelosigkeit im Witwenstande ganz zu schweigen —, immer bleibt die Verhaftung des Menschen an sein Geschlecht, die Bestimmung unseres individuellen Wesens zu allen übrigen Wesenszügen hinzu audi durch unser Geschlecht ein unaufhebbares ethisches Problem. Ich möchte hinzufügen, daß es darauf ankommt, diesem Problem der Geschlechter insofern einen freien Raum zu geben, als es von allen voreiligen, wenn nicht überhaupt unsachgemäßen Seitenblicken auf die Ehe nach Möglichkeit freigehalten werden muß. Das scheint mir nicht nur ein Gebot unserer modernen Situation zu sein, sondern es ermöglicht uns dann auch, dem Problem der Ehe selber unbefangen und unkonventionell gegenübertreten zu können. Wir haben aber hier nicht über das Physiologische der Geschlechter zu sprechen. Auch nicht über die weitläufigen Probleme ihrer Psychologie. Es mag im Augenblick genügen, wenn wir uns vergegenwärtigen, daß es wenige menschliche Verhältnisse gibt, welche so sehr wie die gegenseitige Bezogenheit der Geschlechter im Schatten jahrhundertealter Konventionen liegen. Welche Rollen Mann und Frau im Hause, im Arbeitsprozeß übernehmen, welche sozialen Gesinnungen ihnen zukommen, wie sich die Teilnahme am öffentlichen politischen Leben auf die Geschlechter herkömmlicherweise verteilt, darüber gehen die Vorurteile der Jahrhunderte und der Völker weit auseinander. Was Mann
Die Geschlechter
311
und F r a u jeweils sehen und wissen dürfen, die Tabus, denen sie unterliegen, Matriarchat und Patriarchat, das alles zeigt in der Geschichte der Menschheit eine derartige Variationsbreite, daß man von der gesellschaftlichen Ordnung her gesehen jedenfalls sagen m u ß : W a s eine „ F r a u " und was ein „ M a n n " überhaupt im Sinne des gesellschaftlichen Übereinkommens ist, das wird erst von dieser gesellschaftlichen K o n vention bestimmt.
„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird
es", sagt Simone de Beauvoir mit Recht. Diese Einsichten scheinen mir unerläßlich zu sein, um in der Frage der Geschlechter den freien Raum zu gewinnen, der unser heutiges christliches Urteil von zeitbedingten Überzeugungen unabhängig macht. Zu diesen herkömmlichen Vorurteilen in der evangelischen Ethik gehört die theologische Uberordnung der Ehe über die Ehelosigkeit. Man hat zuweilen geradezu von einer „Pflicht zur Ehe" gesprochen (z. B. P. Althaus). Dahinter steht wohl Luthers bekannte Auffassung von der Ehe als dem einzigen Stande, in dem wir die „Keuschheit" bewahren können, eine offenkundige Gegenthese gegen das mittelalterliche Keuschheitsideal. Sie hat wie nichts sonst dem bürgerlichen Ideal von Haus und Familie, wie es ein Inbegriff der lutherischen Lebensauffassung war, den Boden zubereitet. Damit ist der biblische Tatbestand, daß Jesus und Paulus der freiwilligen Ehelosigkeit einen hohen Rang einräumen, zu Unrecht zugedeckt und vergessen worden: Mt 19, 11 f. und 1 Kor 7, 7 u. ö. Die Ehelosigkeit setzt von Versuchungen und irdischen Sorgen frei, sie ist eine Gnadengabe, ein Charisma. Der Zölibat hat auch seine besonderen Verheißungen und macht frei für höhere Aufgaben (1 Kor 7,32 ff.). Die asketische Grundstimmung dieser Gedanken ist unverkennbar, und daß Paulus für sich selbst dem ehelosen Stande den Vorzug gibt, mag ein subjektives Urteil sein. Keinesfalls kann man aber unter Würdigung dieser Sachlage von einer christlichen Pflicht zur Ehe sprechen. Heute stellt sich überdies dieser ganze Komplex durch das Eintreten der Frau in annähernd alle Berufe in einem ganz neuen Lichte dar. Der Umbruch, der sich durch die veränderte Stellung der Frau in der Gesellschaft vollzieht und der auf nahezu allen Gebieten der Arbeitswelt neue Probleme des Berufsbildes aufwirft, ist noch nicht abzusehen, wenn schon die Aufgaben sich deutlich abzeichnen, vor denen wir stehen. Mir scheint die Eigentümlichkeit darin zu liegen, daß gar keine eindeutige Alternative besteht: Ehe oder Beruf der Frau, sondern die Tendenz der sozialen Entwicklungen geht immer deutlicher dahin, daß auch im Falle der Verheiratung die Frau ihren bisherigen Beruf nicht oder jedenfalls nicht sofort aufgibt, so daß sich Beruf und Ehe ganz oder doch teilweise durchdringen können. Berufstätigkeit bedeutet aber, daß zunächst Frauenprobleme, dann aber überhaupt Probleme der Geschlechtszugehörigkeit ganz abgesehen von der Eheproblematik auftreten, und daß, anders ausgedrückt, die Ehe in unserem heutigen Sozialgefüge nicht mehr ausschließlich Merkmal, Kriterium oder auch das selbstverständlich „lösende Wort" in der Frage der Geschlechter darstellt. Gewiß hat sich v o m Physiologischen her der Geschlechterproblematik ein eigentümliches Gefalle mitgeteilt. V o m biblischen Schöpfungs-
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I V . Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
bericht des Jahwisten (Gen 2,4 ff.) her bis auf den heutigen Tag bleibt es ein schwer zu bewältigendes Geheimnis, daß die Frau das „zweite Geschlecht" ist und daß Bild und Stellung der Frau immer eine Sekundärreaktion auf eine Situation sind. Ihre Geschichte ist bis auf den heutigen Tag die Geschichte ihrer immer neu einsetzenden und bis heute nicht zu Ende geführten Emanzipation. Die Schatten des Antifeminismus, das Nachwirken der christlich-jüdischen Tradition in dieser Hinsicht bestimmt bis zur Stunde die ganze Thematik. Die N a t u r des Geschlechtlichen, Zeugen und Gebären, Stillen und Behüten, Vaterschaft und Mutterschaft — das alles hält sich im Bereich des Funktionalen und Vitalen. Auch die Unterwerfung könnte in diesem primitiven Sinne noch ursprünglich sexuell gedeutet werden. Die ethische Aufgabe erwächst im Hinblick auf die Geschlechter erst dort, wo die N a t u r reflektiert, wo das Mann- und Frausein auf seine spezifisch menschliche Bedeutung hin befragt wird. Geschlecht ist in diesem Sinne eine Situation, in die man hineinwächst — es ist der Sinn der jugendlichen Reifung und der Krisen des Jugendalters, über die man aber auch hinauswächst, die man verarbeitet und überwindet. Mit diesen Bemerkungen
ist die Fortpflanzungsbezogenheit
der
Geschlechter nicht geleugnet. Sie ist voll anerkannt. Es wäre die reine Illusion, wollte man in diesem Sinne die physiologischen Bedingtheiten, angefangen bei der eigentümlichen Dialektik von Stärke und Schwäche der Geschlechter, von Sensibilitäten und vitalen Rhythmen im Lebensablauf, ignorieren. Man könnte schon von einer gewissen Typik der Geschlechtseigentümlichkeiten so etwas wie eine Ethik der Geschlechter entwerfen. Es müßte dann von der Zerbrechlichkeit und Schutzbedürftigkeit der Frau,
von ihrer Veranlagung
zur
Mütterlichkeit
u. dergl. die Rede sein. Aber das wäre sehr vordergründig und gerät leicht auf den Abweg, ein Modell bürgerlicher Vorstellungen zu werden. Wichtiger ist es schon, die von der Physiologie her (und von der Tiefenpsychologie her!) erkennbaren Untiefen der Geschlechtlichkeit im wachen Bewußtsein zu behalten: die Gefährdung der Frau durch ihre Dämonien, die „Frau als N a t u r " , als Spenderin von Leben und Tod, das Chthonische in ihrem Bild („Mutter Erde"), das aus der mythischen Welt in rätselhafter Mächtigkeit in die
entmythisiertc
Gegenwart hineinragt. Aber die eigentliche Aufgabe der Ethik beginnt erst oberhalb dieser Regionen, so sehr diese in Kraft und Geltung bleiben. Ich kann nur einige dieser Aufgaben der Ethik nennen. W i r stehen in der T a t vor einer tiefgreifend gewandelten Situation. Kann man diese veränderte
D i e Geschlechter
313
Lage, die vor allem an der Stellung der Frau in der modernen Gesellschaft abgelesen werden kann, auch theologisch hinreichend beschreiben? Ich glaube, daß man sich den Wandel so verdeutlichen kann: Früher war die Problematik der Geschlechter vorwiegend auf die Ehe bezogen, in der Ehe geordnet, und für die Geschlechtsbeziehungen abgesehen von der Ehe, die man wesentlich als „vor der E h e " verstand, gab es keine anderen als nur negative Gebote. Demgegenüber hat sich im christlichen Denken ein unbefangener Blick auf die Natürlichkeit der Sexualität durchgesetzt. Früher war das Geschlechtliche zwischen „göttlich" und „satanisch" gestellt, eine tiefe Verschattung lag auf der Geschlechtlichkeit, weil sie als Quelle des Bösen verstanden wurde. Heute steht die Geschlechtlichkeit für unser christliches Urteil zwischen Schöpfung und Freiheit. Damit ist eine bestimmte Richtung in die Geschlechtlichkeit eingezeichnet. So eindeutig die biologische Bedingtheit des Geschlechtlichen ist, so eindeutig ist die Aufgabe, es zu vermenschlichen, Die Ethisierbarkeit des Geschlechtlichen bedeutet die Vermenschlichung des Sexuellen, seine stete Erinnerung an die Freiheit. Die Liebe der Geschlechter und zwischen den Geschlechtern ist nicht ohne das Sexuelle, aber sie ist, anders, als das die Meinung S. Freuds gewesen ist, mehr als das Sexuelle, so wahr das Menschliche mehr ist als das Nur-Biologische, in dem sich der Mensch doch nur als Tier wiedererkennen muß. I n d e m ich von der Geschlechtlichkeit zwischen S c h ö p f u n g u n d Freiheit spreche, verzichte ich d a r a u f , a u f d e m U m w e g über die I m a g o - D e i - L e h r e die T r i n i t ä t s s p e k u l a t i o n f ü r die T h e o l o g i e der menschlichen Geschlechterpolarität zu bemühen, w i e d a s in der neueren T h e o l o g i e gelegentlich versucht w o r d e n ist. Ich k a n n mich auch nicht d a v o n überzeugen, d a ß es nötig ist, die p a u linischen A u s s a g e n über die E h e in beflissener Eile zu d e s a v o u i e r e n (so B a i l e y a. a. O . 2 6 7 ff.). E b e n s o scheint mir der heute in der protestantischen E t h i k f a s t regelmäßig bemühte Begriff der P a r t n e r s c h a f t f ü r d a s V e r h ä l t n i s der G e schlechter die sehr differenzierten S a c h v e r h a l t e erneut d e m p r i m i t i v e n D e n ken auszuliefern.
Was bedeutet das nun im einzelnen, wenn wir die Geschlechtlichkeit des Menschen zwischen Schöpfung und Freiheit begreifen? Es bedeutet zunächst, daß die Beziehung der Geschlechter zueinander versachlicht werden muß. Die Erinnerung an die Schöpfung bedeutet Entdämonisierung. D a s unbefangene Hinnehmen der Art des jeweils anderen Geschlechts ermöglicht in der Erziehung eine ebenso unbefangene Aufklärung. Freilich wissen wir, daß Aufklärung in der Erziehung ohne Erfahrung im tieferen Sinne ein bloß theoretisches Wissen bleibt, das mitunter die Schrecken bei unverhofften Einsichten
314
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellsdiaftlichen Mächte
in die im Geschlechtlichen schlummernden Gewalten erst redit tief und ausweglos macht. Darum darf die Unbefangenheit und Versachlichung nicht im Theoretischen bleiben. Sie muß dazu führen, daß sich die Geschlechter frühzeitig kennenlernen, wie das etwa in der Koedukation der Fall ist. Diese Versadilichung muß die Verkrampfungen in jeder Art verhindern. Die nächstliegende Verkrampfung ist die Prüderie. Aber auch die Flucht vor der Ehe, die Unfähigkeit, sich einem Menschen des anderen Geschlechtes in der Liebe völlig zu öffnen — und die Flucht in die Ehe, die „Torsdilußpanik" älterer Menschen, die Sorge haben, unverheiratet bleiben zu müssen, das alles sind Symptome dafür, d a ß man mit der nüchternen Hinnahme des eigenen und des anderen Geschlechtes nicht zurechtgekommen ist. Zu der neuen Einstellung in der Geschlechterfrage gehört dann die Forderung der freien beruflichen Entfaltung von Mann und Frau. Es ist unter den Voraussetzungen, die ich hier beschrieben habe, nicht mehr möglich, ein junges Mädchen nur auf eine spätere Ehe auszurüsten. Die „Mitgift" f ü r das reife Leben darf für die Tochter einer Familie keine andere sein als für den Sohn: Die Ausbildung f ü r einen Beruf. Im Berufsleben selbst müssen auch die Schatten einer Benachteiligung der Frau gegenüber dem Mann unter sonst gleichen Bedingungen verschwinden. Das schließt nicht aus, sondern ein, daß sowohl die Proportionierung der Berufe als auch die individuelle Berufsauffassung jeweils dem Manne oder der Frau unverwechselbar angepaßt sein müssen. Es gibt noch immer, jedenfalls in Deutschland, eine verhängnisvolle Auffassung, daß die christliche Frau nur Hausfrau und Mutter sein könne und daß demgegenüber die Berufstätige einen minderen Rang an Fraulichkeit hätte. Rang und Recht der berufstätigen Frau müssen sich audi darin auswirken, daß ihr die Möglichkeit offensteht, ihren Beruf auch in der Ehe auszuüben und, wenn die erwachsenen Kinder das Elternhaus verlassen habe, in vielleicht sachgemäß modifizierter Weise wieder in ihren alten Beruf oder eine verwandte Tätigkeit zurückzukehren. Diese Forderung entspricht auch dem Wandel der Familienstrukturen, ja sogar dem Wandel der Haushalttechnik. Und es ist längst durch die Erfahrung bewiesen, daß die zu ihrer Selbständigkeit freigesetzte Frau, deren Horizont dem des berufstätigen Mannes nichts nachgibt, nicht nur in die ganze öffentliche Berufsstruktur neue Elemente hineinträgt, sondern daß sich auch das Bild der Ehe selbst belebt, neue Erwartungen des Mannes an seine Frau und der Frau an ihren Mann weckt und das öffentliche wie private Leben um viele Nuancen bereichert.
Die Ehe
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Die neue Situation der Geschlechter weist auf einen Umbruch hin, der noch nicht abzusehen ist. Aber es werden doch gewisse Desiderien deutlich, die im Zusammenhang einer ethischen Überlegung zur Sprache kommen müssen. Idi meine vor allem das Recht des ehelosen Menschen darauf, wie der Verheiratete eine Geborgenheit in einer inneren Gemeinschaft zu finden. Die Gesellschaft, die dem Manne ohne Ehe wie der unverheirateten Frau alle Freiheitsrechte der Entfaltung und des öffentlichen Wirkens einräumt, kann ihnen damit nicht für das ganze Leben das drückende Schicksal aufbürden, entweder öffentlich existieren oder in die anonyme Einsamkeit verschwinden zu müssen. Nun ist aber an eine eigentümliche Schwierigkeit zu erinnern. Der ehelose Mensch kann sich diese Geborgenheit nicht durch einen Ersatz für die fehlende Ehe, wohl aber durch eine Art von neuer „Familie" verschaffen. Der Gedanke an eine eheähnliche Verbindung führt aus dem Wesen der Ehe sofort über die Grenzen des sittlich Vertretbaren hinaus. Aber der Familiengedanke ist ohne Verletzung der sittlichen Idee der Analogien fähig, wovon im nächsten Kapitel noch gesprochen werden soll. Hier liegen noch viele Fragen für den ehelosen Menschen offen, bislang unbeantwortet, aber doch nicht ohne die Hoffnung, daß sich auch hier eines Tages neue Wege auftun werden. In Lit. vgl. Francine Dumas: Mann u. Frau in Gesellschaft, Staat und Kirdie (dt. Ausg. 1968) sowie meine Sexualethik 2. Kap. und die dort verzeichnete Lit. 2. Die
Ehe
Die Literatur zu diesem Abschnitt läßt sich schwer von der über die Familie abtrennen. Die Bibliographie ist über R G G II, 314 ff.; 865 fi. zugänglich, ferner über StL II, 972 ff.; ZEE bringt in jedem Jahrgang die Ergänzung. Die Lehrbücher der Ethik und des Kirchenrechts, bes. A. de Quervain: Ethik II/2 (Ehe und Haus), 1953 — H . A. Dombois u. F. K. Schumann: Weltliche und kirchliche Eheschließung (Glaube u. Forschung 6), 1953 — H . A. Dombois: Reditsgeschiditl. u. syst. Bemerkungen z. Eheschließungsrecht (Gl. u. Forsdig. 8), 1955 — Ders. Das Problem der Institutionen u. die Ehe, ebda. — Th. Bovet: Ehekunde Bd I 1968 s , Bd II 1967 2 — E. Wilkens u. a. Ehe und Ehescheidung. Ein Symposion, 1963. — H . Thiclidce, ThE III, 1968 2 , 507 ff. — meine Sexualethik, 5. Kap. (Lit.).
a) D i e E h e a l s I n s t i t u t i o n . Die Ehe und dann des weiteren die Familie sind die ursprünglichsten Institutionen, welche Menschen aneinander binden. Sie sind noch vor Volk, Staat und Gesellschaft. Die bekannten Sagen, nach welchen Stämme und ganze Völker Kinder eines Urelternpaares sind, veranschaulichen dies Ursprüngliche im Bewußtsein der Völker selbst. Dabei können wir es dahingestellt
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
sein lassen, ob die Ehe die Familie, nämlich die Kleinfamilie fundiert oder ob die Großfamilie, die Sippe ihrerseits die Ehe umschließt. Jedenfalls haben Ehe und Familie einen Vorrang vor allen anderen Gemeinschaftsformen, vor Volk und Staat und Berufsständen, in unserem heutigen Sinne auch vor der weiteren Sippe. Ehe und Familie sind darum vorpolitische Gemeinschaftsformen. Zunächst soll uns die Ehe, im nächsten Kapitel dann die Familie beschäftigen. Die Ehe ist eine Grundordnung, nach welcher sich Mann und Frau unter der Anerkennung und dem Schutz der öffentlichen Ordnung f ü r die Dauer verbinden. Dies gilt unerachtet ihrer erheblichen Wandlungsfähigkeit in Hinsicht auf die Sozialgeschichte und Rechtsgeschichte und unerachtet der Kompliziertheit dieser Verbindung, die ich im folgenden nur andeuten kann. Die Ehe ist eine wandlungsreiche Institution, aber sie ist in allem Wandel immer Institution, und zwar in dem doppelten Sinne: sie ist „Stiftung Gottes", von Gott dem Schöpfer „eingesetzt" als die von ihm gewollte Weise der Verbindung von Mann und Frau, als „Stand" der Ehegatten, und sie ist auch in dem Sinne Stiftung, daß sie eine göttliche Gründung der konkreten Ehe in jedem einzelnen Fall bedeutet. Aber neben diesem theologischen Begriff von Institution gilt audi der andere, vordergründige, um dessentwillen die Ehe eine bewegte Rechtsgeschichte aufweist, daß sie sich nämlich immer als eine rechtlich greifbare und hinsichtlich ihres Zustandekommens und ihrer Rechtsfolgen definierbare Ordnung erweist. Die Ehe als Institution umfaßt auch den Gattungszweck. Aber sie erschöpft sich nicht darin. Der Gattungszweck erfüllt nur einen begrenzten Teil der Ehedauer; die Lebenslänglichkeit der Ehe weist gebieterisch über alle Funktionen zur Fortpflanzung hinaus. Auch die gemeinsame Erziehung der Kinder, gegenseitige Hilfe, häusliche Geborgenheit stecken den Ehegatten weite und noch andere Ziele des gemeinsamen Lebens. Die Ehe stellt in jeder kulturellen Lage einen Inbegriff dessen dar, was sich Mann und Frau an Verbundenheit und Verbindlichkeit (G. Gloege) gewähren können, und die Ausschließlichkeit dieser engsten menschlichen Beziehung steht unter dem Schutz des staatlichen Redits. Auch bei nüchternster Betrachtung der Dinge strahlt die Ehe ein Ethos aus, das sich audi dem sittlichen Verhalten der Menschen vor der Ehe und außerhalb der Ehe mitteilt. Dieses Ethos zielt einmal auf die Treuepflicht, die natürlich für die Ehegatten unmittelbar besteht, die aber auch die Menschen außerhalb der Ehe überhaupt und außerhalb dieser konkreten Ehe mitbetrifft, weil sie die sittliche Hoheit der Ehe
Die Ehe
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und die ausschließliche Zusammengehörigkeit der Ehegatten Unverbrüchlichkeit respektieren müssen. Die Ehe bedeutet zum andern, daß die Ehegatten sich gegenseitig den vollen Schutz und die volle Fürsorge zusichern, daß die Mutter als Mutter und die Kinder als Kinder ihres Vaters volle bleibende öffentliche Anerkennung finden. Vor dem förmlichen Eingehen der Ehe fehlt dieser spezifische Rechtsschutz, und darum stehen alle Liebe und Freude aneinander unter dem Vorbehalt, daß man sich einander nodi nicht völlig angehört. D i e V e r l o b u n g , sponsalia de futuro im Gegensatz zur Eheschließung als sponsalia de praesenti, bringt hier mandie Verwirrung. Sie soll der Vorbereitung und inneren Prüfung der künftigen Ehegatten dienen, aber ihre allzufestliche Begehung und die zuweilen lange Dauer der Verlobungszeit machen sie zu einer Art Vorehe. Hier mag auch ein Wort über die F r e u n d s c h a f t zwischen M a n n u n d F r a u ohne den Gedanken an Ehe, ohne sexuelle Erwartungen angefügt werden. Sie ist wohl möglidi, aber sie erfordert dodi den stillen und klaren Verzicht nach dieser Richtung. Verwandtschaftliche Beziehungen oder die Resignation nach einem überwundenen Liebeserlebnis können besondere Voraussetzung dafür schaffen. Innere Abklärung und die Uberwindung der Leidenschaften können ein Verhältnis schaffen, in dem die Komplementarität der Geschlechter in entsinnliditer und vergeistigter Form zum Leuchten gebracht wird. Goethe hat in den „Wahlverwandtschaften" nach der Schilderung großer Herzensverwirrungen schließlidi wesentliche Dinge über die Größe der Selbstbesdieidung und zum Lobe der Ehe gesagt, Einsichten, in denen christliche Grundüberzeugungen ganz ins Säkulare transponiert worden sind. Audi die Kirchengeschichte kennt eindrucksvolle Beispiele geistlicher Freundschaften zwischen Mann und Frau. In nenne nur die Beziehung zwischen Franz und Klara von Assisi und die zwischen Franz von Sales und Johanna von Chantal.
Die Ehe als Institution ist ohne Rechtsform nicht denkbar. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um kirchliches oder staatliches Recht oder um herkömmliches Recht des Stammes oder der Großfamilie handelt. Die Ehe ist eine Rechtsordnung, sie ist ein „Stand" und nicht nur ein Vertragsverhältnis. Natürlich können beim Eintritt in die Ehe Eheverträge abgeschlossen werden oder auch nicht, keinesfalls machen sie das Wesen der Ehe aus. Natürlich liegt in jeder Eheschließung auch gemeinsames Ubereinkommen, Absprache, aber was die Ehe eigentlich ausmacht, liegt jenseits aller Verträge. Die Rechtsordnung selbst, nach der sich die Eheleute verbinden und deren Schutz sie in Anspruch nehmen, übergreift alle vertraglichen Regelungen. Nicht, was im Falle der einzelnen Eheschließung an besonderen Vereinbarungen getroffen werden mag, macht das Wesen der Ehe aus, sie wird auch nicht durch die Veränderung der Rechtsordnung, nach deren Regeln sie geschlossen wird — so einschneidend sie sein mögen — als Ehe tangiert. Nicht was
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
in jedem Falle neu und besonders ist, macht eine Ehe zur Ehe, sondern das, w a s bei aller N e u h e i t und Besonderheit in ihr alt u n d ursprünglich ist. D i e Ehe ist insofern das Konservativste, w a s sich denken läßt, der Quellort der menschlichen Gemeinschaft, und ihre Gesundheit stellt darum ein zentrales Anliegen nicht nur für die christliche Gemeinde, sondern für die Gesellschaft überhaupt dar. Die Rechtsform der Ehe ist für die Ehe konstitutiv, aber sie erschöpft doch das Wesen der Ehe nicht. Das kommt in zwei Grenzfällen sichtbar zum Ausdrude. Wir bezeichnen als G e w i s s e n s e h e eine Ehe ohne Rechtsform. Die Verwendung des Begriffs »Ehe" ist in diesem Fall überhaupt nur im Blidc auf die Intention der beteiligten „Gatten" möglich, die diesem Verhältnis Dauer verleihen möchten. Aber sie verzichten dabei auf den Rechtsschutz und nehmen keine Garantie der öffentlichen Ordnung f ü r ihre „Ehe" in Anspruch. Für die Kirche ergibt sich hierbei die Frage, ob sie audi ohne eine staatliche (standesamtliche) Legalisierung einer solchen unvollkommenen Ehe eine Trauung vornehmen kann oder gar soll. Nach katholischer A u f fassung ist ja die kirchliche Trauung f ü r die Gültigkeit des Ehesakraments entscheidend. Die evangelische Kirche kennt diese Voraussetzungen nidit. Sie wird im allgemeinen darauf beharren müssen, daß die Ehe nadi ihrem Verständnis der Rechtsform bedarf und daß der kirchlichen Trauung keine öffentlichen Rechtsfolgen anhaften. Dennoch lassen sich in statu confessionis Fälle denken, wo der Trost einer christlichen Approbation einer Ehe, die vielleicht nach geltendem Recht gar nicht legalisiert werden kann, nicht versagt werden darf. Ich denke dabei etwa an Ehen, die wegen einer bestehenden Rassegesetzgebung nicht gültig geschlossen werden können. Umgekehrt bezeichnen wir als S c h e i n e h e n solche, die nur der Rechtsform nadi bestehen, die aber nicht tatsächlich „vollzogen" werden. Die angeblichen Eheleute haben also kein gemeinsames Leben, keine leibliche Gemeinschaft usw., wie es ζ. B. bei Kriegsehen der Fall war, die unmittelbar nach der Eheschließung getrennt wurden und in vielen Fällen zerbrachen. Hier müßte sich die Kirche, natürlich nie ohne Ansehung der konkreten Fälle, entschließen, einer Scheinehe den Charakter einer gültigen Ehe abzusprechen. Demzufolge hätte dann auch eine „Scheidung" keine eigentliche Bedeutung und würde keine Hinderung darstellen, wenn junge Menschen nach dem Irrtum einer solchen Scheinehe eine wirkliche Ehe eingehen wollen. Die k i r c h l i c h e Trauung ist nach evangelischer Anschauung w e d e r für die Gültigkeit einer E h e überhaupt noch für eine christliche Ehe konstitutiv. Sie ist auch ohne Schriftgrund. Es sind vielmehr z w e i andere Gründe, welche den Brauch der kirchlichen Trauung sachlich redit fertigen. V o n der langen Vorgeschichte der kirchlichen Trauung, in der sie die einzige Form der öffentlichen Eheschließung w a r , können wir in diesem Zusammenhang absehen. D e r eine Grund, der die kirchliche Trauung rechtfertigt, liegt darin, daß sich die christliche Auffassung der Ehe nicht v o n selbst versteht. Viele andere Eheauffassungen treten in der heutigen Welt mit der
Die Ehe
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christlichen und auch mit der evangelischen Auffassung in Konkurrenz. Man denke etwa an die Meinung, die Ehe sei auflösbar oder eine Ehe zwischen Christen ungleichen Bekenntnisses sei keine gültige Ehe. Auch rassische und andere Ideologien beeinträchtigen die Reinheit des christlichen Ehegedankens. Demgegenüber bringt die kirchliche Trauung die göttlidie Ordnung und die christliche Auffassung zur Geltung. Der andere Grund hängt damit unmittelbar zusammen. Man kann nicht damit rechnen, daß sich Brautleute auf die christliche Ordnung hin verbinden, wenn sie eine Ehe schließen. Es kann sein, daß sie diese Ordnung etwa durch eine vorausgegangene Scheidung bereits verletzt haben. Darum ist es nötig, daß die christliche Gemeinde sich des Bekenntnisses zur christlichen Ehe bei den Brautleuten in ihren eigenen Reihen versichert und daß sie zugleich dem Brautpaar bestätigt, daß die Gemeinde diese neue Ehe anerkennt und bei sich aufnimmt. Dieser Sinngebung der kirchlichen Trauung entspricht dann auch ihre Gestaltung. Sie ist ein Verkündigungsakt. In freier Predigt und durch den agendarischen Text der Handlung wird die göttliche Ordnung der Ehe verkündigt. Seitens der Brautleute ist die Trauung ein Bekenntnisakt: indem sie die Trauung in der Kirche begehren, bekennen sie sich zur „christlichen Ehe" und zu keiner anderen und haben das auf eine Befragung hin audi laut und ausdrücklich zu bestätigen. Wiederum erkennt die christliche Gemeinde durch ihr Amt diese Ehe als eine christliche an und nimmt sie in ihre Mitte auf. Sie wendet dem Brautpaar Segen und Fürbitte zu. Die Brautleute haben nun in der christlichen Gemeinde ihre „Ehre", so daß man die kirchliche Trauung auch als Ehrenakt bezeichnen kann. Audi andere kirchliche Handlungen haben diesen Charakter von Ehrenakten. Sie sind zwar nicht heilsnotwendig, aber sie bringen zum Ausdruck: dieses Brautpaar, bzw. dieses „Haus" gehört nun zu uns, wie etwa auch beim Begräbnis zum Ausdruck kommt, daß der Tote ein Glied der Gemeinde war. Ehrenakte können wegen dieser Bedeutung auch verweigert werden. Man kann Brautleute, die sich kirchlich trauen lassen wollen, auch abweisen, wenn ihre Lebensführung oder die beabsichtigte Ehe der christlichen Ordnung widerspricht. Auch die Abweisung ist ein Zeugnis der Gemeinde. Man beraubt die Menschen mit einer solchen Abweisung nicht des Heiles — ein unvollziehbarer Gedanke —, man verhindert auch nicht ihre Eheschließung, weil diese ja nach weltlichem Recht vorgenommen wird. Aber man bezeugt ihnen, daß diese Ehe nicht die Zustimmung der Gemeinde findet.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
b) B i b l i s c h e s L e i t b i l d u n d g e s c h i c h t l i c h e r W a n d e l . Die Ehe ist eine überaus zerbrechliche Ordnung. Ihre Einbettung in die „Natur" hat zur Folge, daß Geburt und Tod, Jugend und Altern die Gestalt jeder Ehe dem Wandel unterwerfen. Leidenschaften bedrohen sie ebensosehr wie die Versuchung durch unvorhergesehene Begegnungen, aber auch durch unverschuldete Trennungen, ζ. B. in Kriegszeiten. Immer wieder kommt es zu Trübungen des Bildes der Ehe in den Vorstellungen der Menschen. Darum gehört es zu den wichtigsten Schutzmaßnahmen f ü r die Ehe, daß das christliche Leitbild der Ehe im Bewußtsein befestigt wird. Aber das ist gar nicht so einfach. Selbst die Bibel gibt nicht kurzerhand einen Grundsatz oder gar so etwas wie eine Definition der Ehe her. Und dodi wäre es eine übertriebene Skepsis, wollte man leugnen, daß sich so etwas wie ein biblisches Leitbild von der Ehe durchaus erheben läßt. Es gibt, bei aller Differenzierung im einzelnen, sowohl im Blick auf den exegetischen Befund als auch im Blick auf die kirchengeschichtliche Mannigfaltigkeit, ein grundlegendes Einverständnis der Christenheit über die Ehe. Es handelt sich im großen und ganzen um sechs Sätze. Sie erschöpfen keineswegs alles, was „christlich'' über die Ehe gesagt werden kann; sie führen, besonders auf das moderne Bewußtsein gesehen, manche Problematik mit sich. Aber sie sind es dodi im wesentlichen, was man bei der Rede von einer göttlichen Einsetzung der Ehe im Auge hat: In diesen Einsichten und Forderungen sammelt sich all das, was gemeinhin das christliche, das biblische Leitbild der Ehe unter Berufung auf Gottes Willen mit einem tiefen Anspruch an das Gewissen des einzelnen ausstattet. Erstens: Die ursprünglich von Gott gemeinte Eheordnung ist die M o n o g a m i e . Die ersten Menschen des biblisdien Schöpfungsberichtes, Adam und Eva, sind das Urbild der Ehe. Die Geschichte von ihrer Zweisamkeit ist „Gesetz" (Thora). So hat der „Schöpfer am Anfang" (Mt 19, 4) die Menschen gemacht. Im Neuen Testament wird die Einehe bei allen Worten über die Ehe einfach vorausgesetzt. Im Alten Testament geht die Einehe zwar schon bald verloren: Lamech nahm zwei Frauen (Gen 4,19) und von den Patriarchen lebt Jakob polygam. Im Neuen Testament wird daran keine Kritik geübt, aber der Blick geht darüber hinweg auf das „Ursprüngliche". Die Ehe hat sodann nach dem Schöpfungsbericht deutliche Z w e c k e : gegenseitige Hilfe (Gen 2,18) und die Erhaltung des Menschengeschlechts (Gen 1, 28). Darin liegt ihre untrennbare Einheit und die Bestätigung ihres Segens. Die beiden Menschen, Mann und Frau,
Die Ehe
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werden ein Fleisch sein, sie werden Kinder haben (Gen 2, 23—25; von Jesus bestätigt Mt 19, 5). Mann und Frau werden durch leidenschaftliches Verlangen aneinander gebunden sein (Gen 3,16). Die eheliche Liebe und Fürsorge wird in den Haustafeln (Eph 5, 29) unter Berufung auf das Wort von dem einen Fleisch bekräftigt und bestätigt: Niemand hat je sein eigenes Fleisch gehaßt, sondern er nährt es und pflegt es. Liebe und Leidenschaft zwischen den Geschlechtern sind der Bibel also wohlbekannt. Sie werden als Tatsache ausgesagt, aber über das Zustandekommen der Ehe, über das Sichfinden der Gatten ist nirgends etwas vorgeschrieben. Die P r i o r i t ä t d e s M a n n e s in der Ehe kommt schon im Schöpfungsbericht zum Ausdruck (Gen 2 , 2 1 f.). Der Mann ist zuerst geschaffen. Er ist des Weibes H a u p t : 1 Kor 11, 3 ff. und Eph 5, 22 ff. Werden aber schon in den Anweisungen der Haustafeln daraus eher Pflichten als Rechte des Mannes abgeleitet, so läßt der Apostel keinen Zweifel daran, daß in der Gemeinde und vor Gott alle Vorrechte, wie der Juden vor den Griechen, so auch die des Mannes vor dem Weibe aufgehoben sind (Gal 3, 28). Wollte man also den modernen Gedanken der G l e i c h b e r e c h t i g u n g hier ins Spiel bringen, so müßte man sagen, daß ein Patriarchalismus ebensowenig „biblisch" ist wie die Gleichberechtigung. Diese bezieht sich doch zunächst auf die Stellung der Frau vor dem Gesetz und in der Öffentlichkeit und ist angesichts der unabtauschbaren natürlichen Konstitutionen von Mann und Frau nicht mechanisch durchführbar. Worum es hier geht, wird sofort deutlich, wenn man statt auf die Rechte auf die Pflichten und ihre charakteristische Verteilung in der Ehe blickt. Es sind hier nicht Vorschriften ausgesagt, sondern innere Maße angedeutet, die das Zusammenleben von Mann und Frau in der Ehe und das Bestehen der Ehe selbst leiten sollen. Weiterhin ist die U n a u f l ö s l i c h k e i t d e r E h e i n d e r Bibel keinen Augenblick fraglich. Das Scheidungsverbot gilt absolut: Gen 2, 24 und Mt 19, 3 ff. Es ist die „ursprüngliche" Ordnung. Die Christen sind an das gebunden, was von diesem Ursprung her gilt, nicht an das, was nachträglich an Behelfen eingefügt worden ist, um die Folgen menschlicher Untreue und menschlichen Versagens nicht ins Ungemessene wachsen zu lassen. Die mosaische Erlaubnins, dem ungetreuen Weibe einen Scheidebrief zu geben und sich von ihm zu scheiden, gilt um der Hartherzigkeit willen; das ist nicht „ursprünglich" und kann daher keine Ordnung für die Gemeinde Jesu sein. 21 T r i l l h a a s , E t h i k
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
Als Fünftes ist zu nennen, daß die Ehe den V o r r a n g vor allen Verwandtschaftsgraden hat. Wer heiratet, verläßt selbst Vater und Mutter um der Ehe willen: Gen 2 , 2 4 und Mt 19, 5. Die Ehe ist schließlich nach biblischer Anschauung nur eine irdische und keine himmlische, eine zeitliche und keine ewige Verbindung von Mann und Frau. Der Tod trennt die Ehe. Unter den Vollendeten gibt es keine Ehen: Mt 22, 23 ff. Wäre es anders, dann müßte eine zweite Ehe als Bigamie verstanden werden, wie es in der Tat zuweilen in der altkirchlichen (orientalischen) Tradition der Fall war. Möglicherweise richtet sich die pastorale Regel für die Ehe der Episkopen 1 Tim 3, 2, daß der Bischof nur „eines Weibes Mann" sein dürfe, gegen die „sukzessive Bigamie" in dem geschilderten Sinne. Trotzdem ist die Vorstellung von einer bis in die Ewigkeit reichenden „himmlischen" Ehe (Swedenborg) ohne Schriftgrund. Diese sechs Sätze bedeuten so etwas wie eine Quintessenz biblischer Aussagen über die Ehe, zugleich aber auch den Kern eines allgemeinen christlichen Leitbildes. Die Berufung auf Schriftstellen berechtigt nicht dazu, die zwingende Macht dieses Leitbildes als Biblizismus abzutun. Das geht deswegen nicht, weil dieser Begriff von Ehe denkbar nüchtern und weltlich ist und nichts enthält, was nicht von der Ehe aller Menschen gelten könnte, ohne daß sie „Christen" sein müssen. Sie stellen überdies ein Minimum dessen dar, was man über die Ehe aussagen kann. Man kann schon „christlich" noch mehr über sie sagen. Dieses Bild läßt dem kulturellen und rechtsgeschichtlichen Wandel noch Spielraum genug, es nimmt nichts vorweg, was sich an Lebensregeln, an Lebensweisheit, vielleicht auch an psychologischer Erkenntnis in das Bild der Ehe einzeichnen ließe. Tiefenpsychologie und Psychotherapie werden durch diese rudimentären Sätze nicht überflüssig. Doch bezeichnen diese Sätze, so will mir scheinen, alle die Punkte, in denen das christliche Leitbild von der Ehe dem Gewissen zu schaffen macht. Christliche Einsichten, die sich über das beschriebene Leitbild hinaus aus der Hl. Schrift nahelegen, bedeuten keine lehrhaften Zusätze mehr, sondern sie beziehen sich vorwiegend auf die innere Einstellung des Glaubens zur Ehe. Mögen sie auch gleichsam eine „Theologie der E h e " im tieferen Sinne darstellen, so erfüllen sie sich doch vorwiegend im Selbstverständnis des christlichen Lebens. Diese u. U . sehr wichtigen und hilfreichen Einsichten sind etwa folgende: Die Ehe ist eine Quelle irdischer Freuden und irdischen Segens. Gottes Güte und Freundlichkeit begegnet uns in ihr in sichtbarer Weise. Die Ehe ist eine Schule der Liebe (Eph 5, 33), sie ist zur Bewahrung der Keuschheit geordnet (1 K o r 7 , 1 — 9 ) , ein Gedanke, der bekanntlich Luther sehr wichtig war, der gelegentlich in polemischer Zuspitzung die Ehe als den einzigen
Die Ehe
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keuschen Stand bezeichnen konnte. Schließlich hat die Ehe auch ihre besondere Trübsal (Gen 3, 16 ff.), von der Paulus die Seinen gerne verschont wissen wollte (1 K o r 7, 25—40). Nach Eph 5, 22—33 ist die unauflösliche Verbundenheit der Ehegatten ein Gleichnis für die unauflösliche Einheit des Hauptes Christus mit seiner Gemeinde. In dieser Gleichnisfähigkeit wird in der T a t die reine Weltlichkeit der Ehe überschritten. (Die Gleichnisfähigkeit der irdischen Hochzeit und weltlicher Hochzeitsfeiern mit dem messianisdien Mahl, ζ. B. Mt 22, 2 ff. ; 25, 10 u. ö. gehört nicht in diesen Zusammenhang). Von hier aus ist es dann möglich gewesen, daß man von einer hierarchischen Ordnung der Ehe gesprochen hat. Solche Konsequenzen verschieben aber das ganz weltlich gemeinte Bild der Ehe. Denn göttliche Stiftung und Einsetzung stehen ja mit der Weltlichkeit der Ehe nicht im Widerspruch. D a s Gleichnis von E p h 5 ist eben ein Gleichnis und f ü g t die Ehe nicht in eine Heilsordnung ein, die dann gewissermaßen von dem H a u p t e Christus über mehrere Stufen bis herab zu den Ehefrauen reicht.
Der geschichtliche Wandel, den wir in der modernen Welt im Bezug auf die Eheordnung erfahren, kommt uns dadurch zum Bewußtsein, daß man mit der christlichen Ehelehre die Vorstellung von einer patriarchalischen Ordnung verbunden hat, die in der vorindustriellen Gesellschaft eine Realität war, aber heute vergangen ist. Wir können die Veränderung gegenüber dieser alten Welt sehr genau beschreiben. Das „Haus", das mit jeder Eheschließung gegründet wird, ist meistens gar kein Haus im wörtlichen Sinne mehr. Es ist eine kleine Wohnung, häufig gewechselt, wie es die mobile Welt mit sich bringt, der jeder moderne Mensch zugehört. Durchweg ist die Kinderzahl beschränkt, sie ist bewußt oder unbewußt „geplant". Für die Ehefrau besteht nicht mehr, wie noch vor Jahrzehnten, eine Alternative zwischen Ehe und Beruf; eines verbindet sich mit dem anderen und hat einen neuen Stil von Ehe zur Folge. „Monogamie" bedeutet heute deutlicher als je zuvor eine Zweisamkeit von Mann und Frau aus eigener Wahl ohne Mitsprache der Großfamilie, der Sippe. Demzufolge überwiegen in der Gestaltung der Ehen die Persönlichkeitsinteressen. Man sucht die gegenseitige Ergänzung, ein Erbe der Romantik, das auch in einer unromantischen Zeit ungebrochen in Kraft steht. Die Sexualisierung der Ehe, die mit der klaren Vernünftigkeit in geschlechtlichen Dingen nicht im Widerspruch steht, ist auf die Erhaltung der bindenden Sympathie der Ehegatten angelegt. Die Intimsphäre der Ehe gewinnt entscheidende Bedeutung. Mit dem Vorwiegen der Persönlichkeitsinteressen werden nun auch eigenartige Wachstumsvorstellungen wichtig und beherrschen sowohl das eigene Nachdenken über die Ehe wie die Eheberatung. Man erwägt die Reife zur Ehe und stellt bei manchen Ehekrisen die mangelnde Reife fest. Man fordert für junge Ehen mit Recht 21
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
eine „Schonfrist" und weiß, daß man in die Ehe „hineinwachsen muß". Man freut sidi, wenn eine Ehe „erfüllt" ist und beklagt „unerfüllte Ehen". Dieser Wandel verlagert das ganze Eheproblem nach innen. Ihm entspricht die vermehrte Krisenanfälligkeit der modernen Ehe. Zu den herkömmlichen Krisenursachen kommen immer neue hinzu, und zwar in der Reihe zunehmender Verfeinerung und immer geringerer Greifbarkeit, wie es sich in dem immer ausgedehnteren Katalog anerkannter, vor allem aber auch möglicher Scheidungsgründe widerspiegelt. Mischehe oder Kinderlosigkeit treten dabei in den Hintergrund. Die Gefährdung der Ehe durch den Beruf eines Eheteiles wird in vielen Fällen bedeutsam: der Beruf bringt eine innere Befriedigung, die man in der Ehe nicht gefunden hat; oder der Beruf bringt es an den Tag, daß die Frau in der T a t stärker ist als der Mann. Unheilbare Krankheiten mögen immer eine Krise vieler Ehen bedeuten. Aber der häufig genannte Grund unüberwindlicher Abneigung oder seelischer Grausamkeit zeigt symptomatisch die moderne Innenproblematik heutiger Ehen. Dazu kommen die ungleichen Rhythmen des Alterns, Krisen, die durch vorzeitiges Klimakterium des einen Eheteiles ausgelöst werden. Zu aller Zeit hat es diese Krisen gegeben. Aber eine immer mehr auf die inneren Bezirke reflektierende Ehe wird nun hier in einem früher nicht gekannten Ausmaß krisenanfällig. Uberraschend ist es, daß dieser wahrlich bis in die Tiefe reichende Wandel die eigentliche Sache des dargelegten biblischen Leitbildes gar nicht berührt. Gewiß, die Rangordnung in der Ehe muß in einer Welt, f ü r die der alte Patriarchalismus vergangen ist, neu interpretiert werden. Uberordnung und Untertansein werden, als Dienstmotive verstanden, einen neuen Sinn erhalten und zugleich den Zugang zu einer realeren Sicht der Geschlechterbeziehung offenhalten, als das in einer illusionären Modernität der Ehe Vorstellung der Fall ist. Gewiß, je klarer der moderne Mensch über seine Ehe nachdenkt, desto nüchterner werden die vernünftigen Erwägungen bis hin zu einer erheblichen Rationalität sein Handeln lenken. Aber das alles widerspricht nicht dem biblischen Leitbild, dessen Größe eben darin besteht, daß es audi in der veränderten Welt der Natürlichkeit der Ehe in einer überraschenden Elastizität Recht gibt und doch darin umsomehr an die Einsetzung durch den Schöpfer erinnert, die dem Menschen für seine Ehe die Richtung zeigt und die befreiende Hilfe anbietet. c ) D i e U n a u f l ö s l i c h k e i t d e r E h e . Von den verschiedenen Wesenszügen der „christlichen Ehe" ist in der modernen Welt
D i e Ehe
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die Unauflöslichkeit wohl der umstrittenste. Hier sammelt sich alles Für und Wider, und sogar die konfessionelle Auseinandersetzung zwischen der evangelischen und katholischen Kirche hat sich dieses Grundsatzes bemächtigt. Das Prinzip der Unauflöslichkeit ist offenkundig sehr unelastisch, so daß es in Theorie und Praxis leidenschaftlichen Widerspruch herausfordert. Darum wird hierüber ein besonderes Wort nötig sein. Der Grundsatz der Unauflöslichkeit der Ehe setzt voraus, daß die Ehe rechtsgültig geworden ist (matrimonium legitimum) und daß sie wirklich „vollzogen" worden ist (matrimonium consummatum). Es ist also nicht von der Unauflöslichkeit einer sog. Gewissensehe die Rede; es kann sogar ein eminentes sittliches Interesse an der Auflösung einer nicht vertretbaren Gewissensehe vorliegen. Ebenso kann man eine bloß formal geschlossene Ehe oder Scheinehe nicht als Ehe im eigentlichen und vollen Sinne bezeichnen, also eine „Ehe", die gar nicht in der Absicht geschlossen wurde, eine leibliche Gemeinschaft der Gatten herzustellen oder die etwa von vornherein nur auf Zeit berechnet war. Eheschließungen, die nur erfolgen, um den an sich getrennten „Partnern" Rechte und Vorteile von Verheirateten, etwa Wohnrechte zu verschaffen, sind als solche noch nicht vollzogene Ehen. Die Untrennbarkeit einer rechtsgültigen und vollzogenen Ehe ist unter Christen unverbrüchliche Regel. Hierüber kann es keinen Prinzipienstreit unter den Konfessionen geben. Das schließt nicht aus, daß die katholische Kirdie die Rechtsgültigkeit einer E h e nach dem kanonischen Recht, die evangelische Auffassung nach dem geltenden staatlichen Recht bemißt. Ebenso entstehen unterhalb des fraglosen Prinzips der Unauflöslichkeit noch andere Differenzen. Sie sind nicht einfach als Erweichungen zu verstehen, sondern sind im Grunde exegetische Differenzen. Einmal l ä ß t Paulus 1 K o r 7,15 im Falle der Glaubensverschiedenheit, also im Falle einer Ehe zwischen einem Christen und einem Heiden eine Scheidung zu. K a n n man diese apostolische Erlaubnis aber auch für die Ehe zwischen Christen verschiedener Konfession heranziehen? D i e evangelische Überzeugung steht hier eindeutig dagegen. D i e katholische Kirdie neigte bisher dazu, das Privilegium Paulinum im Falle einer nichtkatholischen ersten aufgelösten Ehe mit einem „ungläubigen" Teil zugunsten einer katholischen Ehe auszulegen. D i e einschlägigen Bestimmungen des C I C (c. 1 1 2 0 ff.) lassen hier einen erheblichen Spielraum der Auslegung zu, ob die Ehe eines Akatholiken als gültig auch dann angesehen wird, wenn sie nicht katholisch geschlossen worden ist. Auch die sog. Ehebruchsklauseln (Mt 5, 3 2 u. 19, 8 f.) lassen verschiedene Auslegungen zu. D e r jetzt vorliegende T e x t , bei dem die Literarkritik freilich mildernde Interpolation vermutet, enthält die einschränkende Klausel bei dem absoluten Sdieidungsverbot: „ausgenommen im Falle von Unzucht". Aber ist diese Klausel (παρεκτός λόγου πορνείας) so richtig übersetzt? Die
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
katholische Exegese neigt zu der den rigorosen Grundsatz bestätigenden Übersetzung: „nicht einmal im Falle von Unzucht". Jedenfalls läßt sich angesichts des heute vorliegenden Textes die Auffassung rechtfertigen, daß im Falle ehelicher Untreue der „unschuldige" Teil zu einer neuen Ehe frei sei. Es läßt sich nicht leugnen, daß abgesehen von den literarkritischen Bedenken audi sachliche Einwendungen erhoben werden können. Soll nur von einer Untreue der Frau die Rede sein? Und wer kann denn im Falle einer ehelichen Zerrüttung wirklich „Unsdiuld" in Anspruch nehmen? Zur exegetischen Frage vgl. H. Baltensweiler, Die Ehe im N T , 1967 z. St. — Über die Bestimmungen des kanonischen Rechts betr. Ehescheidung (CIC cc. 1118—1132) vgl. E. Eichmann — K . Mörsdorf: Lehrbudi des Kirchenrechts II, 1967 11 — Art. Ehescheidung (F. K . Schumann) R G G II, 336 ff. — G. Gloege: Vom Ethos der Ehescheidung, in: Beiträge zur hist. u. syst. Theologie, Gedenkschrift f. W. Eiert, 1955, 335 ff. — H. Thielicke a. a. O. 695 f. — Richard N. Soulen: Marriage and Divorce, Interpretation 1969, 439 ff. N u n kann die Unauflöslichkeit der Ehe in keinem Falle als starres Prinzip durchgehalten werden. Das scheitert schon an der tiefgreifenden Verschiedenheit einzelner Ehen. Audi nach katholischem Eherecht kann eine ungültige Ehe vermittels eines Eheprozesses getrennt werden. Die Scheidung einer gültigen Ehe ist immerhin möglich, wenn sie noch nicht „vollzogen" ist. „Halbchristliche" Ehen können sogar dann geschieden werden, wenn sie „vollzogen" sind, und zwar auf Grund des Privilegium Paulinum (vgl. Barion R G G II, 333). Nach evangelischem Verständnis stehen dem Prinzip absoluter U n sdieidbarkeit einer Ehe immerhin zwei Gesichtspunkte entgegen. Es ist einmal der W o r t l a u t der Schriftstellen, die in dem textus receptus, wie schon gezeigt, jedenfalls die Unzucht (πορνεία im Sinne von Ehebruch) als legitimen Scheidungsgrund nennen. Es ist ferner die Bestreitung des Sakramentscharakters der Ehe, wodurch der Weg zu einer bürgerlich-rechtlichen Regelung der Ehesachen freigelegt wurde. D a r auf bezieht sich dann auch die gelegentliche Bemerkung im Tractatus de potestate et primatu papae ( B S L K 4 9 4 ) : „Iniusta etiam
traditio
est, quae prohibet coniugium personae innocenti post factum divortium". Es lassen sich mancherlei Gründe nennen, welche die Sdieidung rechtfertigen könnten.
Der schuldhafte und unbereute, daher
auch unvergebene Ehebruch des anderen Gatten
steht
dabei
immer
voran. Es ist ferner daran zu denken, daß sich die Ehezwecke nicht erfüllen, daß statt des erwarteten
und
erhofften Kindersegens
sich
Kinderlosigkeit einstellt, daß ein Gatte hilfsbedürftig wird und daß sich durch ein
unheilbares Leiden
die eheliche Gemeinschaft
nicht
fortsetzen läßt. Leichtfertig geschlossene Ehen können sich als unerträglich, als Irrtum und Lüge erweisen. Lange Trennungen, wie sie
Die Ehe
327
etwa durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft veranlaßt waren, können zu völliger Entfremdung der Gatten führen. Es gibt zweifellos Fälle, in denen die Fortsetzung der ehelichen Gemeinschaft unzumutbar ist, weil die eheliche Gemeinschaft nur eine Quelle fortwährender Zerwürfnisse, lähmenden Zwistes und tödlichen Mißtrauens wäre. Freilich sind schon nach dieser flüchtigen Übersicht über die hier bestehenden Möglichkeiten auch solche Fälle deutlich, in denen einfach die Kreuzesscheu erkennbar ist, nämlich die innere Weigerung zu tragen, was Gott auferlegt hat, und die Probe zu bestehen, die er von uns fordert. Aber was bedeutet nun praktisch dieser Grundsatz der Unauflöslichkeit? Er bedeutet nicht ein Verbot der Trennung. Er kann es schon darum nicht bedeuten, weil ja Pflidit und Beruf unablässig Situationen schaffen, in denen sich die Ehegatten „trennen" müssen. Weite Reisen aus beruflichen Gründen, Krankheiten, Krieg und Gefangenschaft können den Gatten sogar sehr lange Trennungen auferlegen. Solche Trennungen können auch heilsam sein. Sie müssen in keinem der genannten Fälle eine „Auflösung" der Ehe bedeuten, wenn es sich auch im einzelnen Falle, etwa bei Kriegsdienst und Gefangenschaft um schwere Gefährdung der Ehe handeln mag. Das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit kann sogar sdiwere gegenseitige Verschuldungen, Ehewidrigkeiten und Zerrüttungen der Ehe überdauern. Auch nach langen Trennungen ist die „Versöhnung" (1 Kor 7,10 f.) möglich, und sie soll als Ziel nicht aus dem Auge gelassen werden. Die Ehelosigkeit, welche der Apostel hier fordert, hat geradezu ihren Zweck darin, die Wiederversöhnung der getrennten Gatten zu ermöglichen. Geht einer der getrennten Gatten eine neue Ehe ein, dann wird eben diese Wiederversöhnung unmöglich gemacht. Gegenüber diesen elementaren Grundsätzen hat sich aber die Situation zur Gegenwart hin in dreifacher Weise verschärft. Einmal ist das öffentliche Bedürfnis nach einem allgemeingültigen Scheidungsrecht mit dem rigorosen christlichen Urteil nicht mehr zur Deckung zu bringen. Zwar liegt schon in der Unterscheidung Jesu (Mt 19, 7—9) zwischen der „ursprünglichen" Ordnung, die Jesus für seine Gemeinde erneuert, und der Mosesordnung, welche den „Scheidebrief" zuläßt, ein doppeltes Kriterium für das Scheidungsproblem. Aber die heutige Lage läßt sich darin nicht wieder erkennen; denn die Pragmatik der für alle geltenden Rechtsordnung nimmt auf religiöse Begründungen keine Rücksicht, so sehr sie auch an dem Verständnis der Ehe als einer sittlich zu verantwortenden Gemeinschaft von Mann und
328
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Frau auf Lebensdauer festhalten muß. Aber das schließt eben Scheidungsfälle nicht aus, denen Rechnung zu tragen ist, und diese Ordnung gilt für alle, also auch für die Christen. Und es bleibt darüber hinaus ein immer offenes Problem, bis zu welchem Grade „christliche" Kriterien auch bei der Gestaltung des allgemeingültigen Ehescheidungsrechtes einzubringen sind. So sehr ein allgemeines, säkulares Ehescheidungsrecht auch theologisch gerechtfertigt ist, so kann doch das christliche Urteil, dem die kirchliche Praxis folgen soll, sich im konkreten Falle von einem Gerichtsurteil (ζ. B. in der Beurteilung der Schuldfrage) trennen. Es kommt hinzu, daß die Scheidungsfälle in der modernen Gesellschaft zahlreicher werden. Das ist nicht nur eine statistische Feststellung, sondern macht die zunehmende Labilität der Ehe, ihre sozialgeschichtlich begründete Fragilität sichtbar. Die Gleichberechtigung der Geschlechter, welche Mann und Frau nicht nur in beruflicher Hinsicht, sondern auch gesellschaftlich verselbständigt und ihnen je eigene Lebenskreise öffnet, die Mobilität der Gesellschaft, und vor allem die Sexualisierung der Ehe — dies und vieles andere überschreitet weit die einfachen Krisenfälle früherer Zeit. Die Variationsbreite der Scheidungsgründe wird von dem verhältnismäßig primitiven Schuldbegriff nicht mehr eingefangen. Die Skala reicht von dem leichtfertigen Wechsel der „Partner" im Scheinwerferlicht der Illustriertenpresse über Eheverfehlungen, Trennungen, Zerrüttungen bis hin zum Verlassen des hilflos gewordenen Gatten und wiederum bis hin zur tragischen Konfliktsituation. Die Anwendung des Schuldbegriffes wird immer problematischer. Die wirklich in die Tiefe reichende Schuld, die Unfähigkeit zur Vergebung, wird durch keinen Prozeß, durch kein Urteil erfaßt werden können. Die Vorstellung, in einem Prozeß Schuld und Unschuld auf den einen und den anderen verteilen zu können, hat wohl der Absicht gegolten, die Last der Rechtsfolgen zu verteilen. Jedenfalls war es in der älteren kirchlichen Praxis der Protestanten so, daß der „unschuldig" Geschiedene unbedenklich sich wiederverheiraten und durch die Trauung überdies so etwas wie eine bürgerliche Rehabilitation erhoffen konnte. Aber dieses Aufgebot des Schuldbegriffs ist oberflächlich und naiv, es wird überdies zu einem Gegenstand der prozessualen Manipulation. Freilich muß auch dann, wenn in einer besseren Rechtsordnung dem Zerrüttungsbegriff der Vorrang gegeben wird, dieser Rechtsgrund genau definiert und gegen jeden Mißbrauch abgesichert werden.
329
Die Ehe
Die dritte Erschwerung ergibt sich unmittelbar aus dem Vorhergesagten. Es ist das Dilemma des seelsorgerlichen Interesses. Wenn man es pauschal und grob bezeichnen will, so stehen sich z w e i Motive diametral gegenüber. A u f der einen Seite ist es ein evidentes christliches Anliegen, Wunden zu heilen, in Krisen zurechtzuhelfen, Mann und Frau in ihrer Ehe zu dauerhaften Verhältnissen zu verhelfen, in denen sie miteinander guten Gewissens ein gemeinsames Leben aufbauen können. Das kann aber im konkreten Falle nadi einer gescheiterten ersten Ehe auch einer zweiten zugute kommen. A u f der anderen Seite hat die christliche Gemeinde ein unmißverständliches Zeugnis für die Unauflöslichkeit der Ehe
(im Sinne der
radikalsten
Form
von
„Liebe")
abzulegen. Wiederum kann das im konkreten Falle die Verweigerung der Wiedertrauung eines Geschiedenen oder audi die Sanktionierung einer offenkundig zerrütteten Ehe bedeuten. M a n sieht, daß das konsequente Prinzip allein nicht helfen kann. M a n kann die beiden entgegenlaufenden Grundsätze auch so auslegen: Es liegt im seelsorgerlichen Interesse (und das heißt dann: auf der Linie christlicher Ethik), gefährdete Ehen zu stützen und ihnen zu einem fruchtbaren Neubeginn zu verhelfen. Es kann aber auch dazu führen, daß unaufhaltsame Scheidungen gededkt werden müssen, weil „Ehen", welche zum Gefängnis und zur H ö l l e geworden sind, nicht einmal mehr den Namen einer Ehe verdienen. Die Ethik kann heute sich nicht darauf beschränken, das Idealbild einer „christlichen" Ehe mit der Wirklichkeit tatsächlicher moderner Ehen zu konfrontieren. N u r wenn es gelingt, in die unendlich komplizierten modernen Verhältnisse das Grundsätzliche sorgfältig einzuzeichnen, dann kann die Ethik helfen. In dieser Hinwendung zur „Praxis", die also dann in der Eheberatung und Seelsorge ihren Wahrheitsbeweis antreten muß, scheinen mir vier Gesichtspunkte wichtig zu sein. Im Blick auf die Ehe, welche der Scheidung verfallen soll, ist immer die Frage berechtigt: W a r diese Ehe wirklich eine „Ehe"? D e r Hinweis darauf, daß darüber ja das geltende Recht entscheidet, kann für das christliche, für das ethische Urteil nicht den Ausschlag geben. Auch eine dem staatlichen Recht genügende Ehe kann von A n f a n g an so schwere innere Mängel aufweisen, daß sie den Ehecharakter des Verhältnisses infrage stellen. Ich denke etwa daran, d a ß gar keine Absicht auf eine lebenslängliche Ehe bestand, oder daß sich die Partner die leibliche Vereinigung verweigerten, oder d a ß Dreiecksverhältnisse einbezogen wurden oder Roheit und Grausamkeit und Betrug im Spiele
330
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
waren. Man wird in einem solchen Falle urteilen müssen, daß der Begriff der „Scheidung" fehl am Platz ist und daß es sich tatsächlich um eine Annullierung handelt. Wenn es sich um eine Scheidung handelt, welche schon eine neue Ehe im Blick hat, dann wird zunächst gelten müssen, daß die Untrennbarkeit der Ehe einen unendlichen Vorzug vor der Auflösung der Ehe hat. Aber so richtig dieser Grundsatz ist: Es wird zu prüfen sein, ob er der bestehenden oder der zukünftigen Ehe zugute kommt. Unhaltbar gewordene, also „zerrüttete" Ehen sind bereits nicht mehr „unauflöslich". Und ein neues Verhältnis kann eingegangen werden im Wunsche, endlich eine unlösliche Ehe im Vollsinne eingehen zu dürfen. Ebenso kann der Gedanke der Unauflöslichkeit, im Gewissen gegriffen und bejaht, über Untiefen und Verfehlungen hinweg zur Heilung und Erneuerung einer alten Ehe helfen. Aber auch das Folgende ist bei einer Ehescheidung zu bedenken: Audi eine geschiedene Ehe wird ja nicht vergessen, sondern sie wirkt nach. Sie ist ein untilgbares Stück der eigenen Lebensgeschichte. Sie kann Erinnerungen belastender Art zurücklassen. Sie läßt Rechtsfolgen, ζ. B. Versorgungspflichten u. ä. zurück. Vor allem aber wiegt das Schicksal der Kinder schwer, falls aus der aufgelösten Ehe Kinder vorhanden sind. Denn die Zerstörung der Ehe der Eltern kann im Bewußtsein der Kinder schwere, nie ausgesprochene Schäden zurücklassen, welche die Schädigung eines Kindes, das ohne Vater aufwächst, weit überwiegen. Man sollte sich aber schließlich auch darüber keinem Zweifel hingeben: Erst die Wiederverheiratung eines Geschiedenen mit einem anderen Gatten macht die Ehescheidung endgültig. Daraus erklären sich die harten Forderungen des Neuen Testaments (Mk 10,11 f.; 1. Kor 7,10 ff.), daß nach einer Scheidung nur Wiederversöhnung oder Ehelosigkeit in Betracht kommen dürften. Für die christliche Gemeinde, welche doch dem Wort Jesu und des Apostels folgen soll, ergibt sich eine schwierige Lage. Wenn nämlich die Ehescheidung eine Schuld ist, dann macht sich die Kirche durch die erneute Trauung eines Geschiedenen an der vorausgegangenen Scheidung mitschuldig, indem sie auch ihrerseits diese Scheidung unwiderruflich macht. Freilich muß nach dem vorhin Gesagten auch die ganz andere Möglichkeit in Betracht gezogen werden: Wenn die aufgelöste Ehe keine wirkliche „Ehe" war, sondern Betrug, Enttäuschung und Qual, dann ist es eine schwierige, sorgfältig wahrzunehmende Gelegenheit zu einem seelsorgerlichen Liebesdienst,
Die Entartung der Gcschlechtsbeziehungcn
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dem Betroffenen zu einer wirklichen und nunmehr unauflöslichen Ehe zu verhelfen. Die Frage der „Wiedertrauung Geschiedener" ist ein vielverhandeltes Thema der Praxis und der Kirchenordnung. Vielleicht kommt hier die K i r chenordnung bzw. das Kirchenrecht nicht um eine gewisse Kasuistik herum. Die pastorale Einsicht, die in jedem Falle Raum zu ihrer Entscheidung in Abwägung der Situation nötig hat, soll sich dann audi in liturgischer Wahrheit realisieren lassen. Aber diese Problematik liegt nicht unmittelbar in der Kompetenz der Ethik.
3. Die Entartung
der
Geschlechtsbeziehungen
Mit der „Entartung der Geschlechtsbeziehungen" habe ich die Abartigkeit geschlechtlicher Veranlagungen im Auge, die sich unmittelbar daran erkennen lassen, daß Triebe und Neigungen nicht in „natürlicher" Weise auf das andere Geschlecht gerichtet, sondern entweder schlechthin selbstbezogen oder auf das eigene Geschlecht gerichtet sind. Es handelt sich also um die Autoerotik und um die Homosexualität. Beide Abartigkeiten stellen kein ausschließlich ethisches Thema dar; sie stellen mindestens audi den Arzt, den Psychotherapeuten und den Seelsorger vor große Aufgaben, und bezüglich der Homosexualität besteht überdies ein bis heute offener und ungeklärter Problemkreis. Man kann aber in beiderlei Hinsicht sagen, daß die Schärfe der moralischen Bewertung und die Härte der gesellschaftlichen Bedrohung einer ruhigeren Beurteilung gewidien ist. Die Autoerotik entspringt einem Mangel; der junge Mensch — denn in der überwiegenden Zahl aller Fälle handelt es sich um junge Menschen — findet den Weg zum anderen nicht, er ist in sich verschlossen und versponnen und so äußert sich der Geschlechtsdrang bei ihm in narzißtisdier Form. Der Autoerotiker wird sich selbst zum Gegenstand der Liebe und dann auch des geschlechtlichen Begehrens. Die Masturbation, die geschlechtliche Selbstbefriedigung des einsamen Individuums, tritt nahezu in jeder jugendlichen Entwicklung auf und kann bei nüchterner Beurteilung daher gewissermaßen als eine normale Durchgangsphase der Entwicklung bezeichnet werden. Wenn man sich zu einer derartigen Nüchternheit des Urteils entschlossen hat, dann ist auch der Weg eröffnet, um das ethische Problem einzugrenzen. Die Autoerotik bedeutet dann eigentlich nur dies, daß der vitale Geschlechtsdrang der Entdeckung des liebenswerten anderen vorauseilt. Es kommt darauf an, diesem jungen Menschen zur wirklichen Welt, nämlich zum wirklichen anderen Menschen, zu einer lebendigen Öffnung seines Herzens zu verhelfen und ihn aus der Versponnenheit in sich
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
selbst zu lösen. Diese Loslösung von der Selbstbespiegelung, vom VergafFtsein in sich selbst, muß rechtzeitig geschehen, damit sich nicht die Selbstbezogenheit, das eitle Sich-um-sich-selbst-Drehen, verfestigt, das keine echte Wendung zum anderen Menschen mehr aufkommen läßt. Dazu kommen in jungen Jahren die Gewissensbelastungen infolge der Selbstbefriedigung. Sie können sich zu schweren Traumata auswachsen. Das wuchernde Schuldgefühl, das Bewußtsein eigener „Unkeuschheit" und unnatürlicher Lustbefriedigung sind die eigentlichen Gefahren dieser Abartigkeit. Wenn man erkannt hat, daß der sexuelle Exzeß (es gibt ja auch viele Fälle ohne förmliche Masturbation) gar nicht so schuldhaft ist, wie man in der Nachwirkung uralter Überlieferungen meint (weil nämlich der männliche Same als Träger göttlicher Kraft nicht vergeudet werden dürfe) — wenn man erkannt hat, daß diese Abart eigentlich nur eine Schwäche ist, die wir überwinden sollen und audi überwinden können, dann ist das Entscheidende geschehen. Die Homosexualität hat in ihrer jugendlichen Frühform viel mit der Autoerotik gemeinsam. Der gleichgeschlechtliche „andere" ist ja in Wahrheit nodi kein eigentlich anderer, auch hier waltet im Grunde eine Kontaktschwädie, die sich mit dem leichter zugänglichen, nahestehenden Menschen begnügt. Überdies hat diese jugendliche Homosexualität in der geistigeren Form der Homoerotik mitunter geradezu idealistische Züge. Leidenschaftliche Jugendfreundschaften, „schwärmerische" Verehrungen haben in dem meisten Fällen einen erotischen Grund; es ist der Grund für die bekannte Erscheinung, daß es im späteren Lebensalter meist nicht mehr gelingt, Freundschaften von jugendlicher Intensität zu gewinnen, und daß oft schon die Verheiratung genügt, die jugendlichen Freundschaften innerhalb des gleichen Geschlechtes erkalten zu lassen. Man muß diese unmittelbar zugänglichen Tatbestände in Rechnung stellen, um auch in der Beurteilung des weiten Komplexes der Homosexualität ein ruhiges Urteil zu bewahren. Zu diesen vorübergehenden Phänomenen jugendlicher Homoerotik, die zur Homosexualität hinüberspielen, gesellen sich dann ähnliche, die in Zeiten längerer Trennung vom andern Geschlecht, in Kasernen, Lagern und in der Gefangenschaft auftreten. Sie sind aber vorübergehend. Auch muß sich bei jungen Menschen, die homosexuell verführt worden sind, keineswegs eine dauernde homosexuelle Neigung für das ganze Leben festsetzen. Es gibt also zweifellos erworbene, vorübergehende und heilbare Homosexualität. Damit ist das Problem leider nicht erledigt. Bis zur Stunde schwanken die wissenschaftlichen Deutungen. Gibt es eine konstitutionelle
Die Entartung der Gesdilechtsbeziehungen
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Homosexualität? Ist sie eine Anlage, womöglich eine ererbte Veranlagung oder eine Krankheit? Ist die Homosexualität immer ausschließlich oder begegnet sie uns auch in einer eigentümlichen bisexuellen Triebhaftigkeit? Wieweit sind die homosexuellen Neigungen überwindbar durch den sittlichen Willen oder heilbar, was dann vor allem eine Aufgabe für die Psychotherapie bedeuten würde? „Andere Behandlungsmethoden als die Psychotherapie gibt es nicht" (M. Zeegers, Symposion 166). Über die reichlich kontroverse Beurteilung der Homosexualität vgl. H . Bianchi u . a . : Der homosexuelle Nächste. Symposion, 1963. Art. H o m o sexualität R G G III, 441 ff. (Bailey); StL IV, 160 ff. (Bader), hier jeweils weitere Lit. Ferner H . Thielicke: Erwägungen der evangelisch-theologischen Ethik zum Problem der Homosexualität und ihrer strafrechtlichen Relevanz, Z E E 1962, 150 — H . van O y e n : Pastorale Bemerkungen zur Homophilie, Z E E 1964, 25 ff. — W . S. Schlegel: Die Homosexualität in biologischer und ethischer Sicht, Z E E 1964, 30 ff. — Plädoyer für die Abschaffung des § 175, Ed. Suhrkamp N r . 175, 1966 — Homosexualität oder Politik mit dem § 175, hrsg. von H . Giese, Rowohlt Aktuell N r . 9 4 3 , 1967 — meine Sexualethik, 4. K a p .
Die ethische Beurteilung der Homosexualität ist dadurch vor erhebliche Schwierigkeiten gestellt. Die Schwierigkeiten liegen darin, daß auf der einen Seite alle Geschlechtlichkeit eine eindeutige „Richtung" der Zuneigung, der personalen Öffnung zum „anderen" Geschlecht bis hin zur sexuellen Begehrlichkeit besagt. Insofern kann man bei der Homosexualität den Begriff der Widernatürlidikeit, der Abartigkeit nicht gut vermeiden. Aber auf der anderen Seite ist eben diese Abartigkeit — wie sich audi ohne medizinische Begründung wahrnehmen läßt — in ihrer Phänomenalität gleitend und in den einzelnen Fällen außerordentlich schwer „feststellbar". Es kommen weitere Erschwerungen hinzu. Einmal die festgefahrenen und ungeprüft weitergegebenen Vorurteile über das Charakterbild der homosexuell Veranlagten, als ob es sich um geistig oder sittlich geringwertige, überdies sexuell enthemmte Menschen handele. Diese Erschwerungen des Urteils betreffen gewiß vor allem die Diagnose im gegebenen Fall, aber sie beeinflussen natürlich auch das allgemeine Urteil, das uns hier jedenfalls in der Ethik besonders angeht. Eine dritte Erschwerung ergibt sich dadurch, daß in zahllosen Erörterungen die ethische Frage immer sofort mit der anderen verfließt, ob nämlich die Homosexualität strafrechtlich erfaßbar ist. Die Frage der Pönalisierung ist aber von der ethischen zunächst zu trennen. Diese Uberlagerung der ethischen Frage mit strafrechtlichen Bedenken hat aber die innere Lage der Homosexuellen seit jeher in einer besonderen Weise belastet. Die innere Belastung stellt in dem
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Bewußtseinsbild der Homosexualität eine so überwiegende Komponente dar, daß es von da aus gesehen in der Tat eine ethische Aufgabe besonderer Art zu sein scheint, diese Bedrohung durch das Strafrecht auf das geringste mögliche Maß zu reduzieren. Uberblickt man diesen Katalog von Schwierigkeiten, so sind wir, noch ehe die eigentliche Ätiologie der Abartigkeit hinreichend geklärt ist, — und sie ist in der Gesamtsituation des wissenschaftlichen Urteils alles andere als einhellig geklärt — bereits bei den therapeutischen Fragen angelangt. Eine für die Ethik höchst unbefriedigende Situation ! Und in der Tat wird offen eingestanden werden müssen, d a ß der Ethik hier kein endgültiges, sondern nur ein vorläufiges Wort möglich ist, in dem sich seelsorgerliche Erfahrung und unbedingter Wille zur Hilfe von Fall zu Fall mit guten Gründen verbinden werden. Was hier gesagt werden kann, hat überdies in verschiedener Richtung jeweils eine „Adresse". Folgende Einsichten scheinen sich nach meinem Urteil der evangelischen Ethik aufzunötigen. Die besondere N o t der Homosexualität besteht nicht so sehr in der „Abartigkeit" des Gefühlslebens, als im Bewußtsein dieser Abartigkeit. Dieses Bewußtsein setzt sich zusammen aus der Erfahrung, d a ß man mit seinem veränderten Geschlechtsgefühl in die Welt des heterosexuellen Daseins nicht hineinpaßt. Es kommt die Erfahrung der Ablehnung durch die sog. „normal" fühlenden Menschen der Umwelt hinzu und führt zu schweren Vereinsamungen, die durch die Furcht vor der Strafe des Gesetzes unerträglich verstärkt werden können. Die Isolierung der Homosexuellen führt dann die gleichgearteten Menschen zu förmlichen Cliquen zusammen und nötigt sie doch zugleich wiederum, ihre Verbindung und Verbundenheit möglichst geheim zu halten. Wenn man diese innere Situation bedenkt, so erscheint es als unvermeidlich, daß diese introvertierte Artung immer weiter auf sich selbst zurückgeworfen wird. Einsamkeit, durch die notorische Kontaktschwäche zum anderen Geschlecht ohnehin auferlegt, Angst vor Entdeckung und vor dem Urteil der Gesellschaft, die den Homosexuellen umgibt, das alles erscheint als Schraube ohne Ende. Und man kann jedenfalls ermessen, was in derartigen Verklemmungen eine weise und eingehende Psychotherapie zuwege bringen kann, wenn sich der Leidende ihr überhaupt anvertraut. Angesichts der vielen Fälle von jugendlicher Homoerotik und Homosexualität wird ferner eine erzieherische Wachsamkeit nötig sein, die von der Gewißheit wirklicher Hilfe erfüllt sein darf, wo es sich
Die Entartung der Geschlechtsbeziehungen
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erkennbar darum handelt, einem jungen Menschen aus einer gefährlichen Durchgangsphase herauszuhelfen. Dem Leidenden selbst freilich sind doch audi gewisse Regeln seines Verhaltens und seiner Lebensführung aufzugeben. Er wird gewisse Berufe vermeiden müssen, in denen die Versuchung nahezu unvermeidlich ist, daß er selber zur Versuchung für andere Menschen wird. Schule, Jugendgruppe, Seelsorge, Lager oder die Tätigkeit in Anstalten bestimmter Art sind gewiß nicht der richtige Ort für ihn. Die seelische Schwäche läßt den Homosexuellen zu leicht nach Gelegenheiten greifen, wo er seinen Neigungen nachgehen kann, besonders gegenüber Abhängigen. Eine besondere Frage bleibt immer die, ob man dem Homosexuellen zum Eingehen einer Ehe raten soll. Man kann hier gewiß kein Gesetz aufstellen. Immerhin: „Die Heirat eines Homosexuellen, Mann oder Frau, kann eine Quelle des Elends sein, für beide Teile und für die Kinder. Nie und niemals darf man leichtfertig zu einer Ehe raten in der Hoffnung, damit können sidi die homosexuellen Eigenschaften am Ende v e r l i e r e n . . . Die Ehe darf nicht zum Versuch einer Therapie herabgewürdigt werden" (Zeegers a. a. O . 1 5 5 ) . Fragen wir zuletzt nach der strafrechtlichen Seite des ganzen Problems. Wir stellen diese Frage in Erinnerung daran, daß die Homosexualität seit alters vielfach mit schweren und entehrenden Strafen bedroht wurde. Besteht von der Ethik her ein Bedürfnis nach strafrechtlichen Maßnahmen? Weder die Uberzeugung, daß Homosexualität eine Anlage, noch die andere, daß sie eine Krankheit oder audi eine „Variante" möglidier Spielarten von Normalität sei, kann eine Bestrafung rechtfertigen. Strafe kann immer nur durch eine Handlung begründet werden. So liegt es im öffentlichen Interesse, daß der Mißbrauch der Abhängigkeit eines anderen zur Unzucht, daß gewerbsmäßige Unzucht und die Verführung Jugendlicher zur Homosexualität unter Strafe gestellt werden. Aber sind eigentlich alle diese Tatbestände nur den homosexuell Veranlagten vorbehalten? Die Frage der Häufigkeit soldier Tatbestände steht dabei nicht in Frage. Eine zusätzliche Strafdrohung gegen die Homosexualität als solche („einfache Homosexualität zwischen Männern") kann ethisch nicht mehr gerechtfertigt werden. In der Bundesrepublik Deutschland hat das erste Gesetz zur Reform des Strafrechtes vom l . S e p t . 1969 in seiner Neufassung des § 175 StGB diesen Gesichtspunkten Rechnung getragen, wenn auch bezügl. der Altersbestimmungen erhebliche Unklarheiten bleiben. Vgl. Schönke-Sdiröder: Erstes Gesetz
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
zur Reform des Strafrechts, 1969, 34 ff. — Zu den anschließenden Problemen sexueller Entartungen vgl. meine Sexualethik, ferner: H . Giese (Hrsg.): Die sexuelle Perversion, 1967.
23. Kapitel Die
Familie
Die aus der Ehe heraus erwachsende und um die Ehe der Eltern herum gruppierte Familie stellt die Ethik vor eigene und doch wesentlich andere Probleme, als sie durch Liebe und Ehe aufgeworfen werden. Die Familie ist die Keimzelle der Völker. Die Familie ist auch heute noch eine vorpolitische Ordnung und gerade darum in einem steten und engen Bezug zum politischen Leben: sie ist Ursprungsort aller politischen Gesinnungen und im aktiven wie im passiven Sinne Widerspiel der Wirtschaftsordnungen. Sie ist Urform des Gemeinschaftslebens. Sie ist darum, nicht nur in den biblischen Verhältnissen, ursprünglich auch immer Kultgemeinschaft. Trotzdem ist „Familie" kein eindeutiger Begriff. Wir haben heute immer die Kleinfamilie vor Augen, wenn wir von Familie sprechen, d. h. also den engen Verband von Vater, Mutter und Kindern. Aber unser Begriff selbst ist römischen Ursprungs und hat von daher eine bestimmte rechtsgeschichtliche Prägung erfahren, die nicht schlechthin zum Wesen der Sache gehört. Diese Ausprägung betrifft die Stellung der Frau, im alten römischen Recht ganz in der Gewalt (manus) des Mannes, während sich dann im Laufe der Entwicklung der Vertragsgedanke in den Vordergrund schob, der zwar keine eigentliche Gleichberechtigung der Frau zur Folge hatte, ihr aber eine gewisse Selbständigkeit, besonders in der Verfügung über ihr Vermögen verschaffte. Jedenfalls war der Familienverband nicht auf Eltern und Kinder beschränkt, er betraf vielmehr alle, die zum Hause gehörten. Von daher wird dann in fränkischer Zeit der Fronhofsverband als „familia" bezeichnet, und im Mittelalter sind die Ratgeber des Königs seine „familiares". Allenthalben sind in alter Zeit Sippe, „Haus", Geschlecht, „Freundschaft" mehr als was uns Heutigen als „Familie" vor Augen steht. Hinter den Eltern stehen in unabsehbarer Reihe Väter und Vorväter, hinter Mann und Frau jeweils ihre Sippen, und zum Haus gehören Knechte und Mägde, alles, was am Tisch mit dem Hausvater sein Brot ißt, und in dieser Ausweitung war noch vor wenigen Generationen die Großfamilie in Stadt und Land eine Selbst-
Die Familie
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Verständlichkeit. Der tiefgreifende Wandel von der Groß- zur Kleinfamilie hat viele Gründe. Die soziale Hebung und Verselbständigung der ehedem „dienenden Stände", die Lösung der bürgerlichen Familie vom eigenen Grund und Boden, der Übergang vom Eigenhaus und von der Seßhaftigkeit zum Mietverhältnis und zur Freizügigkeit, zunehmende Abhängigkeit audi der sozial gehobenen Kreise — das alles sind Gründe genug zu diesem Wandel. Wir können aus diesen elementaren Beobachtungen zwei für die Ethik wichtige Schlußfolgerungen ziehen. Einmal ist die Familie sowohl soziologisch als auch rechtsgeschichtlich den stärksten Wandlungen ausgesetzt. Es ist unzulässig, eine bestimmte Erscheinungsform der Familie, also etwa die patriarchalische Großfamilie oder die heutige Kleinfamilie zu einem Normbegriff zu erheben. Zum anderen aber überdauert die Familie den Sozialwandel. Sie stellt offenbar ein Sinngefüge dar, das sich durch den Wandel soziologischer Verschiebungen und der Rechtsgeschichte immer wieder durchsetzt. Der Familie eignet eine Elastizität, die uns in ihrer Weise auf die Bedeutung der Sache aufmerksam machen kann. Zunächst bewährt sich innerhalb der Familie der schon im vorigen Kapitel hervorgehobene Satz von dem Primat der Ehe vor allen Verwandtschaftsgraden. Die hier zunächst in Betracht kommenden Verwandtschaftsgrade sind überhaupt die nächsten, die es gibt: das Verhältnis der Eltern zu den Kindern. Aber wie die Eltern aus ihrem eigenen Elternhaus einst auszogen, um zu heiraten, so werden auch ihre Kinder sie verlassen müssen, und die Eltern können, ja sie dürfen sie nicht halten. So zeigt selbst die Kleinfamilie die Elastizität, indem sie durch die Geburten der Kinder wächst und durch das Auswandern der Kinder wieder zusammenschrumpft. Wenn das Mutter-Kind-Verhältnis dagegen den Primat der Ehe überspielt, dann tritt eine schwere Schädigung der Familie ein, die mit der eben hervorgehobenen Elastizität nicht mehr gerechtfertigt werden kann. Ebenso spricht für die Elastizität der Familienordnung auch Folgendes. Im biblischen Sinne ist der Mann das „ H a u p t " sowohl der Ehe wie auch des Hauses. Aber nicht nur außerordentliche Schicksale wie Kriegszeiten und Gefangenschaft können die Familie ihres Hauptes berauben; es ist auch in der Folge der Arbeits- und Berufsverhältnisse möglich, daß der Mann entweder den ganzen T a g abwesend oder gar auf längere Fristen seiner Familie entzogen ist. Ein Zustand oder auch Notstand, von dem heute ganze Berufsklassen betroffen sind. Dann tritt die Frau an die Stelle des Mannes und „vertritt" das H a u p t der 2.2
Trillhsas, Ethik
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Familie. Es ist möglich, daß ein praktisches Matriarchat an die Stelle und in die Vertretung des Patriarchats eintritt, ohne daß dadurch nun eine matriarchalische Grundordnung postuliert wäre. Von einem Matriarchat kann man erst dann sprechen, wenn die Dominanz der Mutter, der Matrone, in Gegenwart der Männer zur Geltung kommt und anerkannt wird. Diese Vertretungsmöglichkeit in der Führung der Familie ohne grundsätzliche Änderung der inneren Struktur aber scheint mir wesentlich zu sein und eben diese Elastizität der Familie zu bestätigen. Soziologisch sind die Dinge sehr kompliziert. Wir haben dieser Seite der Sache hier nicht weiter nachzugehen. Es ist aber für die prinzipielle Bewertung der Verhältnisse von großer Bedeutung, sich die gerade hier sehr eng verflochtene Rechts- und Religionsgeschichte zu vergegenwärtigen. Zur Reditsgesdiichte: B. Kiibler: Geschichte des Römischen Rechts, 1925 — Cl. von Schwerin: Grundzüge der deutschen Rechtsgeschichte, 1950 4 (hg. v. H. Thieme). Zur religionsgeschichtlichen Betrachtung der Familie G. van der Leeuw: Phänomenologie §§ 10, 20 u. 33. Die soziologische Problematik bei C. C. Zimmermann: Family and Civilisation, 1947 — E . W . Burgess and H. J. Locke: The Family from Institution to Companionship. N e w York 1960 — G. Wurzbacher: Leitbilder gegenwärtigen deutschen Familienlebens, (1951) 1969 4 und vor allem H. Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart, (1953) 1967 5 — R. König im Wörterbuch der Soziologie, 1969*, s . v . und in: A. Gehlen u. H. Schelsky: Soziologie, ein Lehr- und H a n d b u c h . . . 19687 (Lit.). Roger Mehl: Société et amour, problèmes éthiques de le vie familiale, 1962 (dt.: Die Familie lebt. Eine Eheund Familienethik der Gegenwart, 1964) — Meine Sexualethik 7. Kap. (Lit.).
Diese hier nur kurz anzudeutende Elastizität und Wandlungsfähigkeit der Familie als solcher bedeutet zugleich eine unverkennbare Labilität. Diese Labilität hat die Familie mit all jenen Ordnungen, Haltungen usw. gemeinsam, in denen die für den Menschen als Menschen prinzipiell geltende Gefährdung seines Wesens zutage tritt. Man kann sich nicht darauf verlassen, daß die hier erwähnten Erscheinungsformen der Elastizität, denen sicherlich noch manche andere zur Seite zu stellen wären, sich nur als Symptome dieser tröstlichen Elastizität erweisen. Sie sind zugleich Richtungsanzeiger der Labilität. Es gibt typische Formen der Labilität der Familie, welche edite Gefährdungen darstellen. Ich möchte deren vier hier nennen. 1. Zunächst das Starrwerden der Familienordnung. Als ein häufiges Kennzeichen dieser Erstarrung ist die starre und übertriebene Autorität des Familienoberhauptes zu nennen. Der Hausvater nimmt unter Berufung auf das 4. Gebot, das die Würde der paternitas schützen soll, seine Familienangehörigen in eine strenge Gehorsamspflicht. Doch kann
Die Familie
339
das „autoritäre System" im Familienkreise auch die Form annehmen, daß die Familie als solche bestimmte Einstellungen, Gesinnungen und Entscheidungen von ihren Gliedern fordert. Fragen persönlichster Entscheidung werden dann zu Fragen des „Stils", Gesinnungsfragen werden durch den Verband der Familie vorweg beantwortet. „Bei uns ist das so". Wer ausbricht, eine andere als die bisher selbstverständliche politische Überzeugung äußert oder die Konfession wechselt, verliert seine Familienehre. Die Folgen sind schwere Familienkrisen, in denen die Kinder den engen Zaun der Familie übersteigen, sich gegen die überspannte Gehorsamspflicht auflehnen und womöglich das ganze Gebäude der Familienordnung in die Krise treiben, als hohl entlarven und zum Einsturz bringen. 2. Die Desintegration der Familie bedeutet den Schwund ihrer öffentlichen Bedeutung. Wo sidi die Dorfgemeinschaft, die Kirchengemeinde aus „Häusern" zusammensetzt, wo das Familienhaupt als solches auch quasi öffentliche Pflichten innehat — ein Stimmrecht ausübt oder Hauspriester ist —, da ist die Familie im großen sozialen Gefüge integriert. J e mehr aber die öffentlichen Pflichten auf den einzelnen übergehen, je mehr die Berufs- und Gattenwahl individualisiert wird, desto mehr wird die Familie zur reinen Privatsphäre. Sie kann durchaus nodi eine sehr große Bedeutung haben, aber eben diese Bedeutung ist dann doch im wesentlichen Glückssache. Es gibt — ist diese Desintegration der Familie einmal vollzogen — keine institutionellen Hemmungen mehr, die es verhindern könnten, daß die Familie sich individualistisch auflöst. Es ist ein äußeres Kennzeichen dafür, wenn der Dienst an dieser Familie, wie ihn doch immer nodi die Hausfrau ausübt, keine öffentliche Anerkennung mehr genießt. Die Anerkennung kann z. B. in der Steuergesetzgebung ebenso heimlich vollzogen wie verweigert werden. Audi durch die gesetzliche Regelung der Arbeitspflicht (in Notzeiten oder in totalen Staatssystemen) kann die Anerkennung der Familie unter der Hand versagt werden: „Hausfrau zu sein ist kein Beruf", sagt man dann. 3. Sachlich in engem Zusammenhang damit ist die Ablösung der Familie durch den Staat zu nennen. Der Staat tritt in die Funktionen ein, die eigentlich der Familie zukommen. Man sollte sich diese Entwicklung nicht zu „platonisch", d. h. nicht zu ideologisch geplant vorstellen. Natürlich gibt es seit den Tagen des Plato viele Staatsphilosophien, in denen die Auflösung der Familie bzw. ihre Degradierung zu einer dem Staat dienstbaren Durdigangsphase der Kindererzeugung eine wesentliche Rolle spielt. Aber schon die Hereinziehung beider 22*
340
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellsdiaftlidien Mächte
Eltern in den Arbeitsprozeß und die damit verbundene Lähmung der Elternfunktionen desorganisiert die Familie. Dem entspricht dann die Wegnahme der Kinder. Im faktischen Ausfall des Elternhauses und in der faktischen Übernahme der Erziehung des Kindes durch Kindergarten und Kinderhort tritt die Ablösung der Familie in Kraft, ohne daß eine besondere Planung, vielleicht nicht einmal irgend eine Absicht dabei im Spiele gewesen wäre. In gewissem Sinne hängen die hier genannten Auflösungsformen der Desintegration und der Desorganisation sachlich zusammen. Das Bollwerk, das inmitten dieses Schrumpfungsprozesses gegen die Entartungen aufgerichtet wird, ist in aller Regel die Wahrung und der Ausbau der „Intimsphäre" des Hauses. Aber die Form der Großfamilie unserer Großväter mochte wohl audi so etwas gekannt haben — jedenfalls war diese Intimsphäre in keiner Weise für diese Familienform konstitutiv. In der Richtung dieser Rückeroberung der Intimsphäre der Familie liegt es, wenn ferner kein Raum mehr für Gäste vorhanden ist, wenn die häusliche Geselligkeit erstirbt, ja selbst der Austausch von Besuchen wegfällt, „weil die Räume fehlen". Aber eben audi das Fehlen der Räume ist ein soziologischer Tatbestand und ein Symptom der Verkümmerung. Die Wahrnehmung der Intimsphäre bedeutet ganz generell eine Abschirmung der Familie gegen alle Störungen von außen, gegen Lärm, gegen Besuche, gegen fremde Einmischungen — es ist die Haltung der sozialen Defensive. 4. Schließlich muß in diesem Zusammenhang noch der Auflösung der Familie durch das sog. „Schicksal" gedacht werden. Lange Kriegszeiten, Gefangenschaft und Vertreibungen zerstören die ehelichen Bande, die nur in den Ausnahmefällen hoher sittlicher Bewußtheit den Belastungen gewachsen sind, welche lange Trennungen den Gatten auferlegen. Sie zerstören auch die bergende Kraft, welche die Familie den Kindern gewähren soll und die sich in einer sicheren erzieherischen Führung ebenso wie im kraftvollen Schutz bewährt. Alle die genannten Gefährdungen bezeichnen ei .e Auflösungstendenz. Das hat zur Folge, daß fälschlich alle Änderungen von dem ängstlichen oder gar betroffenen Menschen als Verfallserscheinungen beurteilt werden. Ohne Frage: Die unerhörte Variabilität und Labilität der Familienordnung bedeutet eine grundsätzliche Gefährdung. Diese kann nicht ernst genug genommen werden, weil ein Schaden, ein Trauma, das einen jungen Menschen infolge der Zersetzung seiner eigenen und ihn bergenden Familienordnung betroffen hat, auch dann
Die Familie
341
schädigend weiterwirkt, wenn diese zerstörte Ordnung irgendwie später doch wieder geheilt werden sollte. Aber ebenso nachdrücklich gilt: Der Familie eignet eine unerhörte Regenerationsfähigkeit. Sie ist ein Ort, an dem uns Gott immer aufs Neue mit seiner Erhaltungsgnade begegnet. In der Familie haben wir nicht nur eine, ja die Keimzelle der Volksgemeinschaft zu sehen, sondern sie ist der Ort, wo uns das Urgute der Schöpfung begegnet. Selbst in den nicht intakten, gestörten Familienordnungen kann Gott dieses Urgute der Schöpfung bestätigen. Es wäre keine Gnadenordnung, wenn es hier auf das Verdienst einer zuvor von uns hergestellten Intaktheit ankäme, damit Gott auf Grund unserer Voraussetzungen wirken kann. Ebenso freilich wäre es keine Gnadenordnung, wenn Gott uns von der Wahrung seiner Ordnungen und Gebote — also etwa der Gehorsamsschuld der Kinder ihren Eltern gegenüber oder von dem Gebot ehelicher Treue — dispensieren wollte und uns seine Gnade, die dodi immer nur die Ausnahme, das Überraschende sein kann, zur selbstverständlichen Regel machen würde. In diesem Sinne nun ist in der Tat die Familie — völlig unabhängig von der soziologischen Wandlung — ein Quellort des Lebens. Dies ist so gemeint: In der Familie und nur in ihr erfährt der Mensch ursprünglich die Geborgenheit. Familie ist darum Inbegriff und Voraussetzung für die Erfahrung der Heimat wie für die Erfahrung der Väterlichkeit und der Mutterliebe. Selbst in der negativen Form, daß ein Mensch in seiner Jugend den Vater oder die Mutterliebe hat entbehren müssen und sich dessen schmerzlich bewußt ist, kann die Familie noch zu einem Ursprungsort dieser Erfahrungen werden. So erfährt der Mensch in der Familie die haltenden und gebenden Mächte. Er erfährt aber auch die Pflicht des gegenseitigen Eintretens für einander. In der Familie hat man teil an dem „Ruf", an dem „guten Namen" und jeder einzelne kann zu diesem Ruf beitragen oder kann ihn schädigen. In der Familie erlebt der Mensch ferner am unmittelbarsten Geburt und Tod. Was er sonst nur aus der Ferne mitansieht, was er zwar hört und wovon er weiß, aber was doch nur ein Ereignis im Wandel der Umwelt ist, das betrifft ihn hier unmittelbar. Es betrifft ihn hier so, daß es sein Leben auf lange hinaus, ja vielleicht für allezeit bestimmt. Trotzdem ist diese Familie nichts Letztes. Sie hat ihre Würde im Ursprünglichen, das sie verkörpert und das sie hütet. Aber sie ist kein Ziel des Menschen. Familie hat auf die lange Sicht unseres Lebens doch nur einen vermittelnden, einen transitorischen Wert. Sie ist so viel
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
wert, wie die Güter wert sind, denen sie dient. Sie ist so würdig, wie es den Heiligtümern entspricht, die sie hütet. Uberblickt man nun diese Bedeutung der Familie für den Menschen, dann kann man sie nicht aus dem Bilde des Menschen entfernen. Sie dient unmittelbar der Menschwerdung des Menschen. Sie ist in der Genesis jedes einzelnen Menschen zum Menschen unverzichtbar. Anders ist es mit der Ehe. Es gibt keine Pflicht zur Ehe, sondern es kann hohe Gründe geben, die uns zum Verzicht auf die Ehe nötigen. Damit modifiziert sich nun die Frage des Zölibats. Während nämlich die Ehe, wie wir sahen und wie wir auf der Spur des Paulus uns gegenwärtig halten müssen, verzichtbar ist, ist es die Familie nicht in demselben Sinne. Mk 3,31—35 wird uns die Auseinandersetzung Jesu mit seiner irdischen Familie berichtet, die ihn mit einer ganz verständnislosen Motivierung in Ansprudi nehmen möchte. Er lehnt diesen Anspruch ab und verleugnet damit im Grunde die Familienbande. Gleichzeitig aber zeigt er in denen, die Gottes Willen tun, seine wahren Brüder, seine Schwestern, seine Mutter. Ähnlich hebt er audi Lk 11, 27 f. die Geltung der leiblichen Verwandtschaft auf. Aber es tritt eine andere Familie, die familia Dei an die Stelle. Dementsprechend haben schon die ersten Christen für ihre gegenseitige Verbundenheit vor allem im Brudernamen Familienbezeichnungen verwendet. Wer auf die Ehe verzichtet, der soll und muß dodi darum nicht auf die „Familie" verzichten, sondern die Christenheit hat die große Aufgabe, für eine neue, geistliche Familie Sorge zu tragen. Darum haben viele christlichen Zusammenschlüsse seit alters, die Zönobitengemeinschaften, die Klöster, die Pfarrgemeinden, Diakonen- wie Diakonissenhäuser Familiencharakter gehabt und müssen ihn haben. Darum gibt es in Ansehung dieser geistlichen Familien auch Brüder und Schwestern, Väter und Mütter neuer Ordnung. Der Protestantismus hat dem Pfarrer die Gemeinschaft der irdischen Familie — samt der Last der damit verbundenen Probleme — gewährt. Er hat seinen Diakonissen im Mutterhaus ein familiäres Leitbild des Zusammenschlusses gegeben. Aber viele Aufgaben stehen noch vor der evangelischen Kirche und Gemeinde. Die Einsamen, die berufstätigen Frauen bedürfen einer überzeugenden Lösung des offenen Problems der geistlichen Familie. Ohne diese Lösung vereinsamen die Genannten in der Einsamkeit des „ Junggesellentums". Das Problem des Zölibats gehört nach seiner positiven Seite somit nicht in den Zusammenhang der Thematik „Liebe und Ehe", sondern in das Kapitel von der Familie und stellt uns vor die Aufgabe, eben diese Familie christlich zu Ende zu denken.
Der Begriff der Gesellschaft und seine Bedeutung für die Ethik
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B. Volk und Gesellschaft 24. Kapitel Schichten
und
Formen
der
Gesellschaft
1. Der Begriff der Gesellschaft und seine Bedeutung für die Ethik Mit dem Begriff der Gesellschaft soll die Verklammerung unserer Existenz mit der Gesamtheit der mit uns lebenden Menschen beschrieben werden. Gesellschaft ist mehr als die Summe der mit uns lebenden Menschen, sie ist mehr als der Stand oder die Stände, in denen jeder einzelne lebt. Die Gesellschaft kann sich uns im Volk, im Stand oder auch im Kollektiv, in der Gruppe, Partei oder Bildungsschicht verkörpern. Die Kirche macht keine Ausnahme; denn auch sie bestimmt das gemeinsame Leben der Menschen und stellt in stärkerer oder schwächerer Weise eine Bindung ihrer Glieder aneinander dar. Jeder einzelne ist entsprechend seiner persönlichen Stellung und seinem Schicksal verflochten. Eine Schicht mag für den einen größere, für den anderen eine geringere Bedeutung haben. Die Gesellschaft ist ein Inbegriff unseres sozialen Schicksals. Jede Beachtung der Gesellschaft führt uns auf zwei wichtige Wahrnehmungen : Wir nehmen einmal die S c h i c h t u n g der Ges e l l s c h a f t wahr. Steht doch jeder Mensch in vielen Gesellschaftsverflechtungen, die ineinander- und übereinandergelagert sind und gegenseitig in einer bestimmten Ordnung stehen können. Ferner nehmen wir den W a n d e l in der G e s t a l t der Gesells c h a f t wahr. Jedes Zeitalter zeigt uns ein anderes Bild der gesellschaftlichen Verhältnisse. Es stellt die stärkste Bedrohung für die Fortgeltung ethischer Aussagen dar, die man sich überhaupt vorstellen kann, wenn eine Ethik sich auf einen bestimmten Zustand der Gesellschaft festlegt und nicht mit dem Wandel der Gesellschaftsverhältnisse ihrer Zeit rechnet. Der Wandel der Gesellschaft geht unablässig vor sich und tötet die Aktualitäten der heutigen Ethik, die bereits morgen nicht mehr aktuell sein werden. Eine Ethik, die sich auf die gesellschaftlichen Verhältnisse einer Zeit festlegt, ist von der doppelten Gefahr der Abstraktion und der Behaftung bei älteren Sozialmodellen bedroht. Der Begriff der Gesellschaft muß uns also einen doppelten Dienst erweisen. Er soll uns einmal die Breite der Betrachtung sichern und er
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mädite
soll andererseits dem geschichtlichen Wandel der gesellschaftlichen Verhältnisse Rechnung tragen, also auf die Relativität aller Gesellschaftsverhältnisse aufmerksam machen. Nur so werden wir die Elastizität gewinnen, die allein angesichts der unablässigen Veränderungen des sozialen Gefiiges unseren Aussagen auf längere Zeit hinaus den erforderlichen Realbezug sichert. Die Beachtung der soziologischen Tatbestände, die natürlich nicht nur auf dieses Kapitel beschränkt sein kann, sondern allenthalben im Hintergrund stehen muß, hat für die evangelische Ethik eine große Bedeutung. Entgegen den konservativen oder gar restaurativen Tendenzen der älteren protestantischen Ethik bedeutet der soziologische Aspekt ein revolutionäres Element der Betrachtung. Die soziologische Betrachtung ist für die Ethik auch deswegen so wichtig, weil sie die Kirche, bzw. die Christenheit zwingt, sich selbst als einen Teil der Gesellschaft zu begreifen und den gesellschaftlichen Wandel als ein Schicksal zu verstehen, das auch sie selbst unmittelbar betrifft. Die Christenheit, die Kirche und die Theologie stehen diesem Wandel nicht in der Neutralität eines unberührten Richters gegenüber, sondern sie nehmen an ihm teil. Natürlich ist die Gesellschaft, wie wir sie hier ins Auge fassen, zunächst ein Gegenstand der Soziologie, und diese stellt nicht eo ipso ein Schema der Ethik dar. Aber diese Soziologie zwingt uns doch, die Vereinfachungen der alten Sozialethik als unzureichend zu verstehen und auch in der Ethik selbst für die gesellschaftliche Wirklichkeit eine größere Unbefangenheit des Blickes und ein beweglicheres Kategoriensystem bereitzuhalten, als es in der Tradition der Ethik vorgezeichnet ist. Aus dem Gesagten schälen sich für uns deutlich die Gründe heraus, die den Begriff der Gesellschaft für unsere ethische Arbeit unentbehrlich machen. Der Begriff der Gesellschaft bezeichnet einmal das Gefüge, in dem wir uns befinden und das sich ebenso in bestimmten Institutionen wie in Erscheinungsformen vermeintlich zufälligen Charakters greifen läßt. Als solche Institutionen nennen wir etwa für die älteren Zeiten die Zünfte, den Adel oder die Klöster. In neuerer Zeit ist es etwa der Betrieb oder die Situation eines Dorfes am Großstadtrand. Man kann keine dieser doch immerhin sehr fest umrissenen Gemeinschaftsformen in ihrer Struktur wie in ihrer Verklammerung mit der Umwelt analysieren, ohne des gesamten gesellschaftlichen Gefüges der Epoche innezuwerden. Aber neben diesen fest umrissenen Institutionen oder Gemeinschaftsformen finden sich dann mehr zufällig erscheinende Äuße-
Der Begriff der Gesellschaft und seine Bedeutung für die Ethik
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rungen des gesellschaftlichen Lebens. Ich erinnere als Beispiel dafür an den Sport, den Verkehr oder die Presse. Jede dieser Erscheinungsformen wird bei näherem Zusehen zu einem System, an dem sidi etwas für die ganze Gesellschaft Gültiges aussagen läßt. Mit Gesellschaft bezeichnen wir ferner den Bezug, in dem der einzelne nicht frei ist, sondern abhängig, häufig ohne von dieser Abhängigkeit zu wissen. Es ergibt sich das Paradox, daß gerade der Eintritt in diese Abhängigkeit als die eigentliche Emanzipation des Individuums erscheint. In dem Augenblick, in dem der junge Mensch sich nach der Mode von heute kleiden möchte, wo er bis in die Farbe der Krawatte, die Form des Kragens und die Frisur sich dem allgemeinen Stil unterwirft, hat er überraschenderweise das Empfinden, nun erst eigentlich frei und selbständig zu sein. Tatsächlich aber unterwirft sich die Gesellschaft das heranwachsende Individuum eben vermittels der Mode, des gesellschaftlichen Stils, und versüßt ihm diese Abhängigkeit, der er nicht zu entfliehen vermag, durch das Gefühl, sie habe ihm die individuelle Freiheit verliehen. Der Begriff der Gesellschaft geht nach alledem im Institutionellen nicht auf. Infolgedessen geraten wir auch nicht in die Gefahr, mit einer Theologie der Ordnungen — ohnehin ein problematisches Unterfangen — die Fülle dessen nachzeichnen zu wollen, was wir mit Gesellschaft meinen. Letztlich ist es doch der Geist selbst, der ein Zeitalter charakterisiert und der in abgewandelter Form Hoch und Niedrig, Arm und Reich ergreift und der auch die Volks- und Sprachgrenzen überschreitet. Wie die Mode über die Grenzen der Völker springt, so überspringt der Stil des technischen Zeitalters die Meere und Grenzen der Kulturen. Was die Gesellschaft einer Epoche erfüllt und charakterisiert, ist somit niemals der abgeschlossene Besitz einer „Gesellschaftsschicht" oder auch der Gesellschaft eines bestimmten Landes. Wir entdecken den Geist der Gesellschaft hüben und drüben. Wer die heimlichen Mächte der Gesellschaft und die Schlüsselideen der Zeit erkannt hat, der erst ist des Rätsels unserer verflochtenen Einzelschicksale ansichtig geworden. Trotzdem der Begriff der Gesellschaft angesichts der Tradition der evangelischen Ethik vergleichsweise modern ist, hat er doch Vorläufer. Fr. D . Schleiermacher hat in der „Christlichen Sitte" (ed. L. Jonas, 1843; 1884 2 ) besonders bei der Beschreibung des verbreitenden Handelns so etwas wie eine Gesellschaftslehre geboten; denn die Geschlechtsgemeinschaft, die Kirchengemeinschaft und der Staat, denen er hier eine umfassende Darstellung widmet, sind ja Elemente eines umfassenden „Prozesses" und in sich niemals als abgeschlossene Bereiche zu verstehen. In ähnlicher Weise hat auch Richard Rothe
346
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
in seiner „Theologischen Ethik" eine Gesellschaftslehre entwickelt und gleichzeitig A. v. Oettingen in seiner berühmten „Moralstatistik", 1868 die Realitäten des sozialen Lebens als erster Theologe der Neuzeit für die theologische Arbeit geltend gemacht. Im eigentlich modernen Sinn hat natürlich erst Ernst Troeltsch mit: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (Ges. Schriften 1), (1912) 1923 s die Soziologie selbst zu einem Thema der europäischen Theologie gemacht. Weitere Literatur: H. Freyer: Theorie des gegenwärtigen Zeitalters, 1955 — A. Gehlen: Die Seele im techn. Zeitalter, 1957 (rde 53) — H. D. Wendland: Grundzüge der evang. Sozialethik, 1968 — Ders.: Die Kirche in der revol. Gesellschaft, 1968 s — P. Lehmann: Ethics in a Christian Context, N e w York, 1963 (dt. Ethik als Antwort, 1966) — D. von Oppen: Das personale Zeitalter. Formen und Grundlagen gesellsdi. Lebens im 20. Jh., 19675 — Chr. Walther: Theologie u. Gesellschaft, 1967 — J. Matthes: Einf. in die Religionssoziologie, I. 1967, II. 1969 (rde 279/280; 312/313) — Zu dem oben angesprochenen Schiditenbegrifï K. Thomas: Schichten in der modernen Gesellschaft, 1969 (Schriftenreihe d. Nieders. Landeszentrale für Pol. Bildung 1). 2. Das Volk als Form der
Gesellschaft
An der Stelle, wo wir von Gesellschaft sprechen, fand sich in der Behandlung der evangelischen Ethik bislang der Begriff des Volkes. Zweifellos kommt auch dem Volk unter allen Formen der Gesellschaft ein besonderer Rang zu. Dieser Rang ist durdi ein aus manchen Quellen fließendes Pathos bis in die Behandlung der wissenschaftlichen Ethik hinein noch unterstrichen worden. Das Volk wurde verstanden als die Urgesellschaft. Der Staat dient diesem Volk und gibt ihm Verfassung und rechtliche Form. Der Schutz dieses Volkes wird in Frieden und Krieg wahrgenommen. Dieses Volk hat Bedürfnis und Anspruch auf Boden und Lebensraum; es pflegt und verteidigt diesen Raum als sein Vaterland. In den Grenzen des Vaterlandes bildet das Volk eine Nation, die ihre eigene Ehre hat und für deren Bestand und Ehre auch das Leben der einzelnen Glieder gefordert werden kann. Die christliche Ethik bedarf des pathetischen Anrufes nicht, um den Gedanken des Volkes zu deuten und in seinem wahren Werte zu ermessen. Aber was konstituiert eigentlich ein Volk? Wir wissen, daß sich in den gewachsenen Völkern der neueren Geschichte viele Rassen vermischt haben, so daß der Rassegedanke sicherlich nicht ausreicht, um die Idee des Volkes zu begründen. Die Rede vom „Blut" ist zu vage. Die Verbundenheit der Völker mit ihrem Lebensraum ist dodi nur relativ wesentlich, nachdem sich in der Geschichte unablässig Veränderungen in den Grenzen dieser Lebensräume ereignen, ja in den Zeiten der großen Wanderungen die Räume selbst wechseln. Und die wirtschaftliche Einheit kommt als bestimmender Faktor eines Volkes des-
D a s Volk als Form der Gesellschaft
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halb kaum in Betracht, weil eine vertragliche Vereinbarung von heute auf morgen zwischen den verschiedensten Völkern solche Wirtschaftseinheit herzustellen vermag. Selbst die Sprache wird kein ausreichendes Kriterium sein. Gewiß verstehen wir den Sprachraum immer als eine Kultureinheit, aber Jahrhunderte alte Grenzen können Sprachräume teilen und es durchaus in Frage stellen, ob die in einem Kulturraum lebenden Menschen, ζ. B. alle Menschen deutscher, französischer oder gar englischer Zunge auch in der T a t ein Volk darstellen. So bleibt uns eigentlich nur die Berufung auf das einheitliche Volksbewußtsein und die gemeinsame Erfahrung der Geschichte in Glück und Leid, das eigentümliche „Wir-Bewußtsein", von dem P. Althaus gelegentlich (Grundriß, 124) spricht. Aber man kann das Volk doch unmittelbar erleben wie eine große Familie. D a s Einheitsbewußtsein eines Volkes ist immer eine gewachsene Sache. Unwillkürlich suchen wir, wenn wir uns auf das Erlebnis des Volkes beziehen, das Volk dort auf, wo seine Traditionen, sein Geschichtsbewußtsein lebendig sind, wo seine Vergangenheit zu uns spricht, wo die alten Sagen nicht vergessen sind und die „Volkslieder" gesungen werden. Wir suchen das Volk in seiner ländlichen Form auf und gehen in den Städten der gewachsenen älteren Stadtkultur nach. D a s Volk ist die geschichtlich gewachsene und natürlich gewordene Gesellschaft, die durch ein spezifisches, traditionsgebundenes Selbstbewußtsein ausgezeichnet ist. Wir können nun freilich dem Gedanken des Volkes in der Ethik nicht R a u m geben ohne eine kritische Besinnung, auf die wir dann wiederum eine positive Gegenrechnung folgen lassen. Zunächst drei kritische Erwägungen: a) D a s Volk ist nicht ewig. Es hat seine eigene Entstehungsgeschichte, wie es auch eines Tages sein Ende nehmen wird, sei es durch politische Katastrophen, durch Teilungen, Überfremdung durch fremde Kulturen oder durch inneren Verfall. Auch das Volk ist den sozialen Verschiebungen unterworfen. M a g das Volk auch unter allen Formen menschlicher Gesellschaft, wie ich in der T a t glaube, eine privilegierte Stellung einnehmen, so ist doch der Begriff der Gesellschaft dem Begriff des Volkes überlegen; denn auch das im Verfall oder in der völligen Verwandlung und Selbstentfremdung begriffene Volk wird immer in irgendeiner Weise sich als eine Gesellschaft darstellen, die, wie beschrieben, das unausweichliche Schicksal ihrer Glieder bedeutet. b) Der Mensch muß nicht notwendigerweise in seinem Volk leben. Er kann aus seinem Volk durch das Schicksal herausgenommen werden : durch Gefangenschaft, durch Auswanderung oder dgl. Gottes Ruf kann
348
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
ihn aus seinem Volke herausführen, wofür Abraham (Gen 12, 1—3) immer das Urbild der Christenheit ist. Viele Berufe führen den Menschen aus seinem Volksverband heraus. Schließlich hat es zu allen Zeiten Menschen zwisdien den Völkern gegeben, Menschen, die durch Herkunft, Familienverbindungen und andere Führungen nicht einem Volk allein angehören. In kolonialen Verhältnissen sind häufig Menschen aus den verschiedensten Völkern zusammengekommen und haben zunächst nur eine Gesellschaft schlechthin gebildet, aus der dann freilich ein Volk entstehen kann. Man denke an die Anfänge des Volkes der Vereinigten Staaten von Nordamerika. Auch hier übergreift der Begriff der Gesellschaft den Begriff des Volkes. c) Die volkhafte Gemeinschaft im reinen und klassischen Sinn bildet auch noch keinen in sidi genügsamen Zustand. Denn ein Volk steht immer neben anderen Völkern. Das Nebeneinander der Völker schließt die Versuchung zum Widereinander in sich. Jedes echte Volk ist anders als die anderen Völker und ist darauf angewiesen, sein Volkstum, seine Volkhaftigkeit dadurch zu bewahren, daß es seine Eigenart pflegt. Das Volk hält sich wohl audi für besser als die anderen Völker, was die Quelle des Nationalismus ist. Es muß nicht so sein. Aber es setzt einen hohen Grad an Abgeklärtheit und wahrer Bildung voraus, wenn man bei Festhaltung des eigenen Volksbewußtseins Sinn, Hochachtung und Aufgeschlossenheit dem fremden Volkstum gegenüber bewährt. Es läßt sich nicht leugnen, daß in aller volkhaften Existenz und in der Bewahrung volklicher Eigenart die Versuchung zur „Borniertheit" und zur Aggression in mannigfaltigem Sinn enthalten ist. Die Liebe zum eigenen Volk ist etwas Unanfechtbares. Aber auch von ihr wird in diesem kritischen Zusammenhang gesagt werden müssen, daß der „Patriotismus" eine Versuchung in sich schließt. Das Bekenntnis zur eigenen Geschichte erfüllt jeden volksbewußten Menschen mit Stolz, und der Stolz auf die eigene Geschichte, auf die Vergangenheit der Nation wird uns ja förmlich als eine Pflidit abgefordert. Aber die eigene Geschichte birgt nicht nur Anlaß zum Stolz in sich, sie erinnert uns auch an die Schuld des eigenen Volkes. Die Zugehörigkeit zum Volk macht uns — ohne daß man doch im unmittelbarsten Sinn eine individuelle Beteiligung nachweisen kann — audi zu Teilhabern an dieser Schuld, ebenso wie der Stolz auf die Größe der eigenen Vergangenheit ja nicht ein unmittelbar individuelles Verdienst des einzelnen in sich schließt. Nur dort, wo über die Größe der Vergangenheit des Volkes eben diese Teilhabe an der gemeinsamen Schuld nicht ver-
Das Volk als F o r m der Gesellschaft
349
gessen wird, hat die Vaterlandsliebe eine überzeugende Kraft. Nur unter diesen Umständen ist sie sittlich wach. Positive Gegenrechnung: a) Unter allen Formen menschlicher Gesellschaft kann das Volk vor allem Ursprünglichkeit und gewachsene Eigenart für sich in Anspruch nehmen. Im Volk vor allem erleben wir unmittelbar unsere eigene Geschichte. Man kann sich eine Treue zu den geschichtlichen Ursprüngen ohne eine Treue zum Volke nicht denken. Die unmittelbarsten, wenn auch nicht unbedingt die materiellen Güter haben wir als Glieder unseres Volkes empfangen : die Sprache, die Bildung und die Religion, diese als die Überlieferung der Bindung unserer Väter an Gott verstanden. Das Bewußtsein dieser empfangenen hohen Güter ruft uns daher immer zur Dankbarkeit dafür auf, daß wir Glieder unseres Volkes sind. b) Volk bedeutet die Geborgenheit des Menschen bei seinesgleichen. Im Volk hat jeder seine Heimat, nicht nur im lokalen Sinn. Im Volk und in der Sprache des Volkes werden wir auch am unmittelbarsten angesprochen. Darum gehört es zum Wesen der Predigt, daß sie in der Volkssprache ergeht. Mit der Neuentdeckung des Wortes Gottes durch die Reformation war es auch geboten, dieses Wort, also praktisch die Bibel jeweils in die Sprache des betreffenden Volkes zu übersetzen. Auch das Lied, das diesen Namen verdient, gehört zum Volk und ist die unmittelbare Sprache seiner Seele. Von allen denkbaren Formen der Gemeinschaft, in einem größeren als dem nur familiären Rahmen verstanden, ist das Volk die Form der gewachsenen Zusammengehörigkeit der Menschen. c) Der Begriff Volk gewinnt sogar theologische Bedeutung. Der Bund Gottes mit Abraham und dann mit Mose schafft, erwählt und erhält ein Volk des Eigentums. Daß dieses Volk ein Volk „nach dem Fleisch" ist, ist gerade das Entscheidende an der Sache. In Analogie zu diesem Volk des Alten Bundes versteht sich die Christenheit als das Volk des Neuen Bundes. Die Christenheit, die Kirche ist der λαός του θεοϋ, populus Dei (vgl. 36. Kap.). Die neue Menschheit, die Menschheit Gottes wird Gottes Volk sein. „Volk" wird so geradezu zu einem eschatologischen Begriff. Die Christenheit ist nach 1 Petr 2, 9 das heilige Volk, das Volk des Eigentums. Sie ist, in Wiederaufnahme von Hosea 2, 25, „nun aber Gottes Volk", nachdem sie vorher „nicht ein Volk war". In unmittelbarem Zusammenhang damit ist es von Bedeutung, daß auch die sog. Heiden unter dem Begriff der „Völker" erscheinen (εθνη).
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Eben als diese Völker haben sie die Verheißung, dermaleinst dem großen Gottesvolk zugeführt und zugeordnet zu werden. Die Tore des neuen Jerusalem werden nicht mehr verschlossen sein, sondern sie werden für die Heiden offen stehen, so daß sie ihre Herrlichkeit und Ehre in das neue Jerusalem einbringen können: A p k 2 1 , 24 ff. Audi alle überkommenen Trennungen in der Gemeinde, der Unterschied von Juden und Griechen und die sozialen Unterschiede von Knechten und Freien, Mann und Weib sind in der neuen Gemeinde dadurch aufgehoben, daß sie „allzumal in Christo Jesu", d. h. zu einem Volk zusammengefaßt sind (Gal 3, 28). Das Volk hebt sich im Bild der menschlichen Gesellschaft eigenartig heraus. Es ist nämlich den anderen Formen der Gesellschaft nicht nur in seiner Ursprünglidikeit und in seiner bergenden Kraft überlegen, ihm eignet überdies eine besondere Integrationskraft. Im Vergleich zu modernen Organisationen tritt das deutlich heraus. Eine Standesorganisation, eine Partei oder was auch immer drängt auf eine zwar klar gegliederte, aber in sich dodi möglichst wenig differenzierte Mitgliedschaft. Das Volk erträgt nicht nur eine Differenzierung, eine mitunter sehr subtile Gliederung, sondern es zeigt gerade seine Lebendigkeit daran, daß es solche Gliederungen aufweist. Um an das Elementarste zu erinnern: Das gewachsene Volk ist in Stände gegliedert; deutlich heben sich Führungsschichten vom einfachen Volk ab. Die Unterschiede von Stadt- und Landbevölkerung, von Handel und Gewerbe, in großen Völkern die Landschaftscharaktere und Dialekte beleben das Bild des Volkes. Das Volk wird durch diese Gliederungen nicht gelähmt oder in seiner Einheit gestört. Vielmehr setzt sich die Volkhaftigkeit des Volkes eben durch diese Schichtungen und Gliederungen durch. Alle diese Schichten und Gliederungen integrieren sich zum Volk. Wir haben auf die Analogie von Kirche und Volk hingewiesen. Diese Analogie ist ebenso theologisch begründet, wie sie eine unmittelbare reale Bedeutung hat. Um dieser Analogie willen kann die Kirche ins Volk eingehen, kann sich organisch mit ihm verbinden. In diesem tieferen theologischen Sinn muß sogar die Kirche Volkskirche sein; denn audi sie verlangt und erträgt in sich selbst Schichtungen und Gliederungen nach Art des Volkes. Auf dieser Analogie beruht die gegenseitige Bezogenheit von Kirche und Volk, das Eingehen der Kirche in die Volksordnung ebenso wie die Einwirkung der Volksordnung auf das Leben der Kirche. Auf dieser Analogie beruhen freilich ebenso die Spannungen, ja die Voraussetzungen zu den schwersten ideologischen Auseinandersetzungen zwischen Volksordnung und Kirche, kurz die
Tendenzen der modernen Gesellschaftsentwicklung
S51
Voraussetzungen zu einem „Kirchenkampf"; denn der Kirdienkampf setzt ja voraus, daß Kirche und Volk einander nicht gleichgültig sind und daß sie sich gegenseitig nicht in die Gleichgültigkeit entlassen können. Es läßt sich durchaus eine vereinskirchlich verstandene Kirche denken, in deren Konsequenzen die Analogie zwischen Kirche und Volk aufgehoben ist und dementsprechend audi die Berührungsflächen zwischen Kirche und Volk auf ein Minimum reduziert sind, ja wo ein gegenseitiges Desinteressement sogar theologisch begründet wird. Dem liegen aber derartige Irrtümer zugrunde, daß man fragen muß, ob hier die Kirche nidit bereits zur Sekte geworden ist (vgl. auch 36. Kap.). Die Sonderstellung des Volkes im Gesamtbild der menschlichen Gesellschaft ergibt sich auch noch in einer anderen Hinsicht. Betrachtet man nämlich die sozialen Verschiebungen der Neuzeit, so kann man fragen, warum derartige soziale Verschiebungen nicht schon in früheren Jahrhunderten ins Bewußtsein der Mensdien getreten sind. H a t es doch immer eine Sozialgeschidite gegeben. Der Grund dafür scheint darin zu liegen, daß die modernen Entwicklungen der Gesellschaft den integrierten Volksbegriff und damit den Begriff eines die ganze Gesellschaft in sidi integrierenden Volkes gleichsam zum Ausgangspunkt haben. Die moderne Sozialentwicklung geht intentional von diesem Volk weg. Daraus ergibt sich der optische Eindruck, daß vom Standpunkt des alles in sich integrierenden Volkes aus diese Sozialentwicklungen Verfallscharakter haben. Dieser Eindruck läßt sich auch so lange nicht beheben, als man die überkommene Gestalt des gewachsenen Volkes aus einer gewissen romantischen Grundeinstellung heraus für die einzige Form eines gesunden Soziallebens hält. Uberzeugt man sich aber davon, daß audi das Volk nur, wie wir sahen, eine spezifische, wenn auch privilegierte Erscheinungsweise der Gesellschaft ist, die ihre eigene Entstehungsgeschichte hat und niemals ewig ist, dann treten die Dinge in ein anderes Licht. Man wird erkennen, daß eben dieses Volk selbst in der Neuzeit in einem grundlegenden Wandel begriffen ist, einem Wandel, der durchaus zu neuen volkartigen Gesellschaftsbildungen führen kann.
3. Tendenzen der modernen
Gesellschaflsentwicklung
Zuletzt soll der Versuch unternommen werden, einige Kennzeichen der modernen Gesellschaftsentwicklung aufzuspüren. Dabei meinen wir mit Modernität kurzerhand das technische Zeitalter, obwohl man natürlich den Begriff auch anders umgrenzen kann.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
a) Im Kapitel über die Technik erwähnte ich schon die Tendenz auf Vereinheitlichung des Lebensstils. Das Automobil, das Flugzeug, die Eisenbahn haben auf der ganzen Welt dasselbe Aussehen. Die Spurweiten der Bahnen und die Regeln des Verkehrs sogar in der Luft unterliegen internationaler Normung. Die Fabriken sehen in Europa, Amerika und Asien gleich aus, und auch der Stil des Hauses wird in der ganzen technisierten Welt immer einförmiger. Die Produkte der Industrie werden genormt, weil sie auf diese Weise billiger werden und weil nur unter der Voraussetzung einer strengen Normung die Ersatzteile für Maschinen beschafft werden können. Die Mode ist überall zugleich eine Uniformierung der Menschen. Die Vermittlung der Sprache durch Presse und Rundfunk und die fortwährende Mischung der Bevölkerung lassen die Dialekte verschwinden. Es läßt sich aufs Ganze gesehen noch gar nicht abmessen, wie die Welt einmal aussehen wird, in der das Individuelle durch diese Entwicklung weiterhin in den Hintergrund gedrängt und überspielt wird. b) Das individuelle Leben verliert nicht nur an Spielraum und Entfaltungsmöglichkeit, es verliert überhaupt seine Freiheit. Wiederum stehen wir insofern vor einem Paradox, als der Verlust der individuellen Freiheit eben der Kaufpreis für die Sicherung des Individuums ist. In immer größerer Zahl hängen die individuellen Existenzen von einem Geldgeber ab, sei es ein Industriekonzern, ein Großbetrieb, sei es der Staat. Die unerhörte Bevölkerungsvermehrung vollzieht sich, ohne daß Grund und Boden mitwachsen. Immer weniger Menschen haben eigenen Grund und Boden. Immer weniger Menschen leben in einem eigenen Haus. Das Gesetz dieser Unfreiheit und Abhängigkeit des einzelnen Menschen betrifft nicht nur das Proletariat, sondern es gilt ebenso für den ganzen Beamtenstand, für die Parlamentarier, für die ganze Wissenschaft, für die bewaffnete Macht usw. Sie alle sind, kurz gesagt, darauf angewiesen, daß sie regelmäßig bezahlt werden. Damit ist nicht gesagt, daß man sich gegen diese zahlenden Mächte, Geldgeber aller Art, den Staat usw., nicht wehren könne. Aber jede Art von Gegenbewegung bringt den Menschen sofort unter dasselbe Gesetz der Unfreiheit. Wer sich bei seinem Protest gegen die öffentlichen Machtverhältnisse nicht selbst wiederum einer Standesorganisation, einer Partei oder Gewerkschaft anschließt, ist verloren. Ihm wird gesagt: „Allein nichts; vereint alles!" Auch bei seinen individuellen Regungen ist der Mensch im technischen Zeitalter darauf angewiesen, sich einer Organisation anzuschließen. Sogar seine freie Zeit, den Urlaub, liefert er einer Organisation aus. Jede Organisation ist aber eine
Tendenzen der modernen Gesellschaftsentwicklung
353
gemachte Verbindung. Die individuelle Freiheit kann also audi in der offiziellen Sphäre nur dadurch gesichert werden, daß man sie doch wieder zu einem Teil der Organisation aufopfert. Im technischen Zeitalter kann das Individuum in der offiziellen Sphäre nur in der Kraft institutioneller Maßnahmen seine Bewegungsfreiheit behalten, wozu neben Gewerkschaften und Parteien sicherlich auch die Proklamation seiner Grundrechte in der Verfassung gehört. Die Betätigung der individuellen Freiheit in der inoffiziellen Sphäre wird immer aussichtsloser, und doch brechen die Individuen immer wieder in ihrem Freiheitsdrang auch in diese inoffizielle Sphäre aus, um in ihr verloren zu gehen. Ich denke dabei an das Untertauchen in der Masse, an den Alleingang im Abenteuer oder im Verbrechen. Der Kriminalfilm und der Kriminalroman repräsentieren in schattenhafter Weise diesen Alleingang des aus dem Sozialgefüge ausgebrochenen Individuums. Aber dieser Alleingang wird da dodi nur in einem Traum der Phantasie genossen. Unsere Absicht ist in diesem Zusammenhang lediglieli die, auf die E n t w i c k l u n g s t e n d e n z e n aufmerksam zu machen. Wir müssen alle voreiligen Bewertungen unterlassen. Aber es hat nicht den Charakter einer Bewertung, wenn wir beobachten, wie diese Entwicklungstendenzen in der Tat vom gewachsenen, das ganze Gesellschaftsleben in sich bergenden Volk wegführen. Ob es sich dabei um Verfallserscheinungen handelt, kann überhaupt erst die Zukunft lehren. Jedenfalls gibt es keinen Rückschritt zum vorigen Zustand mehr. Die Bedeutung der Kirche und der Gemeinde sdieint vorweg darin zu liegen, daß sie die Erinnerung an die Volkhaftigkeit des Zusammenlebens der Christen nicht untergehen läßt. Es wäre ein Verhängnis, würden auch Kirche und Gemeinde diesen Entwicklungstendenzen entsprechend den Charakter einer Organisation, einer gemachten Verbindung der Menschen annehmen, einer Organisation also, die auch nur ihr Programm hat, ohne die Kraft zu entfalten, in sich selbst ein buntes Leben zu integrieren und das neue Volk darzustellen. Der einzelne Mensch ist ein Glied in der Gesellschaft. Aber damit ist nicht viel ausgesagt; denn nun müssen die Bezüge im einzelnen sichtbar gemacht werden, die ihn mit der Gesellschaft verbinden. Die folgenden Kapitel sollen davon handeln. Sie haben drei Bezüge sichtbar zu machen: die Ehre, das Eigentum, Arbeit und Beruf. Diese drei Bezüge könnten, wenn man so will, in ihrer elementaren Bedeutung für unsere Existenz schon daran erkannt werden, daß sich in ihnen Dekaloggebote spiegeln: das achte, das unsere Ehre, das siebente, welches das Eigentum schützt, und das zehnte, das uns (wenigstens in Luthers 23 Trillhaas, E t h i k
354
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Auslegung) an die Stelle unserer Arbeit bindet. Wir wollen diese beiläufige Beobachtung aber nicht überschätzen und hier keine „einfache Sittlichkeit" für Christen anknüpfen.
25. Kapitel Die
Ehre
1. Die Lebensnotwendigkeit
der Ehre
Es soll nur als eine vorläufige Beschreibung der Ehre verstanden werden, wenn wir sie zu Anfang behelfsweise so erklären: sie ist die Anerkennung der Gliedschaft eines Menschen im gesellschaftlichen Verband. Das gilt ganz allgemein. Wo immer ein Mensch sich unter anderen Menschen bewegt, ist er darauf angewiesen, von diesen anderen Menschen für voll genommen und anerkannt zu werden. Es gibt aber darüber hinaus eine speziellere Ehre, die wir in unserem Volk, in einem Stand, im Staate, bei einer Berufsgruppe, in der Öffentlichkeit haben. Es ist durchaus denkbar, daß wir diese spezielle Ehre in dem betreffenden Stand, bei einer gesellschaftlichen Schicht haben, während der andere Stand, eine andere Gesellschaftsschicht von dieser Ehre nichts weiß. Dadurch wird das Phänomen der Ehre von vornherein außerordentlich kompliziert, aber es enthält damit auch Hinweise auf eine nähere Beschreibung der Sache, was erst im Verlauf unserer Untersuchung ganz hervortreten wird. Die Ehre hat ihre eigene Soziologie. Sie ist immer etwas wie ein Reflex, den unser Wesen bei anderen Menschen hervorruft. Sie entspricht der äußeren und inneren Einschätzung der Person und besteht in dem „Ruf", den man genießt, in dem guten Namen einer Firma u. dgl. Die Ehre ist ein Spiegel, in dem der Mensch selbst erscheint. Die Ehre ist lebensnotwendig. Ein Mensdi kann ohne Ehre nicht leben. Das wird durch die Gegenprobe deutlich gemacht. Der Ehrlose ist geradezu rechtlos. Man gibt dem Ehrlosen keine Hand, keine Antwort, man pflegt mit ihm keine Geselligkeit. Er ist ausgestoßen aus der Gesellschaft, er ist gewissermaßen überhaupt nicht da. Jedes öffentliche Amt, jede Funktion in der Öffentlichkeit setzt voraus, daß der, der sie ausübt, Ehre besitzt. Infolgedessen ist mit aller Art von Ehre verbunden, daß man Ehrenrechte hat, die nicht nur dekorativ sind. Diese Ehre, die man natürlich in keiner Weise mit irgendeiner
Die Lebensnotwendigkeit der Ehre
355
Form von dekorativer „Ehrung" verwechseln darf, bezeichnet, auch ohne daß das öffentlich zum Ausdruck kommt, den Ort, wo einer im Gefüge der Gemeinschaft und in der Einschätzung durch seine Mitmenschen zu stehen kommt. Wenn er die Ehre verloren hat, dann geht ihm die Luft aus. Die Schande ist ein Aufhören der lebensnotwendigen Wertschätzung. Wer in Schande lebt, kann nicht ins Licht des Tages treten und muß die Gesellschaft meiden; er muß sich verbergen, muß „untertauchen". Die Verteilung von Ehre und Schande nicht nur auf einzelne Menschen, sondern auch auf ganze Schichten der Bevölkerung ist ein Motiv der Sozialgeschichte in alter und neuer Zeit. Ich erinnere an die Einschätzung der Juden im Mittelalter und in der Neuzeit. Die Judenemanzipation um die vorletzte Jahrhundertwende war im wesentlichen ein Kampf um die Gewinnung der gleichen Ehre mit den Nichtjuden. Die Ächtung der Juden im nationalsozialistischen Staat war die Katastrophe ihres Ehrverlustes. Ganze Berufe und Menschengruppen haben jahrhundertelang unter ihrer herabgeminderten Ehre gelitten und leiden noch heute darunter, ζ. B. die Henker und die Schauspieler, die Bettler und — wie wir meinen: nicht nur zeitbedingt — die Dirnen. Noch immer werden politische Gegner diffamiert, d. h. in ihrer Ehre (ζ. B. als „Verzichtpolitiker") angegriffen. Wenn ich an die Abwiirdigung des unehelichen Kindes, bzw. an den Kampf um seine Gleichberechtigung erinnere, so ist damit ein Fall bezeichnet, an dem die Heuchelei der moralischen Begründung für die Aberkennung der gleichen Ehre besonders deutlich zutage tritt. Bekanntlich ist es im wissenschaftlichen Verkehr eine Verschärfung der Kritik und der Ablehnung, wenn ein Autor einfach „totgeschwiegen", also als gar nicht vorhanden behandelt wird. Die geschilderten Sachverhalte sind elementar. Paulus bedarf der Ehre in der Öffentlichkeit, wenn er darin wirken soll, und er muß daher seine angegriffene Ehre (2 Kor 10—12) ausführlich verteidigen. Jesus, der doch am Schandholz der Unehre zu Tode gebracht wird, ist gegen die Verunehrung nicht gleichgültig (Joh 18, 23). Das Gemeindeleben der Christen erfordert, daß jedem Glied die ihm gebührende Ehre zukomme. Zahllos sind die Ermahnungen, das Alter zu ehren. In der Gemeinde gilt „Einer komme dem anderen mit Ehrerbietung zuvor" (Rom 12, 10) und „Ehre, dem Ehre gebührt" (Rom 13, 7), vgl. 1 Petr 2 , 1 7 . Selbst für die Ehe ist es unerläßlich, daß Mann und Frau sich darin gegenseitig die schuldige Ehre erweisen (1 Petr 3, 7). In diesem Sinne setzt die alte Liturgie in einem ausführlichen Zeremoniell der Ehrerbietung gegen die Älteren, die Väter, die Oberen und 23"
356
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
die Träger hoher Ämter ein urchristliches Motiv fort, das sachgemäß ist und nicht Gegenstand des protestantischen Ressentiments sein sollte. Für den Begriff der Ehre ist von nadihaltiger Bedeutung Friedrich Gogarten: Politische Ethik, 1932, und auf seiner Linie verfahrend Ο. H. Nebe: Die Ehre als theologisches Problem, 1936. Bei Eiert: Ethos § 21 und Althaus: Grundriß § 19 finden sich wichtige Beiträge. — Hans Reiner: Die Ehre. Kritische Sichtung einer abendländischen Lebens- und Sittlidikeitsform, 1956 — RGG II, 339 ff. — StL II, 1048 ff. — H. J. Hirsch: Ehre und Beleidigung. Grundfragen des strafrechtlichen Ehrenschutzes, 1967. Diese sorgsame juristische Arbeit greift in ethische Reflexionen über. Wenn er den hier vertretenen Begriff von Ehre als „sozialen" Ehrbegriff versteht und angreift, so empfinde ich das als ein tiefgreifendes Mißverständnis. Immerhin macht er darauf aufmerksam, daß dieser existentielle Ehrbegriff manipuliert und sozialkämpferisch oder in Rassenkämpfen deformiert werden kann. Es gibt eine Unbescholtenheit, eine Ehre, die der Mensch als Mensch „an sich" hat, deren Wegnahme ein Verbrechen ist. Insofern ist es richtig, daß die Grundlage der Ehre in der „Personwürde" selbst liegt. 2. Die äußere Ehre und ihr inneres
Maß
Alle Ehre hat ihren Ort unter den Menschen, also in einer größeren oder geringeren Öffentlichkeit. Sie ist immer bis zu einem gewissen Grade etwas Äußeres, ja Äußerliches. Zugleich aber hat sie eine Innenseite. Und an dieser wird die äußere Ehre gemessen. Man spricht daher häufig, wenn audi nidit ganz zutreffend, von einer äußeren und einer inneren Ehre. Richtiger wird es sein, die Objektivierung der Ehre von der Art zu unterscheiden, in der die Ehre aktuell erscheint. So kann man eine äußere Würde von einer inneren Würde unterscheiden; die eine „hat" man, die andere wird erfahren, anerkannt. Man wird mit der äußeren Ehre „bekleidet", die äußere Ehre oder Würde wird einem beigelegt. Man vergegenwärtige sich Ernennungen, Investituren oder die Überreichung von Auszeichnungen, aber audi diese äußeren Ehren sind uneraditet ihrer scheinbaren Objektivität außerordentlich relativ. Sie gelten nicht absolut, d. h. unabhängig von ihrer inneren Erfüllung und nicht ohne Rücksicht auf die unablässig von anderen Menschen zu vollziehende Anerkennung. Das Verhältnis der äußeren Ehre zu ihrem inneren Maß wird an zwei Grenzphänomenen deutlich sichtbar. Mit dem Verlassen eines Amtes oder Berufes fällt die mit diesem Amt offiziell verbundene Ehre insofern dahin, als der aus dem Amt Scheidende keinen unmittelbaren Anspruch auf die mit dem aktuellen Amte verbundene Ehre mehr hat. Der Ruhestandsbeamte, der abgedankte König, der emeritierte Pfarrer, der aus dem Dienst geschiedene General sind Beispiele
Die Verletzlidikeit der Ehre
357
dafür. Nun kann aber die wahre Ehre, die innere Würde von einer solchen Veränderung ganz unberührt bleiben. Es kann der Fall sein, daß entgegen der Minderung an äußerer Ehre sich die Wertschätzung, das wahre Ansehen des Betreffenden in der Öffentlichkeit erst recht zur Geltung bringt. Der entgegengesetzte Fall liegt vor, wenn die äußere Ehre über das Maß betont und in Anspruch genommen wird. Das Maß selbst, der innere Gehalt, die wahre Achtung des Betroffenen in der Gesellschaft bleibt weit hinter dem Ausmaß der äußeren Ehrung zurück. Die Häufung von Jubiläen, von Orden, von akademischen Ehrungen steht oft in einem Mißverhältnis zu dem inneren Maß. Eben dieses Mißverhältnis wirkt dann als Kontrast und gebiert die Karikatur aus sich. Für das Verhältnis der äußeren Ehre zu ihrem inneren Maß gibt es also schwer definierbare Gesetze des Gleidigewidits, gibt es jedenfalls das Gebot der Wahrhaftigkeit. Die äußere Ehre soll wahr sein, sie soll in Ansehung der inneren Würde und des wahren Wertes einer Persönlichkeit gerecht sein. Die äußere Ehre soll gefüllt sein, sonst wird sie als nur äußerlich empfunden und entbehrt der Überzeugungskraft. Zu den Veräußerlichungs-Phänomenen gehört aber nicht nur die Überladung mit äußeren Ehren im Gegensatz zum inneren Maß. Hierher gehört auch die Inanspruchnahme von Ehre ohne eine gerechte Begründung (Ehrgeiz): man will mehr Ehre haben, als einem zusteht. Der Ehrgeiz überhebt sich selbst und nimmt eine Ehre in Anspruch, die vielmehr einem anderen gebühren mag, dem er sie förmlich wegnimmt. Der psychologische Grund des Ehrgeizes ist oft sehr widersprüchlich, er liegt in dem Gefühl der eigenen Minderwertigkeit, das man durch die Inanspruchnahme höherer Ehre überzukompensieren versucht. Hierher gehört auch die mitunter zu beobachtende Alterseitelkeit bei Greisen. Man kann im Leben nicht mehr recht mitspielen, ist nicht mehr voll konkurrenzfähig und sucht die mangelnde Selbstbestätigung dadurch zu erreichen, daß man, etwa auf Grund der Erinnerung an weit zurückliegende Leistungen und unter Berufung auf die Würde des Alters, ein besonderes Maß von äußerer Ehre in Anspruch nimmt.
3. Die Verletzlichkeit
der Ehre
Die Ehre eines Menschen ist außerordentlich labil und verletzlich. Der gute Ruf ist ja auf Gedeih und Verderb den Mitmenschen ausgeliefert und es hängt oft von Zufällen ab, welches Schicksal unser „Leumund" im Munde der Leute erleidet. Schon ein Mißverständnis,
358
IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
die Anstößigkeit des Lebensstils kann in ihrem öffentlichen Reflex die Achtung, die einer genießt, und seine Ehre dermaßen beschädigen, daß er den Schaden kaum mehr überwinden kann. Jeder Mensch hat ein Redit auf die eigene Ehre und ihren Schutz. Aber keiner soll mehr Ehre in Anspruch nehmen, als ihm zukommt. Jedes Übermaß des Anspruches nimmt gewissermaßen
den anderen Menschen etwas von
ihrer eigenen Ehre weg, bedrängt und schädigt sie so, daß audi das Vorschieben des eigenen Ehrbedürfnisses sidi häufig als eine latente Beleidigung anderer Menschen auswirkt — sofern es nidit einfach komisch und belustigend wirkt. So wird der Schutz der fremden Ehre geradezu zu einer Liebespflicht. Von Anfang an galt es als ein Ausdrude christlicher Gesinnung und brüderlichen Geistes, anderen Menschen ihre Ehre zu geben und sie nach dem Maß ihrer natürlichen Würdigkeit zu achten. Es ist nicht nur eine Kulturlosigkeit, sondern ein Mangel an christlicher Gesinnung, wenn man meint, es folge aus dem Gedanken der Bruderschaft eine Einebnung der Ehre des einzelnen und die förmliche Verweigerung von Ehrerbietung, Achtung, Respekt und jeglicher guter Form des U m gangs. Man kann die Einhaltung der rechten Maße, nach denen wir jedem die schuldige Ehre erweisen, also die tief verwurzelte Höflichkeit, die aus dem Herzen fließt, geradezu als eine Fortsetzung unserer Liebespflicht in den alltäglichen Umgang hinein verstehen (vgl. audi Kap. 20, 3). Unsere Pflicht, den Leumund eines Menschen zu schützen, kann mit der Wahrheitspflicht in Widerspruch geraten. Natürlich steht die Wahrheitspflicht unerschütterlich fest. Wer unser Zeugnis verlangt, hat Anspruch auf die Wahrheit des Worts; anders schädigen wir ihn und zerstören das Vertrauen. Aber auch der, dessen Ruf uns anvertraut ist, hat Ansprüche an uns. E r kann zwar nicht verlangen, daß wir zu seinen Gunsten lügen. E r kann aber hoffen, daß wir ihn schonen und gegebenenfalls schweigen und zudecken, was nicht unbedingt in die Öffentlichkeit gebracht werden muß, sofern wir nicht zum
Reden
geradezu gezwungen werden. Auch das Schweigen kann ein Liebesdienst am guten Ruf des Nächsten sein. Man kann es im übrigen nicht klarer, wesentlicher und knapper sagen, als es Luther in der Auslegung zum achten Gebot im Katechismus getan hat: Wir sollen den Nächsten „entschuldigen, Gutes von ihm reden und alles zum Besten kehren". Von der Labilität und Verletzlichkeit der E h r e müssen wir die Labilität des E h r g e f ü h l s unterscheiden. Es ist eine Sache der sittlichen Sorgfalt, auf die Verletzlichkeit der Ehre, der eigenen wie der
Die Verletzlichkeit der Ehre
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des Nächsten zu achten. Aber die Reizbarkeit des Ehrgefühls und die Uberbetonung des point d'honneur, wie sie nicht nur in gewissen L ä n dern und in früheren Zeiten kultiviert wurde, sondern auch gewisse Schichten der Bourgeoisie bis in die Gegenwart hinein kennzeichnet, entstellt hier doch die wahren Sachverhalte. Die E h r e wird nämlich nun zu einem Privileg des vornehmen Mannes. U n d zu diesen Privilegien wird es gerechnet, daß der Vornehme seine verletzte E h r e nicht nur wiederherstellen muß, sondern daß er sie unter Umgehung der öffentlichen Gerichte durch einen Beweis des Mutes wiederherstellen muß. Mit der Überempfindlichkeit des Ehrgefühls geht seit alters H a n d in H a n d eine gewisse Mythologie und ein verhängnisvolles Pathos. Die befleckte E h r e ist nur mit „Blut" zu reinigen, und der Beleidigte ist zur Rache an seinem Beleidiger nicht nur berechtigt, sondern geradezu verpflichtet. Aus dieser entstellenden Auffassung von Ehre erklären sich die althergebrachten Zweikampf-Sitten. Wir nennen den Zweikampf mit tödlichen Waffen nach vereinbarten oder herkömmlichen Regeln Duell; in der harmloseren Form spricht man von Mensur. In altgeschichtlicher Zeit haben häufig Zweikämpfe den Kampf ganzer Heere ersetzt. Im Mittelalter war der Zweikampf ein Beweismittel vor Gericht, wenn andere Beweismittel versagten. Aber schon im Mittelalter regte sich die kirchliche Kritik dagegen. Nachdem das Kampfspiel des Turniers in der Mitte des 16. Jahrhunderts außer Übung gekommen war, kamen während des Dreißigjährigen Krieges aus dem französischen Adel und Offizierskorps erneut Zweikämpfe in Übung, mit denen die Standesehre gewahrt werden sollte. Bei der Kritik dieser Sitten sollte die Bedeutung der Ehre und des Ehrenschutzes außer Frage stehen. In Frage steht nur, ob der Zweikampf ein geeignetes Mittel des Ehrenschutzes ist. Die Kritik an den herkömmlichen Zweikampf-Sitten hat verschiedene Gesichtspunkte zu wahren. Handelt es sich wirklich um ein schweres Delikt der Entehrung, dann ist jede Selbsthilfe verwerflich, und es ist widersinnig, die Bereinigung des Unrechts dem Zufall, dem Mut, der Nervenkraft und Geschicklichkeit der Beteiligten zu überlassen. Vor allem erscheint es verwerflich, diesen Ehrenschutz auf die Angehörigen einer bestimmten Gesellschaftsschicht, auf den Adel, das Offizierskorps oder Akademiker zu beschränken. Verwerflich ist es, wenn die Angehörigen solcher Kreise durch altertümliche Sitten geradezu zu solchen Zweikämpfen gezwungen werden, verwerflich, im Duell die Tötung eines Menschen um einer wirklichen oder vermeintlichen Beleidigung willen zu riskieren; verwerflich ist es auch, durch die Exklusivität dieser Sitten anderen Menschen die Ebenbürtigkeit ihrer Ehre und des nötigen Ehrenschutzes abzusprechen (Satisfaktionsfähigkeit). Zum Problem des Zweikampfes gibt es reiche Literatur: R E X X I , 759 ff. (hier ältere Literatur) — M. Gierens: Ehre, Duell, Mensur, 1928 — StL 3 V, 1728 ff. StL V I I I , 1008 f. — LThK X , 1109 ff. (Lit.) — J . Huizinga: Homo ludens, (1939) (rde 21) 1963 — H . N o t t a r p : Gottesurteile, 1929 — H. Reiner: Die Ehre, 1956 — R G G II, 278 f.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
4. Relativität der Ehre und „Ehre bei Gott" Kann man auch auf Ehre verzichten? Es muß uns bedenklich stimmen, daß sich Ehrlose häufig darauf hinausreden, es genüge ihnen, ihre Ehre nur bei sich selbst oder bei Gott zu haben. Es läßt sich aber nicht zurücknehmen, was wir zu Beginn des Kapitels gesagt haben, daß nämlich die Ehre ein Ausdruck dafür ist, daß wir in unserer Zugehörigkeit zur Gesellschaft oder zu einer Gesellschaftsgruppe Anerkennung finden. Es gibt keine Ehre, die nidit audi ein sozialer Begriff wäre und infolgedessen auch soziologischen Gesetzen unterliegt. Idi kann keine Ehre nur bei mir selbst haben, sondern jede Ehre habe ich bei jemandem. Zu jeder Ehre gehört ein Forum, vor dem meine Ehre bestehen muß und das mir — schrecklich genug — meine Ehre audi nehmen kann. Dabei mag dieses Forum so ungreifbar wie nur möglich gedacht werden; es kann die Bevölkerung eines Dorfes oder einer Straße oder schlechterdings die Öffentlichkeit sein. Es kann ebenso ein Forum im eigentlichen Sinn des Begriffs sein, nämlidi ein Gerichtshof oder eine Organisation, die berechtigt ist (oder sich für berechtigt hält), über die Ehre eines ihrer Glieder zu verfügen. Eben in Hinblick auf dieses Forum, wie immer man es sich audi denken mag, ist nun die Ehre eines Menschen relativ. a) Die Ehre ist zunächst relativ zu einem bestimmten sozialen Kreis von Menschen, der natürlicherweise seine Grenzen hat. Außerhalb dieses Kreises und seiner Grenzen weiß man von der Ehre nichts, die ich in jenem Kreise habe, oder es gelten doch andere Gesetze und Begriffe der Ehre. Die Ehre, die idi in einem Volk habe, kann ich nicht ebenso im Kreis eines anderen Volkes beanspruchen. Gesellschaftliche Gruppen, besonders wenn sie ein sehr ausgeprägtes Selbstbewußtsein haben, hüten ihre eigene Ehrauffassung, aber sie dürfen nicht damit rechnen, daß ihr Ehrenkodex auch außerhalb ihres Kreises Anerkennung findet. Man wird damit rechnen müssen, daß sich zwischen verschiedenen Menschenkreisen eine gewisse Dialektik in der Anerkennung der Ehre ergibt. Ein Verbrecher, der seine Bande bei der Polizei verpfeift, verliert seine Ehre unter seinesgleichen, um sie womöglich vor der Polizei zu gewinnen. b) Die Ehre ist aber auch relativ zur Einsicht der Menschen, von denen die Ehre in jedem einzelnen Falle abhängt. Das betreffende Forum — wenn wir diesen Begriff einmal festhalten dürfen — kann sich ja auch über die Ehrenhaftigkeit eines Menschen irren, ja, es kann ein Kollektivunrecht an einem seiner Glieder begehen. Oft wird die Ehre in einer Gesellschaftsschicht davon abhängig gemacht, daß man
Schuld und Vergebung
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bestimmte religiöse oder politische Uberzeugungen teilt. Wer sie nicht teilt, verliert seine Ehre. Diese Beispiele sind nicht dadurch zu entkräften, daß man die Bedeutung der Ehre überhaupt verneint. In solchen Fällen handelt es sich vielmehr um einen echten Ehrverlust, der auch in handgreiflichen Beispielen zu einer schweren Schädigung der Betroffenen, sogar noch zu einer Schädigung ihres guten Rufes bei der Nachwelt geführt hat. Die Geschichtsforschung hat oft Gelegenheit, das Gedächtnis geschichtlicher Gestalten aus dem Zwielicht zu rücken und zu rehabilitieren. Wer von einem solchen Ehrverlust betroffen ist, der kann sich nicht damit trösten, daß die Ehre ja nur Schein sei. Er erlebt zwar die Relativität der Ehre, aber die Schädigung wird durch die Einsicht in die Relativität nicht behoben. Ein wirklicher Trost kann dem, der zu Unrecht seine Ehre verloren hat, nur aus dem guten Gewissen erwachsen, es sei denn, er könnte sich in andere Kreise zurückziehen, vor deren Forum seine Ehre wiederhergestellt wird. Aber das ist nicht in jedem Fall möglich. Es gibt Geächtete, die ihrer Ehre beraubt, schutzlos und heimatlos werden. Nur wer in diesem Unglück ein gutes Gewissen behält, kann den Verlust der äußeren Ehre überwinden. Aber diese Unabhängigkeit von äußeren Ehren bedeutet dann schon so etwas wie eine Auswanderung aus der Welt, die uns mit ihren Ehren zu halten versucht und die uns durch den Raub der Ehre tötet. Die Ehre wird uns gewiß nicht gleichgültig, wie sie auch dem Apostel Paulus nicht gleichgültig war. Der Verlust der Ehre wird zu einem Symptom der Verfolgungszeiten, und gerade dadurch wird die Ehre in ihrer Bedeutung bestätigt. Aber das Verhältnis des Menschen zu der Welt, in der die Ehren gelten, kann sich doch lösen. Der Mensch wird dann unabhängig von dem, was die Welt, was die Leute von ihm halten, und er achtet darauf, daß er bei Gott seinen Namen behält. Gott kann freilich dann in einer unanschaulichen Weise gewissermaßen die Ehren anders verteilen, und unter Christen werden dementsprechend andere Maßstäbe der Ehre gelten als in der „Welt". „Gott hat den Leib so zusammengefügt, daß er dem Dürftigsten am meisten Ehre gab". Und gleichzeitig gilt das andere: „Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit, wenn ein Glied geehrt wird, so freuen sich alle Glieder mit" (1 Kor 12. 24. 26). 5. Schuld und
Vergebung
Die Verletzung der Ehre von Mensch zu Mensdi nennen wir eine Beleidigung. Insofern, als dazu ein gewisses Maß von Öffentlichkeit gehört, und wäre es auch nur ein einziger Zeuge, berührt jede Belei-
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
digung die Rechtssphäre. Und darum ist auch die Wiederherstellung der verletzten Ehre, sei es durch den Beleidiger selbst oder durch kompetente Dritte, ein Rechtsakt, der sich an die gleiche Öffentlichkeit wenden muß, vor der sich die Beleidigung abgespielt hat. Das sind elementare Dinge, die sich für jeden „rechtlich" denkenden Menschen von selbst verstehen sollten. Aber Verletzung der Ehre ist noch mehr. Sie ist Verletzung der Person, ein Angriff auf den anderen Menschen, eine Verwundung, die schon als lieblose Gedankenlosigkeit schmerzt, die aber auch schlagartig einen Abgrund des Hasses bloßlegen kann. Dann wird diese Verletzung zur Schuld. Und es ist dann nicht nur die verbale „Beleidigung", sondern es kann auch auf ganz anderem Wege, etwa durch ein listiges Überspielen der Interessen auf den Hintertreppen persönlicher Beziehungen zu dieser tiefen Verwundung kommen, die im christlichen Sinne schlechthin zur Schuld gegen den anderen Menschen wird. Von ihr soll hier in einer gewissen Erweiterung des Vorausgegangenen die Rede sein. Das Neue Testament sieht die Schuld vor Gott und die gegenüber den Menschen in einem sachlichen Zusammenhang. Denn die Schuld kann allemal nur durch eine volle Vergebung geheilt werden. In der fünften Bitte des Herrengebetes bitten wir Gott um die Vergebung unserer Schuld, aber die eigene Vergebungspflicht steht uns dabei vor Augen: „Wie wir unseren Schuldigern vergeben". Die Vergebungspflicht gilt absolut: Mt 18, 21—35 (vgl. Eph 4, 32 u. Kol 3,13). Nur durch Vergebung kann Schuld zwischen Menschen geheilt werden. Aber bedeutet die „absolute" auch eine „pauschale" und „bedingungslose" Vergebungspflicht? Man ist zunächst geneigt, diese Frage zu bejahen; denn die dogmatische Lehre von der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnaden ohne jedes Verdienst, also ohne jede Vorleistung durch irgendwelche Werke (ich gebrauche absichtlich die traditionellen Formeln der Dogmatik) scheint so etwas wie ein Modell für diese Pflicht zur pauschalen und bedingungslosen Vergebung zu setzen. Dennoch muß ich die Frage verneinen. Wohl bedeutet „absolute" Pflidit zur Vergebung die Pflicht zur Bereitschaft, dem Beleidiger, bzw. dem, der uns verletzt hat und dem es leid tut, zu vergeben. Es bedeutet aber nicht, eine Beleidigung einfach zu „übersehen" oder zu „vergessen". Ich möchte dafür wenigstens vier Gründe nennen. Eine vorgefallene Beleidigung schweigend übersehen wollen, das kann, sofern man dazu überhaupt imstande ist, die tiefste Form der Verachtung des Beleidigers sein. Es ist dann ein Verhalten, in dem idi
Schuld und Vergebung
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zum Ausdruck bringe: „Der Beleidiger steht so tief, daß er mich gar nicht wahrhaft beleidigen kann". Nicht die Verletzung, sondern der, der mich verletzt hat, ist es nicht wert, daß ich ihn beachte. Aber das kann unmöglich der Sinn der Vergebungspflicht sein. Es ist zweitens daran zu erinnern, daß „Vergeben" und „Vergessen" nicht dasselbe sind. Und selbst wenn es dem Beleidigten gelingen sollte, zu vergessen (in den meisten Fällen eine ziemlich unrealistische Annahme), so wird doch der Beleidiger selbst, je „gezielter" er beleidigt hat, desto weniger vergessen können. Er muß also die Schuld, die auf ihm liegt (weil sie ja niemand weggenommen hat), verdrängen. Und das bedeutet, diese Schuld richtet im Unterbewußtsein immer schwerere Zerstörungen an. Audi das kann nicht der Sinn der Vergebungspflicht sein. Auch könnte es einfach eine moralische Bequemlichkeit sein, die einer klärenden Aussprache und ihren Eventualitäten ausweicht. Eine gewisse Geste von „Vornehmheit" gleitet darüber hinweg, daß in Wahrheit doch nur eine Bereinigung der Situation, eine ausgesprochene Vergebung wirklich die Schuld aus der Welt schafft. Und schließlich ist viertens daran zu erinnern, daß man ja gar nicht weiß, ob der Schuldige überhaupt nach unserer Vergebung verlangt. Schweigendes Übersehen und angebliches Vergessen wird aber gerade dann, wenn die Vergebung gar nicht begehrt wird, zu einem billigen Kniff, sich auf leichte Art über das hinwegzusetzen, was sich im konkreten Akt des Vergebens als eine schwere Pflicht erweist. Die Pflicht zur Vergebung enthebt uns nicht der Notwendigkeit, Sauberkeit und Klarheit in unseren menschlichen Beziehungen herzustellen. Denn die christliche Liebe und der Gedanke der Vergebung sind keine Deckblätter für unbereinigte, und das hieße ja ungeklärte und darum unsaubere menschliche Verhältnisse. Aber diese Bereinigung kann nicht ohne ein klares Eingeständnis der Schuld und ebenso nicht ohne eine deutliche „Ent-schuldigung" geschehen.
26. Kapitel Das
Eigentum
Vorbemerkung Die christliche Ethik hat zum Eigentumsbegriff ein unmittelbares Verhältnis. Wie elementar das Eigentum für unser Dasein ist, kommt darin zum Ausdrude, daß das siebente Gebot des Dekalogs den Schutz des Eigentums deklariert und daß es in der Auslegung Luthers eine
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Sache der Nächstenliebe ist, diesen Nädisten in seinem Eigentum zu respektieren. Es hat besondere Gründe, wenn wir den unmittelbaren christlichen Bezug zum Eigentumsbegrifï vorweg festhalten. Das Eigentum ist ja nicht minder ein Gegenstand der Rechtswissenschaft und der Rechtsphilosophie. Trotzdem werden wir uns in der christlichen Ethik von der Jurisprudenz unabhängig machen müssen. Die alten Fragen der Rechtsphilosophie nadi dem Ursprung des Eigentums sollen uns aus diesem Grunde wenig berühren; sie berühren uns freilich wenig auch aus dem anderen Grunde, weil diese Theorien bei aller relativen Wahrheit wenig austragen. Es handelt sich um die Legaltheorie, nach der das Eigentum seinen Ursprung in den Setzungen des positiven Rechts hat, um die Vertragstheorie, nach der es aus einer vertraglichen Regelung der Menschen untereinander hervorgegangen sein soll, und schließlich um die Evolutionstheorie, welche das Eigentum aus der geschichtlichen oder wirtschaftlichen Entwicklung herleitet. Es liegt auf der Hand, daß in diesen drei Theorien jeweils eine gewisse relative Wahrheit zum Ausdruck kommt, daß aber keine für sich die Sache hinreichend erklärt. Auch in anderer Hinsicht muß die christliche Ethik gerade in ihrem evangelischen Verständnis der Aufgabe um ihre Selbständigkeit kämpfen. Die in der Moderne zur Verhandlung stehenden Probleme des Eigentums sind in intensiver Weise durch den Sozialismus, vor allem durch die Theorien von Karl Marx zum Gegenstand der wissenschaftlichen Erörterungen ebenso wie der Politik geworden. Dadurch ist ein gewisser Sog entstanden, der es förmlich verhindert, eine Eigentumslehre zu entwickeln, ohne sofort in die Problematik des Sozialismus oder des Antisozialismus einzutreten. Dieser Sog ist um so stärker, als die alte Eigentumslehre des Thomismus in dieser Auseinandersetzung mit den sozialistischen Theorien zweifellos in eine Krise geraten ist. Die evangelisch verstandene christliche Ethik steht also bei diesem Thema unmittelbar zwischen Sozialismus und Neuthomismus, wenn man so will: zwischen zwei Formen naturrechtlicher Eigentumstheorien. Bei aller Offenheit nach beiden Seiten ist es die große Aufgabe, hier einen eigenen Weg zu gehen, der das ethische Denken nicht abschließt, der aber diesem Denken doch einen festen und eigenen Ort anweist. Man kann die Literatur für die neuzeitliche Erörterung mit K a r l M a r x : Das Kapital, 1867, beginnen lassen. Ferner: Th. Lorch: Die Beurteilung des Eigentums im deutschen Protestantismus seit 1848, 1930 — Emil Brunner: Gerechtigkeit, 1943 — G. W . Locher: Der Eigentumsbegriff als Problem evangelischer Theologie, (1954) 1962* — A . de Quervain: Ethik II/3, 1956
Begriff und Arten des Eigentums
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— Art. Eigentum in RGG II, 363 ff. (Literatur!) R.-P. Calliess: Eigentum als Institution, 1962 — G. Breidenstein: Das Eigentum und seine Verteilung, 1968 — Die katholische Literatur beginnt für die moderne Situation mit den päpstlichen Enzykliken „Rerum novarum" vom 15. Mai 1891 (Leo XIII.) und „Quadragesimo anno" vom 15. Mai 1931 (Pius XI.) — Wörterbuch der Politik, hrsg. von O. v. Nell-Breuning und H. Sacher, 1954 — A. Burghardt: Eigentumsethik und Eigentumsrevisionismus, 1955 — J. Y. Calvez und J. Perrin: Kirche und Wirtschaftsgesellschaft. Die Soziallehre der Päpste von Leo XIII. bis zu Johannes XXIII., Bd. I—II, 1965 — StL II, 1061 ff., IX, 618 f. (Lit.). Wichtig ist die Denkschrift „Eigentum in sozialer Verantwortung", welche die „Kammer für Soziale Ordnung" der Evang. Kirche in Deutschland am 6. 4.1962 vorgelegt hat, abgedruckt ZEE 1962, 243 ff.
1. Begriff und Arten des Eigentums Der Begriff des Eigentums wird in einem doppelten Sinn gebraucht. Er bedeutet subjektiv das Recht des einzelnen, über eine Sache allein, also unter Aussdiluß jedes anderen Menschen zu verfügen. Im objektiven Sinn ist das Eigentum die Sache, über die der Eigentümer das Verfügungsrecht hat. Im subjektiven Sinn kann ich sagen: Dieses Haus befindet sich in meinem Eigentum, während man objektiv sagen muß: Das Haus ist mein Eigentum. Nun ist es eine alte theologische Frage, ob das Eigentum erst mit dem Sündenfall beginnt oder ob wir schon im Urständ des Menschen vor dem Fall mit Eigentumsverhältnissen rechnen dürfen. Die Schrift gibt uns keinen Anhaltspunkt dafür, den Menschen im Paradieseszustand bereits als Eigentümer zu denken. Der paradiesische Zustand übersteigt ohnehin jede Vorstellbarkeit. Andererseits ist freilich auch nicht einzusehen, inwiefern die Eigentumsverhältnisse eine Folge des Sündenfalls und nicht vielmehr eine Folge der Vermehrung der Menschheit sein sollen. Die Kirchenväter haben sich darüber auch nicht klar geäußert, und die Einbeziehung des Eigentums für die gegenwärtige Weltzeit in den Umkreis des Naturrechts durch Thomas von Aquin steht, soviel ich sehe, außer Zusammenhang mit dieser genetischen Frage der Urstandslehre. Unter Absehung von solchen Fragen beginnen wir vielmehr mit einer anthropologischen These, die, obwohl sie von elementarer Einfachheit sein mag, doch vielleicht eine größere Präzision garantiert: E i g e n t u m gehört zum Menschen, wie wir ihn k e n n e n . Zwar kommt der Mensch nackt auf die Erde und fährt nackt von dannen (Hi 1, 21 und Pred 5,14), aber das ist kein Gegenargument gegen die anthropologische Bedeutung des Eigentums und seine Unverzichtbarkeit im Bild des Menschen. Erwirbt doch der Mensch auch sonst noch viele Dinge und Fähigkeiten, die ihn zum
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Menschen machen und ohne die wir sein Menschsein nicht denken können, vor allem die Sprache. Das Dekaloggebot „Du sollst nicht stehlen" macht die Verletzung des Eigentums zu einer Verletzung des Mensdien selbst, wie denn auch die Nächstenliebe nicht denkbar ist, ohne daß wir unserem Nächsten „sein Gut und Nahrung helfen bessern und behüten", um mit Luthers Kleinem Katechismus zu sprechen. Der Schutz des Eigentums ist eine dem Menschen zugewandte L i e b e s p f l i c h t , wobei zu beachten ist, daß die Liebe eben diesem Nächsten und nicht dem Eigentum als solchem gilt. Machen wir uns die anthropologische Bedeutung des Eigentums im einzelnen klar! Das Eigentum gibt dem Menschen die Mittel zum Leben. Es gibt ihm seinen „Bios" im neutestamentlichen Sinne. Stellt man sich eine sozialistische Sozialordnung vor, in der jedem einzelnen etwa seine Kleidung und seine Nahrung zugemessen werden, so würde mindestens von dem Augenblick der Zumessung von Nahrung und Kleidung an ein „Eigentum" in diesem geschilderten Sinn entstanden sein. Natürlich reicht diese Begründung nidit aus. Das Eigentum macht den Menschen unabhängig von anderen, indem es ihm die Verfügung über gewisse Dinge gibt. Ich kann mit dem eigenen Buch, mit dem eigenen Kleid anders umgehen, als wenn Buch und Kleid einem anderen gehören und mir nur geliehen sind. Kraft des Eigentums fällt der Mensch anderen nicht zur Last. Das Eigentum macht den Menschen frei und es erleichtert ihm die Zivilcourage gegenüber denen, von denen er nicht materiell abhängig ist. Kraft des Eigentums kann ich über meine freie Zeit verfügen und Eigentum setzt den Menschen instand, anderen zu helfen. Es beflügelt zu Leistungen. Es ist Anreiz zum Fortschritt, ermöglicht uns die Ausweitung des Horizonts, während der fehlende Besitz uns immer in die engsten Schranken des Daseins bindet. Der Hinweis auf die urchristliche Gütergemeinschaft erweist sich bei näherem Zusehen als eine Bestätigung dieser Auffassung. Wo immer von dieser Vereinbarung in der ältesten Gemeinde gesprochen wird — und es scheint ja keineswegs ein durchgehendes Charakteristikum der alten Gemeinden gewesen zu sein —, da wird deutlich, daß die Beteiligung der Gemeindeglieder an der Gütergemeinschaft eine freiwillige Sache war. Sie hatte keinen gesetzlichen Charakter. Das Eigentum wurde also nicht verneint, sondern es wurde eine bestimmte Form vereinbart, mit dem Eigentum der Beteiligten in einer neuen und anderen Weise als bisher umzugehen.
Gehen wir von dieser schlichten Eigentum aus, so fällt uns alsbald des Eigentümers zu seinem Besitz des Eigentums ergeben. Halten wir
anthropologischen These über das auf, daß sich, von dem Verhältnis aus betrachtet, verschiedene Arten den Gesichtspunkt der verschieden-
Begriff und Arten des Eigentums
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artigen Relationen des Eigentümers zum Eigentum einen Augenblick fest, so erwachsen die ethischen Fragen aus der Beobachtung der realen Verhältnisse. a) Vom Eigentümer aus betrachtet, gibt es versdiiedene Arten des Eigentums hinsichtlich seiner V e r f ü g b a r k e i t . Es gibt beliebig verfügbares Eigentum, ζ. B. alles, was ich mit mir herumtrage, behalten oder verschenken kann. Es gibt begrenzt verfügbares Eigentum, ζ. B. Grundstücke, Anteile an Wasserkraft, räumlich entfernte oder ausgeliehene Gegenstände. Ich kann ein Grundstück zwar verkaufen, aber ich kann es nicht wegnehmen, verlegen usw. Ich kann über einen ausgeliehenen Gegenstand zwar verfügen, aber doch nur mit Vorbehalten. Es gibt nicht-verfügbares Eigentum, ζ. B. eingefrorene Guthaben auf der Bank, bei denen ich abwarten muß, bis sie eines Tages etwa im Lauf der politischen Entwicklungen wieder freigegeben werden. Interessant ist es dann zu beobachten, wie ein Eigentum von der einen Gruppe in die andere Gruppe innerhalb dieser Einteilung übergehen kann. Dinge, die an sich frei verfügbar sind, können etwa bei einem Grenzübertritt als unerwünscht erscheinen, so daß ich sie zu. Hause lassen muß. Sie werden begrenzt verfügbar durch die äußeren Umstände, ζ. B. die Zollbestimmungen. Wiederum können nicht-verfügbare Besitztümer verfügbar werden, ζ. B. wenn das eingefrorene Guthaben freigegeben wird. b) Das Eigentum kann verschieden sein hinsichtlich meines B e d a r f s . Es gibt Eigentum, das unbedingt notwendig ist: die Kleidung, die tägliche Nahrung, Tisch und Bett. Wir pflegen in diesem Fall von Existenzminimum zu sprechen, und das Gesetz hat wohl überall dieses Existenzminimum mit einem gewissen Privileg ausgestattet, ζ. B. insofern als es nicht pfändbar ist. Auch der verschuldete Mensch hat nodi einen anerkannten Anspruch auf dieses unbedingt notwendige Eigentum. Wenn wir nun den Raum, der um den Menschen her ist, erweitern, so kann ein Eigentümer audi einen verhältnismäßig weit gezogenen Lebensraum immer noch überblicken, innerlich beherrschen und zu einem Ausdruck seines eigenen Wesens machen. Weit über das unbedingt Notwendige hinaus schließt nunmehr der Umkreis des Eigentums audi das Entbehrliche, den Luxus, aber audi die ganze Apparatur mit ein, die zur Gewinnung des Lebensunterhaltes für den Eigentümer selbst, für seine Familie und viele andere Menschen nötig ist. Die eigene Wohnung, ja ein Schloß, ein Gutshof mit Liegenschaften, eine große Bibliothek und die Kapitalien auf der Bank können doch,
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
alles zusammengenommen, ein Eigentum darstellen, das der Eigentümer in allen seinen Teilen wirklich verwenden, das er sozusagen zu handhaben vermag. Schließlich gibt es ein persönliches Eigentum, das die Grenzen der unmittelbaren Handhabung weit überschreitet, von dem man dann nicht mehr sagen kann, daß es unmittelbar überblickt und beherrscht wird, daß es persönlich verwendbar ist oder daß der Eigentümer seine Verwendung unmittelbar zu kontrollieren vermag. Der zweite und dritte Gutshof, womöglich weit abgelegen, liegen nicht mehr vor den Augen des Eigentümers. Die Fabrik, die schließlich in einen vielschichtigen Konzern hineinwädist, der von einem komplizierten Apparat von Direktoren und Angestellten verwaltet und durch große Gremien kontrolliert wird — das alles sind Formen des Eigentums, die die unmittelbare persönliche Handhabung des Eigentums überschreiten. Man kann von da aus annehmen, daß der Begriff des Kapitalismus, von allen Wirtschaftstheorien abgesehen, eine unmittelbar anthropologische Bedeutung hat. c) Daß das Verhältnis des Eigentums zum Eigentümer zu Klassifikationen des Eigentums führt, kommt in eigenartiger Weise darin zum Ausdruck, daß audi Unterschiede hinsichtlich der O b j e k t i v i e r b a r k e i t festgehalten werden müssen. Objektives Eigentum, d. h. Eigentum, das in seinem Bestand und Wert fest umrissen ist und als solches Eigentum auch weitergegeben werden kann, besteht in der Regel aus Gütern von gleichbleibendem Wert. Es sind Besitztümer, die voraussichtlich nach langer Zeit unverändert genau denselben Wert haben werden wie jetzt. Bekanntlich verdankt das Gold seine hohe Bedeutung bei der Bemessung von Werten aller Art eben dieser Erwartung, Gold sei ein sich immer gleichbleibender Wert. Davon sind die schwindenden Güter zu unterscheiden: verderbliche Nahrungsmittel, Tierbestände, die infolge des Alterns und mancher Krankheiten ihren Wert einbüßen werden, wenn sie nicht ständig ergänzt und erneuert werden. Auch die Wertminderung, z. B. an Häusern, macht einen Gegenstand zum Schwundgut, wenn auch vielleicht in unauffälliger Weise. Daneben sind die Güter, die sich vermehren, seit alters ein Gegenstand ebenso des wirtschaftstheoretischen wie des ethischen Interesses gewesen. Es sind vor allem die Kapitalien, die Zinsen erbringen und dadurch wachsen.
Das Recht zum Eigentum
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Das alles hat nun Folgen für die Objektivität des Eigentums; denn bei Schwundgütern kann man nach längerer Zeit nicht mehr mit demselben Eigentum rechnen wie gestern und heute. Während ich gleichbleibende Güter oder gar wachsendes Eigentum vererben kann, schwindet das andere Eigentum dem Menschen sozusagen unter den Händen weg. Indem wir aber an die Möglichkeit der Vererbung oder audi der Übertragung des Eigentums denken, tritt ein weiterer Gesichtspunkt in unsere Betrachtung ein, der nicht unproblematisch ist. Kann man nämlich gewisse Dinge, die mir persönlich zukommen, die ich aber schlechterdings nicht vererben und weitergeben kann, überhaupt als Eigentum bezeichnen? Wir denken an persönliche Rechte, Titel, Orden, vor allem aber an Ideen, die mir selbst zu eigen sind. Gewiß können ausgereifte und formulierte Ideen von anderen übernommen werden. Aber gerade die Art dieser Übernahme verwehrt vollends die Vorstellung von Vererbung, Verkauf oder sonstiger bewußter Übertragung; denn solche Ideen sind nicht Eigentum in einer strengen Analogie zum materiellen Eigentum. Man kann Rechte an der Auswertung einer Idee ihrem Urheber vorbehalten (Patent), nicht aber die Idee selbst. Der Schutz des sog. „geistigen Eigentums" ist eine moderne Sache und bekanntlich kann dieser Schutz auch nur auf eine begrenzte Zeit vom Gesetz gewährleistet werden. Audi das geschützte „Patent" drängt auf Auswertung, d. h. auf Mitteilung an die Umwelt, und es ist nicht davor geschützt, daß ein anderer gleichzeitig dieselbe oder eine bessere Idee hat. 2. Das Recht zum
Eigentum
Wir sind bei unserer Überlegung von dem anthropologischen Satz ausgegangen, daß Eigentum zum Menschen gehört. Dieser anthropologische Satz schließt insofern ethische Sätze in sich, als damit ein Redit des Menschen zum Eigentum ausgesprochen ist und zugleich eine Pflicht der Nächstenliebe, den anderen in seinem Eigentum zu schützen. Audi bei unseren nächsten Schritten soll es das Ziel sein, die Frage nach den ethischen Normen sozusagen in den anthropologisdien Konsequenzen selbst aufzuspüren. Die Sichtung des Eigentumsbegriffes hat nun im ersten Absatz bereits den Menschen in einer vielfältigen Relation gezeigt. Zunächst in einer Relation zu den Dingen im Umkreis seiner Verfügungsgewalt. Der Eigentumsbegriff steckt die Grenze ab, innerhalb deren die Dinge dem Menschen unmittelbar zur Hand sind, und diese Beziehung des Menschen zu den Dingen kann eine Vielfalt von Modifikationen erfahren. Das Eigentum ist freilich noch in einem anderen Betracht ein Relationsbegriff; denn es bezeichnet zugleich eine 24 Trillhaas, E t h i k
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Weise, in der der Mensch innerhalb der Gesellschaft steht. Eigentümer neben anderen Eigentümern zu sein, die Dinge der menschlichen Umwelt jeweils diesem oder jenem Eigentümer zuzuerkennen und von Mensch zu Mensch über die Dinge selbst einig zu werden in der Form des Handels, des commercium im weitesten Sinn — das stellt einen modus dar, in dem jeder einzelne Glied der Gesellschaft ist. Auch in dieser Hinsicht bedeutet der Begriff des Eigentums ein elementares Thema der Ethik. Das hat nun freilich zur Folge, daß wir keine Ethik des Eigentums aufstellen können, ohne zu bedenken, daß der soziologische Aspekt uns einerseits die Breite der Betrachtung zur Pflicht macht, andererseits auf den steten Wandel des gesellschaftlichen Gefüges achten lehrt. Die Breite und größtmögliche Vielseitigkeit der Betrachtung sollte bereits in der Klassiiikation des Eigentums wahrgenommen werden, und wir werden darauf noch einmal zurückkommen. Nun gilt es aber audi, den Wandel des gesellschaftlichen Gefüges zu bedenken, der in der Tat in den allgemein gültigen sittlichen Vorstellungen über Eigentum, Eigentumserwerb und das Recht zum Eigentum zum Ausdruck kommt. An wenigen Stellen der herkömmlichen Ethik ist die Vorstellung von feststehenden sittlichen Normen so tiefgründig bedroht wie in bezug auf das Eigentum. Das soll in zweifacher Hinsicht dargelegt werden. Auf welchem Wege k o m m t der Mensch zum E i g e n t u m ? Schon diese Frage selbst wird erheblich eingegrenzt, wenn wir sie als eine sittliche Frage verstehen; denn dann verstehen wir sie als die Frage, wie der Mensch denn nach den gegenwärtig geltenden sittlichen Begriffen, also „rechtmäßig" im heutigen Sinn, zum Eigentum kommt. Für die ältere Zeit, mindestens für die Zeit vor dem Anbruch des technischen Zeitalters wird weithin gelten, daß der Mensch dadurch zum Eigentum kommt, daß er in das von den Vätern ererbte Eigentum, also Haus, Hof und in unzähligen Fällen auch in den Berufskreis hineinwächst. Der Begriff der Vererbung im strengen Sinn hat schon viel zu sehr individualrechtliche Voraussetzungen, weil er zwischen den Generationen mit einem Ubergang sozusagen aus dem Privatbesitz des Vaters in den Privatbesitz des Sohnes rechnet. Im Sippendenken der älteren Zeit ist es aber anders. Man ist gleichsam schon von Geburt an in dem Eigentum drin, das einem dann eines Tages lediglich in der Form der Ubergabe noch vollends übereignet wird. Schon hier zeigen sich also erhebliche Wandlungen in der Eigentumsvorstellung. Bedenkt man ferner, welche Quelle der Bildung von Eigentum in alter Zeit der
Das Recht zum Eigentum
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Beutezug, der Raubzug, Fund und Entdeckung aller Art waren, so wird man des Wandels der sittlichen Vorstellungen erst redit inne. Und doch verdankt die ganze Kolonialkultur, die dodi immerhin in der Geschichte des weißen Mannes eine ganze Epoche bezeichnet und aus der jedenfalls die Geschichte ganzer Erdteile eine neue Richtung empfangen hat, diesen Eigentumsvorstellungen ihre Entstehung. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist an die Stelle dieser älteren Auffassungen über den rechtmäßigen Erwerb von Eigentum eine ganz andere getreten, deren revolutionäre Bedeutung überhaupt erst verstanden werden kann, wenn man sich die älteren Formen vergegenwärtigt. Es ist die Vorstellung, die in der Mitte der Lehre von Karl Marx steht, daß nur die eigene Arbeit eine rechtmäßige Quelle des Eigentums sei. Von da aus werden alle anderen Formen, außerdem noch zum Eigentum zu kommen, abgewertet oder verurteilt, weil es sich hierbei um „arbeitsloses Einkommen" handelt. Vielleicht ist es überhaupt erst eine Sache der neuesten Zeit, über das „Einkommen" in diesem Sinn zu reflektieren; es ist die eigentümliche Reflexion des Mannes, der von Haus aus kein tragendes Eigentum, keinen Grund und Boden mehr hat. Diese Monopolstellung des aus eigener Arbeit gewonnenen Eigentums ist übrigens weit über den Einflußbereich des Marxismus im engeren Sinn in unserer Gesellschaft bestätigt worden, indem etwa die Erbschaften einer besonderen Besteuerung unterliegen und das Einkommen aus Kapitalerträgnissen in der Form der Kapitalertragsteuer und der Einkommensteuer, also durch eine doppelte Besteuerung eine gewisse Diskreditierung erfährt. Der Gewinn von Eigentum aus Verkauf oder Tausch bedarf demgegenüber keiner besonderen Erörterung, da er in der Konsequenz der verschiedenen hier erörterten Auffassungen liegen kann. Diese kurze Ubersicht mag deutlich machen, wie sich auch hier unsere sittlichen Vorstellungen gewandelt haben und wie zugleich in dem Wandel der Auffassungen immer sofort ein sittliches Urteil mitspielt. Diese Beobachtung wiederholt sich, sobald wir eine weitere Erwägung anstellen. Sie betrifft die sehr primitiv klingende Frage, w e r d e n n e i g e n t l i c h E i g e n t u m h a b e n k ö n n e . Beginnen wir mit einer kleinen Tabelle. Im unmittelbarsten Sinn kommt das Eigentum einzelnen Menschen (natürlichen Personen) zu. Wer über dieses sein Eigentum frei verfügen kann, gilt als mündig. Der Unmündige ist in seiner Verfügung über das Eigentum begrenzt, aber er wird im Normalfall in absehbarer Zeit in das volle Recht eintreten, über sein Eigentum zu verfügen. 24
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Daneben kommt das Eigentum audi Familien, Gesellschaften, Vereinen, Körperschaften des öffentlichen Rechtes, Stiftungen usw. zu. Wegen der Analogie im Eigentumsrecht sprechen wir in diesem Fall von juristischen Personen. Auch sie sind in der Lage, Eigentum zu erwerben und zu haben. Davon ist wiederum das öffentliche Eigentum zu unterscheiden. Auch für das öffentliche Eigentum gilt der Begriff des Eigentums zu Recht; denn was dem Staat, der Gemeinde usw. gehört, ist deutlich von dem Privateigentum zu unterscheiden. Außerdem kommt am öffentlichen Eigentum zum Ausdruck, daß die Öffentlichkeit mehrere Gesichter hat; sie tritt uns in verschiedener Rechtsform entgegen, ζ. B. als Staat, als Land, Regierungsbezirk, Kanton, bürgerliche Gemeinde und dgl. Selbst diese verschiedenen Rechtsformen der Öffentlichkeit grenzen ihr Eigentum gegeneinander ab. Die Öffentlichkeit ist in jeder der genannten Rechtsformen begrenzt und zugleich noch etwas anderes als nur die Summe der Menschen, die sie jeweils umfaßt. Der einzelne, der die Öffentlichkeit beraubt, vollzieht einen echten Raub, weil er nicht ein Mitbesitzer des öffentlichen Eigentums ist, sondern die Öffentlichkeit in der jeweiligen Rechtsform etwas völlig anderes darstellt als die Summe der in dieser Öffentlichkeit augenblicklich lebenden Menschen. Gehen wir im Sinn unserer Tabelle fortschreitend noch einen Schritt weiter, so gelangen wir an eine begriffliche Grenze. Es ergibt sich nämlich nunmehr die Frage: Gibt es auch ein „Eigentum", das allen Menschen gehört? Die Frage selbst läßt sich sehr rasch abweisen, indem man auf den Begriff „Eigentum" hinweist, der eben eine Eigenheit im Verhältnis des Menschen oder einer Menschengruppe zu den Sachen aussagt, die jeweils die Mitbeteiligung anderer ausschließt. Ein Eigentum, das allen Menschen gehören würde, wäre eben in keinem begrifflichen Sinne mehr „eigen", sondern es würde sich um ein Allgemeines handeln, das den Begriff des Eigentums aufhebt. Trotzdem ist die Frage nicht sinnlos. Wir haben hier nämlich eine Grenze erreicht, von der aus wir dialektisch zurückfragen können: Gibt es Bereiche, an denen kein Eigentum mehr möglich ist? Sobald wir dafür Beispiele nennen, stoßen wir wieder auf den Wandel der Eigentumsvorstellungen. So war ζ. B. von alters her das Meer von allen Eigentumsverhältnissen ausgenommen, aber diese „Freiheit" der Meere, die nicht nur das Privateigentum, sondern auch das öffentliche Eigentum eines Landes am Meer unmöglich machte, wurde bekanntlich durch den Begriff der Hoheitsgewässer eingeschränkt. Neuerdings rivalisieren
Das Redit zum Eigentum
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die Staaten darin, die Hoheitsgewässer über die herkömmliche DreiMeilen-Zone auszudehnen. Das bedeutet nichts anderes, als daß auch das Meer entgegen der bisherigen Auffassung in die Eigentumsbegriffe aufgenommen wird. Ähnlich ist es mit der Luft. Die Vorstellung, daß die Luft nicht nur eben „Luft", sondern menschliches Eigentum darstellen könnte, wäre für frühere Geschlechter schlechthin lächerlich gewesen. Heute kann man durch die Luft fliegen, die Luft industriell ausnutzen, kann sie in der fürchterlichsten Weise durch Abgase und atomare Explosionen vergiften, man kann die Luft politisch kontrollieren usw. Der Begriff des Luftraumes involviert bereits ein schweres Problem des Völkerrechts: Bis zu welcher Höhe kann ein Land die Lufthoheit für sich in Anspruch nehmen? Von hier aus ist es ein kleiner Schritt zu anderen Beispielen. Es ist nicht selbstverständlich, daß Fundgegenstände nicht ohne weiteres dem Finder gehören. Bodenschätze sind ebenfalls nicht selbstverständlich Privateigentum dessen, der sie entdeckt oder unter dessen Grundeigentum sie gefunden werden. Bedenkt man schließlich, daß Grund und Boden selbst keine Ware darstellen, die beliebig vermehrbar ist wie Industrieprodukte es sind, so läßt sich schon aus diesem Umstand ableiten, daß Grund und Boden nicht ohne weiteres wie eine beliebige Ware auf den Markt gebracht und gehandelt werden können. Geht man der Dialektik dieser Verhältnisse nach, so springt vollends unübersehbar die ethische Frage in vielfältiger Gestalt aus der bloßen Analyse des Eigentumsbegriffs, in seinen realen Abwandlungen genommen, heraus. Wir können bei aller Vorsicht nach dem Gesagten etwa folgende Sätze aufstellen: a) Nicht jeder mögliche Eigentumsträger kann jedes mögliche Eigentum besitzen. b) Der Begriff des Existenzminimums trifft auf öffentliches Eigentum nicht zu. c) Das Existenzminimum darf nicht durch private, genossenschaftliche oder öffentliche Eigentümer weggenommen werden, man vollzöge denn ein Attentat auf den betreffenden Menschen selbst. d) Was alle Menschen benötigen, ζ. B. Luft, Gas, Elektrizität usw. kann nicht in unbeschränktem Sinne als Privatbesitz einzelner und damit bevorzugter Individuen in Anspruch genommen werden. Würde man diesen letzten Satz zu einer kategorischen These verstärken, so hätten wir den Grundgedanken der Sozialisierung ausgesprochen. Diese These würde dann lauten: Es ist unsittlich, Güter des allgemeinen Bedarfs in den Händen der Privatwirtschaft und des Pri-
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I V . Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
vatbesitzes zu belassen. Eine gewisse Wahrscheinlichkeit spricht dafür, daß der ausschließliche Privatbesitz an allgemeinen Bedarfsgütern unsittlich sei. Jedoch erheben sich gegen diese These folgende Einwendungen: a) Es läßt sich nicht genau bezeichnen, weldie Güter denn als allgemeine Bedarfsgüter bezeichnet werden können. Es gibt kein Naturrecht des Allgemeinbedarfs. Man wird vor allem an den Energiebedarf denken. Wir sind zwar heute mit der Beleuchtung auf Gas und Strom angewiesen, doch gilt das nicht unbedingt. Wie steht es mit Wasser und Luft? Wir pflegen öffentliche Verkehrsmittel zum Allgemeinbedarf zu rechnen und finden daher überall die Verstaatlichung der Bahnen bis auf verschwindende Reste durchgeführt. Gleichzeitig wird aber durch die Motorisierung der Verkehr in erstaunlicher Weise wieder privatisiert. Eine hohe Wahrscheinlichkeit spricht bei den Bodenschätzen dafür, daß wir es hier mit allgemeinem Bedarf zu tun haben. Aber die wirtschaftliche Entwicklung kann das öffentliche Interesse schnell anderen Gütern ( ö l statt Kohle!) zuwenden. b) Welche Güter von der Allgemeinheit in Anspruch genommen werden können, ist — von allen Fragen der politischen Kräfteverteilung einmal ganz abgesehen — weithin von der Kulturlage abhängig. Es ist nämlich denkbar, daß Güter, die, wenn man so will, „an sich" der Allgemeinheit zustehen, von der öffentlichen Hand trotzdem nicht in Anspruch genommen werden, und zwar aus dem sehr einfachen Grunde der mangelnden Rentabilität. Das würde bedeuten, daß das Risiko der Rentabilität oder des Verlustes vom öffentlichen Standpunkt aus zugunsten des Privateigentums spricht, wie denn dieses Privateigentum den Vorrang der wirtschaftlichen Initiative zugesprochen erhält. Man kann aber der Privatwirtschaft das Risiko der Initiative nicht zumuten, wenn man ihr nicht auch den Vorteil des Privatbesitzes zuerkennt. c) Damit ist der Gesichtspunkt der Initiative überhaupt genannt. In gewissem Sinn liegt es im Begriff der Initiative, privat zu sein, weil nämlich jeder „Kopf" eine Privatsache ist. Aber vom Ursprung origineller Ideen abgesehen, kann auch ein vorhandenes Kapital, kurz eine günstige wirtschaftliche Ausgangslage zugunsten der privaten Hand sprechen. Die öffentliche Hand wird freilich im modernen Wirtschaftsleben selbst zum riskierenden Unternehmer. Würde im gegebenen Fall die Sozialisierung nur um des Prinzips willen durchgeführt, aber mit einem Verlust an Ideen und Initiative der Wirtschaftsplanung erkauft
Die innere Stellung zum Eigentum und die Armut
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werden, so würde sich das unter Umständen als Schädigung der Allgemeinheit auswirken. Wir sind mit diesen Erwägungen aber in einen Kalkül hineingeraten. Aus der Analyse des Eigentumsbegriffs haben sich zwar ethische Sätze ermitteln lassen, die ein weitgehendes ethisches Interesse an Fragen der Eigentumsverteilung zum Ausdruck brachten. Wir müssen aber beobachten, daß diese Sätze nicht über einen gewissen Allgemeinheitsgrad hinausgeführt werden können und daß jenseits dieser Allgemeinheit dann ein Abwägen realer Vorteile beginnt, das zweifellos nicht mehr durch die Ethik selbst entschieden werden kann. Es sind Fragen der Zweckmäßigkeit, bei denen die Ethik von sich aus nicht mehr zu sagen vermag, als daß diese Fragen ein erhebliches Gewicht, ja ein sittliches Interesse in Anspruch nehmen können, daß aber für die Entscheidung im einen wie im anderen Sinn dann doch nur relative Gesichtspunkte maßgebend sein können. Die Aufgabe, sich im Raum der Relativitäten zu einigen, bringt uns hier auf einen Begriff, der der politischen Ethik zugehört und der sich dort als ein nicht nur politischer, sondern eminent sittlicher Begriff erweisen wird : es ist der Kompromiß. 3. Die innere Stellung zum Eigentum und die
Armut
Die anthropologische Begründung des Eigentums, von der das Kapitel seinen Ausgang genommen hat, genügt nicht, um die eigentliche Aufgabe der christlichen Ethik in der Frage des Eigentums zu erfüllen. Wir stehen hier aber unvermittelt vor einer eigentümlichen Schwierigkeit. Wenn wir nämlich sagen, daß „zum Menschen" Eigentum gehört, so ist es nicht gleichgültig, ob wir selber dieser Mensch sind oder ob wir an die anderen Menschen, also an unsere Nächsten und an unsere Mitmenschen denken. Es soll daher jetzt zunächst von der Begegnung mit dem „eigenen Eigentum" die Rede sein; im nächsten Abschnitt haben wir uns dann mit den Pflichten zu befassen, die uns durch die Eigentumsverhältnisse in der Gesellschaft um uns her erwachsen. Freilich kommen uns bei dieser Einteilung sofort Bedenken. Diese Einteilung scheint etwas kurzschlüssig zu sein. Es gibt ja kaum auf der Welt ein ganz und gar privates, nur dem einzelnen zugehöriges Eigentum. Gerade als Eigentümer finden wir uns inmitten der Gesellschaft, finden wir uns in gegenseitigen Abhängigkeiten, die sich schon in den elementarsten Rechtsbegriffen kundtun. Ich denke an die Unterscheidung von Eigentum und Besitz, d. h. an die Tatsache, daß nicht alles, was ich „habe", mir „gehört" und umgekehrt. Auf die Differenzierung
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mädite
dieser Elementarbegriffe im Reditsleben habe ich nidit einzugehen. Der Familienvater kann gerade unter ethischen Gesichtspunkten über sein Eigentum nicht willkürlich verfügen, solange die Existenz von Frau und Kindern daranhängt. Man kann nicht auf Eigentum verzichten, wenn man dadurch in Kauf nimmt, künftighin durch seinen Leichtsinn anderen zur Last zu fallen. Es ist nicht nur denkbar, sondern in ungezählten Fällen einfach Pflicht, um sein Einkommen, um gerechten Lohn zu kämpfen, weil die Rechte anderer, die Rechte einer Berufsgruppe oder vieler Arbeitskollegen in diesem Kampf mit zur Entscheidung kommen. Das alles will bedacht sein. Dennoch läßt sich nicht leugnen, daß innerhalb dieser engen Verflechtungen, die in sich schon die Vorstellung von einem „reinen" Privateigentum als sehr problematisch erscheinen lassen, doch eine Begegnung des einzelnen mit seinem eigensten Eigentum stattfindet. Selbst wenn alle Rücksichten auf andere Menschen wegfallen, stellt mir mein „eigenes Eigentum" doch noch sittliche Aufgaben. Wie soll ich es verwenden? Wie steht es mit meinem Bedarf und mit meinem eigensten Recht auf Eigentum? Die ersten und unmittelbar sich nahelegenden Antworten sind moralische Selbstverständlichkeiten, bei denen man sich gewiß nicht zu lange aufhalten sollte: Man soll sein Eigentum richtig gebraudien. Man soll es in dem Gedanken anwenden, daß man dank seiner anderen Menschen nicht zur Last fallen muß. Es macht uns frei zur eigenen Initiative und es setzt uns auch instand zur Wohltätigkeit. Die christliche Betrachtung des Eigentums geht aber über diese schlichte positive Bewertung und über die ebenso schlichten sittlichen Konsequenzen noch hinaus. Die christliche Betrachtung berücksichtigt nämlich zwei Erfahrungen, von denen bisher noch nicht die Rede war. Die eine Erfahrung ist folgende: Das Eigentum hat eine geheime Kraft in sich, den Eigentümer selbst zu besitzen. Im Neuen Testament findet sich in diesem Zusammenhang der eigenartige Ausdruck „Mammon", ein Wort unsicherer Herkunft, das den Besitz, das Vermögen bezeichnet, das aber zugleich eine Personifikation dieses Besitzes anzeigt, worauf der status emphaticus „mamona" aus mamon (aram.) hinweist. Das Wort wird Lk 16, 9 . 1 1 verhältnismäßig neutral gebraucht, während in der Bergpredigt Mt 6, 24 von einem förmlichen Konkurrenzverhältnis zwischen Gott und dem Mammon die Rede ist (vgl. Lk 1 6 , 1 3 und 2 Clem 6 , 1 ) . In diesem Sinn hat sich der Begriff des Mammon tief in das Bewußtsein der Christenheit eingeprägt. Geiz und Habgier sind nur Erscheinungsformen davon, wie der Mammon seine Macht über
Die innere Stellung zum Eigentum und die Armut
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die Herzen ausübt. — Die andere Erfahrung, welche die Stellung der Christenheit zum Eigentum tiefgreifend beeinflußt hat, ist die Vergänglichkeit alles irdischen Besitzes. Alles Eigentum des Menschen ist zeitlich und vergänglich. Die ewigen Güter sind allein wichtig und sie sind über die Vergänglichkeit erhaben. Es lohnt sich nicht, unser Herz an die vergänglichen Dinge zu hängen, sondern wir sollen die ewigen Güter suchen. Zahllos sind die Sdiriftstellen, die dies belegen, ζ. B. Mt 6 , 1 9 — 2 1 ; Lk 1 2 , 1 3 — 3 4 ; Kol 3 , 1 f. u. a. Aus diesen beiden Erfahrungen resultiert eine Grundeinstellung der Christen zum Eigentum: es gilt, von dem irdischen Besitz unabhängig zu werden. Mag es richtig sein, daß der irdische Besitz den Menschen in irdischer Beziehung frei macht, so steht die andere Freiheit, nämlich die Freiheit des Herzens von allem Besitz noch höher. Erst diese Freiheit des Herzens vom Eigentum macht unsere Wohltaten flüssig; denn den Besitz, an dem wir nicht hängen, geben wir leichter her (vgl. Phil 4 , 1 4 — 1 9 ) . Nun ist es seit alter Zeit nicht nur der Gedanke der Freiheit vom Eigentum in dieser allgemeinen Form gewesen, der das spezifisch Christliche im Verhältnis zum Besitz aussprach. Es war vielmehr der Gedanke der Armut. Man könnte natürlich sagen, daß beides im Grunde dasselbe ist, und dodi verschieben sich hier die Akzente. Sobald ich von der Armut zu anderen Menschen spreche, ergeben sich Mißverständnisse. Armut ist nicht zumutbar. Man kann aus der Armut schlechterdings kein Gesetz für die Menschen, nicht einmal für die Christen machen. Und dodi handelt es sich hier um einen kritischen Begriff, an dem sich die christlidie Substanz unserer Lehre vom Eigentum erweisen muß. Der Fall steht in der christlichen Ethik nicht allein. Auch die christlidie Lehre von der Ehe erfährt eine kritische Zuspitzung darin, daß der Verzicht auf die Ehe, also der Zölibat mitgedacht wird. Audi aus der Ehelosigkeit kann man kein Gesetz machen, wie das ja auch Paulus nicht getan hat. Aber im Gedanken an die Ehelosigkeit kann man nicht sagen, es sei eine Pflicht, in die Ehe zu treten. Ebenso steht es hier. Die richtige Lehre vom Eigentum erschöpft sich in der christlichen Ethik nicht im Nachdenken über eine gerechte Sozialordnung. Der Gedanke der Armut erinnert uns daran: Es gibt noch Wichtigeres als den irdischen Besitz. Das urchristliche Interesse an der Armut und an den armen Menschen hat mannigfache Gründe. Jesus selber war arm. Seine Armut wird 2 Kor 8, 9 gedeutet: daß er arm wurde um unseretwillen. Jesu Armut hat also eine christologische Bedeutung; sie ist ein Ausdruck
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
seiner Erniedrigung, seiner Kenosis. E r nahm dies irdische Los auf sich, um uns gleich zu werden. Auch seine Nachfolger waren arm. Sie waren aus ihren Verhältnissen ausgewandert, um ihm gleich zu werden. In späteren Zeiten wurde die Armut im äußerlichen Sinn ein Zeichen der Nachfolge Christi. Das war sicher ein Irrtum; denn auf diese Weise wurde die Armut im äußerlichen Sinn zu einer Bedingung der Nachfolge, d. h. doch immerhin für die Nachfolger im engeren Sinn zu einem Gesetz. — Es kann auch nicht übersehen werden, daß die Armut, d. h. das Angewiesensein auf Hilfe und Unterstützung schon in den Seligpreisungen — und nicht nur in dem Wort von der geistlichen Armut — den Stand bezeichnet, der Verheißung hat. Jeder Beter bekennt seine Armut, die ihn ins Gebet, d. h. ins Bitten hineintreibt. Die Armut ist aber im christlichen Sinn gar kein äußerer Zustand, sondern sie ist eine Sache der Gesinnung. Armut heißt: lassen können. Es kann materiell Reiche geben, die von ihrem Besitz ganz frei geworden sind. Ebenso gibt es Besitzlose, die Tag und Nacht nur über das Geld nachdenken und die in ihrem grenzenlosen Neid ganz und gar von der φιλαργυρία beherrscht sind. Joseph von Arimathia war ein reicher Mann und die christliche Tradition hat an diesem Reichtum niemals Anstoß genommen. Jesus fordert den reichen Jüngling Mk 10, 17 ff. par. auf, seine Güter zu lassen, aber er stellt ihn damit doch nur auf die Probe, wie ernst es ihm sei, und er stellt kein Gesetz auf, nach welchen äußeren Merkmalen überhaupt jemand zu seinen Jüngern gehören dürfe. Wie es ein Zeichen für die Gesundheit der ehelichen Verhältnisse in der christlichen Gemeinde ist, wenn einige auch die Ehe zum Opfer bringen und ehelos leben können, so wird es in der christlichen Gemeinde auch das Zeichen für die rechte Freiheit im Eigentum sein, daß einige freiwillig arm sein können. „Einige" — das bedeutet, daß daraus niemals ein Gesetz gemacht werden kann. Es ist eine Sadie des Herzens, wie es ja auch eine Sache des Herzens ist, inmitten der Ehe zu „haben, als hätte man nicht" (1 Kor 7, 29—31). Auch das Eigentum ist in den paulinischen Satz mit einbezogen, „daß das Wesen dieser Welt vergeht". Der Gedanke an die Armut in diesem Sinn darf in der christlichen Gemeinde nicht untergehen, und er hat in vielen Generationen der Christenheit den Menschen geholfen, Verluste, Zusammenbrüche siegreich zu bestehen und sich an die unsichtbaren Güter zu halten, die keine Katastrophen rauben können.
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Eigentumsverteilung 4. Grundsätze
Eigentumsverteilung
einer evangelischen
Wirtschaftsethik
Die Eigentumsdiskussion in der neueren evangelischen Theologie (vgl. F. Karrenberg in der ZEE 1960, 136 ff.) hat für Westdeutschland in der schon obengenannten sog. Eigentums-Denkschrift (abgedruckt Z E E 1962, 245 ff.) zu einem wohldurchdachten Ergebnis geführt, das sehr gezielt auf die Verhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland bezogen ist und dodi andererseits wieder gewisse Bezirke (z. B. das Landwirtschaftsrecht) außer Betracht lassen mußte. Sie enthält vorzügliche Analysen, welche die gegenseitige Abhängigkeit der Menschen in der modernen Wirtschaft und Gesellschaft beleuchten, die „doch nicht im Widerspruch zur Freiheit und zur Würde des Menschen zu stehen" braucht. Ich nenne aus der Eigentumsdiskussion der Gegenwart noch G. Wendland: Theologische Gesichtspunkte zur Eigentumsfrage, ZEE 1961, 281 ff.; E. Wolf: Eigentum und Existenz, ZEE 1962, 1 ff., eindrucksvoll durch die Verrechnung der „tiefgreifenden Änderungen sowohl hinsichtlich der Vorstellungen als audi der Realitäten, die zum Begriff des Eigentums gehören". R. P. Calliess: Eigentum als Institution, 1962, steht in einem weiteren rechtstheologisdien Zusammemhang und kreist, wie schon der Titel kundgibt, wesentlich um die Problematik des augenblicklich vielverhandelten Begriffs der Institution, mit dem ich meine Darlegungen hier aus erwogenen Gründen nicht belaste. — Besonders dankbar beziehe idi midi auf die Arbeiten von K. Kroesdiell, zuletzt: Die Rechtsordnung der Landwirtschaft aus der Sicht evangelischer Rechtstheologie, Z E E 1964, 102 ff. Zur Situation angesichts der Entwicklungsländer H. Gollwitzer: Die reichen Christen und der arme Lazarus, 1968. Die katholische Eigentumslehre hat durch die dritte große Sozialenzyklika „Mater et Magistra" Johannes' X X I I I . vom 1 5 . 5 . 1 9 6 1 auf der Linie der älteren sozialethischen Tradition eine zeitgemäße Erneuerung erfahren. Auf Einzelheiten der Diskussion kann im Rahmen dieser Gesamtdarstellung nicht eingegangen werden. Vgl. aber zum Ganzen die Art. im StL: Eigentum (H. Conrad u. a., II, 1061 ff.), Sozialenzykliken (E. Welty, V I I , 242 ff.), Sozialethik (J. Höffner, V I I , 269 ff.) und Wirtschaftsethik (v. Nell-Breuning, V I I I , 772 f.) — J . Höffner: Christliche Gesellschaftslehre, 1968 5 (Lit.). D a ß zu unserer Verantwortung für den Nächsten audi die Verantwortung für sein Eigentum gehört, ist schon eine Katediismuswahrheit. Das Eigentum des Nächsten zu schützen und ihm gegebenenfalls zu Eigentum zu verhelfen, ist sittliche Pflicht; denn die A r m u t macht den Menschen von anderen abhängig und berührt insofern seine Menschenwürde. Eigentum macht frei; gewiß ist das keine absolute Wahrheit, weil viele Menschen mit ihrem Eigentum nichts anfangen können. Aber daraus ergibt sich dann doch nur die weitere Pflicht, unsere Mitmenschen audi zum richtigen U m g a n g mit dem Eigentum anzuleiten. So weit, so gut. Aber sobald wir uns mit der F r a g e befassen, wie und in welchem
Maße
denn
das Eigentum
notwendigerweise
Privat-
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
eigentum sein müsse und ob nicht in unseren heutigen sozialstaatlichen, um nicht zu sagen wohlfahrtsstaatlichen Verhältnissen eigentlich die Öffentlichkeit selbst, also der Sozialstaat eine Garantie unserer Existenz und unserer persönlichen Freiheit übernehmen müsse, die weit über alles Privateigentum hinausreiche, sind wir mitten in der Sozialpolitik. Was kann man also von der evangelischen Wirtschaftsethik eigentlich erwarten, wenn jede Konkretisierung zu einer Sozialordnung hin an die Grenze der Sozialpolitik führt? Man darf sich über die Grenzen des hier für die Ethik Möglichen nicht täuschen. Aber man darf auch in den Grenzen des Möglichen nichts unterlassen, was der Gewinnung eines unbefangenen Urteils dienlich ist. Zur Gewinnung dieser Unbefangenheit scheint es mir nun nötig zu sein, die grundsätzlichen Gefährdungen eines sozialethischen Urteils im Horizont einer evangelischen Ethik abzuwägen. Dabei wird man der Sorge um hinreichende Sachkenntnis und um den Realismus der Betrachtung kein allzu prinzipielles Gewicht beimessen; denn dieses Argument hat fast in jedem Kapitel ein relatives Recht. Es kommt freilich in der Frage der Eigentumspolitik und der konkreten Soziallehre noch dies hinzu, daß die Theologie nur raten und Gesichtspunkte ins Gespräch bringen kann, daß sie aber nicht fremde Kompetenzen übernehmen und die „Kirche" in die Verantwortung des Staates manövrieren kann. Dies vorweggenommen, mögen andere Gründe für selbstkritische Behutsamkeit vordringlich sein. Da muß zunächst daran erinnert werden, daß sich in die ethische Reflexion über das Eigentum immer wieder vergangene Vorstellungen und unrealistische Begriffe einschleichen. So ist unter den heutigen gesellschaftlichen Verhältnissen der Begriff des Privateigentums außerordentlich problematisch geworden. Nur die wenigsten Menschen können etwa ihre Zukunftssicherung ausschließlich auf das eigene Privateigentum stützen; tatsächlich sind sie durch Einkommen, Pensions- und Rentenansprüche, durch eingegangene Versicherungen vom gesamten Wirtschaftsleben abhängig, und selbst Bankverbindungen können Abhängigkeiten bedeuten. Ebenso ist die Vorstellung, daß sich ein „Recht auf den vollen Arbeitsertrag" heute irgendwie realisieren ließe, jedenfalls beim Sozialprodukt unvollziehbar. An die Stelle des Eigentums an dem Produkt der eigenen Arbeit tritt der Anspruch auf Lohn und Versorgung, und das bedeutet immerhin nicht jene pure individuelle Freiheit, an die man in den gesellschaftlichen Verhältnissen früherer Zeit wohl gedacht hat, wenn man die Bedeutung des Eigentums und das Recht auf Eigentum begründen wollte. Das Eigentum hat in aller
Eigentumsverteilung
381
Regel heute nicht mehr die Funktion der Daseinsvorsorge und der Existenzsicherung, sondern diese einst dem eigenen Eigentum zukommenden Funktionen werden heute unbedenklidi von der öffentlichen Hand oder doch von dem Wirtschaftskörper erwartet, dem man dient. Es kommt hinzu (was vor Jahrzehnten schon Rathenau erkannt hat), daß mit einer gewissen Größe des Eigentums, etwa in Gestalt einer Firma, eines Wirtschaftsbetriebes, einer Bank, einer Gesellschaft oder eines Industriebetriebes, sich eben dieses Eigentum aus dem Strukturgesetz des Privateigentums löst. Es verliert seine freie Verfügbarkeit. Ich habe hier den Rechtsformen, in denen sich dieser Tatbestand sinnenfällig manifestiert, nicht im einzelnen nachzugehen. Aber ich darf daran erinnern, daß sich schon bei der reichlich schulmeisterlichen Ubersicht über die Arten von Eigentum (im 2. Abs.) diese Unterschiede hinsichtlich der Verfügbarkeit von Eigentum gezeigt haben. Inwieweit sich auch die Erhebung des Arbeitnehmers zum Miteigentümer im Sinne unserer anthropologischen Thesen von der Bedeutung und von der Unverzichtbarkeit des Eigentums für den Mensdien realisieren läßt, möchte ich hier nicht erörtern. Es erheben sich hier sofort unabweisbare Fragen, die vielleicht praktisch durch die Sozialgesetzgebung beantwortet sind, die aber theoretisch gleichsam im Räume stehen bleiben. Für welche Produktionszweige soll dieses Miteigentum des Arbeiters eigentlich festgelegt werden und für welche nicht? Warum sollen bei solchen Produktionszweigen nur die Arbeiter und nicht, wie in den sozialistischen Staaten, das „Volk" selber Eigentümer sein? Und wiederum wäre dann zu fragen, ob im Gesichtskreis solcher Eigentümerschaft eigentlich nodi etwas von der durch das Eigentum an den Mensdien vermittelten Freiheit erkennbar wird. Alle diese Fragen machen aber nur deutlich, daß sie unmittelbar in die Politik hineinführen. Das bedeutet nicht nur, daß sie durch das Ermessen, bzw. durch das Übereinkommen aller Beteiligten entschieden werden müssen, sondern es heißt auch, daß die Entscheidungen in hohem Maße von den gesellschaftlichen Realitäten abhängig sind, die durch keine ethische Theorie vorweggenommen werden können. Das führt nun unmittelbar zu einem weiteren Bedenken hinsichtlich der Grenzen unserer ethischen Theorie. Es ist nämlich schlechterdings kein ethischer Grundsatz bzw. keine ethische Begründung eines an sich richtigen Satzes denkbar, der nicht unter gegebenen Umständen in sein Gegenteil verkehrt werden kann. Die durch das Eigentum gewährte Freiheit kann ins Gegenteil umschlagen: das Eigentum kann den Menschen fesseln und ihn zum Sklaven seines Besitzes machen. Wer mit
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dem Eigentum nicht umgehen kann, der gewinnt nichts von alledem, was man anthropologisch zugunsten des Eigentums geltend gemacht hat. Wir sprachen davon. Audi das Argument, daß das „private" Eigentum eine unerläßliche Garantie für wirtschaftliche und überhaupt unternehmerische Initiative sei, versagt in dem Augenblick, wo der Staat selbst nicht mehr kameralistisdi rechnet, sondern im vollen Bewußtsein einer Verantwortung vor der Zukunft Initiativen ergreift, welche alle Privatinitiative in den Schatten stellen. Ich denke an große Forschungsunternehmungen, an Universitätsgründungen und an große Siedlungen im Zuge der Wohnungspolitik. Wie wenig mit allgemeinen Grundsätzen hier ausgerichtet werden kann, zeigt sich an den Problemen der Landwirtschaft. Sie hatte bis an die Schwelle unserer Gegenwart hinsichtlich der Eigentumsverhältnisse viele Besonderheiten, um nicht zu sagen rechtliche Privilegien, die sich aus dem Interesse an der Aufrechterhaltung der ländlichen Wirtschaftsstruktur ergaben, die dann aber auch mitunter ideologisch vertieft wurden. So spielte ein bestimmter Familienbegriff eine Rolle, der im Erbgang eine Bevorzugung der Söhne vor den Töchtern mit sich brachte. Die Unteilbarkeit der Ländereien im Erbgang lag im Interesse der fortdauernden Rentabilität usw. Heute ist eine tiefgreifende Umwandlung der Strukturen im Gange. Nur noch Großbetriebe sind rentabel. Kleinere und mittlere Betriebe greifen in zunehmendem Maße zur genossensdiaftlichen Selbsthilfe. Dadurch, aber auch durch die Vereinheitlichung der landwirtschaftlichen Produktion, die durch Anbau- und Lieferungsverträge gelenkt werden kann, wird das individuelle Eigentum in einem unerhörten Maße relativiert. Das Bedürfnis nach Freiheit von allen Eingriffen der öffentlichen Hand wechselt mitunter überraschend mit dem ausgesprochenen Bedürfnis nach einem lenkenden Eingriff des Staates. Wenn man sich diese Tatsachen vergegenwärtigt, dann ermißt man die Grenzen der Möglichkeiten einer ausgebildeten Wirtschaftsethik. Man wird vor allem mißtrauisch gegen die Versuche, gewisse Normbegriffe in die Sozialethik einzuführen, die nicht nur leicht als Vorstellungsrelikte vergangener Gesellschaftsordnungen entlarvt werden müssen, sondern die auch dann, wenn sie am Modell einer bestimmten Wirtschaftslage gewonnen worden sind, leicht durch eine veränderte Situation überholt werden können. Mißtrauisch wird der Skeptiker allerdings auch gegen alle moralisierenden Zurufe der Ethiker, gegen alle erbaulichen Wendungen, auch wenn man sich in der ethischen Uberlegung dessen bewußt sein mag, daß man dazu neigt.
Eigentumsverteilung
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Tatsächlich führen aber diese selbstkritischen und im letzten skeptischen Überlegungen zu dem Ergebnis, daß die evangelische Wirtschaftscthik ihren entscheidenden Ausweis nicht an einem bestimmten Wirtschaftsprogramm hat, sondern in überraschender Weise zur „Gesinnungsethik" zurückführt. Man könnte geradezu den Satz wagen, daß die evangelische Eigentumslehre nicht in einer bestimmten Wirtschaftsethik im Sinne eines Systems gipfelt. Nun, beide Sätze dürfen nicht mißverstanden werden. Darum möchte ich zunächst darauf hinweisen, daß alle Gesinnungsethik immer nach der Verantwortungsethik ruft, und daß sich für die Verantwortung gegenüber den Realitäten der Wirtschaft gewiß bestimmte Grundsätze abzeichnen, innerhalb derer in jeder neuen Situation die richtigen Entscheidungen gesucht werden müssen. Diese Reduktion des hier Möglichen auf die Wahrnehmung von Grundsätzen scheint mir aber auch deswegen nötig zu sein, weil die differenten Wirtschaftssysteme, unter denen die Menschen derselben Generation hier und dort leben, und vollends die Verschiebung der wirtschaftlichen Voraussetzungen oft schon innerhalb einer Generation es schlechterdings nicht zulassen, e i n e Gestalt wirtschaftlicher Ordnung für „die" gerechte Sozialordnung in Anspruch zu nehmen. Man kann sich eigentlich immer nur im Angesicht der Realitäten der Wirtschaft zur Fahndung nach der Ethik in der Sache aufmachen. 1. In einem ganz elementaren Sinne gilt, daß die „Wirtschaft" die Versorgung des Menschen, heute also jedenfalls des Menschen im technischen Zeitalter leisten soll. Sie muß auf den Markt bringen, was der Mensch braucht, und der Mensch muß kaufen können, was er braucht. Es ist also eine aus der Sache heraus bestehende ethische Forderung, daß die Wirtschaft funktionieren muß. Es liegt dann jedenfalls unterhalb dieser ethischen Forderung, nach welchem System sie funktioniert. 2. An diesem wichtigsten Satz kann man kein Gesetz der Wirtschaft ablesen, dem sie zu folgen hat. Darum neige ich zu dem weiteren Satz, daß die „Eigengesetzlichkeit" der Wirtschaft nicht so schlecht ist wie ihr Ruf bei den meisten Theologen. Die Wirtschaft hat die Aufgabe, nicht mehr zu sein als nur Wirtschaft, so daß Eigengesetzlichkeit immer einen Grundsatz der Selbstbeschränkung auf die Funktionen bedeutet. Eine lebendige Wirtschaft hat die Fähigkeit, sich auszubalancieren. Die Preise regulieren sich immer nach Angebot und Nachfrage, wie sich auch der Arbeitsmarkt so reguliert. Natürlich kann und muß die öffentliche Hand in gegebenen Situationen eingreifen. Man kann erkennen, wann ein unterstützender Eingriff (etwa durch planwirtschaftliche Maßnahmen) nötig ist und in welchem Augenblick er sinnlos
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wird. Es ist bekannt, daß hier sich eine Relativierung des klassischen Gegensatzes von kapitalistischer und sozialistischer Wirtschaftsordnung abzeichnet. 3. Es entspricht diesem Funktionieren der Wirtschaftsordnung, daß auch die Krisenfestigkeit der Wirtschaft in einem hohen Maße perfektioniert wird. Die Konjunkturforschung kann heute heraufziehende Wirtschaftskrisen weitgehend voraussehen und ihnen vorgreifen. Versicherungen, finanzielle Reserven, Bevorratungen, sozialpolitische Maßnahmen, sogar die vorweg festgelegten Systeme gleitender Renten und der Anpassung der Vorsorge an den Index des Volkseinkommens, das alles sind ebenso Maßnahmen, die dem ethischen Urteil unterliegen wie sie einfach Maßnahmen der wirtschaftlichen Klugheit sind. Ich würde daher meinen, daß sich das ethische Urteil angesichts des Zwanges zur wirtschaftlichen Sachlichkeit bescheiden sollte, sofern es sich nicht kraft eines geheimen Einverständnisses in ihr wiedererkennt. 4. Die vielberufene Sorge um den Menschen ist weder ein Reservat der Ethiker noch der Kirche allein, sondern sie wird — wenn man will im Sinne einer „mündig gewordenen Welt" — auch von Wirtschaft und Industrie selbst übernommen und verantwortet. Natürlich steht dabei das wohlverstandene Interesse immer Pate. Der menschliche Kräftebedarf, die Heranbildung Werktreuen Personals, die Sozialleistungen jeder Art, die vielfach nicht nur die gesetzlichen Leistungen des Staates, sondern überdies auch die Normen gewerkschaftlicher Forderungen weit übersteigen, sie ergeben sich grundsätzlich aus dem eigenen Interesse. Trotzdem möchte idi meinen, daß dieses eigene Interesse ohne eine ethische Komponente nicht denkbar ist, weil im Falle ihres Fehlens die Gegenkräfte im kritischen Sinne sich die ethischen Argumente zu eigen machen können. So könnte man annehmen, daß ethische Perfektion eines Sozialsystems selbst ein Gegenstand der „Rechnung" wird. Phänomene, die jedenfalls in der zünftigen Ethik noch nicht zum Gegenstand der kritischen Prüfung gemacht worden sind. 5. Daß sich die im technischen Zeitalter erzwungene Großräumigkeit zur Quelle einer erheblichen Problematik ausweitet, muß besonders bedacht werden. Die großen Firmen werden, mindestens unter dem Gesichtspunkt ihrer Absatzgebiete, Beherrscherinnen großer, über die Ländergrenzen hingedehnter Gebiete. Die Kleinbetriebe verlieren ihre Konkurrenzfähigkeit nicht nur im Verkauf (Warenhaus statt Einzelhandel), sondern auch in Handwerk und Landwirtschaft. Die dadurch heraufziehende Bedrohung der Freiheit des einzelnen ist ein Gegenstand unmittelbarer ethischer Wachsamkeit. Man kann zunächst
Eigentumsverteilung
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sagen, daß sich diese persönliche Freiheit in die Zwischenräume zwischen den Wirtschaftskörpern, Branchen und Gruppen zurückzieht. Die Möglichkeit, innerhalb des Produktionsprozesses bzw. innerhalb der Wirtschaftskörper die eigene Stelle zu wechseln, ist ein Modus fortbestehender persönlicher Freiheit. Die ausgleichende Rolle der wirtschaftsneutralen Macht des Staates gewinnt hier eine außerordentliche Bedeutung. Zunächst erscheint der Spielraum der Ethik, vollends der christlichen Ethik gegenüber den Realitäten der Wirtschaft gering zu sein. Sie wird mit unmittelbaren politischen Stellungnahmen ebenso wie mit moralisierenden Zusprüchen wenig Wirkung erzielen. Hingegen wird die innere Freiheit der Ethik zu kritischer, auch zu selbstkritischer Betrachtung und zu einem Realismus in eigener Verantwortung (also nicht in Übernahme fremder Urteile) eine große und bleibende Bedeutung haben. Denn es ist die wichtigste Tätigkeit der Ethik, den Raum der Besinnung freizuhalten. Vier wesentliche Fragen scheinen sich aus der vorausgegangenen Überlegung hinsichtlich der Wirtschaftsethik herauszuschälen und zum Grundsätzlichen hinzudrängen. 1. In der herkömmlichen Wirtschaftsethik des Christentums bewegte sich die Problematik in der Regel zwischen Reich und Arm. Die Frage der Eigentumsverteilung war die Frage des gerechten Ausgleichs angesichts der fortbestehenden Armut vieler Menschen. Menschliche Not zu beheben oder doch zu lindern — dieses Anliegen war in der Eigentumsproblematik seit der Antike beherrschend. Das hat sich in einer Weise gewandelt. Das technische Zeitalter bedeutet das Zeitalter eines Menschen, dessen Können sich ins Grenzenlose auszuweiten scheint. Mit der Not des Menschen war die Sozialethik des Christentums fast zwei Jahrtausende beschäftigt. Nun steht die Christenheit ratlos vor dem Problem einer perfektionierten Wirtschaftsordnung und vor Gesellschaften, deren Hauptproblem ein völlig entgegengesetztes ist: das Glück zu bewältigen. Die Fragen der Wohlstandsgesellschaft sind eben diese, daß der durch die wirtschaftliche Entwicklung freigekämpfte Raum ein Leerraum ist, dessen Ausfüllung ganz neue und bis heute kaum formulierte, geschweige denn gelöste Probleme aufwirft. Mit den neuen Problemen der Wohlstandsgesellschaft befaßt sich meine Schrift: Das Evangelium und der Zwang der Wohlstandskultur, 1966. In einer anderen Weise kommt das Problem von Arm und Reich erneut auf uns zu, da die Armut in ganzen Völkern und Erdteilen repräsentiert ist. Ihnen gegenüber sind die „kapitalistischen" Völker des Westens und die „sozialistischen" des Ostens gleichermaßen die reichen Völker. Die in der E η t -
25 Trillhaas, Ethik
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächtc
wicklungshilfe bezeichnete Pflicht ist ebenso sehr ein Problem der Gesinnungsethik wie einer umorientierten Wirtschaftspolitik.
2. Es ist das Problem des durch die industrielle Entwicklung entlasteten Menschen. Die Arbeitszeitverkürzung wirft eine ganz neue Frage auf, die Verwendung der Freizeit, wie wir sahen. Aber das Problem ist schon viel weiter gereift: Die Freizeit wird genormt und nach unterschwelligen Zwangsmaßnahmen durch eine Art zweiten Wirtschaftssystems verplant und dem Plan entsprechend konsumiert. Es entsteht die Frage für die Ethik, wie in diesem Raum der Freizeit die hier heimlich weggleitende Freiheit in Schutz genommen werden kann. 3. Noch ein weiteres, tief in das gesellschaftliche Gefüge eingreifendes Problem der entstehenden Wohlstandsgesellschaft muß im Zusammenhang mit der Wirtschaftsethik genannt werden. Der selbstverständliche Wohlstand bringt ein Gefalle zugunsten der gutbezahlten Stellen mit sich. Nicht nur die sog. dienenden Berufe, sondern sogar die nicht unmittelbar wirtschaftlich nutzbaren Berufe geistiger Art leiden Mangel. Manche Berufe (die Hausgehilfin oder das ländliche Personal auf dem Bauernhof) mögen durch eine weitgehende Technisierung der Verrichtungen ersetzbar sein. Andere Berufe wie die pflegerischen sind es nidit. Können unmittelbare ethische Gründe zugunsten dieser Berufe wirksam gemacht werden, oder werden auch hier nur wirtschaftliche Vorteile ausschlaggebend sein, wenn diesen Berufszweigen neue Kräfte zugeführt werden sollen? 4. Zweifellos liegt eine Bedrohung der Freiheit des Menschen — und das heißt zuletzt doch immer: des einzelnen im Hintergrund aller Beobachtungen, die uns die Wirtschaftsethik der Neuzeit aufnötigt. Die Abwehr dieser Bedrohungen kann aber, so paradox das klingen mag, nur wiederum im Verband, um nicht zu sagen im Kollektiv geschehen. (Selbst in der Kirche ist es heute viel schwerer als in früheren Zeiten, ein einzelner zu sein). Sie Sicherung der Freiheit des einzelnen führt unmittelbar wieder zu politischen Maßnahmen. Die Übermacht der wirtschaftlichen Institutionen kann nur dadurch beschränkt werden, daß sie durch andere Gruppen und Verbände aufgewogen und begrenzt wird. So stehen den Arbeitgebern die Gewerkschaften gegenüber und empfangen von dieser Gegenüberstellung allein schon ihr entscheidendes Existenzrecht. Parteien und Kirchen und nicht zuletzt, ebenso im Sinne des ausgleichenden Gegengewichtes wie als neutraler Richter und Sachwalter aller, der Staat. Das Nebeneinander und „Gegenüber" dieser Mächte und Institutionen ist eine relative Garantie der Freiheit. Denn diese Freiheit wird fortwährend durch die ihre
Berufung und Beruf
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Kompetenz (ihre „Eigengesetzlichkeit") überschreitenden Gruppen und Mächte bedroht. Sie wird auch bedroht, wenn sich heimlich oder offen solche scheinbar getrennten Gruppen und Mächte identifizieren. Die Ethik hat also trotz der zunächst geringen Möglichkeit, trotz des beschränkten Spielraumes nodi viel zu tun. J e freier und offener ihre Besinnung geschieht, je weniger sie Partei nimmt (auch nicht im Sinne vergangener Zeiten), desto mehr ist ihre Arbeit nützlich und aussichtsvoll. 27. Kapitel Beruf
und
Arbeitswelt
1. Berufung und Beruf Auch durch unseren Beruf sind wir mit der Gesellschaft verklammert. Die Gesellschaft ist dabei als Arbeitswelt begriffen. In unserem Beruf üben wir — abgesehen von dem Erwerb unseres Lebensunterhalts — einen Dienst für andere Menschen aus, wie wir umgekehrt unsere Ruhe, unsere Freiheit der Arbeit anderer Menschen verdanken. D a ß der Beruf eine eigenartige Verklammerung unseres Daseins in der Gesellschaft bedeutet, erfährt derjenige unmittelbar, der sich einen Beruf zu wählen versucht und damit auf die harten Gesetze des Bedarfs dieser Gesellschaft resp. der Wirtschaft stößt. Keiner ist in der Wahl seines Berufs oder doch des Ortes, an dem er seinen Beruf ausübt, ganz unabhängig und auf seine Wünsche gestellt. E r muß sich nach der Decke strecken, und die Härten, die dabei auftreten, stellen im weiteren Verlauf unserer Überlegungen ein erhebliches Problem dar. Ich entwickle zunächst die altprotestantische Berufslehre, die ihren Kern in der religiösen Einstellung zum Beruf hat. Sie stellt auch für das Folgende, für die Beobachtung der geschichtlichen Wandlungen und die moderne Situation eine Ausgangslage dar. Von der modernen Situation soll dann in den nächsten Abschnitten die Rede sein.
Unser Beruf ist ähnlich wie unsere Begegnung mit dem Nächsten eine Sache des Glaubens. Wie wir die Nächstenschaft nur in der Uberzeugung hinnehmen können, daß uns Gott diese Nächsten zugeführt hat, wiewohl wir die ganze Kette der vermeintlichen Zufälligkeiten der Begegnung wohl überblicken können, so ist es auch in unserem Verhält^ nis zum Beruf. Wir meinen zwar, die Zusammenhänge wohl zu überschauen, die uns in unseren Beruf gebracht haben. Beiinden wir uns aber in dem Beruf, so schwindet der Raum unserer Entscheidungs25*
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
freiheit zusammen, und wir erkennen, daß über uns und unsere Stellung in der Arbeitswelt von einer anderen Macht entschieden ist. Wir folgen mit diesen Sätzen der Berufslehre Luthers in ihren Grundzügen. Luther hat zwar den Begriff des Berufs nicht geprägt, aber er hat durch seine Würdigung der weltlichen Berufe den Berufsbegriff zu jener allgemeinen Bedeutung erhoben, die er heute hat. Wir verdanken ihm die Einsicht, daß nicht nur der geistliche Beruf und Stand im engeren Sinn eine Glaubensbedeutung hat, sondern jeder, also auch der sogenannte weltliche Beruf auf einer geheimen Beauftragung Gottes beruht. Der Augenschein spricht ganz und gar dagegen. Der Weg des Menschen zu seinem Beruf geht durch seine eigenen Wünsche und die Berufsbildung hindurch. Die Frage der Eignung, die Selbstbeurteilung und die Beurteilung in Prüfungen spielt eine große Rolle. Schließlich gibt das Verhältnis des Angebotes der geeigneten Kräfte zu dem öffentlichen Bedarf in jedem Fall den Ausschlag. So weit ist von einer jenseitigen Lenkung unseres Berufsweges nichts wahrzunehmen. Das Glaubensurteil, daß Gott mich in meinen Beruf berufen hat, ist immer nur im Rückblick möglich und setzt die Erfahrung voraus, daß mir die Entscheidung über mich selbst mehr und mehr aus den Händen geglitten ist. Das Glaubensurteil über meinen Beruf entspringt also einem anderen Aspekt, als ihn die vorbereitenden Überlegungen des werdenden Menschen darstellen. Man wird den Berufsgedanken nicht zu eng fassen dürfen. Wir neigen heute dazu, den Beruf weitgehend im Sinn unserer öffentlichen Stellung, bzw. unseres Arbeitsplatzes zu verstehen. Nach der theologischen Sicht Luthers liegt aber noch mehr in dem Begriff. Das kommt sprachlich darin zum Ausdruck, daß die Begriffe Beruf, Amt und Stand wechselweise gebraucht werden können. Ich erinnere an die Anweisung zur Selbstprüfung des Beichtenden im Kleinen Katechismus Luthers: „Da siehe deinen Stand an nach den zehn Geboten, ob du Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Herr, Frau, Knecht, Magd seiest..." Auch der Amtsbegriff Luthers ist ja nicht auf die öffentliche Sphäre beschränkt. Am deutlichsten dürfte sich der Begriff des „Standes" aus den anderen Bezeichnungen herausheben : er bezeichnet die übersubjektive Ordnung, an der ich teilnehme, in die ich eintrete, wenn ich in einen Beruf berufen werde. Der Stand ist nicht nur die Menschengruppe selbst, sondern zugleich die rechtliche und soziale Ordnung, der ich kraft meines Berufs zugehöre. Dieser Stand ist an sich „recht und göttlich". — Durch das Amt geschieht auf Erden ein Werk, das Gott
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haben will und darum ist das Amt ungeachtet der Person und ihrer Würdigkeit vor Gott „ein köstlich göttlich Amt". Die Berufung weist mir meinen Platz in dem Geflecht der Berufe an und macht mich innerhalb der Gesellschaft auch zu einem Glied meines Standes. Diese Berufung erteilt uns Gott natürlich nicht unmittelbar, sondern durch die Vermittlung von Menschen. Auch mein eigenes Wünschen, Streben, meine Berufsvorbereitung und die mitgebrachte Eignung sind Vermittlungen der Berufung. Die Wahl und die Bestätigung in meinem Beruf, die ich von anderen Menschen empfange und die midi vergewissert, daß ich nun berufen bin, gehört in diese vermittelnden Zusammenhänge hinein. Die natürlichsten Umstände können zur Berufung beitragen: das Geschlecht — man denke an den Beruf der Hausfrau; die Geburt, die in alter Zeit über den künftigen Beruf des Fürsten entschieden hat; die Abstammung im Falle der erblichen Gewerbe. Gerade die Beispiele, die noch eine ältere Sozialordnung voraussetzen, sind sehr aufschlußreich, weil sie den Gedanken einer eigenen Wahl, einer „Entscheidung" geradezu ausschließen. In den genannten Fällen ist sehr deutlich vor jeder denkbaren eigenen Entscheidung über uns entschieden. Heutzutage tritt an Stelle dieser Vorentscheidung durch die Herkunft oft ein langes Raten und Überlegen, und man trifft lang anhaltende Unsicherheit. Wichtig aber ist es, daß es mich dann eines Tages trifft und idi durch ein deutliches Zeidien Gewißheit empfange, nunmehr berufen zu sein. Die Gewißheit, die idi dadurch gewinne, hat eine tiefere Bedeutung; denn ich kann mich ihrer getrösten und ich kann mich vor anderen geradezu darauf berufen. Die Bedeutung dieses Berufsgedankens liegt aber auch darin, daß ich anderen Menschen zubilligen muß, daß auch ihre Berufung im göttlichen Ratschluß wurzelt. Die Berufung empfängt dadurch eine Würde, die bei aller Verschiedenheit der Stände und ohne die Schichtung der Sozialordnung aufzugeben, jedem Beruf in gleicher Weise zukommt. Auch die Berufung zum geistlichen A m t ist nicht anders zu denken. Vielfach herrscht eine mysteriöse Vorstellung darüber, wie man sich die „innere Berufung" zum A m t zu denken hätte. Tatsächlich vollzieht auch sie sich höchst weltlich, entspringt irdischen Motiven und ist — äußerlich betrachtet — mit einer Fülle von Menschlichkeiten verbunden. Die innere Berufung erweist sich darin, daß man quer durch diese Verflechtungen an die vocatio Gottes glaubt und sidi der Bestätigung dieser Berufung getröstet.
Was audi die Geburt, persönliche Veranlagung, Ausbildung, Gelegenheiten und menschliches Zutun zum Zustandekommen unserer Berufung beitragen mögen, so ist doch der Beruf selbst von allen diesen Veranlassungen grundsätzlich unterschieden. Der Beruf ist immer das,
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was Gott aus uns macht, nicht das, was wir von Haus aus schon sind. Das hat nun nach verschiedenen Seiten hin die erheblichsten Folgen. a) Wenn man den Beruf aus Gottes Hand nimmt, dann ergibt sich daraus einmal, daß sich niemand auf Grund seines Berufes über den anderen überheben kann und daß wir die Ungleichheit der menschlichen Berufe gelassen ertragen. „Oportet müssen oben und unten Stände sein in diesem L e b e n . . . Deus omnes creavit." (WA 49, 610). Die Berufung in den Beruf ist ein förmlicher Schöpfungsakt, der in der Doppelsinnigkeit des Wortes creare zum Ausdrude kommt. So kann Luther sagen, daß Gott Bettler wie Könige „geschaffen" habe. Die unterschiedlichen Berufe stellen zwar den Menschen auf Erden hoch oder niedrig, aber sie begründen keine Überheblichkeit des einen Menschen über den anderen, ja sie haben alle in Gottes Plan die gleiche Würde. Daraus erklärt es sich, daß in der lutherischen Soziallehre die christliche Bruderschaft auch bei den ausgeprägtesten Standesunterschieden nicht aufgehoben worden ist. Bekanntlich hat der Kongregationalismus dadurch, daß aus der Gleichheit aller Menschen vor Gott auch die bürgerliche Gleichheit abgeleitet wurde, eine ganz andere sozialgeschichtliche Entwicklung eingeleitet, derzufolge die Demokratie eine Fortsetzung der christlichen Gleichheit in den säkularen Raum hinein darstellt. Das ist zunächst viel einleuchtender als Luthers Konzeption, wenn auch das tatsächliche Ubergewicht einzelner Persönlichkeiten, die tiefen Unterschiede der tatsächlichen Macht sowohl einzelner wie ganzer Gruppen in der Demokratie von der kongregationalistischen Gleichheitslehre aus schwer gerechtfertigt werden können. Die lutherische Berufslehre stellt die irdischen Unterschiede ohne weiteres in Rechnung. Sie gelten nicht nur in einer patriarchalischen Sozial· Ordnung, sondern solange es überhaupt Menschen geben wird. Aber diese Unterschiede berühren die Gleichheit der Menschen vor Gott nicht. Im Gegenteil: Auf Grund der Gleichheit aller Christen vor Gott ist es trotz der ausgeprägten Standesunterschiede möglich, daß der kleine Mann an den menschlichen Schicksalen seines Fürsten innigen Anteil nahm und daß der General sich mit seinem Soldaten solidarisch empfindet. Der Pfarrer wird unerachtet seines betonten Amtes von seiner Gemeinde als Nachbar geachtet und auch der Hochgehobene achtet den Kleinen in seiner Würde. b) Weil der Beruf dem Menschen gegeben ist, darum kann er ihm auch wieder genommen werden. Er verleiht keine dauernde Qualität, sondern er gilt nur auf Zeit. Der Beruf ist geliehen und jeder muß über ihn daher wieder Rechenschaft ablegen. Selbst wenn wir im Sinne
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Luthers die Amtsperson von der Privatperson unterscheiden — was ja ohnehin niemals eine Sdieidung und Trennung bedeuten kann — so ist es dodi nicht gleichgültig, wie eben dieses Amt ausgefüllt wird und was wir aus dem Beruf machen. Der Gedanke der Verantwortung für den Beruf schließt auch eine Kritik an unserer Amtsführung mit ein. Verantwortung bedeutet nicht, daß wir blindlings tun, was die Regel des Berufs fordert, ohne der Verantwortung zu gedenken, die jeder zu tragen hat. Der Beruf ermächtigt uns wohl zum Handeln, aber er rechtfertigt uns nicht in unseren Versäumnissen. c) Wir sprachen eben schon von der Unterscheidung des Amtlichen und Persönlichen im Beruf. Für mein Heil ist nicht ausschlaggebend, welchen Beruf ich habe oder einst gehabt haben werde, weder die Höhe der Stellung nodi etwa der geistliche Charakter oder die Leistung. Mein Heil betrifft meine Person ohne Rücksicht auf meine Stellung in der Gesellschaft. Und dodi ist der Beruf selbst ein Gegenstand des Glaubens: Gott wirkt durch ihn. Gott waltet durch unseren Beruf in der Welt. Die Eltern, die Kinder zeugen und gebären, sind media der Sdiöpfung Gottes, und sie vertreten in der Erziehung an den Kindern die göttliche Autorität (vicaria Dei). Durch die Riditer wehrt Gott dem Bösen auf Erden; die Richter sind Instrumente der iustitia civilis. Unser Beruf ist ein Dienst an der Welt und an den Menschen, und unsere Berufspflicht besteht zunächst nur darin, daß wir den Beruf treu ausüben und nicht in einem falsch verstandenen „Liebeshandeln" Regel und Ordnung des Berufs beiseitesetzen. Das kann audi zur Folge haben, daß wir, sei es etwa als Richter oder als Erzieher, sei es gelegentlich als Examinatoren in der Verwaltung unseres Berufs Härte walten lassen müssen. Luther, der in seiner Schrift „Ob Kriegsleute auch in seligem Stande sein können" 1526 (WA 19, 623 ff.) wichtige Hinweise zur Berufslehre gegeben hat, hat ja bekanntlich bei der Erörterung dieses Fragenkreises gern Kontrastbeispiele gebraucht. Sie gelten zu Recht, aber sie haben stimmungsmäßig das Urteil über seine Berufslehre beeinflußt. In Wahrheit wird auch die „Härte" der Amtsausübung eine modifizierte und heimlich gebrodiene sein, wenn das Amt in christlicher Gesinnung und im Glauben an die Verantwortung des Amtsträgers vor Gott ausgeübt wird. d) Der Beruf weist mir audi die Grenzen meines Handelns an. Ob hoch oder niedrig, irgendwo stößt jeder an die Grenzen seiner Berufspflichten und Berufsmöglichkeiten. Jeder muß in seinem Beruf lernen, sich zu bescheiden und mit dem zufrieden zu sein, wozu er in seinen Erdentagen nützlich sein darf. Der Gedanke an die Grenzen hat — vor
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allem in der lutherischen Berufsethik — immer auch die Sorge lebendig gemacht, doch ja nichts „unberufen" zu tun (1 Petr 4, 15). J e mehr wir aus unserem BerufsbegrifF die Autorisierung für unser Handeln empfangen und den Trost, daß wir auch in schwierigen Situationen Redit und Auftrag auf unserer Seite haben, so empfindlich werden wir dann, wenn uns diese Autorisierung fehlt. Bekanntlich ist es ein tiefgreifender Unterschied des kirchlichen und des „sektiererischen" Denkens, daß die Kirche um die Legitimität ihres Handelns besorgt ist, während die „Sekten" unbekümmert um alle Grenzen ihre Saat auswerfen und zu ernten versuchen.
2. Die christliche Berufslehre im geschichtlichen Wandel Kritische Fragen Wir haben mit der lutherischen Lehre vom Beruf begonnen. Ihre Bedeutung und Tragweite liegt auf der Hand. Sie macht den irdischen Beruf zu einem Gegenstand des persönlichen Glaubens und zugleich zur Stätte der Bewährung unseres christlichen Gehorsams. In ihr wird die alte Unterscheidung einer doppelten christlichen Sittlichkeit, einer auf den „praecepta" und einer auf den „Consilia evangelica" beruhenden höheren Sittlichkeit außer Kraft gesetzt. Die Erfüllung der innerweltlichen Pflichten des Berufes wird zu einem unüberbietbaren Maßstab des sittlichen Lebens erhoben. Die Werke dieses Berufes sind aber nicht unsere selbsterwählten Werke, sondern sie ruhen auf Gottes Willen. Er hat uns in diesen Beruf gestellt und handelt selbst durch diesen unseren Beruf mit der Welt. So tragen diese Werke ihre Rechtfertigung in sich; sie sind gerechtfertigt durch das Gebot, wie der Christ selbst seine Rechtfertigung durch den Glauben empfängt, in dem er diese Werke tut. Diese Berufslehre ist nicht nur eine Spezialität Luthers. Sie ist auch in den luth. Bekenntnissdiriften verankert, weil sich an ihr für die Reformatoren die Auseinandersetzung mit dem monastischen Vollkommenheitsideal entscheidet, (Vgl. audi das K a p 4 , 3 zum Berufsgedanken Gesagte.) Als Grundstelle für diese Auffassung ist immer 1 K o r 7 , 2 0 genannt worden: „Ein jeglicher bleibe in dem Beruf (κλησις), darinnen er berufen ist". Allerdings ist hier wohl mehr an den „Stand" in unserem heutigen Sinne zu denken, wie denn auch sofort an die Stellung des Sklaven und des Freien bzw. Freigelassenen appelliert wird. Ebenso wurde Sirach 11, 2 0 f. („Beharre in deinem B e r u f " ) im Sinne der lutherischen Auffassung verstanden. Als weitere Grundstellen der Berufslehre gelten Eph 6, 7 und Kol 3, 23. Man wird ganz allgemein sagen können, daß damit erst einer ganz unbefangenen Würdigung der irdischen Berufe in der christlichen Ethik Bahn gebrochen worden ist und daß erst diese Konzeption die Abstufung eines niederen und eines höheren,
Die christliche Berufslehre im gesdiiditlichen Wandel der christlichen Vollkommenheit gemacht hat.
näherliegenden Pfliditenkreises
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Die neuthomistisdie Soziallehre ist daher auch auf diese Hochschätzung der irdischen Berufe eingegangen und läßt ihnen alles Recht im Rahmen einer berufsständischen Ordnung widerfahren. Die in ihren Grenzen fortdauernde Bevorzugung des „jungfräulichen Standes" und der Gelübde wird doch mehr im Sinne einer Erleichterung des verdienstlichen Lebens und des Gnadenstandes begründet und führt heute kaum mehr zu einer Abwertung der weltlichen Berufe. Für deren Begründung freilidi steht der Gesichtspunkt der soziologischen Bedingtheit und der Arbeitsteilung im Vordergrund. Für die Berufslehre Luthers sind demgegenüber vorwiegend persönliche den Glauben in Anspruch nehmende Motive entscheidend: daß ich mich von Gott in diesen Beruf berufen weiß, daß ich in meinem Amte autorisiert bin und daß ich in den Werken dieses Berufes gerechtfertigt bin; daß ich mich in diesem Beruf, mag er auch gering sein, bescheiden kann und daß ich auch in dem geringen Beruf nicht geringer bin als ein anderer Christ in einer äußerlich hohen Stellung; schließlich auch, daß ich für meinen Beruf und seine Erfüllung zur Verantwortung gezogen werde und nicht nur vor den Menschen, sondern vor Gott Rechenschaft ablegen muß. Es ist jedenfalls ein ganz anderer Aspekt der Dinge als der im Neuthomismus vertretene, ein Aspekt, der bis in die Fundamente der persönlichen Glaubensüberzeugungen des Christen hinunterreicht. Trotzdem wird es nicht genügen, diese „lutherische" Berufslehre vorzutragen und in sich aufzunehmen. Es erhebt sich nämlich die Frage, ob diese Lehre angesichts der Realitäten der heutigen Arbeitswelt noch überzeugt. Ist in jedem Falle ein ethischer Wert der Berufsarbeit anzunehmen? Gibt es nicht unnütze, zwecklose, geradezu unsittliche „Arbeit"? Wir wollen von dem „Gewerbe" der Dirnen nicht sprechen. Aber ist die dargelegte lutherische Berufslehre etwa auf die Erzeugung kosmetischer und anderer Luxusartikel anwendbar? Wir werfen diese Frage niclit nur auf, um die großen Linien der Berufslehre der Reformation kasuistisch zu komplizieren, sondern weil sich von hier aus ein Zugang zur Geschichte des Berufsgedankens in der Kirche eröffnet. Das Problem ist nämlich uralt. Zwar haben, soweit wir sehen, weder Jesus noch einer seiner Jünger während ihres öffentlichen Wirkens den alten, ursprünglichen irdischen Beruf ausgeübt. Paulus hat es getan (1 Kor 9 , 1 4 ff.; Apg 18,3), wiewohl es ihm eine große Beschwernis bedeutet hat (1 Kor 4 , 1 1 f. u. 2 Thess 3, 8). Es ist daher auch ein Bestandteil apostolischer Mahnungen, daß die Christen fleißig arbeiten
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I V . Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen M ä d i t c
sollten, selbst angesichts des nahen Endes (2 Thess 3, 6 ff.), auch aus dem speziellen Grunde, daß sie zur brüderlichen Hilfeleistung allezeit imstande wären (Eph 4, 28). Aber bald meldet sich das Problem, welche Berufe denn der Christ mit gutem Gewissen ausüben könne. Tertullian spricht die Bedenken gegen den Soldatenstand aus : der heidnische Fahneneid und die Feldzeichen des Teufels (De idolatria 19). Der Beruf des Schauspielers ist verpönt. „Dirnen und Schauspieler und alle, die erwerbsmäßig ein schändliches Gewerbe öffentlich ausüben, werden nur nach Auflösung oder Zerreißung solcher Bande zu den christlichen Sakramenten zugelassen" (Augustin, De fide et operibus, 33). Ebendort nennt Augustin Hurer, Kuppler und Gladiatoren in einem Zusammenhang als Leute, die um ihres Berufes willen exkommuniziert sind, freilich nach erfolgter Buße aufgenommen werden können. Im Mittelalter waren die Scharfrichter als „unehrliche Leute" verachtet. Die Einschätzung der Berufe im moralischen Urteil schwankt im Laufe der Zeit außerordentlich, und die Grenze des Urteils über die moralische Qualität und über die schlichte Nützlichkeit des Berufes ist immer, wie auch heute noch, fließend. So erklärt Dannhauer-Mayer (nach Eiert) in der Theologia casualis (1706) den Beruf des Hofnarren für annehmbar, jedoch die Ausübung der musica mercennaria durch „Braten-Geiger" für non laudabilis. Wir würden heute Berufe nennen, die nicht im Dienste der Mensdien stehen, sondern nur den Luxus bevorzugter Kreise ermöglichen oder — je nach dem Standpunkt der Urteilenden — sogar schädlich sind. Es kommt hinzu, daß in der altprotestantischen Berufslehre dodi immer an Berufe gedadit ist, die den Menschen ausfüllen und bei deren Betätigung man „sich etwas denken kann". Wie steht es aber mit Berufen, welche durch Mechanisierung und Arbeitsteilung so entseelt sind, daß der Mensch zur arbeitenden Kraft degradiert wird, von der man nur noch periodische Handgriffe erwartet? Trifft hier diese Berufslehre noch im vollen Sinne zu? Stellt sie nicht vielmehr eine Aufgabe, nämlich die, dem Arbeitenden wieder ein gefülltes Verhältnis zu seiner Arbeit zu ermöglichen, etwa dadurch, daß die Vollmechanisierung solcher an sich schon ganz mechanisch gewordenen Arbeiten gefördert wird? Aber bis es soweit ist — und die Technisierung geschieht ja nicht nach den Anweisungen der Ethik — wird man sich damit begnügen müssen, daß eine ganz durchmechanisierte Arbeit eigentlich nur als ehrlicher Broterwerb schmackhaft gemacht werden kann. Freilich ist bei soldien Überlegungen immer audi an die Möglichkeit zu denken, daß die Gewöhnung vieles erleiditert, was dem Außenstehenden, vor
D i e christliche B e r u f s l e h r e im geschichtlichen W a n d e l
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allem dem intellektuellen Kritiker unerträglich erscheint. In allen Berufen, selbst in den angeblich geistigen, gibt es öde Strecken, die dann nicht einmal den Raum freigeben, den die Gedanken des Arbeiters am Fließband frei haben. Schließlich kämpfen wir in einer Arbeitswelt, in der auch auf dem Arbeitsmarkt selbst Angebot und Nachfrage in unablässigem Wechselspiel begriffen sind und in der der arbeitende Mensch keineswegs mehr, wie in alter Zeit, in einem Beruf hineinwächst, in dem er sein Leben lang bleiben kann, — wir kämpfen in dieser Arbeitswelt heute immerfort um das rechte Verhältnis zwischen den Gaben des Menschen und seinem Beruf. Kann man aber im Sinne der altprotestantischen Berufslehre einem Menschen, der seinen Beruf — menschlich gesprochen — verfehlt hat, einfach zumuten, in diesem Berufe zu bleiben und sich darin zu bescheiden? Schon Paulus mußte Sklaven beraten, ob sie eine gebotene Gelegenheit zur Freilassung ausnützen sollten (1 Kor 7, 21). Es wird kein ethisches Argument geben, irgend jemandem zu verwehren, einen verfehlten Beruf aufzugeben und einen geeigneteren dafür einzutauschen. Damit wird aber dodi der alten Berufslehre eine Stütze entzogen; denn sie setzt ja eigentlich voraus, daß der Beruf wie ein unabänderliches Schicksal hingenommen wird. Wird der Beruf abänderlich, auswechselbar, dann muß mindestens das Sichbescheiden im eigenen Beruf seines fatalistischen Untertones entkleidet werden. Gewiß, irgendwie wird jeder schließlich bei einem Beruf bleiben, sich mit seinem Beruf bescheiden müssen, aber es ist aus der altprotestantischen Berufslehre jedenfalls nicht abzulesen, wann das eintritt und ob man nicht doch vor dieser endgültigen Bescheidung seine Berufslage verbessern sollte. Die kritische Sichtung der altprotestantischen Berufslehre, die ihrer historischen Bedeutung nichts wegnimmt, hat also eine doppelte Einsicht erbracht. Einmal überhebt sie uns letzten Endes doch nicht der Notwendigkeit, unter den möglichen Berufen Unterschiede zu machen, wenn diese Unterschiede auch nicht die soziale Stellung des Berufes selbst betreffen, sondern den moralischen Charakter und den sozialen Nutzen. Ferner hat sich gezeigt, daß die Anwendbarkeit der altprotestantischen Berufslehre auf die moderne Arbeitswelt fraglich geworden ist, trotzdem sie doch erst dieser Arbeitswelt selbst ihre Würde und der Arbeit in ihr das gute Gewissen verschafft hat. Und doch müssen wir hier noch einen Augenblick verweilen. Gemessen an der reinen Glückseligkeit liegt jedenfalls auf dem strenggefaßten Berufsgedanken ein Schatten, und den hat die lutherische Berufslehre sichtbar gemacht.
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Der Beruf setzt unserer irdischen Tätigkeit Grenzen; er zwingt uns früher oder später zur Selbstbeschränkung und Selbstbescheidung; wir können nicht damit rechnen, daß jeder Mensch im Beruf seine ursprünglichen Gaben zur vollen Entfaltung bringt. Und doch ist der Beruf die vornehmste Stätte, an der wir „gute Werke" tun können, ja tun sollen, und diese im Beruf geschehenen guten Werke haben den unbedingten Vorrang vor allen „selbsterwählten", wir würden heute sagen: außerordentlichen Werken. Daß Luther in diesem Zusammenhang immer wieder auf „Mönche" und „Wucherer" zu sprechen kommt, hat nur zum geringsten Teil in seinem polemischen Bedürfnis seinen Grund; es sind für ihn vielmehr die klassisdien Beispiele von vermeintlichen Berufen, die aus der regulären weltlichen Berufsarbeit heraustreten. Indem aber der Beruf als die zwar beschattete, jedoch gewiesene Bahn verstanden wird, auf der unsere guten Werke geschehen sollen, zu denen wir als Christen verpflichtet sind, bekommt in der Tat der Beruf so etwas wie einen asketischen Charakter. Dies ist nicht nur im C a 1 ν i η i s m u s und in der Folge dann im Puritanismus der Fall, wie es Max Weber in seinen klassischen Untersuchungen über „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" gezeigt hat. Die asketische Grundstimmung herrscht auch im Luthertum; denn auch hier ist der Beruf der Ort der Heiligung, der „Übung" guter Werke und um ihretwillen auch der Ort des Verzichtes. Natürlich zeigt das Berufsethos der evangelischen Bewegungen des Reformationszeitalters erhebliche Spielarten. Bei den Täufern und Spiritualisten ist der Beruf der Ort, an dem man sein irdisches Leben fristet, ja an dem man sich bescheiden verbirgt und den zu wählen und zu besorgen geradezu eine Weise des „unamtlichen" Existierens, der Abkehr von der Öffentlichkeit darstellt. Man denke an den „Schuster" Jakob Böhme, an den „Bandwirker" Tersteegen. Max Weber und in der Spur seiner Anregungen E. Troeltsch haben dann gezeigt, wie sich im Puritanismus der Berufseifer in sehr positiver Weise mit der modernen Wirtschaftsgesinnung verbindet und diese Wirtschaftsgesinnung geradezu fördert. Fleiß und eiserne Sparsamkeit und die Erwartung, am wirtschaftlichen Erfolg den Segen Gottes und die Früchte der guten Werke erkennen zu können, das ist möglicherweise eine nodi religiös gegründete Vorstufe des modernen Frühkapitalismus. Max Weber hat in diesem Zusammenhang den Begriff der innerweltlidien Askese geprägt, und er ist weit über die Begrenzung auf eine denominationeile Gruppe des Protestantismus durchaus in seinem Recht: Sowohl das Ethos des anspruchslosen, treuen Beamtendienstes als audi die Entartung eines verweltlichten Geschäfts-
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geistes werden wohl ohne den Boden der reformatorischen Berufslehre nicht zu denken sein. Ihnen gegenüber gilt nicht die Aufgabe, die Entwicklung einfach wieder rückwärts zu drehen, was immer ein aussichtsloses Beginnen ist. Solche Säkularisierungen entstehen immer dort, wo ein kräftiger Impuls — überzeugend, wie es die Berufslehre der Reformation war — in soziologische und wirtschaftsgeschichtliche Entwicklungen hineinführt, die mit dem theoretischen Begriffsmaterial der Ursprünge, mit den Einsichten in ihrer ursprünglichen Fassung nicht mehr bewältigt werden können. Wir haben uns daher der Berufsproblematik in ihrer modernen Form noch einmal gesondert zuzuwenden. Die Lehrbücher der Ethik enthalten durchweg einschlägige Kapitel: W. Eiert: Ethos § 2 0 ; P. Althaus: Grundriß § 18; Ν. H. See: Ethik § 4 0 ; D. Bonhoeffer: Ethik, (1949) 1966 7 270 ff.; F. Tillmann: Die Verwirklichung der Nachfolge Christi II (Handbudi d. kath. Sittenlehre IV/2), 1950 4 , 141 ff. Auf die Bedeutung des Berufsbegriffs für die lutherische Ethik hat schon A. Ritsehl in grundlegender Weise aufmerksam gemacht: Rechtfertigung und Versöhnung III, 1888», 575 ff. — M. Weber: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: Ges. Aufsätze zur Religionssoziologie I, (1920) 1963 s — E. Troeltsch: Soziallehren — Κ. Holl: Die Geschichte des Worts Beruf, in: Ges. Aufsätze III, 1928, 189 ff. — W. Eiert: Morphologie des Luthertums II, 1932, N D 1958, 49 ff., 65 ff. — G. Wingren: Luthers Lehre vom Beruf, 1952 — F. Lau in RGG I, 1076 ff. (Lit.) — Ferner audi: W. Bienert: Die Arbeit nach der Lehre der Bibel, (1954) 1956* (Lit.) — C. Bartels: Berufung zum Job, 1967 (Der Kreis, H . 3).
3. Der Beruf und die Stände Der Ort, an den uns Gott gestellt hat, heißt bei Luther vielfach kurz der „Stand". Er ist ein allgemeiner Ordnungsbegriff, der lediglich besagt, daß wir hier nun durch Gottes Willen „stehen" und demzufolge — in einer gewissen Stabilität gedacht — unseren Standort haben, von dem aus wir handeln sollen. Wir haben uns diesen Stand nicht herausgesucht, Gott hat ihn gestiftet, so daß das Wort ebenso auf „Berufe" in unserem speziellen Sinne (Juristen, Handwerker) wie auf den Familienstand, auf soziale Gruppen wie auf den Christenstand Anwendung findet. Man kann nochmals die Anleitung zur Selbstprüfung für die Beichte in Luthers Kleinem Katechismus heranziehen, um den bekanntesten Beleg zu haben: „Da siehe deinen Stand an nach den zehn Geboten, ob du Vater, Mutter, Sohn, Tochter, Herr, Frau, Knecht, Magd s e i e s t . . D i e s e r Begriff des Standes meint also weder die „Stände" im Sinne des alten Reichsrechtes, nodi Klassen im Sinne der späteren
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Soziallehren, noch hat er irgend eine ausgeformte Vorstellung v o n dem Sozialgefüge im Auge, sondern es handelt sich hier nur, w e n n m a n w i l l , um eine Seitenform seiner Berufslehre. Gelegentlich freilich bedient sidi Luther audi der bekannten D r e i ständelehre. Sie stellt nicht den Inbegriff seiner Uberzeugungen in dieser Sache dar, sondern m a g w o h l mehr als eine Sdiematisierung im Sinne der A n k n ü p f u n g an bekannte populäre Traditionen zu verstehen sein, w i e w i r sie ja audi sonst oft in seinen Liedern und in der K a t e diismusarbeit beobachten. Die Dreiständelehre ist platonisdie Tradition. Plato spricht in der Politeia (II, 368 ff.) davon, daß der Staat wie ein ins Große übersetzter Mensch auch in sich selbst eine Arbeitsteilung haben muß, analog den drei Seelenteilen, denen die drei Stände der Herrscher — der Weisen —, der „Wächter", also der Krieger, und schließlich der Handwerker und Bauern entsprechen. Diese Tradition ist auch im Mittelalter nidit erloschen und hat das Sdiema abgegeben, nach dem man sich die soziale Zusammenordnung der geistlichen und weltlichen Gewalt und des „Volkes" vorgestellt hat. Die Varianten sind zahlreich, vgl. hierzu W. Eiert: Morphologie II, 49 ff. Bei Luther taucht die Dreiständelehre erstmals im „Sermon von dem Sakrament der Taufe", 1519 (WA 2, 734), a u f ; dann wieder in „Vom Abendmahl Christi, Bekenntnis", 1528 (WA 26, 504 f.), ferner im Großen Katechismus 1529 (in der Erklärung zum 4. Gebot) und schließlich in „Von den Conciliis und Kirdien", 1539 (WA 50, 652), wo sich, wohl erstmals bei Luther, der späterhin so folgenreiche Ausdruck „Hierarchien" f ü r die einzelnen Stände findet. Im gleichen Jahr ist ferner in einer Disputation (WA 39 II, 34) von der Dreiständelehre die Rede. Vgl. E. Wolf: Politia Christi, Das Problem der Sozialethik im Luthertum, in: Peregrinado, (1954) 1962 2 , 214 ff. bes. 232 f. Nach dem „Bekenntnis" von 1528 sind die heiligen Orden und redite Stifte, von Gott eingesetzt, diese drei: das Priesteramt, der Ehestand, die weltliche Oberkeit. Es wird aber alsbald deutlich, daß es sich hier um Funktionen handelt, die quer durch die „Gesellschaft" hindurchgehen. So ist mit dem „Ehestand" einfach das Hauswesen gemeint; denn außer Vater und Mutter werden auch Kinder und Gesinde dazugerechnet, so daß auch Fürsten und Pfarrer an diesem Stande Anteil haben. Ebenso gehören jeweils die in irgend einem Sinne im Kirdiendienst Stehenden und die im Dienste der öffentlichen Macht Stehenden bis zu den Knechten und Mägden zu dem entsprechenden Stand. Alle diese können sich auf Gottes Wort und Willen, gleichsam auf die Einsetzung ihres Amtes und Standes durch Gott berufen, es ist „alles eitel Heiligtum und heilig Leben vor Gott, darum daß solche drei Stifte oder Orden in Gottes Wort und Gebot gefaßt sind. Was aber in Gottes Wort gefaßt ist, das muß heilig Ding sein; denn Gottes Wort ist heilig und heiligt alles, das an ihm und in ihm ist" (WA 26, 505). Im Prinzip gehört also jeder Mensdi diesen drei Ständen an, u n d darin liegt allerdings eine gewisse D i f f e r e n z z u unserem Berufsgedanken im späteren Verständnis. Bei Melanchthon findet sich der G e d a n k e
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auch: Es sind drei ordinationes divinae, nämlich ecclesia, politia, oeconomia. Wir erlangen die christliche Vollkommenheit nicht dadurch, daß wir diese weltlichen Ordnungen (civilia officia) verlassen. Das Evangelium „postulat conservare tamquam ordinationes Dei et in talibus ordinationibus exercere caritatem" (CA XVI, 5, BSLK 71,11 ff.; außerdem AC XVI, 2 f., 6, 13; vgl. Eiert a . a . O . 57). Melanchthon sieht freilich diese Stände, über die er nicht anders als Luther denkt, bereits im Rahmen der societas Christiana, ja der Begriff der societas spielt bei ihm bereits ohne jedes einschränkende Adjektiv eine vielfältige Rolle (AC VII passim). Von da an verliert sich die Dreiständelehre in der Geschichte der orthodoxen Lehrbildung nicht mehr. Seit Johann Gerhard werden die drei Stände, die bis dahin eine allgemein soziologische Deutung gefunden hatten, auf die Kirche bezogen: „Tales status sive ordines in ecclesia a Deo instituti numerantur tres, videlicet ecclesiasticus, politicus et oeconomicus, quos etiam hierarchias appellare consueverunt... In Lingua Germanica hi ordines vocantur: 1. Der Lehr-, 2. Nähr- und 3. Wehrstand, officia ipsorum comprehenduntur hoc versículo: Tu supplex ora, tu protege, tuque labora" (Loci Theol. Loe, 23,2). Man kann sagen, daß gerade im Hinblick auf die beigefügte Popularisierung die Sinnversdiiebung ganz deutlich wird. Die Dreiständelehre wird zur orthodoxen Lehre vom „Ordo triplex hierarchicus", zur Lehre von einer singularisch begriffenen „hierarchia", so seit A. Calov. Außerdem werden nun diese Stände zu Sektoren des Sozialgefiiges, innerhalb dessen der eine im kirchlichen Dienst steht, der andere ein obrigkeitliches Amt hat, der Dritte zum Volk gehört, zu dem Rest, der als im freien Erwerbsleben stehend keinerlei »Amt" hat. In der Aufklärung wird dann vollends deutlich, daß damit auch eine Über- und Unterordnung der Stände mitgesetzt war. Die von Luther gemeinte Gleichwertigkeit der Stände vor Gott ist nun wieder verloren, verloren ist die Vorstellung, daß alle Stände gleichsam Kategorien unseres „Standes" sind, den uns Gott in dieser Welt angewiesen hat, verloren ist die Sicht der Dinge, nach der — im Sinne des Dreiständeschemas — jeder in jedem der drei Stände seinen Ort hat.
Die Dreiständelehre hat gewiß keine zentrale Bedeutung. Sie ist weder ein Inbegriff der Berufslehre noch die einzig gültige Form, in der die Berufslehre in die Kategorien der Sozialordnung übersetzt werden könnte. Sie ist nur ein Symptom, und sie ist dieses Symptom allerdings in verhängnisvoller Weise. Es ist kein Zufall, daß die Ideologie der Französischen Revolution gleich zu Beginn derselben im Schema der Dreiständelehre formuliert wird: Emanzipation des „dritten Standes" aus seiner Unfreiheit und Rechtlosigkeit. Hier wird der dritte Stand als das „Volk" verstanden, das bislang unterhalb der beiden anderen privilegierten Stände war, das „Bürgertum", das hier um seine Rechte nicht nur, sondern auch um sein Selbstverständnis, seine innere Formung, seine Einheit ringt. Das 19. Jahrhundert wiederholt dann im Gefolge
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der industriellen Revolution diesen Kampf, indem der nun völlig mittellose „vierte Stand" sich audi gegen das unterdessen arrivierte Bürgertum auflehnt. Doch soll uns die sozialgeschichtliche Seite der Sache nicht weiter beschäftigen. Die heutige Lage ist merkwürdig verändert. Ich hebe drei wesentliche Züge dieser Veränderung hervor. a) Die äußere Differenz der Standesunterschiede ist nahezu völlig abgetragen. Solche Differenzierungen müssen ja, wenn sie Gewicht beanspruchen, auch die rechtliche Stellung der Standesangehörigen in der Öffentlichkeit betreffen. Davon kann aber gar keine Rede mehr sein. Die „Demokratisierung" ist audi in kapitalistischen Ländern, audi in formalen Monarchien vollkommen. Selbst regierende oder ehemals regierende Häuser, der Adel, die „regierenden Kreise" der Demokratien, sie alle befleißigen sich eines möglichst bürgerlichen Lebensstils. Das evangelische Pfarrhaus ist das Bürgerhaus schlechthin. Minister und Generale treten nach ihrem Abschied wieder in die bürgerliche Existenz zurück. Der Bauer wird zum Bürger. Die bäuerliche Lebensund Haushaltung mit Strom, Wasserleitung, Auto und allen Finessen der technischen Haushaltung gleicht sich der bürgerlichen an. Der Arbeiter, der etwas gelernt und es zu etwas gebracht hat, besitzt ein eigenes Häuschen und führt eine bürgerliche Existenz. Die gegenwärtige Umschichtung unserer Sozialordnung tendiert ganz offenkundig auf die mittlere Linie einer allgemeinen Bürgerlichkeit hin. Das schließt Notstände nicht aus. Aber diese sozialen Notstände finden sich heute in der Regel an ganz anderen Stellen, als es die von der sozialen Gesetzgebung geschützten sind: das verschämte verarmte Bürgertum, ja mitunter der verarmte Adel, dem der ererbte Besitz zur Last wird, die überforderte Hausfrau, deren Kräfte skrupellos in Anspruch genommen werden. Was sich an „Standesbewußtsein" noch finden mag, das ist eben bezeichnenderweise nur noch eine Sadie des Bewußtseins und wirkt daher besonders in solchen Fällen, wo dem Bewußtsein nichts an Können und Leistungen entspricht, nur noch lächerlich. Und damit wird das tatsächliche Verschwinden der Standesunterschiede nur bestätigt. Das Proletariat als unterster „Stand" ist verschwunden. Keiner, der etwas gerlernt hat, will Proletarier sein, und viele junge Arbeiter können gar nicht mehr angeben, was das eigentlich sei: ein Proletarier. Diese Konzentration der ganzen Sozialordnung auf der mittleren Linie des Bürgertums zeigt sich in vielen Symptomen, ζ. B. in dem Verschwinden bestimmter Berufskleidungen aus dem öffentlichen Straßenbild: Der Geistliche und der Handwerker, der Forstmann und der
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Bauer, selbst der Offizier außer Dienst, sie alle gehen auf der Straße „in Zivil". Es ist mir bei dieser Darstellung bewußt, daß sie nur auf die westliche Wohlstandsgesellschaft und in modifizierter Form audi auf die Gesellschaft der sozialistischen Staaten zutrifft. Abseits dieser Sozialordnungen lebt das Proletariat in den Städten Lateinamerikas, Afrikas und Asiens in einem Zustand, der diesem Bilde nicht entspricht. Kennzeichen dieses Proletariats, das in ständiger Zunahme begriffen ist, sind neben der Armut und der Arbeitslosigkeit vor allem der Analphabetismus. Wer in der modernen Welt des Lesens und Schreibens unkundig ist, ist dazu verurteilt, ein Spielball der Macht anderer, herrschender Gesellschaftsschichten zu werden. Von diesen Zuständen aus betrachtet, ergeben sich natürlich noch ganz andere Aspekte für die hier verhandelten Problemkreise.
b) Der Einebnung der Stände geht die Säkularisierung der Berufsidee zur Seite. Schon bei A. Ritsehl (a. a. O. S. 624 ff.) vollzieht sidi diese Verbürgerlichung des lutherischen Berufsgedankens. Der Beruf wird im heutigen Sinne der anerkannten und festumrissenen Funktion in der Arbeitswelt verstanden; seine Pflichten sind der Inbegriff der vom Christen geforderten guten Werke, er ist als Ort des praktischen „Gottesdienstes" ein Letztes; hier erfüllt sich unser „sittlicher Zweck", den Endzweck des Reiches Gottes zu fördern. Es gibt keine andere „christlidie Vollkommenheit" als die Leistung unserer Berufspflichten und die dadurch ermöglichte „religiöse Herrschaft über die Welt". Man muß nur den Haudi der religiösen Motivierung von dieser Ritsdilschen Berufslehre wegstreichen, dann haben wir jenes Berufspathos, in dem der heutige Durchschnittsmensch die Antwort auf die Frage nach dem Sinn seines Lebens findet. c) Die alten Standesgliederungen bedeuteten freilidi für jeden in ihnen Lebenden einen Schutz seiner individuellen Persönlichkeit. Innerhalb des in seinem Stande üblichen Stiles konnte jedermann sich frei bewegen und unbekümmert entfalten. Hier war auch sein Verhalten für zahllose Fälle seines Lebens durch das „Standesübliche" vorweg entschieden. Die Institutionalisierung der Stände war weithin ein Schutz und eine Erleichterung des Lebens. Das fällt heute weg. Daraus ergeben sich Unsicherheiten des Allgemeinverhaltens, Notwendigkeiten von Einzelentscheidungen, die dem Menschen in der ständisch gegliederten Lebensform abgenommen waren. Vor allem aber muß nunmehr jeder um die Sicherung seiner Privatsphäre bemüht sein. In der ständischen Gliederung des Sozialgefüges war jeder vor dem Eindringen anderer, soweit sie nicht seinem Stande zugehörten, in seine Intimsphäre sicher. Jetzt muß ein verstärkter Aufwand zur Sicherung 26 T r i l l h a a s , E t h i k
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dieser Intimsphäre unternommen werden. Man weiß meist gar nicht mehr, wo wichtige Personen des öffentlichen Lebens wohnen. Die Geselligkeit im Privathause erstirbt und wird durch den offiziellen oder offiziösen „Empfang" im offiziellen Raum oder am dritten Ort ersetzt. In seiner Privatsphäre lebt der einflußreiche Mann wie ein einfacher Bürger. Das führt bereits zum Problemkreis des nächsten Abschnittes, der von persönlicher Welt und Arbeitswelt handeln soll. d) Natürlich können in keinerlei Art von Arbeitswelt die Unterschiede von Uber- und Unterordnung aufgegeben werden. Uberall sind Gesetze des Aufstieges, Gesetze der Selektion und Klassifikation in Kraft. Wie werden diese fortdauernden „sozialen Unterschiede", die ja durch die erheblichen Differenzen im beruflichen Einkommen auf der ganzen Linie bestätigt werden, mit dieser von uns hier dargelegten sozialen Nivellierung in Einklang gebracht? Dies geschieht wiederum durch jene Trennung, von der nun der nächste Abschnitt zu handeln hat. Diese Trennung von Beruf und persönlicher Welt ist geradezu ein Kniff, durch den die soziologische Problematik zu einer einigermaßen glatten Lösung gezwungen wird. Was an unvermeidlichen Differenzen der Uber- und Unterordnung nodi bleibt, das wird auf die Arbeitswelt beschränkt. In dem anderen Raum, in der privaten Welt, wo das „eigentliche Menschsein" sich abspielt, sollen diese Differenzen nicht gelten. Bis dorthin dürfen sie nicht dringen. Man weiß in der einen Welt nichts von der anderen. Entweder kennt man sich in der anderen Welt nicht, oder man hebt dort jene Differenzen auf. Aber damit sind wir beim Thema des nächsten Abschnittes. 4. Berufswelt
und persönliche
Welt
Das entscheidende Problem der Berufsethik in der Gegenwart besteht darin, daß die Berufswelt von der persönlichen Welt des Menschen immer deutlicher getrennt wird. Das bedeutet, daß die Berufsethik, wie immer man sie audi fassen mag, die persönliche Welt des Menschen nicht mehr betrifft. Zwar gibt es heute nodi Beispiele für die Identität von Berufswelt und persönlicher Welt; aber das werden immer seltenere Glücksfälle. Sie sind dann gegeben, wenn der Mensdi, wie wir zu sagen pflegen, durch seinen Beruf vollkommen ausgefüllt wird. Man kann dafür auch einige Kennzeichen nennen. a) Wenn Berufswelt und persönliche Welt zusammenfallen, ist in der Regel das Haus des Menschen zugleich seine Arbeitsstätte. Der
B e r u f s w e l t und persönliche Welt
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Bauer wohnt auf seinem H o f ; das Pfarrhaus ist zugleich Ort der Seelsorge und des Studiums zur Predigt; im Arzthaus sind Wohnung und Praxis vereint. Bei vielen Gelehrten liegen noch Arbeits- und Wohnraum zusammen. Für viele Frauen ist noch die Wohnung die Stätte ihres Wirkens. In vielen der genannten beispielhaften Fälle löst sich freilich bereits die Identität der Räume: Mancher moderne Landwirt wohnt abseits vom „Betrieb". In Großstädten wohnt nicht selten der Pfarrer in einer Mietwohnung außerhalb seines Bezirks. Der Arzt fährt zur Praxis bzw. zur Klinik. Der Gelehrte geht ins Institut. Die berufstätige Hausfrau teilt ihre Arbeit zwischen Haus und Arbeitsstätte. Trotzdem läßt sich in den genannten Berufen an vielen Fällen die Einheit von Haus und Arbeitsstätte noch immer anschaulich machen. b) Für die Identität von persönlicher und Arbeitswelt ist dann die Freude an der Arbeit charakteristisch. Wer in dieser glüdklichen Lage ist, erholt sich nicht nur v o n der Arbeit, sondern er erholt sich auch d u r c h die Arbeit von anderen Verpflichtungen, die nicht unmittelbar zur Arbeit gehören. Die Arbeit, für die er sich sammelt, ist dann der Inbegriff seiner persönlichen Welt. c) Schließlich wird man auch den ausreichenden Lebensunterhalt durch die Arbeit als Kennzeichen dafür, daß Berufs- und persönliche Welt zusammen fallen, nennen müssen. Anders ausgedrückt: man tut die Arbeit nicht nur um des Verdienstes willen, geschweige denn, daß man zu dem eigentlichen Lebensinhalt hinzu noch um einen besonderen Verdienst bemüht ist, sondern die Berufswelt wirft den Unterhalt unseres Lebens als Ertrag wie von selber ab. Wie gesagt, solche Identität von persönlicher und Arbeitswelt ist heute zum Glücksfall geworden. Die Regel ist die Trennung beider Welten. Die Kennzeichen dafür sind dementsprechend deutlich. a) Die Wohnstätte und der Arbeitsplatz sind getrennt. Mitunter sind von der Wohnung zur Arbeitsstätte weite Wege zurückzulegen, so daß der Weg und die Wegzeit zu einem Problem der Arbeits- und Lohnpolitik werden. Die Zeit, die der Mensch seiner Arbeitswelt widmet, läßt sich in der reinen Arbeitszeit überhaupt nicht ausdrücken, es muß die Zeit der eingeschalteten Arbeitspausen ebenso wie die unterwegs verbrachte Zeit hinzugerechnet werden. b) Dementsprechend werden sich die beiden Welten fremd. Man weiß zu Hause nicht viel von der Arbeit des Mannes oder der Frau und die räumliche Trennung der beiden Welten führt zu einem förmlichen 26*
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Doppelleben, jedenfalls zu einer Entfremdung der Arbeits- und der privaten Welt. Dazu kommt die Mechanisierung der Arbeit. Aber zur Arbeitswelt gehört ja nicht nur der Arbeitsvorgang selbst. So leer und mechanisch er sein mag, es gehören dazu die Arbeitskollegen und die Gesprächsthemen an der Arbeitsstätte. Es gehören dazu alle Lohnfragen, der Kampf um die soziale Sicherung usw. In jedem Falle ist die Arbeitswelt größer und reither, als es bürgerliche Sentimentalität im Gedanken an „den Arbeiter" wahrhaben wollte. Aber es bleibt doch das Problem der Entfremdung der Arbeit. Man kann insofern kompensieren, als es möglich ist, an der Arbeit ein sei es sachliches, sei es soziales oder materielles Interesse zu wecken. Langjährige Arbeiter verschmelzen ihr Interesse unwillkürlich mit dem des Betriebes. Das Minimum dieses Interesses stellt natürlich das rein materielle dar, d. h. die Arbeit wird lediglich als Verdienstquelle betrachtet. Man sollte aber auch diese Seite der Sache nicht geringachten. In keinem der genannten Fälle wird freilich die Fremdheit der beiden Welten wieder aufgehoben und versöhnt. c) Solange es eine soziale Frage in der industriellen Arbeitswelt gibt, besteht audi das Problem der Verkümmerung der persönlichen Welt. Die persönliche Welt — das ist schließlich der Rest, der noch übrig bleibt, wenn von den 24 Stunden des Tages die Arbeitszeit, die Zeit der Pausen im Betrieb, die unterwegs verbrachte Zeit, die sonst auf die berufliche Sicherung verwendete Zeit und schließlich auch die zum Schlaf nötigen Stunden abgezogen werden. Vor dem Eintritt der sozialen Sicherungen in dem Maße, wie wie sie heute kennen, kam noch das Interesse hinzu, einen geringen Verdienst durch Mehrarbeit aufzubessern. Die sozialgeschichtliche Epoche des eigentlichen IndustrieProletariats war ja dadurch gekennzeichnet, daß der Arbeiter seine Arbeitszeit nach Möglichkeit ausgedehnt hat und daß er so viele Familienmitglieder wie möglich einschließlich der Kinder in den Produktionsprozeß einbrachte. Wenn diese Verhältnisse auch im wesentlichen der Vergangenheit angehören, so ist das Motiv der Verkümmerung der persönlichen Welt doch Übriggeblieben, ja es kennzeichnet in jedem Fall weit über die Kreise der Industriearbeiter hinaus schlechterdings jeden vielbeschäftigten berufstätigen Menschen. Eine besonders belastende Form der Trennung ist schließlich die Überschneidung der Pflichtenkreise. Es ist der Fall der berufstätigen, verheirateten Frau, deren persönliche Welt, also der Haushalt, die Fürsorge für Mann und Kinder, sich durch die Ansprüche der Berufsarbeit nicht verkürzen läßt. Es kommt dann zu den Schicksalen, in
Berufswelt und persönliche Welt
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denen der Mensch zwischen den Ansprüchen der Berufswelt und der persönlichen Welt förmlich zerrieben wird. Die Sozialpolitik der letzten hundert Jahre konzentrierte sich wesentlich auf zwei Ziele. Das eine war die bessere Bezahlung und die soziale Sicherung des Arbeiters. Das andere war die Verkürzung der Arbeitszeit. Die erste Aufgabe wird sich auch nach erfolgter gesetzlicher Regelung je nach der allgemeinen Wirtschaftslage von Zeit zu Zeit neu stellen. Eine wirtschaftliche Depression kann Arbeitslohn und Arbeitsplätze in Frage stellen; ein Boom, aber auch eine Inflation können dem Arbeiter den Anspruch auf höheren Anteil am Sozialprodukt zuspielen. Das andere Ziel wurde durch die Automation ebenso überraschend wie bedrohlich in die Nähe gerückt; denn die Potenzierung der maschinellen Effekte macht Menschenkraft frei. Die Arbeitsbedingungen verschärfen sich, die Anforderungen am Arbeitsplatz wachsen und der Leistungsstärkere verdrängt den Schwächeren. (Von den Konsequenzen für die Bildungspolitik ist hier nicht zu sprechen.) Aber jedenfalls wächst die Freizeit. Sie wird gleichzeitig zu einem bedrängenden Problem. Freizeit ist ja zunächst nur ein negativer Begriff. Sie verlangt nach Inhalt, man muß sie ausfüllen. Freizeit repräsentiert im Rhythmus von Arbeit und Feier die persönliche Welt. Aber eine unausgefüllte Freizeit bedeutet eine Entleerung der persönlichen Welt. Nun durchzieht der Rhythmus von Arbeit und Feiertag alle Kulturen. Die Institution der Feiertage und der Feier überhaupt hat so etwas wie eine anthropologische Bedeutung. In der christlichen Welt kam vor allem dem Sonntag (und in der Folge den anderen christlichen Feiertagen des Kalenders) diese Bedeutung zu. Aber durch die Säkularisierung ist der Sonntag als solcher bedroht. Er verkümmert durch die religiöse Entleerung des Tages. Die Säkularisierung beraubt den Menschen der eigentlichen Mitte seiner institutionellen Feiertage. Aber auch wenn wir davon einmal absehen, so bleibt das Problem der Freizeit. b) Neben dieser institutionalisierten Freizeit in der Form öffentlicher Feiertage wächst nämlich das private Problem der Freizeit und ihrer Erfüllung. Hier muß vollends die Phantasie des Menschen, sein kulturelles, sportliches oder auch religiöses Bedürfnis das Seine tun, damit er diese Freizeit sinnvoll anwendet. Für den Besitzer eines eigenen Hauses und Gartens tritt die Schwierigkeit wohl kaum in Erscheinung. Andere müssen sich eine Beschäftigung zum Gegenstand ihrer
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Liebe, Lust und Leidenschaft erwählen. Sie müssen ein „hobby" haben. Die Verlegenheit, welche die Freizeit jedem einzelnen bereitet, wird aber weitgehend auf eine merkwürdige Art behoben, nämlidi durch die Flucht in die Arbeit zurück. Die einen machen Überstunden, die anderen gehen einem zweiten Beruf („job") nach. Man kann die Verlegenheit, mit der Freizeit zurecht zukommen, nicht deutlicher eingestehen, als es hier geschieht. Erich Weber: Das Freizeitproblem. Anthropologisch-pädagogische Untersuchung, 1963 — Art. Freizeit E S L 364 fi. (Lit.).
Alle Arbeit auf Erden geht ja dem Feiertag Gottes entgegen. Der irdische Feierabend, der irdische Feiertag sind Abbilder davon und erinnern uns an Gottes ewigen Sabbat. Jede christliche Beeinflussung dieser Dinge muß auf die tiefe Bedeutung der Arbeitsruhe hinweisen und Rücksicht nehmen. Darum ist die Entleerung des Sonntags eine tiefe Störung. J e mehr die Verlegenheit der Menschen an den Tag kommt, mit dem Feiertag etwas anzufangen, desto größer ist die christliche Pflidit, für Feierabend, Freiheit, Feiertage und Sonntage Raum zu schaffen, für Gottesdienste Sorge zu tragen, die diesen Tagen wirklichen Inhalt geben, und audi über das gottesdienstliche Leben hinaus Inhalt und Gestaltung der Freizeit zu einem Gegenstand der Fürsorge für den arbeitenden Menschen zu machen. Das Eingeständnis wird nicht zu umgehen sein, daß die Begründungen, welche die Reformatoren für die Sonntagsheiligung gegeben haben, nicht mehr ausreichen. Diese Begründungen sind im wesentlichen zwei. Die eine ging von der Deutung des Sonntags aus, er sei der Sabbat der Christen, und zog daraus gesetzliche Folgerungen für Sonntagsruhe und Gottesdienst. Diese Deutung der Sache entstammt der reformierten Theologie und hat die eindrucksvolle puritanische Sonntagsfeier ermöglicht. Luther setzte die Feiertage als eine menschliche Ordnung einfach voraus und war lediglich an der „Heiligung" derselben durch den Gottesdienst bzw. durdi das Hören des göttlichen Wortes interessiert. Aber das bloße Gesetz verfängt nicht mehr, und Luthers Voraussetzung der ohnehin bestehenden Feiertage trifft nicht mehr zu. Man wird den Rhythmus von Arbeit und Feier, die Hingabe an die Arbeit und die periodische Abstandnahme von der Arbeit vielmehr ebenso theologisch ernst nehmen müssen wie die Fragen der leiblichen Gesundheit. Die Unterbrechung des Alltags befreit den Menschen aus der Sklaverei der irdischen Dienste und zwingt ihn, anderes zu bedenken. Eine Berufung auf „Schöpfungsordnungen" genügt nicht.
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Die Unterbrechung der bloßen Arbeit hat einen eschatologischen Sinn, weil sie an das Ende aller Arbeit, an den Abend aller Abende und an die endgültige Ruhe erinnert. Insofern hat der Sonntag einen symbolischen Sinn; er hat ihn auch für die, welche aus irgendeinem Grunde gezwungen sind, am Sonntag doch zu arbeiten. Das Festhalten an der Sonntagsordnung durch die christliche Gemeinde ist zugleich ein Protest gegen eine Gesellschaft, die alle überkommenen Ordnungen ihres gesellschaftlichen Lebens bis hin zum Rhythmus von Arbeit und Feier einebnen möchte, um zu optimalen Effekten der Arbeitsleistung zu gelangen. Hier darf aber der Widerstand der christlichen Gemeinde nicht nur um der Aufrechterhaltung ihrer eigenen hergebrachten Ordnung willen geschehen. Diese könnte sogar preisgegeben werden; denn die Christen haben „allezeit Sabbat". Vielmehr — und das macht das Problem zu einem ethischen — bringt hier die Christenheit etwas allgemein Menschliches zur Geltung. Die Gottesdienste sind schließlich nicht an den Sonntag gebunden. Aber wo die Arbeit und der Alltag zu einer alles übergreifenden übermächtigen Institution zu werden drohen, da muß auch die Feier — und diese allerdings in ihrer ganzen Radikalität begriffen — als Institution geltend gemacht und festgehalten werden. Die Christenheit, die so der Entheiligung des Sonntags begegnet, kämpft freilich nicht nur gegen die Profanierung des Sonntags. Sie wird vielmehr auch die Gestaltung ihres Sonntagsdienstes kritisch überprüfen müssen. Es kann sein, daß die Sorge für den ermüdeten Menschen der Arbeitswelt eine Reform der Sonntagsordnung erfordert. Wenn schon die Gottesdienste den Inbegriff der Heiligung des Sonntags darstellen, so könnte doch eine Prüfung nötig werden, ob die Gottesdienste nicht zu lang sind, ob die herkömmlichen Predigten nach Sprache und Dauer den arbeitenden Menschen noch erreichen. Die Inflation der freien Reden ist ja nicht unbedingt eine Garantie für den Reichtum des göttlichen Wortes in einer Kirche. Vor allem aber könnte es sein, daß der unendlich ruhebedürftige Mensch zu anderen Zeiten als bislang zum Gottesdienst eingeladen werden sollte und daß die Stille des Wochenendes wie die Stille des Sonntagabends künftighin ganz neue Möglichkeiten des Gottesdienstes eröffnen. Die Sonntagsfrage ist für die heutige Christenheit auch ein Anlaß zu einer Neubesinnung über ihren Dienst in einer sich verändernden Welt. Die Christenheit hat gewiß nicht nachzugeben, aber sie hat den Menschen dieser modernen Industriewelt nachzugehen.
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5. Mitbestimmungsrecht Angesichts der komplizierten rechtlichen, politischen und wirtschaftlichen Problematik des Mitbestimmungsrechtes (hierüber EStL 1314 ff., R . Richardi u. E. Müller) ist es nicht leicht, das herauszuheben, was die Ethik selbst angeht. Und doch kann das Problem heute im Zusammenhang mit den Fragen der Arbeitswelt nicht ausgespart werden. Wiederum genügt es auch nidit, es bei allgemeinen Sentenzen zur Lage des Arbeitnehmers bewenden zu lassen. Wenn ich recht sehe, hat die Problematik des Mitbestimmungsrechtes zwei Seiten. Sie betrifft auf der einen Seite die Notwendigkeit, das einseitige Abhängigkeitsverhältnis der Arbeitnehmer durch einen Modus der Partnerschaft abzulösen. Dafür liegt der eine Grund darin, daß Arbeitgeber und Arbeitnehmer durch ein gemeinsames Schicksal verbunden sind. Wenn es dem einen schlecht geht, geht es dem anderen auch schlecht und umgekehrt. Etwas allgemein ausgedrückt, bedürfen Vorgänge im Betrieb, die alle angehen, auch gemeinsamer Beratung. Hier werden zweifellos der Sache nach Abstufungen der Rechte der Arbeitnehmer (Informationsrecht, Einspruchsrecht, Recht der Anhörung und volle Mitbestimmung) entsprechend der abgestuften Verantwortung zu berücksichtigen sein. Aber Können, Einsicht in das gute Funktionieren des Betriebes und guter Wille bedeuten auch eine Qualifikation zur Mitsprache, welche der Arbeitgeber nicht ohne Schaden beiseite lassen darf. Dieser Grund betrifft das Vertrauensverhältnis unter den Partnern, die innerbetrieblidie Situation, gleichsam eine institutionelle Garantie des Betriebsklimas. Der andere Grund — immer nodi im Blick auf den Arbeitnehmer — liegt aber in den Konsequenzen der Demokratie. Wenn im staatlichen Bereich dem Bürger durch Verfassung (Grundgesetz) eine volle Mitbestimmung eingeräumt wird, dann kann er an dem Platz, der seinen Arbeitsalltag bestimmt, nicht in einer Abhängigkeit gehalten werden, die ihm den Mund verbietet. Die andere Seite der Problematik betriift den Eigentümer. Besitz und das ursprüngliche Recht der Initiative, spezifische Geschäftskenntnisse, Überblick über die wirtschaftlichen Zusammenhänge und die Verantwortung für das Risiko in jedem Betracht sprechen zu seinen Gunsten. Aber das ist nicht alles. J e größer der Betrieb, also das „Eigentum" des Arbeitgebers ist, desto mehr übersteigt es das Format des natürlichen Privateigentums eines einzelnen Menschen. Das kommt schon darin zum Ausdruck, daß der Eigentümer zur Verwaltung, ja oft schon um nur sein „Eigentum" noch überblicken zu können, einen
Mitbestimmungsrecht
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komplizierten Apparat einschalten muß. Der Eigentümer ist in vielen Fällen gar keine einzelne Person mehr, sondern eine Gesellschaft, ein Konzern oder dergl. Es kommt hinzu, daß, je umfangreicher dieses „Eigentum" wird, je größer m. a. W. der arbeitgebende Betrieb wird, auch das öffentliche Interesse an ihm wächst. In jeder Stützungsaktion des Staates für gefährdete Betriebe kommt dieses öffentliche Interesse deutlich zum Ausdruck. J a , man könnte schon die Verflechtung mit dem Bankkapital als ein Argument dafür heranziehen, daß ein Eigentum im ursprünglichen und elementaren Sinne, im Sinne dessen, was der Mensch braucht, um ein Mensch zu sein, hier nidit mehr gegeben ist. M. a. W. wir haben im Falle der arbeitgebenden Betriebe nur in einem sehr modifizierten Sinne noch mit dem Begriff des Eigentums zu rechnen. Der vielzitierte Ausdruck „Herr im eigenen Hause" stimmt also in aller Regel einfach mit den tatsächlichen Verhältnissen nicht zusammen. Das aber scheint mir nun, rein ethisch betrachtet, ein schwerwiegendes Argument zu sein, daß die Arbeitnehmer in den festumrissenen Grenzen ihrer berechtigten Interessen, die ebenso ihre eigene Situation wie die des Betriebes einschließen, durch das Mitbestimmungsrecht in eine edite Partnerschaft aufgenommen werden müssen und nicht durch eine pauschale Berufung auf das „Eigentum" davon ausgeschlossen werden können. Zunächst wird das ethische Urteil nicht weiter reichen. Sicherlich werden alle „Rechte", die hier konkret definiert werden müssen, aus vernünftigen Rücksichten heraus abgestuft zu denken sein. Sicher wird das öffentliche Interesse an der Funktionsfähigkeit großer Wirtschaftsbetriebe und Industrien noch in das ethische Urteil fallen, wie auch jede Begrenzung außerbetrieblicher Einflüsse (etwa in der Rückführung auf schiedsrichterliche Funktionen) der Versachlichung dient. Das bedeutet zuletzt, daß eine gesetzliche Regelung, welche jede kurzschlüssige Willkür von der einen wie von der anderen Seite ausschließt und die Handhabung des Mitbestimmungsrechtes mit größtmöglicher Rechtsgleichheit und Objektivität unter Kontrolle nimmt, noch ein ethisches Desiderat ist. Alles Weitere ist dann der Weisheit des Gesetzgebers und dem vernünftigen Ubereinkommen zu überlassen. Außer dem genannten Art. im EStL verweise ich noch auf ESL 725 ff. (M. Donath, F. Karrenberg) und StL V, 749 ff. (H. J . Wallraff) (jeweils weitere Lit.) — Ο. v. Nell-Breuning: Mitbestimmung, 1968. Vgl. ferner: Denkschrift der E K D zur Frage der Mitbestimmung, 1969.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
C. Der politische Raum 28. Kapitel Was
heißt
Politik?
Die „Wissenschaft von der Politik", die in der Gegenwart einen starken Aufschwung erlebt, hat eine lange Tradition. Hauptwerke der antiken „Politik" sind Plato: Politela, Politikos, Nomoi und Aristoteles: Politik. Die neuzeitliche Theorie der Politik wird begründet durdi N. Machiavelli (Il principe 1513; Discorsi 1519), weitergeführt dann vor allem von Th. Hobbes (Leviathan 1651), J . Locke (Two treatises of government 1690), Montesquieu (De l'esprit des lois 1748), J . - J . Rousseau (Du contrat social 1762). Wichtigste Vertreter der polit. Theorie im 19. Jh. sind F. Ch. Dahlmann (Die Politik, 1835, neu hg. 1924), H. v. Treitsdike (Vorlesungen über Politik, hg. v. M. Cornicelius, 2 Bde., 1897/98,1922 5 ), R. v. Mohl, L. v. Stein. Literatur zur Geschichte der Wissenschaft und Theorie der Politik: P. R. Rohden: Die Hauptprobleme des polit. Denkens von der Renaissance bis zur Romantik, 1925 — W. Theimer: Geschichte der polit. Ideen, 1955 — A. Brecht: Polit. Theorie, Grundlagen des polit. Denkens im 20. Jahrh., 1961. Neuere Literatur zum Phänomen des Politischen und zur politischen Ethik: M. Weber: Gesammelte polit. Schriften, 1921 (darin besonders: Politik als Beruf, 396 ff.) — A. de Quervain: Die theolog. Voraussetzungen der Politik, 1931 — C. Schmitt: Politische Theologie, (1922) 1934 2 — Ders.: Der Begriff des Politischen (Wiss. Abh. u. Reden z. Philos., Politik u. Geistcsgesch. 10), (1932) N D 1963 — F. Gogarten: Polit. Ethik, 1932 — G. Wünsch: Ev. Ethik des Politischen, 1936 — G. Ritter: Polit. Ethik. Vom hist. Ursprung ihrer Problematik (Schriftenreihe d. Ev. Ak. IV, 2), 1946 — W. Künncth: Politik zwischen Dämon u. Gott, 1954 — R. Niebuhr: Christian Realism and Political Problems, New York 1953; dt.: Christlicher Realismus und polit. Probleme, 1956 — Weitere Literatur bei H . Thielicke: Theol. Ethik II/2, (1958) 1966 s — O. Stammer: Gesellschaft u. Politik, in: Handbuch der Soziologie, 1956, 530 ff. — Art. Politik, Polit. Herrschaftssysteme etc. StL V I , 335 ff. — Art. Politik, Politische Programme usw. EvStL 1547 ff. (W. Besson u. a.) (Lit.). In den nun folgenden a d « Kapiteln soll nicht weniger unternommen werden als der Versuch, eine politische Ethik zu entwickeln. Die evangelische Theologie tritt an dieses T h e m a ohne eine lange Tradition heran. Die Fürsorge für die Politik hat jahrhundertelang die „Obrigkeit" für die evangelische Kirche getragen. N u n soll die evangelische Kirche ihr eigenes W o r t zur Politik finden. Sie sagt es — wie könnte es anders sein? — nur allzu oft „unbesonnen" und impulsiv, mitunter folgt sie auch schamhaft den Spuren der politischen Ideale ihrer jeweiligen Gegenwart. Ihr eigener Beitrag zur politischen Ethik beschränkt sich häufig auf die Entwicklung der Zweireichelehre, auf die Lehre vom
Der politische Schauplatz
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Gesetz, die Zweiregimentenlehre, auf Geltendmachung staatlicher Autorität oder des demokratischen Prinzips. Schwerlich kann man von einer einheitlichen Linie sprechen. Einerseits ein hartnäckiges Beharren in tradierten Sätzen, andererseits ein nervöses Wegwerfen derselben. Wir können die Aufgabe nicht ohne Bezug auf unsere Situation in Angriff nehmen : d. h. in Deutschland nicht ohne Rücksicht auf zwei Weltkriege, zwei Zusammenbrüche, auf das Abreißen aller nationalen Überlieferungen und das schwere Ringen um eine neue politische Existenz. Auf der anderen Seite gilt es wiederum, der Situation überlegen zu bleiben und die historische und prinzipielle Distanz zu unseren eigenen Lebensfragen zu suchen. Was wir hier sagen können, mag es nodi so sehr in sachlicher Folge und Notwendigkeit geschehen, trägt durchweg Versuchscharakter. Der Theologe ist weder Staatsrechtler noch Sozialpolitiker, er ist überhaupt nicht Politiker, er ist also mit einem Wort kein „Fachmann". Er ist vielmehr Dilettant. Er kann sich nur mit seinen theologischen und philosophischen Gesichtspunkten zu einem Anwalt der Vernunft und des unbefangenen Urteils in den Angelegenheiten machen, die uns doch alle angehen. Wer ist denn in diesen Lebensfragen, wie sie die Politik darstellt, k e i n Dilettant? Was hier gelernt und studiert werden kann, das wird grundsätzlich auf anderen als theologischen Wegen begriffen, wenn es überhaupt begriffen wird. Die gelebte Politik ist die Kunst des Möglichen, sie ist das Feld der ungezählten Überraschung, sie ist ein Weg, auf dem man behutsam schreiten muß, wo auch dem Törichten Glück, wo auch dem Edlen Unglück blühen kann. Politische Ethik bedeutet also nichts anderes, als sich auf dieses Feld, auf diesen Pfad der entstehenden Geschichte mit dem Mut des Dilettanten und mit der Wünschelrute einer möglichst sorgfältigen Theologie zu begeben.
1. Der politische Schauplatz Die Politik trägt ihren Namen von der πόλις, dem antiken Stadtstaat oder einfach dem „Staat". Politik wird deshalb oft kurzerhand als die Lehre vom Staat verstanden. Aber schon der Begriff der Außenpolitik sprengt diesen engen Rahmen; denn er setzt mehrere Staaten voraus, die zueinander in Beziehung treten. Es bedarf nur eines Blickes, um die Vielfalt der Anwendungen des Begriffs wahrzunehmen. Wir sprechen bei folgenden sozialen Gebilden von Politik :
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
Staat, Land, Kreis, Kanton, bürgerliche Gemeinde, Kirche und Kirdien, Hochschulen und Schulen, Industrie, Handel, Wirtschaft, Parteien und die sie tragenden Kreise der Bevölkerung. Stände, Berufsgruppen und soziale Verhältnisse im allgemeinen. Sofort dehnt sich der Sdiauplatz des Politischen weit über den staatlichen Β er ei di hinaus. Das Bild nimmt an Buntheit zu, wenn man die verschiedenen Verhältnisse in Betracht nimmt, in denen Politik entsteht. Jedes dieser sozialen Gebilde kann i n s i c h selbst eine Politik haben, wie ζ. B. eine bürgerliche Gemeinde in Form der Kommunalpolitik. Die Sozialgebilde können mit i h r e s g l e i c h e n in eine politische Beziehung treten, z . B . ein Staat mit dem anderen, eine Kirche mit anderen Kirchen, die Universitäten untereinander, die Parteien in Kampf oder Koalitionen usw. Schließlich entsteht quer durch die genannten K a t e g o r i e n hindurch ein Netz möglicher Beziehungen, ζ . B . zwischen Kirche und Staat, Industrie und Gewerkschaft, Staat und Schule, Kirche und Schule usw. Gibt es nun eine Formel, welche dieser Tatsache in Kürze gerecht wird und die Fülle des Politischen einhellig erklärt? Zur Beantwortung dieser Frage ist ein Umweg nötig. Jeder Lebensvorgang kann nämlich politisch verstanden werden; er kann, wie wir zu sagen pflegen, zu einem politicum werden: Die Geburt von Kindern beeinflußt den Bevölkerungsstand, der Einkauf von Südfrüchten hat mit dem Außenhandel zu tun, der Besuch des Gottesdienstes zeigt etwas über den Einfluß der Kirche im Volk, jede Fabrikarbeit hängt mit Lohnfragen zusammen, der Besuch von Vergnügungen läßt Rückschlüsse auf den Wohlstand der Bevölkerung zu. Aber wenn ein Lebens Vorgang unter Menschen in dieser Weise auch politiseli verstanden werden kann, so ist er doch nicht unmittelbar politisch gemeint. Weder die Gebärende, noch die einkaufende Hausfrau, noch der Kirchgänger usw. handeln doch unmittelbar politisch. Es ist ja erst die Betrachtung, womöglich erst die nachträgliche Sicht, welche die Lebensvorgänge zu politischen Fakten macht. Es ist also eine Sache der Ansicht oder des Bewußtseins, ob ein Vorgang als politisch verstanden wird. Unmittelbar politisch handelt doch nur der, der eine politische Absicht hat. Diese kann sehr verschieden
Der politische Schauplatz
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gefärbt oder gerichtet sein. Absichten können sich, ohne aufzuhören, politisch zu sein, geradezu widersprechen oder überschneiden. Und es scheint nicht einfach zu sein, das Gemeinsame des politischen Charakters bei so widersprechenden Absichten zu ermitteln. Worauf muß die Absicht gerichtet sein, um mit Redit als politisch bezeichnet zu werden? Eine Antwort bietet sich darin an, daß wir von der G e s t a l t u n g d e r Ö f f e n t l i c h k e i t sprechen. Die Öffentlichkeit wird indessen audi durch große Sportveranstaltungen oder durch die Intensivierung des Straßenverkehrs „gestaltet". Große Bauten wirken stark ins öffentliche Bewußtsein. Das alles ist von Hause aus nicht politisch gemeint, es ist, wie wir meinen, seiner Substanz nach nicht politisch. Der einzelne kann sich dem Einfluß dieser Dinge auch entziehen. E r kann die Sportveranstaltungen ignorieren, er kann dem Verkehr ausweichen, er kann große Bauten außer acht lassen. Deswegen haben solche Unternehmen wie Sportveranstaltungen, Theater, Zirkus, die Werbung nötig; sie drängen in die Öffentlichkeit und möchten viele Menschen zur Teilnahme nötigen. Dadurch gewinnt der Begriff der Öffentlichkeit den Sinn von P u b l i z i t ä t . Reklame, Presse, Rundfunk und Fernsehen greifen aus, um möglichst viele Menschen zur Teilnahme aufzufordern. Aber trotz diesem Aufwand m ü s s e n diese Menschen nicht teilnehmen, und das ist der entscheidende Grund dafür, daß dieser Begriff der Öffentlichkeit das Politische noch nicht erklärt. Das Politische beginnt nämlich genau dort, wo ich mich der Sache nicht mehr entziehen kann, selbst wenn ich es wollte. Der Politik liegt ein anderer Begriff von Öffentlichkeit als der eben beschriebene zugrunde. Das öffentliche im politischen Sinn ist das, was alle angeht, ob sie es wissen oder nicht und ob sie es wollen oder nicht. Ein Krieg geht alle an, auch wenn ihn viele ablehnen. Eine Änderung des Steuersystems betrifft alle Steuerzahler, auch wenn das neue Gesetz kaum „publik" wird. Die Kirche erhebt Anspruch auf alle Menschen, und das Wort Gottes geht alle an. Darum trifft der öffentlichkeitsbegriif in dem geschilderten Sinne auch auf die Kirche zu. In der Kirche, aber nicht nur in ihr, begegnet uns häufig eine Verwechslung von Publizität und Öffentlichkeit in diesem existentiellen Sinn. Zwischen beiden Begriffen von Öffentlichkeit besteht schon eine Beziehung, aber sie ist dialektisch. Die kirchliche Presse bemüht sich um Publizität, aber es ist möglich, daß gleichzeitig der Kirdie die existentielle Notwendigkeit ihrer Sache, also die Öffentlichkeit in der politischen Analogie verloren geht. Umgekehrt ist es möglich, daß der Kirche etwa in Verfolgungszeiten jede Möglichkeit der Publizität abgeschnitten wird, während gleichzeitig deutlich wird, daß diese Verfolgung der christlichen Sache etwas ist, was alle angeht. — In
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
diesem Sinn kann man zwar für eine politische Richtung werben, d. h. den publizistischen Apparat in Bewegung setzen. Die Politik selbst bedarf keiner Werbung; sie bedeutet ein Schidtsal, an dem wir alle teilnehmen, ob wir wollen oder nicht. Die klassische Verbindung von politischer Werbung, aus der sich dann das öffentliche Schicksal ergibt, ist der Wahlkampf in der Demokratie. E r ist bekanntlich in Scheindemokratien ein Mittel, bestehende Herrschaften zu befestigen. In echten Demokratien dient er der Übertragung von Macht. Aber audi dann gilt, daß sich in ihm eine öffentliche Meinung kundgibt, die bereits etwas von Öffentlichkeit im existentiellen Sinne an sidi hat, wenn sie sich audi im Wahlkampf erst offenbart.
Was aber in der Politik als Gestaltung der Öffentlichkeit bezeichnet wird, muß noch deutlicher beschrieben werden. Man kann zunächst darauf hinweisen, daß hier die divergierenden I n t e r e s s e n vereinheitlicht werden sollen, daß eine Gesamtordnung entstehen soll, der sich keiner entziehen kann. Aber es sind dann immer einige, die diese Gesamtordnung planen und durchführen, die sie m. a. W. zu verantworten haben, während andere sich dieser Gesamtordnung unterwerfen. Es gibt keine Politik ohne die Regelung der Herrschaftsverhältnisse oder Vorrangstellung zwischen Menschen, sei es zwischen einzelnen und Gruppen, zwischen der Regierung und dem Volk oder der Masse, zwischen den Völkern, zwischen Interessen und Lebenssphären. In allem Politischen nimmt die Gesamtordnung die Gestalt der Überund Unterordnung bzw. der Einordnung in diese Ordnungen an. Alle Politik nimmt Menschen in Dienst und versucht, Einflüssen auf diese Ordnung Raum zu geben, sie aufrechtzuerhalten oder auszuschalten. (Die apokalyptische Betrachtung der Politik sieht eben darum die Aufeinanderfolge von Herrschaften [dominationes] und ihre Verfallenheit aufs Ende aller Dinge hin als das Wesen der Geschichte an.) Der Schauplatz des Politischen ist also nicht eindeutig festzulegen oder gar auf den Staat zu begrenzen. In gewissem Sinn ist es wohl die Gesellschaft als die Summe aller Bezüge, in denen der einzelne solchen Herrschaftsverhältnissen ausgesetzt ist, denen er sich nicht entziehen kann. 2. Die politische Bewegung und ihr Ziel Von Politik redet man nicht dort, wo die Dinge „stehen", sondern wo sie sich wandeln, verändern oder verändern sollen. Starre Herrschaflsverhältnisse oder audi ein absoluter Friedenszustand setzen aller Politik ein Ende, aber einen solchen starren Zustand gibt es nicht, er ist eine Abstraktion oder eine Utopie.
D i e politische B e w e g u n g und ihr Ziel
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Aber warum müssen sich denn die menschlichen Dinge im Sinn der Politik bewegen? Muß denn diese Bewegung sein und könnte sie nicht besser unterbleiben? Wir können die zwingenden Gründe für die politische Bewegung in verschiedene Gruppen einteilen. a) Der Wechsel der Bedürfnisse. Die Zu- oder Abnahme der Bevölkerung läßt Bedürfnisse entstehen oder verschwinden. Man denke an Wohnraum, Nahrungsmittel, an Handel und Verkehr, aber auch an Mode und Geschmack. Man sieht keinem dieser Motive von Haus aus den politischen Charakter an, aber sie werden schon im nächsten Schritt zu politischen Triebkräften von unübersehbarem Gewicht. b) Der Wechsel der Figuren. Auch dieses Motiv ist von Haus aus unpolitisch genug. Alte Beamte, Minister, Führer, Herrscher treten ab und neue treten an ihre Stelle. Selbst in der friedlichsten Form dieses Wechsels kann unmerklich ein politisches System an die Stelle des anderen treten, wie denn der Generationenwechsel in seinen Folgen oft erst vom Historiker ganz ermessen werden kann. c) Der Ideenwechsel. Alte Ideen laufen sich tot, was oft in der unauffälligen Weise geschieht, daß man gewisse Schlagworte nicht mehr hören kann. Neue Ideen treten an die Stelle, was sich ebenfalls mitunter in aufkommenden Schlagworten verbergen kann. Uber Nacht hat sich eine andere Sicht der Dinge durchgesetzt und die Welt sieht anders aus. Das alles kann man sich so friedlich wie nur möglich vorstellen. Man muß nur die Vehemenz gesteigert, langsame Entwicklungen als plötzliche denken, um zu sehen, wie die politische Bewegung nun an Profil und Gefährlichkeit gewinnt. Das Bedürfnis nach einer Neuordnung der Rang- und Herrschaftsverhältnisse in der Gesellschaft läuft der tatsächlichen Neuordnung voraus und macht schwere Spannungen, Klassenkämpfe, sich anbahnende Umstürze verständlich. Nehmen wir schließlich noch das weite Gebiet der Einwirkungen aller Art von außen hinzu, welche solche immanenten Abläufe hemmen oder fördern können, so wird vollends deutlich, daß die Bewegung in unterschiedlichen Beschleunigungen das Element aller Politik ist. Es sieht freilich wie eine Binsenwahrheit aus; denn wir sprechen ja damit vom geschichtlichen Werden, Wandel und Vergehen. Ist das allein schon die Politik? In der Tat wird diese Bewegung erst dort politisch, wo man diese Bewegung w i l l , wo die Motoren der Bewegung bewußt sind, wo sie von den Teilnehmern an der Politik selbst geheizt und in Gang gehalten werden. Politik beginnt dort, wo man die
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Veränderung will, wo man den Wechsel befördert oder auch hemmt, wo man der Neuerung zustrebt oder ihr widersteht. Man wirft in der Politik seine Interessen, seine Bedürfnisse und seine Ideen, ja sidi selbst in das Getriebe des Wandels hinein. Es gibt keine Politik ohne ein bestimmtes Zukunftsbild, das uns verlockt oder das drohend in unser Dasein hineinragt. Zwar kommt die Zukunft audi ohne unser Zutun auf uns zu. Politik bedeutet aber, daß man diese Zukunft nicht untätig hinnimmt, sondern daß man ihr entgegenhandelt, daß man den Staat gestaltet, Verträge anstrebt, den Frieden sichert usw. Daß der Mensch Vorsorge für die Zukunft treffen muß, die doch unausweichlich auf ihn zukommt, das ist der anthropologische Grund aller Politik. Dabei ist es notwendig, den Erfolg seines Handelns, die Folgen der Worte und Taten richtig abzuschätzen, m. a. W. die „Wurfweite" des politischen Handelns zu ermessen. Insofern ist alle Politik Ermessenssache, Sache des Augenmaßes, alle Politik ist Kunst, und das wird einer der Hauptgründe dafür sein, daß man sie für die Ethik so schwer fassen kann. Natürlidi kann man über Verfassungen, Pakte, Gesetze, Rechte, Friedensschlüsse und Friedenszustände rational sprechen und sie zum Gegenstand der Ethik machen. Aber das Irrationale wohnt nahe dabei. Alle Politik lebt nämlich im Grunde von einer Fiktion oder mindestens von einer optischen Täuschung. Diese Fiktion besteht darin, daß man glaubt, es ließe sich am Ende der Wandlungen ein Ruhepunkt erreichen, als könnten alle Veränderungen an einem gewünschten Ziel zu einem endgültigen Ausgleich kommen. Es ist die e s c h a t o l o g i s c h e F i k t i o n des P o l i t i s c h e n . Selbst wenn wir ein Ziel des politischen Handelns in aller Reinheit erreicht haben, so steht doch die Welt nicht still. Audi hinter dem erreichten Ziel wird sich das Spiel fortsetzen: die Bedürfnisse werden sich wandeln, Voraussetzungen sich ändern usw. Es treten neue Lagen ein, Katastrophen bleiben nicht aus, Machthaber sterben. Der Mensch hört audi am Ziel seiner politischen Wünsche nicht auf, in der Zeit zu existieren. Immer drängt hinter der Zukunft eine neue Zukunft heran. Es gibt keine Ruhelagen im eigentlichen Sinn, auch wenn man bei der Umschaltung der geschichtlichen Betrachtung auf die sogenannte Kulturgeschichte so tut, als könne man Geschichte als Abfolge von kulturellen Zuständen beschreiben. Die Zeit eilt auf das Ende hin, da alles ein Ende hat. Das ist die Tragik in allem politischen Glück und es ist der säkulare Trost im politischen Unglüdk.
Politische Ethik
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3. Politische Ethik Politik bedeutet: den Fortgang des öffentlichen Lebens mit friedlichen Mitteln sichern. Jeder, der in der Politik aktiv wird und Verantwortung übernimmt, wird einer doppelten Begrenzung des Politischen ansichtig. Diese Grenze betrifft einmal die Zwecke der Politik. Sie soll die gemeinsame Zukunft ermöglichen. Wer nur seine eigenen Interessen oder die Interessen seiner Gruppe durchzusetzen trachtet, treibt auch „Politik". Die Beobachtungen, daß Teilinteressen in das politische Leben und in die politischen Zielsetzungen einfließen, sind alltäglich, aber sie wecken zugleidi auch den Protest; denn solche Gruppen- oder gar Privatinteressen bedrohen den öffentlichen Charakter der Politik, der sich um die öffentlichen Dinge, um das, was alle angeht, zu kümmern hat. Die Grenze des Politischen liegt sodann aber vor allem in den Mitteln, welche die Politik anwenden darf. Es gilt grundsätzlich, daß die Politik auf friedliche Mittel beschränkt ist. Sie setzt also mindestens ein Einverständnis aller Beteiligten über diese Mittel voraus, die dann gleichsam den Charakter von Spielregeln bekommen. Wir können freie und gebundene Formen des politischen Lebens unterscheiden, und in jedem Falle handelt es sich dann um friedliche Mittel der Politik. Als freie Formen des politischen Lebens kommen in Betracht: freie Meinungsäußerung in Wort und Schrift; Versammlungs- und Pressefreiheit; die freie Verhandlung zwischen Menschen und Gruppen, das Gespräch und schließlich der Ausgleich der verschiedenen Interessen im Kompromiß. Uber diesen freien Formen des politischen Lebens waltet die Uberzeugung, daß wir alle in der Öffentlichkeit mit- und nebeneinander leben und miteinander auskommen müssen. Hiervon sind die gebundenen Formen des politischen Lebens zu unterscheiden. Sie sind in der Regel in den Verfassungen der Staaten vorgezeichnet. Dazu gehören die Erbfolge in Dynastien, das Verfahren beim Regierungswechsel, ferner freie Wahlen zur Volksvertretung und wiederum Verfahrensregeln für die Verhandlungen und die Beschlußfassungen in den Parlamenten. Ferner gehören hierher die Uberlieferungen, der herkömmliche Brauch wie etwa das höfische oder diplomatische Zeremoniell. Auch die Verfassung und das Leben der Parteien in den Demokratien gehört zu den gebundenen Formen des politischen Lebens, mögen diese Dinge auch ζ. T . der Kodifikation entbehren und ungeschriebene Gesetze sein. Bei dieser Unterscheidung von frei und gebunden handelt es sich nicht um die Unterschiede politischer Systeme, so daß etwa die freien 27 T r ü l h a a s , E t h i k
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Formen demokratisch, die gebundenen autoritär wären, sondern sie treffen auf jede politische Verfassung gleichermaßen zu. Wichtig ist, daß in ihnen der Spieldiarakter der Politik zum Ausdruck kommt. Die Mitspieler sind an Regeln gebunden. Das Spielfeld ist abgesteckt und seine Grenzen dürfen nicht überschritten werden. Damit ist aber der ethische Charakter der Politik genau bezeichnet. Man kann geradezu sagen, Politik selbst sei ein grundlegender ethischer Begriff; denn er schließt die Bemühungen um die Sicherung der Zukunft mit friedlichen Mitteln in sittliche Grenzen ein. Der Skeptiker wird an der Wahrheit dieses Satzes zweifeln. Er wird geltend machen, daß kaum eine Politik erkennbar sei, in der nicht Gruppen- und Privatinteressen mit eingemisdit würden und damit die Selbstlosigkeit der Politik, ihre ausschließliche Hingabe an das öffentliche Interesse in Frage gestellt wäre. Er wird vor allem das Postulat der friedlichen Mittel in Zweifel ziehen, und in der Tat wird in jeder Verhandlung, in welcher so etwas wie eine Drohung ausgesprochen wird, die Möglichkeit des Druckes, ja mitunter sogar der Erpressung nicht auszuschließen sein. Läßt sich angesichts solcher alltäglichen Beobachtungen die These von der Politik als einem ethisdien Begriff aufrechterhalten? Diese Beobachtungen bestätigen geradezu die These. Es gibt keinen ethischen Begriff, der einen Mechanismus zugunsten der Sittlichkeit in Bewegung setzte. So ist die Ehe ein sittlicher Begriff unerachtet ihrer tausendfachen Gefährdung, das Gewissen ist ein sittlicher Begriff unerachtet tausendfacher Gewissensirrtümer. Die Pflicht ist es, trotzdem die Pflichtverletzungen auch in einem „guten" Leben nicht zu zählen sind. Man wird geradezu sagen müssen, daß jeder sittliche Begriff in dem Sinn, wie wir ihn hier verwenden, eine besondere Gefährdung des Menschen bezeichnet. In aller Ethik geht es darum, ob das Menschsein gelingt. In der Politik ist das im höchsten Maße wahr. Die tägliche Bemühung darum, daß die öffentlichen Interessen von den privaten getrennt werden, daß nur friedliche Mittel, d. h. Mittel des gegenseitigen Ubereinkommens eingesetzt werden, bestätigt nur, in welch hohem Maße die Politik gerade in den täglichen Zerreißproben eine Sache der ethischen Bemühung ist. Wenn die Politik ein legitimer Gegenstand der Ethik ist, dann geht es auch in ihr um das Gute. Nun sind freilich in der Politik ebenso, ja mehr als sonst die Fälle selten, in denen das Gute offen zutage liegt. Aber auch hier fehlen diese Situationen nicht. Überall, wo die menschliche Not, ζ. B. das Flüchtlingselend oder die Opfer von Naturkatastrophen und Kampfhandlungen zu einem Gegenstand der Politik werden,
Politisdie Ethik
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tritt das Gute als Forderung und die gute Absicht menschlicher Handlungen offen zutage. Aber diese Fälle sind selten. Meistens ist das Gute verborgen, und der Politiker, der das Gute will, kann es doch nur erreichen, indem er nach dem Richtigen fragt. Wir stehen also audi hier wieder vor der Unterscheidung des Guten und des Richtigen. Der gute Wille ist audi in der Politik nur der Wille dessen, der das Richtige will. Und man wird dem Politiker dabei eine besondere Verborgenheit des Guten in dem Wirrwarr der Situationen zugutehalten müssen. Es wird sich nämlich zeigen, daß audi in solchen Fällen, in denen der flüchtige Blick oder der Blick des politischen Laien dem Guten unmittelbar ins Auge zu sehen meint, sich Fragen des Richtigen, der Tunlidikeit, der Opportunität, der Durchführbarkeit dazwischenschieben. Es ist das Charakteristikum des politischen Fanatikers (wir verzichten hier auf Beispiele aus der Zeitgeschichte), mit Emphase eine Evidenz des Guten dort zu behaupten, wo der andere diese Evidenz des Guten nicht zuzugeben vermag. Das schließt nicht aus, daß auch der andere sidi diesem Guten verpflichtet weiß, aber er weiß audi von den schwierigen Umwegen, die bis zu dem wahrhaft Guten zurückgelegt werden müssen. Diese Überlegungen führen uns nicht aus der Ethik heraus, sondern sie sind recht eigentlich ein Ergebnis der Ethik. Ethische Einsicht wird sich darin beweisen, daß der eine, der in schwierigen Situationen an die Evidenz des Guten glaubt, dem anderen, der in denselben Situationen noch mit erheblichen Sachfragen zu ringen hat, die bona fides zubilligt. Eine andere Frage mag noch aufgeworfen werden. Wenn wir von einem Politiker sprechen, so steht uns nicht nur ein vom politischen Ethos, sondern vor allem auch ein von politischem Können erfüllter Mann vor Augen. Zur Politik gehört die Routine. Wer auch in kleinen Angelegenheiten die Last der Entscheidung schwer empfindet und kaum zu bewältigen vermag, ist kein „Politiker". Was auch in anderen Berufen in entsprechender Weise zutreffen mag, das gilt in hohem Maße vom Politiker: er bedarf einer gewissen Leichtigkeit, die Dinge zu bewältigen, einer nachtwandlerischen Sicherheit, die nicht nur seine eigene Sicherheit ist, sondern auch denen das Gefühl der Sicherheit verleiht, deren Schicksal ihm anvertraut ist. Schleiermacher hat gelegentlich von der Leichtigkeit in ähnlichem Sinne gesprochen und eine gewisse Naturalisierung des sittlichen Verhaltens damit bezeichnet. Man wird ganz allgemein auch diese Leichtigkeit, die bis zur Routine gesteigert werden kann, zu einem notwendigen Merkmal des Politikers machen, und es ist ein sittliches Erfordernis, daß der Politiker, der den 27*
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Namen verdient, audi die Gabe hat, schwierige Situationen mit einer hohen Wahrscheinlichkeit und mit größtmöglicher Sicherheit des Griffes zu bewältigen. Wir fordern vom Politiker, daß er ein Augenmaß für das Mögliche und für die Weite der Folgen hat, die aus seinen Entscheidungen kommen. Es gibt also ein indirektes Verhältnis des technischen Könnens zur Ethik. Man muß etwas können, um Politiker zu sein; wer als Politiker versagt, muß vom Schauplatz des politischen Handelns abtreten; denn der gute Wille allein rechtfertigt den Politiker in seinem Handeln nodi nicht.
29. Kapitel Der
Staat
Literatur: W. v. Humboldt: Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen, 1851; nach 1945 mehrere Neuauflagen — G. Jellinek: Allgemeine Staatslehre, (1900) 1914s, N D 1962 — H. Kelsen: Allgemeine Staatslehre, 1925 — R. Smend: Verfassung und Verfassungsrecht, (1928) 1955 in: Staatsrechtliche Abhandlungen, 119—276 — H. Heller: Staatslehre, (1934) 1963s — C. Schmitt: Politische Theologie, (1922) 1934* — K. Barth: Christengemeinde und Bürgergemeinde, 1946 — E. Berggrav: Der Staat und der Mensch, dt. v. W. Lindenthal, 1946 — Th. Litt: Staatsgewalt und Sittlichkeit, 1948 — G. Ritter: Vom sittlichen Problem der Macht, 1961* — O. Dibelius: Grenzen des Staates, 1949 — M. Buber: Zwischen Gesellschaft und Staat, 1952 — C. J. Friedrich: Der Verfassungsstaat der Neuzeit, 1953 — O. Cullmann: Der Staat im Neuen Testament, (1956) 1961« — H. Krüger: Allgemeine Staatslehre, (1964) 1966«. — W. Schweitzer: Der entmythologisierte Staat, 1968. Zur Geschichte der Staatsauffassung: R. Stammler: Rechts- und Staatstheorien der Neuzeit, (1917) 19252 — C. Schmitt: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf, (1921) 19282 — G. Ritter: Die Dämonie der Macht, 1948 (6. Aufl. v.: Machtstaat und Utopie, 1940) — E. v. Hippel: Geschichte der Staatsphilosophie in Hauptkapiteln, 2 Bde., (1955/57) 19582 (Lit.). Für weitere Literatur vgl. Kap. 28; ferner: Artikel Staat ESL 985 ff. StL VII, 520 ff. (Peters, v. d. Heydte, Ridder, Bindschedler) — RGG VI, 291 ff. (Fürstenberg, Schilling, Schweitzer) — EvStL, 2114 ff. (Drath, Künneth, Staedtke, Klüber) (Lit.). 1. Das Wesen des Staates Der Staat (polis) hat der Politik den Namen gegeben. Er ist auch der exemplarische Träger des politischen Lebens, nämlich die letzterreichbare Form einer rechtlichen Gestaltung der Öffentlichkeit. Deshalb soll die politische Ethik beim Staat selbst beginnen. Wir müssen
Das Wesen des Staates
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freilich einige Einschränkungen vorausschicken. Einmal ist die Politik nicht auf den Staat und die staatlichen Dinge beschränkt, sondern sie hat — worauf wir bereits hingewiesen haben — eine größere Breite der Thematik und der Gegenstände. Aber alle Sozialgebilde, die irgendwie auf Gestaltung der Öffentlichkeit Einfluß nehmen, die Kirche, die Wirtschaft, die Schule, das Militär, bekommen es mit dem Staat als der letzten Instanz des öffentlichen Lebens und Öffentlicher Verantwortung zu tun. Vor allem wird man sich den Staat nicht zu „statisch" vorstellen dürfen. Dieser Fehler begegnet besonders in der theologischen Ethik häufig. Der Staat erscheint dann als Idealgebilde, das in abstrakter Vollendung vor uns steht und seinen autoritären Glanz gerade dieser Abstraktheit verdankt. Man übersieht dabei, daß der Staat von den Menschen der Zeit gebildet wird und den Zeitgeist widerspiegelt, daß er in einer steten unerhörten Wandlung begriffen ist und daß der erregte Zeitgeist sich in immer neuen Formen des staatlichen Lebens auszudrücken versucht. Es ist jener Vorgang, den Rudolf Smend in vielfältiger Hinsicht als Integration beschrieben hat. Der Staat ist der wandlungsreiche Exponent des gesamten politischen Lebens. Es ist darum nicht geraten, den Staatsbegriff des 20. Jahrhunderts als zeitlose Norm zu verstehen. Der Begriff des Staates im modernen Sinn entstammt der Antike und ist in der Renaissance wiederentdeckt worden. Weder das Alte noch das Neue Testament noch auch die reformatorische Theologie kennen „den Staat" in unserem modernen Sinn. Darum ist es eine offene Frage, wieweit die Mittel der reformatorischen Obrigkeitslehre ausreichen, dem modernen Staat überhaupt gerecht zu werden. Zu dieser Modernität des Staates gehört es ganz wesentlich, daß der Staat nicht für sich selbst ist und daß der Fluß des politischen Geschehens, das Getriebe immer neu nach oben drängender und sich gegenseitig verdrängender Machtverhältnisse nicht ausschließlich auf das offiziell als staatlich bezeichnete Gebiet beschränkt ist. Freilich integriert der Staat in dem genannten Sinn alles in sich, was sich in der kirchlichen Öffentlichkeit, im Leben der Schule und des Militärs, in den Gewerkschaften, in Industrie und Wirtschaft, in der Bevölkerung und im Finanzwesen, in den Parteien und Berufsständen zuträgt. Eben diese Vielschichtigkeit, von der die alte Obrigkeitslehre nichts weiß, kennzeichnet den modernen Staat. Versuchen wir Zug um Zug die Eigentümlichkeiten dieses modernen Staates zu erfassen, so können wir jeweils an der Geschichtlichkeit dieser einzelnen Erscheinungsformen nicht vorübergehen.
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a) Zum Staat gehört ein Gebiet, ein Raum, innerhalb dessen seine Herrschaft und seine Gesetze gelten. Wir sprechen vom Territorium des Staates. Dieses Territorium wird in der modernen Staatlichkeit als homogen gedacht. Der alte Ständestaat kannte kein homogenes Territorium, sondern die Herrschaft des Landes hatte vielerlei mediate Herrschaften verschiedenen Redites unter sich. Die Gerichtsbarkeit innerhalb des Gebietes war von den verschiedenartigsten Gerichtsprivilegien einzelner Gerichtsherrschaften durchsetzt. Auch der Gedanke des Imperiums im antiken Sinn wie im Sinn der neuzeitlichen Kolonialstaaten kennt diese Homogenität nicht; denn den abhängigen Völkern sind hier nicht die gleichen Redite eingeräumt worden wie dem Herrschaftsvolk. Es macht das Wesen des modernen Staates aus, daß innerhalb seines Gebietes die größtmögliche Homogenität der Rechtsverhältnisse besteht. Innerhalb dieses Gebietes wohnt das Staatsvolk. Dieses mag einem wie das Rohmaterial staatsrechtlichen Nachdenkens erscheinen. Wodurch wird das Staatsvolk eigentlich konstituiert? Was prägt es zu einem Staatsvolk zusammen? Wir brauchen nicht lange nach Beispielen zu suchen, die uns deutlich machen, daß weder eine gemeinsame Sprache noch eine gemeinsame Rassengrundlage zu dieser Einheit erforderlich sind. Zahllos sind die Beispiele dafür, daß trotz Eroberung und gewaltsamer Unterwerfung die hinzugekommenen Volksteile schon bald mit dem Eroberervolk zu einer lebendigen Einheit verschmolzen wurden. Man könnte sagen: ein gemeinsamer Kulturwille ergießt sich durch ein Volk. Es ist die gemeinsame Geschichte, das gemeinsame Erleiden eines Schicksals, dem sich keiner entziehen kann, dem ein Staatsvolk seine Einheit verdankt (vgl. Kap. 24, 2). Und doch sind die Spannungen nicht zu verkennen, die jedes Staatsvolk in der modernen Welt in sich auszuhalten hat. Es kann zu starken Gegensätzen zwischen der rechtlichen Zugehörigkeit und der tatsächlichen geschichtlichen Verbundenheit eines Volkes kommen. Die Tragik des Schicksals vieler Grenzbevölkerungen und vor allem der Flüchtlingsströme haben diese Spannungen sichtbar gemacht. Über formelle Staatsgrenzen hinweg gibt es völkische Verwandtschaften, die stärker binden als das Zusammengehörigkeitsgefühl zwischen den einzelnen Landschaften desselben Staatsgebietes. Man wird also niemals damit rechnen können, daß das Staatsvolk innerhalb eines Staates sich selbst fraglos und unproblematisch als eine Einheit versteht, daß es sich als solche Einheit voraussetzen läßt.
D a s Wesen des Staates
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b) Jeder Staat beansprucht nun Souveränität. Er beansprucht sie in doppelter Weise: einmal den Individuen gegenüber, die rechtlich zum Staatsvolk gehören, auch wenn sie sich vorübergehend außerhalb seiner Grenzen aufhalten; sodann aber all denen gegenüber, die sein Gebiet betreten und hier „unter seinen Gesetzen leben". Dem Sinn nach bedeutet diese Souveränität offenkundig „letzte" irdische Autorität, also oberste Entscheidungsgewalt, mag man diese vorwiegend in der Gesetzgebung oder in der Jurisdiktion oder in der Verwaltung sehen. Alle Gruppierungen von Menschen, bürgerliche Gemeinden, Provinzen, ja selbst die Länder innerhalb eines Staates, aber auch die Kirchen, Parteien, der Militärorganismus, sind nicht „Staaten" in diesem Sinn, weil ihnen diese oberste politische Entscheidungsgewalt fehlt, mag auch oberste Gewalt in ihnen und durch sie hindurch täglich zur Verwirklichung kommen. Der Staat kann durch diese Gruppen hindurchwirken, aber er ist mit ihnen nicht identisch. Freilich erweist sich diese Souveränität als problematisch. Es ist in der neueren Staatsrechtstheorie wohl bemerkt worden, daß es im Begriff der modernen Demokratie liegt, die Souveränität im Sinn einer ursprünglich persönlich gebundenen obersten Entscheidungsgewalt, sei es auf abstrakte Verfassungsgrundsätze abzuschieben, sei es auf die Gesamtheit der Staatsbürger zu übertragen, d.h. aber nichts anderes als die Souveränität im konkreten Sinn zum Verschwinden zu bringen (Carl Schmitt, Politische Theologie, 1934*). Auch die Vorstellung des ständischen Staates schränkt den Souveränitätsgedanken in seiner Absolutheit ein, indem er wie das demokratische Denken dem Individuum so hier gewissen Körperschaften ein eigenes Recht einräumen möchte, das vom staatlichen Recht nicht einfach überflutet und annulliert werden kann. Schließlich aber bedeutet jeder Vertrag eines Staates mit einem anderen Staat praktisch einen materiellen Verzicht auf Souveränität. Jede Rücksichtnahme auf das Zusammenleben mit anderen Staaten, jede Einfügung in Bündnisse oder überstaatliche Organisationen haben notwendig die Einschränkung von Souveränitätsrechten zur Folge. Umgekehrt würde ein radikales Zu-Ende-Denken des Souveränitätsgedankens nach innen — wenigstens theoretisch — jedes individuelle Leben zum Erliegen bringen und nach außen nur bei einer radikalen Autarkie möglich sein. c) Jeder Staat erhebt ferner Anspruch auf sittlichen Charakter. Der Staat muß diesen Anspruch erheben; denn er setzt ja Recht und beansprucht, daß dieses Recht „gut" sei. Wer dieses Recht bricht, verursacht nicht nur sozusagen eine Verkehrsstörung, sondern er handelt
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moralisch schlecht, er verletzt das Gute. Der Staat straft das Böse und belohnt das Gute nicht nur aus technischen Gründen, sondern weil er (übrigens nach Rom 13,1—7) eine Vorstellung von dem hat, was sittlich gut ist. Es muß in einem geordneten Staat ein sittlicher Mangel sein, wenn man sich dieser Staatsordnung nicht einfügt und Recht und Gesetz dieses Staates verletzt. Das legt nun freilich dem Staat auch die Pflicht auf, das, was er selbst tut und andere tun heißt, sittlich zu rechtfertigen. Er selbst und seine Taten bedürfen tatsächlich der sittlichen Rechtfertigung. Wenn der Staat in jedem System darauf bedacht ist, dies auch zu betonen, ja geradezu ein Pathos der Rechtlichkeit zu entfalten, so sollte man das nicht nur ironisch ansehen und beurteilen. Selbst das Zerrbild der politischen Propaganda, die vielfach von modernen Staaten entfaltet wird, um ihre Absichten und Taten in das rechte Licht zu setzen, ist im Grunde nur eine Bestätigung dieses Bedürfnisses nach moralischem Ansehen. Man meint heutzutage vielfach, mit dem Begriff des Rechtsstaates diesem Bedürfnis genugzutun. Aber dieser Begriff ist in dem Maße undeutlich, als viele Vorstellungen von dem, was eigentlich Rechtens sei, umlaufen; denkt doch der eine dabei an das verfassungsmäßig verbriefte und geschriebene Recht, der andere mehr oder weniger im Gegensatz dazu an das „natürliche" Recht; denkt der eine an das überlieferte Recht, so denkt der andere an das „gleiche Recht für alle", und man wird mit der Handhabung des Begriffes Rechtsstaat sehr vorsichtig sein und sich jedenfalls auf Schritt und Tritt der Vieldeutigkeit des Begriffes bewußt bleiben müssen. d) Zugleich bedarf jeder Staat der Macht. H a t der Staat nämlich sittlichen Charakter, dann muß er diesen auch durchsetzen können. Ja diese Macht gilt, so seltsam das klingen mag, unmittelbar zunächst der Pflicht des Staates, sich selbst zu behaupten, dazusein und dazubleiben, weil er nämlich durchsetzen können muß, was Rechtens ist: Er muß stärker sein als alle Widerstände von innen und von außen. Er muß seine Grenzen schützen können (ζ. B. durch Zoll und Grenzkontrolle) und muß Hochverrat und Umsturz abwehren können. Hier muß freilich eine wichtige Unterscheidung beachtet werden. Wir sprechen von Macht, nicht von Gewalt, Gewiß wird im normalen Falle die Gewaltanwendung die Ausübung der Macht unterstützen. Aber die Gewalt ist doch nur eine äußere, ja eine äußerliche Erscheinungsform der Macht. Macht ist ein moralischer Begriff. Der innere Einfluß großer Männer auf viele Menschen bedeutet Macht, auch dann,
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wenn keine Gewalt aufgeboten werden muß. In diesem Sinne hat nicht nur der Staat Macht, sondern auch die Kirche, die Wissenschaft, eine Partei, die Presse. Die Macht eines Staates wird sich paradoxerweise gerade in dem Maße erweisen, als auf Gewalt auch verzichtet werden kann. Gesteigerter Gewaltgebrauch, z.B. in der Justiz des Dritten Reiches, ist meist ein Symptom sinkender Macht. Die Liberalität, d. h. der relative Gewaltverzicht eines Staates, bedeutet nicht, daß dem Staat das Recht auf Gewaltausübung nicht „an sich" zukommt. Sie k a n n natürlich bedeuten, daß der Staat zu einem äußersten Beweis seiner Mächtigkeit tatsächlich nicht in der Lage ist. Sie kann aber auch bedeuten, daß die Mächtigkeit des Staates so sicher steht, daß sie dieser äußersten Anstrengung nicht mehr bedarf. e) Zu jedem Staat gehört schließlich eine Regierung, welche die Macht im Staate ausübt, den Staat repräsentiert und für ihn Verantwortung trägt. Dieses verantwortliche Innehaben der Macht haben die Reformatoren dadurch ausgedrückt, daß sie ohne jede Erwägung über die Staatsform einfach von Obrigkeit bzw. von Oberpersonen gesprochen haben. An keinem Punkt wird der Wandel der Dinge so deutlich wie hier, denn für das moderne Denken haben sich an die Stelle des Interesses an diesen Personen die formalen Fragen des Verfassungsrechtes gedrängt. Man wird nicht zu viel sagen, wenn man behauptet, daß jedenfalls in der modernen Demokratie, in der die verantwortlichen Personen mitunter einem raschen Wechsel ausgesetzt sind, das Interesse an der Autorität dieser Personen im Schwinden begriffen ist und daß demzufolge gerade der Autoritätsgedanke, das Interesse am Subjekt der „Souveränität im Ausnahmefall" (Carl Schmitt), einer erheblichen Abwertung unterworfen ist. 2. Die lutherische Obrigkeitslehre und der moderne Staat Was in der theologischen Tradition als lutherische Staatslehre lebt, ist im wesentlichen eine Lehre von der Obrigkeit bzw. von der weltlichen Gewalt. Sie ist in unverkennbarem Anschluß an die mittelalterliche Zweischwerterlehre von Luther konzipiert und bezieht sich ganz wesentlich auf Rechte und Pflichten dieser Gewalt. Nach der positiven Seite gewendet finden sich die Grundgedanken in der Schrift „An den christlichen Adel etc." 1520 (WA 6, 404 ff.), hinsichtlich der Grenzen dieser Gewalt in der Schrift „Von weltlicher Obrigkeit" 1523 (WA 11, 245 ff.). Melandithon hat der Lehre dann in den Bekenntnisschriften ihre fortwirkende Formel verliehen (CA XVI: De rebus civilibus; X X V I I I : De potestate ecclesiastica; AC XVI: De ordine politico;
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X X V I I I : De potestate ecclesiastica und im Tractatus de potestate et primatu papae). Die Lehre läßt sidi leicht in knappen Umrissen verdeutlichen. a) Die weltliche Gewalt (potestas terrena, potestas regiminis oder gladii) steht der geistlichen Gewalt (p. ecclesiastica) gegenüber. Der weltlichen Gewalt ist die Handhabung des Gesetzes übertragen, der sie sidi um keinen Preis entziehen darf. Die Handhabung des Gesetzes darf aber nicht mit der Predigt des Gesetzes verwechselt werden, die der geistlichen Gewalt zusteht. Die weltliche Gewalt hat die iustitia civilis aufrechtzuerhalten, auch bei solchen Menschen, welche von der Predigt des Gesetzes nicht erreicht werden oder sich ihr entziehen. Die weltliche Gewalt hat den zerstörerischen Folgen der Sünde in der Welt zu wehren. Sie steht im Dienste der Erhaltungsgnade und führt das Schwert uns zugute. Sie hat ihr Amt von Gott. b) Diese weltliche Gewalt liegt in den Händen von Menschen, die Gott selbst auf verschiedenartige, oft dunkle und rätselhafte Weise in dieses Amt berufen hat. Diese Menschen werden als Obrigkeit (oder audi Oberpersonen) bezeichnet. Die Obrigkeit ist von Gott, und es ist keine Obrigkeit, die nicht von Gott wäre. Gott regiert durch diese Obrigkeit indirekt die Welt, so wie er durch den Dienst am Wort die Welt regiert, sofern sie sich durch Wort und Sakrament in das Reich seines Sohnes Jesu Christi hat rufen lassen. Diese Lehre von den beiden Regimen ten Gottes hängt zwar sachlich mit der sog. „Lehre von den zwei Reichen" zusammen, darf aber nicht mit dieser verwechselt werden. c) Weil die Obrigkeit somit ein von Gott gesetztes, also heiliges Amt hat, darum ist ihr jedermann, also auch der Christ Gehorsam schuldig. Er schuldet diesen Gehorsam nicht nur den guten Herren, sondern auch den wunderlichen. Wo die Obrigkeit Unrecht hat, gibt es wenigstens für den Christen nur zwei Auswege: Er kann gegen das Unrecht durch das Wort Zeugnis ablegen. Das setzt aber wahrscheinlich schon ein Amt voraus, dem es zukommt, dieses Zeugnis abzulegen. Darüber hinaus bleibt dem Christen nur das Leiden. d) Dieses Verständnis der Obrigkeit ist biblisch-paulinisch gemeint, was bis in die Formulierungen hinein zum Ausdruck kommt. Die Reformatoren setzen voraus, daß wenigstens in ihrem eigenen Umkreis diese Obrigkeit sich selbst so versteht. Die so verstandene und sidi selbst so verstehende Obrigkeit soll die custodia utriusque tabulae wahrnehmen, d. h. also den Gehorsam gegen die Gebote Gottes, was die tutela ecclesiae, den Schutz der Kirche und ihres Dienstes ein-
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schließt. Hinwiederum soll diese Obrigkeit auch durch das mündliche Zeugnis der Kirche ansprechbar sein. Daraus geht hervor, daß das reformatorische, lutherische Bild der weltlichen Gewalt nicht ohne Bezugnahme auf die geistliche Gewalt, nicht ohne Parallelisierung und Vergleich mit ihr überhaupt denkbar ist. Bezüglich der Interpretation der lutherischen „Staatslehre" beschränke idi mich auf folgende Hinweise: W. E i e r t : Morphologie II, 4. Kapitel — F. L a u : Luthers Lehre von den beiden Reichen, (1952) 1953 s (Lit.) — Macht und Recht. Beiträge zur luth. Staatslehre der Ggw., hg. v. H . Dombois u. E. Wilkens, 1956 (hierin bes. d. Beiträge von W. Trillhaas, U . Scheuner, R. Nürnberger) — Bezüglich der Wandlungen der alten Staatslehre zur Moderne hin vgl. E. W o l f : Peregrinano I u. II passim, sowie den Sammelband Glaube und Gesellschaft, Beiträge zur Sozialethik heute, 1966 (Beiheft zur „Luth. Rundschau"; hier bes. J . A. Sittler, T. Rendtorff, W. Trillhaas).
Uberblickt man nun diese lutherische Obrigkeitslehre, so kann man an ihr zwei sehr widersprüchliche Eindrücke gewinnen. Sie ist einmal außerordentlich elastisch; sie hat zum andern kein Verhältnis zur modernen Staatswirklichkeit. Ich habe diese beiden Eindrücke zu verdeutlichen. Beginnen wir mit der Wahrnehmung ihrer Elastizität. a) Es gibt keine festgelegte Staatslehre der Reformatoren. Sie kennen nur eine Lehre vom geistlichen und weltlichen Regiment. Diese Lehre ist insofern — wir sagten es schon — mittelalterlich vorbelastet, als in ihr die alte Zweischwertertheorie fortwirkt. b) Das weltliche Regiment ist ebenso wie die Ehe, die Familie usw. eine göttliche Ordnung und darum gut. Diese Ordnung ist nicht ein statischer Ordo, sondern eine ordinatio, gleichsam der Welt zum täglichen Gebrauch verordnet. Durch sie handelt Gott, ähnlich wie durch das Predigtamt, ständig mit der Welt. Man wird diese Gutheit des weltlichen Regiments, durch das die Güte Gottes durchscheint, um so mehr hervorheben müssen, als die Deutung im Sinne bloßer Polizeistaatlichkeit sicher nicht ausreicht, um die Absicht der Reformatoren wiederzugeben. c) Schrift und Bekenntnis sagen nach der Überzeugung der lutherischen Reformation nichts über die geschichtliche Gestaltung und die Verfassung des Staates, nichts über Legitimitäten u. dgl. aus, sondern nur etwas über die Aufgabe des weltlichen Regimentes. Diese besteht darin, für die iustitia civilis, also die äußere Gerechtigkeit in der Welt und für den Frieden zu sorgen. Wie weit diese Fürsorgepflicht reicht, ist nicht eindeutig ausgesagt, doch wird sie sich kaum in der gewaltsamen Sicherung der Menschen gegen Rechtsbrecher und Friedensbrecher erschöpfen.
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
d) Jeder Mensch, in bewußter Weise jeder Christ, ist beiden Regimenten Gehorsam schuldig, wobei wir uns im Augenblick nicht dabei aufzuhalten haben, daß natürlich „Gehorsam" gegenüber der Obrigkeit und gegenüber dem Wort Gottes nicht dasselbe bedeuten kann und darf, wenn auch dieses folgenschwere Mißverständnis weniger in der Theorie als in der Grundstimmung dieses Ethos nie ganz ausgeschlossen bleibt. Ebenso bedarf es nur eines Wortes, um darauf hinzuweisen, daß das Verhältnis des Christen zur Obrigkeit schon insofern sich nicht im bloßen „Gehorsam", in der Oboedienz erschöpfen kann, als ja diese Christen selbst dazu berufen werden können, Obrigkeit zu sein: Christianis licet magistratus gerere (CA X V I , 2; B S L K 70,11 f.). e) Schließlich dürfen beide Regimente nicht vermengt werden. Eine deutliche und nicht nur formale Parallele zur Zweireidielehre! Das Predigtamt soll nicht weltlich regieren, wir würden vielleicht sagen: Politik treiben; die Obrigkeit aber soll nicht predigen. Wir könnten modernisiert sagen: der Staat soll nicht Kirche sein oder die Kirche gar ersetzen wollen, und die Kirche soll nicht staatliche Ansprüche stellen. Aber diese moderne Interpretation greift insofern vor, als den Reformatoren in ihrer Zeit nur die weltliche Gewalt des Papstes und der Bischöfe als Gegenbild vor Augen stand. Es liegt auf der Hand, daß diese Grundsätze der Obrigkeitslehre im wesentlichen ein regulatives Prinzip darstellen. Sie sagen nichts aus über Staatsform, Verfassung und Legitimitäten, sie passen an sich ebenso auf monarchische wie auf demokratische Verhältnisse, denn auch in diesen gibt es ja „Oberpersonen", d. h. Verantwortliche, denen die weltliche Gewalt anvertraut ist. Auch werden keine Versuche unternommen, die politischen Mächte in utopischer Weise zu moralisieren, aber diese Grundsätze geben dem menschlichen Handeln in der politischen Ordnung doch einen theologischen Hintergrund und ein gutes Gewissen. Und doch kann das nicht alles sein. Es muß auffallen, daß die altlutherische Lehre von der weltlichen Gewalt von Voraussetzungen ausgeht, die heute nicht mehr zutreffen. Ich erinnere nur daran, daß sie die christliche Gesellschaft, die societas Christiana bedenkenlos voraussetzt. Aber man wird sich diesen Abstand der alten Lehre vom modernen Staat viel umfassender verdeutlichen müssen. a) Das moderne Staatsproblem ist mit dem Verhältnis von Oberpersonen und Untertanen nicht mehr zu fassen. Natürlich ist in jedem Staatswesen ein irgendwie geartetes Machtverhältnis wirksam. Man würde den Staat verfehlen, wenn man einer demokratischen Ideologie
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zuliebe dieses Herrschaftsverhältnis leugnen wollte. Aber es ist nidit möglich, die im politischen Raum zur Erscheinung kommenden Mächte mit der „Obrigkeit" im reformatorisdien Sinne zu identifizieren. Ebensowenig ist das Verhältnis zu diesen Mächten mit „Untertänigkeit" hinreichend beschrieben. Das moderne Staatsdenken beginnt vielmehr in dem Augenblick, wo „der Staat" sowohl den Untertanen — wenn man so will — als audi den Oberpersonen als ein Drittes gegenübertritt. Diesem „Staat" sind nicht nur die schlichten Bürger, sondern auch Könige und Minister verantwortlich. Dieser „Staat" überdauert nicht nur den Wechsel der Könige, Präsidenten und Regierungen, er behält sogar seine Identität auch dann, wenn die Staatsformen wechseln und Revolutionen oft für ganze Epochen dem geschichtlichen Betrachter die Identität dieses Staates über die Umbrüche hinweg fraglich erscheinen lassen. b) Dementsprechend ist auch der Gehorsam nicht mehr das beherrschende Problem des Staatsbürgers. Es ist vielmehr die Verantwortlichkeit oder doch Mitverantwortlichkeit für das Gelingen des Staates und des staatlichen Lebens. Gewiß hat der totale Staat in seiner nationalsozialistischen Form kurz vor seinem Zusammenbruch die schwere Krise des 20. Juli 1944 in der Form einer Gehorsamskrise erlebt, aber das hing mit der Kriegssituation, mit der Führerideologie und damit zusammen, daß in diese Krise ganz besonders das Militär hineingezogen war. Das hat bewirkt, daß sich die politische Ethik der evangelischen Theologie seither an den Fragen des Widerstandsrechtes festgebissen hat, ein Problem, das so oder so immer die alte Gehorsamsproblematik voraussetzt. Es ist übrigens auch hier noch nirgends in überzeugender Weise „gelöst", es ist vielleicht überhaupt theoretisch nur als Problem zu beschreiben, nicht auflösbar (vgl. auch Kap. 33,2). Aber der Demokratie gegenüber ist diese Problemstellung längst nicht mehr zureichend. Ja, selbst die radikal-sozialistischen (kommunistischen) Staaten werden nicht mehr vom Gehorsamsproblem her begriffen werden können. Man kann geradezu sagen: Sobald man hier nur ein Gehorsamsproblem sieht, ist der Bürger dieses Systems dem System selbst schon fremd geworden; denn das System fordert mehr, es fordert Mitarbeit, ideologischen Einsatz, es fordert Glauben („Bewußtseinsbildung"). Die Ermäßigung der Forderung des inneren Einsatzes und der vollen Hingabe auf einen bloßen Gehorsam erweckt schon Mißtrauen. Und das ist nicht nur eine Frage der „Sprachregelung". Es hängt auch damit zusammen, daß sich ein Wandel der Staatsidee ankündigt, welche das hier vorausgesetzte Schema verläßt.
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c) Es kommen nodi weitere Gesichtspunkte dazu. Nach der alten Obrigkeitslehre ist die politische Ordnung eine Erhaltungsmacht, die den zerstörerischen Kräften des Bösen zu wehren hat. Die „staatliche" Ordnung gewinnt damit leicht den Charakter des Polizeistaates. Die pessimistische Anthropologie tritt deutlich hervor. Es fragt sich wohl, ob der Schutz der „beiden Tafeln" und die Fürsorge für die Landeskinder, der etwa so viele Universitätsgründungen des 16. und 17. Jahrhunderts zu verdanken sind, allein aus dieser Bemühung um die iustitia civilis erklärt werden können. Sehen wir von den Begriffen des Rechtsstaates und vollends des Wohlfahrtsstaates einmal ab, so wird jedenfalls an dem Begriff der Kulturhoheit deutlich sichtbar, daß hier die pessimistische Anthropologie der Reformation nicht mehr hinreicht. Der moderne Staatsgedanke kommt daher vergleichsweise der katholisdien Lehre von der societas perfecta sehr viel näher als der alten lutherischen Lehre von der weltlichen Gewalt. Enscheidender aber wird sein, daß eben im Begriff und in der Sache einer staatlichen Kulturhoheit die Säkularisation des Staatsgedankens zum Ausdruck kommt. d) Die altlutherische Lehre von der weltlichen Gewalt ging an der Staatsform vorbei, und wir sahen, wie sehr darin die Elastizität dieser Lehre begründet ist. Die Frühgeschichte der Reformation in Deutschland machte es schon zweifelhaft, wer denn eigentlich die Obrigkeit im Vollsinne darstellt, der Kaiser oder der Landesfürst. Sie hat durch ihre Optierung zugunsten der Fürsten wesentlich zur Entleerung der Kaiseridee beigetragen, wie diese Entwicklung ja auch dazu führte, daß man sich unter einer Obrigkeit mit Vorliebe eine Fürstlichkeit — von den Räten der Städte abgesehen — vorgestellt hat. Das moderne Staatsdenken kommt jedenfalls an der Frage der Staatsform und der Verfassung nicht mehr vorbei. Wir haben die tiefgreifendsten Umbrüche im Verfassungsleben erfahren, blutige und unblutige Revolutionen, Abbruch alter Legitimitäten, der jedenfalls die evangelische Kirche in Deutschland unmittelbar betroffen hat, ohne daß sie imstande gewesen wäre, diese Umwälzungen auch in Jahren innerlich zu bewältigen. In der modernen Welt stehen sich die Vorstellungen, welche die Menschen von Staatsformen haben, mitunter als äußerste sittliche Gegensätze gegenüber. Unser Staatsproblem in der westlichen Welt ist heute unübersehbar die Demokratie. Unter diesen noch mehr soziologischen als staatsrechtlichen Voraussetzungen wandelt sich alles von Grund auf, was wir bisher im Schema der alten Obrigkeitslehre unter Staat und staatlicher Autorität verstanden haben.
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e) Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Reformatoren mit einem homogenen christlichen Volk und mit christlich und kirchlich legitimierten Herrschern geredinet haben. Selbst nadi. dem Entstehen der Konfessionskirchen wurde die Homogenität der Territorien in konfessioneller Hinsicht noch weit über zwei Jahrhunderte hinweg festgehalten. Insofern ist es nicht sofort zur Entstehung moderner Staaten gekommen, sondern das landesherrliche Kirchenregiment hat so etwas wie einen mittelalterlichen Staat bis in die Neuzeit hindurchgerettet. Das ist vorbei. Unser moderner demokratischer Staat ist nicht nur paritätisch, er ist ein weltlicher Staat geworden, der den Kirchen, sei es in teilnehmender, sei es in wohlwollender oder auch gleichgültiger, vielleicht sogar erzwungener Toleranz oder audi in kalter Unbeteiligtheit gegenübersteht. „Die Kirche" tritt dem Staat nur noch als Konfessionskirche und d. h. als eine von mehreren Konfessionskirchen gegenüber, also in einer grundsätzlich geschwächten Position. Die Entstehung der Konfessionskirchen hat „die Kirche", also die potestas ecclesiastica, dem Staate gegenüber relativiert. Das gilt noch mehr, wenn die Kirche Freiwilligkeitskirche (Freikirche) wird und wenn sich ihre rechtliche Gestalt dem Vereinsrecht annähert. Die Lehre von den beiden Regimenten setzt ja das weltliche und das geistliche Amt jeweils nicht in einem verwirrenden Plural, sondern in klarer Einfadiheit voraus. Diese Lehre ist also — mag sie an sich so richtig sein wie immer — im tatsächlichen öffentlichen Leben nur noch unter erheblichen Einschränkungen realisierbar. Man kann aus alledem die Folgerung ziehen: eine Konstruktion des Staates aus den unbesehenen Voraussetzungen des 16. Jahrhunderts geht an der Wirklichkeit des heutigen Staates einfach vorbei. Das bedeutet nicht, daß die lutherische Staatslehre heute belanglos wäre. Aber sie muß auf ihre Grundanliegen hin geprüft und von der unbesehenen Mitnahme der soziologischen Voraussetzungen des 16. Jahrhunderts gelöst werden. Die Belastung damit erweckt den Eindruck, als seien audi heute nodi ein gewisser Patriarchalismus, Staatsfrömmigkeit und Verschlossenheit gegen die Probleme einer gewandelten modernen Gesellschaft die Kennzeichen einer genuin lutherischen politischen Ethik. Der Verdacht, es handele sich hier um eine unbrauchbare und veraltete Theorie, ist nur zu begreiflich und führt dazu, gewisse puritanische Auffassungen von Politik und ein theokratisches Verständnis des Staates, womöglich gar einen gewissen ethischen Biblizismus für „die evangelische" Lehre vom Staat auszugeben. Wem das aber doch nicht ein-
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leuchtet, der sieht sich dann im wesentlichen auf die katholische Staatslehre angewiesen. Am weitesten von den Grundgedanken der lutherischen Staatslehre hat sich Karl Barth entfernt, dessen Vortrag von 1946: Christengemeinde und Bürgergemeinde dafür exemplarische Bedeutung gewonnen hat. Die Bürgergemeinde, also der Staat, wird hier mit der Christengemeinde in eine Analogie gesetzt, die zugleich eine sadilidie Kontinuität bedeutet. „Die Bürgergemeinde hat mit der Christengemeinde sowohl den Ursprung als auch das Zentrum gemeinsam". „Sie hat also keine vom Reidi Christi abstrahierte, eigengesetzlich begründete und sidi auswirkende Existenz, sondern sie ist — außerhalb der Kirche, aber nicht außerhalb des Herrschaftskreises Jesu Christi — ein Exponent dieses seines Reiches. Sie gehört eben nach neutestamentlicher Erkenntnis zu den .Gewalten', die in ihm geschaffen und durdi ihn zusammengehalten sind (Kol 1 , 1 6 f.), die uns von der Liebe Gottes darum nicht scheiden können (Rom 8, 37 f.), weil sie, wie in der Auferstehung Jesu Christi offenbar geworden ist, in ihrer Gesamtheit ihm übergeben und zur Verfügung gestellt sind." (9.) In der Folge dieser diristologisdien Staatslehre entwickelt Barth dann sogar aus christlichen Ansichten und Credosätzen unmittelbar „per analogiam" politische Grundsätze. Man kann gegen diese Konzeption sehr viel sagen. Man kann ebenso exegetische Einwendungen erheben, wie man die Zeichnung der gegnerischen Behauptungen durch Barth in Zweifel ziehen muß. Man wird die Frage stellen müssen, ob denn das Bild des wirklichen modernen Staates — und das ist nicht nur die säkularisierte Demokratie, sondern auch die totalitären Systeme der verschiedensten Ausprägungen gehören dazu — zu dieser diristologisdien Ideologie „stimmt". Kann man den realen modernen Staat so vorbehaltlos in das Reich Christi versetzen? Kann man die Mysterien des christlichen Glaubens so entschleiern und zur politischen Sanktionierung herrschender Systeme machen? Kann man so vergessen, daß der Staat Welt ist und seine theologische Deutung sich eben den Dunkelheiten und Zweideutigkeiten dieser Welthaftigkeit zuwenden muß, die in diesem Äon gegen die Offenbarung Gottes in Christo verschlossen ist? Vgl. auch Kap. 3 6 , 1 . Die katholische Staatslehre ist demgegenüber durch Realismus und aristotelische Klarheit ausgezeichnet. Der Zweck des Staates (nach F. Tillmann) wird ausdrücklich nicht auf seine Eigenschaft als Polizei- und Rechtsstaat beschränkt. Er soll zweifellos Ordnung und Frieden unter seinen Gliedern sichern. Er soll das positive Recht ausgestalten und das wirtschaftliche Leben nach den gegebenen Notwendigkeiten regeln. E r hat alle Bürger gleichmäßig zu schützen und die sozialen Lasten unter allen Gliedern und Gruppen (!) gleichmäßig zu verteilen, für die Schwachen soziale Fürsorge zu üben und schließlich für Religion und Sittlichkeit, Volksbildung, Kunst und Wissenschaft Schutz und Pflege zu übernehmen. — Ebenso sind nach katholischer Lehre die Grenzen des Staates deutlich. E r ist an Gottes Gesetz gebunden, wie es in Natur (!) und Offenbarung enthalten ist. Persönlichkeit und Recht des Individuums hat er zu achten, sofern sie nicht mißbraucht werden und mit dem Gemeinwohl kollidieren. Auch die Rechte der Familie stehen unter seinem Schutz, soweit auch sie nicht ihr Recht mißbraucht und in ihren Pflichten versagt. Ganz allgemein soll der Staat das berechtigte Eigenleben
Christliches Regulativ zur modernen Staatsauffassung
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der Gesellschaft — man denke etwa an das Koalitionsrecht der Arbeiter — nicht unterdrücken. — Charakteristisch ist für diese katholische Staatslehre zunächst der Staatsbegriff selbst. Der Staat ist societas perfecta und sein Ursprung ist nicht in der menschlichen Sünde bzw. in deren Bekämpfung zu suchen, sondern liegt in der Natur des Menschen. Immerhin ist die ganze Konzeption „christlich" — im katholischen Sinne — gefärbt: das kirchliche Lehramt wacht über diesem Staatsbegriif und die kulturellen Ziele müssen sich vor diesem Lehramt rechtfertigen können. Die „Religion".welche dieser Staat zu schützen hat, ist stillschweigend die katholische, und die Theorie hat mit der altprotestantischen die Einseitigkeit gemeinsam, daß auf das Recht der Andersgläubigen gar nicht reflektiert wird. (Allerdings hat hierin Vaticanum II., bes. die Erklärung über die Religionsfreiheit „Dignitatis humanae" eine gewisse Wandlung und Modernisierung gebracht.) Negativ ist zu bemerken, daß in der Tradition der katholischen Staatslehre je und je die Lehre von der Volkssouveränität und die Vertragstheorie ausdrücklich verworfen worden sind. Im übrigen eignet auch dieser Staatslehre, was die Verfassungsfrage anbelangt, eine erstaunliche Elastizität, wie denn überhaupt die positive Füllung des Staatszweckes die Stärke dieser Staatstheorie ausmacht.
3. Christliches Regulativ zur modernen
Staatsauffassung
Suchen wir nun auf Grund dieser Überlegungen nach dem Ertrag für die Ethik, so muß uns deutlich sein: Das Wort der Väter zu den Fragen des Staates, das in der Form ihrer Obrigkeitslehre vorliegt, ist nicht als solches schon theologische Autorität. Es verpflichtet uns nur insofern, als es uns überzeugt. Diese Überzeugung setzt aber eine tiefgreifende Umformung der Lehre voraus. Und das andere: Wie immer wir audi den Staat „christlich" deuten mögen, nie können wir beanspruchen eine k o n s t r u k t i v e Lehre vom Staat zu entwerfen. Theologie des Staates kann jedenfalls nur eine regulative Bedeutung und Funktion haben. Was wir in unserer phänomenologischen Beschreibung des modernen Staatsgedankens dargelegt haben, das wird seine Geltung auch für die Folge unserer Arbeit behalten. Nur so ist dem christlichen Urteil über den Staat sein Realismus gesichert. a) Es gibt kein Dekaloggebot zugunsten des Staates. Die neutestamentlichen Aussagen über den Staat behandeln ihn nur als eine fremde Angelegenheit. Die Christen haben eine unmittelbare Beziehung zu den nächstliegenden Ordnungen des menschlichen Daseins: zur Ehe, zu der Paternitas, d. h. zum Amt und zur Würde der Väter und Mütter (nach Ex 20,12), zur Nächstenschaft und zum Beruf. Diese „Ordnungen" sind mehr oder weniger direkt im Dekalog und dann wieder in den Haustafeln angesprochen. Der „Staat" ist davon fühlbar weit entfernt. Er ist ein Herrschaftsbereich des verborgen über der ganzen Welt 28 T r i l l h a a s , E i l i i k
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
waltenden Schöpfers. Die Gemeinde Christi hat ursprünglich nur ein distanziertes Verhältnis zu den politischen Ordnungen. Der Staat ist kein unmittelbarer Herrschaftsbereich Christi. Der Staat ist nicht Kirche und vermag die Kirche nicht zu ersetzen. Er kann sie nur hindern oder schützen. Was der Staat „theologisch" bedeutet, das bedeutet er für alle Menschen, nicht nur für die Christen. Jeder theokratische Gedanke setzt einen offenbaren und aktuell gesetzgebenden Gott voraus. Wenn v i r das für den Staat bestreiten, so geschieht das nicht aus Resignation. Die „Weltlichkeit" des Staates hat eine theologische Bedeutung. Es heißt nicht, ihn aus dem theologischen oder christlichen Urteil in eine angebliche „Eigengesetzlichkeit" entlassen, wenn wir so reden. Weltlichkeit bedeutet, daß es vor unserem Blick verborgen ist, wie sich Gott, der Schöpfer und Herr der Welt, zur Regierung dieser Welt der staatlichen Macht bedient. Der christlich verstandene Staat ist der „weltliche" Staat. Mag er im übrigen für uns alle ein unausweichliches Schicksal bedeuten, ein Schicksal vielleicht auf Leben und Tod, so liegt doch in dieser „Weltlichkeit" eine entscheidende Selbstbeschränkung des Staates nach der weltanschaulichen und „religiösen" Seite hin. Das schließt nicht aus, daß die Träger staatlicher Macht, indem sie diese Selbstbeschränkung ihrer staatlichen potestas anerkennen, ihren persönlichen Glauben an Gott, den Schöpfer und Vater Jesu Christi öffentlich bekennen und ihre staatliche Arbeit in christlicher Verantwortung tun können. b) Der Staat ist ein Herrschaftsgebiet des verborgen waltenden Schöpfers. Man kann deshalb vom Staat, seinem Wesen, seinem Recht und seiner Würde reden, ohne nach seiner Entstehung zu fragen. Man muß ganz allgemein die Wesensfrage von der genetischen Frage trennen; was etwas seinem Wesen nach ist, wird nicht dadurch erklärt, wie es entstanden ist. J . - J . Rousseau hat in seiner Lehre vom contrat social das Wesen des Staates mit einem Mythus von seiner Entstehung zu erklären versucht. Nicht nur die Fragwürdigkeit dieses Mythus, sondern auch die Verwechselung der Wesensfrage mit der Entstehungsfrage spricht gegen die Rousseausche Theorie. Auch dies spricht dagegen, und damit nähern wir uns der theologisch wichtigen Einsicht: alle „Entstehungen" von Staaten und Verfassungen liegen im Zwielicht von Recht und Unrecht, von Gut und Böse. Die Vielfalt der Rechtsbegriffe ermöglicht es, jedes postulierte Recht unter anderem Gesichtspunkt auch in Frage zu stellen. Wie viele Demokratien haben ihre Geschichte mit Auflehnung, Eidbruch und Königsmord begonnen; Dynastien bewahrten ihre Legitimität mit List und Berechnung, mit Hei-
Christliches Regulativ zur modernen Staatsauffassung
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raten, gezielten Änderungen von Hausgesetzen, Ein- und Absetzungen; Landstriche und ganze Länder wurden annektiert, Friedensschlüsse durch Erpressungen erzwungen, unterlegene Gegner zu Verbrechern erklärt. Es wird kein Staat auf der Welt sein, dessen Geschichte von solchen dunklen Stellen frei wäre. Trotzdem finden wir überall ein heißes Bemühen um Legitimität, d. h. um Rechtfertigung des bestehenden Zustandes und der bestehenden Herrschaft. Jeder Staat will rechtmäßig sein — wie sollte er anders den sittlichen Charakter in Anspruch nehmen können, von dem wir sprachen? Aber an der historischen Wirklichkeit gemessen, sind solche Ansprüche nie ohne Mühe vertretbar. Und doch sind sie ernst zu nehmen. Sie sind so ernst zu nehmen wie der Wille zur Ehrbarkeit im Privatleben eines Menschen, der doch, nicht nur in abstracto, sondern in concreto ein Sünder ist. Aber für Völker gibt es — D. Bonhoeffer hat eindrucksvoll darauf hingewiesen — keine Vergebung der Sünden, sondern nur ein Vernarben der Schuld in der Rückkehr zur Ordnung, zum Recht. Bonhoeffer sagt: „Die Kontinuität mit der vergangenen Schuld, die im Leben der Kirche und der Gläubigen durch Buße und Vergebung abgebrochen wird, bleibt im geschichtlichen Leben der Völker erhalten. Nur darauf kommt es an, ob die vergangene Schuld tatsächlich vernarbt ist, und an dieser Stelle gibt es dann auch innerhalb der geschichtlichen außen- und innenpolitischen Auseinandersetzung der Völker so etwas wie Vergebung, die dodi nur ein schwacher Schatten der Vergebung ist, die Jesus Christus dem Glauben schenkt. Es wird hier auf die volle Sühne des geschehenen Unrechtes durdi den Schuldigen Verzicht geleistet, es wird erkannt, daß das Vergangene durch keine menschliche Macht wiederhergestellt, daß das Rad der Geschichte nicht mehr zurückgedreht werden kann." [1949] 1966 7 ,126).
Tatsächlich liegen alle Ursprungsfragen geschichtlicher Staatsgebilde im Dunkeln, nicht so sehr im Dunkeln unserer Erkenntnis als im Dunkel der Schuld, des Bruchs von Prinzipien, auf denen alles staatliche Wesen ruht. Entscheidend für die Beurteilung eines Staates ist nicht, wie das herrschende System an die Macht gekommen ist, sondern wie es diese Macht gebraucht. Ein an sich „legitimer" Staat, eine Republik mit den einleuchtendsten Verfassungsgrundsätzen kann durch den Mißbrauch der Macht doch ihr sittliches Recht einbüßen; ein ursprünglich irreguläres System, eine durch Revolution an die Herrschaft gelangte Regierung, eine Sieger- und Eroberermacht — sie können durch Wohltat und gerechte Regierung sich selbst vor der Geschichte rechtfertigen. Es gehört zur Theologie des Staates, das Geheimnis zu ehren, daß sich das göttliche Walten, ja die Erhaltungsgnade Gottes mitten durch das zwielichtige Handeln der Menschen hindurch zu beweisen vermag. 28'
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IV. Leben in Gemeinschaft und die gesellschaftlichen Mächte
c) Die Gewalt des Staates hat die Aufgabe, der zerstörenden Macht der Sünde unter den Menschen zu wehren. Diese Zwecksetzung ist ohne Zweifel unzureichend. Ihre Überbetonung hat dazu beigetragen, dem Staat des Altluthertums einen polizeistaatlichen Charakter zu geben. Und doch ist der Satz richtig. Gott erhält durch die staatlidie Ordnung die Welt. Das kann sich keine spezielle Staatsform gegen die andere zunutze machen. Es gilt prinzipiell von jeder möglichen Staatsform; es gilt also in concreto von der bestehenden Staatsordnung. Ist diese bestehende Staatsordnung wirklich eine tragbare Ordnung der öffentlichen Dinge, dann hat sie ein unvergleichliches Vorrecht vor allen nichtbestehenden Staatsformen, also vor allen vergangenen, denkbaren, wünschbaren oder sonst irgendwie möglichen. Man kann das natürlich auch im Sinne des Hegeischen Satzes interpretieren, daß das Wirkliche vernünftig sei. Aber es liegt zunächst in unserem Satz nur die tiefgewurzelte Skepsis, daß eine Staatsumwälzung niemals das einbringt, was man sich von ihr erhofft. Die Welt bleibt sich gleich, und eine politische Umwälzung bedeutet zunädist jedenfalls eine Zerstörung der bestehenden Ordnung und damit verbunden unabsehbare materielle und moralische Schäden. Man wirft damit etwas weg, ohne zu wissen, was man dafür eintauscht. Es ist die urchristliche Skepsis gegen das Wesen der Welt, die vergeht (1 Kor 7, 31), die das politische Engagement der ersten Christenheit verhindert hat und die in der Reformation wenigstens in der konservativen Skepsis des Luthertums sidi erneuert hat. Der kosmologische und anthropologische Pessimismus, der sich hier ausspricht, ist nicht ohne Gefahr, und der Konservatismus, in den er sich gerne kleidet, ist leicht zugunsten des Bestehenden einzuspannen. Man kann es aber auch so verstehen, daß der Staat auf diese Weise in den großen Rahmen des christlichen Schöpfungsglaubens einbezogen wird. Er gehört unmittelbar zu der ebenso anschaulichen wie unanschaulidien conservatio Gottes. d) Schließlich noch ein Wort zur Autorität des Staates. Was bedeutet sie eigentlich? In der Wahrheitsfrage ist ihm die Wissenschaft, die Philosophie überlegen, und die Kirche hat überweltliche Autoritäten geltend zu machen. Für die Kinder ist dem S