Erziehung zum »wahren« Muslim: Islamische Bildung in den Institutionen Aserbaidschans [1. Aufl.] 9783839408391

Diese Studie untersucht zum ersten Mal die Prozesse der institutionellen islamischen Bildung im postsowjetischen Transfo

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Inhalt
Danksagung
I Einleitung
1 Warum eine Untersuchung zur institutionellen islamischen Bildung in Baku/Aserbaidschan?
2 Die Untersuchungsfrage und Hypothese der Arbeit
3 Der Stand der Forschung
4 Der Aufbau der Arbeit
II Islam und islamische Bildung in Aserbaidschan
1 Das sowjetische Aserbaidschan
1.1 Die Rolle des Islams
1.2 Die Bildung
2 Das postsowjetische Aserbaidschan
2.1 Die Rolle des Islams
2.2 Die Bildung
III Analytischer Bezugsrahmen
1 Mögliche Ursachen eines Bedeutungswandels von Islamkonzepten im Rahmen von institutioneller islamischer Bildung
1.1 Transformationsprozess und biografische Herausforderungen
1.2 Jugendphase und Funktionen von Religion
1.3 Autorität im (islamischen) Bildungs- und Erziehungsprozess
2 Bedeutungswandel von Islamkonzepten als Konversion von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion?
2.1 „Unsichtbare“ Religion
2.2 „Sichtbare“ Religion
2.3 Operationalisierung eines möglichen Bedeutungswandels
IV Das Forschungsdesign
1 Die Methoden der Datenerhebung
1.1 Einstieg ins Feld und die Konstruktion eines Fragebogens
1.2 Leitfadeninterviews und Interviewdurchführung
1.3 Teilnehmende Beobachtung
1.4 SchülerInnenaufsätze und „Gruppendiskussionen“
2 Auswertung der Daten
3 Das Sample der Forschung
V Empirischer Teil
1 Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität
1.1 Gründungsgeschichte
1.2 Lehrpersonal und Unterrichtsfächer
1.3 Studierende
1.4 Die Religionskonzepte der aserbaidschanischen und türkischen DozentInnen und die Rezeption durch die Studierenden
1.5 Zusammenfassende Analyse und Fazit: Erziehung zum „,wahren‘ Muslim“?
2 Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der İmam-Hatip-Schule
2.1 Das Modell İmam-Hatip-Schule: Weltlicher Unterricht und religiöse Erziehung
2.2 Die İmam-Hatip-Schule in Baku
2.3 Lehrpersonal und Curriculum
2.4 Auswertung der SchülerInnenaufsätze
2.5 Auswertung der „Gruppendiskussionen“
2.6 Fazit
3 Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der Islamuniversität
3.1 Das Modell „Islamuniversität“
3.2 Die Gründungsgeschichte der Bakuer Islamuniversität
3.3 Die DozentInnen
3.4 Die Studierenden
3.5 Das Curriculum
3.6 Auswertung der Interviews mit den DozentInnen
3.7 Auswertung der Interviews mit den Studierenden: „,Müsəlmanlar ayrılmasın‘ – Die Muslime sollen nicht getrennt werden“
3.8 Fazit
4 Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in den Moscheen
4.1 Die schiitische Cuma-Moschee
4.2 Die salafitische Lesgi-Moschee
4.3 Die Lehrer und ihr Unterricht in der Cuma-Moschee
4.4 Die Lehrerin und ihr Unterricht in der Lesgi-Moschee
4.5 Die Schülerinnen in den Moscheen
4.6 Auswertung der Interviews und der Teilnehmenden Beobachtungen
4.7 Fazit
VI Zusammenfassung der Ergebnisse
1 Institutionelle islamische Bildung und mögliche Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft in Baku/Aserbaidschan: Erziehung zum „wahren“ Muslim?
1.1 Bedeutung von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen
1.2 Bedeutungswandel von Religion und Religiosität
1.3 Das Zusammenwirken von Transformation, Jugend und islamischer Bildung als Ursache eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion
1.4 Die Rolle der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrpersonal im Hinblick auf einen Bedeutungswandel bzw. eine Konversion
1.5 Zuordnung von spezifischen Islamkonzepten zu einzelnen Institutionen
1.6 Konsequenzen der islamischen Bildung mit Blick auf die aserbaidschanische Gesellschaft: Erziehung zum „wahren“ Muslim?
VII Literaturverzeichnis
1 Literaturangaben
2 Primärquellen
2.1 Islamisch-Theologische Fakultät der Staatsuniversität Baku
2.2 Islamuniversität in Baku
2.3 Moscheen (beide in Baku)
2.4 İmam-Hatip-Schule in Baku
2.5 Feldforschungstagebuch/Unterrichtsdokumentation
VIII Anhang
1 Fragebogen
1.1 Aserbaidschanisches Original
1.2 Deutsche Übersetzung
2 Leitfaden (erste Version) für Interviews mit Studierenden und DozentInnen
3 Leitfaden (zweite Version): Interviewleitfaden für Interviews mit Studierenden und DozentInnen
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Erziehung zum »wahren« Muslim: Islamische Bildung in den Institutionen Aserbaidschans [1. Aufl.]
 9783839408391

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Christine Hunner-Kreisel Erziehung zum »wahren« Muslim

herausgegeben von Markus Kaiser | Band 7

2008-02-22 10-13-08 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630659772|(S.

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) T00_01 schmutztitel - 839.p 171630659780

Für Stefan und meine Eltern

Christine Hunner-Kreisel (Dr. phil.) lehrt Erziehungswissenschaft an der Universität Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Religion als Thema in der Pädagogik, (islamische) Bildung und Erziehung, (muslimische) Kindheit und Jugend sowie qualitative Forschungsmethoden.

2008-02-22 10-13-08 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630659772|(S.

2

) T00_02 seite 2 - 839.p 171630659796

Christine Hunner-Kreisel

Erziehung zum »wahren« Muslim Islamische Bildung in den Institutionen Aserbaidschans

2008-02-22 10-13-08 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 0302171630659772|(S.

3

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Gedruckt mit Hilfe der FAZIT-Stiftung, Frankfurt am Main, der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein sowie der Johanna und Fritz Buch Gedächtnis-Stiftung, Hamburg.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2008 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Adele Gerdes, Bielefeld Lektorat: Christine Hunner-Kreisel Satz: Anne Tecklenborg, Stefan Kreisel Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-839-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

2008-03-06 13-50-24 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 032a172766884708|(S.

4

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Inhalt

Danksagung

9

I

Einleitung

11

1 2 3 4

Warum eine Untersuchung zur institutionellen islamischen Bildung in Baku/Aserbaidschan? Die Untersuchungsfrage und Hypothese der Arbeit Der Stand der Forschung Der Aufbau der Arbeit

11 17 22 23

II

Islam und islamische Bildung in Aserbaidschan

27

1

Das sowjetische Aserbaidschan

27

1.1

Die Rolle des Islams

27

1.2

Die Bildung

36

2

Das postsowjetische Aserbaidschan

45

2.1

Die Rolle des Islams

45

2.2

Die Bildung

56

III

Analytischer Bezugsrahmen

65

1

Mögliche Ursachen eines Bedeutungswandels von Islamkonzepten im Rahmen von institutioneller islamischer Bildung

65

1.1

Transformationsprozess und biografische Herausforderungen

66

1.2

Jugendphase und Funktionen von Religion

69

1.3

Autorität im (islamischen) Bildungs- und Erziehungsprozess

75

2

Bedeutungswandel von Islamkonzepten als Konversion von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion?

83

2.1

„Unsichtbare“ Religion

87

2.2

„Sichtbare“ Religion

91

2.3

Operationalisierung eines möglichen Bedeutungswandels

96

IV

Das Forschungsdesign

99

1

Die Methoden der Datenerhebung

99

1.1

Einstieg ins Feld und die Konstruktion eines Fragebogens

100

1.2

Leitfadeninterviews und Interviewdurchführung

101

1.3

Teilnehmende Beobachtung

106

1.4

SchülerInnenaufsätze und „Gruppendiskussionen“

106

2 3

Auswertung der Daten Das Sample der Forschung

108 112

V

Empirischer Teil

115

1

Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität

115

1.1

Gründungsgeschichte

115

1.2

Lehrpersonal und Unterrichtsfächer

115

1.3

Studierende

116

1.4

Die Religionskonzepte der aserbaidschanischen und türkischen DozentInnen und die Rezeption durch die Studierenden

117

Zusammenfassende Analyse und Fazit: Erziehung zum „,wahren‘ Muslim“?

139

Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der İmam-Hatip-Schule

153

2.1

Das Modell İmam-Hatip-Schule: Weltlicher Unterricht und religiöse Erziehung

154

2.2

Die İmam-Hatip-Schule in Baku

156

2.3

Lehrpersonal und Curriculum

158

2.4

Auswertung der SchülerInnenaufsätze

158

2.5

Auswertung der „Gruppendiskussionen“

167

2.6

Fazit

174

3

Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in der Islamuniversität

181

3.1

Das Modell „Islamuniversität“

181

3.2

Die Gründungsgeschichte der Bakuer Islamuniversität

183

3.3

Die DozentInnen

184

3.4

Die Studierenden

185

3.5

Das Curriculum

185

3.6

Auswertung der Interviews mit den DozentInnen

185

1.5 2

3.7

Auswertung der Interviews mit den Studierenden: „,Müsəlmanlar ayrılmasın‘ – Die Muslime sollen nicht getrennt werden“

198

3.8

Fazit

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4

Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in den Moscheen

214

4.1

Die schiitische Cuma-Moschee

214

4.2

Die salafitische Lesgi-Moschee

215

4.3

Die Lehrer und ihr Unterricht in der Cuma-Moschee

216

4.4

Die Lehrerin und ihr Unterricht in der Lesgi-Moschee

216

4.5

Die Schülerinnen in den Moscheen

217

4.6

Auswertung der Interviews und der Teilnehmenden Beobachtungen

217

4.7

Fazit

232

VI

Zusammenfassung der Ergebnisse

241

1

Institutionelle islamische Bildung und mögliche Auswirkungen auf Individuum und Gesellschaft in Baku/Aserbaidschan: Erziehung zum „wahren“ Muslim?

241

1.1

Bedeutung von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen

242

1.2

Bedeutungswandel von Religion und Religiosität

243

1.3

Das Zusammenwirken von Transformation, Jugend und islamischer Bildung als Ursache eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion

250

Die Rolle der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrpersonal im Hinblick auf einen Bedeutungswandel bzw. eine Konversion

254

Zuordnung von spezifischen Islamkonzepten zu einzelnen Institutionen

258

Konsequenzen der islamischen Bildung mit Blick auf die aserbaidschanische Gesellschaft: Erziehung zum „wahren“ Muslim?

261

1.4 1.5 1.6

VII Literaturverzeichnis

263

1 2

Literaturangaben Primärquellen

263 274

2.1

Islamisch-Theologische Fakultät der Staatsuniversität Baku

274

2.2

Islamuniversität in Baku

274

2.3

Moscheen (beide in Baku)

275

2.4

İmam-Hatip-Schule in Baku

275

2.5

Feldforschungstagebuch/Unterrichtsdokumentation

276

VIII Anhang

277

1

Fragebogen

278

1.1

Aserbaidschanisches Original

278

1.2

Deutsche Übersetzung

281

2

Leitfaden (erste Version) für Interviews mit Studierenden und DozentInnen Leitfaden (zweite Version): Interviewleitfaden für Interviews mit Studierenden und DozentInnen

3

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Da nk sa gung

Herzlich bedanken möchte ich mich an dieser Stelle bei meinen Gutachtern Professor Dr. Sabine Andresen (Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld) und Professor Dr. Raoul Motika (Abteilung für Geschichte und Kultur des Vorderen Orients der Universität Hamburg) für Ihre kontinuierliche Unterstützung beim Schreiben meiner Dissertation. Mein Dank gilt auch der ehemaligen Projektgruppe „Islamische Bildung in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion“ am Seminar für Orientalistik und Islamwissenschaften der Universität Bochum, Herrn Professor Dr. Stefan Reichmuth, Frau Professor Dr. Anke von Kügelgen, Herrn Professor Dr. Fikret Adanir, Herrn Dr. Michael Kemper, meiner Mitdoktorandin Manja Stephan sowie Frau Professor Dr. Christel Adick vom Institut für Pädagogik der Universität Bochum. Danke auch an die VW-Stiftung in Hannover, die dieses Projekt finanziert hat. Bedanken möchte ich mich insbesondere bei meinen aserbaidschanischen Freunden und bei allen, die sich meinen Fragen stellten.

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I

Einleitung

1 Warum eine Untersuchung zur institutionellen i s l a m i s c h e n B i l d u n g i n B a k u / As e r b a i d s c h a n ? Das Land Aserbaidschan mit seiner Hauptstadt Baku liegt an der Westküste des Kaspischen Meeres1 und gehört zur Region des Kaukasus. In Aserbaidschan leben ca. acht Millionen Menschen und seine Bevölkerung setzt sich aus 90,6 Prozent Aserbaidschanern, 2,2 Prozent Dagestanern, 1,8 Prozent Russen und 1,5 Prozent Armeniern2 zusammen.3 3,9 Prozent der Bevölkerung werden keiner Ethnie oder Volksgruppe zugeordnet (CIA, 2006). Im Jahr 1991 wird Aserbaidschan wieder eine unabhängige Republik, nachdem es im Jahr 1920 von der Roten Armee eingenommen und im Jahr 1922 zusammen mit Armenien und Georgien als Teil der „Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ (SFSR) in die Sowjetunion eingegliedert worden war (Batalden/Batalden, 1993: 99). Im Rahmen des Unabhängigkeitsprozesses wird das Aserbaidschanische4 wieder zur offiziell ge1

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3 4

Aserbaidschan ist aufgrund des Ölvorkommens im Kaspischen Meer sowohl für Amerikaner als auch für Russen von strategischer Bedeutung (Klevemann, 2002: 13). Diese Angaben spiegeln nicht die Tatsache wider, dass fast alle Armenier im Rahmen des Berg-Karabach-Konflikts das Land verlassen haben und Armenier heute nur noch in der Berg-Karabach Region leben. Siehe zu weiteren Ausführungen zum Berg-Karabach-Konflikt in Fußnote 54. Nach einer Bevölkerungszählung von 1999. Obwohl „Aserbaidschanisch“ und „Azeri“ im Allgemeinen synonym zur Bezeichnung der aserbaidschanischen Sprache verwendet werden, verweist „Azeri“ eigentlich auf die in der frühen Neuzeit ausgestorbene iranische Sprache Âzarî. Demzufolge ist „Aserbaidschanisch“ bzw. „Aseri-Türkisch“ die korrektere Bezeichnung (Batalden/Batalden, 1993: 98).

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

sprochenen Sprache erklärt und das lateinische Alphabet eingeführt.5 Mit 93 Prozent stellen die Muslime die größte Religionsgemeinschaft in Aserbaidschan dar, schätzungsweise 75 Prozent von ihnen sind Schiiten und 25 Prozent sind Sunniten (Motika, 2001b: 112). Die kommunistische Herrschaft ging mit starken Restriktionen gegenüber der islamischen Religion einher. Als Resultat der 70-jährigen sowjetischen Herrschaft, deren Bestreben es war, Religion sowohl aus dem öffentlichen als auch dem privaten Bewusstsein zu verdrängen, ist formales Wissen über den Islam im heutigen Aserbaidschan gering (Faradov, 2001: 28). Zumindest auf der öffentlichen, institutionellen Ebene gelang es dem Sowjetregime, den Islam weitgehend zurückzudrängen. Demzufolge gab es im Jahr 1976 in Aserbaidschan nur noch 16 Moscheen, deren Zahl zur Zeit der politischen Entspannung im Rahmen der Bemühungen der Perestroika in den 80er Jahren bis zum Jahr 1989 wieder auf 200 angestiegen ist (Motika, 2005: 78). Die Zahl der Moscheen wird heute auf ca. 2000 geschätzt, daneben existieren zahlreiche islamische Schulen (məktəblər6 und mədrəsələr7)8, eine 5

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Daneben wird allerdings vor allem in Baku noch häufig das Russische gesprochen, zum Teil wird sogar an einigen Schulen oder auch universitären Fakultäten ausschließlich Russisch gesprochen. In der Bevölkerung wird je nach Bildungsstand und Milieu bzw. Sprachkenntnissen sowie auch im Hinblick auf das nationale Selbstverständnis Aserbaidschanisch und/oder Russisch gesprochen. In den untersuchten Institutionen der vorliegenden Studie wurde allerdings entweder Aserbaidschanisch oder modernes Türkisch gesprochen. Modernes Türkisch ist wiederum für die Aserbaidschaner relativ problemlos (mit Einschränkungen) zu verstehen, da die beiden Turksprachen eng miteinander verwandt sind. Siehe auch die weiterführende Literatur zum Thema bei I. Baldauf (Baldauf, 1992) sowie bei B. Kellner-Heinkele und J.M. Landau (KellnerHeinkele/Landau, 2001). Maktab (oder je nach Vokalisierung auch mekteb bzw. im Aserbaidschanischen məktəb) ist die Bezeichnung für eine traditionelle islamische Schule, häufig anstelle von maktab auch kuttāb genannt (Landau, 2001: 196). Medresen sind höhere islamische Lehranstalten. Im Allgemeinen ist für nicht übersetzte Begriffe und Bezeichnungen sowie für Originalzitate, die zum unmittelbaren Kontext der eigenen Forschung in Aserbaidschan gehören, die aserbaidschanische Schreibweise gewählt worden. Die türkische Schreibweise wurde gewählt, wenn es sich um nicht übersetzte Begriffe und Bezeichnungen bzw. Äußerungen der in der vorliegenden Arbeit zitierten türkischen Religionsgelehrten handelt. Für die unmittelbar auf die Religion bezogenen, aus dem Arabischen stammenden Begriffe werden die arabischislamischen Termini in der Umschrift der DMG (Deutsche Morgendländische Gesellschaft) verwendet. Im Deutschen allgemein verwendete Toponyme und Ortsnamen wie zum Beispiel „Kerbela“ werden in ihrer im Deutschen üblichen Form verwendet. Allgemein vertraute Namen und Bezeichungen wie zum Beispiel „Mohammad“ und „Koran“ werden in der eingedeutschten Schreibweise verwendet.

EINLEITUNG

theologische Fakultät an der Staatsuniversität Baku sowie eine Islamuniversität, die auch vier Zweigstellen außerhalb der Hauptstadt unterhält (Əskərov, 2004: 9-11; Motika, 2005: 78). Auf einer nicht-institutionellen, nicht-orthopraktischen9, emotionalen Ebene hat sich die Religion und Religiosität der Menschen auch zu Sowjetzeiten (Swietochowski, 1995: 117) gehalten und sich andere Ausdrucksformen gesucht. Dabei war das Gefühl und die Selbstzuschreibung, „ein Muslim zu sein“, Bestandteil einer zu Zeiten der Unterdrückung auch als national zu verstehenden Zuordnung und Identitätszuschreibung10, die sich mit der islamischen Religion verband (Dragadze, 1994: 154). Religiosität fand dabei (und findet immer noch) weniger ihren Ausdruck in der islamischen Orthopraxie, also der Einhaltung der sog. fünf Säulen des Islams11, sondern mehr durch die Ausübung von religiös basierten Traditionen wie Beschneidungs-, Hochzeitsund Begräbnisritualen sowie in einer Heiligenverehrung, die verbunden ist mit Pilgerfahrten zu deren Gräbern. Vor diesem Hintergrund konnte von einem „Verschwinden“ des Islams „selbst in der Sowjetunion mit ihrer atheistischen Ideologie und religionsfeindlichen Politik kaum die Rede sein (Halbach, 2002: 25). Ein „Alltagsoder Brauchtumsislam“ (Halbach, 2002: 25) hat sich als resistent erwiesen, auch wenn die sowjetische Periode hinsichtlich „der Vertrautheit der Gesellschaft mit den Schriftgrundlagen der Religion und mit dem schriftlich tradierten theologischen, juristischen und philosophischen Diskurs im Islam“ (Halbach, 2002: 26) einen drastischen Einschnitt darstellte. Insofern sind die Schlagworte einer „Re-Islamisierung“ und „islamischen Wiedergeburt“, die im Zusammenhang mit dem Islam in den postsowjetischen Ländern und Regionen zum Teil gebraucht werden, missverständlich. Auch zu Zeiten der Sowjetunion existierte eine religiöse Erziehung (Halbach, 2002: 26) in den Familien und vereinzelt in traditionellen Institutionen wie den übrig gebliebenen Moscheen und Medresen (siehe auch Pfluger-Schindlbeck, 2005: 106ff.). 9

Hier ist mit „nicht-orthopraktisch“ gemeint, dass die Glaubensvorschriften von einer Mehrheit der aserbaidschanischen Muslime zur Zeit der sowjetischen Vorherrschaft nicht mehr praktiziert wurden. 10 In Zusammenhang mit dem Thema Islam und Nation in Aserbaidschan siehe auch zur Rolle der aserbaidschanischen Frau zu Zeiten der Sowjetunion in der Funktion als Trägerin aserbaidschanisch-muslimischer Identität als Mittel der Abgrenzung zum sowjetischen Frauenbild in N. Tohidi (Tohidi, 1998) sowie bei T. Swietochowski (Swietochowski, 1989) und auch bei H. Bräker (Bräker, 1989). Bräker z.B. beschreibt das ausgeprägte Festhalten der sowjetischen Muslime an der Umma als der virtuellen Gemeinschaft aller Gläubigen als Reaktion auf die sowjetische Islam-Politik (Bräker, 1989: 133). 11 Die fünf Säulen des Islam sind: Glaubensbekenntnis, Rituelles Gebet, Fasten im Monat Ramadan, Religiöse Pflichtabgabe und Pilgerfahrt nach Mekka.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

Im Elternhaus wurde und wird auch heute noch eine durch den Begriff „Alltagskultur“ umschreibbare religiöse Erziehung erfahren. Diese beinhaltet islamische Elemente; die Grenzen zwischen der Nationalkultur und der islamischen Kultur12 sind dabei meist fließend, da die Nationalkultur von der islamischen Kultur stark geprägt ist. Abbildung 1: Landkarte Aserbaidschan

Quelle: „The World Factbook“ (CIA, 2006). Obwohl vor dem Hintergrund dieser Ausführungen nicht undifferenziert von einer „islamischen Wiedergeburt“ gesprochen werden kann, kann doch gesagt werden, dass es in Aserbaidschan im Zuge der Unabhängigkeitswerdung und im Rahmen einer dadurch aufbrechenden „Search for Identity“ (Motika, 2001b: 111) zu einem erstarkten Interesse an formalem Wissen über den Islam und somit an islamischer Bildung kam. Dabei spielte vor allem mit Blick auf die hier vorliegende Untersuchung eine große Rolle, dass die neue „[...]Nachfrage nach islamischer Bildung [...] zu einem Teil im islamischen Ausland oder durch ausländisches Personal im Inland befriedigt“ (Halbach,

12 Siehe die Ausführungen zum Verständnis des Begriffs „Kultur“ im Kontext der vorliegenden Arbeit in Fußnote 94.

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EINLEITUNG

2002: 24) wurde und immer noch wird. Dies trifft auch auf die Situation im postsowjetischen Aserbaidschan zu, das sich ebenso wie die anderen postsowjetischen Staaten religiös-politischen Einflüssen von außen öffnete. Dabei war in Zentralasien und in den muslimischen Regionen Russlands ein konfliktbehaftetes Zusammentreffen von „Islame[n]“ unterschiedlicher Provenienz und Orientierung“ (Halbach, 2002: 24) zu beobachten, bei dem unterschiedliche Kräfte auf der Basis des Islams ihre Interessen durchzusetzen versuchten. Im Jahr 198913 wurden in Aserbaidschan die ersten religiösen Organisationen gegründet und ab dem Jahr 1991 kamen islamische Emissäre vor allem aus dem Iran, Saudi-Arabien und der Türkei ins Land. Unter „islamischen Emissären“ werden hier Religionsgelehrte aus dem islamischen Ausland verstanden, die mit dem Ziel nach Aserbaidschan gekommen sind, beim Aufbau eines islamischen Bildungssektors mitzuwirken, und dabei auch die verschiedenen Islamkonzeptionen ihrer jeweiligen Herkunftsländer mitgebracht haben. In Institutionen islamischer Bildung treffen SchülerInnen und Studierende nun zum Teil auf Lehrpersonal, das entweder aus dem Ausland stammt oder eine Ausbildung im Ausland erhalten hat. Dabei kommt es zu der von Halbach als „Zusammentreffen von Islame[n]“ unterschiedlicher Provenienz und Orientierung“ (Halbach, 2002: 24) beschriebenen Situation, wenn Lernende in den Institutionen islamischer Bildung mit „orthodoxen“14 Islamkonzepten unterschiedlicher (türkisch-sunnitischer, iranisch-schiitischer oder salafitischer bzw. „wahhabitischer“15) Prägung konfrontiert werden, die sich erstens von

13 Zum Teil sogar schon früher. 14 Die Bezeichnung von Islamkonzepten als „orthodox“ ist in der vorliegenden Arbeit bewusst in Anführungszeichen gesetzt, da ich mir der Problematik bewusst bin, dass durch die Bezeichnung von bestimmten Islamkonzepten als „orthodox“ (=rechtgläubig) im Hinblick auf eine innerislamische Auseinandersetzung um die Definitionsmacht über die Religion (unfreiwillig) Position bezogen wird. In der vorliegenden Arbeit soll mit der Verwendung des Adjektivs „orthodox“ nicht die „Rechtgläubigkeit“ eines „Schariatsislams“ betont, sondern vielmehr eine begriffliche Fassung von (in Anlehnung an Assmanns theoretische Ausführungen; Assmann 2004) in der vorliegenden Arbeit als „sichtbare Religion“ (im Sinne von „institutionalisierten“ Religionsverständnissen) bezeichneten Islamkonzepten versucht werden, die im Gegensatz zu einem „aserbaidschanisch-muslimischen“ Islam stehen, der in vorliegender Arbeit in Anlehnung an Luckman (1991) als „unsichtbare Religion und Religiosität“ (und damit als „nicht-institutionalisiertes“ Religionsverständnis) definiert wird (siehe dazu in Kapitel II 2.2). 15 Als „Wahhabiten“ werden die Anhänger der Lehre des Mu½ammad Ibn þAbdal-WahhÁb bezeichnet. Allerdings ist dies keine Selbst-, sondern eine abwertend gebrauchte Fremdbezeichnung. Die Anhänger der Lehre selbst bezeichnen sich als „Muwa½½idÚn“, „Ahl al-taw½Íd“ oder „ahl al-tau½Íd“, als „MuslimÚn“

15

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

den Islamkonzepten ihrer Elternhäuser und der aserbaidschanischen Gesellschaft insgesamt unterscheiden und deren Repräsentanten zweitens den Anspruch haben, ihre mitgebrachten Islamkonzepte sowie eine mit diesen in Zusammenhang stehende spezifische „orthodoxe“ Form von islamischer Religion und Religiosität an die Lernenden zu vermitteln. Ausgehend von dieser Situation speist sich das Interesse der vorliegenden Arbeit an einer Untersuchung von Prozessen institutioneller islamischer Bildung und ihren Auswirkungen sowohl für das einzelne Individuum als auch für die Gesellschaft im Ganzen in Baku/Aserbaidschan16. Es handelt sich dabei um ein bisher noch nicht erforschtes Feld. Die vorliegende Studie ist Teil des Projektes „Islamische Bildung in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten“.17

(Heine, 1991d: 751) sowie als „Salafisten“, die Bezeichnung „wahhabitisch“ lehnen sie ab. „Salafisten“ wird abgeleitet von al-aÈlÁf, was „die Ahnen“ bedeutet. Gemeint sind die Rechtgläubigen in der Gründerzeit des Islam, d.h. die Gefolgsleute des Propheten Mohammad (Roy, 2003: 3). In der vorliegenden Arbeit wird die Selbstbezeichnung „Salafisten“ bzw. „salafitisch“ verwendet, dahinter wird in Klammern und in Anführungszeichen die in der aserbaidschanischen Bevölkerung üblicherweise gebrauchte Bezeichung „wahhabitisch“ für die salafitischen Institutionen und deren Repräsentanten bzw. die angehörigen Personen der religiösen Gemeinde gestellt. 16 Die vorliegende Arbeit kann nicht beanspruchen, für die aserbaidschanische Gesellschaft insgesamt zu sprechen, da die empirische Forschung ausschließlich in (ausgewählten) Institutionen in der Hauptstadt Baku durchgeführt wurde und die Ergebnisse somit keine Aussagen über die Bedeutung von islamischer Bildung bzw. Religion und Religiosität in den übrigen Regionen Aserbaidschans machen. 17 Das Projekt selbst war in den Jahren 2001-2004 an der Fakultät für Orientalistik der Universität Bochum unter der Leitung von Herrn Prof. Dr. Stefan Reichmuth (Bochum), Herrn Prof. Dr. Fikret Adanir (Bochum) und Frau Prof. Dr. Anke von Kügelgen (Bern) sowie unter der Koordination von Herrn Prof. Dr. Raoul Motika (Hamburg) angesiedelt. Projektpartner waren Tatarstan (Russische Föderation), Abteilung für Geschichte, Universität Kasan, Dagestan (Russische Föderation), Institut für Geschichte, Ethnografie und Archäologie, Machatschkala, Aserbaidschan, Institut für Orientalistik der aserbaidschanischen Akademie der Wissenschaften, Baku, Usbekistan, Staatliches Institut für Orientalistik, Taschkent und Kasachstan, Institut für Orientalistik der kasachischen Akademie der Wissenschaften, Almaty. In jedem Land waren je zwei Forscher beteiligt; darüber hinaus waren drei deutschsprachige Promovenden in das Projekt eingebunden. Das Projekt wurde finanziert von der Stiftung Volkswagenwerk im Rahmen des Programms „Zwischen Europa und Orient – Mittelasien/Kaukasus im Fokus der Wissenschaft“ (VW-Stiftung, Hannover).

16

EINLEITUNG

2 D i e U n t e r s u c h u n g s f r a g e u n d H yp o t h e s e d e r Ar b e i t Im Folgenden wird kurz skizziert, wie der Prozess der Findung der Untersuchungsfrage und die damit verbundene Entwicklung einer Hypothese vonstatten ging. Die ursprüngliche Forschungsfrage der vorliegenden Arbeit zielte auf eine Untersuchung einer Didaktik islamischer Bildung ab. Die Überlegung dabei war, eine mögliche Kulturbezogenheit von Didaktikmodellen zu untersuchen. Als exemplarisch für die notwendige Einbettung von Didaktikmodellen z.B. in den kulturellen Kontext wurde dabei der Bildungsbegriff im bildungstheoretischen bzw. kritisch-konstruktiven Didaktikmodell von Klafki gesehen, der nur vor dem Hintergrund seiner historisch-kulturellen Gewachsenheit verstanden werden kann (Klafki, 1985: 43; Kron, 2000: 122). Weiterhin wurde ausgehend von einer Untersuchung von Kron angenommen, dass Lehrpersonen aufgrund ihrer eigenen Ausbildung und Sozialisation sowie in Zusammenhang mit persönlichen Erfahrungen als SchülerInnen, Studierende und LehrerInnen vor dem Hintergrund ihrer Erziehung und Persönlichkeit ein „heimliches“ Didaktikmodell besitzen (Kron, 2000: 14-22). Ausgangspunkt der Forschung war somit die Frage nach bestehenden didaktischen Vorstellungen bei Lehrpersonen und deren subjektiv-individueller sowie bildungstheoretischer Verortung. In einem ersten Forschungsabschnitt wurde im Zusammenhang mit einer Fragebogenerhebung deutlich, dass das Thema einer Didaktik islamischer Bildung bei den Lehrpersonen auf wenig Resonanz stieß.18 Jedoch ereignete sich gleichzeitig im Kontext der Fragebogenerhebung ein Vorfall, der letztendlich ausschlaggebend für eine Veränderung des Erkenntnisinteresses der Arbeit und das Entstehen einer neuen Untersuchungsfrage wurde. Kurze Zeit nach Verteilung des Fragebogens19 (mit Einwilligung der Direktion der Islamuniversität, die diesen jedoch vorher nicht zu lesen bekam) kam es zu einem für mich überraschenden Forschungsverbot von Seiten der Direktion, ohne dass eine weitere Begründung für dieses gegeben wurde. Meine Fragebögen wurden des Weiteren von der Direktion beschlagnahmt.20 Erst eine Intervention unserer aserbaidschanischen Projektmitarbeiter und ein von diesen durchgeführtes klärendes Gespräch mit der Direktion der Institution konnten eine erneute Forschungserlaubnis bewirken. Auf mein Nachfragen

18 Siehe dazu auch in Kapitel III (Forschungsdesign) dieser Arbeit. 19 Siehe zu näheren Informationen zum Fragebogen im Kapitel III 1.1 20 Wobei ich bereits einige Exemplare von Lehrpersonen zurückerhalten hatte. Zu deren Auswertung siehe in Kapitel III 1.1 dieser Arbeit.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

bei den Projektmitarbeitern nach einer Erklärung für das Forschungsverbot und die Beschlagnahmung des Fragebogens wurde mir gesagt, dass die Frage nach der religiösen Orientierung der Lehrpersonen in den Augen der Direktion „überflüssig“ sei. Im Übrigen wurde mir nahe gelegt, Fragen nach der religiösen Orientierung in Zukunft zumindest nicht mehr direkt zu formulieren, also nicht mehr konkret zu fragen, ob jemand „Schiite“ oder „Sunnite“ sei. Obwohl mir zu diesem Zeitpunkt der Forschung die Hintergründe der „Überflüssigkeit“ der gestellten Frage nicht klar waren, fasste ich in Anlehnung an den forschungstechnischen Hinweis von Strauss und Corbin (Strauss/Corbin, 1990: 92-93), der besagt, dass sog. Tabuthemen das besondere Forschungsinteresse des Forschers hervorrufen sollten21, den Beschluss, mein Erkenntnisinteresse auf die Frage nach der Bedeutung von Religion für die untersuchten Personen auch im Hinblick auf die jeweilige Institution, in der sie studieren bzw. lehren, zu richten. Die Fragebogenerhebung und der Vorfall ereigneten sich in der Islamuniversität von Baku. Obwohl diese nur eine der untersuchten Institutionen darstellt, wurde im weiteren Verlauf der Forschung auch vor dem Hintergrund der im vorherigen Kapitel dargestellten gesellschaftspolitischen und religiösen Situation in Aserbaidschan deutlich, dass die Frage nach der Bedeutung von Religion bei den Befragten in Institutionen islamischer Bildung generell von Relevanz ist. Aufgrund der beschriebenen religionspolitischen Tätigkeiten der islamischen Emissäre in Aserbaidschan werden Fragen nach der religiösen Zugehörigkeit bzw. die Frage nach einer schiitischen oder sunnitischen religiösen Orientierung von Bedeutung für den Einzelnen und über diesen auch für die Gesellschaft.22 Denn die Studierenden werden, wie im vorherigen Kapitel schon erwähnt, in Institutionen islamischer Bildung oftmals zum ersten Mal mit „orthodoxen“23 Islamkonzepten unterschiedlicher Prägung konfrontiert, die sich von den im Elternhaus und in der Gesellschaft erfahrenen Islamkonzeptionen wesentlich unterscheiden. Dabei kommt es bei einem Teil der Studierenden sowohl zu einer Bewusstwerdung der „eigenen ursprüngli-

21 Mit Blick auf die Beurteilung von sog. Tabuthemen schreiben Strauss und Corbin: „To emphasize our essential point: You should become very sensitive to certain words and phrases. Ones such as ,Never‘, ,Always‘, [...] ,Everyone knows that’s the way it is done‘, ,These is no need for discussion‘. Every time you hear such a phrase, you should wave a red flag – an imaginary flag, of course. These words and phrases should be taken as signals to take a closer look.“ (Strauss/Corbin, 1990: 92-93) 22 Wobei dies in erster Linie für die Studierenden in Institutionen islamischer Bildung gilt, die gesamtgesellschaftlich gesehen eine kleine Gruppe darstellen. 23 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch in Fußnote 14.

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EINLEITUNG

chen“ (d.h. an dieser Stelle: der im Elternhaus erfahrenen und gelebten) Religiosität sowie zu einem Wandel dieser hin zu einem „orthodoxen“ Islamkonzept in Abhängigkeit von der jeweils besuchten Bildungsinstitution bzw. von den dort unterrichtenden Religionsgelehrten. Daraus ergibt sich weiterhin, dass die Institutionen islamischer Bildung Orte sind, an denen sich eventuelle Veränderungen des Islams im Hinblick auf die Bedeutung der Religion für die gesamte Gesellschaft herausbilden. Diese Annahme liegt vor dem Hintergrund nahe, dass an den Institutionen islamischer Bildung ReligionslehrerInnen und Imame ausgebildet werden, die zukünftig in Institutionen der Gesellschaft arbeiten und ihre erlernten Islamkonzeptionen an neue Generationen weitergeben werden. Zum weiteren Verständnis der Arbeit soll an dieser Stelle der Prozess der Entstehung der Untersuchungsfrage und der entwickelten Hypothese zusammengefasst werden. Dies erscheint mir als notwendig, da in der hier dargestellten Untersuchung zum einen von einem möglichen Bedeutungswandel im Sinne einer Frage und zum anderen von einem angenommenen Bedeutungswandel im Sinne einer Hypothese gesprochen wird. Dabei ist dieses Oszillieren zwischen Fragestellung und Hypothese auf den zirkulären Charakter des qualitativen Forschungsprozesses zurückzuführen (Flick, 1998: 59-61), der impliziert, dass der Prozess der Datenerhebung und die Entwicklung einer Fragestellung und Hypothese ineinander übergehen und nicht wie in der quantitativen Forschung im Sinne einer linearen Abfolge zu sehen sind. Demzufolge kristallisierte sich in einem ersten Teil der Untersuchung, der mit der Verteilung des Fragebogens im Zusammenhang steht, als Untersuchungsfrage der Arbeit die Frage nach der Bedeutung von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen in Institutionen islamischer Bildung heraus. Die Frage nach der Bedeutung entwickelte sich im Kontext der Datenerhebung zur weiterführenden Fragestellung, die dann lautete, ob es im Prozess einer institutionalisierten islamischen Bildung bei den Studierenden zu einem Bedeutungswandel von Religion und Religiosität kommt. Diese Fragestellung wiederum führte zur Hypothese der Arbeit, die davon ausgeht, dass es zu einem Bedeutungswandel kommt. Daraus wiederum ergaben sich weitere Fragen, die im Hinblick auf mögliche Ursachen eines Bedeutungswandels gestellt wurden.

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Theoretischer Überbau

Methodische Umsetzung

03/2002

Zeitachse

Islamische Bildung in den Nachfolgestaten der Sowjetunion

05/2002

Fragebogen

Subjektive Elemente

Kultur-bezogene Elemente

Didaktik islamischer Bildung

Ausgangsthematik

03/2003-06/2003

Leitfaden 2

Leitfaden 1

10/2002-12/2002

Interviews (Aufsätze) (Gruppendiskussionen)

Zirkuläre Auswertung

Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bei TeilnehmernInnen islamischer Bildungsinstitutionen

Adaptierte Fragestellung und Hypothese

Interviews

Zirkuläre Auswertung

Externe und interne Mediatoren des Religiös-Werdens bei TeilnehmerInnen islamischer Bildungsinstitutionen

Fragestellung

Islamisches Bildungssystem und Transformationsprozess

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

Abbildung 2: Ablauf der Forschung

EINLEITUNG

Im Kontext weiterführender Überlegungen hinsichtlich möglicher Ursachen eines Bedeutungswandels stellte sich mir im Laufe der Forschung (auch im Zusammenhang mit dem im ersten Kapitel erwähnten Interesse der postsowjetischen Gesellschaften an formalem Wissen über den Islam und an islamischer Bildung) die Frage, inwieweit das Interesse an islamischer Bildung mit „einem allgemeinen Verlust des Glaubens an den Sozialismus als ideologisches System“ (Hann, 2002: 19) zusammenhängt und Religion die Funktion zufällt, ein etwaiges Sinngebungsvakuum zu besetzen. Im Anschluss daran wurden die in unterschiedlichen Institutionen erhobenen Daten im Hinblick auf die Frage analysiert, welche Rolle das jugendliche Alter der interviewten Personen und ihre spezifische vom Prozess der Transformation geprägte gesellschaftliche Situation hinsichtlich eines möglichen Bedeutungswandels der eigenen Religion und Religiosität spielt. Es wurde weiterhin auf der Basis der erhobenen Daten untersucht, ob sich junge Menschen, die von den wirtschaftlichen und sozialpsychologischen Folgen des Transformationsprozesses betroffen sind, von „orthodoxen“ Islamkonzepten angesprochen fühlen, weil diese eventuell zur Gestaltung und Strukturierung eines alternativen Lebensentwurfs beitragen können. Weiterhin wurde gefragt, welche Position das Lehrpersonal in den Prozessen islamischer Bildung einnimmt und welche Aspekte in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden einen möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität unterstützen bzw. verhindern. Es wird dabei angenommen, dass die Bedeutung und ein möglicher Bedeutungswandel sowohl das Ergebnis einer Interaktion der AkteurInnen (SchülerInnen, Studierenden und Lehrpersonen) untereinander als auch Ergebnis von strukturfunktionalen24 Einflüssen durch die jeweiligen Bildungsinstitutionen sind. Die Untersuchung wird als akteursbezogene Institutionenanalyse bezeichnet, da davon ausgegangen wird, dass über die qualitative Untersuchung der einzelnen Akteure auf die jeweilige Institution und deren islamisches Bildungskonzept Rückschlüsse gezogen werden können.

24 Mit strukturfunktionalen Einflüssen durch Bildungsinstitutionen ist gemeint, dass Bildungsinstitutionen wie Schulen und Hochschulen Orte sind, an denen sich pädagogische Prozesse der Erziehung und Bildung realisieren können (Kron, 2001: 284) durch z.B. Lehrmittelausstattung und Räumlichkeiten (Fend, 1980: 2), aber auch durch die Einstellung von ausgewähltem Lehrpersonal.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

3 Der Stand der Forschung Die Frage nach der Rolle des Islams in den heute unabhängigen Staaten der ehemaligen Sowjetunion sei primär mit Blick auf die Rolle der islamischen Bildung zu stellen (Balci, 2004: 2). Sowohl in Aserbaidschan selbst als auch in Europa und Amerika stehe das Thema der islamischen Bildung inzwischen im Fokus des wissenschaftlichen Interesses (Balci, 2004: 2). Balci selbst gibt in seinem Artikel einen ersten Überblick über seine wissenschaftlichen Recherchen in Baku sowie in verschiedenen aserbaidschanischen Regionen. Laut Balci ist die Rolle des Islams im stattfindenden Transformationsprozess des aserbaidschanischen Bildungssystems noch unklar, im Wesentlichen entfaltet sich die Debatte jedoch vor dem Hintergrund der Tätigkeiten der islamischen „missonnaires qui déferlent sur l’Azerbaїdjan depuis son indépendance“” (Balci, 2004: 2). Dabei werde von Teilen der Regierung in der Eingliederung einer islamischen Bildung in das staatliche Bildungssystem eine Chance gesehen, den missionarischen Tätigkeiten in ganz Aserbaidschan entgegenzuwirken. Weiterhin gebe eine Eingliederung in das staatliche Bildungssystem die Möglichkeit einer Kontrolle des islamischen Bildungssektors. Neben den Recherchen von Balci sind es diejenigen von Əskərov25 (Əskərov, 2004), die zum einen große Aktualität besitzen und zum anderen einen direkten Bezug zum Thema der islamischen Bildung in Aserbaidschan nehmen. Ebenso hat Motika in zahlreichen Beiträgen grundlegende Informationen zur Rolle des Islams in Aserbaidschan geliefert und dabei Bezüge zu Fragen der islamischen Bildung hergestellt (Motika, 2001a; Motika, 2004b). Ein prägnanter Überblick zum Stand der islamischen Bildung in Aserbaidschan findet sich auch in einer gemeinsamen Veröffentlichung von Motika und Balci (Balci/Motika, 2007). Erwähnenswert sind weiterhin die Untersuchungen von Hikmət Hacızadə, stellvertretender Leiter des FAR CENTRE (Centre of Economic and Political Research) in Baku, der sich im Zusammenhang mit dem Thema Islam mit Fragen der Menschen- bzw. Minderheitenrechte auseinandersetzt (Hacızadə, 1998) und sich mit der Frage eines liberalen Islams in Aserbaidschan beschäftigt (Hacızadə, 2004). Vor allem die lange Zeit der Erfahrungen, die Aserbaidschan mit dem Säkularismus gemacht hat und die es laut Hacızadə von den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens unterscheidet, hält er für eine gute Ausgangsbasis im Hinblick auf die Etablierung eines liberalen Islams (Hacizadə, 2004: 5). Eine bedeutende Rolle im Zusammenhang mit Islam und 25 Elçin Əskərov war aserbaidschanischer Doktorand des Projekts „Islamische Bildung in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten” und ist heute (2007) der Stellvertreter des Religionsministers in Aserbaidschan.

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EINLEITUNG

islamischer Bildung in Aserbaidschan spielen auch die Arbeiten von Nəriman Qasımoğlu, einem in Aserbaidschan bekannten Orientalisten und muslimischen Intellektuellen, der eine Übersetzung des Korans ins Aserbaidschanische vorgenommen hat und u.a. zu politischen und verfassungsrechtlichen Fragen des Islams und der islamischen Bildung in Aserbaidschan forscht (Qasımoğlu, 2003). Des Weiteren beschäftigt sich noch Altay Göyüşov (Göyüşov, 2005) aus einer historischen Perspektive mit dem Islam und islamischer Bildung in Aserbaidschan. Zu nennen sind auch die Veröffentlichungen von Ingrid Pfluger-Schindlbeck, die sich aus einer ethnologischen Perspektive mit Fragen von Verwandtschaft, Religion und Geschlecht in Aserbaidschan beschäftigen. Die ethnografisch gewonnenen Erkenntnisse ermöglichen dabei Einblicke in das Religionsverständnis der muslimischaserbaidschanischen Bevölkerung auf einer mikrosozialen Ebene (PflugerSchindlbeck, 1998; Pfluger-Schindlbeck, 2005). Islamische Bildung in Baku/Aserbaidschan ist eine Thematik, die im Rahmen des Projekts „Islamische Bildung in den ehemaligen Staaten der Sowjetunion“ zum ersten Mal systematisch untersucht wird. Die vorliegende Studie will dabei vor allem aus erziehungswissenschaftlicher Perspektive einen Beitrag leisten.

4 D e r Au f b a u d e r Ar b e i t Die Arbeit ist in sechs große Kapitel aufgeteilt. Im Anschluss an die Einleitung erfolgt in Kapitel 1.1 ein historischer Rückblick auf die Rolle des Islams und der Bildung im sowjetischen Aserbaidschan. In Zusammenhang mit der Rolle des Islams werden die Säkularisierungsmaßnahmen des sowjetischen Regimes thematisiert (Kapitel I 1.1.1). Dann folgt ein Überblick über Entwicklungen im Bereich der Bildung (Kapitel I 1.2), der vor allem auf die Entstehung einer aserbaidschanischen Intelligentsia und der mit dieser eng verknüpften Reformbewegung des Dschadidismus26 eingeht (Kapitel I 1.2.1). Im Anschluss daran werden die Auswirkungen der Säkularisierungsmaßnahmen und der Bildungsreformen im Hinblick auf eine veränderte Stellung der Frauen dargestellt (Kapitel I 1.2.2). Der historische Rückblick wird dabei als notwendig angesehen, um die Rolle des Islams und der islamischen Bildung in der heutigen Gesellschaft vor allem im Hinblick auf Prozesse der Säkularisierung zu verstehen, die in dieser Arbeit im Kontext der untersuchten Bedeutung und dem angenommenen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität eine wichtige Rolle spielen.

26 Siehe zum Dschadidismus in Kapitel I 1.2.1

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

In Kapitel I 2 wird auf die Situation des Islams und der Bildung im postsowjetischen Aserbaidschan eingegangen. Das Unterkapitel I 2.1 zur Rolle des Islams gliedert sich dabei in drei weitere Teilkapitel, in denen auf den Islam in Zusammenhang mit politischen Entwicklungen (Kapitel I 2.1), auf die Rolle des Islams in der Gesellschaft (Kapitel I 2.1.2) sowie auf Fragen nach dem Verhältnis von Staat und Religion (Kapitel I. 2.1.3) eingegangen wird. Das Unterkapitel zur Rolle der Bildung (Kapitel I 2.2) im postsowjetischen Aserbaidschan beschäftigt sich zum einen mit Fragen zum islamischen Bildungssektor (Kapitel I 2.2.1) sowie zum säkularen Bildungssektor (Kapitel I 2.2.2). Die Darstellung der Situation auch des säkularen Bildungssektors ist insofern wichtig, als sich die Attraktivität des islamischen Bildungssektors unter anderem aus den Problemen des säkularen Bildungssektors erklären lässt. Im Anschluss daran erfolgt ein Exkurs auf die Bildungspolitik der Türkei im postsowjetischen Raum (Kapitel I 2.2.3). Dieser Exkurs wird als wichtig angesehen, da zwei Institutionen islamischer Bildung, die im Kontext der Datenauswertung eine bedeutende Rolle spielen, Resultat dieser Bildungsaktivitäten sind und somit der Exkurs einem besseren Verständnis der Daten, die in diesen Institutionen erhoben wurden, dient. Kapitel II stellt den ersten Teil des analytischen Bezugsrahmens der Arbeit dar, vor dessen Hintergrund die im Kontext der Untersuchung erhobenen Daten analysiert werden. In einem ersten Teil (Kapitel II 1) wird dabei gefragt, wie die Faktoren Transformationsprozess (II 1.1), jugendliches Alter und mögliche Funktionen von Religion (Kapitel II 1.2) sowie Autorität in (religiös-islamischen) Bildungs- und Erziehungsprozessen (Kapitel II 1.3) mit Blick auf die Ursachen eines möglichen Bedeutungswandels von Religion und Religiosität zusammenwirken. Im zweiten Teil des analytischen Bezugsrahmens wird gefragt, ob ein möglicher Bedeutungswandel von Religion und Religiosität als eine Konversion von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion verstanden werden kann (Kapitel II 2). Theoretisch wird dabei im ersten Unterkapitel „aserbaidschanisch-muslimische“ Religion und Religiosität vor dem Hintergrund der im historischen Kapitel dargestellten gesellschaftlichen Entwicklungen als „unsichtbare Religion“ im Sinne des Verständnisses von Luckmann (Luckmann, 1991) definiert (Kapitel II 2.1). Dabei geht es im Wesentlichen darum, islamische Religion und Religiosität in ihrer Bedeutung für die Mehrheit der aserbaidschanischen Bevölkerung als Ausgangspunkt eines möglichen Bedeutungswandels aufzuzeigen (Kapitel II 2.1.1). Zur Darstellung des Bedeutungswandels wird dann im Weiteren auf die theoretischen Überlegungen von Assmann (Assmann, 2004) zurückgegriffen, der Luckmanns Konzept aufge-

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EINLEITUNG

griffen hat und eine mögliche Entwicklung von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion aufzeigt (Kapitel II 2.2). Es wird dabei ein normatives Konstrukt „orthodox“27-islamischer Religion und Religiosität definiert (Kapitel II 2.2.1), um die Frage bzw. die Hypothese des Bedeutungswandels „operationalisierbar“ zu machen (Kapitel II 2.3). In Kapitel III wird die methodische Vorgehensweise bei der Datenerhebung und -auswertung sowie das Sample der Forschung dargelegt. In Kapitel IV erfolgt die Darstellung der ausgewerteten Daten. Kapitel IV besteht dabei aus vier Unterkapiteln (Kapitel IV 1, IV 2, IV 3, IV 4), die sich aus den vier verschiedenen Typen der untersuchten Institutionen islamischer Bildung ergeben. Im Kontext der Auswertung wird sich dabei an folgenden Fragen orientiert: • Wie wird „religiös sein“ (Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität) von den Interviewten in Institutionen islamischer Bildung definiert? • Kann den Institutionen im Anschluss an die Auswertung der Interviews mit den Akteuren ein je spezifisches Religions- und Religiositätsverständnis zugeordnet werden? • Was sind die Ergebnisse der Interaktion zwischen den Lehrkräften und ihrem Islamverständnis mit den Studierenden im Hinblick auf deren Islamverständnis? – Kann Religiosität „anerzogen“ werden, und wenn ja, gibt es im Prozess der islamischen Bildung und Erziehung ausschlaggebende Faktoren für eine Übernahme von einem religiösen Konzept? – Sind die Ursachen für die Übernahme von Islamkonzepten auf der inhaltlichen, persönlichen oder institutionellen Ebene zu suchen? In einem anschließenden Kapitel V werden die Ergebnisse der Arbeit zusammengefasst und diskutiert. Die Fragen, welche Bedeutung Religion und Religiosität für die befragten Personen haben (Kapitel V 1.1), ob und inwiefern sich ein möglicher Bedeutungswandel bei den Studierenden als Wandel von einem aserbaidschanisch-muslimischen Islamkonzept hin zu einem „orthodox“-islamischen Islamkonzept bestimmen lässt und ob dieser als Konversion zu werten ist (Kapitel V 1.2), sollen beantwortet werden. Des Weiteren wird die Frage nach dem Zusammenwirken von Transformation, jugendlichem Alter und Funktionen von Religion sowie von Autorität im Kontext islamischer Bildung und Erziehung vor dem Hintergrund der ausgewerteten Daten beant-

27 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch in Fußnote 14.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

wortet (Kapitel V 1.3). Dabei wird insbesondere auf die Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden und die daraus resultierenden Konsequenzen im Hinblick auf einen möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bei den Studierenden eingegangen (Kapitel V 1.4). Außerdem wird dargestellt, inwiefern sich spezifische Islamkonzeptionen den untersuchten Institutionen zuordnen lassen (Kapitel V 1.5). Im Anschluss daran wird nach möglichen Konsequenzen der untersuchten institutionellen islamischen Bildungsprozesse mit Blick auf die aserbaidschanische Gesellschaft und das Zusammenleben von Menschen mit unterschiedlichen religiösen Orientierungen in dieser gefragt (Kapitel V 1.6).

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II

Islam und islamische Bildung in Aserbaidschan

1 D a s s ow j e t i s c h e As e r b a i d s c h a n 28 1.1 Die Rolle des Islams 1.1.1 Säkularisierungsmaßnahmen Schon mit Beginn der zaristischen Herrschaft Mitte des 18. Jahrhunderts (Johnson, 2004a: 24) kam, neben wirtschaftlichen und sozialen Reformen, ein Prozess der Säkularisierung der islamischen Gesellschaften in Gang, der von den Sowjets im 20. Jahrhundert massiv vorangetrieben wurde.29 Ziel war die

28 Für eine inspirierende Idee im Hinblick auf die Gliederung dieses Kapitels danke ich den Studierenden Sara Beumler und Annegret Knüppel. 29 An dieser Stelle sei erwähnt, dass der Islam bereits im 7. Jahrhundert mit den arabischen Eroberern in die Region kam, sich zu dem damaligen Zeitpunkt aber noch nicht etablieren konnte. Der genaue Ablauf der Islamisierung dieser Region ist bis heute wissenschaftlich nur ansatzweise erforscht worden, es ist aber erwiesen, dass sich im 15. Jahrhundert vom Zentrum des Safawidenordens in Ardabil (Nordwestiran) ausgehend, die schiitische Glaubensvorstellung in der Region verbreitete (Altstadt, 1992: 5). Der junge Ordensführer und spätere Schah Ismail I. (1501-1525) gründete im Jahre 1501 das schiitische Safawidenreich, dass im Jahre 1722 sein Ende fand (Swietochowski, 1995: 2). Die Region des südlichen Kaukasus unterstand in den folgenden Jahrhunderten abwechselnd osmanischer und iranischer Herrschaft. Die iranische Oberherrschaft in Südkaukasien dauerte bis zur Eroberung durch das Zarenreich im 19. Jahrhundert und fand völkerrechtlich ihr Ende mit den Verträgen von Golestan (1813) und Turkomantschai (1828). In den Friedensverträgen von Golestan und Turkomantschai trat der persische Schah zwei Chanate nördlich des Flusses Araxes

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

Säkularisierung der islamischen Gesellschaften hin zu einem „Soviet secularism“ oder zumindest zu einem „westernized Islam“ (Keller, 2001: 72).30 Während die Zaren versuchten, die islamischen Gesellschaften in Richtung einer „Modernisierung“ nach europäischem Vorbild mit bürokratischen Mitteln umzustrukturieren31, scheute das sowjetische Regime nicht vor radikaler Gewalt bei der Durchsetzung seiner Ziele, der Schaffung einer sozialistischen Gesamtgesellschaft bzw. der Errichtung einer „Diktatur des Proletariats“, zurück (Baberowski, 2003: 15). Demzufolge endete eine kurze Phase der Unabhängigkeit in Aserbaidschan von 1918 bis 1920, die mit der Formierung einer Republik einhergegangen war, mit der Eroberung durch die Kommunisten im Jahr 1920. Im Jahr 1922 wurden Aserbaidschan, Armenien und Georgien zur „Transkaukasischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik“ (SFSR) zusammengeschlossen. Erst im Jahr 1936 wurde der Staatenverbund wieder aufgelöst und die drei Teile als eigenständige Unionsrepubliken in die Sowjetunion aufgenommen. In den Jahren nach dem Zusammenschluss zur SFSR bekam Aserbaidschan die Sowjetisierungsmaßnahmen der Kommunisten in Form von antire-

an das russische Reich ab, die sich seit dem späten 18. Jahrhundert quasi selbständig verwaltet hatten (Baberowski, 2003: 28). Somit kam der Kaukasus im Jahr 1785 unter russische Administration (Swietochowski, 1995: 3), bis er im 19. Jahrhundert ganz unter die Oberherrschaft des zaristischen Russlands fiel. Der Vertrag von Turkomantschai, der eine neue Grenze Aserbaidschans entlang des Flusses Araxes zur Folge hatte, wird in Aserbaidschan als „schwarzer Tag“ (Swietochowski, 1995: 7) in der Geschichte gesehen. Mit der neuen Grenze wurden die südlich des Araxes lebenden Aserbaidschaner von denen nördlich der Grenze lebenden getrennt und in unterschiedliche Staatengefüge eingegliedert. Der ursprünglich gleich große Anteil von schiitischer und sunnitischer Bevölkerung im russisch besetzten Aserbaidschan verringerte sich in Folge einer starken Abwanderung von sunnitischen Muslimen, so dass heute die Mehrheit der Bevölkerung schiitisch ist (Baberowski, 2003: 11). 30 Dabei unterschied sich die religiöse Situation in Aserbaidschan zumindest anfänglich von der in den anderen Regionen der ehemaligen Sowjetunion (Göyüşov, 2004: 38). Dieser Unterschied bestand vor allem darin, dass sich in Aserbaidschan in den Jahren 1918-1920 nach dem Ende des Ersten Weltkrieges und mit dem Zerfall des Zarenreiches eine unabhängige Republik formiert hatte, die schon vor sowjetischem Eingreifen zu einer Parallelexistenz von einer unabhängigen Gerichtsbarkeit und von Schariat-Gerichten geführt hatte. 31 Siehe über den Umgang des zarischen Regimes mit der muslimischen Bevölkerung und die „Conference on Islam“ im Jahr 1910 im Beitrag von R. Geraci (Geraci, 1997).

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ISLAM UND ISLAMISCHE BILDUNG IN ASERBAIDSCHAN

ligiösen Kampagnen32, von Kollektivierung und Industrialisierung massiv zu spüren (Altstadt, 1992: xiii). Die Atmosphäre, wie sie in der aserbaidschanischen Gesellschaft in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts geherrscht haben muss, versucht der Historiker Baberowski vorstellbar zu machen, indem er Əli Heydər Qarayev, den damaligen Ersten Sekretär der Aserbaidschanischen Kommunistischen Partei, zitiert. Dieser sagte am 9. März 1929 zu den Delegierten des neunten Parteitages gleichsam als Devise für die Kulturrevolution im sowjetischen Orient: „Der Feind ist überall. Der Feind ist im Kino, im Theater, in den Lehranstalten, in der Literatur, in den Behörden, in der Lebensweise, an allen Ecken und Enden gibt es feindliche Elemente.“ (Baberowski, 2003: 11) Das Zitat verweist auf eindrückliche Weise auf das Bestreben der sowjetischen Machthaber, in ihrem Sinne unbotmäßiges Gedankengut radikal zu bekämpfen. Dies galt insbesondere auch für die Religion. Die Politik der sowjetischen Regierung, die zu Beginn ihrer Machtergreifung noch moderat mit der Religion verfuhr, wurde schon in den 20er Jahren unter Stalin (Swietochowski, 1995: 115) zunehmend rigider. Entgegen der ursprünglichen Ankündigung Lenins in einem Aufruf an alle werktätigen Muslime Russlands und des Orients von 1917, der lautete: „Von jetzt an sind euer Glauben und eure Sitten, eure nationalen und kulturellen Institutionen unantastbar“ (Halbach, 1997: 246), machte sich die sowjetische Führung unter Stalin sehr bald zum Ziel, die Religion gänzlich aus der Gesellschaft zu eliminieren. Die Vorgehensweise war dabei von großer Rigorosität; Swietochowski fasst die Entwicklung der antireligiösen Politik mit Blick auf Aserbaidschan folgendermaßen zusammen (Swietochowski, 1995: 115):

32 Über die Rolle des Islams und der islamischen Bildung in Aserbaidschan vor der Unabhängigkeit war lange Zeit wenig bekannt. Erst mit der Erlangung der Unabhängigkeit und der Zugänglichkeit der Archive wie z.B. der Kommunistischen Partei oder des Archivs des Beauftragten des Sowjets für religiöse Angelegenheiten des Ministerrats der UdSSR wurde es möglich, umfassende Informationen über islamische Bildung in Aserbaidschan zur Zeit der Sowjetunion sowie über die (anti-)religiöse Politik der Sowjets und ihre Folgen zu sammeln. Bei Göyüşov (Göyüşov, 2004: 37) finden sich Verweise auf einige Werke zum Thema der islamischen Bildung, die während der Sowjetzeit oder in den ersten Jahren der Unabhängigkeit erschienen sind. Göyüşov selbst hat Archivmaterialien ausgewertet, und zwar aus dem Archiv der Kommunistischen Partei Aserbaidschans, aus dem Archiv des Beauftragten des Rats für Religiöse Angelegenheiten des Ministerrats der UdSSR sowie aus dem Institut für Handschriften der Nationalen Akademie der Wissenschaften und aus dem Staatlichen Archiv Aserbaidschans.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

„From Native Secularism to Soviet Atheism: [...] secularism was the centrepiece of the Soviet policies toward the peoples whose primary identity remained Islamic, and in Azerbaijan its tradition predated the Bolshevik conquest, reaching back well into the mid-nineteenth century [...] Soviet-sponsored secularism tended to be moderate and did not go beyond such measures of overall modernization, as gradual expropriation of the waqfs, phasing out of the Muslim civil courts and maktabs, or banning the Shahsey-Vahsey [...] The all-out offensive against Islam began only toward the close of 1920s upon the consolidation of Stalin’s personal rule [...] also influenced from the forceful anti-Islamic drive under way in Kemalist Turkey [...]“

In diesem Sinne wurden in Aserbaidschan im Jahr 1923 die religiösen Prozessionen an þÀšÚrÁÿ im Monat Mu½arram33 verboten. Weitere Verbote bezüglich der Trauerrituale im Monat Mu½arram, aber auch die anderen islamischen Feiertage betreffend, sowie einschränkende Maßnahmen hinsichtlich der Pilgerfahrt nach Mekka folgten in den Jahren 1924 und 1926. Ab dem Jahr 1928 erhielt die antireligiöse Politik Moskaus sogar einen militanten Charakter (Bräker, 1989: 142). Im Jahr 1929 wurden religiöse Massenveranstaltungen im Monat Mu½arram auch in Privathäusern verboten und bestraft (Göyüşov, 2004: 39), es wurden in diesem Jahr 400 Moscheen geschlossen. Partei- und Regierungsmitglieder, die sich tolerant beim Kampf gegen die Religion zeigten, wurden als Befürworter des Panislamismus angeklagt (Swietochowski, 1995: 116). Im Zuge von Bestrebungen, religiösen Traditionen entgegenzuwirken, wurden die sog. „Roten Hochzeiten“ (Oktjabrine) und „weltlichen Beerdigungen“ eingeführt. Weiterhin wurde das Verbot des

33 Mu½arram ist der Name des ersten Monats im islamischen Monatskalender. Die Anhänger der schiitischen Glaubensorientierung begehen in diesem Monat ihre Büß- und Trauerrituale anlässlich des Todes von ¼usayn, dem zweiten Sohn von FÁÔima (Tochter des Propheten) und þAlÍ (Schwiegersohn des Propheten), der in der Schlacht bei Kerbela (680) getötet wurde. In der Schlacht bei Kerbela wurde der Streit um die Nachfolgeregelung des Propheten ausgetragen. Sie wurde zugunsten einer dynastischen Nachfolgeregelung und damit zuungunsten einer Nachfolge auf der Basis der blutsmäßigen Abstammung entschieden. „Für die Schiiten ist Kerbela der Dreh- und Angelpunkt ihres Glaubens, Höhepunkt eines göttlichen Heilsplanes, dessen Verheißungen all denen zuteil werden, die auf der Seite des gemarterten Imams Partei ergreifen“ (Halm, 1994: 28). Im Monat Mu½arram, der seinen Höhepunkt in Form des þÀšÚrÁÿ-Rituals hat, das am zehnten Tag (zehn = arab.:þÁšÚrÁÿ) des Monats Mu½arram stattfindet, tun die Schiiten öffentlich Buße für ihre Schuld am Tod ¼usayns: Die Glaubensgefährten ließen ihn in der Schlacht von Kerbela im Stich, so dass er und seine Verwandten qualvoll in ihr umkamen. Durch die Selbstgeißelungen am zehnten Tag des Mu½arram wird den schiitischen Gläubigen ermöglicht, am Leiden von ¼usayn und seiner Familie teilzuhaben, gleichzeitig können sie ihre individuellen Sünden und einen Teil der Kollektivschuld der ŠÍþa büßen (Plessner, 1999).

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ISLAM UND ISLAMISCHE BILDUNG IN ASERBAIDSCHAN

Tschadors in Angriff genommen. Dabei waren für das Tragen des Tschadors34 Zwangsarbeit zwischen einem und drei Monaten und Geldstrafen bis zu 300 Rubel mit Konfiszierung des Tschadors vorgesehen (Göyüşov, 2004: 40). Dem Marxismus-Leninismus stellte sich die Religion mit ihrem Bezug auf das Jenseits und der Zentrierung auf Gott als konkurrierendes Denksystem dar. Im Gegensatz zur Religion vertrat die marxistisch-leninistische Ideologie einen Denkansatz, der den Menschen in den Mittelpunkt stellte und auf das Diesseits bezogen war. Während es in den industriellen, urbanen Zentren Russlands aus unterschiedlichen Gründen relativ rasch zu einer Veränderung der Mentalität der Menschen kam, blieben die Länder der muslimischen Bevölkerung mit Ausnahme der säkularisierten Intelligentsia35 in Baku anfänglich von diesen Prozessen unberührt. Denn auch die Intelligentsia war bemüht, die Gesellschaft in Richtung einer Säkularisierung zu lenken, die „Kraft des Islams“ blieb jedoch in der breiten islamischen Bevölkerung bis in die 20er und 30er des 20. Jahrhunderts ungebrochen. Baberowski beschreibt die Bedeutung der Religion des Islams für die bäuerliche Bevölkerung in Aserbaidschan folgendermaßen: „Das Leben der Bauern stand in der Ordnung des Islam [...] So war es auch in Azerbajdžan [...] Auch in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre übten Mullahs noch ungebrochenen Einfluss aus. Sie sprachen Recht, vor allem in Zivil- und Familienangelegenheiten, unterwiesen Kinder in der Rezitation des Korans, vollzogen Eheschliessungen und Scheidungen. Selbst auf den Ölfeldern von Baku, im Zentrum des aserbajdžanischen Bolschewismus, verrichteten Mullahs ihr religiöses Werk. Die Informationsabteilung des Zentralkomitees in Moskau fand dafür in ihrem Bericht vom Oktober 1925 eine schlichte Erklärung: ,Die transkaukasische Bauernschaft, die kulturell rückständig ist, glaubt noch stark an Gott‘.“ (Baberowski, 2003: 421)

Dieser Glaube sei weniger ein Ausdruck spiritueller Hingabe als vielmehr die Gewährleistung einer sinnvollen Ordnung durch die Alltagsgestaltung durch religiös basierte Traditionen und Riten gewesen (Baberowski, 2003: 420421). In Anbetracht der Konfrontation mit den Lebensstilen der Europäer, Russen und Armenier, die von den Aserbaidschanern als überlegen empfunden wurden, vermittelte die praktizierte Religion zumindest das Gefühl einer moralischen Überlegenheit (Baberowski, 2003: 421). Dazu kam noch ein strukturelles Problem, das mit dem Wesen des Islam als Religion zusammen34 Laut Göyüşov (Göyüşov, 2004: 40) hat es in Aserbaidschan den Tschador als Ganzkörperverschleierung gegeben sowie das Kopftuch, das yaşma, das aber bei den sowjetischen Machthabern keine Priorität gehabt habe. Ihnen sei es vor allem um den Tschador gegangen. 35 Siehe zur Intelligentsia in Kapitel I 1.2.1.

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hängt. Der Islam hat im Unterschied zu den christlichen Kirchen keine vergleichbaren Institutionen. Eine „Gemeinde“ als Institution oder auch das Vorhandensein einer Moschee als Gebetshaus sind keine unbedingten Notwendigkeiten für eine Ausübung des Glaubens. Bräker (Bräker, 1989: 140) spricht in diesem Zusammenhang von dem Islam als einer „Religion der Mindestforderungen“, die außer der Einhaltung der fünf Säulen des Islam keinen unbedingten Anspruch an die Gläubigen stellt. Die Muslime waren aus unterschiedlichen Gründen nicht für das kommunistische Gedankengut agitierbar. Im Gegensatz zu Russland gab es z.B. kein Feudalsystem, das durch den Gegensatz von Adel und Leibeigenen geprägt war. Außerdem wurde die breite Bevölkerung weder von der Industrialisierung noch durch die Erfahrungen des Ersten Weltkriegs beeinflusst, die wesentliche Voraussetzungen in der russischen Bevölkerung zu Kollektivdenken und Agitationsmöglichkeiten schufen, was wiederum die spätere Mobilisierung der Massen im Sinne der kommunistisch-marxistischen Revolution möglich machte.36 Auch das islamische Bildungssystem hatte durch die Existenz der religiösen Stiftungen, der waqfs, eine besondere Struktur. Die Gelder, die die Stiftungen durch die Verpachtung von Land erwirtschafteten, wurden oftmals im Bildungssektor investiert. Daraus ergab sich in den islamischen Gebieten der Sowjetunion eine weitgehende Autonomie des Bildungssektors, der sich unabhängig finanzierte und verwaltete. Im Rahmen der Kollektivierung von Landbesitz, die mit Stalin einsetzte, fand jedoch das Stiftungswesen und damit auch der autonome islamische Bildungssektor ein Ende (Johnson, 2004a: 29). Die Stiftungen wurden aufgelöst und gingen in Staatsbesitz über. Durch den Zusammenbruch des islamischen Bildungssektors, der eine gleichsam in sich geschlossene Denkweise produziert hatte, fiel ein wesentlicher Faktor weg, der zuvor die gedankliche Autonomie der Muslime ausgemacht und den Zugriff durch kommunistisches Gedankengut verhindert hatte. Die Säkularisierung des Bildungswesens war eines der elementaren sowjetischen Ziele. Die Strategie war dabei die flächendeckende Einführung des sowjetischen Schulsystems und die Schließung der religiösen Schulen bzw. der Kampf gegen die religiösen Führer in Person der Mullas und ihren Koranschulen sowie deren Ersetzung durch im sowjetischen Bildungssystem ausgebildete Lehrer (Keller, 2001: 72). Teil des kommunistischen Planes war die Umstrukturierung aller alten islamischen Sektoren und der Aufbau von alternativen Sektoren. Doch wurden die muslimischen Gebiete durch die Rote 36 So arbeiteten muslimische Erdölarbeiter nur saisonweise auf den Ölfeldern und blieben weiterhin in die soziokulturellen Strukturen der aserbaidschanischen Landbevölkerung eingebunden.

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Armee zwar erobert, es stellte sich jedoch bald das Problem der Verwaltung dieser Gebiete und dabei vor allem die Personalfrage als grundlegend dar (Johnson, 2004a: 29). Allein aufgrund der großen Vielfalt an Sprachen in den einzelnen Gebieten und dem Fehlen einer Lingua Franca erschien der Aufbau einer Verwaltung in den nicht-russischsprachigen Regionen in kurzer Zeit mangels Personal unmöglich. So war z.B. für den Bildungssektor kein Personal verfügbar. Bis neues Personal aus den eroberten islamischen Gebieten im Sinne der Kommunisten im sowjetischen System ausgebildet worden war, entstand deshalb ein als komplementär zu bezeichnender Sektor, in den Mullas eingestellt wurden, die zumindest lesen und schreiben konnten (Johnson, 2004a: 29). In den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, die auch die Zeit des „Großen Terrors“ genannt wurden (Baberowski, 2003: 753), kam es im Zuge der Umstrukturierung der Machtverhältnisse nach der Übernahme der Führung durch Stalin zu Massenhinrichtungen. Ebenso wie z.B. auch Nationalkommunisten wurden die muslimischen Gelehrten entweder in die Verbannung geschickt oder liquidiert (Bräker, 1989: 135). Einzig der Sufismus konnte sich den Repressionen entziehen, da er aufgrund seiner Organisationsstruktur nicht auf Moscheen oder andere Gebäude angewiesen war und man sich somit unbemerkt zu religiösen Ritualen in privaten Gebäuden zusammenfinden konnte (Bräker, 1989: 134). Laut Bräker wurde der Sufismus in der sowjetischen Terminologie deswegen auch als „Parallel-Islam“37 bezeichnet. Auch die

37 Hinter dem Begriff des „Parallel-Islams“ steht vor allem auch in der nichtsowjetischen Literatur die Frage zur Rolle des Islams in den muslimischen Regionen zur Zeit der sowjetischen Herrschaft. Mit Blick auf einen religiösen Bereich, der alle Aktivitäten außerhalb der offiziellen religiösen Strukturen umfasst, wird in der nicht-sowjetischen Literatur von einem „inoffiziellen Islam“, „informellen Islam“, „Schattenislam“ oder eben „Parallel-Islam“ gesprochen (Krämer, 2002: 75). Dabei gibt es viele Unklarheiten bei der Verwendung von Begriffen und Konzepten, wenn z.B. statuiert wird, dass „im inoffiziellen Islam vor allem Vorstellungen des Volksglaubens lebendig seien, aber auch viele Sufis und manche ,Wahhabiten‘ unter seinen geistlichen Vertretern zu finden sind“ (Krämer, 2002: 75). Krämer kommt in ihrer Arbeit zu dem Schluss, dass nicht so sehr von einem „Parallel-Islam“ als mehr von einem „inoffiziellen Islam“ gesprochen werden kann, der die fortlaufende Einhaltung der Lebenszyklusrituale, Heilriten, Pilgerwesen, Sufimus, religiös-moralischer Unterweisung sowie radikalere, auch politisch orientierte Bewegungen umfasst (Krämer, 2002: 80). Dabei sei dieser Islam „Ausdruck eines Arrangements der Bevölkerung mit einem politischen System, das offiziell den Atheismus propagierte“ (Krämer, 2002: 81), gewesen. Damit grenzt sie sich von dem insbesondere von A. Bennigsen und C. Lemercier-Quelquejay (Bennigsen/Lemercier-Quelquejay, 1980) eingebrachten Schlagwort des „Parallel-Islam“ ab, das in vielen Publikationen aufgegriffen wurde und und dessen theoretische Inhalte lange Zeit den Diskurs im

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schiitische Glaubensgemeinschaft war durch das Prinzip der taqiyya38 schwerer angreifbar. Wo Übergriffe stattfanden, z.B. auf bekannte Scheichs, die sich aufgrund ihres Bekanntheitsgrades den Kommunisten nicht entziehen konnten, wurden diese legitimiert, indem die Verhafteten oder Verbannten einer anti-sozialistischen Haltung bezichtigt wurden. Dieser Vorwurf wurde von den Kommunisten mit dem Argument begründet, dass die Religionsgelehrten mit ihrer geistigen Tätigkeit und spirituellen Arbeit das sozialistische Ideal der Produktivität durch körperliche Arbeit konterkarierten. Trotzdem unterschätzten die Kommunisten die „Kraft“ der Scheichs, da ihr Ansehen in der Bevölkerung erhalten blieb, gemäß der Vorstellung, dass die Segenskraft – baraka – von dem Vater auf den Sohn übergeht. Auch die durch die Kommunisten nicht zu verhindernde Fortführung des Heiligengräberkultes steht symptomatisch für die erfolglosen Versuche der Kommunisten, Formen von Spiritualität in der Bevölkerung zu eliminieren. Der Verlust der formalen islamischen Bildung in diesen Gebieten führte im Gegenteil zu einer Zunahme von „magischen“ Praktiken und somit bahnte sich das emotionale Bedürfnis der Menschen nach Spiritualität einen neuen Weg. Durch die anhaltenden Repressionen, Massenmorde, die stetige Ungewissheit, die Zwangskollektivierungen und die damit verbundenen Hungersnöte kam es zu einem Wandel der Sozialstruktur und der Psyche innerhalb der Bevölkerung. Die alten sozialen Strukturen der muslimischen Gebiete wurden zerstört und mit ihnen veränderten sich die Denkweisen der Menschen. Vor allem auch mit dem Ende der autonomen Bildungsstrukturen im Jahre 1928 (Bräker, 1989: 141)39 begann ein Prozess der Veränderung der Mentalität der Muslime durch das gedankliche Eindringen einer fremden Ideologie über ein neu strukturiertes Bildungswesen nach sowjetischen Vorstellungen. Gleichzeitig legten die Repressionen den Grundstein für das Entstehen eines aserbaidschanischen Nationalismus innerhalb der Intelligentsia (Baberowski, 2003: 37), in dem die muslimische Identität ein wichtiger Faktor nationaler Selbstdefinition40 werden sollte und der im Kontext der Erlangung der Unabhängigkeit im Jahr 1991 eine wichtige Rolle zu spielen begann.

Hinblick auf die Rolle des Islam in den muslimischen Regionen der Sowjetunion maßgeblich bestimmten. 38 Taqiyya ist eine Praxis im schiitischen Recht, die eigene religiöse Gesinnung im Falle einer drohenden Verfolgung geheim zu halten. 39 Siehe auch zum Thema „Breaking Islam“ in S. Keller (Keller, 2001). 40 Die muslimische Identität als ein wichtiger Faktor nationaler Selbstdefinition spielte auch im Hinblick auf eine Abgrenzung zu Russen und Armeniern eine Rolle. Deren stärkere Anpassung an die Vorgaben des sowjetischen Regimes und eine daraus resultierende Überlegenheit gegenüber der aseri-ethnischen Be-

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1.1.2 Entspannung der antireligiösen Politik Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs veränderte sich die Einstellung der sowjetischen Führung gegenüber Religion und religiösen Organisationen grundlegend. Zuerst wurde die russisch-orthodoxe Kirche anerkannt. Dann versuchte man auch die Muslime enger an die staatlichen Autoritäten zu binden. Die vier geistlichen Verwaltungen, das Muftiyat für die Muslime Mittelasiens und Kasachstans in Taschkent, das Muftiyat für das europäische Russland und Sibirien in Ufa, das Muftiyat für den Nordkaukasus in Buinaksk41 sowie das Muftiyat für den Transkaukasus in Baku wurden wieder zugelassen (Bräker, 1989: 135). Deren Hauptaufgaben bestanden darin, die Anträge der islamischen Gemeinden für die Eröffnung von Moscheen und Gebetshäusern zu prüfen, Imame zu registrieren und die Hadsch (½aºº) zu organisieren, die jedoch nur sehr sporadisch und unter Beteiligung einer geringen Anzahl von Gläubigen stattfand. Fast alle Muftiyate konnten sich der Nationalsprachen bedienen und eine begrenzte Anzahl von religiösen Zeitungen herausgeben. Die Wiedereinrichtung der vier „Geistlichen Verwaltungen der Muslime“ in den Jahren 1942 und 1943 (Ro'i, 2000: 104) diente u.a. dem Ziel, in den islamischen Republiken des sowjetischen Reiches alle Kräfte im Krieg gegen Deutschland zu mobilisieren (Bräker, 1989: 140; Ro'i, 2000: 103). Mit dem Ende des Krieges versuchte Moskau die neu gegründeten Institutionen im Sinne von Kontrollinstanzen auch zum eigenen Nutzen zu modifizieren, doch erwies sich die eingeschlagene Richtung als unumkehrbar. Die zum Teil aus der Verbannung zurückgeholten Scheichs ließen sich nicht wie geplant als willfährige Instrumente zur Durchsetzung sowjetischer Ziele einsetzen (Bräker, 1989: 142). Um die Macht im Kaukasus und in Zentralasien sicherzustellen, wurde eine Politik des massiven „social engineering“ begonnnen. Durch eine Förderung von Entwicklungsmaßnahmen auf sozialem, bildungspolitischem und wirtschaftlichem Gebiet kam es zu einem Bildungsaufstieg der einheimischen Volksgruppen. In diesem Zusammenhang senkte das sowjetische Regime die Analphabetenquote, die unter der zaristischen Herrschaft bei 95 Prozent lag, stark und erhöhte den Lebensstandard der islamischen Sowjetrepubliken gegenüber den islamischen Nachbarländern wie Iran und Irak, Türkei und Afghanistan deutlich. Durch diese Maßnahmen sollte eine Integration der islamischen Völker gewährleistet werden und somit auf Umwegen eine „Auslöschung des religiösen Bewusstseins erreicht werden“

völkerung wirkt im kulturellen Gedächtnis der Aserbaidschaner bis heute weiter (Baberowski, 2003: 37). 41 1974 wurde das Muftiyat von Buinaksk in die Hauptstadt von Dagestan, Machatschkala, verlagert (Ro'i, 2000: 100).

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(Bräker, 1989: 142). Eine Vermischung der Volksgruppen mit einhergehender Russifizierung war geplant. Durch den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg der muslimischen Bevölkerungsgruppen kam es zu einem Zuwachs an Selbstbewusstsein innerhalb der muslimischen Bevölkerung, der aber nicht mit einer wachsenden Integration in das Sowjetreich einherging. Zum Teil kam es zu einer „friedlichen bzw. befriedeten Koexistenz“ zwischen dem sowjetischen Staat und den islamischen Gelehrten (Pfluger-Schindlbeck, 2005: 106), zum Teil jedoch kam es auch zu Konfrontationen des so genannten ,offiziellen Islams‘ (institutionalisierten Islams) (Bräker, 1989: 143) mit der „nicht-islamischen“ Kultur, wie Bräker im folgenden Zitat darlegt: „Er [der institutionalisierte Islam, Anm. C. H.-K.] verstand sich zwar nicht mehr, wie in den zwanziger und dreißiger Jahren, in absoluter Gegnerschaft zur Sowjetideologie, aber er führte, die Lehren des Sozialismus‘ auch nicht mehr auf Marx, Engels und Lenin, sondern auf den Propheten Muhammad zurück [...] er [der institutionalisierte Islam, Anm. C. H.-K.] leitete den Kommunismus [...] aus dem Koran [ab].“ (Bräker, 1989: 143)

Diese Entwicklung hatte in zweierlei Hinsicht Konsequenzen. Zum einen wurde durch das Bekenntnis zu „sozialistisch-islamischen“ Prinzipien der Islam von dem Makel des „Nicht-modern-Seins“ befreit (Bräker, 1989: 143; Ro'i, 2004: 104), zum anderen wurde die eigene Solidargemeinschaft immer wichtiger, um sich gegenüber den als „fremd“ empfundenen Einflüssen abzugrenzen und eine eigene Identität zu entwickeln. Ein Bewusstsein, zu einem eigenen Kulturraum zu gehören, und zwar zu dem der islamischen Völker in Abgrenzung zum russisch-europäischen Kulturkreis, formierte sich. Dieser Weg war auch durch die Nationalitätenpolitik Stalins bereitet worden. Bei dem nun entstehenden Nationalismus spielte der Islam eine wichtige, identitätsstiftende Rolle, und zwar weniger als „Religion“, denn als religiös begründete „Kultur“.

1.2 Die Bildung 1.1.3 Intelligentsia und und Dschadidismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts wurde Baku das Zentrum eines weltweiten Ölhandels. Der Ölboom brachte zumindest für die Hauptstadt Baku nachhaltige Veränderungen mit sich. Die nach Baku kommenden Europäer führten europäische Denk- und Verhaltenspraktiken in die Gesellschaft ein und lebten der ethnischen Aseri-Bevölkerung zeitgenössische europäische Werte und einen europäischen Lebensstil vor. Neben den europäischen Geschäftsleuten kamen, angezogen durch die Möglichkeiten des Ölgeschäftes, 36

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auch armenische und russische Kaufleute in die Stadt, die dadurch eine multiethnische Atmosphäre erhielt und deren Struktur sich dadurch grundlegend veränderte (Altstadt, 1997: 111). Die Resultate der sog. „Öl-Revolution“ für die allgemeine Wirtschaft waren gering, der einzig florierende Wirtschaftszweig blieb das Öl (Swietochowski, 1995: 20). Es entstand ein starkes StadtLand-Gefälle, der Anteil am Ölreichtum der von den Russen als „Tataren“ bezeichneten türkischsprachigen aserbaidschanischen Bevölkerung war gering. Nur 18 Prozent der Industrieanlangen und Unternehmen gehörten ethnischen Aseri-Türken (Swietochowski, 1995: 2) und machten die „[...] Muslime [...] [zu den] Verlierer[n] dieses Wandlungsprozesses. Im Ölgeschäft erlagen sie sukzessive der Konkurrenz erfolgreicher Zuwanderer.“ (Baberowski, 2003: 46)42, 43 Zur gleichen Zeit bildete sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in Aserbaidschan eine kleine, aber dynamische Intelligentsia, die sich von europäischem Gedankengut ebenso wie von den Ideen des Panislamismus und des Panturkismus44 inspirieren ließ. In der Intelligentsia verbanden sich traditionelle islamische Elemente mit modernen europäischen bzw. russischen Anteilen (Swietochowski, 1995: 20). Das Entstehen der Intelligentsia war wesentlich mitverantwortlich für die Veränderungen innerhalb der aserbaidschanischen Gesellschaft, ihr Wirkungskreis ging allerdings weit über die eigene Gesellschaft hinaus und erstreckte sich auf die gesamte turksprachige Welt 42 Einer der wenigen einheimischen Profiteure des Ölbooms ist Hacı Zeynülabiddin Taqiyev, ein muslimischer Unternehmer, der einen Großteil der kaspischen Handelsflotte besaß, mehr als eintausend Arbeiter in der größten Textilfabrik der Stadt beschäftigte und über ein immenses Ölvorkommen verfügte. Baberowski zufolge habe Taqiyev im „[...] innermuslimischen Klientelwesen die Stellung eines Patrons eingenommen, der die Interessen der türkischen Gemeinschaft im Verband der Ölindustriellen, in der Stadtduma und bei den Petersburger Ministerien mit großem Geschick vertrat“ (Baberowski, 2003: 47). Taqiyev versorgte die muslimische Gemeinde mit finanziellen Zuwendungen und stiftete, selbst ein Analphabet, Gelder zur Unterstützung von muslimischen Studierenden, finanzierte nach 1905 die ersten volkspädagogischen Aktivitäten wohltätiger Gesellschaften und ermöglichte die Existenz von Zeitungen, die der Intelligentsia als Sprachrohr dienten. Bekannt in Baku ist er bis heute vor allem für die Gelder, mit denen er die Gründung des ersten muslimischen Mädchengymnasiums ermöglichte sowie den Bau eines Theaters und eines Opernhauses finanzierte (Baberowski, 2003: 47; Heyat, 2002: 74). 43 Man kann sagen, dass die Zeit des Ölbooms im kulturellen Gedächtnis der Aserbaidschaner bis heute fortwirkt und eine wichtige Rolle im Kontext der nationalen Selbstdefinition spielt. Laut Altstadt (Altstadt, 1997: 111) hat diese Zeit den Aserbaidschanern einen vorhandenen Reichtum ihres Landes gezeigt, dessen (angenommene) Reproduzierbarkeit bis heute in der Vorstellung der aserbaidschanischen Bevölkerung weiter besteht. 44 Siehe zur Idee des Panturkismus in Fußnote 47.

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(Altstadt, 1992: 51). Die Intelligentsia setzte sich aus Lehrern, Ärzten und Journalisten sowie Literaten, Theaterschreibern und Komponisten zusammen. Bedeutende Vertreter, denen noch heute in Aserbaidschan größte Anerkennung von Seiten der Bevölkerung zuteil wird, sind Mīrzā Fat½ þAlÍ A¿ÚndzÁde (1812-1878), der für seine Theaterstücke berühmt wurde, der Komponist Üzeyir Hacıbəyli (1864-1941) und der Lehrer, Arzt und Theaterstückeschreiber Nəriman Nərimanov (1870-1925). Mīrzā Fat½ þAlÍ A¿ÚndzÁde war eine der herausragenden Figuren innerhalb der Intelligentsia. Er war Angestellter des russischen Vizekönigs im Kaukasus und wurde berühmt für seine im europäischen Stil verfassten Theaterstücke. Als sog. „tatarischer Molière“ oder „Molière des Orients“ schrieb er zeitkritische Stücke, in denen er die Ungebildetheit und den Aberglauben der zeitgenössischen aserbaidschanischen Gesellschaft angriff: „His plays were often biting satires of traditional morals and mullahs.“ (Altstadt, 1992: 52) Laut Swietochowski (Swietochowski, 1995: 27) können A¿ÚndzÁdes Ideen als exemplarisch für die Ziele der Intelligentsia gesehen werden, seine später auch vehementere Formen annehmende Gesellschaftskritik zielte auf eine Modernisierung der Gesellschaft hin zu einer Säkularisierung. Weiterhin kann die Person des A¿ÚndzÁde auch als der maßgebliche Wegbereiter eines modernen Nationalismus in Aserbaidschan gesehen werden (Swietochowski, 1995: 27), da er bei der Frage nach der Selbstbehauptung Aserbaidschans als religiöse Gemeinschaft oder als Nation den nationalen Faktor stärkte, indem er z.B. seine Theaterstücke auf Aseri-Türkisch45 schrieb, obwohl die dominierende Kultursprache der südkaukasischen Muslime das Persische war (Altstadt, 1992: 70; Baberowski, 2003). Die Intelligentsia war der Wegbereiter für die Verbreitung von modernen europäischen Ideen innerhalb der aserbaidschanischen Bevölkerung. Intellektuelle mit einer klassischen islamischen Ausbildung wurden innerhalb der Intelligentsia nicht akzeptiert (Swietochowski, 1995: 25), außer sie bekannten sich ebenfalls zu den von der Intelligentsia vertretenen reformerischen Ideen im Erziehungswesen. Diese reformerischen Ideen hatten zum Ziel, die Zwistigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten aufzuheben, die Verschleierung der Frau und die Polygamie zu beenden sowie die Einführung der Schulmethoden des Dschadidismus zu gewährleisten (Altstadt, 1997: 112; Heyat, 2002: 66). Der sog. Dschadidismus entstand in den islamischen Gebieten der Krim, der Wolga-Region und Aserbaidschan und wird allgemein als „islamische Re-

45 Baberowski (Baberowski, 2003: 41) bezeichnet die von A¿ÚndzÁde benutzte Sprache als „turksprachigen Bauerndialekt“.

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formbewegung“ bezeichnet (Lazzerini, 1989a: 35).46 Ursprünglicher Ausgangspunkt der Reformbewegung war eine Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der traditionellen (qədim) islamischen Bildung und den zaristischen Bildungsbestrebungen gewesen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert zur „,new education‘ (jadidi) [...]“ (Johnson, 2004a: 27), zur bedeutendsten Bildungsreformbewegung führte. Der Dschadidismus wirkte aber über die genannten Gebiete hinaus in die anderen islamischen Regionen des russischen Reichs bis nach Indien und Ägypten (Altstadt, 1992: 55). Das Programm der „neuen Methoden“ (uÈÚl-i ºadÍd), das von dem Krimtartaren ÏsmÁþÍl Gaspralï (1851-1914)47 formuliert wurde, zielte ursprünglich auf eine Reform der Mektep48-Schulen durch eine Ergänzung mit weltlichen Unterrichtsfächern sowie auf die Einführung einer „phonetic method for teaching reading“ (Altstadt, 1992: 55). In Baku wurde in den Jahren 1906 und 1907 ein Komitee gegründet, das diese Reformen durchführen sollte. Diesem Komitee saß u.a. der schon erwähnte Lehrer, Arzt und Theaterschreiber Nəriman Nərimanov vor (siehe zu Nərimanov auch bei Baberowski, 2003: 225ff.). Hintergrund der angestrebten Veränderungen im Bildungswesen war die Vorstellung einer Reform der islamischen Bildungseinrichtungen durch eine Ergänzung mit weltlichen Fächern, die auch das Studium der aserbaidschanisch-türkischen Sprache und Literatur umfassen und damit zu einer Nationalisierung der Bildung führen sollte. Gleichzeitig 46 Über den Dschadidismus in Auseinandersetzung mit dem russischen Kolonialimus siehe den Beitrag von A. Khalid (Khalid, 1997). 47 ÏsmÁþÍl Gaspralï war die wohl bedeutendste Figur im Kontext der Einführung des Reformprogrammes des Dschadidismus. Ausgehend von der Tatsache, dass die islamischen Länder ihre wirtschaftlichen und sozialen Interessen gegenüber den Ländern des Westens nicht durchsetzen konnten und in ihrer Entwicklung hinter diesen zurückfielen, machte er sich zum Ziel, die Gründe für dafür aufzudecken. Sowohl die Ursachen für fehlende Modernisierung als auch die dafür notwendigen Reformen sah er im Zusammenhang mit dem Islam. Er forderte hinsichtlich einer Neubestimmung der eigenen Geschichte die Einführung von Methoden, von rationalen Denkstrukturen sowie einen reflexiven Umgang mit historischen Quellen. Weiterhin sprach er sich für eine kritische Auseinandersetzung mit den wirtschaftlichen und sozialen Entwicklungen und dabei auch mit den europäischen Geschäftsleuten aus und forderte von Wolga- und Krimtataren sowie von Aserbaidschanern ein persönliches Einbringen in der Konfrontation mit den russischen Machthabern (Lazzerini, 1989b: 43). ÏsmÁþÍl Gaspralï war weiterhin der Begründer der Zeitung Tarºuman im Jahr 1883, die für eine kulturelle Vereinigung aller Turkvölker eintrat (Swietochowski, 1995: 32). Durch eine einheitliche Sprache, so die Annahme von Gaspralï, würden die turksprachigen Muslime miteinander vereinigt werden. Demgemäß lautete die Parole der Pantürkisten: „Dilde, Fikirde, İşde Birlik“ (Einheit in Sprache, im Glauben und im Handeln) (Baberowski, 2003: 53). 48 Siehe dazu auch Fußnote 6.

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sollte den Auszubildenden ein Changieren zwischen ihrem traditionellen islamischen Herkunftsmilieu und der europäischen Welt ermöglicht werden: „Instead of having to choose between Europe and Asia, education would allow the Azerbaijani Turks of future generations to draw from, contribute to, and participate in both civilizations [...] The reform program of 1907 was aimed at preparing Azerbaijani children for life in the twentieth century without forcing them to sacrifice their intimacy with their own cultural heritage or their identity.“ (Altstadt, 1992: 56)

Ein bedeutendes Instrument bei der Verbreitung der Ideen der Intelligentsia war die aserbaidschanisch-türksprachige Presse. Als erste turksprachige Zeitung Transkaukasiens erschien 1875 (bis 1877) Əqinçi („Der Säher“), die von dem Bakuer Lehrer Həsən Bəy Zərdabi (1832-1907) herausgegeben wurde. In ihr wurden im Wesentlichen antiklerikale, europäisch orientierte Aufklärungskonzepte, die den Ideen der russischen Narodniki49 folgten, verbreitet. Als Studierender der Mathematik an der Moskauer Universität war Zərdabi mit dieser Programmatik in Berührung gekommen. Əqindçi erschien in einer vereinfachten türkischen Syntax und konnte dadurch von muslimischen Intellektuellen in ganz Transkausien verstanden werden. Das Unterfangen, die Bildungsangebote unter die Bevölkerung zu tragen, blieb allerdings auf die Metropolen Transkaukasiens, Baku und Tiflis beschränkt; die einfachen Bauern konnten durch die Zeitung nicht erreicht werden (Altstadt, 1992: 52; Baberowski, 2003: 52). In dieser Zeit entstand auch die Satirezeitschrift namens Molla Nəsrəddin, in der u.a. eine antireligiöse Gesellschaftskritik zum Ausdruck gebracht wurde. Herausgeber der einflussreichen Zeitung, die ebenfalls über den aserbaidschanischen Raum hinaus von den Muslimen der turksprachigen Welt sowie im Iran gelesen wurde, waren Cəlil Məmmədqulizadə (1866-1932) und Mirzə Ələkbər Sabir (1862-1911) (Heyat, 2002: 68). Der Islam wurde von A¿ÚndzÁde wie von der gesamten Intelligentsia als Hindernis auf dem Weg zur Aufklärung der Gesellschaft gesehen, das ein „Lernen“ der Menschen und aufgrund der Zwistigkeiten zwischen Sunniten und Schiiten eine Einheit der aserbaidschanischen Gesellschaft verhinderte. Der Schleier der Frau wurde als Symbol ihrer Unterdrückung gewertet, als Ausdruck ihrer erzwungenen Absonderung von der Gesellschaft sowie ihres Analphabetentums (Altstadt, 1992: 54). Trotz des radikalen Antiklerikalismus der Intelligentsia, wie er im Molla Nəsrəddin zum Ausdruck kam, und dem 49 Narodniki (von russ.: „narod“ = Volk): Unzulänglich übersetzbar mit „Volksfreunde“, „Populisten“. Seit den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts eine politische Richtung in der (russischen) Intelligentsia mit dem Ziel, unter Fortentwicklung der bäuerlichen Traditionen in Rußland (Mir) eine neue, nichtkapitalistische Gesellschaft zu errichten (Lemberg, 1992: 46).

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Ruf nach einer Reform der islamischen Gesellschaften kam es jedoch nie zu einer massenhaften Abwendung von der Religion. Als Inbegriff einer gemeinsamen und verbindenden kulturellen sowie moralischen Basis behielt der Islam auch innerhalb der Intelligentsia einen wichtigen Stellenwert: „The secular intelligentsia never attacked religion, despite a long tradition of anticlericalism represented by Akhundzade in the nineteenth century and Molla Nasreddin in the twentieth. Writing after the revolution, Narimanov remarked on the sensitivity of religion and the socialists’ policy adjustments. Even the Hümmet50 dated its leaflets by the Islamic calender, illustrating the diversity of both secular and religious leadership.“ (Altstadt, 1992: 61)

Orientierte sich die erste Generation der Intelligentsia politisch noch in Richtung des Iran, so fand die zweite Generation der Intelligentsia ihr Vorbild in der Tanzimat51-Bewegung im Osmanischen Reich und knüpfte im Rahmen der aserbaidschanischen Identitätssuche an die turksprachige Welt an. Diese Richtungsänderung stand im Zusammenhang mit einer von muslimischen Intellektuellen in der islamischen Welt allgemein wahrgenommenen NichtAkzeptanz von Seiten der europäischen Welt. Der Umdenkungsprozess vieler muslimischer Intellektueller führte auch zu einer geistigen Neuorientierung innerhalb der aserbaidschanischen Intelligentsia der zweiten Generation, die versuchte, Türkentum (Nationalität) und Islam (Religion) mit Demokratisierungsbestrebungen (im Sinne von Europäisierung) zu verwirklichen. Die Mitglieder der späteren aserbaidschanischen Intelligentsia sahen darin ihr neues Ziel; der Publizist Əli Hüseyinzadə formuliert den Slogan: „Türkləşmək, İslamlaşmak, Avrupalılaşmak: to be inspired by the Turkish way of life, to worship God in accordance with the Muslim religion, and to adopt presentday European civilization“ (Altstadt, 1992: 70). Die Intelligentsia erreichte einen Höhepunkt ihres politischen Einflusses in den Jahren vor der russischen Revolution und war auch der Motor der kurzen Periode der Unabhängigkeit Aserbaidschans von 1918-1920. Der Slogan 50 Himmət war ein 1904 ins Leben gerufener Kreis von jungen Intellektuellen mit bourgoisem Hintergrund, die gemeinsam den Sozialismus studieren wollten (Heyat, 2002: 53). 51 Der Begriff „Tanzimat“ steht ursprünglich für ein Gesetz, das im Osmanischen Reich verabschiedet wurde (1839 das erste Tanzimat-Edikt und 1856 das zweite). Tanzimat heißt übersetzt „Neuordnung“ und der unter diesem Namen verabschiedete gesetzliche Erlass versprach allen Untertanen die Sicherheit von Leben, Besitz und Ehre. In diesem Rahmen wurde die Beziehung der Herrschenden zu den staatstragenden Schichten neu geregelt. Im zweiten Edikt wurden die Privilegien der Muslime aufgehoben und die Gleichheit aller männlichen Untertanen vor dem Gesetz ausgerufen (Faroqhi, 2000: 95 und 117).

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von Hüseyinzadə bestimmte sinngemäß auch die politischen Handlungsmaximen des damaligen jungen unabhängigen Aserbaidschan, seine Worte fanden sich als Trikolore auf der Fahne der unabhängigen Republik Aserbaidschan wieder. Auch in den 30er Jahren spielte die Intelligentsia noch eine Rolle. Ihre wichtigsten Ziele, die Reform der Sprache und Bildung, die Entstehung einer Presse, die Betonung der Bedeutung der Kunst als soziales und politisches Reflektionsmoment sowie die Fragen der Identität konnten aber erst nach dem Tod von Stalin verwirklicht werden (Altstadt, 1992: 51).

1.1.4 „Emanzipation“ der Frauen Am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Forderung nach dem Recht der muslimischen Frau auf Ausbildung sowie die Fragen der Verschleierung und der Frauenrechte in zahlreichen literarischen Werken, Gedichten und Theaterstücken aufgegriffen (Heyat, 2002: 66). Auch die Vertreter der Bewegung des Dschadidismus traten für die Ausbildung und Aufklärung der Frauen ein und erklärten die Emanzipation der muslimischen Frau zum wichtigen Faktor für den wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Fortschritt der muslimischen Gesellschaften. Rorlich zufolge machten die Dschadidisten die Frauenfrage zu einem „cause célèbre“ (Rorlich, 2000: 144), den sie dazu instrumentalisierten, Fragen der nationalen Identität zu artikulieren. Tatsächlich sahen sie die Rolle der Frau vor allem im Kontext der Verwirklichung von islamischen Norm- und Wertvorstellungen: So forderten sie Bildung und Aufklärung der Frauen vor allem vor dem Hintergrund ihrer Rolle als Mütter und Erzieherinnen und nicht bezüglich einer gleichberechtigten Partizipation in allen Lebensbereichen (Heyat, 2002: 58).52 Intellektuelle wie der Theaterschreiber A¿ÚndzÁde oder die Herausgeber der Zeitschrift Molla Nəsrəddin, Cəlil Məmmədqulizadə und Mirzə Ələkbər Sabir, machten sich in der Gesellschaft für ihre Ausbildung und „Entschleierung“ stark. Sie kritisier-

52 Allerdings schreibt Rorlich weiterhin: „In the case of the Muslims of the Russian empire, one of the most interesting byproducts of the renewal from within articulated through the jadid reform movement was the fact that women who were at first objects of reform initiated by enlightened Muslim intellectuals and community leaders, very soon became their partners or, to be more correct, were successful in winning recognition as partners.“ (Rorlich, 2000: 145) A. A. Rorlich geht in ihrem Beitrag mit dem Titel „Intersecting Discourses in the Press of the Muslims of Crimea, Middle Volga/Causasus: The Woman Question and the Nation“ auf dieses „Selbsttätig-Werden“ der muslimischen Frauen im Rahmen der von der Intelligentsia und den Jadidisten angestoßenen Frauenfrage am Beispiel ihrer Beiträge in drei muslimischen Zeitungen bis zur Revolution von 1917 ein.

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ten Verschleierung, Polygamie und die Absonderung der Frauen aus dem gesellschaftlichen Leben (Heyat, 2002: 68). Es sei allerdings ein weit verbreiteter Irrtum, so Heyat (Heyat, 2002: 58), dass die Befreiung der Frau vom Schleier und die Möglichkeit einer Ausbildung zum ersten Mal durch das kommunistische Regime gegeben war. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hätten viele Familien der aserbaidschanischen Oberschicht ihre Töchter in Institutionen höherer Bildung nach Tiflis geschickt. In diesen Familien sei eine angemessene Ausbildung sowie die NichtVerschleierung der Töchter lange vor den reformerischen Maßnahmen der Kommunisten in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts normal gewesen (Heyat, 2002: 57). Das aber galt nicht für die Mehrheit der aserbaidschanischen weiblichen Bevölkerung: „In nineteenth-century Russian Azerbaijan literacy was not considered a female prerogative. Although a minority of girls did attend mollakhane (traditional Islamic school) where reading the Koran was taught only by female mullahs, the great majority remained totally illiterate. The exception to this were the families of the nobility and the former khans, some of whose daughters received tuition at home in Arabic and Persian, the literary languages of the region.“ (Heyat, 2002: 66)

Die nicht der adligen Oberschicht angehörenden Frauen lebten in großen Familienverbänden, in denen sie zum Gehorsam gegenüber dem Vater und Bruder sowie später dem Ehemann verpflichtet waren (Heyat, 2002: 59; Rorlich, 2000: 144). Nach islamischer Tradition war eine Trennung der Geschlechter im öffentlichen Bereich normal, der Schleier durfte im privaten Bereich nur vor den Verwandten ersten Grades abgelegt werden.53 Art und Ausmaß der Verschleierung variierten je nach Region stark voneinander und waren in den Städten, vor allem in Baku, häufiger anzutreffen (Heyat, 2002: 57). Weitere gesellschaftliche Veränderungen wurden durch den Ölboom in Baku angestoßen und führten in der Folge zu bedeutsamen Neuerungen in der ersten unabhängigen Republik Aserbaidschan in den Jahren von 1918 bis 1920. In ihr wurden den Frauen die vollen politischen Rechte sowie die Bürgerrechte gewährt. In den 1880er Jahren wurde die erste Schule für muslimische Frauen eröffnet (Heyat, 2002: 66). Der Millionär und „Menschenfreund“ Hacı Zeynülabiddin Taqiyev, der es als einer der wenigen ethnischen Aseri geschafft hatte, ein Vermögen zu machen, schrieb zu Beginn der 90er Jahre an Zar Alexander III. mit der Bitte um die Erlaubnis zur Eröffnung einer muslimischen

53 Bei Heyat finden sich weiterführende Hinweise auf russischsprachige Literatur zum Thema Frauen und ihre Lebenswelt im Kaukasus.

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Mädchenschule, die aber abgewiesen wurde (Heyat, 2002: 67). Erst mit der Krönung von Nikolai II. und einem erneuten Petitionsschreiben an diesen, zusammen mit Taqiyevs Geschenk für dessen Frau Alexandra Fiodorovnai, wurde die Erlaubnis im Jahr 1896 erteilt. Die Schule öffnete im September des Jahres 1901 mit einer Schülerzahl von 58 Mädchen, davon kamen 55 aus einem sozial schwachen Milieu und konnten gebührenfrei studieren. Die erste muslimische Mädchenschule in Baku rief in der Bevölkerung heftige Reaktionen hervor. „In the year before the opening, anticipating strong local opposition, Taghiev had sent a number of emissaries to religious centres such as Maşad und Karbala to seek written permission from religious authorities attesting that the school would not contravene Islamic rules or tradition. Nevertheless when the school opened there was turmoil in the city and strong opposition was voiced in the mosques. This culminated in attacks in the streets on women who wore high-heeled shoes or were inadequately veiled, and intimidation and violence against families who had sent their girls to this school.“ (Heyat, 2002: 67)

Erst durch ein persönliches Telegramm der Zarin, in dem sie der Schule ihre Glückwünsche aussprach und ihr ihren Segen erteilte, konnte die Öffentlichkeit besänftigt werden. In den folgenden Jahren wurden noch zwei weitere Schulen für muslimische Mädchen eröffnet. Im Vergleich zu den Bemühungen um die Emanzipation der Frau von Seiten einiger fortschrittlicher Muslime sowie aserbaidschanischer Intellektueller waren die Reformen der Kommunisten ungleich radikaler. 1927 kam es zu dem „Hüccum“ (Angriff), der Kampagne zur Emanzipierung der muslimischen Frauen innerhalb der UDSSR, in deren Rahmen am 8. März 1928 eine Verbrennung der Schleier in der Öffentlichkeit erfolgte (Swietochowski, 1995: 115-117). „[...] what had begun in the late nineteenth century in Azerbaijan as a reformist call by jadidists for the emancipation of women turned into a torrent of militant mass action in the 1920s under a revolutionary government. The practice of unveiling and education for girls, already established among the industrial bourgeoisie and the intellectual elite, was now a nationwide priority for the Soviet authorities. The great masses of Azeri women, illiterate and house-bound, were urged to step out, to become builders of a technologically advanced modern world run along the principles of socialism.“ (Heyat, 2002: 80)

Laut Rorlich (Rorlich, 2000: 144) instrumentalisierten die Dschadidisten die Frauenfrage zu einem Forum der Fragen nach der nationalen Identität. In diesem Sinne erklärt auch Baberowksi (Baberowski, 2003: 448), dass es den Kommunisten bei den Bestrebungen zur Befreiung der Frau weder in der eigenen Gesellschaft noch in den islamischen um eine „echte“ Emanzipation 44

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gegangen war. Genauso wie sie in der russischen Gesellschaft die Frauenfrage mit der Einführung der sozialistischen Form des Wirtschaftens als gelöst ansahen, hätten sie in den islamischen Gesellschaften die Frauenfrage als Mittel eingesetzt, um gegen die vorherrschende Gesellschaftsordnung vorzugehen: „Eigentlich galt der Feminismus den Bolschewiki nicht viel [...] Im sowjetischen Orient aber diente der Feminismus den Bolschewiki als mächtige Waffe im Kampf gegen die islamische Gesellschaftsordnung.“ (Baberowski, 2003: 448) „In der bolschewistischen Führung galt die Emanzipation der Frau als Schlüssel, der den Zutritt zur abgeschlossenen islamischen Gesellschaft eröffnete. Nur wer das weibliche Geschlecht für sich gewann, konnte auf die Erziehung und religiöse Unterweisung einwirken, die in den Händen von Frauen lagen.“ (Baberowski, 2003: 450)

2 D a s p o s t s ow j e t i s c h e As e r b a i d s c h a n 2.1 Die Rolle des Islams 2.1.1 Islam und Politik Im Laufe der Entspannung der antireligiösen Politik nach dem Zweiten Weltkrieg kam es, ausgehend von den Siegen der islamischen Kräfte in Afghanistan und Iran, zu einer Veränderung des Zeitgeistes und es erfolgte zwischen den 70er und 80er Jahren ein „Wiederaufleben“ der Religion, das durch die Perestroika einen weiteren Aufschwung erhielt (Johnson, 2004a: 32). Die liberalisierte Beziehung zwischen dem sowjetischen Staat und den religiösen Gemeinschaften zeigte sich unter anderem darin, dass religiöse Bildung wieder erlaubt war. Dies löste einen regelrechten „islamischen Boom“ aus, ausländische islamische Emissäre konnten ihre Tätigkeiten entfalten, religiöse Zeitungen und Zeitschriften entstanden und diverse Bildungseinrichtungen wurden neu gegründet. Es wurden viele neue Moscheen gebaut, finanziert durch Spenden aus dem islamischen Ausland. Das politische Klima in Aserbaidschan war zu diesem Zeitpunkt bestimmt von einer militanten Auseinandersetzung zwischen Aserbaidschan und Armenien, in deren Mittelpunkt Gebietsstreitigkeiten standen. Deutlich mitbedingt durch den sog. Berg-Karabach-Konflikt54 kam es in Aserbaidschan schon im 54 Im Jahre 1988 kam es dabei zum Ausbruch eines Krieges zwischen Aserbaidschan und Armenien. Die militärischen Auseinandersetzungen haben seitdem über 18.000 Tote und eine Million Flüchtlinge auf beiden Seiten gefordert, eine Tatsache, die auch negative Konsequenzen für die wirtschaftliche und politische Entwicklung Aserbaidschans hat. 17 Prozent des ehemals aserbaidschanischen

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Jahre 1988 zu einer Veränderung der religiösen Situation des Landes (Əskərov, 2004: 5). Hintergrund war die einseitige Politik der sowjetischen Zentralregierung, die mit ihrer Unterstützung vor allem der armenischen Seite große Unzufriedenheit in der Bevölkerung hervorrief und dadurch bewirkte, dass der zunehmend sich vergrößernde Abstand zur sowjetischen Macht eine Neubewertung der eigenen Geschichte anstieß (Əskərov, 2004: 5). Diese Neubewertung verlief in Richtung einer „Wiedergeburt des Islams“ (Əskərov, 2004: 5; Motika, 2005: 78), der damit zu einem der wichtigsten Bestandteile der kulturellen Identität des aserbaidschanischen Volkes wurde. Schon 1989, also zwei Jahre vor der Unabhängigkeit, wurde dabei in Aserbaidschan die erste religiöse Organisation „Tövbə“ (Reue) gegründet (Əskərov, 2004: 5). Ein zunehmendes öffentliches Interesse am Islam führte dazu, dass in den Medien (Presse und Fernsehen) islamische Themen aufgegriffen wurden. Broschüren und Bücher über den Islam, über islamische Rituale und Gebete stießen in der Bevölkerung auf ein großes Interesse (Əskərov, 2004: 5). Im Jahr 1990 kamen vor allem religiöse Aktivisten aus dem Iran nach Aserbaidschan, die in den ersten Jahren nach der Unabhängigkeit eine Monopolstellung auf dem islamischen Bildungssektor einnahmen (Əskərov, 2004: 5). Die aserbaidschanische Regierung verhielt sich dabei dem Iran und seiner versuchten Einflussnahme gegenüber sehr zurückhaltend; zur Zeit der Regierung der Volksfront in den Jahren 1992 und 1993 in Aserbaidschan wurde der Iran sogar zum „Hauptfeind“ der Unabhängigkeitsbestrebungen des Landes erklärt. Trotzdem reisten zahlreiche junge Aserbaidschaner in den Iran und erhielten dort von Beginn bis Mitte der 90er Jahre mit finanzieller Unterstützung auf iranischer Seite eine religiöse Ausbildung. Im gleichen Zeitraum wurden mit finanzieller Unterstützung der iranischen Regierung 22 Medresen in Baku und Umgebung gegründet, von denen jede ungefähr 200 Studierende aufnehmen konnte (Əskərov, 2004: 6). Die Folge davon war, dass in zahlreichen aserbaidschanischen Gemeinden religiöse Autoritäten aus dem Iran das Sagen hatten. Auch die 1991 gegründete islamische Partei Aserbaidschans erhielt finanzielle Unterstützung durch den Iran. Erst mit dem Jahr 1996 nahm der Einfluss durch den Iran wieder ab. Aufgrund der regen Aktivitäten des Irans auf dem religiösen Sektor blieb dabei der zunehmende Einfluss der Türkei zuerst unbemerkt. In den Jahren 1992 und 1993 wurde dieser jedoch sichtbar. Auf politischer Ebene ging der zunehmende Einfluss der Türkei im politischen und religiösen Leben Aserbaidschans mit einer pro-türkischen

Territoriums stehen heute unter armenischer Kontrolle. Siehe zu ausführlichen Informationen über historische Hintergründe des Berg-Karabach-Konfliktes aus unterschiedlichen Perspektiven in U. Halbach und A. Kappeler (Halbacher/Kappeler, 1995).

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Haltung der an die Macht gekommenen Volksfront zusammen, die diesen stark förderte, um einen Gegenpol zur iranischen Einflussnahme aufzubauen. Zur Zeit der Volksfront wurden demzufolge z.B. im Fernsehen religiöse, türkische Lehrprogramme gesendet, was auf Seiten der schiitischen Bevölkerung jedoch auf eine starke Ablehnung stieß, da die türkischen Programme von sunnitischen Glaubensvorstellungen geprägt waren. Trotzdem wurde von Seiten der Regierung geduldet, dass z.B. der Attaché der türkischen Botschaft offen antischiitische Propaganda durchführte, indem er sunnitisch geprägte Literatur in den Moscheen verteilte (Əskərov, 2004: 7). Wie vormals in den Iran reisten nun Hunderte von jungen Aserbaidschanern mit Unterstützung der türkischen Regierung zum Studium in die Türkei. Vertreter unterschiedlicher Glaubensgemeinschaften wie die Anhänger des Said Nursi und die Anhänger des Fetullah Gülen55 sowie verschiedener sufischer Stiftungen, deren gemeinsamer Ausgangspunkt die Türkei ist, nahmen nun auf dem religiösen Bildungssektor in Aserbaidschan ihre Tätigkeit auf (Əskərov, 2004: 7). Außerdem wurden im Rahmen der Zusammenarbeit zwischen Aserbaidschan und der Türkei fünf türkische İmam-Hatip-Schulen56 gegründet (Əskərov, 2004: 7). Weiterhin etablierte das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten in Kooperation mit dem aserbaidschanischen Staat eine theologische Fakultät. Türkischer Einfluss wurde außerdem im nördlichen und westlichen Aserbaidschan sichtbar. Neben der iranischen und türkischen Einflussnahme wurden im Jahr 1993 zusätzlich arabische Organisationen in Aserbaidschan gegründet, deren Repräsentanten sowohl im Bereich der humanitären Hilfe57 als auch auf dem religiösen Sektor tätig wurden, oftmals wurden die Aktivitäten in den beiden Feldern miteinander verbunden (Əskərov, 2004: 7). Auf politischer Ebene wurden die arabischen Organisationen vor allem aufgrund der wirtschaftlichen Notlage geduldet, in der sich das Land auch aufgrund der großen Zahl von Flüchtlingen befindet, die im Anschluss an die Annektion der Region BergKarabach in das Zentrum des Landes migrierten. Vor diesem Hintergrund wurden die humanitären Aktivitäten von Seiten Saudi-Arabiens von der aserbaidschanischen Regierung willkommen geheißen und die von den arabischen Organisation parallel dazu vorgenommenen religiösen Aktivitäten in Kauf genommen (Əskərov, 2004: 7). Am aktivsten waren und sind dabei die salafi55 Siehe dazu weitere Ausführungen in Kapitel I 2.2.3. 56 Siehe zu weiteren Informationen zum Bildungskonzept der İmam-HatipSchulen allgemein und speziell zur İmam-Hatip-Schule in Baku in Kapitel IV 2 in dieser Arbeit. 57 Dabei vor allem in den Flüchtlingslagern, die als Folge der Vertreibung und Abwanderung von Aserbaidschanern aus der Berg-Karabach-Region entstanden sind.

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tischen („wahhabitischen“) religiösen Aktivisten, deren aktueller Führer nicht nur eine charismatische Erscheinung ist, sondern obwohl selbst arabischer Herkunft, perfekt Russisch spricht (Əskərov, 2004: 7) und dabei geholfen hat, den sog. „Wahhabismus“ zu einer der stärksten religiösen Richtungen in Aserbaidschan zu machen. Außerdem kehrten inzwischen die ersten Geistlichen, die als Aserbaidschaner eine Ausbildung im Ausland erhalten hatten, ins Land zurück und ersetzten die ausländischen Geistlichen. Im Zuge dessen wird heute die größte salafitische („wahhabitische“) Gemeinde der Abu-Bakr-Moschee in Baku von einem Aserbaidschaner geführt, der seine Ausbildung an der MedizinischIslamischen Fakultät in Medina erhalten hat. Mit Ende des Jahres 2002 gab es in Aserbaidschan 65 Moscheen, die von arabischer Seite finanziert worden sind, vier dieser Moscheen befinden sich in Baku.

2.1.2 Islam und Gesellschaft Zur Stellung des Islam innerhalb der aserbaidschanischen Gesellschaft und den Konsequenzen der sowjetischen Vorherrschaft ist festzuhalten, dass der Islam „[...] as a religion, [...] clearly suffered from the repression and atmosphere of terror“, als „way of life“ blieb er bestehen (Swietochowski, 1995: 117). Konkret bedeutet dies, dass zwar die religiös fundierten Bräuche und Traditionen, wie sie bei Beschneidungen, Hochzeiten und Beerdigungen sowie in den Besuchen von Heiligengräbern (ziyarətgah)58 deutlich werden,

58 Der Begriff „ziyarətgah“ findet seinen Ursprung in der arabischen Bezeichnung „zÁÿir“ (Besucher) und ist von jeher eine schiitische Glaubenspraxis (Momen, 1985: 182). Momen erklärt das damit, dass die Pilgerreise nach Mekka für viele schiitische Bewohner des Irak und Iran lange Zeit aufgrund von finanziellen Gründen und wegen der Gefahren der langen Reise nicht durchführbar gewesen ist. Deswegen hat sich die religiöse Tradition in der schiitischen Glaubensgemeinschaft etabliert, die Schreine bzw. Gräber der Imame als zur Pilgerreise vergleichbare Aktivität aufzusuchen. Im Kontext der Pilgerfahrten zu Heiligen und ihren Gräbern wird angenommen, dass der Heilige die Fähigkeit besitzt, Gebete und Fürbitten weiterzuleiten (Habib/Zapletin, 1999: 8). Auch in Aserbaidschan gibt es mehrere bedeutende Pilgerstätten, die bei der Mehrheit der muslimischen Bevölkerung hohe Verehrung genießen (siehe auch PflugerSchindlbeck, 2005: 125-141) und denen eine große spirituelle Macht zugeschrieben wird. So schreibt z.B. der in Aserbaidschan bekannte Orientalist und Dekan der Islamisch-Theologischen Fakultät der Staatsuniversität Baku Hacı Vasım Məmədəliyev in einer in Aserbaidschan erhältlichen Broschüre zur heiligen Person des Mirmövsum Ağa (dessen Grab eine der am häufigsten besuchten Pilgerstätten in Aserbaidschan ist), dass dieser wie andere sayyids (Ehrbezeichnung/Titel für einen Nachkommen der Familie des Propheten Muhammad) auch als „linkage between us and him [God]“ dienen würde und das die Chance „er-

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erhalten geblieben sind, jedoch der sichtbare Ausdruck einer („orthodoxen“59) islamischen Identität, die Einhaltung der fünf Säulen des Islam, abgesehen von der Religiösen Pflichtabgabe, ins Abseits geraten ist (Dragadze, 1994: 155; Swietochowski, 1995: 117). Dies lag vor allem darin begründet, dass es zu Sowjetzeiten vielfach als zu gefährlich angesehen wurde, grundlegendes Wissen und religiöse Praktiken an die jüngere Generation weiterzugeben, mit dem Ergebnis, dass die Mehrzahl der Heranwachsenden nicht in der Lage war zu sagen, ob sie Schiiten oder Sunniten waren (Swietochowski, 1995: 117), und auch sonst kein formales Wissen über die islamische Religion mehr vorhanden war und – mit Einschränkungen – immer noch nicht ist. Auch wenn die institutionalisierte, offizielle Seite der Religion wegfiel, blieb die emotionale Verbundenheit mit der islamischen Religion erhalten. Man könnte mit Heyat (Heyat, 2002: 106) sagen, dass die Sowjetzeit mit ihren Repressionen gegen die islamische Religion dazu führte, dass die im sowjetisch-säkularen Bildungssystem ausgebildeten und erzogenen Muslime „atheistic minds“ und „religious hearts“ besaßen und in dieser Polarisierung mehrheitlich heute immer noch besitzen. Laut einer soziologischen Studie, die Tair Faradov als Mitarbeiter vom „International Center for Social Research“ in Baku durchgeführt hat, beläuft sich die Zahl derjenigen, die sich als „believers“ ansehen, auf 63 Prozent, und die Zahl derjenigen, die sich als „firm believers“ bezeichnen, auf 6,7 Prozent (Faradov, 2001: 28). Dieses Ergebnis stimmt mit den Angaben von Motika überein, der die muslimischen Aserbaidschaner in „aktiv“ und „passiv“ Gläubige einteilt60: Während sich letztere als Muslime bezeichnen, im Alltag jedoch (außer anlässlich von Begräbnissen und Hochzeiten sowie Pilgerfahrten) hört“ zu werden größer sei, wenn das Gebet und die Bitten über seine Person an Gott gerichtet werden (Habib/Zapletin, 1999: 8). Die Besuche von Heiligengräbern werden von den Sunniten als unislamische Praxis eigentlich abgelehnt (Momen, 1985: 181). Ganz allgemein ist die „Heiligenverehrung“ jedoch ein verbreitetes islamisches Phänomen, das zwar von muslimischen Religionsgelehrten „ohne große Begeisterung“ (Heine, 1991a: 20) gesehen wird, aber in vielen islamischen Ländern den jeweiligen lokalen und regionalen Traditionen entsprechend praktiziert wird: „Man muss daher bei der Heiligenverehrung im Islam von einem universalen Phänomen sprechen [...] Islamische Modernisten und Reformer haben aus religiösen und politischen Gründen versucht, gegen die Heiligenverehrung vorzugehen. Sie sahen in ihr einen Angriff auf den islamischen Monotheismus und damit den größten Verstoß gegen die Doktrin des Islams [...] Dennoch war die Heiligenverehrung zu stark, als dass sie [...] hätte in Gefahr gebracht werden können.“ (Heine, 1991a: 20) 59 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch Fußnote 14. 60 Wobei meiner Meinung nach „aktiv“ Gläubige mit den „firm believers“ und „passiv“ Gläubige mit den „believers“ gleichgesetzt werden können.

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religiöse Rituale kaum einhalten, geben 6,3 Prozent der Bevölkerung an, als „aktiv“ Gläubige den Islam zu praktizieren (Motika, 2001b: 113). Zugenommen hat die Zahl derjenigen, die an den Trauerriten anlässlich des Mu½arram, vor allem am Tag þÀšÚrÁÿ, wie auch am Fastenmonat Rama±Án teilnehmen (Motika, 2005: 79). Die Zahl derjenigen, die angeben zu fasten, beläuft sich dabei auf 28,6 Prozent (Faradov, 2001: 28). Insgesamt spielt der Islam jedoch nur als ein Faktor oder als eine „Teilidentität“ (Motika, 2001b: 113) eine Rolle. Dies ist so zu verstehen, dass der Islam, wie schon erwähnt, eine wichtige Rolle im Kontext einer auch nationalen Selbstdefinition als Muslime darstellt und man sich dadurch zu anderen (nicht-muslimischen) Nationen wie Russland oder Armenien abgrenzen kann. Es muss allerdings unterschieden werden zwischen einer Selbstzuschreibung als Muslim oder auch muslimischer Aserbaidschaner und einer dezidiert religiösen Selbstdefinition im Sinne der Ausrichtung des Alltags nach den islamischen Glaubensvorschriften. Die Mehrheit der muslimischen Aserbaidschaner gestaltet ihren Alltag nicht im Sinne der islamischen Glaubensvorschriften, und in den Gesprächen und Interviews, die ich führte, wurde von allen Personen deutlich zwischen einer Religiosität bzw. einem „Religiös-Sein“ im Sinne der Einhaltung der Glaubensvorschriften (dindar) und einem „Glauben an Gott“ bzw. „gläubig sein“ (imanlı) unterschieden. Die Konsequenzen der vielfältigen Angebote islamischer Bildung für die religiöse Entwicklung im Land sind nicht absehbar; zumindest aber lässt sich sagen, dass seit der Unabhängigkeit von 1991 eine differenzierte religiöse Landschaft in Aserbaidschan entstanden ist. Bis heute kommt allerdings nur eine Minderheit der Bevölkerung mit einer Form der islamischen Bildung in Berührung. Meinen eigenen Beobachtungen zufolge lässt sich ein Interesse an Religion vor allem bei der Generation der 15- bis 30-Jährigen konstatieren. Die im Rahmen der in der Feldforschung geführten Gespräche über Religion und Religiosität auch in den weltlichen Bildungseinrichtungen verselbständigten sich häufig zu lebhaften Diskussionen unter den Studierenden, die zeigten, dass die islamische Religion ein Thema ist, mit dem sich viele der Studierenden schon auseinandergesetzt haben. Zum Teil fanden sich Studierende der weltlichen Bildungseinrichtungen in den zu Forschungszwecken aufgesuchten salafitischen („wahhabitischen“) und schiitischen Moscheen wieder. Ebenso wurde während der Diskussionen um Glaubensfragen wie Beten, Fasten oder dem Tragen muslimischer Kleidung anhand der Argumentationen deutlich, dass einige bereits in irgendeiner Form Kontakt mit islamischer Bildung gehabt haben. Je nachdem, mit welcher Form der islamischen Bildung die Studierenden in Berührung gekommen sind, vertraten sie Argumente, die mir bereits aus den Gesprächen mit religiösen Vertretern der sunnitischen bzw. schiitischen Glaubensrichtung vertraut waren. Das Thema „Sunniten und Schiiten“ und eventuelle Spannungen zwischen den beiden islamischen Rich50

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tungen waren dabei tabuisiert und konnten erst thematisiert werden, nachdem ein Vertrauensverhältnis entstanden war. Dann aber wurde deutlich, dass trotz einer fehlenden islamischen Breitenbildung und eines allgemein geringen Wissens über Unterschiede der beiden Glaubensrichtungen viele Aserbaidschaner um ihre Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Richtung wissen. Obwohl es bis heute im alltäglichen Zusammenleben der Menschen noch zu keinen ernstzunehmenden religiösen Spannungen gekommen ist, zeigt sich in den Daten der Forschung, dass es zum Teil bei den Gruppen derjenigen, die an einer bestimmten Form der islamischen Bildung partizipieren, zumindest auf der verbalen Ebene zu einer ablehnenden und auch abfälligen Haltung gegenüber anderen islamischen Glaubensrichtungen kommt. Zusammenfassend kann man hinsichtlich der Rolle des Islams in der aserbaidschanischen Gesellschaft zwischen verschiedenen religiösen Polen differenzieren. Den einen Pol stellt das mehrheitlich von einem emotionalen und spirituellen, von religiösen Traditionen geprägte Religionsverständnis der aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung dar und den anderen Pol bilden die „orthodoxen“ Islamkonzeptionen verschiedener Provenienz der islamischen Emissäre. Doch geben die beiden Pole kein vollständiges Erscheinungsbild des Islams in der aserbaidschanischen Gesellschaft ab. Denn abgesehen von dem Einfluss der islamischen Emissäre auf die Gesellschaft lassen sich innerhalb der aserbaidschanischen Gesellschaft nochmals fünf verschiedene Ebenen unterscheiden (Motika, 2001b: 116ff.). Obwohl diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung mit Ausnahme der Ebene zwei keine bedeutende Rolle spielen, sollen sie um der Vollständigkeit willen kurz dargestellt werden. Die fünf Ebenen des Erscheinungsbilds lassen sich unterscheiden in (1) das „Qafqazya Müsülmanlar İdarəsi“ („Geistliche Verwaltung der Muslime Kaukasiens“), in (2) die Ebene der „Volksreligiosität“, die mit dem von mir vorher definierten Pol der aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung und deren Religionsverständnis gleichzusetzen wäre, (3) die selbsterklärten Mullas oder Religionsführer, (4) die Islamische Partei Aserbaidschans und (5) die muslimischen Intellektuellen. Zu (1): Die „Geistliche Verwaltung der Muslime Kaukasiens“, die nach dem Vorbild der russisch-orthodoxen Kirche gegründet wurde, stammt noch aus der sowjetischen Zeit. Obwohl sie nicht den Status einer staatlichen Organisation hat, ist sie von staatlicher Seite als Leitung aller Muslime im Kaukasus anerkannt und mit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vergleichbar (Motika, 2005: 79). Auf ihre Funktionen und Aufgaben in der aserbaidschanischen Gesellschaft wird im folgenden Kapitel I 2.1.3 eingegangen werden. Zu (2): Die Ebene der Volksreligiosität, auf deren Darstellung weiter oben bereits eingegangen wurde und die in der vorliegenden Arbeit als Religionsverständnis der aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung charakteri51

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siert wird61, spielt eine wesentliche Rolle bei der Frage nach den finanziellen Ressourcen, da – durch die großen Ströme von Pilgern in die Heiligenschreine – deren religiöse Leiter viel Geld verdienen und dementsprechend ein Interesse an deren Aufrechterhaltung haben. Zu (3): Die selbsternannten und Religionsführer dagegen sind vehemente Gegner der Schreine. Zu (4): Die Islamische Partei von Aserbaidschan ist seit 1992 offiziell registriert. Sie ist stark durch den Iran beeinflusst. Obwohl sich ihre Anhängerzahl auf ca. 20000 bis 70000 beläuft, leidet die Partei darunter, keine Anhänger aus der Mittelschicht Aserbaidschans zu haben. Zu (5): Die intellektuellen Muslime Aserbaidschans können als sog. islamische Modernisten charakterisiert werden (Motika, 2001b: 119). Sie akzeptieren die säkulare Gesellschaftsordnung und treten für die Demokratie ein. Außerdem interpretieren sie die wichtigsten Quellen des Islam (Koran und Leben des Propheten) vor dem Hintergrund einer modernen Gesellschaftsordnung. Die Vertreter der fünf Ebenen in Aserbaidschan versuchen, zwischen Schiiten und Sunniten Einvernehmen zu schaffen. Gemeinsames Ziel der Vertreter der genannten fünf Ebenen ist es zu versuchen, „a national Azerbaijani brand of Islam“ zu kreieren. Das geschieht dadurch, dass versucht wird, Differenzen zwischen Schiiten und Sunniten klein zu halten und gemeinsam gegen die islamischen Emissäre vorzugehen. Dabei wird eine friedliche Koexistenz der beiden unterschiedlichen religiösen Orientierungen sowie deren Zusammenkommen in einem nationalen, in erster Linier aserbaidschanisch definierten Islamverständnis angestrebt (Motika, 2001b: 117). Dies steht, wie bereits mehrfach thematisch angeschnitten wurde, im Gegensatz zu den Bestrebungen der islamischen Emissäre, die mehr oder weniger gezielt die Islamkonzeptionen ihrer Herkunftsländer über das islamische Bildungssystem in die aserbaidschanische Gesellschaft transportieren. Dabei gibt es eine Art Wettbewerb zwischen den islamischen Emissären aus dem schiitischen Iran und der sunnitischen Türkei. Am effektivsten auf dem Feld der religiösen Erziehung arbeiten halboffizielle türkische Organisationen wie der Diyanet Vakfı62, der wie schon erwähnt u.a. eine Islamisch-Theologische Fakultät und mehrere Oberschulen eröffnete, die nach dem Vorbild der türkischen İmam-Hatip-Schulen arbeiten. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass das „Einvernehmen“ des sunnitischen und schiitischen Islams in Aserbaidschan zumindest bis heute eines seiner Hauptmerkmale ist. Ein weiteres besonderes Merkmal stellt die Ausgrenzung des Islams aus der aserbaidschanischen Gesellschaftsordnung 61 Siehe dazu auch unter Kapitel II 2.1, dem analytischen Bezugsrahmen der Arbeit. 62 Siehe dazu in Kapitel I 2.1.3.

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dar, die säkularisiert ist und in der der Islam keine offizielle strukturgebende Funktion hat. Allerdings besteht aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen im Kontext der Transformation bzw. bei deren weiterem Absinken die Gefahr, dass ein „politischer“ Islam auf fruchtbaren Boden fallen könnte (Motika, 2001b: 122).

2.1.3 Staat und Religion Der untergeordnete Stellenwert, den der Islam in Aserbaidschan im Vergleich zu einem islamischen Land wie dem Iran einnimmt, drückt sich auch in der Verfassung des Landes aus. Aserbaidschan ist heute ein säkulares Land mit einer laizistischen Verfassung. In dieser wird in Artikel 7.1 festgehalten, dass Aserbaidschan ein säkularer Staat ist, durch Artikel 18 wird die Trennung von Staat und Religion, die Gleichheit aller Religionen vor dem Gesetz sowie der säkulare Charakter des Erziehungswesen betont und in Artikel 25 die prinzipielle Religionsfreiheit für alle Bürger erklärt und ein Diskriminierungsverbot ausgesprochen. In Artikel 48 (Gewissensfreiheit) wird die Religionsfreiheit für Individuen und Gruppen statuiert (Motika, 2005: 82). Es existiert in rechtlicher Hinsicht keine Privilegierung einer Religion, auch nicht des Islams. Weiterhin ist laut Gesetz die Religionsfreiheit aller garantiert, auch das Recht, keine Religion zu wählen. Der Staat darf sich nach Artikel 5 des Religionsgesetzes nicht in die Angelegenheiten von religiösen Organisationen einmischen, ebenso darf er diese nicht zu Erfüllung von staatlichen Aufgaben heranziehen (Motika, 2005: 84). Eingeschränkt werden missionarische Tätigkeiten durch Artikel 1 des Religionsgesetzes, das religiöse Propaganda durch Ausländer untersagt. In der Praxis kommt es jedoch zu Überschreitungen der rechtlichen Bestimmungen vor allem durch missionarische Aktivitäten der „nicht-traditionellen“ Religionen wie durch die islamischen Emissäre aus Saudi-Arabien (Salafiten/ „Wahhabiten“) und der Türkei (Nurcus bzw. Anhänger des Said Nursi) (Motika, 2005: 84) sowie durch protestantische Sekten, christliche Bahai und Hare-Krishna-Anhänger. So kommt es z.B. dazu, dass missionarisch tätige Organisationen ihre religiösen Aktivitäten mit humanitären Hilfsangeboten verbinden und dies vom Staat nicht unterbunden wird. Obwohl keine Privilegierung von einer Religion vorgesehen ist und auch die Religionsfreiheit verfassungsmäßig garantiert ist, müssen sich alle religiösen Gruppen durch ein staatliches „Komitee für die Arbeit mit religiösen Gruppen“ registrieren lassen (Əskərov, 2004: 8). Das im Jahr 2001 gegründete „Staatskomitee der Republik Aserbaidschan für die Arbeit mit religiösen Vereinigungen“ ist heute zuständig für die seit dem Jahr 1997 vorgeschriebene Registrierung aller religiösen und nichtreligiösen Vereinigungen. Dabei wird vor allem bei protestantischen Sekten, aber auch bei radikalislamischen 53

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Gruppen restriktiv verfahren. Mit der Gründung wird eine erneute Registrierung der geschätzten 2000 religiösen Organisationen verlangt, bis heute sind 406 (davon 370 islamische Vereinigungen) offiziell registriert worden (Motika, 2005: 86). Ziel des Komitees ist es, ein Regelwerk aufzustellen, dass interethnischen und religiösen Konflikten, die durch missionarische Tätigkeiten von als nicht traditionell aserbaidschanisch eingeschätzten religiösen Organisationen hervorgerufen werden könnten, vorzubeugen. Die Gründung dieses Komitees löste innerhalb der religiösen „Szene“ Konflikte aus, da die Aufgabe der Registrierung vorher der „(Geistlichen) Verwaltung der Muslime des Kaukasus“ (Qafqaz Müsülmanlar İdarəsi = QMİ) oblag, deren Möglichkeiten, Macht auszuüben, durch die Gründung des Komitees stark eingeschränkt wurden. Das führte zu einem spannungsreichen Zustand zwischen der Verwaltung und dem Komitee. Die „Geistliche Verwaltung der Muslime Kaukasiens“, die nach dem Vorbild der russisch-orthodoxen Kirche gegründet wurde, stammt noch aus der sowjetischen Zeit. Obwohl sie nicht den Status einer staatlichen Organisation hat, ist sie von staatlicher Seite als Leitung aller Muslime im Kaukasus anerkannt und mit einer Körperschaft des öffentlichen Rechts vergleichbar (Motika, 2005: 79). Sozusagen staatliche Funktion und Autorität übernimmt sie z.B. bei der Begutachtung im Rahmen der als Pflicht vorgeschriebenen Registrierung aller religiösen Gruppen. Mit der Gründung des Komitees wurde es für islamische Organisationen notwendig, sich einer Begutachtung durch beide Institutionen zu unterziehen. Rechtlich ist dafür die Grundlage in Artikel 8 und 9 des Religionsgesetzes geschaffen, die vorsehen, dass alle islamisch religiösen Gemeinschaften dem QMİ in organisatorischer Hinsicht untergeordnet sind (Motika, 2005: 88). Konfliktpotential bringt diese Regelung vor allem hinsichtlich islamischer Vereinigungen mit sich, die eine Zusammenarbeit mit dem QMİ, das sich seit den sowjetischen Zeiten nicht wesentlich gewandelt hat, ablehnen. Auch nutzt das QMİ seine Rechte, um ihm unliebsame und kritische religiöse Aktivisten und Vereinigungen auszuschalten. Auch die religiöse Ausbildung sowie der Austausch von religiösem Personal muss über den QMİ nach Artikel 24 des Religionsgesetzes organisiert werden. Das QMİ repräsentiert dabei sozusagen den aserbaidschanischen Islam im Ausland, da der Scheichülislam63 als oberste Instanz des QMİ an islamischen Konferenzen im Ausland teilnimmt. 63 Seit 1980 ist das Oberhaupt der (schiitische) Scheichülislam Hacı Allahşükür Paşazadə. Ihm ist ein sunnitischer Vertreter, der Müfti Hacı Aləskər Musayev, beigeordnet. Theoretisch repräsentiert der Scheichülislam alle Muslime der GUS, tatsächlich ist sein Einfluss auf die Muslime Georgiens, die schiitischen „Azeris“ in Aserbaidschan, die sunnitischen Adjaren und die schiitischen „Azeris“ von Dagestan beschränkt. Zusätzlich ist der Scheichülislam das Oberhaupt des „High Councils of the Caucasian People“ (Qafqazya Xalqlar Əli Din-

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Das QMİ kooperiert auch mit anderen türkisch-islamischen Einrichtungen, mit der staatlichen türkischen Religionsbehörde (T.C. Diyanet İşleri Başkanlığı = Amt für religiöse Angelegenheiten) und deren Religionsstiftung (Diyanet Vakfı) (Motika, 2005: 89) sowie der Istanbuler Aziz-MahmudHüdayi-Stiftung und deren Ableger in Baku, der sog. „Jugendstiftung“ (Azərbaycan Respublikası Gəncliyə Yarım Fondu) sowie mit der kuwaitischen „Gesellschaft zur Wiederbelebung des islamischen Erbes“, mit deren finanzieller Unterstützung 61 Moscheen im Land gebaut wurden. Im Gegensatz zu dieser engen Kooperation mit sunnitischen Organisationen aus dem Ausland gibt sich das QMİ bei der Kooperation mit schiitischen Organisationen aus dem Iran sehr zurückhaltend. So hält die Mehrheit der schiitischen Gemeinden in Aserbaidschan auch die Anforderungen des „Staatlichen Komitees für die Arbeit mit religiösen Gruppen“ bezüglich der Registrierung und die religiöse Politik für antischiitisch, dazu beigetragen hat auch die Tatsache, dass nach der Gründung des Komitees 22 schiitische Medresen geschlossen wurden (Əskərov, 2004: 9). Eine antischiitische Tendenz lässt sich auch vor dem Hintergrund nicht ausschließen, da, obwohl die Mehrheit der Aserbaidschaner dem schiitischen Glauben angehören, dreimal mehr sunnitische als schiitische Gemeinden registriert sind, was mit der prinzipiell eher ablehnenden Haltung der Regierung gegenüber dem Iran zusammenhängt. Aus diesem Grund verweigern viele schiitische Moscheegemeinden, wie z.B. die größte und bedeutendste Gemeinde in Baku, die Gemeinde der Cuma-Moschee unter der Leitung eines in Baku bekannten und auf dem religiösen Sektor sehr aktiven Imam, eine Registrierung ihrer Moschee. Im Sommer des Jahres 2004 kam es zu einem Konflikt zwischen dem staatlichen Komitee und dem Imam, der eskalierte und aufgrund von Demonstrationen der Gemeindemitglieder sowie im Anschluss daran stattfindenden Übergriffen der Polizei auf die Demonstranten auch in der internationalen Presse Beachtung fand.64

Şurasi), der 1993 gegründet wurde. Sein Einfluss bzw. die Akzeptanz von Seiten der Politik ist sehr begrenzt, bei Bedarf werden religiöse Inhalte zu politischen Zwecken instrumentalisiert. Eine Aufwertung der Position des QMİ stellt das von Seiten der Regierung erteilte Recht dar, das Vetorecht für die Registrierung von religiösen Gruppen zu haben. Obwohl sich der QMİ nach außen zu einer säkularen Gesellschaftsordnung bekennt, fordern die führenden Vertreter des QMİ zur gleichen Zeit, den Islam als Staatsreligion anzuerkennen, das islamische Gesetz in das staatliche zu integrieren, und versuchen den Einfluss des Islam in der Öffentlichkeit zu stärken. 64 Siehe dazu in Kapitel IV 4.

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2.2 Die Bildung 2.2.1 Der islamische Bildungssektor Die Gründung von islamischen Lehranstalten ist prinzipiell erlaubt, doch müssen diese nach den Vorgaben des Artikels 6 und 10 des Religionsgesetzes von der QMİ genehmigt werden. An vielen Medresen in Aserbaidschan wird eine islamische Grundausbildung angeboten, doch versucht der Staat inzwischen auch auf dem Sektor der Medresen eine Übersicht zu erhalten, indem er eine Registrierung der Medresen durch das „Staatskomitee“ zur Auflage gemacht hat (Motika, 2005: 91). Die Lehrtätigkeit von ausländischem Personal auf dem religiösen Sektor ist untersagt bzw. bedarf einer Genehmigung, ebenso der Gebrauch von ausländischer religiöser Literatur. Allerdings sind diese Vorschriften in der Praxis kaum kontrollierbar und auch insofern problematisch, weil es wenig aserbaidschanische religiöse Lehrmaterialien gibt und somit ein gewisses Angewiesensein auf Lehrmaterialien aus dem Ausland besteht. Zwei aserbaidschanische Grundlagenwerke zur islamischen Unterweisung sind inzwischen in den Jahren 1997 und 2002 vom Zentrum für Religionsforschung in Baku herausgegeben worden: ein Buch von 1997 mit dem Titel „Wir lernen den Islam: ein Unterrichtsbuch für Kinder“65 sowie ein Buch von 2002 mit dem Titel: „Grundlagen des Islams: Aus der Perspektive der Philosophie, der Geschichte und der Moral“66. Des Weiteren wurden bis zum Jahre 2002 fünf Medresen offiziell registriert (Əskərov, 2004: 11). Das Lehrprogramm ihrer Korankurse musste in Absprache mit dem Staatlichen Rat für Pädagogik und der Bakuer Islam Universität entwickelt und genehmigt werden. Eine Medrese wurde im Jahre 2003 in Lenkoran gegründet, deren Ausbildungszeit zwei Jahre beträgt (Əskərov, 2004: 11). Während in dieser Medrese noch bis zum Jahr 2003 ausschließlich iranisches Lehrpersonal arbeitete, werden jetzt alle Disziplinen von aserbaidschanischen LehrerInnen unterrichtet. 38 ehemalige AbsolventInnen der Medrese studieren inzwischen im Ausland, die meisten von ihnen im Iran oder in Ägypten. Im Jahr 1994 wurde weiterhin eine sunnitische Moschee im Rayon Aqdaş gegründet. Sie wird von der weiter oben schon erwähnten „Jugendstiftung“ finanziert, die wiederum ein Ableger der Istanbuler Aziz-Mahmud-Hüdayi-Stiftung ist. Da die Medrese den Rang einer Sekundarschule einnimmt, können die SchülerInnen in dieser Medrese zusätzlich zu dem Unterricht in den Fächern Grundlagen des Islams, Geschichte des Islams, islamische Moral und Kultur und aserbaidschanische 65 Im Originaltitel: „Biz İslamı öyrənirik: Uşaqlar üçün Tədris vəsaiti“. Bakı. 66 Im Originaltitel: „ İslamın əsasları: Fəlsəfə, Tarix, və Əlaq Baxımından“. Bakı.

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Kultur sowie Geschichte, Literatur und Landeskunde Kurse zur Vorbereitung auf die Universitätsaufnahmeprüfung besuchen. Die Medrese bietet eine Ausbildung von zwei Jahren an und hatte im Jahr 2002 180 SchülerInnen. Eine weitere, ebenfalls von der Jugendstiftung finanzierte Medrese wurde in Şeki, im sunnitisch geprägten Norden des Landes, eingerichtet. Im Jahr 2002 verzeichnete sie etwa 80 Studierende. Eine Medrese gleichen Typus wurde im Rayon Zakatalı (ebenfalls im Norden des Landes) mit 80 Studierenden gegründet. Koranunterricht wird außerdem seit dem Jahr 1994 in dem Gebäude der Jugendstiftung in der Hauptstadt selbst erteilt. Medresen, die eine Lehrbefugnis durch eine Registrierung erhalten haben (dabei muss sich die Leitung und Lehrerschaft aus ausschließlich aserbaidschanischen Staatsbürgern rekrutieren (Motika, 2005: 91), können den Rang einer Sekundarschule einnehmen und sogar Zeugnisse ausstellen, die zum Besuch an einer höheren Bildungseinrichtung befähigen. Dahingehend muss einschränkend hinzugefügt werden, dass für den Besuch der Staatsuniversität ein allgemeiner Eingangstest ablegt werden muss, so dass sich der Besuch einer „höheren Bildungseinrichtung“ in den meisten Fällen auf das Studium an der Islamuniversität in Baku bzw. eine ihrer fünf Zweigstellen (Əskərov, 2004: 10) beschränkt.

2.2.2 Der säkulare Bildungssektor Im Folgenden wird ein kurzer Überblick über die Lage des Bildungssystems im Allgemeinen gegeben. Denn erst die Vergegenwärtigung der zum Teil desolaten Lage des säkularen Bildungssektors vermag die Attraktivität von z.B. einer İmam-Hatip-Schule67 erklären, deren Ausstattung mit Lehrmitteln und (zum Teil) Lehrkräften von der staatlichen türkischen Religionsbehörde (T.C. Diyanet İşleri Başkanlığı) und deren Religionsstiftung (Diyanet Vakfı) in Zusammenarbeit mit dem türkischen Bildungsministerium gewährleistet wird, wodurch in den Augen vieler Eltern im Vergleich zu aserbaidschanischen Schulen eine höhere Ausbildungsqualität garantiert wird.68 Mit der Unabhängigkeit „erbten“ die nun postsowjetischen Staaten ein säkulares, koedukatives Bildungssystem. Dieses besaß zwar auf der einen Seite ein hohes Niveau, das dazu geführt hatte, dass es so gut wie keinen Analphabetismus mehr gab, es war aber auf der anderen Seite von einer rigiden bürokratischen Struktur und zudem in seiner Bildung und Ausbildung auf die zent67 Siehe zum Konzept der İmam-Hatip-Schulen in Kapitel IV 2. 68 Dabei ist die Qualität der Bildung allerdings nur ein Grund, warum Eltern ihre Kinder auf die İmam-Hatip-Schule schicken. Zu weiteren Gründen siehe Kapitel IV 2.6.1.

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ralistisch geführte sozialistische Marktwirtschaft abgestimmt (Johnson, 2004a: 23). Im Zuge des Transformationsprozesses muss sich nun das staatliche, säkulare Bildungssystem in Aserbaidschan seit der Unabhängigkeit mit zahlreichen Problemen hinsichtlich einer Um- und Neustrukturierung auseinandersetzen. Im Vordergrund stehen dabei administrative Probleme, die mit massiver Korruption einhergehen. Eine der Hauptschwierigkeiten ist die zum Teil ausbleibende bzw. geringe Bezahlung von Lehrkräften an Schulen und Universitäten. Weitere Probleme sind eine fehlende oder inadäquate Ausstattung der Bildungsinstitutionen mit Lehrbüchern sowie schulische und universitäre Räumlichkeiten in schlechtem baulichem Zustand, die im Winter oftmals ungeheizt bleiben (Johnson, 2004b: 7). Eine umfassende Reform des säkularen Bildungssektors hat noch nicht stattgefunden, so dass dieser ein gewisses Potential für soziale Instabilität in sich trägt (Johnson, 2004b: 9). Dies drückt sich auch im Zulauf zu privaten Bildungseinrichtungen bzw. in der Abwanderung von Studierenden ins Ausland aus. Ein weiterer Effekt der Bildungsproblematik mit speziellem Bezug auf Aserbaidschan und den zentralasiatischen Staaten ist der „[...] small but growing trend toward seperatist Islamic education“ (Johnson, 2004b: 8). Aserbaidschan unterscheidet sich jedoch von den anderen zentralasiatischen Staaten wesentlich. Vor allem betont Johnson dabei auch positiv die Auswirkungen des Dschadidismus im 19. Jahrhundert und der nationalstaatlichen Erfahrungen als unhängige Republik im Hinblick auf einen „modernizing Islam“69 (Johnson, 2004b: 19). Weiterhin befindet sich der aserbaidschanische Staat aufgrund seiner Ölvorkommen und den damit einhergehenden finanziellen Mitteln zumindest in der theoretischen Lage, Reformen auf dem Bildungssektor vorzunehmen; trotzdem ist sowohl das Problem der Korruption als auch das der fehlenden Einschulung und der fehlenden Anwesenheit von Kindern in schulpflichtigem Alter in den Bildungseinrichtungen von schwerwiegender Bedeutung (Williams zit. in Johnson, 2004b: 19). Des Weiteren sind alle öffentlichen Einrichtungen und insbesondere auch der Bildungssektor durch die große Anzahl von Flüchtlingen (als Folge des BergKarabach-Konfliktes) und einer Massenmigration vom Land in die Stadt stark belastet (Johnson, 2004b: 19). Dabei fehlt es generell an aktuellen Unterrichtsmaterialien, wobei insbesondere die weiterführenden Schulen von diesem Mangel betroffen sind. Dazu kommt die inzwischen übliche „finanzielle Gegenleistung“ für sowohl die Schulbücher als auch andere Dienstleitungen

69 Siehe dazu die Ausführungen in Kapitel I 1.2.1 dieser Arbeit.

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der Schule und damit das Weiterbestehen von Korruption sowie niedrigen Standards im System (Lepisto zit. in Johnson, 2004b: 20)70. Eine systematische Reform des Bildungssektors wird auch durch sog. Pilotprojekte im Rahmen von internationaler Unterstützung verhindert, die eine Tendenz in Richtung der Entstehung von „islands of excellence“ (Johnson, 2004b: 20) fördern würden. Weitere Probleme im Bildungssektor sind neben einer sinkenden Statistik hinsichtlich der gleichberechtigten Teilhabe an Bildung von Frauen und sozial Benachteiligten die abnehmende Qualität der Lehre und der Lehrinhalte sowie die zusätzliche Belastung der Auszubildenden durch Schulgebühren und Gelder, die von Johnson als „opportunity costs“ bezeichnet werden (Johnson, 2004b: 21). Außerdem verweist Johnson auf die Rolle der Institution der sog. „State Commission on Student Admission“ (Johnson, 2004b: 21), die ursprünglich zu Beginn der 90er Jahre als Kontrollinstrument eingerichtet wurde, um korrupte Methoden bei den Aufnahmeprüfungen in das universitäre Bildungssystem zu unterbinden. Heute sei diese Kommission „a vast empire of its own, spinning off for-profit tutoring and exam preparation services“ (Johnson, 2004b: 22). In einer Studie zum aserbaidschanischen Bildungssystem, die von Morozova im Jahr 2003 durchgeführt wurde, wird zudem die umfassende ideologische Ausrichtung des säkularen, staatlichen Bildungssystems im Sinne des nationalistischen Konzepts des „Aserbaidschanismus“ (Morozova, 2004: 3) konstatiert. Das Konzept des „Aserbaidschanismus“ setzt sich aus den Elementen „Pan-Turkismus“, „Verwestlichung“ und einer Neuinterpretation der aserbaidschanischen Vergangenheit vor dem Hintergrund des Berg-KarabachKonfliktes zusammen. Dabei werden die von den Armeniern okkupierten Gebiete von Berg-Karabach den Aserbaidschanern „from time immemorial“ (Morozova, 2004: 3) zugeschrieben. Die Ideologie des „Aserbaidschanismus“, die von den führenden politischen Eliten um den Präsidenten Heydər Əliev konstruiert worden ist und von seinem Sohn und Nachfolger İlqar Əliev fortgeführt wird71, bestimmt seit 13 Jahren den schulischen und universitären Geschichtsunterricht, ist aber auch Bestandteil der Weltanschauung der Bildungsinstitutionen insgesamt.

70 Johnson zitiert aus einer unveröffentlichten Studie von E. Lepisto (Lepisto, 2004). 71 Siehe zur Nachfolge des Präsidenten Heydər Əliev durch seinen Sohn İlqar Əliev und die Verflochtenheit der Geschichte des Landes mit der Familie Əliev sowie die These der Herausbildung einer Herrscherdynastie in Aserbaidschan den Artikel von V. Cheterian (Cheterian, 2006: 1 und 4).

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Die ideologische Haltung der sog. pro-türkischen Institutionen (Morozova, 2004: 3), womit u.a. die Institutionen der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität und die İmam-Hatip-Schule gemeint sind, würden sich in ihrer Selbstdarstellung als konform mit den Werten der offiziellen staatlichen Linie geben und sich für Demokratie, Zivilgesellschaft und Menschenrechte als Bestandteile ihres Wertekanons aussprechen (Morozova, 2004: 3). Dasselbe gelte für die sich selbst als „prowestlich“ bezeichnenden, privaten Universitäten.

2.2.3 Bildungspolitik der Türkei im postsowjetischen Raum Im Folgenden wird ein Exkurs über die türkische Bildungspolitik im postsowjetischen Raum vorgenommen, da zwei Institutionen islamischer Bildung (die Islamisch-Theologische Fakultät der Staatsuniversität in Baku und die İmamHatip-Schule), die im Kontext der eigenen Forschung untersucht wurden, das Ergebnis dieser Bildungspolitik sind. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion sollte die Türkei als säkularisierter Staat sowohl in türkischer als auch in westlicher Vorstellung die Funktion eines Vorbilds für die muslimischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion im Hinblick auf die Rolle der Religion übernehmen (Demir, Balci, Akkok, 2000: 141f.; Öniş, 1995: 63). Ausschlaggebend war die Annahme, dass die Türkei eine stabilisierende Funktion in den postsowjetischen Staaten haben könnte, auch vor dem Hintergrund der historischen, kulturellen, ethnischen und sprachlichen Verbindungen der Türkei mit den turksprachigen Ländern (Demir et al., 2000: 141). Vor dem Hintergrund von westlichen Befürchtungen, dass radikale Formen des Islams das ideologische Vakuum, das mit dem Ende der Sowjetunion entstanden war, besetzen könnten, erschien dem Westen der türkische, säkulare Staat mit seiner laizistischen Verfassung als ideales Vorbild im Prozess der Transformation (Öniş, 2001: 1). Diese Idee wurde zumindest zu Beginn der 90er Jahre in den muslimischen Ländern Zentralasiens und auch in Aserbaidschan ebenfalls favorisiert, existierte doch bei den dortigen Machthabern die Vorstellung, dass eine enge Anbindung an die Türkei den Weg in die westliche Welt ebnen würde. Die Türkei selbst bot sich im Rahmen des Unabhängigkeitsprozesses insbesondere der „sechs Staaten Aserbaidschan, Kasachstan, Kirgisien, Turkmenistan, Tadschikistan und Usbekistan, die sie in Anlehnung an ethnische Gemeinsamkeiten als Turkrepubliken bezeichnet“72 (Agai, 72 Wobei Tadschikistan, das mehrheitlich nicht turksprachig ist, in sprachlicher und kultureller Hinsicht am wenigsten interessant für die Türkei ist, was sich u.a. darin ausdrückt, dass die Türkei für tadschikische Studierende keine Sti-

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2004: 111), die Chance, außenpolitische Bestrebungen in Richtung dieser Länder zu verwirklichen (Öniş, 2001: 1f.). Vor dem Hintergrund der sich hinziehenden und im Hinblick auf das Resultat nicht absehbaren Verhandlungen zum EU-Beitritt auf der einen Seite und des Verlustes der geostrategischen Bedeutung nach dem Ende des Kalten Krieges auf der anderen Seite hatte die Türkei ein machtpolitisches sowie ökonomisches Interesse an den neuen Staaten (Öniş, 1995: 57f.; Robins, 1993: 595). Letztendlich konnte die Türkei die Funktion als „Modell“ sowohl aufgrund des nicht ausreichenden, politischen Gewichts in der Auseinandersetzung mit Moskau als auch hinsichtlich der eigenen eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten nicht ausfüllen (Öniş, 2001: 6). Diese Erkenntnis folgte jedoch erst Ende der 90er Jahre. Zu Beginn der 90er Jahre wurde dagegen in den muslimischen Ländern der ehemaligen Sowjetunion ein weit reichendes Netzwerk im Hinblick auf sowohl kulturelle und wirtschaftliche, aber auch militärische Interessen etabliert (Demir et al., 2000: 141). Um den Ausbau eines solchen Netzwerks zwischen den zentralasiatischen Staaten, zwischen Aserbaidschan und der Türkei zu gewährleisten, wurde in Kooperation mit dem türkischen Außenministerium ein neues Organ gegründet, das den Namen „Turkish International Cooperation Agency“ (TICA) erhielt (Demir et al., 2000: 142). Diese Organisation war und ist neben anderen Aufgaben auch für den Aufbau von türkischen Kultur- und Bildungseinrichtungen zuständig; dabei werden neben Wissenschaftskonferenzen und akademischen Austauschprogrammen Sprachschulen gegründet und Stipendien zum Hochschulstudium in der Türkei vergeben. Außerdem werden mit sowohl privaten als auch staatlichen Mitteln Schulen und Universitäten errichtet. Langfristiges Ziel der Türkei ist es, zum einen die einheimische russischsprachige durch eine türkischsprachige Elite zu ersetzen und zum anderen durch die Gründung von Bildungsinstitutionen ein sozial und psychologisch fundiertes Umfeld aufzubauen, in dem das Ziel einer engen Zusammenarbeit mit der Türkei umgesetzt werden kann (Demir et al., 2000: 142; Öniş, 2001: 2). Hochschulinitiativen sind von Seiten des türkischen Staates in fünf zentralasiatischen Republiken, Kasachstan, Kirgistan, Usbekistan, Tadschikistan und Turkmenistan sowie in Aserbaidschan gestartet worden (Aypay, 2004: 81). Ein wesentlicher Beitrag im Rahmen dieser Initiativen ist die Vergabe von Stipendien zum Studium an Hochschulen im Inland und zum Studium an pendium zur Verfügung gestellt hat und Tadschikistan zumindest zu Beginn der 90er Jahre im Rahmen von offziellen türkischen Staatsbesuchen ausgelassen wurde (Robins, 1993: 598).

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einer Hochschule in der Türkei selbst. Die TICA ist dabei auch im Bereich der Hochschulen für sämtliche organisatorischen Aufgaben zuständig. Neben der Bereitstellung von Stipendien und Lehrmaterialien gewährleistet sie auch die Entsendung von Lehrern in die Republiken. Im Kontext der Vergabe von Stipendien werden in Aserbaidschan jedes Jahr vier bis fünf hervorragende Studierende durch das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten zur Fortsetzung ihres Studiums an eine türkischtheologische Hochschule entsandt. Im Jahr 2004 studierten in der Türkei 250 aserbaidschanische Studierende an einer Islamisch-Theologischen Fakultät. Die Praxis, alle Studierenden der Islamisch-Theologischen Hochschule in Baku zu einem ein- bis zweijährigen Aufenthalt in die Türkei zu entsenden, wurde jedoch zwischenzeitlich aufgegeben (Əskərov, 2004: 14). Insgesamt wurden in den zentralasiatischen Republiken und Aserbaidschan vier theologische Fakultäten gegründet, und zwar in Aserbaidschan, Turkmenistan und Kasachstan (Aypay, 2004: 91) sowie in Kirgistan (Osch)73. Um eine vollständigere Übersicht über unterschiedliche Formen von islamischer Bildung zu gewährleisten und aufgrund ihres hohen Verbreitungsgrades werden hier außerdem die Schulen von Fetullah Gülen und sein spezifisch islamisches Bildungskonzept dargestellt. In Aserbaidschan selbst wurde eine solche Schule im Kontext der eigenen Arbeit nicht untersucht, da der Zugang nicht möglich war. Fetullah Gülen ist ein türkischer Prediger, der 1938 in der Türkei geboren wurde. Die Gemeinschaft von Fetullah Gülen entwickelte sich ausgehend von der Nurcu-Bruderschaft. Diese wurde von Said Nursi (1873-1960) gegründet und ist eine der wichtigsten religiösen Organisationen in der Türkei (Balci, 2002: 31). Nach dem Tode von Nursi spaltete sich die Bruderschaft in mehrere Gemeinschaften auf, deren jeweiliges religiöses und auch organisationspolitisches Verständnis sich voneinander unterscheidet. Einer der heute bedeutendsten Zweige ist der von Fetullah Gülen weitergeführte. Zu Beginn der 90er Jahre begannen Fetullah Gülen und seine Anhänger Schulen in Zentralasien und im Kaukasus zu eröffnen (Agai, 2004: 114). Für Aserbaidschan und Nachitschewan (Nachitschewan ist eine autonome Republik, die zu Aserbaidschan gehört) werden eine Primar- und dreizehn Sekundarschulen als dem Fetullah Gülenschen Bildungsnetzwerk zugehörig bezeichnet (Agai, 2004: 14). Agai verortet weiterhin eine Universität (und zwar die Qafqaz Üniversitesi in Baku) als Teil des Netzwerkes. Fetullah Gülen und seine Anhänger

73 Laut Prof. Raoul Motika (Universität Hamburg) ist die Angabe von Apay, dass in Kasachstan eine Islamisch-Theologische Fakultät existiert, falsch. Nach mündlicher Information von Prof. Motika exisitiert dagegen eine Fakultät in Kirgistan, und zwar in der Stadt Osch.

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sind heute in der Türkei und darüber hinaus vor allem durch ihre spezifische Form von „islamischer Bildung“ bekannt. Deren Besonderheit liegt darin, dass Gülen und seine Anhänger private, aber staatliche anerkannte Bildungseinrichtungen ohne religiösen Fächerschwerpunkt zuerst in der Türkei und inzwischen weltweit aufgebaut haben (Agai, 2004: 12). Das Bildungskonzept von Fetullah Gülen besteht aus einer inhaltlichen Schwerpunktsetzung auf wissenschaftlicher und moderner Bildung, religiöse bzw. islamische Bildung ist nicht Teil des offiziellen Lehrplans. Vielmehr setzt das spezifische Bildungskonzept von Gülen auf eine „gelebte“ (islamische) Bildung. Dabei wird nicht eine bestimmte Islaminterpretation gelehrt, sondern im „Lebensstil“ umgesetzt. Demzufolge wird das Religionsverständnis auch nicht durch die Curricula, sondern im außerschulischen Rahmen transportiert, z.B. durch die an die Schulen angeschlossenen Internate. Generell arbeitet die Gemeinschaft bedeckt, d.h. die jeweiligen Institutionen beziehen sich nicht öffentlich auf Fetullah Gülen. In Anbetracht dieser Vorgehensweise verwundert es nicht, dass Eltern und SchülerInnen häufig nicht über die außercurricularen Bildungsbestrebungen der Institutionen Bescheid wissen. Die Schulen haben innerhalb der zentralasiatischen Staaten eine sehr hohe Reputation, da sie sich einerseits von Grund auf an eine elitäre Klientel richten und im Zusammenhang damit einen hohen Ausbildungsstandard garantieren. Weiterhin gehört zum Konzept der Schulen eine Schwerpunktsetzung auf das Erlernen der englischen und der türkischen Sprache, so dass die AbsolventInnen mit dem Besuch der Schulen gute Chancen auf einen Hochschulbesuch im Ausland erhalten. Inzwischen gibt es zahlreiche Schulen in Zentralasien, so existieren in Kasachstan 30 Schulen (Sekundarstufe) und eine Universität mit einer SchülerInnenzahl von 5664, denen 580 LehrerInnen gegenüberstehen (Balci, 2002: 31). Obwohl Gülen in Interviews seine Ziele in Zentralasien als „Unterstützung und Hilfe für die Schwesterrepubliken der Türkei“ bezeichnet, verfolge er eine „mission [...] to establish Islam in the region“, dabei würden er und seine Anhänger die Gesellschaft durch Bildung verändern wollen. Tatsächlich seien die Schulen Teil eines „missionary movement“ (Balci, 2002: 31). Wie die Jesuiten habe die Nurcu „[...] an elitist model of recruitment [developed], they wish to change the society through education, and they perceive education as a global supervision of pupils in and out of school. Also, the missionary movement entertains excellent relations with the target populations too in order to convert them.“ (Balci, 2002: 31)

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III An al ytischer Bezugsrahmen

Im folgenden Kapitel wird ein analytischer Bezugsrahmen konstruiert, vor dessen Hintergrund die erhobenen Daten interpretiert werden. Die dabei theoretisch in den Blick genommenen möglichen Ursachen eines Bedeutungswandels von Religion und Religiosität bei den befragten Personen sind der Transformationsprozess und biografische Herausforderungen, die Jugendphase und Funktionen von Religion und Religiosität sowie die Rolle von Autorität in Bildungs- und Erziehungsprozessen. Diese haben sich im Kontext der Datenauswertung als relevante Kategorien gezeigt und stellen deshalb im Folgenden die theoretischen Bezugspunkte der in Kapitel IV vorgenommenen Analyse der erhobenen Daten dar (Flick, 1998: 206).

1 M ö g l i c h e U r s a c h e n e i n e s B e d e u t u n g sw a n d e l s v o n I s l a m k o n z e p t e n i m R a h m e n vo n institutioneller islamischer Bildung Im folgenden Kapitel werden Überlegungen zu möglichen Ursachen eines Bedeutungswandels und ihrem potentiellen Zusammenwirken angestellt. Es wird zuerst auf den Transformationsprozess eingegangen und überlegt, inwiefern er im Hinblick auf die vorliegende Untersuchung von Relevanz für die befragten Personen sein könnte. Hintergrund dieser Überlegungen ist, dass die Befragten in den Interviews den Wandel der eigenen Religiosität teilweise in einen Zusammenhang mit Problemen stellten, die sich für sie in Folge der Unabhängigkeit und des Transformationsprozesses ergeben hatten. Es wird deshalb an dieser Stelle nach möglichen biografischen Herausforderungen durch den Transformationsprozess gefragt. Im Anschluss an diese Überlegungen wird erörtert, welche Funktion Religion bei der Bewältigung dieser Probleme spielen kann, und weil es sich bei den befragten Personen überwiegend (abgesehen von den Lehrpersonen) um 65

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junge Menschen handelt, wird dabei insbesondere ein Bezug zum Jugendalter hergestellt. Weiterhin wird gefragt, welche Position das Lehrpersonal in den untersuchten Prozessen islamischer Bildung einnimmt und welche Aspekte in der Interaktion zwischen Lehrenden und Lernenden einen möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität unterstützen bzw. verhindern. Dahingehend wird auf die Rolle von Autorität im Erziehungsverhältnis eingegangen. Dies findet seine Begründung darin, dass sich sowohl aus den Interviews als auch aus den Teilnehmenden Beobachtungen heraus annehmen lässt, dass verschiedene Faktoren wie die Konsequenzen des Transformationsprozesses sowie das jugendliche Alter der Studierenden verstärkend im Hinblick auf einen Autoritätszugewinn der islamischen Emissäre und ihrer Islamkonzeptionen wirken. Autorität wird hierbei in ihrer Funktion und Wirkung aus sozial- bzw. erziehungswissenschaftlicher Perspektive in den Blick genommen, um im Kontext der Datenauswertung als ein Faktor für die Gründe eines möglichen Bedeutungswandels diskutiert zu werden.

1.1 Transformationsprozess und biografische Herausforderungen Die aserbaidschanische Gesellschaft befindet sich seit der Unabhängigkeit von 1991 in einem Prozess der Transformation74, der hier (im Unterschied zu stetigen Wandlungsprozessen von Gesellschaftssystemen) nach Sundhausen (Sundhausen, 1995: 77) als gesellschaftlicher Wandlungsprozess mit einem Ausgangs- und Zielpunkt verstanden wird. Als Ausgangspunkt ist die Unabhängigkeit von 1991 anzusehen. Als Zielpunkt kann das sowohl von der Regierung als auch von der Opposition bekundete Ziel, demokratische Verhältnisse zu schaffen, angesehen werden. Jedoch kann in Anbetracht der letzten Präsidentschaftswahlen von 2003, die vom gewalttätigen Vorgehen des Staates gegenüber oppositionellen Kräften begleitet waren, von einer echten De74 Für den sozialwissenschaftlichen Bereich, der sich mit den Prozessen beschäftigt, die mit dem Wechsel von gesellschaftlichen und politischen Systemen einhergehen, hat sich die Bezeichnung der „Transformationsforschung“ etabliert (Lepsius/Kaase, 2001: 344). Im Kontext dessen, was unter Transformationsforschung thematisch subsumiert wird, steht die Auseinandersetzung und Untersuchung von Systemwechseln sowie die sich ergebenden politischen, rechtlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Implikationen. Demgegenüber steht der Begriff der Transition, der sich mit den auf die politische Ordnung gerichteten Prozessen befasst. Aus nahe liegenden Gründen ist deshalb im Kontext der vorliegenden Untersuchung der Begriff der „Transformation“ gewählt worden, der andere gesellschaftliche Bereiche mit einschließt (Lepsius/Kaase, 2001: 345).

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mokratisierung und damit von einem Ende der Transformation noch nicht gesprochen werden (vgl. auch Donath, 2003: 9).75 Mit dem durch den Zerfall der Sowjetunion einsetzenden Transformationsprozess kommt es zu einer Neustrukturierung des gesamtgesellschaftlichen Bereichs auch im Hinblick auf die Neubestimmung von kulturellen Normen und Werten (Tokluoğlu, 2005). Dabei findet in Aserbaidschan im Hinblick auf die Definition einer gemeinsamen Identität eine dynamische Auseinandersetzung mit Fragen nach politischer Autonomie, sozialer Gleichheit und nationaler Kultur sowie in Abgrenzung zur kommunistischen Vergangenheit statt (Tokluoğlu, 2005: 724). In den Interviews erzählten befragte Personen, die heute zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig sind, häufig von der Verunsicherung, die sie als jugendliche Menschen zu Beginn der 90er Jahre in Folge der gesellschaftlichen Situation erlebten. Zum einen beeinflusste der Berg-Karabach-Konflikt und das täglich über die Medien vermittelte Leiden und Sterben in den Krisenregionen die Menschen, zum anderen musste sich die Gesellschaft im Anschluss an die militanten Unruhen mit einer großen Zahl von Flüchtlingen auseinandersetzen, die von den besetzten Regionen ins Land und insbesondere nach Baku strömten. Dazu kam die politische Umstrukturierung mit einem raschen Wechsel von Regierungen76, was nicht nur zu instabilen gesellschaftlichen Verhältnissen, sondern wie zumindest die Interviews vermuten lassen, zu einem Gefühl der Unsicherheit bei der Bevölkerung führte, das sie offen gegenüber „neuen“ identitätskonstituierenden Faktoren wie z.B. der islamischen Religion gemacht haben könnte. Als negative Auswirkungen der Transformation, von denen die Menschen heute betroffen sind und die während meines Feldforschungsaufenthaltes in Gesprächen und Interviews häufig thematisiert wurden, sind die massive Korruption in der Gesellschaft und damit auch im Bildungssystem sowie eine hohe Arbeitslosigkeit und damit das Fehlen von Zukunftsperspektiven zu nennen. Des Weiteren zeigen Studien, dass z.B. junge Frauen von den Prozessen der Transformation stark betroffen sind, da es auf dem Arbeitsmarkt mit Beginn der Transformation zu einer geschlechterspezifischen Exklusion gekommen ist, weil „[...] Frauen überproportional aus Führungspositionen verdrängt werden und die traditionelleren Frauenberufe extrem schlecht bezahlt sind. Weiterhin ist eine wachsende Benachteiligung von Frauen in allen ge-

75 Siehe zum Transformationsprozess in Aserbaidschan auch bei R. Motika (Motika, 2004a). 76 Siehe dazu auch in Fußnote 54.

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sellschaftlichen Bereichen zu beobachten, gegen die die Regierung trotz verbaler Bekenntnisse nichts unternimmt.“ (Motika, 2004a: 8) Diese Entwicklungen stellen eine Verschlechterung der Situation hinsichtlich der Einbindung von Frauen in den Arbeitsmarkt und im gesellschaftlichen und politischen Leben zu Zeiten der Sowjetunion dar.77 Im Zuge einer erhöhten Arbeitslosigkeit kommt es weiterhin zu einer zunehmenden Arbeitsmigration von jungen Männern nach Russland oder in andere ehemalige Staaten der Sowjetunion. Die Migration von jungen Männern hat auch dazu geführt, dass die Zahl der Frauen, die nicht verheiratet sind, von 23 Prozent im Jahr 1993 auf 34,2 Prozent im Jahr 1997 gestiegen ist (Əlieva, 1997: 81).78 Dies ist insofern von Bedeutung, als eine eigene Familie und Kinder in Aserbaidschan als ein wichtiger Faktor für das soziale Ansehen und für die Etablierung als vollwertiges Gesellschaftsmitglied gelten. Dies gilt zwar sowohl für Frauen als auch für Männer, allerdings sinkt den im Zuge meines Feldforschungsaufenthaltes im Rahmen von Gesprächen gewonnen Erkenntnissen zufolge die Chance auf eine Heirat und damit für eine Familie insbesondere für Frauen nach Vollendung des 25. Lebensjahres.79 Generell ergibt sich aus den sozioökonomischen Schwierigkeiten, dass für junge Menschen zum Teil die finanziellen Mittel zur Gründung einer Familie fehlen. Fragen hinsichtlich der eigenen Biografie, die eng verknüpft sind mit beruflichen Zukunftsaussichten und den Möglichkeiten zur Gründung einer 77 Die Förderung und „Emanzipation“ der Frauen auch in den muslimischen Regionen des sowjetischen Reiches war den sowjetischen Machthabern im Kontext der kommunistischen Ideologie ein wichtiges Anliegen (Heyat, 2002: 57). Das Ergebnis dieser Politik war eine relativ hohe Eingebundenheit der Frauen im Arbeitsmarkt sowie ganz allgemein im öffentlichen und politischen Leben (Dragadze, 1994: 159; Tohidi, 1997: 147). 1985 waren 39 Prozent der Abgeordneten des Obersten Sowjet in Aserbaidschan Frauen, bis 1991 wurde die Position des Parlamentspräsidenten von einer Frau eingenommen (Tohidi, 1997: 150). Laut Motika (Motika, 2004a: 11) ist die politische Repräsentation von Frauen, als ein Indikator der Entwicklung sozioökonomischer Modernisierungsindikatoren, inzwischen von zwölf Prozent vor dem Jahr 2000 auf neun Prozent nach 2000 gefallen. 78 Geringfügig ist ein weiterer Verlust an jungen Männern im heiratsfähigen Alter durch den Berg-Karabach-Konflikt zu verzeichnen (Heyat, 2002: 175). 79 Bei einem erneuten Forschungsaufenthalt in Baku/Aserbaidschan im Jahr 2007 hat sich im Hinblick auf die Lage unverheirateter Frauen nur dahingehend eine Veränderung ergeben, dass ganz allgemein das Heiratsalter von Frauen sich um ca. zwei Jahre nach oben verschoben hat (diese Information gilt für Baku). Den Auskünften meiner aserbaidschanischen Gesprächspartner zu Folge sei es ganz allgemein insbesondere für junge Frauen noch schwieriger gworden, einen (Ehe-)Partner zu finden, da viele junge Männer ins Ausland migrieren um zu arbeiten bzw. aufgrund ihrer schwierigen sozioökonomischen Situation keine Ehe eingehen möchten.

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eigenen Familie, müssen damit für einen Teil der jungen AserbaidschanerInnen in spätere Lebensabschnitte aufgeschoben werden oder gelingen gar nicht. Vor diesem Hintergrund wird gefragt, inwiefern es dadurch bei einem Teil der Befragten zu einer durch die gesellschaftlichen Wandlungsprozesse bedingten Veränderung der Jugendphase kommt und inwiefern Funktionen von Religion in dieser Phase relevant werden könnten. Dies soll im Folgenden überlegt werden.

1.2. Jugendphase und Funktionen von Religion 1.2.1 Jugendphase in Aserbaidschan Die Lebensphase der „Jugend“ ist historisch keineswegs invariant. Auch wenn es in den westlichen Gesellschaften inzwischen als normal und selbstverständlich erscheint, dass es zwischen Kindheit und dem Erwachsenenalter eine Jugendphase gibt, wird im Kontext sozialhistorischer Analysen deutlich, „dass sich eine Jugendphase erst im 19. Jahrhundert herausgebildet hat“ (Tillmann, 1999: 190). Jugend ist somit kein „Naturprodukt [...], sondern ein soziokulturelles, das in seinen Erscheinungsformen historisch-gesellschaftlichen Dimensionen unterworfen ist“ (Griese, 1977: 11). Die Zeit des Jung-Seins in Aserbaidschan ist mit den westlichen Vorstellungen zur Jugendphase dahingehend vergleichbar, dass junge Menschen auch in Aserbaidschan in dieser Zeit einen Beruf erlernen sollen. Das aserbaidschanische Wort für „Jugend“ (cavanlık) im Sinne von „jung sein“ (cavandır) beinhaltet meinen Beobachtungen zufolge weiterhin die Vorstellung, dass man als junger Mensch eine Zeit der Unbeschwertheit genießen kann (und soll). Obwohl in Aserbaidschan also durchaus die Idee von einer Zeit des „Jung-Seins“ existiert, gibt es jedoch nur in Ausnahmefällen eine „Jugend“ im Sinne einer Lebensphase, die von Merkmalen wie „Ausbildung von Autonomie“ geprägt ist und als „Zeit der Entpflichtung“ gelten kann (Andresen, 2005: 107).80 Eine Jugendphase, in der Jugendliche verschiedene Formen des sozialen, kulturellen und politischen Lebens ausprobieren können, wird in westlichen Jugendtheorien mit dem Begriff des Moratoriums näher charakterisiert und im Sinne eines eigenständigen Lebensabschnitts definiert:

80 Ein Experimentieren z.B. in partnerschaftlicher oder sexueller Hinsicht (und damit ein Aufschub von Bindungen) als ein Verhaltensmuster, das von der Gesellschaft als weitgehend „normal“ im Kontext einer westlichen Jugendphase gesehen wird, ist nicht erlaubt und wird als „moralisch verwerflich“ angesehen.

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„Der Begriff des Moratoriums beschreibt [...] eine Lebensphase der Autonomie, die von einem Gegenwartsbezug und nicht von einer Zukunftsorientierung geprägt ist. Eine auf die Bewältigung des Alltags gerichtete Gestaltung der Jugendphase wird bedeutungsvoll. Diese Gegenwartsorientierung vollzieht sich in Abgrenzung zur älteren Generation im Kontext der Gleichaltrigen und ermöglicht die Ausbildung eines eigenen Lebensstils. Damit wird Jugend als Moratorium eine eigenständige Lebensphase, die sich durch Selbstzuschreibungen abgrenzt.“ (Reinders, 2003: 51)

Auf die Problematik einer Moratoriumsdefinition, die ausschließlich auf positiv konnotierte Merkmale wie z.B. „Erlangen von Autonomie“ bezogen wird, weist Baacke hin, wenn er schreibt: „Moratorien [können] nur selten freiwillig gewählt werden. Häufig sind sie Folge sozialer Institutionalisierung (verlängerte Schulverweildauer), oder sie besitzen Zwangscharakter (z.B. bei jugendlicher Arbeitslosigkeit).“ (Baacke, 2001: 803) Im Unterschied zum Moratorium beschreibt der Begriff der Transition eine Phase, in der die jüngere Generation von der Älteren lernt, indem gesellschaftliche Normen und Werte von der älteren Generation an die jüngere herangetragen werden. Jugendphase als Transition unterliegt damit vor allem einer Fremdzuschreibung durch Erwachsene. Sie stellt keinen eigenständigen Lebensabschnitt dar, sondern dient als Einstieg in berufliche und familiäre Erwachsenenlaufbahnen (Zinnecker, 1991: 10). Meinen Beobachtungen zufolge kann die Phase der Jugend für die Mehrheit der aserbaidschanischen jungen Menschen als eine Übergangsphase – als Transition – vom Kind- zum Erwachsenendasein beschrieben werden. Damit ist die Phase der Jugend in Aserbaidschan als ein Zeitabschnitt zu charakterisieren, in der Jugendliche in der Gesellschaft hinsichtlich Arbeit, Familie und Gesellschaft eine nachgeordnete Stellung und damit, wie Zinnecker (Zinnecker, 1991: 10) mit Blick auf die Charakterisierung einer als Transition zu beschreibenden Phase festhält, die „Position von Anfängern und Neulingen“ einnehmen. Von Bedeutung hinsichtlich einer Abgrenzung zu einer Jugendphase im Sinne eines Moratoriums ist dabei im Kontext der vorliegenden Arbeit, dass üblicherweise in der Zeit des Jung-Seins in Aserbaidschan kein eigener Lebensstil herausgebildet wird, keine Abgrenzung zur älteren Generation stattfindet und auch nicht von einer Gegenwartsorientierung gesprochen werden kann. Dabei wird im Anschluss an diese Ausführungen mit Blick auf die vorliegende Arbeit gefragt, ob es für einen Teil der Interviewten im jugendlichen Alter anstelle einer Transition vor dem Hintergrund der beschriebenen sozi-

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ökonomischen Schwierigkeiten zu unfreiwilligen Moratorien81 kommt. Es soll dabei im Weiteren die Frage gestellt werden, ob und inwiefern Religion und Religiosität in ihren spezifischen Funktionen, z.B. als Bewältigungsmöglichkeit von Krisensituationen im Hinblick auf eventuell entstehende „Zwangsmoratorien“, wirksam werden. Dies wird vor dem Hintergrund von theoretischen Überlegungen zu möglichen Funktionen von Religion zum einen und mit Bezug zu einer Jugendphase im Sinne des Moratoriums zum anderen im Folgenden angedacht werden, um dann im Rahmen der Datenauswertung aufgegriffen und diskutiert zu werden.

1.2.2 Funktionen von Religion und Religiosität In den beiden folgenden Unterkapiteln wird Religion und Religiosität82 hinsichtlich der Frage in den Blick genommen, welche Funktionen sie für den Einzelnen erfüllen können. Die Auswahl von theoretischen Überlegungen zu möglichen Funktionen ist neben einer kurzen Darstellung von allgemeinen Funktionen vor dem Hintergrund getroffen worden, Erklärungsansätze für die Funktion von Religion und Religiosität in (Krisen-)Situationen zu finden, die von dem Einzelnen eine „Neuverortung“ in einem spezifischen gesellschaftlichen Umfeld erfordern. Ausgehend von einem religionspsychologischen Zugang mit Blick auf die Frage, „unter welchen Bedingungen Glaube in der subjektiven Gestalt von Religiosität in Erscheinung tritt“ (Fraas, 1993: 36), sieht Fraas als das wesentliche Motiv, wenn nicht gar den Ursprung von Religion in der Bewältigung von Lebenskrisen (Fraas, 1993: 283).83 „Umgang mit Lebenskrisen bedeutet Kontingenzbewältigung“ (Fraas, 1993: 283), schreibt Fraas und meint dabei den Umgang des Einzelnen mit subjektiv einschneidenden Veränderungen und Vorkommnissen in seiner Biografie: „In weitgehender Übereinstimmung der Theoretiker hat die Religion hier wenn nicht ihre Wurzel, so doch ein wesentliches Motiv“ (Fraas, 1993: 283). Auch Oerter zufolge kann Religiosität die Funktion einer Erklärung und Verortung angesichts von persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Unwäg-

81 Inwiefern es unter Umständen im Kontext der Transformation bei einem Teil der Jugendlichen auch zu freiwilligen Moratorien kommt, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. 82 Siehe zu Begriffsdefinitionen von Religion und Religiosität im Kontext der vorliegenden Arbeit in Kapitel II 2. 83 Fraas beschäftigt sich, ausgehend von protestantischer Religiosität, aber mit dem Anspruch einer universellen Gültigkeit seines theoretischen Ansatzes, mit religiöser Erziehung sowie mit der Religiositäts- und Glaubensentwicklung des Menschen (Fraas, 1993: 283).

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barkeiten gewinnen (Oerter, 1996: 26). Oerter versteht Religiosität dabei aus einer entwicklungspsychologischen Perspektive als typisch menschliche Tätigkeit (Oerter, 1996). Religiöse Aktivität geht seinen Ausführungen zufolge auf das Bewusstsein bzw. Selbstbewusstsein des Menschen zurück, mit dessen Auftreten „zwei Erkenntnisse verbunden [seien], nämlich die Abgrenzung gegenüber der Umwelt und die Zeitlichkeit des eigenen Daseins“ (Oerter, 1996: 24). Vor diesem Hintergrund suche der Mensch nach tieferen Begründungen seiner Verhaltensweisen und Zielsetzungen. Aktivität verstanden als eine sinnstiftende Tätigkeit wird von Oerter in Anlehnung an Piaget (Oerter, 1996: 24) als Konstruktionsleistung des Bewusstseins verstanden, das die gemachten Erfahrungen sinnvoll zusammenfügt. Insbesondere das Kontingenzbewusstsein84 des Menschen kann zur Religiosität führen. Laut Oerter würde „[...] in jüngerer Zeit der Kontingenzbegriff wieder stärker mit Religiosität in Beziehung gebracht und argumentiert, dass die Grunderfahrung von Unsicherheit und Zufälligkeit den Menschen zur religiösen Suche veranlasse“ (Oerter, 1996: 26). Wenn die Kontingenz als notwendige Konsequenz des Bewusstseins um die eigene Existenz verstanden wird, dann fügt sie sich gut in die Überlegungen zur Tätigkeit als Sinnsuche ein: „Tätigkeit ist somit eine Konstruktionsleistung, die das Individuum mit Sozialpartnern und der Kultur als Hintergrund zustande bringen muss, um mit sich und seiner Stellung in der Welt zurecht zu kommen [...] In einem allgemeinen Sinne hat Tätigkeit immer mit Religiosität zu tun, denn sie muss sich um das Gleichgewicht des gesamten menschlichen Systems in seiner Umwelt bemühen, das infolge des Bewusstseins nicht mehr nur ein biologisches, sondern ein existentielles Gleichgewicht sein muss.“ (Oerter, 1996: 26)

Zusammenfassend kann hier festgehalten werden, dass von Fraas und Oerter Religion und Religiosität in ihrer Funktion als Möglichkeit der Bewältigung von Lebenskrisen sowie als Umgang des Menschen mit Kontingenz bzw. der Zufälligkeit und Endlichkeit der eigenen Existenz gesehen werden können. Religion und Religiosität sind demzufolge eine Form der Bewältigungs- und Lösungsstrategie z.B. spezifischer biografischer Herausforderungen, ein Aspekt, der im Hinblick auf die Datenauswertung aufgegriffen werden soll. Im Folgenden werden mögliche Funktionen von Religion und Religiosität mit speziellem Bezug auf die Jugendphase in den Blick genommen.

84 Kontingenzbewusstsein bedeutet hier das Begreifen der Zufälligkeit und der Unsicherheit der eigenen, menschlichen Existenz sowie der Endlichkeit dieser Existenz.

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1.2.3 Jugendphase und Religion Religiosität zur Bewältigung von Lebenskrisen kann in einen engen Zusammenhang zur Lebensphase der Jugend gesetzt werden, in der aus der Perspektive westlicher Wissenschaftstheorien vermehrt Entwicklungsaufgaben und damit eventuell einhergehende Krisen bewältigt werden müssen. Jugend in den westlichen Gesellschaften kann, muss aber nicht, als Abschnitt einer krisenhaften – im Sinne von konfliktbesetzten – Phase einhergehen. Das Eintreten von Krisen kann jedoch ein Auslöser sein, sich mit Religiosität auseinanderzusetzen: „Die in der Adoleszenz zu lösenden Probleme sind Anlass für Jugendliche und junge Erwachsene, Sinnfragen zu stellen und religiöse Thematiken zu beantworten.“ (Schöll, 1995: 221) Dabei wird im Hinblick auf die Attraktivität von sog. „Jugendreligionen und der New-Age-Bewegung“ (Schöll, 1992: 13) von Schöll vermutet, dass die auf „archaische Traditionen rekurrierende, neuartige Religiosität einen ganz spezifischen Beitrag zur Bewältigung der biografischen Krise in der Adoleszenz leisten kann“. Die Art und Weise, in der Religiosität zur Bewältigung beitrage, steht dahingehend im Vordergrund. Im Wesentlichen geht es um die Frage, ob Religiosität ermöglicht, die Realität konstruktiv im Hinblick auf eine Lösung der „Sinnfrage“ zu bewältigen, oder ob sie zu einer Realitätsflucht und damit zu einer Abwendung von der Gesellschaft führt. Von Relevanz ist in diesem Zusammenhang die wissenschaftliche Beschäftigung mit Fragen biografischer Lebensbewältigung bei Jugendlichen für die vorliegende Untersuchung auch deshalb, weil sie „in besonderem Maße deutungsbedürftige Krisen der jeweiligen gesellschaftlichen Umgebung“ widerspiegelt und „dadurch Einblicke in gegenwärtige gesellschaftliche Entwicklungstendenzen“ offenbart (Schöll, 1992: 14). Diese Erkenntnisse von Schöll haben hier insofern Bedeutung, als sich im Kontext der eigenen Untersuchung im Falle einer Gruppe von jugendlichen Befragten angedeutet hat, dass Religiosität bei der Bewältigung von Lebenskrisen eine wichtige Funktion bekommen hat. Deshalb werden die Überlegungen von Schöll im Hinblick auf die Bedeutung, die Religion und Religiosität für jugendliche Menschen gewinnen kann, im Kontext der Dateninterpretation aufgegriffen und diskutiert werden. Erklärungsansätze für mögliche Funktionen von Religion und Religiosität in Krisensituationen wurden, wie bereits schon erwähnt, auch im Hinblick auf eine mögliche „Neuverortung“ der Einzelnen durch Religion und Religiosität in einem spezifischen gesellschaftlichen Umfeld gewählt. Dahingehend lassen sich meiner Ansicht zufolge zwischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund in den westlichen Ländern und jungen Menschen in Aserbaidschan, die von Diskontinuitäten durch den Transformationsprozess betroffen sind, Parallelen aufzeigen. Demzufolge ist hier der Fokus auf eine Untersuchung von Tietze gesetzt worden, die fragt, welche Funktionen islamische Religion 73

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und Religiosität bei Jugendlichen in einer Situation gewinnen, die von Arbeitslosigkeit und damit verbundener Unsicherheit sowie dem Gefühl von fehlender Zugehörigkeit geprägt ist. In einer Studie mit dem Titel „Islamische Identitäten: Formen muslimischer Religiosität junger Männer in Deutschland und Frankreich“ (Tietze, 2001) untersucht Tietze, wie Religiosität für jugendliche Migranten zu einer Ausdrucksmöglichkeit von Kritik an den gesellschaftlichen Zuständen wird. Tietze stellt dabei im Rahmen ihrer Studie die These auf, dass Religiosität bei männlichen85 jugendlichen muslimischen Migranten in Deutschland und Frankreich in der Funktion der Entstehung von Zugehörigkeit wirksam werden kann (Tietze, 2001). Dahingehend schreibt Tietze, dass „[...] die Bedeutung, die muslimische Religiosität für junge Männer der zweiten und dritten Immigrantengeneration gewinnen kann, weder einen Mangel an Integration noch Defizite kultureller Anpassung widerspiegelt. Die Identifikation mit dem Islam stellt vielmehr ein gewöhnliches Instrument unter anderen dar, das Subjektivitätskonstruktion und Handlungsfähigkeit in der Gesellschaft ermöglicht. Gleichzeitig umfasst muslimische Religiosität Glaubensformen, die über kulturelle Muster hinausgehen und erst dadurch ihre Funktion der Sinngebung ermöglichen.“ (Tietze, 2004: 243)

Dabei kommt es bei den jungen Muslimen mit Migrationshintergrund aus unterschiedlichen Gründen zum Aufbau von individualisierten Verhältnissen zur islamischen Tradition: „Die individualisierte Identifikation mit der Religion ist mit einer großen Flexibilität der Religiosität verbunden“ (Tietze, 2004: 238). Tietze spricht mit jungen Männern, die sich selbst als Muslime beschreiben und ansässig sind in deutschen und französischen Stadtvierteln, die gekennzeichnet sind durch Merkmale wie soziale Benachteiligung durch Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Die islamische Tradition wird dabei zum Bezugspunkt, der eine Alternative im Sinne von Solidarität und Gerechtigkeit bereithält. Der Islam wird nicht nur als ideologisches Bezugssystem relevant, sondern erhält über die Dogmen hinaus einen individuellen, sinnstiftenden Wert. Tietze kommt zu dem Ergebnis, dass Religion für die jungen Männer zwei Ressourcen bereitstellt: Zum einen ermöglicht Religion eine Konstruktion des Selbst, indem ein ideologisches Prinzip der Religion aufgegriffen wird. Der Begriff der Ideologie wird dabei in Anlehnung an Paul Ricoeur im Sinne eines Zugehörigkeitsgefühls zu einer Ahnenreihe definiert. Die zweite Res-

85 Das Sample der Untersuchung bezog sich ausschließlich auf männliche Jugendliche.

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source, die Religion bereithält, ist die Möglichkeit des Aufbaus einer Jenseitsorientierung, die einen Abstand zum alltäglichen Leben und der Gesellschaft ermöglicht: „Aus dieser Perspektive heraus kann Glauben als eine Herstellung von Sinn und Ordnung definiert werden. Religiosität ist die subjektive Verknüpfung zwischen Zugehörigkeitsgefühl zu einer Gemeinschaft und Glauben.“ (Tietze, 2004: 245) Religion und Religiosität können also speziell im Hinblick auf das jugendliche Alter in der Funktion einer Suche nach einer „Ideologie“ ihren Ausdruck finden. Der Begriff der Ideologie kann neben der von Tietze nach Ricoeur aufgestellten Definition im Sinne der Zugehörigkeit nach dem Entwicklungspsychologen und Jugendforscher Erikson (Erikson, 1973: 181) auch als die Notwendigkeit verstanden werdden, „eine Religion“ oder eine „klare Weltanschauung“ zu haben, um „eine neue Synthese von Vergangenheit und Zukunft“ zur sinnhaften Orientierung und Lebensplanung finden zu können“. Für die vorliegende Untersuchung ist dabei von Bedeutung, welche Funktionen Religion und Religiosität für junge Menschen in Aserbaidschan nicht nur im Hinblick auf die Suche nach einer „Ideologie“, sondern auch im Hinblick auf Zugehörigkeit und Subjektivitätskonstruktion und damit eventuell im Sinne von alternativen normativen Sinngebungsmodellen neben den von der Gesellschaft bereitgehaltenen Lebensformen (Beruf, Heirat und Familie) zur Verfügung stellen kann – Aspekte, die im Kontext der Datenauswertung erneut aufgegriffen werden.

1.3 Autorität im (islamischen) Bildungs- und Erziehungsprozess Die Analyse der Interviews hat gezeigt, dass die türkischen LehrerInnen an der İmam-Hatip-Schule und die Dozenten an der Islamisch-Theologischen Fakultät erfolgreich sind bei der Vermittlung ihrer Bildungs- und Erziehungsziele. Hinsichtlich der Frage, warum ihr Islamkonzept von den SchülerInnen bzw. den Studierenden übernommen wird, wird die Frage gestellt, welche Rolle in diesem Zusammenhang das Phänomen der Autorität spielt.

1.3.1 Autorität und Erziehung Sowohl die aserbaidschanischen als auch die türkischen DozentInnen sehen sich als Führungspersonen und Vorbild.86 Dieser Anspruch der DozentInnen gegenüber den Studierenden lässt sich sowohl mit einem Rückgriff auf isla86 Das gilt sowohl für die aserbaidschanischen als auch für die türkischen sowie für alle Dozenten, die im Rahmen der Feldforschung interviewt wurden.

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mische als auch auf sowjetische Vorstellungen von Erziehung und Bildung begründen. In der islamischen Erziehung steht der Prophet Muhammad für das Grundmotiv des Erziehungsverhältnisses zwischen Gott und den Gläubigen. Der Prophet wird in einem Hadith (¼adÍÝ) 87 mit den Worten zitiert: „Ich wurde geschickt, um die Tugenden zu vervollkommnen“88 (Bayraktar, 1997: 19). Auf diese und andere Aussprüche des Propheten wird in den Interviews von den türkischen Dozenten hingewiesen, wenn sie nach ihrem Ideal eines Lehrers gefragt werden. Das Zitat selbst stammt aus einem türkischen Lehrbuch zur „Lehrer-Schüler-Beziehung“, das von einem Islamgelehrten der Theologischen Fakultät der Marmara-Universität verfasst wurde. Mit diesem Hadith (¼adÍÝ) wird den Lehrern in der Ausbildung ihr anzustrebendes Verhältnis zu den SchülerInnen bzw. Studierenden veranschaulicht. Der Prophet als Ideal eines Lehrers, der die Tugenden der Menschen im Auftrag Gottes zur Vervollkommnung führt, stellt die Basis der beruflichen Selbstdefinition der türkischen Dozenten dar, die neben dem Unterrichten von Inhalten auch einen expliziten Erziehungsauftrag als wesentlichen Bestandteil ihrer Funktion als Lehrkräfte sehen. Auch in der sowjetischen Pädagogik findet sich ein umfassender Erziehungsauftrag der Lehrer wieder, wie folgender Auszug aus einem sowjetischen Werk zur Autoritäts- und Vorbildfunktion der Lehrer zeigt: „Der sowjetische Lehrer ist die zentrale Gestalt in der Schule. Bei der Verwirklichung der hohen Ziele und Aufgaben der kommunistischen Erziehung spielt die Persönlichkeit des Lehrers, insbesondere seine Autorität und sein persönliches Vorbild, eine außerordentlich wichtige Rolle.“ (Petrow, 1949: 15) Häufig weisen die aserbaidschanischen DozentInnen, wenn sie nach ihrem Ideal einer LehrerIn gefragt werden, auf die Aufgabe der LehrerIn hin, Menschen zu erziehen, die dem Wohle der Gesellschaft dienen. Vor dem Hintergrund solcher Aussagen wird die berufliche Sozialisation im sowjetischen Bildungssystem sichtbar. Letztendlich war das Ziel der sowjetischaserbaidschanischen Pädagogik, den „neuen Menschen“ als tugendhaft und zum Wohle der Gesellschaft zu erziehen. Auch der Sowjetpädagoge wurde nicht nur zur Vermittlung von Unterrichtsinhalten ausgebildet, sondern sollte eine „umfassende“ Erziehung gewährleisten. Diese hatte zum Ziel, Kindern 87 Ein Hadith (¼adÍÝ) ist ein Bericht oder eine Erzählung verschiedener Gewährsleute des Propheten Muhammad. Es verdeutlicht den vorbildlichen Weg (Sunna) des Propheten, dessen Aufgabe es war, die göttliche Offenbarung zu verkünden und diese authentisch zu interpretieren. Der Koran bezeichnet Muhammad als Vorbild für die Gläubigen, damit ist gleichzeitig die Autorität der Sunna im Koran verankert (Khoury, 1991: 325ff.). 88 Im Orginalzitat heißt es: „Ben güzel ahlaki tamamlamak için gönderildim“ (Bayraktar, 1997: 19).

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und Jugendlichen in der sowjetischen Schule „Tugenden“ zu vermitteln, die das Kind im Hinblick auf die „soziale Nützlichkeit für die Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen in der Gesellschaft heranbilden sollten“ (Petrow, 1949: 58) und im Hinblick darauf anerzogen werden sollten, „daß sie das Kind bereitwilliger machen, selbstlos zum Wohle der Gemeinschaft zu arbeiten – eine wesentliche Eigenschaft des neuen Menschen, den hervorzubringen die Sowjetpädagogen sich bemühen“ (Petrow, 1949: 58). Die Zitate machen deutlich, dass eine Selbstdefinition als Erzieher, im Sinne einer umfassenden Persönlichkeitserziehung der SchülerInnen sowie der Studierenden, bei den aserbaidschanischen und bei den türkischen DozentInnen aufgrund ihrer beruflichen Sozialisation existieren kann. Für eine als „Erziehungsverhältnis“ definierbare Beziehung zwischen LehrerInnen und SchülerInnen, sowie zwischen DozentInnen und Studierenden in Aserbaidschan sprechen des Weiteren die Äußerungen der Lehrpersonen sowie die eigenen Beobachtungen der Feldforschung. Bezeichnenderweise werden die Studierenden von ihren DozentInnen häufig als „Kinder“ (uşaqlar) angesprochen und bezeichnet. In vielen Interviews wurde von den LehrerInnen und DozentInnen die Beziehung zu ihren SchülerInnen und Studierenden explizit als „Eltern-Kind-Verhältnis“ (valideyn-uşaqlar-münasibəti) beschrieben. Geht man demzufolge davon aus, dass zwischen den LehrerInnen und SchülerInnen und den DozentInnen und Studierenden ein Erziehungsprozess stattfindet, dann spielt Autorität nach Kron (Kron, 1990: 397) für die Vermittlung von Erziehungszielen im Sinne von Normen und Werten eine entscheidende Rolle. Autorität kann sowohl als Phänomen in der Eigenschaft von Personen als auch als soziale Relation gesehen werden (Kron, 1990: 396). Autorität als Eigenschaft einer Person meint das Zusprechen von Autorität aufgrund von fachlicher Qualifikation oder kompetentem Handeln. Autorität als soziale Relation dagegen wäre die Amtsautorität des Lehrers, also die Autorität, die er automatisch aufgrund seiner Tätigkeit in einer staatlichen Institution besitzt. Autorität hängt laut Schrott (Schrott, 2003: 287) allgemein mit Folgsamkeit zusammen. Hinsichtlich der Folgsamkeit müsse jedoch differenziert werden. Schrott unterscheidet zwischen erzwungener und bedingter Folgsamkeit der Amtsautorität gegenüber und freiwilliger Folgsamkeit gegenüber einer Person aufgrund ihrer Qualifikation, ihres Charismas oder ihrer Vorbildfunktion (Schrott, 2003: 288). Ausgehend von der freiwilligen Autorität differenziert er die „echte“ (= zustimmungswürdige Regeln) und die „unechte“ (= zufällige oder nicht zustimmungswürdige Regeln) Autorität. „Die echte Autorität zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass ihre freiwillige Anerkennung gut begründet ist und dass sie selbst allgemein anerkannten Regeln zufolgen vermag bzw. selbst eine solche Regel darstellt.“ (Schrott, 2003: 289) Hinsichtlich eines „Zwangscharakters“ von Autorität hält Arendt in ihrer „Definition“ fest, 77

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was Autorität nicht ist, und macht deutlich, dass Autorität sowohl gegen „Zwang durch Gewalt wie gegen Überzeugen durch Argumente“ (Arendt, 1957: 118) abzugrenzen ist. Echte Autorität kann nur in von beiden Parteien anerkannten hierarchischen Verhältnissen wirksam werden, bei der eine Partei „befiehlt“ und die andere auf einer freiwilligen Basis „gehorcht“ (Weber, 1995: 216). Kron beschreibt die Folgsamkeit auf Seiten der zu Führenden als eine Motivation, einen inneren Drang oder ein Bedürfnis zu gehorchen bzw. sich führen zu lassen. Deswegen gebe es die Annahme, dass der Mensch eine Legitimitätsgläubigkeit besitzt (Kron, 1990: 397). Legitimitätsgläubigkeit basiert dabei auf dem Glauben an die Rechtmäßigkeit oder die Sinnfälligkeit der Anweisungen und Befehle der Autoritätsperson (wie: „es ist zu meinem Vorteil“, „sie will mir gut“, „es ist sinnvoll“). Ausgehend von der Grundthese Krons, dass Autorität nicht von Erziehung abgekoppelt werden kann, stellt sich die Frage, welche Faktoren innerhalb der Autoritätsverhältnisse zwischen Lehrenden und Lernenden eine Rolle spielen. In Rahmen der Analyse der Daten sollen folgende Fragen beantwortet werden: Vor dem Hintergrund welcher Faktoren kann Autorität in den „strukturierten Führungs-Nachfolge-Verhältnissen“ (Kron, 1990: 397) zwischen LehrerInnen und SchülerInnen und DozentInnen und Studierenden wirksam werden? Wie ließe sich eine mögliche „Legitimitätsgläubigkeit“ von SchülerInnen und Studierenden in einen Zusammenhang zu ihrem jugendlichen Alter und dem Transformationsprozess stellen?

1.3.2 Autorität und Konzepte religiös-islamischer Erziehung Generell lassen sich im Kontext von Religion und Erziehung mehrere Perspektiven unterscheiden, von denen ausgehend die Beziehung von Religion und Erziehung untersucht werden kann. So können aus einer bildungstheoretischen Perspektive heraus die Ziele einer religiösen Erziehung analysiert werden. Aus einer religions-, lern- oder entwicklungspsychologischen Perspektive heraus kann gefragt werden, ob es eine Erziehung zur Religiosität überhaupt geben kann und welche Erkenntnisse dazu vorliegen. Im Folgenden werden zwei unterschiedliche Formen religiöser Erziehung skizziert. Im Anschluss daran wird die Frage nach den Erkenntnissen einer Erziehung zur Religiosität aufgeworfen und unter Einbeziehung von religionspsychologischen theoretischen Überlegungen kurz beantwortet. Im Weiteren wird sich einer Definition von islamischer Bildung und Erziehung im Unterschied zu muslimischer Erziehung (Akbar, 1995) sowie der Frage nach dem Absolutheitsanspruch der Autorität der religiösen Quellen in Konzepten islamischer Bildung und Erziehung zugewandt.

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Eine mögliche Definition von religiöser Erziehung lautet: „Religious education [...] is understood as the teaching and learning activity as it affects the learner’s religious affiliation before, after and especially during compulsory schooling, and including doctrinal, moral and social dimensions.“ (Tulasiewizc/To, 1993: 1) Von religiöser Erziehung wird gesprochen, wenn die Religionslehre mit dem Ziel der Einhaltung von religiösen Geboten (moral principles) und Praktiken (rituals) vermittelt wird (Tulasiewizc/To, 1993: 5). Erziehung überschreitet dabei die Grenze zur Indoktrination (indoctrination), wenn „matters of the existence of the divine and miraculous, the truth of belief, are explained or justified for the would-be-faithful without recourse to proof or reason“ (Tulasiewizc/To, 1993: 6). Mit Blick auf die Frage nach den Zielen der religiösen Erziehung lassen sich also zwei Ebenen unterscheiden: auf der einen Ebene eine religiöse Erziehung, die Glaubenslehren und Gebote vermittelt, die sich aber nicht als ausschließliche normensetzende Instanz im Kontext von sämtlichen Bereichen zwischenmenschlichen Handelns bzw. hinsichtlich Fragen einer „weltweiten Sitten-, Wirtschafts- und Politikordnung“ (Benner, 2004: 28) versteht. Dabei können zwar die Bereiche menschlichen Lebens unter religiösen Fragestellungen thematisiert werden, aber „auch Glaube und religiöse Praxis [können] unter Fragestellung der anderen Praxisbereiche thematisiert, reflektiert und kritisiert werden“ (Benner, 2004: 26). In Abgrenzung steht dazu auf einer zweiten Ebene eine religiöse Erziehung, deren Erziehungsziele die Vermittlung von Normen sind, die in allen Bereichen sozialen Lebens Gültigkeit haben sollen, und die unter Umständen einem Anspruch der Verwirklichung von religiöser Pluralität, Kontroversität und Edukation statt Indoktrination nicht gerecht wird. Im Zusammenhang mit bildungstheoretischen Fragen zu Religion und Erziehung führt Benner an, dass „[...] die bildungstheoretische Legitimität von Religion [...] wie die religiöse und theologische Dignität von Bildung davon ab[hängt], dass das Religiöse als etwas erfahren und identifiziert wird, das durch seine eigene Logik von den Handlungslogiken der anderen Praxen, ohne diese zu bevormunden, unterschieden wird. Wird eine solche Verhältnisbestimmung zwischen den ausdifferenzierten Formen moderner Humanität anerkannt, so scheiden eine religiöse Fundierung von Ökonomie, Moral, Erziehung und Bildung, Politik und Kunst ebenso aus wie ethische oder politische Fundierung oder Letztbegründungen für Religion.“ (Benner, 2004: 28)

Neben Fragen der religiösen Erziehung im Sinne der Vermittlung einer Glaubenslehre mit oder ohne ausschließliche Deutungsmacht und alleinigem

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Wahrheitsanspruch stellt sich die Frage der prinzipiellen religiösen Erziehbarkeit des Menschen. Im Hinblick auf die Frage nach einer Erziehung zur Religiosität sieht Fraas diese nicht als „Sonderbereich“ (Fraas, 1993: 76), sondern als Teil eines soziokulturell bedingten Erziehungs- und Sozialisationsprozesses. Demzufolge beschreibt Fraas den möglichen Ablauf der religiösen Erziehung (Fraas, 1978) in Anlehnung an die Lernpsychologie als die „[...] Konditionierung spezifischer Handlungen [...], gerade dann, wenn sie über das bloße Wissen von Glaubensvorstellungen hinausführen [will]. Haltungen sind ,erworbene Verhaltensdispositionen‘ [...] sie setzen sich aus drei Komponenten zusammen, wobei in der Reihenfolge des Erwerbs die Handlungskomponente (die pragmatische oder psychodynamische) an erster Stelle steht, die allerdings mit der affektiven Komponente unmittelbar verbunden ist, während der dritten, der kognitiven Komponente, sekundäre Bedeutung zukommt.“ (Fraas, 1978: 124)

Der Aufbau von religiösen Haltungen ist demnach der Erwerb von Verhaltensdispositionen und findet aus lernpsychologischer Perspektive entlang der drei Komponenten a) pragmatisch oder psychodynamisch, b) affektiv und c) kognitiv statt. Bei der ersten, der sog. pragmatischen oder psychodynamischen Handlungskomponente werden Verhaltens-dispositionen durch Gewöhnung auf der Basis affektiver Beziehungen z.B. im Rahmen der Familie erworben. Dabei gibt es eine Verschränkung zwischen pragmatischer und affektiver Komponente, da erstere nie ohne letztere einhergehen kann. In diesem Sinne tritt das Kind als handelndes Wesen, als Akteur in ein Feld von Rollenbeziehungen innerhalb der Familienstruktur ein und internalisiert im Zusammenhang dieses sozialen Interaktionssystems seine Rollensituation mit der entsprechenden Verhaltensstruktur, „[...] d.h. es gewinnt Haltungen auf dem Weg über bestimmte Handlungsmodelle, die wiederum Ausdruck der Haltung der Bezugspersonen sind; dass die Eltern mehr durch ihre eigene Haltung als durch bewusste Maßnahmen ,erziehen‘, [...][darin] liegt der erstmögliche Zugang zu religiöser Haltung“ (Fraas, 1978: 125). Eine bedeutende Funktion nehmen in diesem Zusammenhang auch sog. Respektpersonen89 ein

89 Das Heranziehen der Überlegungen von Fraas hinsichtlich der Funktion von „Respektpersonen“ ist mit Blick auf Aserbaidschan insofern legitim, als dass die gesellschaftliche Struktur meinen Beobachtungen zufolge stark patriarchalisch geprägt ist und innerhalb dieser „Respektpersonen“ eine wichtige Rolle spielen. Meinen eigenen Beobachtungen zufolge wird z.B. einer LehrerIn oder auch einer DozentIn im Unterricht von Seiten der SchülerInnen, aber auch von Seiten der Studierenden üblicherweise nicht widersprochen. Dasselbe gilt für die Funktion der Respektperson in den Familien, die normalerweise der Vater

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(Fraas, 1978: 146), die vor allem im Hinblick auf Kinder als „Vertreter und Verkörperer“ von Macht und Wissen erscheinen. Dieser Aspekt wird in der eigenen Untersuchung dahingehend bedeutsam, dass eine der Institutionen islamischer Bildung eine Schule ist und die untersuchten Personen noch Kinder im Alter von elf bis dreizehn Jahren sind. Die dritte Komponente im Rahmen einer religiösen Erziehung, die kognitive, tritt „erst allmählich zur pragmatischen und affektiven hinzu“ (Fraas, 1978: 165). Prinzipiell steht sie für den intellektuellen Zugang zur Religion und Religiosität und ermöglicht dabei eine reflexive Auseinandersetzung mit einer im Erziehungs- und Sozialisationsprozess eventuell übernommenen Religiosität. Die Entstehung von religiöser Bedeutung wird von Fraas als Prozess zwischen Individuum und Umwelt angesehen. Für die vorliegende Untersuchung ergibt sich daraus die Frage, inwieweit die familiäre und/oder schulische sowie universitäre Sozialisation in den Institutionen islamischer Bildung bei den SchülerInnen und Studierenden eine zwangsläufige Auseinandersetzung mit spezifischen Religionskonzepten bedingt und einen Prozess in Gang setzt, der zur Religiosität oder zu einem Bedeutungswandel von Religion und Religiosität führt. Weiterhin ist von Interesse, inwiefern das Stattfinden bzw. NichtStattfinden einer religiösen Erziehung und Sozialisation in der Kindheit im Kontext der Familie oder unmittelbarem gesellschaftlichen Umfeld90 im Hinblick auf die Bedeutung und einen möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität der befragten Personen Auswirkungen zeigt. Im Folgenden sollen vor dem Hintergrund einer bildungstheoretischen Perspektive Konzepte von islamischer Bildung und Erziehung im Zusammenhang mit der Frage nach der Autorität der religiösen Quellen in den Blick genommen werden. Hinsichtlich des Verhältnisses von Islam und Fragen von Bildung und Erziehung existiert in der muslimischen Welt eine Debatte, in der sich antagonistische Reformbemühungen gegenüberstehen: Während die eine Seite eine Vermittlung von Bildung in säkularer Form als Irrtum ansieht und eine Reform des Bildungswesens dahingehend anstrebt, dass Islam und Bildung so-

oder ein anderes männliches Familienmitglied innehat. Prinzipiell gilt innerhalb der Gesellschaft aber auch unbedingter Respekt (im Sinne des Erweisens von Achtung, aber auch von Gehorsam) gegenüber z.B. älteren oder auch hierarchisch höher gestellten Personen. 90 Bestimmte Gegenden in Aserbaidschan wie z.B. das im Süden gelegene Lenkoran, aber auch die Abscheronhalbinsel sind traditionell sehr religiöse Gegenden, die auch zu Sowjetzeiten häufig eine religiöse Erziehung in den Familien oder im unmittelbaren gesellschaftlichen Umfeld gewährleisteten.

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wie Erziehung (wieder) eine Einheit bilden,91 wird von einigen muslimischen Intellektuellen eine Reform im Bereich der Bildung gefordert, die Religion und Bildung zwar prinzipiell zusammendenkt, jedoch neue Herangehensweisen und Methoden im Umgang mit Religion fordert (Farish, 2002: 25). Dabei unterscheidet Akbar zwischen denjenigen, die für eine „Islamic education“ eintreten, und diejenigen, die für eine „Muslim Education“ bzw. „Religious Education“ plädieren (Akbar, 1995: 406). „Islamic Education“ wird als die Vermittlung der Gebote des Korans verstanden, auf deren Grundlage die Beziehung zu Gott, den Mitmenschen und der Natur geregelt ist. Dabei unterscheidet sich die „Muslim/Religious Education“ von der „Islamic Education“ insofern, als im Kontext der „Muslim/Religious Education“ geoffenbartes und menschliches Wissen unterschieden werden.92 Eine Beschränkung des Bildungs- und Erziehungprogramms auf Koran und Hadith im Sinne der „Islamic Education“ wird von den meisten zeitgenössischen Muslimen als „religious indoctrination“ (Akbar, 1995: 406) angesehen. Dagegen wird im Kontext der „Muslim/Religious Education“ aus Sicht der „Islamic Education“ eine Reduktion und Dichotomisierung von Bildung und Erziehung gesehen, wenn die Entstehung von Intellekt und dem Vermögen zu philosophischem Denken außerhalb des Islams gedacht werde und es dabei zu einer Abkoppelung von Theorie und Praxis bzw. Wort und Tat komme (Akbar, 1995: 407). Ohne weiter auf die innerislamische Debatte zu Fragen der islamischen Bildung und Erziehung eingehen zu wollen, ist es im Kontext der vorliegenden Untersuchung von Bedeutung, dass es bei der Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Vertretern von „religiös-islamischer-muslimischer“ Er-

91 Im 20. Jahrhundert hat sich innerhalb von konservativen muslimischen Kreisen ein Diskurs mit dem Ziel einer „Islamization of knowledge“ etabliert. Seinen wesentlichen Ausgangspunkt findet der Diskurs in dem Bemühen, sich sowohl vom Westen als auch von muslimischen Vertretern eines Säkularismus abzugrenzen und herauszufinden, „how to search für alternative authentic, cultural and institutional solutions in the heritage becomes a key concept in the discourse of the Islamizers“ (Abaza, 2002: 10). 92 Nach diesem Verständnis schließt die „Muslim/Religious Education“ im Gegensatz zu einer „Islamic Eudcation“ neben einem ausschließlichen Bezug auf die Quellen Koran und das Leben des Propheten in der Überlieferung der Hadith auch weitere Quellen wie die jeweiligen Interpretationen religiöser Fragen durch die religiösen Rechtsschulen mit ein. Weil im Rahmen von Fiqh, der Wissenschaft vom religiösen Recht im Islam, mit der menschlichen Ratio gearbeitet wird, wird hier nach dem Verständnis der „Islamic Education“ eine unzulässige Erweiterung von rein göttlichem Wissen um menschlich definiertes Wissen vorgenommen.

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ziehung im Grunde genommen um Fragen der Autorität der religiösen Quellen Koran und Sunna geht (Mihiçiyazgan, 2003: 125).93 Vor dem Hintergrund einer bildungstheoretischen Perspektive ist dabei mit Blick auf die eigene Untersuchung und die Auswertung der an den verschiedenen Institutionen islamischer Bildung erhobenen Daten zu fragen, ob in diesen religiös-islamische Erziehung im Sinne einer ausschließlich normsetzenden Instanz (Benner, 2004: 28) vermittelt wird oder ob „auch Glaube und religiöse Praxis unter Fragestellung der anderen Praxisbereiche thematisiert, reflektiert und kritisiert werden [können]“ (Benner, 2004: 26).

2 B e d e u t u n g sw an d e l vo n I s l a m k o n z e p t e n a l s K o n ve r s i o n v o n „ u n s i c h t b a r e r “ z u „sichtbarer“ Religion? Im Folgenden sollen theoretische Überlegungen zum Phänomen der Konversion dargestellt werden. Auf diese wird im Rahmen der Datenauswertung zurückgegriffen, um sich mit der Frage auseinanderzusetzen, inwiefern im Kontext eines möglichen Bedeutungswandels von Religion und Religiosität bei den Befragten von einer Konversion gesprochen werden kann. Konversionen sind häufig in Zusammenhang mit der Suche nach einer Lösung eines zentralen Problems der eigenen Biografie zu finden (WohlrabSahr, 1995: 290). Von Bedeutung sei dabei, dass „[...] bei religiösen Konversionen [...] es sich aber nicht allein um Paradigmenwechsel [handelt], die ein Problem der Biographie auf eine neue Art beantworten“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 290). Zentral hinsichtlich eines Pardigmenwechsels im Sinne einer Konversion sei der Wechsel von einer Gesellschaftsordnung in eine andere und damit das Erschließen einer neuen Kultur94, wobei „der Wert der fremden

93 Mihiçiyazgan verweist darauf, dass im Kontext der Auseinandersetzung zum Verhältnis von islamischer Religion und Konzepten von religiöser Erziehung und Bildung zwei grundlegende Positionen existieren, und zwar die der Traditionalisten und die der Modernisten. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung steht dabei der Koran, der von den Traditionalisten als ursprüngliches und damit ahistorisches Wort Gottes gesehen wird, während die Modernisten den Koran zwar auch als Wort Gottes sehen, jedoch ist der Koran in ihrer Perspektive die historische Gestalt des göttlichen Wortes und damit kontextualisierbar. Vor dem Hintergrund dieser Annahme ist eine „endlose Dekodierung“ des Korans möglich und eine abschliessende Deutung unmöglich (Mihiçiyazgan, 2003: 126). 94 An dieser Stelle soll festgehalten werden, dass ich mir der Schwierigkeiten im Hinblick auf eine Definition des Begriffs der Kultur bewusst bin und den Diskurs zu diesem im Bereich der Interkulturellen Pädagogik bzw. Migrationspädagogik (Auernheimer, 2003: 73f.; Diehm/Radtke, 1999: 61-65; Mecheril, 2002: 19) zur Kenntnis genommen habe. Wenn hier der bei Wohlrab-Sahr ver-

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Kultur immer aus der ,der Abstoßungskraft der eigenen Kultur‘ resultiert (Wohlrab-Sahr, 1995: 292). Betrachtet man den Begriff der Konversion von seiner lateinischen Bedeutung – dem „convertere“ – als „umwenden, verwandeln und verändern“, so stellt sich die Frage, „was es denn ist, das da verändert wird“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 287). Es lassen sich nach Wohlrab-Sahr zwei Grundpositionen hinsichtlich der Definition von Konversion feststellen: „Die erste Position, die in theologischen und religionspsychologischen, aber auch in soziologischen Ansätzen lange bestimmend war, versteht diesen Wandel als Bekehrung, dementsprechend als radikalen Wandel der Person mit nachhaltigen Verhaltensänderungen, in der Regel ausgelöst durch ein erschütterndes Erlebnis [...] Eine zweite Position, die in vielen soziologischen Ansätzen erkennbar ist, bezieht sich eher auf den Wandel der Deutungsmuster, ausgelöst durch Erfordernisse sozialer Interaktion, und impliziert daher – sofern die Interaktionsverhältnisse sich ändern – prinzipielle Revidierbarkeit und Wiederholbarkeit.“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 287)

Von diesen beiden Grundpositionen ausgehend bemerkt Wohlrab-Sahr, dass eine genaue Analyse, auf welcher Ebene sich der Wandel tatsächlich vollziehe, meist ausbleibe, ebenso verhalte es sich bei Erklärungen zum Verhältnis von Kontinuität und Wandel sowie der Beziehung des Wandels auf der symbolischen Ebene zum Wandel der Identität (Wohlrab-Sahr, 1995: 288). Eine wissenssoziologische Definition von Konversion will die fehlende Zusammenführung der verschiedenen Ebenen gewährleisten. Gemäß dieser Definition werden Konversionen im Kontext von „radikale[n] Veränderungen der ,Struktur‘ subjektiver Weltsichten“ gesehen, in dem Sinne, dass sie „jene Elemente dieser Weltsicht betreffen, die alle anderen Inhalte in einer (meist hierarchischen) Struktur der Relevanz ordnen“ (Sprondel, 1985: 551).

wendete Ausdruck von einer „neuen Kultur“ übernommen wurde sowie die folgenden Beschreibungen von einer „fremden“ bzw. „“eigenen Kultur“, dann verstehe ich im Kontext meiner eigenen Untersuchung „Kultur“ nicht als statisches System, das keinen Veränderungen und Wandlungsprozessen unterliegt. Jedoch verstehe ich Kultur hier vor dem Hintergrund des Phänomens der Konversion im Sinne einer Orientierungsfunktion und definiere Kultur damit mit Geertz als „das Geflecht von Bedeutungen, in denen Menschen ihre Erfahrung interpretieren und nach denen sie ihre Handlungen ausrichten“ (Geertz, 1983: 99). Demzufolge verstehe ich „Kultur“ im Zusammenhang mit einer Konversion von der „eigenen Kultur“ zu einer „fremden Kultur“ als den Wechsel von einem alten zu einem neuen Orientierungssystem, das demjenigen, der sich für eine Konversion entscheidet, unter Umständen für seine Bedürfnisse besser geeignete „Rahmenbedingungen“ im Sinne von z.B. anderen Normen und Werten zu bieten hat.

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Demgemäß bedeutet Konversion nicht eine absolute Veränderung von Realitätsauffassungen, „sondern die Neustrukturierung von neuen und alten Inhalten“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 288). Diese Definition erscheint mir im Zusammenhang mit den Erkenntnissen meiner eigenen Feldforschung als plausibel, da sich das Phänomen einer „Neustrukturierung von alten und neuen Inhalten“ in einer Vielzahl von Interviews wiederfindet. Dabei lässt sich bei den Interviewpartnern eine Infragestellung der alten Ordnung feststellen, die letztendlich zu einer Neuordnung der eigenen Weltanschauung unter dem Vorzeichen eines Paradigmenwechsels führt. Bei dem Begriff des Paradigmas bezieht sich Wohlrab-Sahr auf Kuhn und seine Verwendung des Begriffes in einem doppelten Sinn: „[...] zunächst im übergeordneten Sinn einer disziplinären Matrix (paradigm), die alle Gegenstände einschließt, die für die Erkenntnisfunktion der Gruppe von besonderer Bedeutung sind. Und weiter im spezifischeren Sinn von symbolischen Verallgemeinerungen, Modellen und Musterbeispielen (exemplar), die der Gruppe bevorzugte Analogien oder gar eine Ontologie liefern. Paradigmen in diesem zweiten Sinne sind demnach konkrete Problemlösungen.“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 290)

Eine Konversion kann auch als Bewegung „weg von einer Gesellschaftsordnung“ im Sinne der Hinwendung zu einer neuen Ordnung gesehen werden, dabei wird „[...] der Wechsel zur Religion einer fremden Kultur auch deshalb vollzogen [wird], weil diese sich mit einem Gesellschaftsmodell und einer Lebensordnung zu verbinden scheint, die die eigene Kultur nicht mehr ohne weiteres bereitstellt“ (Wohlrab-Sahr, 1995: 291). Dabei gehe es vor allem um den Wechsel eines gesellschaftlichen Strukturprinzips. Die Ausführungen zur Konversion können dabei mit den vorher dargestellten allgemeinen Funktionen von Religion und Religiosität in einem Verhältnis zueinander stehend und sich wechselseitig bedingend gelesen und verstanden werden: Religiosität, definiert als Möglichkeit der Bewältigung von Lebenskrisen, als sinngenerierende Tätigkeit und als Möglichkeit der Bewältigung von Herausforderungen des Jugendalters, kann auch Zugehörigkeit und Anerkennung erbringen und dabei zur Konversion und zur Etablierung einer neuen Lebensordnung führen. Oder: Die Konversion, hier verstanden als Übernahme einer neuen Lebensordnung und Weltanschauung durch praktizierte muslimische Religiosität und ein „orthodoxes“ Islamkonzept, generiert individuell Sinnhaftigkeit, hilft bei der Bewältigung von Lebenskrisen und erzeugt Zugehörigkeit und/oder auch Anerkennung. Dabei sind der Zusammenhang und das Zusammenspiel der Bedeutungen und Funktionen von Religion und Religiosität je nach Individuum sowie als Konsequenz von situationsabhängigen Faktoren anders gewichtet.

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Im Anschluss an die Ausführungen zur Konversion ergeben sich im Hinblick auf die eigene Untersuchung und ihre Fragestellung bzw. Hypothese folgende Fragen: Wenn es einen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität gibt, dann stellt sich die Frage, ob dieser im Hinblick auf eine Umstrukturierung der Weltsicht des Einzelnen als so umfassend angesehen werden kann, dass er als Konversion definiert werden kann. Weiterhin wäre der Bedeutungswandel von Religion und Religiosität als Konversion im Sinne von Wohlrab-Sahr zu deuten, wenn der Einzelne mit dem Bedeutungswandel einen Wandel von einer Gesellschaftsordnung in eine andere vollziehen würde und sich damit einer „neuen Kultur“ im Sinne eines neuen Orientierungssystems95 zuwenden würde. Im Folgenden soll nun der theoretische Rahmen konstituiert werden, vor dem im Kontext der Dateninterpretation gezeigt werden kann, dass ein möglicher Bedeutungswandel der befragten Personen hin zu einem „orthodoxen“ Islamkonzept gleichbedeutend ist mit einer Konversion, also dem Wechsel von einer Religion zu einer anderen. Vor dem Hintergrund der paradox anmutenden Situation, dass dies für die jeweiligen Personen heißt, dass sie als muslimischer Aserbaidschaner „zum Islam“ konvertieren, soll im Folgenden gezeigt werden, dass sich die praktizierte muslimische Religiosität der Mehrheit der Aserbaidschaner im Hinblick auf die Gesellschaftsordnung sowie die Deutungs- und Verhaltensmuster des Einzelnen von denjenigen, die sich als Konsequenz eines „orthodox“96-islamischen Religionskonzeptes ergeben, wesentlich unterscheiden. Die Differenz, die sich durch einen Bedeutungswandel ergibt, wird dabei im Kontext der Untersuchung als so groß angesehen, dass von einer Konversion gesprochen werden kann. Der theoretische Rahmen ist nun folgendermaßen angelegt: Um den Wandel von einer Religion zu einer anderen im Zuge der Datenauswertung plausibel zu machen, wird hier ein theoretisches Konstrukt muslimischeraserbaidschanischer Religion und Religiosität konstruiert. Als Matrix dient dabei das Konzept von Thomas Luckmann zur „unsichtbaren Religion“ (Luckmann, 1991), d.h. aserbaidschanisch-muslimische Religion und Religiosität wird in Anlehnung an Luckmann als „unsichtbare Religion“ verstanden und im Folgenden dargestellt. Islamisch-„orthodoxe“ Religion und Religiosität wird mit Hilfe eines Konstrukts zu islamischer Religion und Religiosität konstruiert und in Anleh-

95 Siehe dazu die Ausführungen zum Verständnis des Begriffs „Kultur“ im Kontext der vorliegenden Arbeit in Fußnote 94. 96 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch Fußnote 14.

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nung an Assmann als „sichtbare Religion“ konzeptionalisiert. „Sichtbare Religion“ ist dabei ein Konzept, das Assmann in Fortführung von Luckmanns Thesen statuiert hat.

2.1 „Unsichtbare“ Religion Der Religionssoziologe Thomas Luckmann veröffentlicht 1967 ein Buch mit dem Titel „Die unsichtbare Religion“97, in dem er ausgehend von einer empirischen Untersuchung in Kirchengemeinden Deutschlands die These aufstellt, dass eine Gleichsetzung von Religion und Kirche insofern nicht mehr zeitgemäß sei, da ein Verlust der gesellschaftlichen Relevanz der Institution Kirche nicht identisch sei mit einem allgemeinen Bedeutungsverlust von Religion (Luckmann, 1991: 56-58). Auch wenn kirchliche Religiosität im Abnehmen begriffen wäre, würden neue Sozialformen von Religion entstehen, ein Phänomen, das Hubert Knoblauch in seinem bekannten Vorwort der Neuauflage des Buches von Luckmann im Jahre 1991 als „Verflüchtigung der Religion ins Religiöse“ treffend charakterisierte (Knoblauch in Luckmann, 1991: 7). Luckmanns theoretische Überlegungen entwickelten sich aus einer Kritik an den in der Religionssoziologie üblichen Forschungsmethoden (Luckmann, 1991: 53-55). In den eigenen empirischen Untersuchungen kommt er zu dem Ergebnis, dass der „Kern des Religiösen in den Deutungsmustern und ,Weltansichten‘“ (Knoblauch in Luckmann, 1991: 10) liegt. Im Zuge dessen definiert Luckmann Religion neu, und zwar als eine universale anthropologische Konstante und als „die Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenz“ (Luckmann, 1985: 27; Luckmann, 1991: 79-86). Transzendenz bedeutet für Luckmann in diesem Zusammenhang (Luckmann, 1985: 27), dass der Mensch sich nicht ausschließlich als Natur begreifen kann. Gleichzeitig betont er, dass ebendieses „nur als Natur“ von großer Bedeutung sei, weil es darauf verweise, dass alle Menschen „Transzendenz“ erfahren, weil diese für die Erfahrung der Lebenswelt konstitutiv sei (Luckmann, 1985: 27). Die Grenzen der alltäglichen Erfahrungen, die sich durch Konfrontation mit dem Bewusstsein der eigenen Endlichkeit (durch z.B. Krankheit, Alter und Tod) charakterisieren lassen, führt dabei zu einem „Wissen um die Transzendenz der Welt“ (Luckmann, 1985: 28). An anderer Stelle schreibt Luckmann im Hinblick auf die Bedeutung des „Religiös-Seins“ des Menschen, dass sich im Transzendieren des menschlichen Organismus die Entwicklung hin zu einer geschichtlich-gesellschaftlichen Person ausdrückt (Luckmann, 1985: 33): „Wohin der 97 Das Buch erschien unter dem Originaltitel „The Invisible Religion“ erstmals 1967 in New York.

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Mensch den Alltag transzendiert, wie er dieses Tanszendieren deutet und mit Hilfe von Symbolen – und Ritualen – zum Thema macht, ist jedoch keine Sache einer universalen, ,natürlichen‘ Religiosität, sondern eine Sache der historischen Gesellschaftlichkeit des menschlichen Daseins“ (Luckmann, 1985: 33). Damit ist im Luckmannschen Verständnis Religiosität bzw. Religiös-Sein in ihrer spezifischen Bedeutung immer an eine jeweilige gesellschaftliche Form gebunden und wird von dieser bestimmt (vgl. auch Geertz, 1988). Dieses spezifische Verständnis wird dabei nicht innerhalb eines subjektiven Innenraums, sondern im Rahmen von intersubjektiven und gesellschaftlich mitgeformten Erfahrungen durch Kommunikation und Interaktion im Sinne einer zweiten Wirklichkeit konstruiert (Luckmann, 1985: 34). Abhängig von den jeweiligen Transzendenzerfahrungen kann diese zweite Wirklichkeit als „ganz anders“ oder auch als Teil der alltäglichen Wirklichkeit verstanden werden. Diese intersubjektiven Erfahrungen der Transzendenz sind nach Luckmann Entstehungshintergrund dessen, was dann als Religion konzeptionalisiert wird (Luckmann, 1985: 34). Damit bringt Luckmann die Verwobenheit von Transzendenzerfahrung, die nie „reine“ Transzendenzerfahrung ist, mit den Erfahrungen der Wirklichkeit in z.B. lebensnotwendigen Bedürfnissen wie Hunger, Schlaf und Angst zum Ausdruck und manifestiert deren gemeinsame Umsetzung im „Prozess der Vergesellschaftung“ durch eine Konzeptionalisierung in Form von Religion. Demzufolge ist Luckmanns Auffassung von Religion, „[...]daß sie in der Vergesellschaftung des Umgangs mit Transzendenzerfahrungen begründet ist, daß dies ihre ,Funktion‘ darstellt. Unter ,Religion‘ verstehe ich also jenen Kern der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit, der den Umgang mit den Transzendenzen [...] mit mehr oder weniger Erfolg gestaltet und verbindlich regelt.“ (Luckmann, 1985: 34)

Die Grundfunktion von Religion entspricht dabei der Grundfunktion von vergesellschaftlichten Wirklichkeitskonstruktionen, diese wiederum haben die Aufgabe bzw. die allgemeine Funktion einer Umweltstabilisierung. Religion stabilisiert in diesem Zusammenhang aber nicht Umwelt, sondern sie stabilisiert die „umweltstabilisierenden Wirklichkeitskonstruktionen“ (Luckmann, 1985: 35). Die daraus resultierende verbindliche Ordnung des Umgangs mit dem Transzendenten „[...] schafft also Ordnung tief in den Alltag hinein und sichert ihn, in gewissem Sinn, vor zerstörenden Einbrüchen subjektiv erfahrener Außeralltäglichkeit“ (Luckmann, 1985: 35). Von Religion und Gesellschaft als von etwas klar voneinander Trennbarem zu sprechen ist Luckmann zufolge sinnlos, da Religion im Sinne von Durkheim immer auch Gesellschaft ist. Religion kann sich dabei innerhalb von Gesellschaften in unterschiedli-

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chen Formen etablieren, und auch Religiosität kann je nach Gesellschaft verschiedenen Ausdruck finden (Luckmann, 1985: 35). Luckmanns Ausführungen zur „unsichtbaren Religion“, ein Begriff, der nur im Titel des Buches auftaucht, führten zu einem Umdenkungsprozess innerhalb der soziologischen Religionsforschung. Obwohl das Essay nicht auf systematischen Daten beruht und den Status von vorläufigen Überlegungen besitzt (Knoblauch in Luckmann, 1991: 11), ist Luckmann mit seinem modernisierungstheoretischen Konzept, das die Transformationsprozesse der Religion mit dem Wandel von Kirchlichkeit in der modernen Gesellschaft in Zusammenhang setzt, weithin rezipiert worden. Für die vorliegende Untersuchung ist dabei die Charakterisierung von Religion unabhängig von Kirchlichkeit und die damit einhergehende Bestimmung als individuelle Religiosität auf der einen Seite sowie deren Zusammenhang zu gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen auf der anderen Seite relevant. Fehlende Kirchlichkeit von Religion, oder wie Luckmann an anderer Stelle schreibt, das „Fehlen eines offiziellen Modells“ (Luckmann, 1991: 148) wird durch den Begriff der „unsichtbaren Religion“ charakterisiert. Das „Fehlen eines offiziellen Modells“ macht es prinzipiell möglich, dass der „,autonome‘ Einzelne nicht nur bestimmte Themen auswählt, sondern sich sozusagen ,eigenhändig‘ ein klar umschriebenes privates System von letzten Bedeutungen zusammenbaut“ (Luckmann, 1991: 148). Mit Bezug auf eine Konzeptionalisierung von muslimisch-aserbaidschanischer Religion und Religiosität werden Religion und Religiosität in der vorliegenden Untersuchung im Sinne von Luckmann als intersubjektiv und gesellschaftlich geformte Erfahrungen und Umgangsweisen mit Transzendenz verstanden. Laut Faradov ist unklar, welches Konzept von Religion das Bewusstsein der Mehrheit der Aserbaidschaner bestimme: „What is the concept of ,religion‘ in mass consciousness“ (Faradov, 2001: 28)? Dabei soll im Folgenden ein Konzept von Religion und Religiosität der Mehrheit der muslimischen Aserbaidschaner in Anlehnung an die Ausführungen zur „unsichtbaren Religion“ konstruiert werden.

2.1.1 Muslimische Religion und Religiosität in Aserbaidschan „Unsichtbare“ Religion heißt im Kontext einer Konzeptionalisierung von muslimisch-aserbaidschanischer Religion und Religiosität nicht, dass diese zu Sowjetzeiten oder heute nicht visuell sichtbar war oder ist, sondern dass sich die Formen der gelebten Religion und Religiosität abseits eines „offiziellen“

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islamisch-„orthodoxen“ Modells bewegten (und zumeist immer noch bewegen) und damit zumindest aus Sicht einer islamisch-„orthodoxen“ Perspektive98 „individualisierte“ Züge angenommen haben. Die Annahme, dass muslimisch-aserbaidschanische Religiosität eine „unsichtbare Religion“ ist, beruht auf Argumenten, die im Zusammenhang und mit Verweisen auf Sekundärliteratur in Kapitel II und dabei insbesondere in Kapitel I 1.1.1 bereits ausführlich dargestellt wurden. An dieser Stelle werden sie in knapper Form und mit Bezug zu einem Konzept von „unsichtbarer“ Religion nochmals aufgegriffen. Im Zuge der Repressionen zur Zeit der sowjetischen Vorherrschaft kam es zu einer Verflüchtigung der (islamisch-„orthodoxen“) Religion zu (muslimischen) Formen der Religiosität. Dabei veränderte sich vor dem Hintergrund dieser Repressionen die gesellschaftliche Konzeptionalisierung des Islams, der als Religion, verstanden im Sinne eines „offiziellen Modells“ (Luckmann, 1991: 148), in den Hintergrund getreten ist, jedoch als „way of life“ bestehen blieb (Swietochowski, 1995: 117). Was bei Swietochowski als „way of life“ charakterisiert wird, wird hier mit Luckmann als gesellschaftlicher Umgang mit Transzendenz verstanden, d.h. Religion und und vor allem Religiosität existierten weiter, wurden aber vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Entwicklungen gemäß den Annahmen von Luckmann neu konzeptionalisiert. Konkret bedeutet dies mit Blick auf Aserbaidschan, dass zwar die religiös fundierten Bräuche und Traditionen, wie sie bei Beschneidungen, Hochzeiten und Beerdigungen sowie in den Besuchen von Heiligengräbern (ziyarətgah)99 deutlich werden, erhalten geblieben sind, jedoch der sichtbare Ausdruck einer („orthodoxen“) islamischen Identität (das „offizielle“ Modell), die Einhaltung der fünf Säulen des Islam, abgesehen von der Religiösen Pflichtabgabe, ins Abseits geraten ist (Dragadze, 1994: 155; Swietochowski, 1995: 117). Mit Blick auf die Gesellschaftsordnung bedeutet dies, dass der Alltag der muslimischen Aserbaidschaner nicht von den „orthodox“-islamischen Geboten bestimmt war und wird. Ebenso spielten und spielen islamische Kleidungsvorschriften sowie z.B. auch eine islamische Erziehung und Bildung keine oder zumindest keine bedeutende Rolle. Die subjektiven Weltsichten, dies soll an zwei Einzelfällen im Kontext der Datenauswertung gezeigt werden100, sind dabei nicht von der islamischen Religion bestimmt, sondern wenn muslimische Religiosität eine Rolle spielt, dann wird diese mit Vorbehalt als „individuell“ gestaltet, d.h. gemäß einer „Patchwork-Religiosität“ setzt sich das Religions- und Religiositätsverständnis des Einzelnen aus Elementen der islami98 Vgl. dazu auch die Ausführungen in Kapitel II 2.2.1. 99 Siehe dazu auch in Fußnote 58. 100 Siehe dazu die Auswertungen in Kapitel IV 1.4 und Kapitel IV 1.5.1.

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schen Religion zusammen, die aber im eigenen Lebenszusammenhang eine subjektive Interpretation erfahren (vgl. auch Pfluger-Schindlbeck, 1998: 98). Dem könnte das Argument entgegengehalten werden, dass Religion und Religiosität immer eine subjektive Interpretation bzw. Verortung im eigenen Lebenszusammenhang erhalten, als unterscheidendes Merkmal wird hier allerdings gesehen, dass sich muslimisch-aserbaidschanische Religiosität wesentlich von einem offiziellen Modell (hier im Sinne des „orthodoxen“101 Islams) von Religion unterscheidet und damit als „neue Sozialform“ (zit. nach Knoblauch in Luckmann, 1991: 7) von Religion angesehen werden kann.

2.2 „Sichtbare“ Religion Der Ägyptologe Jan Assmann greift in seinem Buch „Religion und kulturelles Gedächtnis“ auf Luckmanns Begriff der „unsichtbaren Religion“ zurück und schreibt: „Aus dem Luckmannschen Begriff der unsichtbaren Religion ergibt sich also eine Unterscheidung innerhalb des Religionsbegriffs [...] Unsichtbare Religion ist die übergeordnete unsichtbare Religion, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und zur ,Welt‘ bestimmt, sichtbare Religion ist die in spezifischen Institutionen des Kultes und Priestertums sichtbar gewordene Religion, die innerhalb des Weltganzen die speziellen Aufgaben des Umgangs mit dem Heiligen und der Verwaltung der Heilsgüter wahrnimmt.“ (Assmann, 2004: 46)

Assmann konstatiert, dass Luckmann hier eine implizite Unterscheidung innerhalb des Religionsbegriffes in eine unsichtbare und in eine sichtbare Religion vornimmt. Indem er seine theoretischen Ausführungen mit Bezug auf die altägyptische Gesellschaft anstellt, grenzt sich Assmanns von Luckmanns These insofern ab, als dass er die Wandlungsprozesse (von sichtbarer) zu unsichtbarer Religion „nicht als Spezifikum der Moderne“ verortet (Assmann, 2004: 47). Wie Assmann feststellt, sei schon im alten Ägypten zwischen einer sichtbaren und unsichtbaren Religion unterschieden worden (Assmann, 2004: 51)102 und diese Unterscheidung habe eine „säkulare Konzeption von Gerechtigkeit als dem Insgesamt der Normen“ ermöglicht (Assmann, 2004: 51). Im Unterschied zu einer Entwicklungsrichtung von sichtbarer (im Sinne von Luckmann ist mit sichtbarer Religion „institutionalisierte Religion“ gemeint) zu 101 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch in Fußnote 14. 102 Diese Unterscheidung sei durch den Begriff des „Ma’at“ gegeben als Bezeichnung für das Prinzip einer universalen Harmonie (Assmann, 2004: 47-50).

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unsichtbarer Religion hat in der altägyptischen Kultur laut Assmann die Entwicklung eine entgegengesetzte Richtung genommen: nämlich von einer unsichtbaren zu einer sichtbaren Religion. Grundsätzlich zeigt Assmann am Beispiel der altägyptischen Kultur, dass im Bereich von unsichtbarer Religion eine Trennung der Bereiche von „Kult“103 und „Gerechtigkeit“104 herrschte (Assmann, 2004: 50). Indem jedoch Kult und Gerechtigkeit auf einer Ebene zusammengeführt worden seien, wurde die unsichtbare Religion in eine sichtbare Religion verwandelt und es sei damit eine Religion entstanden, die in Übereinstimmung mit Sundermeiers begrifflicher Definition (Sundermeier, 1987) als sekundäre Religion im Gegensatz zu einer primären Religion zu bezeichnen sei. Sekundäre Religionen entstünden dabei aus einem Prozess der Entdifferenzierung und führten zu religiös formalisierten Weltsichten, denen vorher individualistische religiöse Weltsichten gegenüberstehen. Durch das Zusammenbringen von Kult und Gerechtigkeit kommt es zu einem „Theologisch-Werden“ (Assmann, 2004: 51) von Begriffen der Gerechtigkeit und damit zur sekundären Religion: „Sekundäre Religionen [...] erheben den [diesen] religiösen Kosmos dabei in den Rang einer letztfundierenden, alles Wissen und Handeln determinierenden Wirklichkeit und heben den Unterschied zwischen unsichtbarer und sichtbarer Religion auf.“ (Assmann, 2004: 51) Im Hinblick auf einen Entwicklungsprozess von unsichtbarer zu sichtbarer Religion spricht Assmann von der „Theologisierung des kulturellen Gedächtnisses“ (Assmann, 2004: 52), mit der er den Prozess der Aufhebung von unsichtbarer zu sichtbarer Religion beschreibt. Eine bedeutende Rolle spielt bei der Frage, wie es zum Wandel von der unsichtbaren zur sichtbaren Religion kommt, die kanonisierte Schrift. Assmann schreibt dahingehend, dass die Triebkräfte des Entstehens von entdifferenzierten, unifizierten Religionen in einem Prozess der Theologisierung im Entstehen von kanonisierter Schrift zu finden sind. Die „lebendige, verkörperte Tradition [finde] ihren Tod in der normativen Schriftlichkeit“ (Assmann, 2004: 81). Islamisch-„orthodoxe“ Religion und Religiosität wird im Anschluss an die Ausführungen von Assmann als „sichtbare Religion“ verstanden. Assmann Ausführungen sind für die vorliegende Untersuchung dahingehend von Relevanz, weil er mit diesen eine Möglichkeit schafft, für die vorliegende Arbeit eine Unterscheidung von zwei Religionskonzepten aufzuzeigen, vor deren Hintergrund eine religiöse Konversion von „aserbaidschanisch-muslimischer“ Religion und Religiosität zu „orthodoxen“ Islamkonzeptionen deutlich gemacht werden kann. 103 Verstanden als religiöser Kosmos (Assmann, 2004: 50). 104 Verstanden als moralisch-politischer Kosmos (Assmann, 2004: 50).

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Denn die potentielle Übernahme105 von „orthodoxen“ Islamkonzeptionen, die hier als historisch, gesellschaftlich und kulturell ausgeformte sowie durch politische Einflüsse geprägte Versionen eines normativen Konstruktes von islamischer Religion und Religiosität definiert werden, bringt eine radikale Veränderung der Struktur der jeweiligen Weltsichten der befragten Personen mit sich sowie einen Wechsel von einer Gesellschaftsordnung in eine andere. Um diese Behauptung theoretisch zu fundieren, wird im folgenden Kapitel ein normatives Konstrukt von islamischer Religion und Religiosität skizziert, um zu verdeutlichen, dass eine Ausrichtung der Lebensgestaltung an den islamisch-„orthodoxen“ Glaubensvorschriften grundlegende Veränderungen im Hinblick auf eine Neuordnung der subjektiven Weltsichten mit sich bringt und für den Einzelnen eine „neue Gesellschaftsordnung“ im Sinne eines neuen kulturell-religiösen Orientierungssystems konstituiert.

2.2.1 Ein normatives Konstrukt islamischer Religion und Religiosität Im Kontext eines Konstruktes von „orthodox“ islamischer Religion und Religiosität ist eine Absetzung zum christlichen (westlichen) Verständnis von Religion und Religiosität hilfreich. Der Begriff der „Religion“ in einem von der christlichen Religion geprägten Begriffsverständnis und der für Religion gebrauchte Begriff dīn in einem von der islamischen Religion geprägten Begriffsverständnis sind insofern in ihrer inhaltlichen Bedeutung nicht gleichzusetzen, da eine Übersetzung von dīn in den koranischen Versen mit dem Begriff der Religion106 an einigen Stellen passend ist, aber einige Mal mit act of worship (þibÁdÁt) übersetzt werden muss (Gardet, 2001). 105 Die Übernahme bei den befragten Personen. 106 Mit Arendt (Arendt, 1957: 152) wird im vorliegenden Kontext der Begriff der Religion (abgeleitet von re-ligare) in Zusammenhang mit der Legitimation der Herrscher als das „[...] Zurückgebunden- und Verpflichtetsein der ungeheuren, nahezu übermenschlichen und daher immer schon legendären Anstrengung, die Grundlagen zu schaffen, die Fundamente zu legen, für alle Ewigkeit zu gründen. Religiös sein bedeutete, an die Vergangenheit gebunden sein.“ (Arendt, 1957: 152) Ihre Definition steht im Kontext einer Erklärung der Trias von Religion-Tradition-Autorität, die den grundlegenden Staatsgedanken der Römer ausgemacht habe. Von Relevanz sei dies aufgrund der Tatsache, dass der Begriff der „Religion“ in ebendieser Bedeutung vom Christentum übernommen worden sei. Dabei sei die „Auferstehung Christi zu dem Eckstein einer neuen Gründung“ gemacht worden und in diesem Zusammenhang sei die Kirche als öffentliche Institution „das eigentliche Fundament“ geworden (Arendt, 1957: 159). Mit Bezug auf Ausführungen von Luckmann (Luckmann, 1985: 27), der feststellt, dass vor allem von Seiten der Theologie und Philosophie Religion immer in einer hochgradig institutionalisierten Form betrachtet wurde, findet sich in der Herleitung des Begriffs bei Arendt die Erklärung für

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Mit Gardet ist festzustellen, dass dīn107 für Gehorsam, Bestimmung, Unterwerfung und Vergeltung steht. Die erste Verpflichtung des Muslims ist dahingehend die absolute Unterwerfung sowie die Hingabe an Gott. Die Beziehung des Menschen zu Gott ist durch die Unterwerfung (islÁm) unter Gottes Gebote definiert, der Muslim ist derjenige, der sich unterwirft (Gardet, 2001). Demzufolge wird dīn unter anderem von dāna li-[...] abgeleitet, was „sich unterwerfen“ bedeutet, und kann in dieser Ableitung als Ausdruck der verpflichtenden Vorschriften von Seiten Gottes verstanden werden, denen es sich zu unterwerfen gilt.

die begriffliche Bezogenheit des christlich-abendländischen Religionsverständnisses auf die Institution der Kirche. 107 Im Allgemeinen werden drei unterschiedliche Bedeutungen von dīn unterschieden (Gardet, 2001): 1. Dīn in der Bedeutung von Gericht, Urteil, 2. dīn in der Bedeutung von Brauch, Gewohnheit sowie 3. dīn in der Bedeutung von Religion. Während die erste Bedeutung hebräisch-aramäische Wurzeln habe, besitze die zweite arabische Wurzeln im Wort dāna, dayn, das die Bedeutung von Schuld bzw. Geldschulden habe. Die dritte Etymologie verweist auf das pahlevische Wort dēn. Über diese Bedeutung, die laut Gardet von Nöldeke und Vollers (zit in Gardet, 2001) bestimmt worden sei, herrsche Uneinigkeit. Gardet lehnt sie in Übereinstimmung mit Gaudefroy-Demombynes (Gaudefroy-Demombynes zit. in Gardet, 2001) ab, mit der Begründung, dass das Verständnis der Konzeption von Religion im Islam und im Mazdaismus (Mazdaismus ist die von Zarathustra gestiftete altpersische Religion, wobei Mazdaismus von dem persischen Gottesnamen Ahura Mazda herrührt) keinesfalls identisch ist. Im Gegensatz dazu interagieren die beiden ersten Herleitungen des Begriffes dīn, die hebräische und die arabische, miteinander: Dīn, abgleitet von dayn, beinhaltet aufgrund der semantischen Dialektik des Arabischen sowohl den Aspekt der Schuld, die an einem bestimmten Tag fällig wird, als auch den Aspekt des Brauches und der Sitte im Sinne einer Vorstellung der Bestimmung durch Gott. „Jugdement, retribution“, die hebräischaramäische Abstammung von dīn, interagiert mit der arabischen insofern, als die Bestimmung von Gott durch ein Urteil zugewiesen wird. So ist der Tag des Jüngsten Gerichts („Day of Judgement“ (Gardet, 2001), der Tag, an dem Gott jedem Menschen eine Bestimmung im Rahmen einer Vergeltung seiner Schuld zuweist. Aus der Perspektive des Zusammenhangs von arabischer und hebräisch-aramäischer Etymologie hat das Konzept der Bestimmung der Schuldzuweisung Bestand. Gesehen aber von der Perspektive desjenigen, der die Verpflichtung erfüllen muss und die Bestimmung erhält, ist dīn im Sinne von Religion im weitesten Sinne zu verstehen. Obwohl es hinsichtlich dieser Übersetzung keinen Zweifel gibt, stimmt das Konzept von dīn nicht völlig mit dem Konzept von Religion, verstanden im Sinne des lateinischen Begriffs christlicher Prägung, des re-ligare, überein (siehe Fußnote 106). Denn während sich re-ligare im Wesentlichen auf die Zurückgebundenheit an Gott bezieht, beinhaltet dīn gleichzeitig die Vorschriften, die Gott seinen „reasoning creatures“ (Gardet, 2001) auferlegt.

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Der Islamwissenschaftler Nagel geht im Zusammenhang mit dīn auf den Aspekt der Schuld, und zwar der Dankesschuld, ein. Im Zusammenhang mit der vom Propheten geforderten notwendigen Einsicht des Menschen in seine Kreatürlichkeit (Nagel, 1994: 26) wird der Mensch als eine Kreatur Gottes definiert und dies wiederum stelle ihn in eine Position allumfassender Abhängigkeit. Die daraus resultierende Dankesschuld muss der Mensch durch das rituelle Gebet ableisten (Nagel, 1994: 27). Von Bedeutung für den vorliegenden Kontext ist, dass dīn, verstanden in der Bedeutung als verpflichtende Anweisungen Gottes, denen Folgen zu leisten ist (Gardet, 2001), ein Konzept von dīn als unbedingtem Gehorsam transportiert, der durch die Praxis des þibÁdÁt (der rituellen Glaubenspraxis) zum Ausdruck gebracht wird.108 Obwohl die inhaltlichen Bestimmungen von dīn Bestandteil von islamisch-theologischen Disputen gewesen sind109 und die Ansichten der einzelnen religiösen Orientierungen und Schulen diesbezüglich divergierend sind, kann festgehalten werden, dass islamische Religion und Religiosität in einen engen Zusammenhang zur rituellen Glaubenspraxis (þibÁdÁt) zu setzen ist, die im alltäglichen Leben handlungsanleitend ist und eine unabdingbare Voraussetzung für eine Definition von Religiosität aus einer islamisch-„orthodoxen“110 Perspektive ist (Gardet, 2001). Dīn schließt demzufolge aus einer begrifflichen Perspektive den „act of worship“, also die rituelle Glaubenspraxis (þibÁdÁt) ein, wobei dadurch die Bedeutung der Einhaltung der göttlichen Vorschriften eine besondere Betonung erhält. Im Hinblick auf die „geläufige Form der islamischen Religiosität“ (Nagel zit. in Tezcan, 2003: 214), konstatiert Nagel, dass „sie sich weitgehend auf den äußeren Vollzug des religiösen Rituals verlässt“ (Nagel zit. in Tezcan, 2003: 214). Damit steht diese in einem Oppositionsverhältnis zu einer individual-ethischen Haltung, „die dem gegenüber schwach ausfällt“ (Nagel zit. in Tezcan, 2003: 214). „An die Stelle der Herausbildung eines gemeinschaftlichen Ichs tritt somit der eher äußerliche Vollzug der gemeinschaftlichen Rituale und Bekenntnisse. Sie werden, losgelöst von ihrer individual-ethischen

108 Es lässt sich dabei bei der Bestimmung von dīn auf eine Geschichte der theologischen Auseinandersetzungen verweisen (Nagel, 1994: 229). Während z.B. die Hanbaliten eine Definition des Glaubens aufstellten, „der sich [...] in der Beachtung der vom Gesetz festgelegten Glaubenssätze (dīn) der Scharia (šarÍþa) und im Festhalten an der Gemeinschaft erschöpfte“, konstatierten andere religiöse Orientierungen wie die Aš‛arīten, dass „der Glaube [...] hierdurch noch nicht hinreichend bestimmt [ist], [...] also hierüber hinaus [geht]“ (Nagel, 1994: 229f.). 109 Siehe dazu in Fußnote 108. 110 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch in Fußnote 14.

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Deutung und Bedeutung, für die große Masse zur eigentlichen Lebensmitte des islamischen Gemeinwesens.“ (Nagel, 1981: 347) Im Anschluss an die Ausführungen von Nagel und Gardet lässt sich eine Interpretation von islamischer Religion und Religiosität dahingehend vornehmen, dass als elementarer Bestandteil von dieser die Erfüllung der Glaubensvorschriften gesehen werden kann. Mit Vorbehalt kann an dieser Stelle vorsichtig formuliert werden, dass dieser Pflicht gegenüber eine rein „individual-ethische Deutung“, z.B. im Sinne eines Glaubensbekenntnisses ohne Einhaltung der Orthopraxie, aus „orthodox“-islamischer Sicht wenig Relevanz beigemessen wird.111

2.3 Operationalisierung eines möglichen Bedeutungswandels Mit Bezug auf die vorliegende Arbeit soll die dargestellte Notwendigkeit der Glaubenspraxis aus einer islamisch-„orthodoxen“ Perspektive zeigen, dass eine Ausrichtung der Lebensgestaltung nach einer „orthodox“-islamischen Religions- und Religiositätsvorstellung einer Konversion zu einer „sichtbaren“ und damit „anderen“ Religion gleichkommt. Vor dem Hintergrund einer alltäglichen Lebensgestaltung im Sinne der Einhaltung der Glaubensvorschriften soll im Kontext der Datenauswertung gefragt werden, ob bei den Befragten, deren Religions- und Religiositätsverständnis einen Bedeutungswandel dahingehend erfährt, dass eine „orthodoxe“ Islamkonzeption übernommen wird, von einer so radikalen Umstrukturierung der subjektiven Weltsicht sowie der eigenen Lebensgestaltung gesprochen werden kann, dass ein Bedeutungswandel einer Konversion gleichzusetzen ist. Um einen Bedeutungswandel in den Daten operationalisierbar zu machen, sind insbesondere folgende Faktoren wesentlich im Hinblick auf die Untersuchungsfrage: • die subjektiven Bedeutungszuschreibungen an Religion, • die Definition von Religiös-Sein, der Einhaltung von þibÁdÁt, • die Bewertung der Notwendigkeit • die Einstellung zum ziyarətgah112, 111 Dennoch findet sich im Koran eine eindeutige Unterscheidung zwischen dem Muslim als dem, der sich „nur unterwirft“, und „dem Gläubigen“. In einigen Suren wird dabei im Sinne einer klaren Trennung von „islÁm“ (Unterwerfung) und „īmān“ (Glaube) gesprochen: „The Bedouins say: ,we believe‘. Say: you do not believe; rather say, ,We surrender‘ (aslamnā). Faith has not entered into your heart.“ (Gardet, 2001) 112 Wobei an dieser Stelle insbesondere mit Blick auf die „religiöse“ Praxis des ziyarətgah gesagt werden muss (auch in Ergänzung zu Fußnote 58), dass die Einstellung von Schiiten und Sunniten in Bezug auf „Heiligengräber“ durchaus unterschiedlich ist und eine unterschiedliche Haltung bzw. Praxis (um an

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• • • •

die Einschätzung der Person des Mullas, die Rolle des Korans, die Haltung zu anderen religiösen Orientierungen und Religionen, die Bedeutungszuschreibung an den bzw. die Propheten.

Anhand dieser Faktoren wird im Kontext der Datenauswertung gezeigt werden, ob es zu einem möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität kommt. Im Fazit der Arbeit werden diese Faktoren dann nochmals zusammen mit den Auswertungen und Interpretationen aufgegriffen, um die Frage zu beantworten, ob von einer Konversion von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion gesprochen werden kann.

dieser Stelle den in Kapitel V 1.1 und V 1.2 dargestellten Ergebnissen vorauszugreifen) auch nach einer „Konversion“ zu einem institutionalisierten („orthodoxen“) Religionsverständnis bestehenbleibt. Der ziyarətgah kann somit nur mit Einschränkungen als Kriterium zur Operationalisierung eines Bedeutungswandels herangezogen werden, da ich im Zuge meiner Teilnehmenden Beobachtungen insbesondere in der schiitischen Cuma-Moschee in Baku feststellen konnte, dass die „orthodox“ Gäubigen im Rahmen der Aktivitäten der Moscheegemeinde gemeinsame „Pilgerfahrten“ zu den in Aserbaidschan bedeutenden Heiligengräbern unternehmen. Auf schiitischer Seite kommt es also auch im Rahmen von „orthodoxen“ (institutionalisierten) Religionsverständnissen nicht zu einer Abwertung der Praxis der Besuche von Heiligengräbern.

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IV Das Forschungsdesign

1 Die Methoden der Datenerhebung Weil es sich bei der Untersuchung zur Bedeutung und zum Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bei Studierenden und DozentInnen in Institutionen islamischer Bildung in Aserbaidschan um einen vorher noch nicht untersuchten Sachverhalt handelt, bietet sich ein qualitativer Forschungsansatz an (Oswald, 1997: 79). Als wichtigste Instrumente der Datenerhebung wurden das Leitfaden-Interview (Flick, 1998: 146) und die Teilnehmende Beobachtung (Spradley, 1980) gewählt. Im Sinne eines „flexiblen Forschens“ wie bei Laux (Laux, 2003: 114) beschrieben, erfordert die Situation im Feld einen zum Teil flexiblen und spontanen Einsatz von Methoden. So wurde neben der gewählten qualitativen Herangehensweise in einem ersten Abschnitt der Forschung ein Fragebogen konstruiert.113 Dies geschah vor dem Hintergrund, dass die DozentInnen an der Islamuniversität zum einen nicht erlaubten, Interviews auf Tonband aufzunehmen, und mir zum anderen zum damaligen Zeitpunkt meine aserbaidschanischen Sprachkenntnisse nicht ausreichend gut erschienen, um ohne Tonbandgerät adäquat zu arbeiten. Aufgrund dieser Sachlage wurden Daten für einen ersten Überblick auch im Hinblick auf die Überprüfung der Relevanz des gewählten Themas mittels eines Fragebogens erhoben. Weiterhin wurde mir z.B. an der İmam-Hatip-Schule kurzfristig der Vorschlag gemacht, statt der geplanten Einzelinterviews eine Art „Gruppendiskussion“ in einer Schulklasse durchzuführen, die im Anschluss daran zu weiteren Themen und in einer zweiten Klasse wiederholt werden konnten. Des

113 Zum Fragebogen siehe im Anhang, Anlage 1.

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Weiteren wurde ebenfalls an der İmam-Hatip-Schule von einer Lehrerin spontan die Möglichkeit offeriert, die SchülerInnen Aufsätze schreiben zu lassen. Demzufolge bestehen die Daten, die an dieser Institution erhoben wurden, aus Aufsätzen zu verschiedenen Fragestellungen sowie den „Gruppendiskussionen“. Generell wurden viele Interviews nicht, wie ursprünglich geplant, als Einzelinterviews, sondern häufig entweder auf Wunsch oder weil es die Umstände nicht anders erlaubten, in Gruppen von zwei bis in Ausnahmefällen sogar zehn Personen geführt. Der Begriff des „situationsflexiblen Forschens“ (Girtler, 1996: 225-231) wurde von Girtler geprägt und fordert die notwendige Anpassung des Forschers an das Feld, um nicht zu stören, aber auch um eine Beziehung sowohl zu den Personen als auch zum Untersuchungsfeld insgesamt aufzubauen. Eine Haltung im Sinne des situationsflexiblen Forschens ermöglichte es, in Aserbaidschan Daten zu erheben; zum Teil mussten dabei Abstriche an normative methodische Anforderungen gemacht werden.

1.1 Einstieg ins Feld und die Konstruktion eines Fragebogens Insgesamt umfasste der Zeitraum des Forschungsaufenthaltes – der nicht in einem, sondern in Abschnitten von zwei Monaten (Frühjahr 2002), drei Monaten (Herbst und Winteranfang 2002) sowie vier Monaten (Frühjahr und Sommerbeginn 2003) stattfand – neun Monate. Während dieser Zeit lebte ich über einen Zeitraum von fünf Monaten mit zwei aserbaidschanischen Familien zusammen. Dies ermöglichte ein Vertraut-Werden mit der aserbaidschanischen Gesellschaft und Kultur sowie das Erlernen der aserbaidschanischen Sprache.114 Die in unserem Projekt beschäftigten aserbaidschanischen Mitarbeiter stellten mich bei den Direktoren und DozentInnen sowie zum Teil den Studierenden unterschiedlicher Institutionen islamischer Bildung vor. Dadurch konnte ein Netzwerk etabliert werden und die notwendigen Voraussetzungen für eine Datenerhebung geschaffen werden. Die Auswahl der Institutionen und der InterviewpartnerInnen wurde auch davon bestimmt, wie bereitwillig und unvoreingenommen meinem Forschungsvorhaben begegnet wurde. Ein Entgegenkommen war nicht immer selbstverständlich. Vor dem Hintergrund der zum Zeitpunkt der Forschung noch nicht lange zurückliegenden Ereignis-

114 Aufgrund einer soliden Kenntnis des Türkischen und des hohen sprachlichen Verwandtheitsgrades der beiden Turksprachen war es möglich, die aserbaidschanische Sprache nach zwei bis drei Monaten im Hinblick auf die Durchführung von Interviews ausreichend zu beherrschen.

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se des 11. September 2001 und eines anfänglichen allgemeinen Unverständnisses des Forschungsinteresses sowie der Art und Weise der Forschung gegenüber musste zunächst ein Vertrauensverhältnis geschaffen sowie die Klärung meines Erkenntnisinteresses vorgenommen werden. Prinzipiell ist eine Variation des methodischen Settings, indem z.B. qualitative und quantitative Methoden miteinander kombiniert werden, aus Sicht des Prinzips der Methoden-Triangulation durchaus zu begrüßen. Möglichen Fehlinterpretationen kann dadurch oftmals vorgebeugt werden (Laux, 2003: 117-118; Schründer-Lenzen, 1997: 107-108). In der vorliegenden Untersuchung konnte zuerst mehr den Umständen als einem geplanten methodischen Vorgehen zufolge mit dem Einsatz des Fragebogens eine relevante Forschungsfrage bzw. ein relevantes Forschungsthema ermittelt werden. Im Anschluss an die Auswertung eines Fragenbogens, der an alle DozentInnen (ca. 20-25) der Islamuniversität von Baku ausgeteilt wurde und von neun ausgefüllt an mich zurückgegeben wurde, wurde das ursprüngliche Forschungsvorhaben, eine „Didaktik islamischer Bildung“ in Institutionen islamischer Bildung in Aserbaidschan zu untersuchen, fallen gelassen. Zum einen zeigt die Fragebogenauswertung, dass das Thema wenig ergiebig ist, und zum anderen führte ein schon im Kapitel I 2 „Die Untersuchungsfrage und Hypothese“ dargestelltes Ereignis dazu, dass sich das Erkenntnisinteresse auf die Bedeutung und einen möglichen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bei den befragten Personen in Institutionen islamischer Bildung fokussierte.

1.2 Leitfadeninterviews und Interviewdurchführung Die in Kapitel I 2 dargelegte Konsequenz der Fragebogenaktion zusammen mit einer Auswertung der neun erhaltenen Fragebögen bildeten den ersten Rahmen im Hinblick auf die Konstruktion eines Leitfadens (Friebertshäuser, 1997b: 375). Im Weiteren wurden wesentliche Anregungen auch durch die Arbeit von Karakaşoğlu-Aydin gewonnen, die eine qualitative Untersuchung zur muslimischen Religiosität angefertigt hat (Karakaşoğlu-Aydın, 2000: 476f.). Diese wurde in Anlehnung an die bei Strauss und Corbin dargestellte Vorgehensweise zum Gebrauch von Sekundärliteratur mit dem Ziel der Steigerung der eigenen „theoretical sensitivity“ (Strauss/Corbin, 1990: 48ff.) bei der Konstruktion des Leitfadens herangezogen.115 Die Konstruktion eines Leitfadens zum Durchführen der Interviews erwies sich im Kontext der eigenen Untersuchung in mehrfacher Hinsicht als 115 Zum ersten Entwurf eines Interviewleitfadens siehe im Anhang, Anlage 2.

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sinnvoll bzw. unabdingbar. Zum einen ermöglichte es der Leitfaden bereits im Vorfeld, den Befragten eine Vorstellung über mein Forschungsanliegen zu geben. Denn neben dem bereits mehrfach thematisierten Befremden, das die Forschung auslöste, setzte sie auch konkrete Ängste frei. Die Antwort auf die Frage nach meinem Beruf, „Pädagogin, die im Nebenfach Islamwissenschaft und Ethnologie studiert hat“, rief des Öfteren die Vorstellung hervor, ich würde speziell in Interviews inhaltliches Wissen z.B. der Studierenden zum Islam „abfragen“. Einige DozentInnen befürchteten wiederum, ihre methodische Vorgehensweise im Unterricht könnte als „nicht den westlichwissenschaftlichen Standards“ (so wurde dies in etwa von einigen von ihnen formuliert) angemessen und damit als qualitativ schlecht bewertet werden. Wenn der Leitfaden den in die Untersuchung involvierten Personen vorab zum Lesen vorgelegt wurde und ihnen damit ein Überblick über die Fragen und mein Forschungsinteresse vermittelt werden konnte, war es zumeist kein Problem mehr, eine Vertrauensbasis zwischen den interviewten Personen und mir herzustellen. Oftmals entfaltete sich dann eine eigene Gesprächsdynamik. Wenn einzelne Gesprächsabschnitte zu Ende waren, dienten die Leitfragen für einen neuen Gesprächseinstieg. Wie in Kapitel III 1.2.1 dargestellt werden wird, sollten die Fragen der endgültigen Version des Leitfadens116 die Klassifikation der Befragten zur Bedeutung von Religion und Religiosität vor dem Hintergrund ihres eigenen „religiösen Werdegangs“ und ihrer Erfahrungen in Institutionen islamischer Bildung erfassen und in einen Zusammenhang zu Formen von Religion und Religiosität innerhalb der muslimischen aserbaidschanischen Mehrheitsgesellschaft stellen. Die Orte der Interviewdurchführung entsprachen, wie schon vorab erwähnt, häufig nicht dem Anspruch eines idealen Interviewsettings; das aber war Alltag in einem Forschungsfeld, in dem ein Alleinsein von Forscherin und GesprächspartnerInnen nicht selbstverständlich ist. Meist fühlten sich die Interviewten nach ihren eigenen Aussagen „sicherer“, wenn sie in der Interviewsituation einen Verwandten oder Freund bzw. eine Freundin an der Seite hatten. DozentInnen zogen es des Öfteren vor, sich in Gegenwart ihrer Studierenden interviewen zu lassen, und so wurden geplante Einzelinterviews von ihnen kurzerhand in einen Unterrichtsraum mit 30 Studierenden verlegt. Viele Interviews wurden demzufolge unter „widrigen“ oder zumindest ungewöhnlichen Umständen geführt. Gerade die Interviews und ihre zum Teil ungewöhnlichen Umstände ermöglichten allerdings auch ein Kennerlernen von zahlreichen aserbaidschanischen Familien und ihrem Zuhause sowie ihrer Lebensgewohnheiten und 116 Zur endgültigen Version des Interviewleitfadens siehe im Anhang, Anlage 3.

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machten mich mit meinem Forschungsfeld vertraut. Die Bereitschaft, den befragten Personen entgegenzugehen und Interviews z.B. in einer Gruppe mit zwei KommilitonInnen oder auch in ihrem Zuhause zu führen, in den Moscheeräumen etc., wirkten sich meiner Ansicht nach im Hinblick auf die Qualität der Interviews positiv aus. In einem Prozess des „Gebens und Nehmens“ (vgl. dazu auch Kaufmann, 1999: 24-25) waren die interviewten Personen viel eher bereit, sich auf meine Fragen einzulassen. Im Anschluss an die Interviews wurde jeweils ein Gedächtnisprotokoll geschrieben, in dem die wichtigsten Eindrücke hinsichtlich des Interviews und zusätzliche Informationen über den Gesprächspartner bzw. die Gesprächspartnerin wie biografische Daten und Informationen von Dritten sowie Gespräche, die erst nach Abschalten des Aufnahmegerätes geführt wurden, festgehalten wurden. Die insgesamt 55 Interviews wurden auf Tonband aufgezeichnet und von zwei Aserbaidschanerinnen transkribiert. Die Übersetzungen der Interviews bzw. der in der Arbeit angeführten Zitatstellen aus den Interviews wurden von mir selbst vorgenommen.

1.2.1 Die Entwicklung des Leitfadens Die Entwicklung des Leitfadens war einem Prozess unterworfen, der im Zusammenhang mit der Entstehung der Forschungsfrage und Hypothese der Arbeit stand. Erst nachdem deutlich wurde, dass die Bedeutung von Religion und Religiosität bei den befragten Personen das wesentliche Erkenntnisinteresse der Forschung darstellt, wurden von diesem ausgehend Fragen im Hinblick auf die Konstruktion eines Leitfadens überlegt. Demzufolge zielte die Einstiegsfrage des endgültigen Leitfadens darauf ab, den „religiösen Werdegang“ der befragten Person erzählt zu bekommen, und lautete in der Übersetzung „Wie kamen Sie zur Religion?“ oder auch: „Wie wurden Sie religiös?“.117 Diese Frage konnte nur deshalb in dieser Form formuliert werden, da zum Zeitpunkt der endgültigen Fassung des Leitfadens bereits deutlich geworden war, dass viele Studierende im Zuge ihres Studiums an einer Institution islamischer Bildung zum ersten Mal mit „orthodoxen“ Islamkonzepten konfrontiert worden waren und dabei vor dem Hintergrund ihrer eigenen religiösen Erziehung und Sozialisation von der Mehrheitsgesellschaft und ihrem Elternhaus abweichende Vorstellungen zu muslimischer Religiosität erfahren hatten. Die Einstiegsfrage ermöglichte es den befragten Personen, ihre „religiöse Biografie“ zu erzählen, und gab mir als Forscherin unter anderem Aufschluss darüber, was unter „Religiös-Sein“ von den Befragten verstanden wurde. 117 Im Original lautete die Frage: „Necə olduki, dinə gəldiniz?“.

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Im Laufe des Forschungsprozesses, in dem sich dann eine erweiterte Fragestellung bzw. auch Annahme dahingehend herauskristallisierte, dass es möglicherweise auch zur Übernahme der Islamkonzeptionen der Lehrenden durch die Lernenden kommt, wurde der Leitfaden dahingehend überarbeitet und neu entworfen. Es wurden Fragen aufgenommen, die klären sollten, ob und inwiefern es bei dem Einzelnen zu einer Übernahme von „orthodoxen“118 Islamkonzeptionen und damit zu einem Bedeutungswandel der eigenen Religion und Religiosität gekommen war. Dazu dienten z.B. die Fragen Nr. 5, Nr. 9, Nr. 10, Nr. 15 des Leitfadens. Frage Nr. 5119 wollte von der befragten Person wissen, welche religiösen Gebote als die wichtigsten erachtet wurden. Frage Nr. 9120 wollte von den interviewten Personen wissen, wie ihrer Meinung nach ein „religiöser“ Mensch zu sein habe. Diese Frage war eng verknüpft mit Frage Nr. 10121, die wissen wollte, wie die Beziehung des Befragten zu einem Menschen sei, der nicht die rituelle Glaubenspraxis ausüben würde. Frage Nr. 15 fragt nach der Einstellung zum Besuch von Heiligengräbern, einer von der muslimisch-aserbaidschanischen Mehrheitsgesellschaft relativ durchgängig ausgeübten Glaubenspraxis, die aus einer „orthodox“islamischen Sicht und hierbei vor allem auch von sunnitischer Seite abgelehnt und als „unislamische“ Praxis bezeichnet wird. Eine wichtige Funktion hinsichtlich eines ersten Leitfaden-Entwurfs stellten die Resultate der Fragebogenuntersuchung dar. Antworten, die im Kontext der Fragebogenuntersuchung gegeben worden waren, lenkten mein Interesse auf spezifische Schwerpunkte wie z.B. auf die Frage nach dem Bestehen eines Erziehungsverhältnisses zwischen Lehrenden und Lernenden sowie auf die Rolle von Autorität und von Vorbildern in der Interaktion zwischen den Lehrenden und Lernenden. Die im Fragebogen gestellte Frage: „Was assoziieren Sie mit Didaktik?“ wurde viermal gar nicht122, dreimal sehr knapp mit „Interesse erzeugen“ oder

118 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch Fußnote 14. 119 Im Original lautete die Frage: „Hansı dini qaydaları ən mühüm hesab edirsiniz?“. 120 Im Original lautete die Frage: „Sizcə dindar bir adam necə olmalıdır?“. 121 Im Original lautete die Frage: „Allaha ibadət etməyən insana münasibətiniz necədir?“ 122 Weil vier Personen gar keine Antwort auf meine Frage gegeben hatten, hatte ich die Vermutung, dass der Begriff der „Didaktik“ nicht richtig verstanden worden oder sogar unbekannt war. Dies bestätigte sich jedoch nicht, denn es zeigte sich, dass der Begriff aus der russischen Sprache, die die LehrerInnen neben dem Aserbaidschanischen beherrschen und in der sie auch studiert haben, durchaus bekannt war. Es stellte sich jedoch in persönlichen Gesprächen

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„Beratung und Vorbild sein“ beantwortet. Eine weitere Antwort besagte, dass es die Notwendigkeit eines spezifischen Erziehungsverhältnisses zwischen DozentInnen und Studierenden im Sinne einer „Eltern-Kind-Beziehung“ gebe (Fragebogen_3, 2002).123 Eine weitere Antwort auf die Frage war: „Aus dem Koran und dem beispielhaften Leben des Propheten lernen“ (Fragebogen_2, 2002).124 Insbesondere die beiden letzten Antworten riefen mein Interesse hervor, auch weil mir vor dem Hintergrund der eigenen schulischen und universitären Sozialisation sowohl die Vorstellung eines elternspezifischen Erziehungsauftrags der DozentInnen gegenüber den Studierenden (es handelte sich bei der besagten Institution um eine Islamuniversität) wie auch diejenige eines Propheten als Vorbild im Erziehungs- und Bildungsprozess fremd war. Im Anschluss daran wurde mit Blick auf den Leitfaden die Frage konzipiert, wie in der Perspektive des Befragten der „ideale Lehrer“ zu sein habe125, eine Frage, die insbesondere von den Lehrpersonen häufig mit dem Verweis auf den Propheten Muhammad beantwortet wurde. Weiterhin zeigten die Fragebögen, dass zumindest von einem Teil der Lehrpersonen der Religion des Islams nicht nur im Hinblick auf die Unterrichtsinhalte, sondern auch hinsichtlich der Definition von pädagogischen Zielen ein wichtiger Stellenwert eingeräumt wurde. Es zeigte sich, dass insbesondere die DozentInnen der explizit religiösen Fächer ihre Bildungs- und Erziehungsziele ausschließlich mit Bezug auf den Islam definierten. Es stellte sich dabei im Kontext der Forschung die Frage, ob und inwiefern sich die Islamkonzepte der einzelnen Lehrkräfte voneinander unterschieden und welchen Einfluss sie auf die Studierenden und ihre Konzepte von Religion nehmen. Nach den negativen Erfahrungen, die im Kontext der Verteilung eines Fragebogens gemacht worden waren, wurde der im Anschluss erstellte Leitfaden den aserbaidschanischen Mitarbeitern unseres Projektes zur Prüfung im Hinblick auf die Verständlichkeit der Fragen, aber auch hinsichtlich möglicher „Tabuthemen“ vorgelegt und erst im Anschluss daran im Feld zur Durchführung von Interviews herangezogen. Dabei stellten die Leitfragen oftmals den Einstieg in Interviewgespräche dar, die eine eigene Dynamik entfalteten und sich dabei auch von den ursprünglichen Leitfragen wegbewegen konnten.

heraus, dass die jeweiligen Lehrpersonen zu dem Begriff keinerlei Assoziationen hatten. 123 Siehe dazu auch in Kapitel IV 3.6.3. 124 Siehe dazu auch in Kapitel IV 3.6.2. 125 Im Original lautete die Frage: „Sizcə ideal bir müəllim necədir?“.

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1.3 Teilnehmende Beobachtung Die Teilnehmende Beobachtung kann als die klassische Methode der Ethnologie bezeichnet werden (Tedlock, 1991: 69). Inzwischen hat sich diese Methode auch außerhalb der Ethnologie in den meisten anderen sozialwissenschaftlichen Fächern wie auch in der Erziehungswissenschaft etabliert (Friebertshäuser, 1997a: 503ff.). In der eigenen Untersuchung wurde mit der Methode der Teilnehmenden Beobachtung vor allem im Hinblick auf eine inhaltliche Fundierung der Interpretationen der Interviews gearbeitet. Während des neun Monate währenden Forschungsaufenthaltes wurden jeden Tag die Institutionen islamischer Bildung aufgesucht und es wurde am Unterricht teilgenommen. Das Unterrichtsgeschehen hinsichtlich der einzelnen Akteure (Schüler- und LehrerInnen, Studierende und DozentInnen) und zum Teil auch die Inhalte der Unterrichtsstunde wie Tafelanschriften wurden in Feldforschungstagebüchern festgehalten. Des Weiteren wurden Gespräche, Eindrücke, Informationen jeder Art am Ende jeden Tages schriftlich fixiert. Als Datenquelle ermöglichten die Feldforschungstagebücher vor allem im Zusammenhang mit den geführten Interviews weiterreichende Interpretationen, indem sie einen Vergleich hinsichtlich der Übereinstimmung von Äußerungen der Befragten in den Interviews mit von mir gemachten Beobachtungen gewährleisteten. Prinzipiell ist die Methode der Teilnehmenden Beobachtung ein Forschungsansatz, der das Problem von notwendiger Nähe mit dem wissenschaftlichen Anspruch nach gleichzeitiger Distanz zum Untersuchungsfeld in ein Spannungsverhältnis bringt (Beck/Scholz, 2000: 154-157). Dieses Spannungsverhältnis wird in der vorliegenden Untersuchung allerdings als produktiv verstanden: Denn erst die große Nähe zum Untersuchungsfeld ermöglichte das Kennenlernen der Perspektive der Befragten, während die Distanz schon aufgrund der eigenen Fremdheit niemals verloren gegangen ist.

1.4 SchülerInnenaufsätze und „Gruppendiskussionen“ Im Unterschied zum übrigen methodischen Vorgehen bestehen die erhobenen Daten an der İmam-Hatip-Schule aus 25 SchülerInnenaufsätzen, die in einer sechsten und einer siebten Klasse während der Unterrichtszeit geschrieben und im Anschluss daran von mir eingesammelt wurden, sowie aus zwei „Gruppendiskussionen“, die im Rahmen von drei Unterrichtsstunden stattfanden. Die Auswahl der Methoden geschah auf Initiative einer Lehrerin der Schule hin, die mir dadurch ermöglichte, in zwei ihrer Klassen Daten zu erheben. Die SchülerInnen wurden von mir gebeten, einen Aufsatz zu den drei folgenden Fragen zu schreiben: 106

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„Was redet ihr in eurer Familie über Religion?“126 „Wie ist eure Beziehung zu anderen Religionen?“127 „Was ist die Funktion von Religion und welche Funktion hat sie für dich?“128

Die Aufsätze erwiesen sich als aufschlussreich, da sie Einblicke in das Familienleben hinsichtlich der Auseinandersetzung mit Religion im Zusammenhang mit dem Schulbesuch der Kinder geben. Eindrücklich werden zum Teil sowohl die Gespräche als auch die Auseinandersetzungen, die sie mit ihren Eltern zum Thema Religion führen, beschrieben. In den zum Teil überraschend emotionalen und lebhaften Schilderungen der SchülerInnen bewahrheiten sich die Worte der Kindheitsforscherin Röhner, die schreibt: „Unter kindheitstheoretischem Aspekt stellen freie Texte einen authentischen Zugang zu Erlebnis-, Erfahrungs- und Gedankenwelt von Kindern in einem historischsozialen Kontext dar. In erziehungswissenschaftlicher Perspektive geben sie Einblicke in die entwicklungsbedingten psychosozialen Themen, mit denen Kinder sich auseinandersetzen.“ (Röhner, 2000: 214)

Die zwei „Gruppendiskussionen“ wurden zu folgenden Fragen geführt, die sich allerdings die Lehrerin überlegte: • „Ist es notwendig, an den Besuch von Heiligengräbern zu glauben?“129 Rolle spielen sie in eurem Leben? • „Wer waren die Propheten und welche An welchen Propheten glaubt ihr?“130 Dabei wurden von der Lehrerin Pro- und Contra-Gruppen gebildet und jeweils eine SchülerIn mit der Moderation beauftragt. Die Bezeichnung „Gruppendiskussion“ ist in der vorliegenden Arbeit in Anführungszeichen gesetzt worden, weil es sich hier nicht um ein qualitatives Gruppendiskussionsverfahren (Mayring, 2002: 78) handelt, sondern um Gruppendiskussionen, die im Rahmen des Unterrichts gewissermaßen als Lehrmethode eingesetzt wurden. Dabei wurde von der Lehrerin eine provozierende Fragestellung vorgestellt, die die SchülerInnen dann in einer Pround Contraformation mit einer SchülerIn als ModeratorIn zusammen frei dis-

126 Im Original lautete die Frage: „Ailənizdə din barədə hansı söhbətlər olur?“ 127 Im Original lautete die Frage: „Başka dinlərə münasibətiniz?“ 128 Im Original lautete die Frage: „Dinin faydaları nədir? Şəxsən sənin üçün dinin hansı faydası oldu?“ 129 Im Original lautete die Frage: „Ziyarətgahlara ınanmaq lazımdırmı?“ 130 Im Original lautete die Frage: „Peyğəmbərlər kimlərdi və sizin həyatınızda onların rolu, hansını qəbul edirsiniz?“

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kutierten. Die Diskussionen wurden jeweils von mir auf Tonband aufgenommenen und im Anschluss daran transkribiert. Methodisch lässt sich zum Erkenntnisgewinn im Kontext von qualitativen Gruppendiskussionsverfahren sagen, dass sich im Rahmen von diesen insbesondere Meinungen und Einstellungen zeigen, die eng mit sozialen Zusammenhängen verknüpft sind (Mayring, 2002: 76). Mit Blick auf die Fragestellungen, die die Lehrerin auswählte, zeigte sich in den in der İmam-HatipSchule stattgefundenen „Gruppendiskussionen“ tatsächlich beispielhaft das Aufeinandertreffen der Islamkonzepte der SchülerInnen bzw. ihrer Elternhäuser mit dem Islamkonzept der Lehrerin bzw. der Schule. Gleichzeitig gaben die „Gruppendiskussionen“ eine Vorstellung davon, wie die von zu Hause mitgebrachten Haltungen zur Religion zwischen den SchülerInnen und der Lehrerin in der Interaktion verhandelt werden und dabei eventuell „neue“ Islamkonzeptionen von Seiten der SchülerInnen internalisiert werden.

2 Au s w e r t u n g d e r D a t e n Die Auswertung aller Daten erfolgte im Sinne des bei Flick beschriebenen „Thematischen Codierens“ (Flick, 1998: 206), das in Anlehnung an die Methode der Grounded Theory, wie sie von Strauss und Corbin beschrieben wird (Strauss/Corbin, 1990), entwickelt wurde.131 Im Kontext der vorliegenden Untersuchung wurden demzufolge bei der Auswertung der Daten Elemente der Methode der Grounded Theory übernommen. Nach der Erhebung der Daten132 verfolgt die Grounded Theory einen Prozess der Datenauswertung in drei Schritten, eine sog. „Coding-Procedure“. „Coding represents the operations by which data are broken down, conceptualized, and put back together in new ways. It is the central process by which

131 Die Methode der Grounded Theory ist ein, ursprünglich in einer Zusammenarbeit von Barney Glaser und Anselm Strauss entwickeltes, deduktives Forschungsmodell, das zur Generierung von Hypothesen und Theorien durch die Analyse und Interpretation der Daten führt. Dieses Modell entwickelten Glaser und Strauss mit dem Ziel, einer Entfremdung der sozialwissenschaftlichen Disziplinen von der Wirklichkeit entgegenzuwirken. Weiterhin war es ihre Absicht, mit dieser Methode qualitative Forschung zu einem transparenten und systematischen Prozess zu machen, indem bei der Datensammlung, -kodierung und -analyse methodische Vorgaben eingehalten werden. 132 Im Sinne eines zirkulären und prozesshaften, qualitativen Verständnisses des Forschungsansatzes können sich Datenerhebung und -auswertung jederzeit überlappen und somit muss die Datenerhebung nicht abgeschlossen sein, um mit der Datenauswertung zu beginnen. Üblicherweise gilt die Datenerhebung erst dann als abgeschlossen, wenn eine sog. „saturation“, eine „Sättigung“ des Datenmaterials zu erkennen ist (Strauss/Corbin, 1990: 188).

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theories are built from data.“ (Strauss/Corbin, 1990: 57) Die „CodingProcedure“ umfasst das sog. „open“, „axial“ and „selective coding“ (Strauss/Corbin, 1990: 57ff.). Im Kontext der eigenen Untersuchung wurde dabei im Wesentlichen nur das „open coding“ durchgeführt, zum Erarbeiten eines Kategoriensystems wurde teilweise auch das Verfahren des „axial coding“ und „selective coding“ herangezogen.133 Beim „open coding“ wird durch das Herausarbeiten von „concepts“ und „categories“ eine erste Analyse der Daten vorgenommen (Strauss/Corbin, 1990: 61). Nach dem Vorgang des Entdeckens von „concepts“, das das Kennzeichnen von Vorgängen und Phänomenen in den Daten meint, wird in Form der „categories“ eine Zusammenfassung dieser vorgenommen. Allerdings müssen „concepts“ erst einmal in den Daten entdeckt werden. Um die „Theoretical Sensitivity“ (Strauss/Corbin, 1990: 41), d.h. die Fähigkeit, Konzepte in den Daten zu sehen und zu erkennen, zu steigern, gibt es

133 Das Kodieren von Datenmaterial in einem dreistufigen Prozess hat zum Ziel, Hypothesen zu entwickeln und diese im Rahmen des Kodierprozesses gleichzeitig auch zu verifizieren bzw. zu falsifizieren. Dies geschieht durch eine Verknüpfung der Kategorien, der jeweils einzelnen Bausteine des idealiter entstehenden Theoriemodells, miteinander. Der Vorgang des Verknüpfens findet durch ein Setzen der Kategorien in verschiedenen Dimensionen zueinander statt, daher auch die Bezeichnung des zweiten und dritten Schrittes als „axial“ and „selective coding“. Beim axialen Kodieren (Strauss/Corbin, 1990: 96ff.) wird dabei im Rahmen einer Differenzierung von einzelnen Kategorien nach Zusammenhängen zwischen diesen gesucht, es wird dabei gleichzeitig ein theoretischer Rahmen erzeugt, um die Kategorien sinnvoll zu integrieren. Das Verfahren der Zusammenfügung von Kategorien wird methodisch als „Paradigm Model“ (Strauss/Corbin, 1990: 99) bezeichnet. Das Paradigm-Model wird wie folgt konstruiert: (A) causal condition -> (B) phenomenon -> (C) context -> (D) intervening conditions -> (E) action/interaction strategies -> (F) consequences (Strauss/Corbin, 1990: 99). In Ausnahmefällen wurde dabei im Kontext der eigenen Untersuchung über das „open coding“ hinaus ein „axial“ und selective coding“ mit dem Ziel einer Generierung von Theorie durchgeführt. Dies soll im Folgenden an einem Beispiel veranschaulicht werden: Beispielhafte Übertragung des Paradigm-Modells auf die eigene Forschung: (A) Vor dem Hintergrund eines Verbotes der Ausübung von Religion zu Sowjetzeiten (causal condition) -> (B) entwickeln die Aserbaidschaner Strategien, mit diesem Verbot umzugehen (phenomenon) -> (D) z.B. zur Zeit des Fastens (context). -> Die Notwendigkeit jedoch, das Fasten geheim zu halten (intervening conditions) -> (E) führt dazu, dass in der Öffentlichkeit ein NichtEinhalten des Fastengebotes vorgespielt wird, indem man z.B. so tut, als ob man ein Bonbon isst, indem man ostentativ ein Bonbonpapier zu Boden fallen lässt (action/interaction strategies) -> (F) und damit hier den eigenen Kindern eine Einstellung wie z.B. Widerstand gegen die sowjetischen Machthaber oder die Wertschätzung der Religion durch die nacherzählte Situation als positiven Wert nahe bringt (consequences).

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Hilfsmittel. Ein mögliches Hilfsmittel ist das Heranziehen von Sekundärliteratur zur Erweiterung des eigenen theoretischen Horizontes, vor dem dann neue Information im Material gesehen werden können. Weitere Hilfsmittel sind Möglichkeiten des systematischen Fragens, Methoden des Vergleichens und das Erarbeiten von stereotypen rhetorischen Elementen in den Daten (Strauss/Corbin, 1990: 75-96). Im Folgenden wird ein Beispiel für das „open coding“ einer Interviewsequenz aus dem eigenen Forschungskontext dargestellt: Abbildung 3: Gespräch mit einer Studierenden von der Islamuniversität in Baku (Interview_15, 2003: Zeile 1-12) am 21.05.2003.

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Necə oldu ki, siz dinə gəldiniz?) Wie wurden Sie religiös, wie ist Ihr religiöser Werdegang zu beschreiben? Mən ailəmdə görmüşəm dini. Anam, atam, babam, nənəm namaz qılır, oruc tutur. Dinə qarşı hörməti validəynlərimdən gördüm, onların tərbiyəsindən aldım.) Ich habe die Religion in der Familie kennengelernt. Meine Mutter, mein Vater, mein Großvater und meine Großmutter beten (namaz) und fasten. Ich habe gesehen, dass meine Eltern der Religion Respekt entgegengebracht haben, von ihnen bin ich erzogen worden. Siz Lenkoranda böyüdünüz və orada daha dindar mühit var?) Sie sind in Lenkoran aufgewachsen. Ist das gesellschaftliche Umfeld dort religiöser? Məncə Lenkeronda daha çox inkişaf edib. Hələ Sovet dövründə dinə icazə verilməyəndə, Lenkoranda hökümətdən gizli Allaha ibadət edirdilər. Qorxublar, amma ibadətlerini davam etdiriblər.) Meiner Meinung nach, war Lenkoran fortschrittlicher. Noch zu Sowjetzeiten, als es die Religionsfreiheit nicht gab, haben sie in Lenkoran verborgen vor der Regierung Allahs Glaubensvorschriften (ibadət) befolgt. Sie haben Angst gehabt, aber sie haben weiter die Glaubensvorschriften befolgt. İndi Sovet dövründən ne danışırlar?) Was erzählen sie heute von der Sowjetzeit?

Religiöse Sozialisation in der Familie Sowohl Eltern als auch Großeltern praktizieren islamische Religiosität Vorbildfunktion von Eltern und Großeltern wird anerkannt Respekt als Haltung gegenüber Religion erfährt positive Bewertung Eigene Erziehung gegenüber Religion aus Sicht der Studierenden im Sinne einer respektvollen Haltung Größere Religiosität (verstanden als Einhalten des Ibadət) in Lenkoran wird mit Fortschritt in Zusammenhang gebracht Ibadət wird eingehalten: heute wie zu Sowjetzeiten Sie, die Menschen in Lenkoran, haben nicht vor dem Sowjetregime kapituliert

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Lenkoranda hamı Allaha inanır, hökümətə görə zahiren onunla razılaşırdılar, amma qəlbən o rejimin qaydaları ilə razılaşmırdılar. Gizli də olsa ibadət edirdilər. Babam danışır ki, oruc olanda konfetin kağızını götürüb küçədə atırdılar ki, ələ bilsinlər ki, konfet yedi. Amma əslində oruc tutublar. Çünki o vaxt bilsə idiler, işdən çıxarırdılar, həbs edirdilər.) In Lenkoran glauben alle an Gott. Gegenüber dem Regime gaben sie sich scheinbar mit ihnen zufrieden, aber innerlich stimmten sie mit den Vorschriften dieses Regimes nicht überein. Wenn es sein mußte, haben sie die Glaubensvorschriften heimlich eingehalten. Mein Vater erzählte mir, zu Zeiten des Ramzan habe er ein Konfektpapier auf die Strasse geworfen, so dass sie wußten, dass er ein Konfekt gegessen hat. Aber eigentlich hat er gefastet. Weil zu dieser Zeit haben sie, wenn sie es wußten, haben sie einen von der Arbeit weggeholt und ins Gefängnis gebracht.

Religion wird höher bewertet als Regierung Erzählung hier auch als Erziehungsmethode Um religiöse Gebote einzuhalten darf „gelogen“ werden Widerstand wird heimlich geleistet, aber er passiert Religion nimmt wichtige Rolle im Kontext der Konfrontation gegenüber dem Sowjetregime ein Gefahren werden bewusst in Kauf genommen und dies wird als „Ideal“ an die Kinder weitergegeben

In der eigenen Untersuchung wurden vor allem zu Beginn der Interpretation die Daten mit Hilfe des „open coding“-Verfahrens mit dem Ziel einer Erarbeitung von Kategorien kodiert. Dabei entstand eine Reihe von Kategorien, die vor dem Hintergrund der Fragestellung und Hypothese als zentral im Hinblick auf die weitere Datenauswertung angesehen wurden und die eine strukturelle Vorgabe im weiteren Interpretationsverfahren bildeten.134 Gemäß dem bei Flick beschriebenen Vorgehen zum „Thematischen Kodieren“ (Flick, 1998: 207ff.) wurden im weiteren Interpretationsverfahren in einem ersten Schritt Einzelfallanalysen von Interviews, Aufsätzen und „Gruppendiskussionen“ angefertigt. Dabei wurde neben einer Kurzbeschreibung des „Falls“ ein Motto bzw. eine typische Aussage ausgewählt sowie eine knappe Darstellung der Person hinsichtlich des Untersuchungsgegenstandes vorgenommen. Mit Blick auf die Fragestellung der Untersuchung und der zentralen Themen wurde im Anschluss daran eine kurze Zusammenfassung des Interviews respektive des SchülerInnenaufsatzes bzw. der „Gruppendiskussion geschrieben“. Dabei wurde sich an den durch das „open coding“ erarbeiteten zentralen Kategorien orientiert. Durch das Erarbeiten einer thematischen Struktur war es möglich, Vergleiche z.B. im Hinblick auf die Islamkonzeptionen der Befragten zu ziehen und diese in einen Zusammenhang zu den jeweiligen Institutionen islamischer Bildung zu setzen. 134 Dennoch wurde versucht, neue Themen und Aspekte in die Interpretation in Form von neuen Kategorien in die folgenden Fallanalysen mit einzubeziehen und damit eine gewisse „Offenheit“ gegenüber den Daten zu wahren.

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3 Das Sample der Forschung Die Daten wurden in Einrichtungen islamischer Bildung in Baku erhoben, und zwar im Wesentlichen in der Islamuniversität von Baku, in der IslamischTheologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität, in einer İmam-HatipSchule sowie in der schiitischen Cuma-Moschee und der salafitischen („wahhabitischen“) Lesgi-Moschee. Weitere Institutionen, die im Rahmen der Forschung aufgesucht wurden, die aber nur implizit in die Auswertung eingehen, sind eine Moschee im Vorort Binəcədi von Baku sowie „private“ Religionsunterrichtsstunden (vgl. auch dazu Faradov, 2001: 28). Diese „privaten“ Religionsunterrichtsstunden fanden meist mehr oder weniger legal an diversen Orten wie in einem Waisenhaus, im Rahmen einer Schultheatergruppe sowie in angemieteten Räumen statt. Meistens an Sonntagen wurde dort vor einem gemischten Publikum Unterricht erteilt. Gespräche und Interviews über Religion und Religiosität wurden außerdem auch mit Studierenden der Fakultäten für Geschichte, Germanistik und Orientalistik geführt. Im Rahmen der Forschung wurde auch mit den Direktoren der Islamuniversität, der IslamischTheologischen Fakultät sowie mit dem Imam der untersuchten schiitischen Moschee und der Medrese in Binecedi gesprochen, des Weiteren wurde ein Interview mit dem Sport- und Jugendminister durchgeführt. Von den 55 Interviews gehen letztendlich 21 Interviews mit insgesamt 47 Personen in die Auswertung ein. Obwohl alle 55 Interviews in einen ersten Auswertungsprozess einbezogen wurden, wurde die Auswahl der Interviews, die direkt in die Untersuchung eingingen, auf 21 beschränkt. Der Grund lag erstens darin, dass sich durch die Hinzunahme von weiteren Interviews keine neuen Erkenntnisse mehr ergaben und somit eine „saturation“ (Strauss/Corbin, 1990: 188), also eine Sättigung des Datenmaterials im Hinblick auf die Forschungsfrage bei 21 Interviews erreicht worden war. Ein weiteres Kriterium für die Auswahl bestand zweitens darin, dass die Interviews verschiedene Institutionen repräsentieren sollten und somit Interviews auch danach ausgewählt wurden, an welcher Institution islamischer Bildung der Befragte lernte und lehrte. Drittens wurden Interviews ausgewählt, die mit Blick auf das Sample der jeweiligen Institution entweder als „typisch“ für Lernende oder Lehrende bewertet wurden oder die „Extremfälle“ darstellten: Beides, ob „typisch“ oder „besonders“, wurde im Kontext der Auswertung jeweils vermerkt. Sieben Interviews mit insgesamt neun Personen gehen in die Auswertung zur Islamisch-Theologischen Fakultät ein, vier mit DozentInnen, zwei mit Studierenden und eines mit einem Doktoranden und Journalisten. Acht Interviews mit insgesamt 18 Personen gehen in die Auswertung zur Islamuniversität ein, drei davon mit DozentInnen und der Rest mit Studierenden. In die Auswertung zu den Moscheen gehen sechs Interviews mit insgesamt 18 Frau112

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en und zwei LehrerInnen ein. Zusätzlich zu den 47 interviewten Personen kommen im Rahmen der Auswertungen zur İmam-Hatip-Schule 14 (von insgesamt 25) SchülerInnenaufsätze sowie zwei „Gruppendiskussionen“ hinzu. Der Grund, warum nur 14 Aufsätze in die Auswertung eingehen, ist, dass nur diese SchülerInnen ausführlich auf meine Fragen antworteten, die anderen schrieben nur wenige Sätze, die keine Interpretationen zulassen. Im Folgenden werden Hinweise bezüglich der Relevanz der Untersuchung gegeben: Die vier Institutionen islamischer Bildung (die IslamischTheologische Fakultät der Staatsuniversität, eine İmam-Hatip-Schule, die Islamuniversität und die schiitische bzw. salafitische [„wahhabitische“] Moschee, alle in Baku), die in die Untersuchung eingegangen sind, stellen nur einen Ausschnitt aus der islamischen Bildungslandschaft in Aserbaidschan dar. Weiterhin muss darauf hingewiesen werden, dass mit einer Untersuchung zu islamischer Bildung ein spezifischer Personenkreis innerhalb der aserbaidschanischen Gesellschaft in den Blick genommen wird; die Zahl der Personen, die an islamischer Bildung partizipieren, ist im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung vergleichsweise gering. Obwohl diese Relativierungen wichtig sind, soll die Bedeutung der Untersuchung nicht geschmälert werden. Die untersuchten Institutionen sind im Kontext von islamischer Bildung von Relevanz, da in Aserbaidschan keine weitere Islamuniversität oder Islamisch-Theologische Fakultät existiert. Auch die Cuma-Moschee ist eine der größten und wichtigsten Moscheen der Stadt, ihr Imam steht im Zentrum der politischen Öffentlichkeit. Im Fall der LesgiMoschee ist zu beachten, dass sie angeschlossen ist an die Abu-BakrMoschee, die das Zentrum der salafitischen („wahhabitischen“) Bewegung in Aserbaidschan ist. Weiterhin ist hinsichtlich der Bewertung der Konsequenzen der islamischen Bildung für die aserbaidschanische Gesellschaft von Bedeutung, dass an der Islamisch-Theologischen Fakultät ReligionslehrerInnen ausgebildet werden, die zukünftig an den staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilen sollen.135 Die Absolventen der Islamuniversität werden zum großen Teil als Mullas in den Moscheen in Aserbaidschan arbeiten; damit besitzen auch die Konzepte der islamischen Bildung der Islamuniversität eine große Reichweite.

135 Momentan ist die Zukunft der AbsolventInnen allerdings noch ungewiss, da hinsichtlich der Etablierung von Religionsunterricht an staatlichen Schulen noch keine politische Entscheidung getroffen wurde (siehe auch Fußnote 138).

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Empirisc her Te il

1 B e d e u t u n g u n d B e d e u t u n g sw an d e l vo n R e l i g i o n und Religiosität in der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität 1.1 Gründungsgeschichte Die Islamisch-Theologische Fakultät (İlahiyyat Fakültesi) der Bakuer Staatsuniversität wurde 1992 basierend auf einem Vertrag zwischen dem Bildungsministerium der Republik Aserbaidschan und dem Amt für religiöse Angelegenheiten der Türkei gegründet (T.C. [Türkiye Cumhuriyeti] Diyanet İşleri Başkanlığı) (Əskərov, 2004: 11). Die Zusammenstellung des Lehrplans sowie die Auswahl und Bereitstellung der Lehrbücher werden von der Religionsstiftung (Diyanet Vakfı) des Amts für religiöse Angelegenheiten vorgenommen.

1.2 Lehrpersonal und Unterrichtsfächer Das Lehrpersonal setzt sich aus Aserbaidschanern und Türken zusammen. Die theologischen Fächer werden überwiegend von türkischen Islamtheologen unterrichtet, mit Ausnahme des Faches Kuranı Kerim136 (Əskərov, 2004: 11), das auch von dem aserbaidschanischen Dekan der Fakultät, einem in Aserbaidschan renommierten Orientalisten, unterrichtet wird. Die Zahl der türkischen Dozenten belief sich zum Zeitpunkt meiner Forschung auf sechs. Sie gaben 136 Für die Bezeichnung der Fächer wurde die türkische und nicht die aserbaidschanische Rechtschreibung gewählt, da der Stundenplan für die aserbaidschanischen Studierenden auch in türkischer Rechtschreibung verfasst ist.

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Unterricht in den Fächern Kuranı Kerim, Fiqh usulü (Grundlagen des islamischen Rechts)137, İslam medeniyyet tarihi (Geschichte der islamischen Kultur), Hadis (Traditionen des Propheten), Tefsir (Interpretation des Koran), Felsefe tarihi (Geschichte der Philosophie) İslam ülkeleri geografiyası (Geographie der islamischen Welt), Araştırma teknikleri (Forschungsmethoden), Tasawwuf tarihi (Geschichte des Mystizismus) und İslam ehlaqı (islamische Moralerziehung) sowie Din psikolojisi (Religionspsychologie). Neben dem Dekan gibt es etwa zehn weitere aserbaidschanische DozentInnen, die Unterricht in den Fächern Arabisch, Persisch, Englisch und Türkisch sowie Pädagogik, Theorie religiöser Musik, religiöse Musik und Mülki müdafiə (Zivilverteidigung) erteilen.

1.3 Studierende Es gibt ca. 300 Studierende, die Zahl der Männer übersteigt die der Frauen, vor allem in den höheren Klassen, in denen das Verhältnis zwischen Frauen und Männern etwa 3:25 ist. Das Studium dauert fünf Jahre und die Absolventen der Fakultät erhalten ein Diplom als IslamwissenschaftlerInnen (İslamşünas), das von Seiten des Bildungsministeriums der Republik als reguläres Universitätsdiplom anerkannt wird. Laut Əskərov (Əskərov, 2004: 12) gab es bis zum Jahr 2003 300 AbsolventInnen, von denen zehn als DoktorandInnen an türkischen Universitäten ihre Ausbildung fortgesetzt haben. Die Mehrheit der Studierenden, die ich an der Fakultät interviewte (insgesamt 24), studierte aufgrund des allgemeinen Eingangstests für die Zulassung zur Universität unfreiwillig islamische Theologie. Das Zulassungsverfahren sieht vor, dass Studierende je nach erreichter Punktzahl auf die einzelnen Studiengänge verteilt werden, wobei eine hierarchisch geordnete Liste von gewünschten Studiengängen von Seiten der Studierenden angegeben werden kann. Auf den ersten Plätzen rangieren nach Angaben der Studierenden Medizin, Jura und Geschichte sowie Sprachen. Islamische Theologie zählt zu den eher unerwünschten Studiengängen, auch deshalb, weil es wenig Berufsaussichten für die AbsolventInnen gibt.138 137 Laut Əskərov (Əskərov, 2004: 12) wird sowohl dschafaritisches als auch hanafitisches Recht unterrichtet. Meinen Beobachtungen zufolge wurde nur hanafitisches Recht unterrichtet. 138 Im Prinzip werden die AbsolventInnen zum Unterrichten von Religion an öffentlich-staatlichen Schulen ausgebildet. Hinsichtlich der Etablierung von Religionsunterricht oder auch eines Faches „Grundlagen des Islams“ (die Entscheidung, ob ein Fach „Religion“ oder „Grundlagen des Islams“ unterrichtet wird, stellt bereits einen Konfliktpunkt dar) gibt es aber politische Uneinigkeiten, so dass es bis heute noch zu keiner gesetzlichen Regelung gekommen ist

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EMPIRISCHER TEIL

Die in der Interviewauswertung vorgestellten Personen sollen exemplarisch die drei Gruppen der Theologischen Fakultät repräsentieren: Die aserbaidschanischen und die türkischen Lehrkräfte sowie die Studierenden. Stellvertretend für die Gruppe der aserbaidschanischen DozentInnen werden eine Dozentin für Pädagogik und eine Dozentin für die Theorie religiöser Musik vorgestellt. Für die Gruppe der türkischen Dozenten wurde ein Dozent für das Fach Kuran Kerim und „Islamische Moral- und Sittenlehre“ sowie ein Dozent für die „Grundlagen und die Geschichte des Islam“ und für „Islamische Psychologie“ ausgewählt. Die Gruppe der Studierenden wird stellvertretend von einer weiblichen und drei männlichen Studierenden sowie einem Doktoranden vertreten.

1.4 Die Religionskonzepte der aserbaidschanischen und türkischen DozentInnen und die Rezeption durch die Studierenden 1.4.1 Die aserbaidschanische Dozentin für Pädagogik Məriəm Məmmədova: „Islam ist [...] Humanität“ a) Biografisches Məriəm Məmmədova unterrichtet seit zehn Jahren an der Theologischen Fakultät das Fach Pädagogik (pedaqoji). Obwohl das Fach an sich keine expliziten Bezüge zum Islam hat, wurde sie für den folgenden Beitrag ausgewählt, da sie ein typisches Beispiel für eine aserbaidschanische Dozentin in einer islamischen Bildungseinrichtung in Aserbaidschan darstellt: Sowohl an der Theologischen Fakultät wie auch u.a. an der Islamuniversität in Baku werden DozentInnen, die im sowjetischen Bildungssystem ausgebildet wurden und weltliche Fächer wie Pädagogik, Sprachen, Geschichte oder Geografie studiert haben, zur Lehre an einer Institution islamischer Bildung herangezogen. Die berufliche und zum Teil auch private Sozialisation im sowjetischen Bildungssystem mit seiner säkularen Ausrichtung führt dazu, dass Religion und Religiosität für sie eine völlig andere Bedeutung als für die hier vorgestellten türkischen Dozenten hat. Am Beispiel der Dozentin Məriəm Məmmədova und der Dozentin Sevda Guluzadə soll dies veranschaulicht und kein offizieller Religions- oder auch Islamunterricht an Schulen erteilt wird (Əskərov, 2004: 12). Damit ist auch die berufliche Perspektive der AbsolventInnen der Theologischen Fakultät stark eingeschränkt. Die theoretische Alternative für die männlichen Absolventen, als Imam in einer Moschee zu arbeiten, ist deswegen nicht gegeben, weil für diese Tätigkeit überwiegend die Absolventen der Islamuniversität in Baku (siehe zu dieser Institution in Kapitel IV 3) herangezogen werden.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

werden: Ihr spezifischer Umgang mit Religion wirkt sich auch auf ihre Lehre des Islams aus, denn obwohl Məriəm Məmmədova Dozentin für Pädagogik bzw. Sevda Guluzadə Dozentin für Musiktheorie ist, zeigt ihr Unterricht, dass sie ihre Vorstellung vom Islam beim Unterrichten transportieren, indem sie die ursprünglichen Inhalte im Kontext der Religion neu definieren. Hauptberuflich arbeitet Məriəm Məmmədova am staatlichen Institut für Pädagogik und ist damit an der theologischen Fakultät nur teilbeschäftigt. Sie erteilt einmal in der Woche Unterricht für den vierten Jahrgang, also für die Abschlussklasse. Über ihre persönliche Motivation zu unterrichten erzählt sie, dass sie ursprünglich Krankenschwester oder Ärztin habe werden wollen, nun sei die Arbeit als Dozentin für Pädagogik aber zu ihrem Lebensinhalt geworden: „In meinem Leben habe ich viel gelitten. Ich habe meinen Lebensgefährten verloren [...] Aber ich versuchte es zu vergessen und arbeitete als Dozentin weiter. Ich betrachte die Studierenden wie meinen Nachwuchs [...] Manchmal denkst du, es gibt im Moment in der Gesellschaft so viele soziale Sorgen, aber wenn ich über die Türschwelle des Unterrichtsraumes trete, lasse ich alle Sorgen hinter mir. Das lässt mich weiterleben. Letztendlich vergesse ich meine eigenen Probleme. Ich denke nur noch über die Studierenden nach.“ (Interview_4, 2002: 4)

b) Erziehungs- und Bildungsziele Zu Beginn des Interviews fragte ich Məriəm Məmmədova, ob sich die Studierenden der theologischen Fakultät von denen weltlicher Fakultäten unterscheiden. Diese Frage schien sich aufgrund ihrer Tätigkeit sowohl an einer islamischen Einrichtung als auch an einer weltlichen, dem Institut für Pädagogik, anzubieten. Die Frage beantwortete sie indirekt, indem sie mir den Wandel, den die Studierenden an der Theologischen Fakultät unter dem Einfluss des Islams durchliefen, beschrieb, den „die Studierenden fraglos spürten“. Der Unterschied zu den Studierenden anderer Fakultäten bestehe darin, dass sie an Gott glaubten, der ihnen „eine spirituell-geistige Richtung gebe“ (Interview_4, 2002: 1). Ihrem eigenen Verständnis nach steht der Islam für „Einfachheit und Reinheit, für Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit, der Mensch lässt unter seinem Einfluss, ob er will oder nicht, von seinen schlechten Taten ab“ (Interview_4, 2002: 2). Ausgehend von diesem Islamverständnis kristallisierte sich im Verlauf des Interviews ein Erziehungsideal heraus, das nicht besser als mit den Worten „Herzens- und Menschenbildung“ beschrieben werden kann, d.h. Məriəm Məmmədova verstand ihren Bildungsauftrag nicht nur als Vermittlung von Lehrinhalten, sondern als umfassende Bildung der Persönlichkeit. Sie stellte die ihrer Meinung nach positiven Effekte der islamischen Bildung bzw. des Studiums an einer Institution islamischer Bildung an fol118

EMPIRISCHER TEIL

gendem Beispiel dar: „Der Islam lässt keinen Spielraum für schlechte Taten. Auf jeden Fall gibt es diesen Unterschied; z.B. bieten die Studierenden, die an der theologischen Fakultät studieren, wenn sie einen alten Menschen in der Metro sehen, diesem ihren Platz an.“ (Interview_4, 2002: 2) Inwieweit diese Verhaltensweise wirklich als Resultat des Besuchs der theologischen Fakultät angesehen werden kann, ist fraglich, da das Senioritätsprinzip in der aserbaidschanischen Gesellschaft üblich ist. Auch Məriəm Məmmədova selbst bringt ihr Beispiel damit zu Ende, dass „der Respekt gegenüber den Älteren“ eben auch eine „Eigenart ihrer Nation“ sei.139 Das Beispiel ist für die Interpretation trotzdem interessant, weil es typisch ist für Məriəm Məmmədova: Sie verortet nicht nur kulturelle Elemente, sondern auch ihre Erziehungsziele sowie ihre Auffassung von Religion und Unterricht in der Kategorie „Glaube“ bzw. „Islam“. Als Ausdruck von Glauben stehen ihrer Ansicht nach nicht das Fasten oder Beten an erster Stelle, sondern Humanität, die sich in Taten äußern muss, die „menschlich“ sind. Dabei spielt der Islam eine wesentliche Rolle, denn er „[...] reinigt die Innenwelt des Menschen“. Məriəm Məmmədova stellt einen Bezug zu ihrer eigenen Tätigkeit her, indem sie diese als eine „richtige Tat“ definiert, „weil“ – wie sie begründet – „ich mit ganzem Herzen, meiner ganzen Energie die Studierenden unterrichten will“ (Interview_4, 2002: 3). Als logische Konsequenz ihrer Argumentation legitimiert sie damit ihre Arbeit als Ausdruck von Glauben. Auch die Unterrichtsinhalte ihres Faches werden in diese Weltsicht eingefügt. So gibt sie einen tschechischen Pädagogen namens „Kaminski“ als ihr berufliches Vorbild an, der ein wichtiges Werk zur Didaktik verfasst und dabei den Koran zur Hilfe genommen habe (Interview_4, 2002: 4). Mit „Kaminski“ ist der tschechische, protestantische Theologe und Pädagoge Johann Amos Comenius (1592-1670) gemeint. Das „Heilige Buch“, auf das sich Comenius bei der Verfassung seiner pädagogischen Schriften bezieht, ist also die Bibel, und nicht der Koran. Die Dozentin definiert ihren Glauben weiterhin als „vielleicht sogar größer als den ihrer türkischen Kollegen“, denn diese hätten nicht während einer „Angst besetzten Zeitspanne von siebzig Jahren“ den Glauben im Herzen bewahren müssen. Dies habe sie auch auf einer Versammlung gegenüber den Kollegen deutlich gemacht: „Bei Ihnen gibt es [die Religion] länger, aber vielleicht ist mein Glaube größer als Ihrer.“ (Interview_4, 2002: 1) Das Berufsverständnis und die Erziehungsziele von Məriəm Məmmədova lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: 1. Sie führt höfliches Beneh-

139 Siehe auch zur großen Bedeutung des Senioritätsprinzips zu Sowjetzeiten als Instrument der ethnisch-kulturellen Abgrenzung von Russen und Armeniern bei Heyat (Heyat, 2002: 164).

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men, angesprochen auf eventuelle Unterschiede zwischen den Studierenden der weltlichen und der islamischen Bildungseinrichtung, auf den Besuch der islamischen Institution zurück und schreibt dem Islam damit die Fähigkeit zu, Menschen zu verändern. 2. Sie legitimiert ihre Tätigkeit als Dozentin als religiösen Akt. 3. Sie beschreibt ihre Religiosität in Abgrenzung zu ihren türkischen Kollegen als größer. 4. Sie setzt pädagogische Unterrichtsinhalte in Zusammenhang mit dem Islam bzw. „islamisiert“ diese (Beispiel „Kaminski“). Höflichkeit und Moral, sowie ihre beruflichen Erziehungsziele werden von ihr in einen religiösen Kontext gestellt, obwohl sie selbst weder religiös im Sinne des Einhaltens der Glaubensvorschriften ist noch ein explizit religiöses Fach unterrichtet und als Bezug zum Islam „nur“ ihre Tätigkeit an einer Einrichtung islamischer Bildung und ihre Identität als muslimische Aserbaidschanerin vorzuweisen hat.

c) Bedeutung von Religion und Religiosität Was lässt sich aus ihren Aussagen hinsichtlich ihres Religions- und Religiositätsverständnisses ableiten? Məriəm Məmmədova interpretiert Religion nach subjektiven Kriterien und nicht nach der Einhaltung von Glaubensvorschriften. Die Religion soll ihre Erziehungsziele und ihre Arbeit im Rahmen islamischer Bildung und der Tätigkeit in einer religiösen Einrichtung legitimieren. Die Religion dient dazu, ihrem Erziehungsziel des guten und moralischen Menschen einen Gültigkeitsanspruch sowie ihrem Beruf, der für sie zum Lebensinhalt geworden ist, einen umfassenderen Sinnzusammenhang zu verleihen. Gleichzeitig grenzt sie sich gegenüber ihren türkischen Kollegen ab, deren Religionsverständnis mit ihrem eigenen nicht übereinstimmt. Es ist den Ausführungen in Kapitel II 2.1 zufolge kein „orthodoxes“ Islamkonzept, sondern ein säkularisiertes im Sinne von Luckmanns „unsichtbarer“ Religion. Gegen den realen oder zumindest subjektiv wahrgenommenen „religiösen Überlegenheitsanspruch“ der türkischen Kollegen wehrt sie sich mit dem Hinweis, dass die Erfahrung der Unterdrückung zu Zeiten der Sowjetunion von den Kollegen nicht geteilt worden wäre und diese damit nicht beurteilen könnten, wessen Glauben „größer“ sei. Von Interesse ist das Glaubensverständnis von Məriəm Məmmədova auch deshalb, weil es ein typischer Ausdruck der aserbaidschanisch-muslismischen Religiosität ist, die unter dem Einfluss der Säkularisierungsprozesse während zaristischer und sowjetischer Herrschaft stand (Göyüşov, 2004: 38; PflugerSchindlbeck, 2005: 105). Die Säkularisierung ihrer Religiosität – im Sinne einer von Weber (Weber, 1995: 342) beschriebenen Trennung der spirituellen und weltlichen Sphäre durch eine Verinnerlichung von ethischen Werten – drückt sich in ihren Worten aus, wenn sie ihren Glauben als Ausdruck von „guten und menschlichen Taten“ definiert.

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1.4.2 Die aserbaidschanische Dozentin für Musiktheorie Sevda Guluzadə: „Islam ist [...] Kultur“ a) Biografisches Sevda Guluzadə unterrichtet einmal in der Woche Theorie religiöser Musik an der Fakultät. Ansonsten arbeitet sie als Musikwissenschaftlerin am aserbaidschanischen Konservatorium und hat dort die Leitungsposition der musikwissenschaftlichen Abteilung inne. Ihre Ausbildung hat sie am Konservatorium absolviert, an dem sie zuerst Geige und im Anschluss daran Musikphilosophie studierte und als Musikwissenschaftlerin ihren Abschluss machte. Als Doktorandin beschäftigte sie sich mit Musik und Religion. Es sei ihre Absicht gewesen, berichtet sie im Interview, die Melodie der AªÁnrufe140 zu untersuchen. Doch das Sowjetregime verbot ihr den Besuch von Moscheen zu Forschungszwecken. Laut ihrer eigenen Aussage konnte sie letztendlich aufgrund des antireligiösen Charakters des sowjetischen Regimes ihre Arbeit nicht verteidigen und erhielt keinen Doktortitel (Interview_3, 2002: 1). b) Bedeutung von Religion und Religiosität „Muslimsein“, sagte Sevda Guluzadə im Laufe des Interviews, „ist für mich meine Kultur“ (Interview_3, 2002: 2). Dieses Zitat steht exemplarisch für ihre Definition von Religion. Dem entspricht auch, dass sie die Religion nicht im Sinne der Einhaltung der Glaubensvorschriften praktiziert. Es zieht sich wie ein roter Faden durch das ganze Interview, dass sie den Islam nur als Fundament ihrer Kultur verstanden haben möchte. Als solches wird der Islam, wie auch bei Məriəm Məmmədova, zum Träger von moralischen Zuschreibungen. Es besteht nach ihrer Meinung die Möglichkeit, durch den Islam eine positive Grundlage für ein friedliches gesellschaftliches Miteinander zu schaffen und durch ihn die eigene kulturelle Identität zu definieren. Diesen Islam, der für ihre Kultur und die moralischen Eckpfeiler der Gesellschaft stehe, bezeichnet sie als moderne Religion und konstatiert ihn als „notwendig für die Menschheit“ (Interview_3, 2002: 2). Daneben existiert für sie jedoch auch ein anderer Islam, der das Gegenteil von dem von ihr als „modern“ bezeichneten Islam sei. Hierbei handelt es sich nach ihren Worten um einen Islam, wie er im Iran praktiziert werde und wie er sich in islamischer Kleidung wie z.B. dem Kopftuch manifestiere. Islamische Kleidung bewertet sie abfällig mit den Worten: „[...] wie im 7. Jahrhundert gekleidet sein“ (Interview_3, 2002:3) und bringt damit einen für sie als anachronistisch empfundenen Aspekt der islamischen Religion zum Ausdruck, den sie als „nicht-modern“ ablehnt. Beides,

140 Gebetsruf des Muezzins.

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das System im Iran und muslimische Kleidungsvorschriften, versinnbildlichen für sie einen Islam, den sie von sich weist. Ihrem Unterrichtsfach, Theorie religiöser Musik, verleiht sie zusätzliche Bedeutung, wenn sie betont, dass nicht nur alle Religionen von den Möglichkeiten der Musik Gebrauch machen würden, sondern ein religiöses Fest ohne Musik gar nicht stattfinden könne. Ein weiterer Beleg für die Bedeutung der Musik sei der Gebetsruf des Muezzins (aªÁn), der seinen Worten über eine Melodie Ausdruck verleihe. Obwohl sie eine säkulare, sowjetische, an den europäischen Bildungsidealen orientierte Schule durchlaufen hat, stellt der Islam ihr heutiges moralisches Bezugssystem dar: „Obwohl ich eine Schule nach europäischem Vorbild durchlaufen habe [...] suche ich mir aus den muslimischen Sitten aus, was ich gut finde und was schlecht. Der andere Islam: ,Fünf mal am Tag beten‘: Nein.“ (Interview_3, 2002: 4) Was sie von den islamischen Pflichten oder Gebräuchen als positiv bewertet, integriert sie in ihre Wertvorstellungen. Es finden sich Parallelen zu dem Interview mit der Dozentin für Pädagogik Məriəm Məmmədova: Wie diese nimmt sich auch Sevda Guluzadə die Freiheit, den Islam selbst zu interpretieren. Sie sucht sich die Elemente heraus, die ihr am besten mit ihrem Weltbild vereinbar erscheinen, „unpassende“ dagegen lehnt sie ab. Im Folgenden sollen zwei türkische Dozenten der Theologischen Fakultät vorgestellt werden. Es wird herausgearbeitet, welche Bedeutung Religion und Religiosität für sie im Unterschied zu den aserbaidschanischen Dozentinnen hat.

1.4.3 Der türkische Dozent Murad Ali: Das Islamkonzept des „İslamın özü“ a) Biografisches Murad Ali hat an der Selçuk Universität in Konya studiert und ist von Beruf Religionssoziologe. In diesem Fach hat er auch promoviert. Er ist für einen Zeitraum von drei Jahren zum Unterrichten in den Fächern Geschichte der islamischen Kultur (İslam medeniyyet tarihi) und Religionspsychologie (din psikolojisi) an die Fakultät gekommen. Gefragt nach seinen Motiven, in Aserbaidschan zu arbeiten, gibt er an, dass nach der Gründung der Fakultät auf Grund eines vertraglichen Abkommens zwischen dem türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten und Aserbaidschan Dozenten aus der Türkei beauftragt werden, an der Fakultät zu unterrichten. In diesem Zusammenhang begründet er seine Arbeit an der Theologischen Fakultät mit dem Begriff der „Pflicht“ (görev): „Wenn Gott es will, wenn es das Schicksal will, bleiben wir drei Jahre, erfüllen unsere Pflicht [görev] und kehren dann zurück. Sonst nichts, einen anderen Grund gibt es nicht.“ (Interview_5, 2002: 1) 122

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„Pflicht“ hat hier eine komplexe Bedeutung. Auf den ersten Blick ist „görev“ einfach nur als die Pflicht Murad Alis’ zu verstehen, seinem Arbeitgeber Folge zu leisten. Dieser Arbeitgeber (das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten) verfolgt aber ganz spezifische religiöse und auch außenpolitische Ziele bei der Entsendung von türkischen Religionsgelehrten ins Ausland: Die Türkei will eine spezifisch türkische Islaminterpretation im Ausland verbreiten141. In diesem Zusammenhang erfüllen Murad Ali und die anderen türkischen Religionsdozenten in Aserbaidschan nicht nur eine berufliche, sondern auch eine „nationale Pflicht“, indem er bzw. sie als Türken im Namen ihres Staates tätig werden. Eine Legitimation – und damit tut sich die dritte Ebene der Bedeutung des Begriffs der „görev“ auf – erfährt dieser „berufliche“ und „nationale“ Auftrag durch eine moralische bzw. religiöse Komponente – Murad Ali kommt auch einer Pflicht im Namen seiner Religion nach, indem er den Islam lehrt und weiterverbreitet. Damit erfüllt er also auch seine Pflicht vor Gott. Wie sich in den beiden Interviews herausstellte, sind alle türkischen Dozenten für einen zeitlich begrenzten Aufenthalt von drei Jahren an der Fakultät tätig. Dieser Aufenthalt konnte auf sechs Jahre verlängert werden. Die „Pflicht“, wie der Dozent hinzufügt, hier zu arbeiten, werde durch ein hohes Gehalt erleichtert.

b) Erziehungs- und Bildungsziele Murad Ali gibt deutlich zu verstehen, dass ihm sowohl der Aufenthalt in Aserbaidschan als auch das Bildungssystem nicht zusagen. Die Studierenden seien undiszipliniert und in religiösen Fragen ungebildet. Diese ablehnende Haltung wird bei der Beobachtung seines Unterrichts verstärkt: Obwohl er im Interview durchaus idealistische Motive bezüglich seiner Berufstätigkeit vertritt und nach seinen eigenen Worten Dozent geworden sei, weil er es „schön fände die Menschen aufzuklären und ihnen die Religion nahe zu bringen“ (Interview_5, 2002: 1), entsteht während des Unterrichts ein gegenteiliger Eindruck. Sowohl in der Klasse eines ersten Jahrgangs als auch in der Klasse des Abschlussjahrgangs werden zwei Zwischenfälle beobachtet, die seine geäußerten Ideale, dass ein Dozent sich den Studierenden mit Zuneigung nähern und die Menschen ohne Rücksicht auf religiöse, kulturelle und nationale Zugehörigkeit behandeln müsse, in Frage stellen: Im ersten Jahrgang bezeichnet er im Fach „Geschichte der islamischen Kultur“ den Studierenden gegenüber die zwölf Imame als „unlogisch“. Dies kann als religiöse Intoleranz und Abwertung der Religionsvorstellungen der Studierenden gewertet werden, die als Aserbaidschaner mehrheitlich Schiiten sind und zu deren religiöser Orientie141 Siehe dazu detaillierte Ausführungen im Fazit dieses Kapitels.

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rung der Glaube an die zwölf Imame gehört. Den Aufruhr, der daraufhin unter mehreren Studierenden schiitischer Glaubensrichtung entsteht, ignoriert er, indem er ohne Unterbrechung mit seinem Unterricht fortfährt. Zu einem zweiten beobachteten Zwischenfall kommt es, als ein Studierender der Abschlussklasse sich nach einem ihm unbekannten islamischen Philosophen erkundigt. Der Dozent Murad Ali gibt dem Studierenden daraufhin zur Antwort, dass er „kein Muslim sein könne, wenn er diesen Philosophen nicht kennt“. Daraufhin entsteht ein Tumult im Klassenzimmer, während dessen der Studierende aufgebracht das Klassenzimmer verlässt und von drei loyalen KommilitonInnen begleitet wird. Auf meine Frage während des Interviews, warum er im Unterricht den Studierenden gegenüber die zwölf Imame als „unlogisch“ bezeichnet habe, bestreitet er, eine solche Äußerung gemacht zu haben (Interview_5, 2002: 3). Da ein sprachliches Missverständnis von meiner Seite ausgeschlossen werden sollte, wurden die Studierenden von mir nochmals auf den Vorfall angesprochen und um ihre Version des Vorfalls gebeten. Sie bestätigen ihn in der von mir wahrgenommenen Weise, der Dozent habe die zwölf Imame tatsächlich als unlogisch bezeichnet, was sie lakonisch mit der Bemerkung: „Er ist eben ein Sunnit“ beschließen. Gefragt nach seinen Unterrichtszielen erläutert Murad Ali seine bzw., wie er wörtlich sagte, „unsere“ Unterrichtsziele in Aserbaidschan. Die Verwendung des Personalpronomens „wir“ steht hier in stellvertretender Funktion für alle türkischen Dozenten und das türkische Amt für religiöse Angelegenheiten: „Obwohl wir selbst der Rechtsschule der Hanafiten angehören, propagieren wird diese Richtung nicht im Unterricht. Wir versuchen den Kern des Islams (İslamın özü) zu vermitteln. Es bleibt den Leuten selbst überlassen, wie sie sich gegenüber den Rechtsschulen142 (mezheb) verhalten.“ (Interview_5, 2002: 3)

c) Unterrichtsmethoden Nach seinen Worten ist es sein Ziel, das eigene – sunnitisch-hanafitische – Glaubensverständnis in den Hintergrund zu stellen und den „eigentlichen Kern des Islams“ (İslamın özü) (Interview_5, 2002: 3) zu vermitteln. Die begriffliche Verbindung von „İslam“ (Islam) und „öz“ (selbst) habe ich sinngemäß übersetzt mit dem „eigentlichen Kern des Islams“. Das Konzept eines „İslamın özü“ steht hier also den „mezheb“, d.h. den vier bzw. fünf Rechtsschulen des Sunniten- bzw. Schiitentums gegenüber und 142 Im sunnitischen Islam gibt es heute vier autoritative Rechtsschulen, die der Hanafiten, der Mailikiten, der Shafi’iten und der Hanbaliten (Khoury, 1991: 633). Die türkischen Sunniten gehören der Rechtsschule der Hanafiten an.

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positioniert sich damit auch als unabhängig von (schiitischen oder sunnitischen) religiösen Orientierungen als eine Art von „Meta-Islam“. Unter „MetaIslam“ wird hier ausgehend von dem Islamkonzept der türkischen Dozenten ein bewusst als „einheitlich“ konzipierter Islam verstanden, der eine Metaebene des Islams verkörpern soll, auf der Unterschiede der einzelnen religiösen Konfessionen nicht von Bedeutung sind und wo man sich auf einen gemeinsamen Kern des Islams, bestehend aus Koran und Hadith (¼adÍÝ), konzentriert. Auf dieses Islamkonzept, das vor dem Hintergrund der Entwicklung eines spezifischen Islam (Motika, 2007; Tezcan, 2003) innerhalb der Türkei gesehen werden muss, sowie dessen Propagierung in der turksprachigen Welt (Motika, 2004b: 69-74), wird im Schlusskapitel der Arbeit im Rahmen einer Interpretation der Interviews der türkischen Dozenten eingegangen werden. An dieser Stelle sei nur darauf hingewiesen, dass die Begrenzung auf Koran und Hadith (¼adÍÝ), die hier von dem Dozenten als „İslamın özü“ und in der wissenschaftlichen Literatur oft auch als „über den Rechtsschulen“ (mezheb üstü) (Motika, 2007: 352) stehend bezeichnet wird, nichts mit dem fundamentalistischen Islamverständnis z.B. der Salafiten143 zu tun hat, sondern das Konzept eines wissenschaftlich basierten Islams widerspiegelt, wie es an den Theologischen Fakultäten in der Türkei vorherrscht.

1.4.4 Der türkische Dozent Mahmud Yavaş alias „Mahmud Kolay“: Islam mit „globaler“ Vorbildfunktion a) Biografisches Die Interviews und Gespräche mit den Studierenden zeigen, dass sich Mahmud Yavaş großer Beliebtheit erfreut. Obwohl auch bei ihm im persönlichen Gespräch Ambivalenzen gegenüber dem Land und den Studierenden zum Ausdruck kommen, konnte im Rahmen der Teilnehmenden Beobachtung im Unterricht festgestellt werden, dass diese keine Konsequenzen für sein Auftreten im Klassenzimmer haben. Er erhielt sogar einen Spitznamen von seinen Studierenden, die ihn „Mahmud Kolay“ nennen, was wörtlich übersetzt soviel heißt wie „Mahmud, der Leichte“. Im übertragenen Sinne hat die Ersetzung seines Nachnamens die Bedeutung von „angenehm, unkompliziert“ und kann als Zeichen der Zuneigung gewertet werden.

143 Die Salafiten lehnen die gesamte geistige Entwicklung in der islamischen Welt, die zeitlich nach der „idealen Gemeinschaft“ zur Zeit des Propheten entstand (und damit auch die Rechtsschulen), als Irrglauben ab und vertreten eine buchstabentreue Schriftgläubigkeit (ausschließlicher Bezug auf Koran) (Roy, 2003).

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Mahmud Yavaş stammt aus einem, wie er berichtet, sehr religiösen Milieu Ostanatoliens und der Beruf des Theologen ist sowohl von seinem Vater für ihn vorgesehen als auch von ihm selbst gewollt gewesen. Sein Studium absolvierte er in Istanbul an der Marmara Universität und im Anschluss daran promovierte er an der Universität von Konya, an der er auch angestellt ist. Sein Unterrichtsfach ist „Interpretation des Koran“ (tefsir).

b) Erziehungs- und Bildungsziele Gefragt nach seiner Motivation, an der Fakultät zu unterrichten, gibt er drei Gründe an: Der erste und wichtigste Grund sei die gemeinsame Rasse (ırk) der beiden Völker (Interview_6, 2002: 2). Die Aserbaidschaner wären wie die Türken „von der türkischen Rasse abstammende Menschen“. Als zweiten Grund deutet er an, dass für einige Dozenten der ökonomische Aspekt eine Rolle spielen könnte, da für die Lehrtätigkeit in Baku ein hohes Gehalt gezahlt würde. Inwieweit das ein Motivationsgrund für ihn selbst ist, erwähnt er dabei nicht. Als dritten Grund und wie er hinzufügt, sei das der wichtigste Grund überhaupt, sagt er: „Unser sicherlich erstes Ziel ist es, einen Islam zu lehren, der dem Koran entspricht.“ (Interview_6, 2002: 3) Die Antworten von Mahmud Yavaş weisen auf eine vergleichbare berufliche Motivation hin wie bei seinem Kollegen Murad Ali. Auch er arbeitet im Auftrag des türkischen Amts für religiöse Angelegenheiten und verfolgt dabei ein gemeinschaftliches Ziel, was sich im Gebrauch des Personalpronomens „unser“ ausdrückt. Das gemeinschaftliche Ziel, das bei Murad Ali nicht nur als eine berufliche, sondern auch als eine „nationale Pflicht“ als Türke interpretiert wurde, bestätigt sich nochmals in der Aussage von Mahmud Yavaş mit seinem Hinweis auf die gemeinsame Rasse der beiden Völker. Gleichzeitig wird hier auch eine Begründung für die außenpolitischen Bestrebungen der türkischen Religionspolitik gegeben: Der Islam wird durch die Religionsgelehrten in Aserbaidschan unterrichtet, weil man einer gemeinsamen Rasse angehöre. Wenn auch nicht so explizit wie bei dem Dozenten Murad Ali geäußert, lässt sich auch in den Worten von Mahmud Yavaş das Islamkonzept des „İslamın özü“ wiederfinden, wenn er sagt, dass der wichtigste Grund für seine Lehrtätigkeit sei, einen Islam zu lehren, „[...] der dem Koran entspricht“. Dabei wird implizit auf das Konzept des „Kern des Islams“ verwiesen, das unabhängig von den Rechtsschulen nur Bezug auf Koran und Hadith (¼adÍÝ) nimmt, wobei von Mahmud Yavaş im Interview besonders die autoritative Kraft des Korans betont wird und eine Abgrenzung zu anderen religiösen Autoritäten wie den Rechtsschulen, aber auch zu allen anderen möglichen Autoritäten wie z.B. LehrerInnen vorgenommen wird. Einzig der Koran, sowie der Prophet Muhammad, als Gottes Medium und vorbildhaftes Beispiel für den

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„gelebten Koran“, haben in der Darstellung von Mahmud Yavaş als Autoritäten Bestand (Interview_6, 2002: 5). Welches Ziel wird mit einem Konzept verfolgt, das auf ein Islamverständnis setzt, welches sich als konfessionell-neutral gegenüber der schiitischen und der sunnitischen Glaubensrichtung darstellt und sich vor allem auf die Autorität des Korans und das Leben des Propheten beruft? Obwohl die Dozenten selbst Hanafiten sind, präsentieren sie ihr „Islamkonzept“ als über den Rechtsschulen stehend, ein Islamkonzept, das hier als „Meta-Islam“ bezeichnet wurde. Angesichts der Situation der türkischen Dozenten, als Sunniten mehrheitlich Schiiten zu unterrichten, ist die Notwendigkeit eines Religionskonzeptes, das sowohl schiitischen als auch sunnitischen Glaubensvorstellungen gerecht wird, eingängig. Die Lehre eines explizit sunnitischhanafitischen Islams würde mit großer Wahrscheinlichkeit auf Akzeptanzprobleme bei den Studierenden stoßen. Das Beispiel des türkischen Dozenten Murad Ali und seine Abwertung des schiitischen Glaubens sowie die Infragestellung der religiösen Integrität eines Studierenden haben gezeigt, wie emotional die aserbaidschanischen Studierenden auf Übergriffe auf ihre religiöse Identität reagieren können. Vor diesem Hintergrund gibt es für die türkischen Dozenten an einer aserbaidschanischen Einrichtung eigentlich nur die Möglichkeit, ein Islamverständnis zu präsentieren, das ohne autoritativen Bezug auf eine bestimmte islamische Richtung auskommt. Thematisiere man Sunniten- bzw. Schiitentum, sagt Mahmud Yavaş selbst, „verärgere, verletze und beleidige man“ die Studierenden (Interview_6, 2002: 7). Aserbaidschan solle aber, wie er erklärt, zum „Pilotgebiet“ (pilot bölge) für die Verbreitung des „wahren“ (hakiki) Islam werden (Interview_6, 2002: 7). Das Pilotgebiet Aserbaidschan solle der Welt ein Gegenbeispiel zu einem Islambild liefern, das den Islam automatisch mit Terrorismus, Hinrichtung oder Steinigung assoziiert. Aserbaidschan solle zeigen, dass es möglich sei, einen Islam zu schaffen, der vergleichbar sei mit dem Islam der Türkei. Aus den Aussagen kann gefolgert werden, dass Aserbaidschan zum „Prestigeobjekt“ der Türkei für die restliche Welt werden und damit zeigen soll, dass ein spezifisch „türkischer Islam“ reproduzierbar ist. Diese Annahme wird durch folgendes Zitat von Mahmud Yavaş bestätigt: „Den Aserbaidschanern die wahre Religion beizubringen ist eine Sache. Aber enden hier unsere Ideale? Nein! Unsere Ideale umfassen gleichzeitig das Ziel, durch Aserbaidschan und durch die Türkei Beispiele zu schaffen, im Sinne von Pilotgebieten (pilot bölgeler). Wenn man sich mit der islamischen Welt beschäftigt, dann können negative Meinungen über die Muslime entstehen. Z.B. Palästina: Wenn jemand an Palästina und die Palästinenser denkt, denkt er an Terror. Spricht man von Algerien, kommt den Menschen Enthauptung in den Sinn. Spricht man vom Sudan, denken sie an Steinigung. Aber wird durch die Realitäten dieser Länder der wahre Islam (hakiki 127

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İslam) repräsentiert oder gibt es im Vergleich dazu eine bessere Realität, gibt es Beispiele, die wir den Menschen zeigen können? Aus diesem Grund ist es wichtig, dass wir hier als Theologische Fakultät zeigen, dass der Islam keine Gefahr für die Welt darstellt, dass es die ,grüne Gefahr‘144 nicht gibt.“ (Interview_6, 2002: 8)

c) Unterrichtsmethoden Das Ziel der Lehrtätigkeit in Aserbaidschan besteht also darin, der Welt zu zeigen, dass der Islam der Türkei der „richtige“ Islam bzw. ein „moderner Islam“ ist und damit das positive Gegenbild zu den im Westen verbreiteten Assoziationen von Islam mit Terror darstellt: „Damit sie [die Menschen, C. H.-K.] sehen, dass in der Türkei dieses Verständnis, ein modernes Islamverständnis vorherrscht.“ (Interview_6, 2002: 9) Ziel des türkischen Amts und der von ihnen geschickten Dozenten könnte dabei sein, aus den aserbaidschanischen Studierenden VertreterInnen eines modernen, „spezifisch türkischen“ Islams zu formen. Das Interview mit Mahmud Yavaş zeigt weiterhin, dass bei der Vermittlung des türkischen Islamkonzeptes von einer besonderen didaktischen Vorgehensweise gesprochen werden kann. Ausgehend von der Prämisse, dass Religion ihrem Wesen nach Erziehung sei, konstatierte der Dozent im Interview die Untrennbarkeit von Religion und Erziehung. „Die Aussage, dass Religion keine pädagogischen Ziele habe, käme in seiner Bedeutung einem Nichtverständnis dem Wesen der Religion gleich.“ (Interview_6, 2002: 4) Diese Aussage beschränkt er nicht nur auf den Islam, sondern bezieht sich dabei auf alle Religionen. Der Zweck der Religion sei es, den Menschen zu erziehen. Indem er behauptet, dass dies das Ziel von allen Religionen sei, schafft er gleichzeitig eine Legitimationsbasis für den Erziehungsanspruch der islamischen Religion. Auf dieser Basis führt er seine Ausführungen fort und bestimmt als das wesentliche Ziel der islamischen Erziehung, Wissen zu erlangen. Dies begründet er mit einem argumentativen Rückbezug auf den Koran, in dem die Aufforderung „lies“ (iqraÿ) zu finden sei, die von größerer Bedeutung als der Stellenwert von Ge- und Verboten sei. „Meiner Meinung nach ist das Schlüsselwort im Islam Erziehung. Der Koran beginnt nicht, als er das erste Mal herunterkommt145, mit einem Verbot oder einer Erlaubnis, sondern mit einem , iqraÿ‘ – dem Wort für Lesen. Aus diesem Grund ist vielleicht einer der wichtigsten Aspekte der Pädagogik das Buch, also Wissen.“ (Interview_6, 2002)

144 Die Metapher „grüne Gefahr“ steht hier für den Islam. 145 Nach islamischem Glaubensverständnis ist der Koran von Gott zu den Menschen herabgesandt worden.

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Gleichzeitig, so argumentiert Mahmud Yavaş weiter, sei mit der Aufforderung zum Lesen der Stellenwert des Buches an sich zum Ausdruck gebracht. Indem er wiederum den hohen Stellenwert des Buches allgemein begründet, geht Mahmud Yavaş auf die Nutzlosigkeit von Büchern, die Zweifel aufkommen ließen, ein und begründet damit den absoluten Stellenwert des Korans, der über jeden Zweifel erhaben sei. Er erreicht damit zwei Sachen: Erstens schlussfolgert er aus der Behauptung, dass alle Religionen nur dafür da sind, den Menschen zu erziehen, dass auch der Islam dazu gedacht sei, den Menschen zu erziehen, und legitimiert damit einen islamisch-religiösen Bildungsanspruch. Über den Imperativ „iqraÿ“ aus dem Koran und die Bedeutung von Lesen und Büchern in der Pädagogik im Allgemeinen sowie der Unfehlbarkeit des einen Buches (Koran) im Besonderen erschließt er den Anspruch, dass der Koran als Buch ein Synonym für unbezweifelbares Wissen darstellt. Während nun durch den Koran die Erziehungsinhalte vorgegeben sind, werden die Studierenden über die Aufforderung „lies“ an dieses Wissen herangeführt. Dabei impliziert das „Lesen“ das eigenständige Aneignen von Wissen; der Aspekt der Selbstbestimmung wird dabei bewusst in den Mittelpunkt gestellt. Wissen werde angeboten, so Mahmud Yavaş, aber es werde keine Kontrolle darüber ausgeübt, inwieweit sich die Studierenden in ihrem Alltag an die Glaubensvorschriften halten: „Aber wir kontrollieren nicht, ob sie das, was wir ihnen beibringen, in der Praxis umsetzen. Aus diesem Grund bieten wir den Menschen hier nur Wissen an.“ (Interview_6, 2002: 5) Nicht zuletzt die großen rhetorischen Fähigkeiten und ein damit in Verbindung stehendes intellektuelles Charisma146 Mahmud Yavaş’ sind bedeutende Faktoren seiner Überzeugungskraft. Dabei verknüpft er geschickt die rhetorische Begabung mit einer spezifisch didaktischen Vorgehensweise, indem er es auch im Interview schafft, alle Fragen von Autorität auf den Koran zu projizieren. Niemals formuliert er eine theologische Aussage als eigene Meinung, sondern nur in Ableitung vom Koran. Dabei leitet er argumentativ häufig von allgemeinen Aussagen, wie z.B., dass Bücher und Lesen in der Pädagogik generell von ausschlaggebender Bedeutung für die Erziehung seien, zu einem theologischen Kontext über. Indem er sagt, dass der Koran in diesem Sinne auch die Basis einer islamischen Erziehung sei und indem er alle Religionen als ein Synonym für Erziehung bezeichnet, definiert er im nächsten Satz: Islam = Erziehung = Koran. Der Erzieher sei der Koran bzw. Muhammad als „gelebter Koran“.

146 Im Sinne von Webers Ausführungen zu Charisma als „übernatürlichen, nicht jedermann zugänglich gedachten Gaben des Körpers und des Geistes“ (Weber, 1995: 271).

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Meiner Meinung nach ermöglicht ihm diese Argumentationsstrategie sowohl eine „Ablenkung“ von seiner eigenen sunnitischen religiösen Identität wie auch eine Aufwertung seiner Unterrichtsinhalte, deren Autorität nicht durch ihn unmittelbar gewährleistet wird, sondern durch die autoritative Kraft des Korans selbst. Mahmud Yavaş gewinnt damit über den Koran und den Propheten Autorität. Die Reaktion der Studierenden auf das angebotene Wissen und den Bedeutungswandel, den die Religion und die Religiosität der Studierenden durch das Studium an der Theologischen Fakultät erfährt, soll im folgenden exemplarisch anhand der Auswertung von Interviews mit vier Studierenden und einem Absolventen dargestellt werden.

1.4.5 Weibliche Studierende von der Abscheronhalbinsel: „Mein Glaube an den Propheten Muhammad ist viel größer geworden“ a) Familiäre religiöse Sozialisation und Gründe für die Aufnahme des Studiums Das erste Interview an der Theologischen Fakultät führte ich mit einem ca. 17 Jahre alten Mädchen aus einem Dorf von der Abscheronhalbinsel. Im Vergleich zu den meisten anderen interviewten Studierenden hatte sie eine religiöse Sozialisation durchlaufen, was auch der Grund für die Wahl des Studienfaches und für ihre beruflichen Ziele ist: „[...] bei uns ist der Glauben sehr stark. Bei uns gibt es starke Mullas. Sie können den Koran auswendig, ihr Glaube an Gott ist groß. Meine Lehrer haben mir bezüglich der Fakultät den Rat gegeben, schreib den Test für die Fakultät, wenn du dahin kommst, wäre es gut. Dann kannst du im Dorf sowohl Arabisch als auch den islamischen Glauben verbreiten.“ (Interview_2, 2002: 1)

b) Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität Zum Zeitpunkt des Interviews besucht die Studierende die Fakultät seit zwei Monaten. Auf meine Frage, ob diese Zeit eine Veränderung bei ihr ausgelöst hätte, antwortet sie spontan: „Es hat mich sehr verändert. Ich bin viel gebildeter hinsichtlich der Religion. Ich habe viel mehr an eine bestimmte Rechtsschule geglaubt [gemeint ist das Schiitentum, Anm. C. H.-K.]. Ich habe den Islam als Ganzes [ümumi İslam] nicht verstehen können. Mein Glaube an den Propheten Muhammad ist viel größer geworden.“ (Interview_2, 2002: 1)

Die Antwort zeugt von einer Änderung des ursprünglich schiitischen Religionsverständnisses hin zu einem neuen, das sie als den „ümumi İslam“ be130

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zeichnet. „Früher habe sie mehr an die Rechtsschulen147 (məzhəblər) geglaubt“, damit ist in ihrem Fall die schiitische Glaubensrichtung gemeint. „Sie habe den „ümumi İslam“ (Interview_2, 2002: 2), sagt sie, „nicht verstanden“. Die Formulierung „ümumi İslam“ ist sinngemäß gleichbedeutend mit dem „İslamın özü“, die Formulierung der türkischen Dozenten für das Konzept eines über den Rechtsschulen stehenden „Meta-Islams“. Die Worte der Studierenden, dass sie ihn nicht verstanden habe, implizieren, dass sie ihn heute glaubt zu verstehen und ihn akzeptiert. Der Begriff des „ümumi İslam“ bezieht sich auf das Modell des Islams, wie es von den türkischen Dozenten formuliert wird, und das Zitat der Studierenden kann als Erfolg des Unterrichts der Dozenten gewertet werden. Unterstützt wird diese Annahme durch die Aussage der Studierenden, dass ihr Glaube an den Propheten größer geworden sei. Diese Aussage muss vor dem Hintergrund eines extrem hohen Stellenwertes gesehen werden, den der vierte Kalif Ali bei den Schiiten hat. Er gilt bei ihnen als der Erste der zwölf Imame und wird sogar in ihr Glaubensbekenntnis miteinbezogen (Heine, 1991b: 55-58). Wenn die Studierende explizit sagt, dass ihr Glaube an den Propheten Muhammad größer geworden ist, dann könnte in diesem Zusammenhang vermutet werden, dass der sunnitische Einfluss durch die türkischen Dozenten den Stellenwert von Ali zugunsten von Muhammad relativiert hat, gemäß der religiösen Betrachtungsweise der sunnitischen Glaubensrichtung, die die schiitische Verehrung von Ali nicht teilt. Vor dem Hintergrund, dass die Studierende eine schiitische religiöse Sozialisation sowohl in der Familie als auch in einer Moschee erhalten hat, stellt sich die Frage nach den Gründen für die Überzeugungskraft der türkischen Dozenten und ihres Islamverständnisses. Diese Überzeugungskraft ist umso erstaunlicher, als die Abscheronhalbinsel, von der die Studierende stammt, eine traditionell sehr religiöse, von der schiitischen Glaubensorientierung geprägte Gegend Aserbaidschans ist. Die Studierende berichtet im Interview, dass sie bereits seit ihrer Kindheit in der Moschee Korankurse besucht habe. Des Weiteren erzählt sie eindringlich von dem Imam dieser Moschee, der im Iran eine Ausbildung erhalten habe und sowohl im Dorf selbst als auch im Umkreis große Reputation genießt und den sie als ihr Vorbild darstellt (Interview_2, 2002: 4). Die Akzeptanz des türkischen Islamkonzepts von Seiten der Studierenden ist in diesem Zusammenhang bemerkenswert. Gerade weil oder obwohl die Studierende innerhalb der Studierendenschaft der Theologischen Fakultät eine Ausnahme darstellt, da die Mehrheit

147 Mit Rechtsschulen bzw. məzhəblər ist hier das Schiitentum gemeint.

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der Studierenden bei Aufnahme des Studiums nicht religiös148 ist, ist die „Konversion“ der Studierenden, oder abgemildert formuliert, ihre Akzeptanz eines neuen Islamkonzeptes von Bedeutung im Kontext der Fragestellung der Untersuchung – ein Aspekt, der im Fazit der vorliegenden Arbeit nochmals aufgegriffen wird. Im Folgenden sollen zuerst drei männliche Studierende der Fakultät und ihre Auseinandersetzung mit den türkischen Dozenten und deren Islamkonzept dargestellt werden.

1.4.6 Drei männliche Studierende aus dem vierten Jahrgang: „Wir sind modern denkende Menschen“ a) Familiäre religiöse Sozialisation und Gründe für die Aufnahme des Studiums In einem Interview mit drei männlichen Studierenden wird deutlich, dass weitere Gründe für eine Offenheit gegenüber dem Islamkonzept der türkischen Dozenten aus einer Funktion der türkischen Dozenten als Freunde und Ansprechpartner sowie als Verkörperung eines nicht- korrupten und weniger hierarchisierten Bildungssystems resultieren. Einer der Studierenden stammt aus Şeki, einem traditionell sunnitischem Ort im Nordwesten des Landes, die beiden anderen Studierenden stammen aus dem traditionell schiitischen Gebiet Lenkoran und geben im Gegensatz zu dem Studierenden aus Şeki an, keine religiöse Erziehung und Sozialisation erhalten zu haben. Ungeachtet der Tatsache, dass ursprünglich nur einer der drei freiwillig, d.h. ohne den Wunsch, ursprünglich ein anderes Fach zu studieren, islamische Theologie studieren wollte, geben sie an, im Rückblick froh zu sein, an der Fakultät studieren zu können. Im Unterschied zu anderen Fakultäten gebe es hier nicht die üblichen Negativa wie Korruption und eine daraus resultierende, auf materieller Basis beruhende hierarchische Wertigkeit unter den Studierenden. Diese Einschätzung der Studierenden muss vor dem Hintergrund der massiven Korruption innerhalb des aserbaidschanischen Bildungssystems gesehen werden. Oftmals sind nicht die guten Leistungen eines Studierenden ausschlaggebend für die Benotung, sondern seine finanziellen Möglichkeiten, mündliche oder schriftliche Prüfungen als „Arbeitseinsatz der DozentInnen“ extra zu bezahlen: „Hier gibt es keine Korruption, noch gibt es etwas anderes [...] Zwischen den Menschen wird kein Unterschied gemacht. Wenn du auf die anderen Fakultäten schaust, dann gibt es dort sehr mittellose 148 „Nicht religiös“ heißt hier, dass die Studierenden die islamische Religiosität nicht praktizieren und keine religiöse Sozialisation im Elternhaus erfahren haben.

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Studierende und sehr reiche Studierende, aber an unserer Fakultät gibt es zwischen den Studierenden solche Unterschiede nicht.“ (Interview_21, 2002: 1)

b) Bedeutung und Bedeutungswandel von Religion und Religiosität Das Studium habe einen großen Einfluss auf die Studierenden ausgeübt. Seine veränderte Geisteshaltung beschreibt einer der Studierenden folgendermaßen: „[[...]] Früher habe ich die Religion mit fanatischen Augen betrachtet. Dann habe ich gemerkt, dass man die Ansichten anderer Menschen auch achten muss, man muss in religiösen Angelegenheiten objektiv sein.“ (Interview_21, 2002: 3) Beim Lesen des Zitates stellt sich die Frage, welche Bedeutung den verwendeten Begriffen „fanatisch“ bzw. „objektiv“ durch den Studierenden zugeschrieben wird. Gefragt, was er unter „objektiv“ verstehen würde, gibt er folgende Antwort: „Es gibt diejenigen, die sagen, dass sie Schiiten sind und dass alle anderen religiösen Orientierungen falsch sind. Auch ich habe Religion so betrachtet. Aber nachdem ich hierher gekommen bin, habe ich gesehen, dass es zwischen den religiösen Orientierungen keine Unterschiede gibt. Es gibt nur ein oder zwei kleine Unterschiede. Deswegen muss man letztendlich objektiv sein.“ (Interview_21, 2002: 3)

„Objektiv sein“ in Bezug auf die Religion bedeutet für ihn die Erkenntnis, dass es keine nennenswerten Unterschiede zwischen den Glaubensrichtungen des Islams gibt. Aufgrund dessen kann es auch keine Abwertung anderer religiöser Glaubensrichtungen geben. Diese Erkenntnis steht im Gegensatz zu seiner früheren religiösen Haltung als Schiit, als er andere religiöse Orientierungen ablehnte. Diese Haltung wertet er heute als „fanatisch sein“ ab. Welcher (Lern-)Prozess hat bei diesem Studierenden an der Fakultät stattgefunden? Das sich als neutral oder objektiv darstellende Islamkonzept der türkischen Dozenten hat der Studierende an der Fakultät übernommen und teilweise auch ein neues Wertesystem. Dahinter steht eine Bewertung von „fanatisch“ als negativ und von „objektiv“ als positiv. Die türkischen Dozenten symbolisieren den „modernen, objektiven Islam“. Sie stehen für einen neuen (,wahren‘) Islam, der sich positiv von dem der Sowjetzeit abhebt, der als „fanatischer Islam“ von „ungebildeten Mullas“149 verkörpert wurde, die die Reli149 Der Mulla ist eine muslimisch-religiöse Figur, der in der aserbaidschanischen Gesellschaft anlässlich der zeremoniellen Gestaltung der Übergangsrituale Beschneidung, Hochzeit und Begräbnis in Anspruch genommen wird und dafür bezahlt wird. Aufgrund von Missbrauch dieses Amtes steht der Mulla für viele Muslime in der aserbaidschanischen Gesellschaft als Synonym für Korruption, Doppelzüngigkeit und auch Ungebildetheit in religiösen Dingen, da vielen

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gion benutzten, um Geld zu verdienen und die in der aserbaidschanischen Bevölkerung außerdem in dem Ruf stehen, unmoralisch zu sein. Die Mullas repräsentieren auch den stark negativ besetzten „alten, sowjetischen Islam“, der weder bei den Studierenden noch in der Bevölkerung Ansehen genießt. „Z.B. kommt es bei uns häufig vor, dass sie [die Mullas, Anm. C. H.-K.] anlässlich eines Begräbnisses den Koran lesen, das ist Brauch an der Grabstätte. Du gehst da hin und es ist so, dass ungebildete Mullas da sind, sie lesen, was ihnen in die Hände kommt, manchmal lesen sie persische oder arabische Gedichte. Die Menschen wissen nicht, was die Mullas lesen, sie denken, es ist ein Vers aus dem Koran.“ (Interview_21, 2002: 4)

Hinter den Worten „Die Menschen wissen nicht, was die Mullas lesen“ steht auch die Wahrnehmung eines Ausgeliefertseins an die Figur des Mulla, dem trotz seines schlechten Rufes die Autorität als „Träger des religiösen Wissens“ aufgrund des Fehlens von Alternativen zu Sowjetzeiten zuerkannt werden musste. Das Bild und auch Konstrukt des Mulla150 als religiöser Autorität vor Augen, der sein Wissen manipulativ einsetzt, überzeugt die Studierenden von der Redlichkeit des türkischen Religionskonzeptes, das erstens von professionellen Dozenten vermittelt wird, die einem vertrauenswürdigem Bildungssystem entstammen (keine Korruption) und das zweitens als wissenschaftlich (mit Bezug auf den Koran als Quelle und der Überprüfbarkeit durch das eigene „Lesen“) zu charakterisieren ist. Bei den Studierenden entsteht dadurch die Vorstellung, dass Religion jedem Einzelnen mit der entsprechenden religiösen Grundbildung zugänglich wird und unabhängig von nicht glaubwürdigen religiösen Autoritäten wie den Mullas vorgeworfen wird, dass sie die Grundlagen des islamischen Glaubens nur unzureichend kennen würden (z.B. den Koran nicht auf Arabisch lesen könnten). Die Zuschreibungen an die Figur des Mulla sind Ausdruck eines gesellschaftlichen Topos, das mindestens seit dem 19. Jahrhundert existiert. Schon damals versuchte eine sich in der aserbaidschanischen Gesellschaft formierende Intelligentsia eine Säkularisierung durchzusetzen (Swietochowski, 1995: 27). Intellektuelle wie der Theaterschreiber Mīrzā Fat½ þAlÍ A¿ÚndzÁde oder die Herausgeber des turksprachigen Satireblattes Molla Nəsrəddin Cəlil Məmmədqulizadə und Mirzə Ələkbər Sabir griffen die Religion und die Mullas als ihre Repräsentanten vehement an. Im Molla Nəsrəddin trägt die Figur des Mulla auch die Züge der Korruption, Undiszipliniertheit und Ignoranz. Sie steht – damals und heute – für einen Missbrauch von Religion und Religiosität. Ein „Mollah sözü“ (übersetzt heißt das so viel wie: „ein Ausspruch oder eine Äußerung eines Mullas“) ist mir bei meiner Feldforschung als eine Redewendung im Sinne eines abwertendes Urteils, als einer Tatsache, der kein Glauben zu schenken ist, begegnet. 150 Siehe dazu auch in Fußnote 149.

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Mullas macht. Ihre eigene Rolle sehen sie dabei als innovativ, sie sehen sich als die zukünftigen Träger und Verantwortlichen für die Verwirklichung eines modernen Islams: „In Zukunft, so Gott will, wird es die momentane Situation in Aserbaidschan nicht mehr geben, also die religiöse Situation, weil die ganzen anspruchsvollen Aufgaben an die Jungen gegeben werden. Also es gibt das Religionskomitee, das ist im Moment in Aserbaidschan das mächtigste Komitee. Dort werden die Studierenden, die die theologische Fakultät absolviert haben, zur Arbeit herangezogen. Hoffentlich werden alle Arbeiten in unsere Hände gegeben, denn wir sind modern denkende Menschen.“ (Interview_21, 2002: 4)

Die Erneuerung der Religion als selbstgewählte Aufgabe ist gleichzeitig Ausdruck eines typisch jugendlichen Bestrebens, die Gesellschaft zu verbessern und zu verändern. Inwieweit das von den türkischen Dozenten bewusst „benutzt“ wird, um eventuell übergeordnete politische Interessen über die islamische Bildung in die Gesellschaft zu transportieren, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben. Die Interaktion zwischen Dozenten und Studierenden bekommt dabei zusätzliche Bedeutung. Gefragt nach ihrem Ideal eines Dozenten, beschreiben die Studierenden einen ehemaligen türkischen Dozenten in der Position des stellvertretenden Dekans, der bei allen sehr beliebt gewesen sei. Der Grund dafür wäre seine Freundlichkeit gewesen: „Er war sehr freundlich. Unsere Dozenten hatten keinen Lohn bekommen. Er hatte einen Mercedes, den verkaufte er. Dadurch blieb er selbst lange ohne Auto! Dann nahm er seinen Lohn und kaufte sich ein neues Auto. So ein Mensch war er.“ (Interview_21, 2002: 4) Der Dozent, der sein Auto verkauft, um den anderen Kollegen ihr Gehalt auszahlen zu können, gewinnt für die Studierenden die Funktion eines Vorbildes. Wie der Studierende selbst sagt, hat der Dozent bei ihnen den Status eines Symbols (symbol). Die Person des im Zitat beschriebenen türkischen Dozenten verkörpert damit exemplarisch (wie z.B. auch die Figur des „Mahmud Kolay“) ein neues Rollenmodell. Im Unterschied zu den aserbaidschanischen Dozentinnen, deren Art und Weise ein anderer Studierender mit den Worten als „sowjetisch-offiziell“ beschreibt, wären die türkischen Dozenten „wie Freunde“: „[...] Sie [die aserbaidschanischen DozentInnen, Anm. C. H.-K.] sind sowjetischoffiziell. Sie halten Abstand zu den Studierenden, sie lassen keine Nähe zu. Sie sind formell. Obwohl die türkischen Dozenten in der Stunde ganz ernst sind, sind sie nach der Stunde dein Freund. Ein Gefährte [...] Aber die Aserbaidschaner sind in der Mehrheit in der Sowjetzeit geblieben. Sie halten die Studierenden auf Abstand, immer. Sie sind immer offiziell.“ (Interview_21, 2002) 135

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Zusammenfassend kann gesagt werden, dass aus der Auswertung der Interviews hervorgeht, dass die vier Studierenden eine andere Sichtweise auf Religion übernommen haben. Offenkundig ist, dass sie Veränderungen hinsichtlich ihres Verständnisses von Religion durchlaufen haben. Zukünftige Berufsperspektiven werden in Anlehnung an das neue Islamverständnis definiert. Konflikte, die aufgrund einer neuen religiösen Identität mit dem Elternhaus und dessen sozialem Umfeld entstehen, werden in Kauf genommen bzw. die Studierenden treten für ihre neue Sicht der Religion ein. Die Mehrzahl der interviewten Studierenden an der Fakultät beschreiben Konflikte, die sich in Zusammenhang mit ihrem Studium mit den Eltern oder dem weiteren sozialen Umfeld aufgrund von religiösen Fragen ergeben haben. Das folgende Zitat erzählt von einem Konflikt, den einer der drei interviewten männlichen Studierenden in seinem Herkunftsort in Lenkoran hat, als er einem Nachbar erklärt, dass das Prinzip der Imame und des Märtyrertums, typische Elemente des schiitischen Glaubens, falsch, der Studierende sagt wörtlich „fanatisch“, wären. Daraufhin beschimpft ihn der Nachbar und sagt: „[...] du bist ein Ungläubiger, sie bringen es dir auf der Universität nicht richtig bei, deine Dozenten sind schlecht“ (Interview_21, 2002). Welche Faktoren führen zu der Aufgabe der früheren religiösen Identität zugunsten einer „neuen“? Es kann angenommen werden, dass mit dem Beginn des Studiums für die Studierenden Differenzen zwischen den mitgebrachten und den an der Fakultät repräsentierten Norm- und Wertsystemen auftreten. Zu der Entscheidung für das „neue“ Islamverständnis tragen mehrere Faktoren bei, wie positive Rollenbilder auf der türkischen und negative auf der aserbaidschanischen Seite. Dazu kommt, dass sich die Studierenden notwendigerweise mit ihrem Studium und den sich daraus ergebenden Berufsperspektiven arrangieren müssen. Des Weiteren befinden sie sich in einem veränderten Umfeld und sind auf neue Bezugspersonen angewiesen. So berichtet der sunnitische Studierende aus Şeki, dass er sich zu Beginn häufig mit dem schiitischen Studierenden aus Lenkoran gestritten habe, bis sie durch das Studium gelernt hätten, dass es nichts zum Streiten gäbe. In diesem Zusammenhang und in Anbetracht des Konfliktes, den der Studierende aus Lenkoran mit seinem Nachbarn hat, indem er das Prinzip der Imame und das Märtyrertums als typische Elemente des schiitischen Glaubens als fanatisch bezeichnet, stellt sich die Frage, ob es „nichts mehr zum Streiten gibt“, weil der schiitische Studierende ein Sunnit geworden ist (also konvertiert ist) oder weil ihre sunnitische bzw. schiitische Konfession vor dem Hintergrund des Konzeptes des „İslamın özü“ tatsächlich keine Bedeutung mehr hat. Ohne diese Frage hier abschließend beantworten zu können, sollen anhand der Auswertung des Interviews mit dem Absolventen Xan Guluzadə weitere Ursachen für die autoritative Kraft des Islamkonzeptes aufgezeigt werden.

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1.4.7 Der Absolvent, Doktorand und Journalist Xan Guluzadə a) Biografisches Xan Guluzadə hat ein Studium an der theologischen Fakultät absolviert und ist zum Zeitpunkt des Interviews Promotionskandidat. Hauptberuflich ist er als Journalist bei verschiedenen aserbaidschanischen Zeitungen tätig. Er schreibt vor allem Beiträge zum Thema Religion. b) Bedeutung von Religion und Religiosität Bedeutsam im Gespräch mit ihm ist seine Betonung der rationalen und verstandesmäßigen Elemente der Religion. Seiner Meinung nach ist die einzig sinnvolle Herangehensweise an den Islam über den wissenschaftlichen Weg, d.h. die „Wissenschaft“ (elm). Sein Religionsverständnis beinhaltet die Betonung der Wissenschaftlichkeit im Sinne einer engen Beziehung zwischen Religion, Wissen und Glauben, die deswegen interessant ist, weil sie auf das türkische Islamkonzept hindeutet: „Die Menschen in Aserbaidschan müssen von neuem lernen. Diejenigen, die eine von den Rechtsschulen unabhängige Position einnehmen, sind wenige. Warum? Weil sie es nicht wissen. Wenn sie den Koran kennen würden, die Aussprüche des Propheten, seine Art zu leben, dann gäbe es keine Probleme. Aber zu dir kommt z.B. ein ungebildeter Mensch, und du erklärst ihm, das ist richtig, vom Koran wird es so empfohlen. Zweimal zwei ist vier. Dann versteht er nicht, warum zweimal zwei vier ist. Deswegen ist Wissen notwendig.“ (Interview_1, 2002: 1)

Im ersten Satz geht Xan Guluzadə auf die Situation der Religion in Aserbaidschan ein, die seiner Meinung nach von den Menschen in Aserbaidschan wieder neu erlernt werden muss. Auch in welcher Form Religion gelernt werden soll, sagt er, wenn er davon spricht, dass nur wenige Menschen eine „mittlere Position einnehmen“, d.h. eine religiöse Orientierung, die sich nicht an den Rechtsschulen ausrichtet. Das ist nach Ansicht von Xan Guluzadə die erstrebenswerte religiöse Haltung. Bereits hier zeigt sich, dass er ein Absolvent der theologischen Fakultät ist, seine Haltung spiegelt das „objektive“ Islamverständnis des „İslamın özü“, des „Meta-Islams“, der türkischen Dozenten wieder. Der Grund, warum die Aserbaidschaner seiner Meinung nach diese neutrale religiöse Haltung nicht einnehmen würden, sei ihre fehlende religiöse Bildung. Fehlende Bildung wird damit zur Begründung einer im Sinne von Xan Guluzadə unangemessenen religiösen Haltung. Gleichzeitig impliziert er, dass die mathematische Gesetzmäßigkeit des „zweimal zwei ist vier“ auch in Bezug auf die Religion Gültigkeit hat: Der Koran und das Leben sowie die Aussprüche des Propheten wären begreifbar, so wie „zweimal zwei ist vier“ begreifbar sei, nämlich als Gesetz. Logische Konsequenz seines Denk137

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ansatzes ist es, dass jeder, der das Einmaleins der Religion (hier: Koran und ¼adÍÝ) kennt, die in seinen Augen richtige Religion und Form der Religiosität annimmt. Der beste Beweis für seine Annahmen ist für Xan Guluzadə seine eigene Frau. Zur Zeit ihrer Verlobung wäre diese dem Christentum zugetan gewesen und wollte sich nicht mit der Religion des Islams auseinandersetzen. Er habe das akzeptiert und ihr „nur“ Bücher zum Lesen gegeben. Sie wäre dann von selbst zu ihm gekommen und hätte den Wunsch geäußert, beten zu lernen. Seine Begründung für ihre „Konversion“ ist folgende: „Ich habe nichts gesagt: Nicht, ,wie du willst‘, oder so. Sie betete selbst, sie las selbst. Ich habe mich nicht in ihre Angelegenheiten eingemischt. ,Warum betest du, warum betest du nicht, warum hast du früher nicht gebetet‘, nichts habe ich gesagt. Von alleine, wie ein intelligenter Mensch, hat sie gesehen, dass [der Islam] Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit (doğruçuluk, düzğünlük) ist, sie hat die Religion angenommen und begonnen religiös zu sein.“ (Interview_1, 2002: 3)

„Wie ein intelligenter Mensch“, sagt Xan Guluzadə, habe seine Frau die Rechtschaffenheit und Wahrhaftigkeit der Religion erkannt. Dabei ist weniger bedeutsam, ob die Konversion seiner Frau wirklich in der von im geschilderten Weise stattgefunden hat; von Interesse ist vielmehr die narrative Präsentation durch Xan Guluzadə, die zum Ausdruck bringt, dass er die Überzeugungskraft des Lesens des Korans als absolut ansieht. Es wird deutlich, dass die Methode bzw. der Weg zur Erkenntnis seiner Meinung nach ausschließlich das Buch ist, also die Aneignung von Wissen und Bildung durch Lesen. Die Parallelen zu der Lehre der türkischen Dozenten, vor allem zu den Äußerungen von Mahmud Yavaş, sind offensichtlich: In der von ihnen erlernten Methode der selbständigen Aneignung von Wissen durch Lesen hat er seine Frau auf den Weg zur Konversion gebracht, eine Tatsache, die ihn in seiner Überzeugung von dem türkischen Islamkonzept umso mehr bestärken muss. Die Verbreitung des „wahren Islams“ (hakiki İslam) hat durch ihn im Sinne der türkischen Dozenten seinen Fortgang gefunden. Seine Frau würde inzwischen, wie er stolz berichtet, ihre Überzeugung selbst an Dritte weitergeben: „Sie ist jetzt so überzeugt davon, dass sie, wenn ich nicht da bin, es [die Religion, C. H.-K.] auch anderen erklärt.“ (Interview_1, 2002: 3) Als zweiten wichtigen Aspekt von religiöser Bildung benennt er die notwendige Fähigkeit, in einen Dialog mit Angehörigen anderer Religionen treten zu können. Dabei müsse man in der Lage sein, den Islam adäquat zu präsentieren. Diese Fähigkeit habe er ausschließlich seinem Studium an der Theologischen Fakultät zu verdanken. Dabei grenzt er sich von einer anderen Einrichtung islamischer Bildung, der Islamuniversität, ab. Deren Studierende wären dazu nicht in der Lage: „Wenn du zu ihnen gehst und ihnen Fragen 138

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zum Christentum oder zum Judentum stellst, dann werden sie gar nichts wissen. Sie sind in einer sehr schlechten Situation. Denn wenn morgen ein Christ oder ein Jude zu dir kommt, dann muss man in der Lage sein, mit ihnen in einen Dialog zu treten.“ (Interview_1, 2002: 4) Die Auswertung der Interviews mit den Studierenden zeigt, dass sowohl die Inhalte des Islamkonzeptes des „İslamın özü“ als auch die beiden türkischen Dozenten von den Studierenden als autoritativ anerkannt werden. Die aserbaidschanischen Dozentinnen dagegen werden als Lehrkräfte abgelehnt, die Inhalte ihrer islamischen Bildung und Erziehung können als Ausdruck einer säkularen Religiosität gegenüber dem türkischen Islamkonzept nicht überzeugen. Im Folgenden sollen die Ergebnisse der Analysen zusammengefasst werden und die Frage nach der autoritativen Kraft des türkischen Islamkonzeptes beantwortet werden.

1.5 Zusammenfassende Analyse und Fazit: Erziehung zum „,wahren‘ Muslim“? 1.5.1 Analyse des Religionskonzepts der aserbaidschanischen Dozentinnen Die Analysen haben gezeigt, dass die beiden aserbaidschanischen Dozentinnen auf die Religion des Islams zurückgreifen, um die eigene Weltsicht und die eigenen Berufsideale in ein Sinn- und Deutungsmuster einzufügen. Sowohl eigene biografische Aspekte als auch ihr Unterricht werden in einen Zusammenhang mit dem Islam gestellt und dadurch legitimiert. Während bei der Dozentin für Pädagogik die Suche nach einer Verankerung von Erziehungszielen wie Höflichkeit, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und friedliches Miteinander in einem übergeordneten Deutungssystem im Vordergrund steht und sie ihre Tätigkeit als Dozentin als religiösen Akt definiert, spielt der Islam für die Musikdozentin vor allem hinsichtlich einer Definition der eigenen kulturellen Identität und Zugehörigkeit eine Rolle. Das religiöse Selbstverständnis der Dozentinnen besteht aus islamischen Elementen der Vergangenheit wie z.B. die religiöse Sozialisation in der Herkunftsfamilie, die Doktorarbeit oder auch die Betonung von emotionalen religiösen Aspekten, wie die „Liebe zu Gott“, die zu Zeit der Sowjetunion bewahrt worden sei. Nicht passende Aspekte, wie die eigene Karriere im sozialistischen System als Dozentin an einem Konservatorium oder als Dozentin für Pädagogik, werden ausgeklammert. Die fehlende Glaubenspraxis wird im Interview entschuldigt mit dem Hinweis, dass entweder die Zeit fehle oder das fortgeschrittene Alter ein Erlernen z.B. der Gebete erschwere oder sogar unmöglich mache.

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a) Eine religionssoziologische Verortung ihrer „individuellen Religiosität“ Die Übernahme von Luckmanns weitem, funktionalistischem Religionsbegriff erscheint im Kontext der Analyse des spezifischen Religionsverständnisses der aserbaidschanischen Dozentinnen als sinnvoll. Die beiden Dozentinnen verorten ihre berufliche Tätigkeit in einem religiösen Kontext und distanzieren sich gleichzeitig vom Glaubenssystem Islam bzw. von einem „orthodoxen“ Islamverständnis insofern, als sie individuell bestimmen, was zu ihrem Glauben bzw. zu ihrer Religion gehört und was sie ablehnen. Die Konstitution eines eigenen Glaubenssystems entspricht wiederum dem, was Luckmann über neue Sozialformen von Religion schreibt: „Gehen wir aus von dem Warenangebot an religiösen Repräsentationen, die dem potentiellen Konsumenten zur Verfügung stehen, und vom Fehlen eines offiziellen Modells, dann ist es prinzipiell möglich, dass der ,autonome‘ einzelne nicht nur bestimmte Themen auswählt, sondern sich sozusagen ,eigenhändig‘ ein klar umschriebenes privates System von letzten Bedeutungen zusammenbaut.“ (Luckmann, 1991: 148)

Entsprechend dieser Aussage kann man sagen, dass auch die Dozentinnen „autonom“ die ihnen als sinnvoll erscheinenden Aspekte der Religion auswählen und in ihr „privates System von letzten Bedeutungen“ übernehmen. Wie weiter oben im Text dargestellt, lehnen sie (aus Sicht des Islam essentielle) Bestandteile der Religion wie Beten, Fasten und das Tragen von islamischer Kleidung ab, ohne sich dabei selbst als „nicht-religiös“ zu definieren. Man könnte auch von einer „Patchwork“-Religiosität der Dozentinnen sprechen, die im Übrigen als typisch für die Mehrheit der Aserbaidschaner angesehen werden kann. Es bietet sich eine Parallele zum theoretischen Konzept der „Unsichtbaren Religion“ an, wenn Knoblauch mit Bezug auf Luckmanns Ausführungen schreibt: „Religion wird in der Form und in dem Maß in Anspruch genommen, wie sie den Anforderungen der individuellen Forderungen nachkommt.“ (Knoblauch zit. in Luckmann, 1991: 21) In diese Richtung argumentiert auch Pfluger-Schindlbeck (PflugerSchindlbeck, 1998: 98), die in ihrem Artikel „Beispiele islamischer Rückbesinnung aus dem postsowjetischen Aserbaidschan“ nach dem Verhältnis von bis vor kurzem in einer offiziell atheistischen Republik lebenden Menschen zur neu gewonnenen Religionsfreiheit fragt sowie nach den Beziehungen, die die Aserbaidschaner heute zum Islam herstellen bzw. welche Bezugssysteme sie mit Hilfe ihrer Religion erstellen. In ihrer Antwort stellt sie die Hypothese auf, dass

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„[...] in Aserbaidschan unterschiedliche religiöse Rückbesinnungsprozesse statt [finden], die sich zwar einerseits alle unter einen gemeinsamen Denominator der Reislamisierung fassen lassen, hier lediglich verstanden in der semantischen Bedeutung des Begriffs als Wiederkehr des Islams, die aber andererseits von den Akteuren je nach ihrem religiös-kulturellen Hintergrund ganz unterschiedlich gestaltet werden.“ (Pfluger-Schindlbeck, 1998: 99)

Die Ausgestaltung der religiösen Rückbesinnungsprozesse je nach religiöskulturellem Hintergrund gilt in der beschriebenen Weise auch für die beiden aserbaidschanischen Dozentinnen und lässt sich meiner Meinung nach im Sinne von Luckmann als Entstehung von individuellen Formen von Religiosität beschreiben: Obwohl Luckmann schreibt, dass „[I]individuelle Religiosität [...] nicht als empirischer Gegenbegriff zur Kirchenreligiosität zu verstehen [ist]; [sondern] [...] lediglich die subjektive Ausprägung jeder Form von Weltansicht“ bezeichnet (Luckmann, 1991: 16), wird die individuelle Religiosität der Dozentinnen vor dem Hintergrund der Ausführungen im Kapitel „Analytischer Bezugsrahmen“ (0.) durchaus als „Gegenbegriff“ zu einem islamisch„orthodoxen“ Glaubenssystem verstanden. Steht doch die „subjektive Ausprägung“ ihrer Weltsicht im Gegensatz zum Anspruch eines „orthodoxen“ Islamverständnisses und damit gemäß der theoretischen Ausführungen in Kapitel II 2.2 im Gegensatz zum Verständnis einer „sichtbaren“ Religion (Assmann, 2004: 51), die durchaus als überindividuelle Weltsicht gelten will.

b) Ein säkularisiertes Religionsverständnis im Sinne von Luckmann Luckmann stellt seine Thesen vor dem Hintergrund der Modernisierung der Gesellschaft auf, ein Aspekt, der auch für den vorliegenden Kontext wesentlich ist, da die individuelle Religiosität oder „Patchwork“-Religiosität der Dozentinnen nicht nur als Ausdrucksform der in Kapitel II 2.1.1 als typisch aserbaidschanisch-muslimisch charakterisierten Religiosität gesehen werden kann, sondern auch in Zusammenhang mit der Transformation der Gesellschaft in den Blick genommen werden kann. Knoblauch schreibt in der Einleitung zu Luckmanns Buch mit Bezug auf dessen theoretische Überlegungen, dass die von Luckmann beschriebene religiöse Entwicklung gewissermaßen symptomatisch für das veränderte Verhältnis von Individuum und Gesellschaft sei und die religiöse Entwicklung die „Entlassung“ des Individuums aus der soziostrukturellen Determination in eine ambivalente ,Freiheit‘ der Privatsphäre bedeute (Knoblauch zit. in Luckmann, 1991: 11). Hiervon ausgehend kann man schlussfolgern, dass auch die beiden Dozentinnen von einem typischen Problem der Moderne (hier versinnbildlicht durch die Transformation) – einer neuen (beruflichen) Identitätsfindung betroffen seien, die sie zwingt, alte, sowjetisch geprägte Erziehungskonzepte und Unterrichtsin141

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halte mit neuen zu verbinden. Dabei sind sie weitgehend auf sich selbst gestellt und bestimmen somit ihre Interpretation des Islams als neue pädagogische Grundlage ihrer beruflichen Identität. Die Stichworte „Transformation“, „Identitätssuche“ und die Suche nach neuen Idealen und Zielen stehen hinter der Hoffnung, die in den Worten der Dozentinnen mitschwingt, neue gesellschaftliche Leitbilder zu finden. Diese Hoffnungen werden nun auf den Islam als Religion übertragen. Die eigene Lebensgeschichte wird entlang von Religion neu konstruiert, die momentane Lebenssituation aus der Perspektive der Religion interpretiert. Dabei darf der Faktor der Religion nicht überbewertet werden. Zum einen wurden die Interviews mit dem Ziel geführt, Einstellungen zur Religion zu ermitteln, und waren damit thematisch vorstrukturiert. Zum anderen bleibt die Frage, die hier nicht zu beantworten ist, inwieweit die Interviewsituation einen „Druck“ erzeugte, als Dozentin einer religiösen Einrichtung die eigene Arbeit und die eigenen Anschauungen durch den Bezug auf Religion zu rechtfertigen. Deswegen ist die Frage nach der Repräsentation islamischer Bildung durch die Dozentinnen nur mit Vorbehalt zu beantworten. Statt einer Antwort erscheint eine Hypothese an dieser Stelle angebrachter. Es besteht die Annahme, dass im Grunde genommen keine „echten“ Brüche zwischen den Norm- und Werthaltungen und den Erziehungszielen der beiden Dozentinnen zu Sowjetzeiten und heute bestehen. Die Inhalte ihrer Weltsichten haben sich nicht prinzipiell verändert. Eine Veränderung haben im Wesentlichen nur die Deutungssysteme erfahren, in die die Weltsichten eingebettet werden. Waren es vormals die sowjetischen Sinn- und Deutungssysteme, so ist es heute ein im weitesten Sinne als „islamisch“ zu bezeichnendes Bezugssystem. Ein besonders eindrückliches Beispiel in diesem Zusammenhang ist die Nennung von Comenius als pädagogisches Vorbild durch die Pädagogik-Dozentin. Ein protestantischer Theologe und Pädagoge wird zum Zwecke der Vereinheitlichung oder „Zusammenfügung“ von pädagogischen Inhalten „islamisiert“. Die Grenzen des neuen Bezugssystems sind also dehnbar, auch weil kein einheitliches System einer Religion in der Gesellschaft existiert, was inhaltlich dem von Luckmann (Luckmann, 1991: 148) festgestellten Fehlen eines „offiziellen Modells“ entspricht. Religion und die eigene Religiosität spielt für die Dozentinnen und ihren Unterricht eine Rolle, allerdings nicht im Sinne einer Einhaltung der islamisch-„orthodoxen“ Glaubenspraxis, sondern als Ausdruck einer nationalen und persönlichen Zuordnung zu einer Gemeinschaft: Sowohl zu dem (muslimischen) Volk der Aserbaidschaner als auch zu der Umma, der transzendalen Gemeinschaft aller (muslimischen) Gläubigen (vgl. dazu auch Bräker, 1989: 144). Als Resultat ihrer sowjetischen Prägung und des Fehlens von religiösem Regelwissen hat sich ein säkularisiertes Verhältnis zur Religion im Sinne von 142

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Luckmanns „unsichtbarer“ Religion herausgebildet, das es ihnen erlaubt, die Religion nach eigenen Maßstäben zu interpretieren und auszugestalten. Inwieweit sich dieses Verhältnis zur Religion, das als typisch für die Mehrheit der Aserbaidschaner gelten kann, wieder in Richtung eines institutionalisierten Glaubenssystems bzw., um mit den Worten Luckmanns zu sprechen, in ein „offizielles Modell“ wandeln kann, lässt sich im Anschluss an diese beiden Einzelfallanalysen nicht beantworten, ein solcher Prozess wäre aber im Rahmen der noch „offenen“ religiösen Entwicklungen in Aserbaidschan durchaus vorstellbar.

1.5.2 Analyse des Religionskonzepts der türkischen Dozenten Bei den türkischen Dozenten steht im Gegensatz zu den aserbaidschanischen Dozentinnen weniger ihre individuelle Religiosität im Vordergrund, als vielmehr ein Islamkonzept, das sie im Auftrag des türkischen Präsidiums für religiöse Angelegenheiten (Türkiye Cumhuriyeti Diyanet İşleri Başkanlığı) in Aserbaidschan lehren. Dieses Islamkonzept, genannt „İslamın özü“, beinhaltet einen Islam, der sich über den fünf Rechtsschulen stehend präsentiert. In diesem Sinne wurde das Islamkonzept als „Meta-Islam“ definiert. Unter „MetaIslam“ wurde dabei ein bewusst als „einheitlich“ konzipierter Islam verstanden, der eine Metaebene des Islams verkörpern soll, auf der Unterschiede der einzelnen religiösen Konfessionen aufgehoben sind und sich auf einen gemeinsamen Kern des Islams, bestehend aus Koran und Hadith (¼adÍÝ), konzentriert wird. Dies wurde als Ausdruck eines strategischen Vorgehens gewertet, das insofern notwendig ist, als die türkischen Dozenten von den Studierenden und der Bevölkerung durchaus als Sunniten wahrgenommenen werden und als solche mehrheitlich schiitische Studierende unterrichten. Dass dies nicht ohne Probleme ist, zeigen sowohl die Interviews als auch die Ergebnisse der Teilnehmenden Beobachtung im Unterricht. Offene Angriffe auf das Schiitentum wie z.B. durch den türkischen Dozenten Murad Ali werden von Seiten der Studierenden nicht akzeptiert. Der Dozent Mahmud Yavaş zeigt sich im Interview der Problematik bewusst und betont die Sensibilitäten im Rahmen einer Thematisierung von schiitischer bzw. sunnitischer Religionszugehörigkeit. Obwohl sich der „Meta-Islam“ als neutral in seiner Haltung gegenüber den Rechtsschulen präsentiert, lassen die Analysen der Interviews erkennen, dass über die Akzeptanz des „Meta-Islams“ sunnitisch-hanafitisch geprägte Glaubensvorstellungen transportiert werden. Diese Annahme gründet sich auf die Daten der Interviews, die zeigen, dass sich die religiöse Haltung der Studierenden verändert: Sie sprechen in abwertender Weise über den schiitischen Islam und betonen dies als Erkennt143

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nisgewinn. Typisch sind Formulierungen wie „Früher habe ich mehr an die Rechtsschulen geglaubt“, was sich im Sinne des Konzepts des „İslamın özü“ als Übernahme des „Meta-Islams“ interpretieren ließe und sich dann aber als nicht wirklich neutral gegenüber den Rechtsschulen herausstellt, wenn die schiitischen Glaubenselemente wie Glaube an die Imame, Märtyrertum und das Trauern im Monat Ramadan als „fanatisch“ und „unislamisch“ abgewertet werden. Dagegen erfahren Elemente des sunnitischen Glaubens eine Aufwertung, so wird z.B. die Zunahme des Glaubens an den Propheten Muhammad betont, was als relativierende Positionierung des vierten Kalifen und ersten Imams Ali, der bei den Schiiten ein sehr hohes Ansehen genießt, interpretiert wurde. Es kann also davon ausgegangen werden, dass mit der Übernahme des türkischen „Meta-Islams“ mehr oder weniger unbewusst eine Abwertung und Zurückweisung der schiitischen Identität einhergeht. Die Wurzeln des Islamverständnisses des „İslamın özü“, der sich als abstrakter „Meta-Islam“ präsentiert, sind in einem spezifisch „türkischen Islam“ (Motika, 2007; Tezcan, 2003) zu suchen. Laut Motika (Motika, 2007: 353) ist eine speziell türkisch-nationalistische Interpretation des Islams die Annahme, dass die Türken bzw. die Anatolier eine besondere Form des Islam entwickelt hätten, die als Synthese von türkischer Kultur und islamischer Religion zu definieren sei. Motika verweist dabei auf das in den 70er Jahren entstandene Konzept der sog. „Türkisch-Islamischen Synthese“ (Türk-İslam Sentezi), das eine politische Denkschule ist, die eine „organische Verbindung von Türkentum und Islam propagiert und als Ziel die zumindest kulturelle Einheit aller Turkvölker verfolgt“ (Motika, 2007: 353). Dabei steht weniger die Religion als vielmehr die Politik im Mittelpunkt. Als wesentlich für die Konstruktion der türkischen Identität im Rahmen dieser Synthese wird die Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam gewertet (Motika, 2007: 353). Die innertürkische Diskussion hat Motika zufolge durch das Ende der Sowjetunion neuen Antrieb bekommen. Auch Agai (Agai, 2004: 112) schreibt im Zusammenhang mit der Bedeutung der TİS (Türk-İslam Sentezi) und einer neuen Orientierung der Türkei in Richtung Kaukasus und Zentralasien nach dem Ende der Sowjetunion: „Auch auf der religiösen Ebene wollte die Türkei eine führende Rolle spielen und schickte, mit dem Verweis auf den möglichen Einfluss Saudi-Arabiens und des Iran, Personal des türkischen Religionsministeriums Diyanet nach Zentralasien und auf den Balkan, um dort die ,türkisch-säkulare‘ Sicht des Islams zu verbreiten [...] Der türkische Staat selbst hat in Zentralasien und Aserbaidschan insgesamt 12 Schulen eröffnet [...] Die Politik der Türkei in Zentralasien [...] hat dazu beigetragen, dass eine innenpolitische Entwicklung wie die TİS auch im Ausland Gestalt annehmen

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konnte, indem der türkische Staat die diesbezüglichen Rahmenbedingungen schuf.“ (Agai, 2004: 114)

Das von Agai dargestellte türkische Interesse der Verbreitung eines „türkischen Islams“ in Gestalt der TİS gibt Aufschluss über die Motive der türkischen Dozenten bzw. des sie entsendenden Amts für religiöse Angelegenheiten zur Förderung der Islamlehre in Aserbaidschan. Die von den Dozenten in den Interviews angesprochene „Pflicht“ (görev), die nicht nur eine moralische Pflicht gegenüber Gott zum Ausdruck bringt, ist auch im Sinne des türkischen nationalen Selbstverständnisses der Dozenten zu werten, die ihrer „nationalen Pflicht“ hier im Sinne des von Motika beschriebenen türkischen Ziels der „kulturellen Einheit aller Turkvölker“ nachkommen. Bestätigt wird dieses Motiv durch die Aussagen des türkischen Dozenten Mahmud Yavaş selbst, der im Interview von seinem und dem Interesse der Türkei sprach, ein „Pilotgebiet“ in Aserbaidschan zu schaffen, dessen Ziel es sei, der Welt zu zeigen, dass es einen reproduzierbaren „modernen türkischen Islam“ gebe. Mit direkter Bezugnahme auf Aserbaidschan schreibt Motika, dass sich eine Übertragung der türkischen Debatte in einer (aserbaidschanischen) Diskussion um eine Koraninterpretation, die westliche Zivilisationsmaßstäbe wie Wissenschaftlichkeit, Vereinbarkeit mit Demokratie und Gleichberechtigung der Frau sowie einer geforderten Sunnitisierung des mehrheitlich schiitischen Landes widerspiegelt (Motika, 2007: 355). Vor dem Hintergrund dieser Ausführungen können die türkischen Dozenten als Missionare eines „türkischen Islams“ verstanden werden. Dies deckt sich mit den Hypothesen zu missionarischen Aktivitäten als Bestandteil der türkischen Außenpolitik von Motika. Er spricht über den „Export islamischer Bildung“ (Motika, 2004b: 70), dabei werden von Seiten des türkischen Staates unterschiedliche außenpolitische Ziele verfolgt (vgl. auch Steinbach, 2000: 50-55). Motika schreibt weiterhin, dass die vormals defensiv vertretene Islamvariante der TİS in den 90er Jahren zum „ideologischen Rüstzeug“ (Motika, 2007: 356) für eine expansive Religionspolitik wurde. In der Zwischenzeit nähme die Türkei für sich in Anspruch, nicht nur die Herausforderungen der Moderne produktiv verarbeitet zu haben, sondern auch eine Vorbildfunktion für die islamische Welt zu haben. „Für viele Protagonisten dieser Strömung sind die Turkvölker des untergegangenen Sowjetreiches wie auch die Muslime der ehemals osmanisch beherrschten Gebiete Bezugsrahmen und Missionsfeld. Letztlich zeichnen sich hier der Wunsch und die Absicht zur Entwicklung eines eurasischen Islams unter türkischer Führung ab. Dass dies einhergeht mit entsprechenden politischen Aspirationen, verwundert bei der traditionellen Staatsbezogenheit des türkischen Islams nicht sonderlich.“ (Motika, 2007: 356) 145

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a) Die Autorität(en) des türkischen Islamkonzepts Die Analyse der Interviews mit den Studierenden hat gezeigt, dass von entscheidender Bedeutung für die autoritative Kraft des Islamkonzeptes des „İslamın özü“ die methodische Vorgehensweise bei seiner Vermittlung ist. Der wissenschaftliche Ansatz bzw. die von den Dozenten als „wissenschaftlich“ bezeichnete Herangehensweise an das Islamkonzept besagt, dass religiöses Wissen rational verstanden werden kann. Das rationale Verstehen impliziert in diesem Kontext auch die „Selbstbestimmtheit“ der Studierenden durch das eigene Lesen des Korans, das in den Vordergrund gestellt wird. Der Zugang zur Religion über das eigene Lesen impliziert nach den Worten von Mahmud Yavaş eine Wahl: Der Lernende liest (iqraÿ) und entscheidet selbst, ob das Gelesene, die Religion, ihn überzeugt. Religion wird damit zu einem erklärbaren (sich selbst und anderen) System, die eigene Religiosität wird sowohl für die eigene Person als auch für die anderen (zumindest vermeintlich) „verstehbar“. Gleichzeit wird das Attribut „modern“ in den Vordergrund gerückt. Es bezieht sich im Kontext des präsentierten Islamkonzeptes auf den Islam der Türkei als Teil eines säkularen Systems: „Modern“ steht in diesem Zusammenhang für einen Islam, der im Sinne des Laizismus, im Rechtswesen und im politischen System keine Rolle spielt und sich damit nach den Worten des zweiten Dozenten Mahmud Yavaş von anderen islamischen Ländern abhebt, in denen die Scharia, das islamische Recht, angewandt wird. Eine wichtige Rolle bei der Überzeugung der Studierenden durch das türkische Islamkonzept spielen auch die beiden türkischen Dozenten und „ihr“ Bildungssystem. Obwohl es sich bei der Fakultät um eine aserbaidschanische Institution handelt, die nur in Kooperation mit dem türkischen Präsidium für religiöse Angelegenheiten gegründet wurde, macht sich der Einfluss der türkischen Dozenten auf die Einrichtung bemerkbar. Nach Aussage der Studierenden gibt es keine Korruption, ein Tatbestand, der unter Umständen auf die gute Bezahlung der Dozenten durch ihren türkischen Arbeitgeber zu erklären ist. Die Dozenten selbst verwiesen auf ihr hohes Einkommen, als sie nach ihrer Motivation, in Aserbaidschan zu arbeiten, gefragt wurden. Somit stellt die Fakultät innerhalb des aserbaidschanischen Bildungssystems, in dem Korruption weit verbreitet ist, eine Ausnahme dar. Des Weiteren betonen die Studierenden die freundschaftliche Beziehung zu den Dozenten sowie deren Integrität, die sich ebenfalls durch nicht korruptes, soziales Verhalten äußert. Auf die Autorität, die die Dozenten und ihre Unterrichtsinhalte dadurch gewinnen, wird im folgenden Kapitel eingegangen werden.

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1.5.3 Die Studierenden und die Rolle von Autorität(en) Die Auswertung der Interviews mit den Studierenden hat die Überzeugungskraft des Konzeptes des „İslamın özü“ gezeigt. Mehrere Faktoren tragen meiner Meinung nach dazu bei, dass das Konzept und sein Religionsverständnis übernommen werden. Diese Faktoren sind folgende: Die Jugendlichkeit der Studierenden und die Suche nach einer „Ideologie“ sowie die Sozialisation in einer autoritär-patriarchalischen Gesellschaft. Weiterhin die Akzeptanz eines rationalen Religionskonzeptes als Folge einer säkularen schulischen (sowjetischen) Sozialisation und als Gegenmodell zu dem emotional-spirituellen aserbaidschanischen Islam.

a) Die Jugendlichkeit der Studierenden und die Suche nach einer „Ideologie“ Die Phase der Jugend wird in der Entwicklungspsychologie als Spannungsfeld zwischen Identität und Identitätskonfusion charakterisiert (Erikson, 1973: 23). Wesentlich in dieser Phase ist die Notwendigkeit einer „Ideologie“, wobei der Begriff nicht in erster Linie politisch verstanden wird, sondern gemeint ist im Sinne einer Sinnstiftung, „die für den Jugendlichen von einem ,ideologischen‘ Weltbild abhängt“. Schweitzer (Schweitzer, 1994: 79) schreibt in seinem Buch über religiöse Entwicklung und Erziehung im Kindes- und Jugendalter: „Es geht um eine Verknüpfung von Tatsachen und Ideen, so dass daraus ein Weltbild entsteht, das dem Jugendlichen einen zugleich individuellen wie gesellschaftlichen Sinn verbürgt.“ In den in diesem Beitrag vorgestellten Interviews wird mehrmals deutlich, dass die jugendlichen Studierenden an der Fakultät Sinnkonzepte vermittelt bekommen, da sie ihr Studium als Möglichkeit sehen, in der Gesellschaft etwas zu verändern. Das Mädchen von der Abscheronhalbinsel studiert an der Fakultät mit dem Ziel, den Islam in ihrem Dorf lehren zu können, die drei männlichen Studierenden erhoffen sich Arbeit im staatlichen Komitee für Religion, um die religiöse Situation in Aserbaidschan zu verändern. Der Doktorand Xan Guluzade schreibt als Journalist über religiöse Themen, um die Menschen über Religion zu informieren. Die „Idee“, etwas an der religiösen Situation zu verändern, findet in der „Tatsache“, der Ausbildung zu einem Beruf, der sie dazu befähigt, seine Verknüpfung. „Das späte Jugendalter ist eine Zeit, in der die gesellschaftspolitischen Einflüsse auf die Identität besonders stark zum Tragen kommen. Die Offenheit der Jugendlichen, sich gesellschaftlich neu zu definieren [...] macht sie für den Einfluss einer Ideologie auf ihre Entwicklung und Identität äußerst empfänglich [...] In gesellschaftlichen Bewegungen und Ideologien suchen sie nach einem Weg in eine sinnvolle Zukunft.“ (Liegle/Melzer, 1991: 236) 147

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Das jugendliche Alter der Studierenden kann als ein Faktor für die Bereitschaft, sich einer neuen „Ideologie“ zu öffnen, gesehen werden. Dazu kommt, dass das Konzept des modernen, „wissenschaftlichen“ Islam eine „Ideologie“ darstellt, die bestimmten sozialen und intellektuellen Dispositionen der Studierenden entgegenkommt.

b) Sozialisation in einer autoritär-patriarchalischen Gesellschaft Die aserbaidschanische Gesellschaft ist eine traditionell patriarchalische Gesellschaft. Der Vater bzw. das männliche Familienoberhaupt hat als Patriarch der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, unumstrittene Autorität. Wie ein Studierender einer weltlichen Einrichtung mir einmal auf meine Frage, was er machen würde, wenn sich seine Tochter seinem Willen widersetzen würde, etwas erstaunt antwortete, es gäbe das „Recht des Vaters und deswegen würde sich seine Tochter seinem Willen nicht widersetzen“. Meine Frage, ob es denn auch das „Recht des Kindes“ gäbe, verneinte er. Mit meinen eigenen Beobachtungen in aserbaidschanischen Familien stimmt diese Aussage insofern überein, als sowohl Frauen als auch Kinder zum Gehorsam gegenüber dem Familienoberhaupt (üblicherweise dem Vater) angehalten sind. Auch in den Bildungsinstitutionen spiegelt sich diese Struktur wider: Wie im Kapitel „Analytischer Bezugsrahmen“, II 1.3.1, schon dargestellt wurde, besteht zwischen den DozentInnen und den Studierenden ein Erziehungsverhältnis, das von den DozentInnen selbst häufig als „Eltern-KindVerhältnis“ bezeichnet wird. Die DozentInnen nehmen sich damit der Sorgen und Nöte der Studierenden an, erwarten aber im Gegenzug die Respektierung ihrer Autorität, die Widerrede ausschließt. Die patriarchalische Struktur, die die gesamte Gesellschaft charakterisiert, schafft eine Disposition der Studierenden gegenüber Autorität und zusammen mit der jugendlichen Suche nach „ideologischer“ Orientierung stellen die türkischen Dozenten und ihr Islamkonzept eine ideale Projektionsfläche für diese Bedürfnisse dar. Gewohnt, sich an einer Autorität auszurichten, aber durch ihr Studium mit „alten“ Autoritäten wie den Eltern und dem Mulla in Konflikt gebracht, kommt es zu einem Wechsel der Autorität. Dabei spielen wiederum mehrere Aspekte eine Rolle: Einer ist die Bewertung der Mullas. Die Mullas gelten zwar in der aserbaidschanischen Gesellschaft als religiöse Autorität, gleichzeitig stehen sie für Korruption und Unehrenhaftigkeit. Demgegenüber bieten die türkischen Dozenten eine religiöse Autorität, die auch respektiert werden kann. Im Rückgriff auf die theoretischen Erläuterungen in Kapitel II 1.3.1 zum Thema der Autorität kann festgehalten werden, dass die türkischen Dozenten Autorität besitzen, die Kron (Kron, 1990: 396) als Eigenschaft von Personen (im Unterschied zu z.B. reiner Amtsautorität) beschreibt. In vorliegendem Falle anerkennen die Studierenden die türkischen Dozenten Mahmud Yavaş und Murad Ali aufgrund ihrer fachlichen Qualifikation und lehnen die Mullas als 148

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fachlich inkompetent ab. Das wurde deutlich in dem Zitat eines Studierenden, der abfällig beschrieb, wie die Mullas zwar anlässlich von Beerdigungen vorgeben würden, aus dem Koran vorzutragen, tatsächlich aber oft persische Gedichte rezitieren würden. Die andere von Kron angeführte Dimension der Autorität als sozialer Relation, die sich in der Amtsautorität des Lehrers ausdrückt, besitzen alle DozentInnen automatisch aufgrund ihrer Tätigkeit in einer staatlichen Institution. Schrott (Schrott, 2003: 287) unterscheidet dabei, unter der Annahme, dass Autorität mit Folgsamkeit zusammenhänge, zwischen erzwungener und bedingter Folgsamkeit der Amtsautorität. Freiwillige Folgsamkeit entstehe aufgrund der Qualifikation und des Charismas sowie der Vorbildfunktion einer Person (Schrott, 2003: 288). Für den vorliegenden Fall ergibt sich aus dieser Differenzierung, dass die aserbaidschanischen Dozentinnen über ihre Amtsautorität hinaus keine „freiwillige Folgsamkeit“ bei den Studierenden hervorrufen, ebenso erzeugt der türkische Dozent Murad Ali nur aufgrund seiner fachlichen Qualifikation Zustimmung bei den Studierenden. Der Dozent Mahmud Yavaş dagegen sowie der anonym gebliebene ehemalige türkische Dozent, der sein Auto verkauft hat, um den Dozenten ihre Gehälter auszahlen zu können, haben freiwillige Autorität durch ihr „Charisma“ im Sinne von Vorbildern gewonnen. Charisma wird dabei im Sinne von Weber (Weber, 1995: 271) als „übernatürliche, nicht jedermann zugänglich gedachte Gabe des Körpers und des Geistes“ definiert. In den Interviews werden die positiven Assoziationen deutlich, die die Studierenden in Bezug auf diese beiden Dozenten haben. Sie stehen für Freigiebigkeit und Selbstlosigkeit sowie für freundschaftliche Nähe bei einer gleichzeitigen Anspruchshaltung im Unterricht. Negativ wurde dagegen das Bild der aserbaidschanischen Dozenten als „sowjetisch“ und „offiziell“ sowie als „unnahbar“ bezeichnet. Ein weiterer Aspekt ist die Empfänglichkeit für ein Islamkonzept, das sich im Gegensatz zu dem emotional-spirituell aserbaidschanischen Islam als rational und wissenschaftlich präsentiert. Im Zusammenhang damit steht auch der (partielle) Legitimationsverlust der elterlichen Autorität. Die rationalen Erklärungsmuster der türkischen Dozenten überzeugen mehr als die nicht auf einer rationalen Argumentation beruhende Argumentation der Eltern. Dadurch kommt es zu einer Abnahme des „elterlichen Orientierungswissens“ (Neuhäuser, 1993: 20), so dass es in religiösen Fragen von einem Wechsel der Autorität der Eltern zu den türkischen Dozenten bzw. zu deren Islamkonzept kommt. Werner (Werner, 1996: 14) beobachtete in Ägypten bei muslimischen, religiös gewordenen jungen Frauen, wie es zu einer „Umkehrung der Senioritäts- und Autoritätsverhältnisse“ kam, zusammen mit einer Tendenz, den Einfluss der Elterngeneration abzuwerten und den eigenen aufzuwerten. Die Eltern werden als „typisch für die ältere Generation interpretiert, die unter Nasser ihre Religion verloren hätten“ (Werner, 1996: 14). In einem Beispiel beschreibt Werner, wie Eltern im Zusammenhang mit Fernsehkonsum für ihr 149

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„unislamisches Verhalten“ von den Kindern kritisiert werden. Diese Beispiele erinnern an die aserbaidschanischen Jugendlichen und ihre Konflikte mit der Elterngeneration sowie die Umkehrung der Autoritätsverhältnisse, in deren Rahmen die Eltern von ihren Kindern über das „richtige“ islamische Verhalten instruiert werden.

c) Akzeptanz eines rationalen Religionskonzeptes als Folge einer säkularen sowjetisch-schulischen Sozialisation Mit Beginn der zaristischen Herrschaft Mitte des 19. Jahrhunderts (Johnson, 2004a: 24) wurde, neben wirtschaftlichen und sozialen Reformen, auch ein Prozess der Säkularisierung der islamischen Gesellschaften begonnen, der von den sowjetischen Machthabern im 20. Jahrhundert massiv vorangetrieben wurde. Wie schon in Kapitel I 1.1.1 ausführlich beschrieben, war das Ziel die Säkularisierung der islamischen Gesellschaften hin zu einem „Soviet secularism“ oder zumindest einem „westernized Islam“ (Keller, 2001: 72). Ein Schwerpunkt war dabei die Säkularisierung des Bildungswesens, wozu die flächendeckende Einführung des sowjetischen Schulsystems und die Schließung der religiösen Schulen und die Ersetzung der Mullas durch im sowjetischen Bildungssystem ausgebildete Lehrer führen sollte (Keller, 2001: 72). In Aserbaidschan wurde die Säkularisierung des Bildungssystems wie auch im übrigen sowjetischen Machtbereich in den 20er und 30er Jahren massiv vorangetrieben (Göyüşov, 2004: 41f.). Dies führte zu einer schulischen Sozialisation der meisten Gesellschaftsmitglieder in einem säkularisierten Bildungssystem (Johnson, 2004a: 23). Das türkische Islamkonzept besitzt für die in einem säkularisierten Land groß gewordenen Studierenden eine große Anziehungskraft, was sich in den Interviews auch dadurch zeigt, dass insbesondere die Attribute „modern“ und „wissenschaftlich“ im Zusammenhang mit diesem Islamkonzept von den Studierenden verwendet werden. In Aserbaidschan sind sowohl die Elterngeneration als auch die Studierenden selbst in einem säkularen Bildungssystem sozialisiert worden. Das rationalisierte und säkularisierte Denken schafft eine Diskrepanz zu der durch das Schiitentum und von traditionellen volksislamischen Elementen geprägten aserbaidschanischen Religiosität und begünstigt ein Islamkonzept wie das der türkischen Dozenten mit seiner Betonung der wissenschaftlichen und rationalen Elemente. Dies korreliert mit globalen Beobachtungen einer zunehmenden Rationalisierung des Glaubens sowie einer erhöhten Ansprechbarkeit von jungen Muslimen auf rational zugänglich gemachte Glaubenskonzepte. Auch in Untersuchungen bei jungen Muslimen im arabischen Raum (Werner, 1996) sowie im europäischen Raum bei Muslimen der MigrantInnengeneration (vgl. dazu Peter, 2004; Roy, 2004; Twardella, 2002) ist festgestellt worden, dass 150

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der Zugang zur Religion auf einer rationalen und nicht in erster Linie auf einer spirituellen Ebene erfolgt. Allgemein bringen die Autoren dieses Phänomen in einen Zusammenhang mit westlichen oder europäischen Einflüssen bzw. mit Prozessen der Globalisierung und der Moderne. Dabei wird angenommen, dass die arabische Welt über die Medien und im Falle der Migrantenkinder diese durch das Aufwachsen in westlich-europäischen Gesellschaften durch die mit der Säkularisierung verbundene Rationalisierung beeinflusst werden. Bei einer Auseinandersetzung mit der eigenen Religion – oftmals als Reaktion auf eine Verunsicherung der eigenen Identität und der eigenen Werte durch den Westen – wird zu einer eigenen Religiosität (vgl. hierzu auch Tietze, 2004) auf rationalem Weg Zugang gefunden. Peter analysiert die Religiosität von jungen Muslimen der zweiten MigrantInnengeneration in Frankreich in Zusammenhang mit dem Phänomen der Individualisierung und bringt Veränderungen der religiösen Autoritätsverhältnisse mit den spezifischen Herausforderungen des Westens und der Moderne in Verbindung, ebenso Werner. Peter (Peter, 2004: 14) spricht in diesem Zusammenhang mit Verweis auf Roy und Twardella von einer „Rationalisierung of second-order choices als Strategien der religiösen Darstellung“: „As has been noted by various authors, for young Muslims, who have been socialized in Western Europe, the rational explanation of Islam is a necessary part of their religious life, contrary to the generation of their parents.“ Der von Peter untersuchte Prediger Iquioussen, der einen Wechsel der religiösen Autoritäten symbolisiert, steht für ein neues Islamverständnis und distanziert sich damit von einem traditionellen Verständnis. Der Prediger Iquioussen stellt ein Religionsverständnis in den Vordergrund, das den Islam über den Weg der Bildung vermittelt und ihn damit leichter für die jungen Menschen zugänglich macht. Neben dem Element der Rationalität, das Religion bzw. Glauben wie Mathematik „believing is like maths, 1+1=2“ (Peter, 2004: 15) definiert, arbeitet Iquioussen mit der Betonung der islamischen Glaubensvorschriften. Die Parallelen zu den von mir gemachten Beobachtungen in der Interaktion zwischen den türkischen Dozenten und ihrem Islamkonzept des „İslamın özü“ und den aserbaidschanischen Studierenden sind geradezu frappierend. Man denke dabei an Xan Guluzade und seine Definition von Glauben als mathematische Gleichung des 2x2=4, das identisch mit dem „1+1=2“ von Iquioussen ist. Die Forschungen und Analysen von Peter, aber auch von Werner, Twardella und Tietze zeigen, dass es sich bei der Rationalisierung des Glaubens um globale Prozesse handelt und dass vermutet werden kann, dass veränderte Glaubenskonzepte eine Antwort auf sich verändernde Gesellschaften und die damit einhergehenden Fragen und Probleme von z.B. jungen Menschen sind. Roy (Roy, 2004: 118) schreibt in einem Beitrag zu der Herausbildung von „neuen islamischen Religiositäten“, dass sich mehr Muslime mit der Notwendigkeit konfrontiert sehen würden, „neu zu er151

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finden und zu definieren, was die Religion für sie bedeutet, auch weil das traditionelle Gelehrtenwissen für sie keinen praktischen Nutzen mehr hat. Das traditionelle Gelehrtenwissen gibt nicht die Antworten, die der Gläubige sucht.“ (Roy, 2004: 120) Im Gegensatz dazu ist der aserbaidschanische Islam geprägt durch die Tradition des Schiitentums auf der einen Seite und durch den religiösislamisch basierten Volksglauben auf der anderen Seite, der seinen Ausdruck in einer Heiligenverehrung und Pilgerfahrten zu deren Grabstätten findet. Als das Hauptmerkmal der aserbaidschanischen Religiosität lässt sich ein emotionales, spirituelles Element ausmachen, das von den Studierenden in den Interviews als „fanatisch“ bezeichnet wurde. Es bildet den Gegensatz zu dem rationalen, intellektuellen Element, das das Islamverständnis der türkischen Dozenten charakterisiert und von den Studierenden als „objektiv“ bezeichnet wird. Versucht man unter dem Gesichtspunkt einer „Erziehung zum (,wahren‘) Muslim“ die Komponente der Religion bzw. der Religiosität im Sinne der eigenen Beziehung zur Religion näher zu beleuchten, so stellt sie sich für die beiden Gruppen, aserbaidschanische vs. türkische Dozenten, unterschiedlich dar. Obwohl auch die aserbaidschanischen Dozentinnen eine Erziehung zum Muslim-Sein anstreben, setzten sie doch ausgehend von der eigenen Religiosität andere Schwerpunkte als die türkischen Dozenten. Religiosität ist für sie Ausdruck eines säkularisierten Religiositätsverständnisses, das als Bezugssystem für Werte und Normen fungiert. Obwohl ihre Erziehungsziele inhaltlich nicht bedeutsam von denen der türkischen Dozenten abweichen, besitzt ihr Religionskonzept keine autoritative Kraft und bleibt anscheinend wirkungslos auf die befragten Studierenden. Der positivistische, rationale Zugang des Islamkonzeptes der türkischen Dozenten zur Religion dagegen spricht Denkstrukturen der Studierenden an, die Ergebnis sowohl des sowjetischen säkularen Schulsystems als auch eines Modernitätsverständnisses sind, das Modernität im Sinne einer umfassenden Methodisierung wahrnimmt.

d) Transformation und Jugendlichkeit als begünstigende Faktoren für „neue Autoritäten“ Die aserbaidschanischen Jugendlichen sind mit den Umbrüchen in ihrer Gesellschaft als Resultat der Unabhängigkeitswerdung sowie mit sich verändernden gesellschaftlichen Strukturen im makro- und mikrosozialen Bereich konfrontiert. Im Falle der aserbaidschanischen Studierenden wirken mehrere Faktoren, so dass es zu einer Verschiebung der religiösen und moralischen Autoritäten kommt. Dabei geht die Autorität von Vertretern der aserbaidschanischen Gesellschaft auf die türkischen Dozenten und ihr Religionsverständnis über. An dieser Stelle kann letztendlich nicht abschließend beantwortet werden, ob die 152

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Studierenden Konvertiten zum sunnitisch-hanafitischen Islam sind oder ob sie tatsächlich Vertreter eines „Meta-Islams“ geworden sind. Zumindest aber haben sie ihre alte religiöse Orientierung abgelegt und sind zu „,wahren‘ Muslimen“ geworden.

e) Xan Guluzade als Prototyp eines „,wahren‘ Muslims“: Glaube als mathematische Gesetzmäßigkeit Betrachtet man den Absolventen Xan Guluzadə als „Produkt“ der islamischen Bildung der Fakultät, spricht er nicht nur die dort gelernte Sprache, sondern kann auch die dort erlernten Inhalte weitervermitteln. Auf dieselbe Art und Weise, wie ihm an der Fakultät islamisches Wissen zugänglich gemacht wurde, nicht über Kontrolle und Druck, sondern über das „Lesen“, also die Aneignung von Wissen, hat er seiner Frau die Religion nahe gebracht. Seine Tätigkeit als Journalist ist ebenfalls eine Möglichkeit, den Islam weiterzugeben. Wie das letzte Zitat gezeigt hat, geht es dabei auch um ein „Bild des Islams“, das gegenüber Dritten bzw. in einem größeren Rahmen der Welt gegenüber „verteidigt“ werden soll. Das entspricht dem Ziel der türkischen Dozenten, den „modernen bzw. türkischen Islam“ im Pilotgebiet Aserbaidschan zu etablieren und damit den üblichen westlichen Assoziationen von Islam mit Terror und Unterdrückung etwas entgegenzusetzen. Die Auswertung der Interviews mit den Studierenden hat gezeigt, dass das türkische Islamkonzept überzeugend ist. Der Ansatz des Konzeptes des „İslamın özü“, in dessen Mittelpunkt die „wissenschaftliche“ Auseinandersetzung mit der Religion und dem Glauben gesetzt wird, spielt dabei eine wichtige Rolle. Faktoren wie Jugend, der Wunsch nach einer idealen oder zumindest stabilen Gesellschaft sowie nach Abstand von „alten“ Autoritäten wie Eltern, Mullas und aserbaidschanischen Lehrkräften kommen als Verstärkung hinzu. Die Selbstbezeichnung der Studierenden als „moderne Menschen“ steht dabei erstens stellvertretend für die Akzeptanz des „modernen, türkischen Islams“ und zweitens für das Potential der gesellschaftlichen Weiterentwicklung, das die Studierenden mit dem Islamkonzept der türkischen Dozenten assoziieren. Lesen und Wissen, sprich Bildung, wird dabei nicht nur zur Methode der „Konversion“, sondern befähigt auch zur Kommunikation und zur Verteidigung der eigenen Religion gegen Juden und Christen bzw. gegenüber „dem Westen“ und hilft letztendlich dabei, die eigene Identität zu definieren. 2 B e d e u t u n g u n d B e d e u t u n g sw an d e l vo n R e l i g i o n und Religiosität in der İmam-Hatip-Schule Im folgenden Kapitel werden die Resultate der Untersuchung an der İmamHatip-Schule in Baku dargestellt. Vor der Präsentation der Auswertung der

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Daten wird ein kurzer Überblick über das in der Türkei entstandene Modell der İmam-Hatip-Schulen gegeben.

2.1 Das Modell İmam-Hatip-Schule: Weltlicher Unterricht und religiöse Erziehung Insgesamt sind in Aserbaidschan in staatlicher Kooperation mit dem Bildungsministerium der Türkei bis heute fünf İmam-Hatip-Schulen gegründet worden, und zwar in den Städten Baku, Sumgait, Şeki und Mingəcəvir (Əskərov, 2004: 5). Die İmam-Hatip-Schulen sind ein originär in der Türkei entstandenes Schulmodell. Sie stellen ein idealtypisches Beispiel für die Integration von islamischer Bildung innerhalb eines säkularen, staatlichen Bildungssystems dar. Die Entstehung der Schulen ist vor dem Hintergrund einer Krise der islamischen Ausbildung in den Medresen gegen Ende des 19. Jahrhunderts und im Kontext von Reformversuchen der Medresenausbildung im Rahmen der jungtürkischen Revolution zu sehen. Mit der Abschaffung der Medresen in den frühen Jahren der Türkischen Republik und im Anschluss an heftige und jahrzehntelange Kontroversen im Hinblick auf das laizistische Verfassungsverständnis sowie auf „oscillations between secularist nationalism and Islamist nationalism“ (Akşit, 1991: 157) wurden die İmam-Hatip-Schulen letztendlich in den 50er Jahren des 20. Jahrhunderts als eine Synthese von islamischer Bildung und modernen Bildungsinhalten in der Türkei als Schulmodell etabliert (Akşit, 1991: 152). Der Name „İmam-Hatip“ der Schulen lässt sich aus dem ursprünglichen Zweck ihrer Gründung ableiten, nämlich als Ausbildungsinstitutionen für zukünftige „Imame“ (Vorbeter) und „Hatips“ (Prediger) (Akşit, 1991: 146). Die Schulen werden vom türkischen Staat finanziert; zusätzlich zu den säkularen Lehrinhalten wird eine religiöse Bildung vermittelt, die je nach Schulform151 bezüglich der Lehrinhalte variiert (Spengler/ Tröndle, 2004: 2).152 Obwohl ihre Absolventen in der heutigen Türkei nicht mehr auf religiöse Berufe beschränkt sind und in allen beruflichen Bereichen der Gesellschaft tätig werden können, werden die İmam-Hatip-Schulen „als wichtigste Säule der Religionsbürokratie“ bezeichnet (Pak, 2004: 327; Tezcan, 2003: 86), denn 68

151 Die Schulen werden in reguläre und „anatolische“ İmam-Hatip-Schulen unterteilt (Pak, 2004: 326). 152 Siehe auch zu einer ausführlichen Darstellung der geschichtlichen Entwicklung der İmam-Hatip-Schulen, zu Curricula und dem gesellschaftspolitischen Diskurs um die Schulen bei N. Dinçer (Dinçer, 1998).

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Prozent des Personals des Amts für religiöse Angelegenheiten in der Türkei haben einen Abschluss an einer İmam-Hatip-Schule gemacht. Agai (Agai, 2004: 105) vermerkt eine Zahl von 604 İmam-HatipMittelschulen und İmam-Hatip-Lyzeen in der Türkei im Jahr 1998 und bekundet ein starkes Anwachsen der Anzahl der Schulen in den Jahren von 1991-1997. Insgesamt stieg der Anteil der İmam-Hatip-SchülerInnen an der GesamtschülerInnenzahl von 2,6 Prozent auf 9,7 Prozent im selben Zeitraum an. Im Jahr 1993 erfolgte allerdings eine Schulreform, die eine Verlängerung der Schulpflicht von fünf auf acht Jahre nach sich zog. Bestandteil dessen war auch die Vorgabe, dass die acht Jahre an einer durchgehenden Schule besucht werden müssen. In der Folge mussten die İmam-Hatip-Schulen ihre Primarstufen schließen, so dass die Ausbildung als Prediger erst im Bereich der Sekundarstufe begonnen werden konnte. Im Jahr 2004 gab es eine weitere Reform der İmam-Hatip-Schulen. Dabei hat die derzeitige türkische Regierung, deren Mitglieder zum großen Teil selbst Absolventen der İmam-Hatip-Schulen sind, den Schulen im Hinblick auf die Regelung des Hochschulzugangs eine bis dato immer verwährte absolute Gleichstellung zu den anderen Schultypen gewährt (Spengler/Tröndle, 2004: 1).153 Die öffentlichen Diskussionen, die im Kontext der Reform entstanden sind, sind Ausdruck des Misstrauens gegenüber der Institution der İmamHatip-Schulen und Bestandteil der Auseinandersetzung zwischen dem Militär als „Hüter“ des kemalistisch-laizistischen Staatsprinzips gegenüber der Religionsbürokratie in Form des Diyanet (Tezcan, 2003: 86). Von Kritikern werden die İmam-Hatip-Schulen in der Türkei bezichtigt, eine „islamische Kaderschmiede“ und „cradle of a new Islamic Ulema“ (Akşit, 1991: 145; Tezcan, 2003: 86f.) zu sein sowie das laizistische Prinzip der türkischen Verfassung zu gefährden (Engin, 1998: 85). Auf der anderen Seite werden sie zum Teil als Hoffnungsträger im Kontext einer Ausbildung von „scientificallyminded and enlighted men of religion (aydın dîn adamı)“ (Akşit, 1991: 145) gesehen. Insbesondere für Eltern aus konservativen und religiösen ländlichen Regionen in der Türkei besitzen sie eine große Attraktivität, dabei werden die

153 Hintergrund der Reform ist die in der Türkei allgemein gültige Zugangsregelung zur Hochschulbildung, die über ein Punkte- und Koeffizientensystem geregelt ist und bei der die Anzahl der erreichten Punkte im Hochschulzugangstest mit dem Koeffizienten, der der jeweiligen Schulform zugeteilt ist, verrechnet wird. Im Rahmen dieses Systems haben die İmam-Hatip-Schulen einen niedrigeren Koeffizienten als die allgemeinbildenden Oberschulen, obwohl diese den gleichen Lehrplan haben. Mit der Reform wurde im Hinblick auf den Koeffizienten eine Gleichstellung erreicht (Spengler/Tröndle, 2004: 2).

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Schulen als Chance für einen gesellschaftlichen Aufstieg der Kinder beurteilt (Agai, 2004: 105; Akşit, 1991: 146, 151ff.).

2.2 Die İmam-Hatip-Schule in Baku Der Zugang zum Unterricht an der İmam-Hatip-Schule gestaltete sich aufgrund der Tatsache, dass zu einer Lehrerin für Arabisch und islamischer Kultur und Moralerziehung ein guter Kontakt besteht, problemlos. Die Lehrerin stellte mich dem Lehrpersonal vor und holte persönlich die Erlaubnis des Direktors für meine Unterrichtsteilnahme ein. Aufgrund der Akzeptanz und Beliebtheit der Lehrerin bei ihren Kollegen wurde die Gegenwart meiner Person gut aufgenommen. Das positive Bild, das sie ihren SchülerInnen von mir vermittelte, trug dazu bei, dass die SchülerInnen aufgeschlossen gegenüber der Forschung waren. Das Datenmaterial, das an der İmam-Hatip-Schule gesammelt werden konnte, besteht aus 25 Aufsätzen, zwei „Gruppendiskussionen“154 und drei Interviews mit Lehrerinnen, die alle die arabische Sprache und islamische Moralerziehung unterrichten. In die Auswertung gehen vierzehn Aufsätze und die beiden „Gruppendiskussionen“ mit ein. Die Interviews mit den Lehrerinnen wurden nicht extra ausgewertet, sie dienen lediglich als zusätzliche Informationsquelle. Zwei der Lehrerinnen haben ihr Studium an der theologischen Fakultät in Ankara absolviert, die dritte an der theologischen Fakultät in Baku. Sie sind Mitte bis Ende Zwanzig, zwei von ihnen sind verheiratet und haben jeweils ein Kind. Aufgrund der geringen Stundenzahl bzw. fehlenden Vollbeschäftigung, die sich aus ihrer Lehrtätigkeit ergibt, sind alle interviewten Lehrerinnen gezwungen, auch noch in anderen Einrichtungen zu unterrichten, um genügend Geld zu verdienen. Neben ihrem Unterricht an der İmam-HatipSchule werden dabei auch außerschulische Orte aufgesucht, an denen sie arbeiten. So treffe ich zwei der Lehrerinnen zufällig an anderen Orten wieder, an denen sie islamische Bildungsinhalte lehren. Dabei unterrichtet eine Lehrerin im Rahmen einer selbstgegründeten Initiative von Eltern und Lehrern in Leitungsfunktion nachmittags SchülerInnen zwischen acht und sechzehn Jahren. Weil der Staat an staatlichen Schulen keinen Religionsunterricht anbietet, hat sich diese Initiative gebildet und bietet eine Form von „Moscheeunterricht“, das heißt Einführung in die arabische Sprache und die Grundlagen der

154 Siehe zur Definition von „Gruppendiskussion“ für die vorliegende Arbeit in Kapitel II 1.4.

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islamischen Bildung155 an. Diese SchülerInnen finden sich in offiziell zum „Theaterspielen“ vorgesehenen Räumlichkeiten ein. Der Unterricht ist nicht erlaubt, ein Grund, warum mir weitere Informationen vorenthalten wurden. Die Tätigkeit der Lehrerin ist im Rahmen des von Əskərov (Əskərov, 2004: 12) beschriebenen, „nicht überprüfbaren“ Unterrichtsgeschehens einzuordnen.156 Demzufolge wird in 20 bis 25 Prozent der staatlichen Schulen Religionsunterricht erteilt, der aber keiner Systematik unterliegt. Eine zweite Lehrerin erteilt neben dem Unterricht an der İmam-HatipSchule eine Form von Religionskunde für die Studierenden der Fakultät für Geschichtswissenschaft. Dieser Unterricht ist Bestandteil der universitären Ausbildung. Der Unterricht erfolgt auf Russisch und wird von den Studierenden, die mehrheitlich sehr wenig bis nichts über die Religion des Islams wissen, mit großem Interesse aufgenommen. Der Unterricht wird auf Aserbaidschanisch abgehalten, wenn ich daran teilnehme. Die dritte interviewte Lehrerin übt keine außerschulischen Tätigkeiten aus. Eine vierte Lehrerin, die aber zu keinem Interview bereit ist, lädt mich ein, sie zu ihrem zweiten Unterrichtsort am Nachmittag zu begleiten. Der Unterricht findet in einer arabischen Bildungseinrichtung statt. Dieser Unterricht wird für ca. 20 bis 30 Frauen jüngeren bis mittleren Alters abgehalten, die mit Blick auf ihre muslimische Bekleidung eine große Religiosität signalisieren. Ohne nähere Informationen zu bekommen, werde ich von den Teilnehmerinnen zu meinen Forschungsabsichten und zum Thema „Muslime in Deutschland“ interviewt und muss dann wieder gehen. Insgesamt wird durch den Kontakt mit den vier Lehrerinnen deutlich, dass über ihr Unterrichten an der İmam-Hatip-Schule hinaus ein Netzwerk zwischen unterschiedlichsten Einrichtungen in Baku besteht, an dem sie Anteil haben. Die schulische Tätigkeit der Lehrerinnen erhält damit eine zusätzliche Bedeutung, da sich zeigt, dass ihr Unterricht nicht nur im Hinblick auf die SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule von Relevanz ist, sondern sie auch in verschiedenen anderen Institutionen pädagogisch tätig sind und islamische Bildungsinhalte dort an eine Vielzahl von „SchülerInnen“ weitergeben.

155 Dabei werden Themen wie z.B. das monotheistische Prinzip der islamischen Religion auf einem sehr einfachen Niveau erläutert und in diesem Kontext andere als monotheistische Religionen auch als nicht anerkennungswürdig, als keine „wahren“ Religionen definiert. 156 Əskərov (Əskərov, 2004: 12) kommentiert diesen Sachverhalt weiterhin mit folgenden Worten: „Es soll vorkommen, dass Mitglieder von religiösen Gemeinschaften und Organisationen, manchmal sogar Staatsbürger der Türkei und Irans sowie aus arabischen Ländern, Abmachungen mit den Direktoren der Mittelschulen treffen und selbst Unterricht in den Grundlagen islamischer Bildung erteilen.“

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

2.3 Lehrpersonal und Curriculum Die Schule in Baku, die 1993 gegründet wurde, bietet sowohl eine Primar- als auch eine Sekundarschulausbildung. Die SchülerInnen können demzufolge die Klassen fünf bis neun im Rahmen der Primar- und die Klassen neun bis elf im Rahmen der Sekundarschulausbildung besuchen. An der İmam-Hatip-Schule arbeiten insgesamt 50 aserbaidschanische LehrerInnen, der Direktor selbst ist ein Türke. Neben den typischen weltlichen Fächern einer allgemein- bildenden Oberschule haben die SchülerInnen religiösen Unterricht. In der fünften, sechsten und siebten Klasse haben sie zwei Stunden Koranunterricht pro Woche und eine Stunde Unterricht in Mənəviyyət ve Əxlaq dərsləri (islamische Kultur und Moralerziehung). Hierfür gibt es keine Lehrbücher. Laut Aussage einer Lehrerin, die das Fach islamische Kultur und moralische Erziehung unterrichtete, sind die SchülerInnen angehalten „[...] zu lernen, wie man sich als Muslim zu verhalten hat, sich Wissen über den Propheten und die moralischen Vorschriften anzueignen (əxlaqə kurallar)“ (Forschungstagebuch_Teil3, 2003: 47). Im achten Jahrgang haben die SchülerInnen eine Unterrichtsstunde in İslam tarixi (islamische Geschichte) pro Woche und eine in Quran oxumaq (Koranrezitation). Von der neunten bis zur elften Klasse haben sie eine Stunde Unterricht in İslam fəlsəfə (islamische Philosophie) und eine Stunde Koranunterricht. Daneben erhalten die SchülerInnen von der fünften bis zur zehnten Klasse Arabischunterricht.

2.4 Auswertung der SchülerInnenaufsätze Im Folgenden wird die Auswertung von 14 Aufsätzen von SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule sowie von zwei „Gruppendiskussionen“ präsentiert und dabei gefragt, inwieweit durch die Analyse der Aufsätze und „Gruppendiskussionen“ auf ein spezifisches Islamkonzept der Schule geschlossen werden kann. Bei der Auswertung der Aufsätze wurden Kategorien gebildet, anhand derer die Antworten der SchülerInnen zusammengefasst und interpretiert werden. Die Antworten der SchülerInnen zur ersten Frage157 ermöglichen dabei zusammenfassende Aussagen hinsichtlich der Kategorien „Was heißt Religiös-Sein aus Sicht der SchülerInnen?“, „,Religiöse Erziehung‘ in den Familien durch die SchülerInnen“ und „Konfliktpotential in den Familien durch religiöse Erziehung in der Schule“. Im Zusammenhang mit der zweiten Frage entsteht die Kategorie „Haltung zu anderen Religionen“. Die Auswertung der 157 Siehe zu den gestellten Fragen im Forschungsdesign in Kapitel III 1.4.

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Aufsätze mit Blick auf die Frage drei ergibt zwei Kategorien, und zwar die „moralische“ und die „funktional-physische Bedeutung der Religion“.

2.4.1 Was heißt Religiös-Sein aus Sicht der SchülerInnen? Die Analyse der SchülerInnenaufsätze zeigt, dass in der Mehrzahl der Familien eine Beziehung zur Religion besteht. Dabei bezeichnen die SchülerInnen ihre Eltern überwiegend als gläubig und schreiben mehrheitlich, dass die Eltern sich auch selbst als Muslime charakterisieren. Weiterhin ist den Aufsätzen zu entnehmen, dass vier Familien Religiosität aktiv im Sinne eines schiitisch-„orthodoxen“ Islamverständnisses praktizieren, während bei den übrigen acht Familien Religiosität entweder im Sinne der muslimisch-aserbaidschanischen Religiosität oder gar nicht praktiziert wird. In drei Aufsätzen schreiben die SchülerInnen, dass in ihrer Familie Religion von Seiten der Eltern gänzlich abgelehnt wird, was vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie ihre Kinder auf eine Schule mit einem Schwerpunkt auf islamischer Bildung geschickt haben, bemerkenswert ist. Im Gegensatz zu einem Selbstverständnis von Muslim-Sein und einer Ausübung von Religiosität, wie sie typisch ist für die aserbaidschanische Mehrheitsgesellschaft, wird aber in den Aufsätzen deutlich, dass „ReligiösSein“ (dindar olmaq) aus Sicht aller SchülerInnen bedeutet, die religiösen Vorschriften einzuhalten. Wenn sie also ihre Eltern auch als „gläubig“ bezeichnen, so unterscheiden sie dies doch von einer Vorstellung von „ReligiösSein“. Dabei wird von den SchülerInnen besonders die Bedeutung des rituellen Gebetes (namaz)158 und des Fastens betont. Damit stellen sie in den Aufsätzen ihre Vorstellung von muslimischer Religiosität den in ihren Familien vorherrschenden Formen von Religiosität gegenüber. Durch Aussagen wie z.B., dass nur das Einhalten der religiösen Vorschriften Ausdruck eines „əsl müsəlman kimi“ („wie ein wahrer Muslim“) (Aufsatz_7/VIII, 2003), also dem „wahren Muslim-Sein“ entspräche, wird deutlich, dass „nur an Gott glauben“ und sich als „Muslim bezeichnen“ in den Augen der SchülerInnen nicht ausreicht. Aus den Antworten geht weiterhin hervor, dass es für sie auch im Kontext einer Definition von „Religiös-Sein“ ganz allgemein von Bedeutung ist, Wissen über die Religion des Islams zu besitzen. Es ist den Aufsätzen zu entnehmen, dass dieses Wissen dabei Infor-

158 Es wird von den SchülerInnen auch vom „dua“ (duþÁÿ) gesprochen, das als Form des Gebetes hier dem „namaz“ (namÁz), dem Pflichtgebet im Rahmen einer „orthodox“ praktizierten muslimischen Religiosität, gegenübergestellt wird und dabei nicht als Teil des „Religiös-Seins“ im Sinne des „dindar etmək“ (siehe Kapitel II 2.2.1) definiert wird.

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mationen über den richtigen Ablauf der Gebete, die Art und Weise des muslimischen Fastens, „richtiges“ und „falsches“ Verhalten im Sinne eines „orthodoxen“ Islamverständnisses sowie Wissen über den Propheten und seine Biografie beinhaltet. Die Antworten der SchülerInnen entsprechen dabei den von einer Lehrerin gemachten und im Kapitel 2: „[...] Lehrpersonal und Curriculum“ angeführten Unterrichtsinhalten der Klassen fünf bis sieben. In diesem Zusammenhang schreiben alle zwölf SchülerInnen, dass ihre Familie an Gott glaube, aber weil diese oftmals nichts oder nicht viel über Religion wisse, seien sie nicht religiös (dindar). Implizit geht damit aus den Aufsätzen der SchülerInnen dabei hervor, dass „Religiös-Sein“ (dindar etmək) für sie bedeutet, die Praktiken der Religion durchzuführen, und zwar im Sinne des „ibadət“, d.h. der rituellen Glaubenspraxis. Zusammenfassend kann gesagt werden, dass dabei in den Aufsätzen eine Unterscheidung zwischen dem „Glauben an Gott“ und der Definition von „Religiös-Sein“ getroffen wird; die Differenzierung findet dabei anhand der Frage statt, ob die religiöse Praxis in Form des ibadət etmək durchgeführt wird. „Unsere Familie besteht aus vier Personen. Wir glauben alle an Gott, nur leider befolgt keiner von uns die rituellen Gebete“ (Aufsatz_7/IV, 2003), schreibt eine Schülerin der siebten Klasse in ihrem Aufsatz. Religiosität wird hier also im Sinne des „orthodoxen“ islamisch-theologischen Verständnisses von „dindar etmək“ begriffen, „wahrhaft“ religiös ist derjenige, der die religiösen Vorschriften praktiziert. Des Weiteren differenzieren die SchülerInnen im Hinblick auf ihre Eltern als „gläubig“ (imanlı), wenn diese die Existenz Gottes anerkennen. Der Begriff des „Sowjetmenschen“ (Aufsatz_7/X, 2003), wie ein Schüler seine Eltern bezeichnet, steht dabei als exemplarisch für nicht religiöse Eltern, die sich jedoch trotzdem als Muslime bezeichnen, dies aber aus einem nationalen Zugehörigkeitsverständnis heraus tun.159 Dabei wird jede mit Bezug auf die Sowjetzeit definierte Haltung zur Religion in allen Aufsätzen von den SchülerInnen als „falsch“ abgelehnt. Des Weiteren weisen die meisten Aufsätze auf ein Konfliktpotential hin, das durch den Besuch der İmam-Hatip-Schule angelegt ist, wenn nämlich die nun in der Schule nach einem „orthodoxen“ Islamverständnis religiös erzogenen Kinder mit den Eltern in Diskussionen um Fragen nach dem „richtigen“ oder „falschen“ islamischen Verhalten geraten und Fragen der „richtigen“ religiösen Erziehung in den Familien thematisiert werden.

159 Dies entspricht den Erkenntnissen von Faradov, nach denen 14,2 Prozent der befragten Aserbaidschaner ihre muslimische Identität als Ausdruck einer ethnischen und kulturellen Zugehörigkeit charakterisieren (Faradov, 2001: 28).

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2.4.2 „Religiöse Erziehung“ der Familien durch die SchülerInnen In insgesamt acht Aufsätzen berichten die SchülerInnen von Gesprächsverläufen über Religion, die meiner Ansicht zufolge als eine Art „missionarische Tätigkeit“ interpretiert werden können. Es zeigt sich, dass die SchülerInnen selbst, vom in der Schule erworbenen Wissen überzeugt, nun ihre Eltern zu überzeugen versuchen bzw. sich bemühen, die Eltern für eine („orthodoxe“) islamische Bildung zu interessieren. So berichtet eine Schülerin z.B. (Aufsatz_7/I, 2003), dass sie den Eltern aus dem Koran vorlesen würde und im Anschluss daran ihre Fragen beantworten würde. Vor dem Hintergrund der schweren Verständlichkeit des Korans160 kann dies in Richtung einer religiösen Unterweisung oder sogar Erziehung der Eltern interpretiert werden. Die Eltern, die den Aufsätzen der SchülerInnen zufolge offenbar wenig formales Wissen über den Islam besitzen, was natürlich angesichts des Aufwachsens zu Sowjetzeiten nicht weiter verwundert (vgl. auch Faradov, 2001: 28), praktizieren zum einen die in Aserbaidschan traditionelle Form von Religiosität oder auch eine schiitisch-„orthodoxe“ Religiosität, die von Seiten der SchülerInnen durch die Lehren an der İmam-Hatip-Schule jedoch in Frage gestellt werden. Demzufolge erfahren die SchülerInnen zu Hause einen Widerspruch zu dem in der Schule Gelernten und sie beginnen eine hier als „missionarisch“ bezeichnete Tätigkeit, indem sie versuchen, die Eltern von ihrem als von „atheistisch“ oder auch als „falsch“ bezeichneten religiösem Verhalten abzubringen und die Religion im Sinne eines (sunnitisch-türkischen) „orthodoxen“ Islamverständnisses auszuüben, welches sie als „wahre“ Form von Religion und Religiosität beigebracht bekommen haben. Der folgende Auszug aus einem Aufsatz illustriert das Bemühen eines Schülers, seine Eltern zu überzeugen, auf bedeutsame Weise: „Unsere Familie besteht aus vier Personen. Zwei von uns sind Sowjetmenschen und zwei gehören zur modernen Welt. Meine Eltern glauben an Gott, aber sie stimmen niemals mit dem überein, was wir ihnen sagen. Wie oft sprechen mein Geschwister und ich mit ihnen über Wunder, Paradies und Hölle, es hat einfach keine Wirkung.“ (Aufsatz_7/X, 2003) Die von dem Schüler verwendeten Termini sind dabei interessant: Seine Eltern bezeichnet er als „Sowjetmenschen“ und sich selbst und seine Ge160 Bobzin schreibt dahingehend: „Der Koran gehört nicht zu den Büchern, die sich einem Lesen leicht erschließen. Das gilt unabhängig davon, ob dieser Leser Muslim ist oder nicht. Ein muslimischer Leser hat immerhin den Vorteil, dass ihm der wesentliche Inhalt des Korans nicht nur vom Lesen, sondern vor allem vom Hören her vertraut ist. Diese Vertrautheit mit dem Wortlaut ist jedoch nicht von vorneherein gleichzusetzen mit seinem Verständnis.“ (Bobzin, 2001: 9)

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schwister beschreibt er als zur „modernen Welt“ gehörig, und dies vor dem Hintergrund, dass sowohl er als auch seine Schwester das an der İmam-HatipSchule vermittelte Islamkonzept akzeptiert haben. Im Hinblick darauf ist anzunehmen, dass der Schüler mit dem Glauben an das Islamkonzept eine neue Weltsicht übernommen hat, die sich in „überkommen = soviet“ gegenüber „neu und modern = Religionskonzept der İmam-Hatip-Schule“ differenzieren lässt. Dabei hat er nicht nur diese neue Weltsicht übernommen, sondern ist auch bereit, sich für diese einzusetzen, was sich in seinen beschriebenen Versuchen ausdrückt, die Eltern zu überzeugen. Ebendieser Schüler schreibt an anderer Stelle, dass er dankbar sei, dass er die Schule besuchen könne: Denn wenn es diese Schule nicht gebe, schreibt er, dann hätte er nichts über die Religion erfahren und wäre den Weg seiner Mutter und seines Vaters gefolgt, was er als „sehr schlecht“ bezeichnet. Dabei kommt auch hier – wie schon in den Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät – zum Ausdruck, dass die Autorität der Eltern von der Autorität der LehrerInnen und der Schule abgelöst wird, weil ihr Wissen als das überzeugendere gewertet wird.

2.4.3 Konfliktpotentiale in den Familien durch islamische Bildung Obwohl in einigen Aufsätzen von einer Offenheit und einem Interesse der Eltern und Geschwister, über den Islam zu lernen bzw. alte Ansichten und religiöse Haltungen zugunsten von „richtigen“ zu revidieren, berichtet wird, erzählen andere SchülerInnenaufsätze auch von Konflikten. Dabei berichtet insbesondere eine Schülerin eindrücklich von den Auseinandersetzungen mit der Mutter, die für sie in einen Zustand der Resignation münden, der deutlich wird, wenn sie schreibt: „Was soll ich sagen, ich sündige, sowohl wenn ich spreche als auch wenn ich nicht spreche.“ (Aufsatz_7/IX, 2003)161 Hinter diesem zuerst unverständlich erscheinenden Satz verbirgt sich ein sowohl religiöser als auch persönlicher Konflikt, der für die Schülerin entstanden ist. Offenbar stammt das Mädchen aus einer religiösen, schiitischen Familie, da sie in ihrem Aufsatz berichtet, dass der Ausgangspunkt der Auseinandersetzung die Anzahl der Gebete gewesen sei. Nach schiitischem Islamverständnis betet die Mutter dreimal pro Tag162, wohingegen die Tochter

161 Das Originalzitat lautet: „Nə deyim desəm də günahkaram, deməsən də“ (Aufsatz_7/IX, 2003). 162 Das Pflichtgebet wird im Prinzip von allen Muslimen als obligatorisch an fünf Tageszeiten angesehen (Sonnenaufgang, Mittag, Nachmittag, am Abend und in der Nacht), jedoch halten die Schiiten es für zulässig, das Mittags- und Nachmittagsgebet sowie das Abend- und Nachtgebet zusammenzufassen, so

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in der Schule offenbar gelernt hat, dass das fünfmalige Gebet am Tag obligatorisch ist. Nach ihren eigenen Worten bete sie selbst wie ein „wahrer Muslim“163 (Aufsatz_7/IX, 2003). Während in einem anderen Aufsatz ein vergleichbarer Streitfall damit endet, dass die SchülerIn die Mutter am Ende davon überzeugen kann, dass sie „falsch“ betet und dass sie und die restliche Familie ihr Verhalten korrigiert („Sonralar düzəldi“) (Aufsatz_7/XII, 2003), hat die Schülerin im vorliegenden Fall keinen Erfolg. Obwohl die Mutter den Worten der Schülerin zufolge sie sogar aufgefordert hat, das Gelernte in die Familie einzubringen, damit die Familie in Zukunft „Verbotenes“ (harram) vermeide, will ihr zuhause niemand glauben; die Mutter streitet die „Richtigkeit“ ihrer Informationen, so z.B. in Zusammenhang mit der Anzahl der Gebete, ab. Den schriftlichen Aussagen der Schülerin zufolge kommt es im Weiteren zu einer heftigen Auseinandersetzung, da die Mutter offenbar sehr ärgerlich über das „neue religiöse Wissen“ ihrer Tochter wird und ihr vorwirft „[...] du gehst jetzt seit drei Jahren auf diese Schule, aber du weißt gar nichts“ (Aufsatz_7/IX, 2003). Der Konflikt spitzt sich anlässlich des schiitischen Trauermonats Mu½arram weiter zu. Auf die Frage an ihre Mutter, warum die Menschen anlässlich der Trauerzeremonie schwarze Binden um die Arme tragen würden, antwortet die Mutter, dass man sich mit den Binden um den Arm am þÀšÚrÁÿTag etwas von Gott wünschen könne. Die Schülerin gibt ihr daraufhin zur Antwort, dass man sich doch nur „direkt“ etwas von Gott wünschen dürfe und nicht mittels eines „Lumpen“. Nach dem Gespräch sei sie ernsthaft krank geworden, schreibt die Schülerin weiterhin, die Mutter habe ihr daraufhin gesagt: „Du hast die Grippe bekommen, weil du nicht geglaubt hast.“ (Aufsatz_7/IX, 2003) Aus dem Bericht der Schülerin wird deutlich, dass der Mutter zwar daran gelegen ist, dass ihre Tochter eine islamische Bildung erhält, dass sie selbst aber gleichzeitig kein Wissen über die religiöse Ausrichtung der Schule ihrer Tochter hat. Weiterhin wird deutlich, dass es durch den Schulbesuch an der İmam-Hatip-Schule in den Familien nicht nur zu einem Aufeinandertreffen von „muslimisch-aserbaidschanischem“ Religiositätsverständnis und einem „orthodoxen“ Islamkonzept kommt164, sondern auch von einem schiitischen Islamverständnis mit dem sunnitisch geprägten Islamkonzept der Schule.

dass die Gebete nur dreimal am Tag aufgesagt werden müssen (Momen, 1985: 178). 163 Im Originalzitat heißt es: „[...] əsl müsəlmanlar kimi [...]“ (Aufsatz_7/IX, 2003). 164 Siehe zu den Definitionen von dem als „muslimisch-aserbaidschanisch“ bezeichneten Religionsverständnis und zur Definition des Begriffs „orthodox“ in

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Im vorliegenden Fall zeichnet sich die Resignation und ein eventuell beginnender Identitäts- und Autoritätskonflikt der Schülerin in dem Satz „Nə deyim desəm də günahkaram, deməsən də = Was soll ich sagen, ich sündige sowohl, wenn ich spreche, als auch wenn ich nicht spreche“ ab. In diesen Worten liegt nicht nur Resignation darüber, dass sie nur noch Falsches sagen kann: Spricht sie das aus, was die Schule ihr beigebracht hat, dann verstößt sie gegen die Annahmen der Mutter und wird deren Worten zufolge von Gott durch Krankheit bestraft. Spricht sie das, was sie über den Islam gelernt hat, im Beisein der Mutter nicht aus, dann „versündigt“ sie sich nach ihren eigenen Worten, vielleicht, weil sie eine Verpflichtung verspürt, ihr neues religiöses Wissen weiterzugeben. Möglicherweise zeichnet sich dabei in ihren Worten ein innerer Konflikt im Hinblick auf den Aspekt des Gehorsams ab: Gleichgültig wie sie sich verhält, entweder sie leistet ihrer Mutter oder der Religion keinen Gehorsam.

2.4.4 Haltung zu anderen Religionen Mit Blick auf die Frage nach der Beziehung zu anderen Religionen lassen sich durchgängig in allen Aufsätzen zwei gemeinsame Merkmale festmachen. Das ist erstens die Betonung einer Haltung des Respekts und der Ehrfurcht gegenüber den monotheistischen bzw. den beiden anderen Religionen abrahamischen Ursprungs und zweitens die Hervorhebung des Aspekts der „Vorläufigkeit“ von Judentum und Christentum. In allen Aufsätzen wird der Islam von den SchülerInnen als „Vollendung“ der Religionen Judentum und Christentum bezeichnet. Dabei argumentieren die SchülerInnen, dass der Islam mit seinem Buch (dem Koran) die Vollendung der beiden anderen Religionen sei, weil Bibel und Thora „verfälschte“ Werke seien. Diese beiden Merkmale entsprechen einem „orthodoxen“ Islamverständnis, das den beiden monotheistischen Schriftreligionen abrahamischen Ursprungs seit jeher Respekt und Ehrfurcht innerhalb der islamischen Gesellschaft zugesteht (Hagemann, 1991: 421). Ebenso entspricht die Beurteilung der „Vorläufigkeit“ einem „orthodoxen“ Islamverständnis, gemäß dem der Islam die Vollendung aller Religionen sei (Hagemann, 1991: 421). Die in den Aufsätzen der SchülerInnen dokumentierte Ansicht zu den Schriften der Religionen Judentum und Christentum reflektiert dabei ebenfalls eine „orthodox“islamische Auffassung, gemäß der die Schriften Thora und Evangelium nicht mehr in ihrer ursprünglichen Authentizität erhalten sind, sondern verfälscht

der vorliegenden Arbeit in Kapitel II 2.1.1 und in Kapitel II 2.2 sowie in Fußnote 14.

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wurden (Hagemann, 1991: 421) und Judentum und Christentum als „Vorgängerreligionen“ des Islams gelten (Hagemann, 1991: 144). Ein „orthodox“-islamisches Glaubensverständnis zeigt sich auch in der in den Aufsätzen dokumentierten Haltung gegenüber anderen Religionen außer Juden- und Christentum. Dabei werden von einem „orthodoxen“ Islamverständnis abweichende religiöse Praktiken wie z.B. auch das traditionelle aserbaidschanische Religionsverständnis mit Blick auf die Tradition der Heiligengräberbesuche und des damit einhergehenden Anbetens von religiösen Symbolen aus Stein bzw. anderen figürlichen Darstellungen in den SchülerInnenaufsätzen als Anbeten von „Götzen“ (bütlər) (Aufsatz_7/VII, 2003) bezeichnet. Dies entspricht einer islamisch-„orthodoxen“ Sicht, nach der alles als „Götzen“ in einem abwertenden Sinne bezeichnet wird, was neben Gott verehrt wird (Heine, 1991c: 310). Ebenso wird Religionen, die des Polytheismus bezichtigt werden, wie z.B. der Hinduismus, der Religionsstatus in den Aufsätzen der SchülerInnen aberkannt.165 Mit Bezug auf das islamische Volk und auf ihre eigene Person schreiben drei SchülerInnen, dass sie hoffen würden, dass das gesamte Volk den Islam hoffentlich in Zukunft annehmen werde, so wie sie ihn selbst angenommen hätten (Aufsatz_7/IX, 2003; Aufsatz_7/V, 2003; Aufsatz_7/XVII, 2003). Dieser Aspekt, obwohl nur in drei Aufsätzen im Kontext der Frage „Haltung zu anderen Religionen“ geäußert, verdient Interesse, bringt er doch deutlich zum Ausdruck, dass die diese besagten SchülerInnen im Rückblick weder sich selbst noch die Mehrheit der Aserbaidschaner als Muslime ansehen und sich damit implizit als „Konvertiten“ beschreiben.

2.4.5 Moralische Funktion der Religion „Als ich zum ersten Mal im Koran gelesen habe, hat sich in mir so eine Begeisterung entzündet [...]“166 (Aufsatz_7/VIII, 2003), schreibt eine Schülerin in ihrem Aufsatz und fährt fort, dass sich ihr Leben grundlegend geändert habe, nachdem sie angefangen hat, auf diese Schule zu gehen (Aufsatz_7/VIII, 2003). Dieser Satz kann als typisch im Kontext der Frage nach der individuellen und allgemeinen Funktion der Religion aus Sicht der SchülerInnen gewertet werden. Hier wie auch in anderen Aufsätzen kommen zwei Aspekte zum Tragen in den Antworten: Zum einen wird von fast allen SchülerInnen die moralische Bedeutung der Religion für ihre persönliche Entwicklung hervor-

165 Auch dies entspricht einer „klassischen“ islamischen Auffassung, siehe dazu auch bei Khoury (Khoury, 1991: 619). 166 Im Originalzitat sagt die SchülerIn: „Hələ birinici dəfə ‘kuran’ i kərim’ oxuyanda mən elə bir fərəhliq yarandı“.

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gehoben. Die Vorstellung, dass die SchülerIn unter dem Einfluss der islamischen Bildung ein „besserer Mensch“, ein „braveres Kind“, eine „fleißigere SchülerIn“ geworden sei, ist wesentlicher Bestandteil der meisten Antworten. Besondere Betonung in vielen Aufsätzen erfährt in diesem Kontext auch die Zunahme des Respekts gegenüber den Eltern und das veränderte Verhalten ihnen gegenüber. Des Öfteren wird in den Aufsätzen weiterhin formuliert, dass der religionslose Mensch „schlecht“, „verführbar“ und „haltlos“ sei und man davon ausgehen könne, dass der Mensch ohne eine religiöse Erziehung auf „Abwege“ gerate. Dabei wird dem Islam von den SchülerInnen eine große Überzeugungskraft hin zu einer Entwicklung zu einem „guten Menschen“ zugeschrieben; eine SchülerIn beschreibt ihre persönliche Wandlung mit folgenden Worten: „Nachdem ich die islamische Religion erklärt bekommen habe, nahm ich mir vor, nur noch die Wahrheit zu sagen, mich vor niemand mehr außer vor Gott zu fürchten und den Erwachsenen Respekt zu erweisen.“ (Aufsatz_7/IX, 2003) Eine andere SchülerIn schreibt: „Der Nutzen der Religion liegt darin, dass die Religion dem Menschen dabei hilft, wie er sich zu verhalten hat. Ich habe mich im Vergleich zu früher sehr verändert. Inzwischen verstehe ich die Menschen und wenn sie Hilfe brauchen, dann liebe ich es, für sie zu beten [...]“ (Aufsatz_7/VI, 2003) Die große Wichtigkeit, die die Religion im Hinblick auf eine angemessene Lebensführung hat, aber auch der Einfluss, den die Religion auf sie ausgeübt habe, beschreibt auch eine weitere SchülerIn: „Ich denke Folgendes: Wenn es die Religion nicht gäbe, gäbe es auch ihre Regeln nicht und die Menschen würden vom rechten Weg abkommen [pis-pis yolları düşərdilər] [...] Für mich hat sie folgende Bedeutung: Früher habe ich über die Gebote der Religion nichts gewusst [...] Aber seitdem ich über die Gebote Bescheid weiß, versuche ich, alles richtig zu machen.“ (Aufsatz_7/VII, 2003) Ganz allgemein nimmt das Element der moralischen Bedeutung einen sehr hohen Stellenwert in den SchülerInnenaufsätzen ein: Die Hauptfunktion der Religion sei es, schreibt eine SchülerIn abschließend, den „ewigen Feind des Menschen“, „den Teufel“, vom Menschen fernzuhalten (Aufsatz_7/XVI, 2003).167

167 Dies entspricht einer Funktion von Religion, die nach den Erkenntnissen von Faradov die bedeutendste Funktion von Religion und Religiosität für die Mehrheit der muslimischen Aserbaidschaner ist. Er schreibt dazu: „Religion is primarily regarded as a main and effective regulator of the everyday life and behaviour of Azerbaijanis and not more.“ (Faradov, 2001: 28)

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2.4.6 Funktional-physische Bedeutung der Religion Neben dieser Komponente wird der Religion aber auch in vier Aufsätzen eine weitere Funktion zugeschrieben, die im Folgenden als die „funktionalphysische Bedeutung“ bezeichnet wird. Unter diesem Gesichtspunkt werden Bedeutungszuschreibungen der SchülerInnen an die Religion verstanden, die sich auf einen „medizinisch“ relevanten Bereich beziehen. In diesem Kontext wird der Religion auch eine ganz praktische, aus gesundheitlicher Sicht vorbeugende und heilende Wirkung im Zusammenhang mit den religiösen Geboten zugeschrieben. Zwei SchülerInnen schreiben z.B., dass das Fasten den „Magen reinige“ (Aufsatz_7/I, 2003; Aufsatz_7/XV, 2003) und weitere zwei SchülerInnen betonen die Funktion des Gebetes, das auch als „Sport“ gesehen werden könne, den der Mensch jeden Tag im Kontext der Durchführung der Gebete absolviere und seinen Körper dadurch „kräftig und gelenkig erhalte“ (Aufsatz_7/III, 2003; Aufsatz_7/IV, 2003).

2.5 Auswertung der „Gruppendiskussionen“ Insgesamt sollen im Folgenden die Auswertungen zu zwei „Gruppendiskussionen“168 in einer siebten Klasse der İmam-Hatip-Schule dargestellt werden.

2.5.1 „Gruppendiskussion“ I: Besuch von Heiligengräbern? Die Lehrerin lässt im Kontext der Diskussion um den Besuch von Heiligengräbern zwei Gruppen bilden, von denen die eine Gruppe Pro-Argumente zugunsten des Besuchs von Heiligengräbern und die andere Gruppe ContraArgumente bilden soll. An der Diskussion beteiligen sich insgesamt fünf SchülerInnen und die Lehrerin. Die Diskussion wird von einer SchülerIn der Pro-Gruppe eröffnet. Diese verweist auf den besonderen Status der „Heiligen“ bzw. verehrten Personen und ihrer daraus resultierenden Fähigkeit, Gebete, die in ihrer Gegenwart verrichtet werden, auf direktem Wege an Gott weiterzuleiten. Dagegen wird von der Contra-Seite eingewandt, dass Gott „in keinem Gesetz“, wie es die SchülerIn formuliert, den Glauben an andere Menschen vorgesehen habe. Weiterhin argumentiert sie, dass, wenn es von Gott eine Empfehlung gegeben hätte, an Menschen zu glauben, dann hätten die Menschen zu Zeiten des Propheten schon zu Menschen gebetet.

168 Siehe zur Definition von „Gruppendiskussion“ für die vorliegende Arbeit in Kapitel III 1.4.

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Während sich die erste SchülerIn mit ihrem Argument als Vertreterin der aserbaidschanischen Religiosität ausweist, nach deren Glaubensverständnis der Besuch von Heiligengräbern fester Bestandteil der religiösen Alltagspraxis ist, vertritt die Contra-Seite argumentativ ein „orthodoxes“ Islamverständnis, das sich am strengen Monotheismus des Islams orientiert und als einzig autoritative Quellen den Koran und das Leben des Propheten anerkennt. Dies kommt in den Argumenten zum Ausdruck, dass es „kein Gesetz gäbe“, womit implizit gemeint ist, dass dies nicht im Koran stünde und weiterhin, dass zur Zeit des Propheten diese Glaubenspraxis nicht existiert habe, womit dessen Leben zum Maßstab religiösen Handelns erklärt wird. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass anhand der Frage der Besuche von Heiligengräbern eine Gegenüberstellung von zwei Islamverständnissen vorgenommen wird. Dabei verteidigt die Pro-Seite der SchülerInnen mit ihrem Argument des besonderen Status und der daraus resultierenden Fähigkeit der Heiligen, „Gebete und Fürbitten“ weiterzuleiten, das traditionelle aserbaidschanische Religiositätsverständnis (Habib/Zapletin, 1999: 8), während sich die Contra-Seite argumentativ auf die Glaubensvorstellungen eines „orthodoxen“ Islamkonzepts stützt und das Glaubensverständnis der Pro-Seite als „falsch“ erklärt. Im weiteren Verlauf der „Gruppendiskussion“ wird von einem der SchülerInnen der Pro-Seite eine Erklärung für erfüllte Wünsche im Anschluss an den Besuch eines „Heiligengrabes“ eingefordert. Sein Beispiel ist die von ihm in der Vergangenheit an einen Heiligen gerichtete Bitte, an eine weiterführende Schule aufgenommen zu werden, die erfüllt wurde. Von einer SchülerIn der Contra-Seite wird der Glaube, dass dieser Wunsch durch den Heiligen erfüllt worden sei, als „Aberglauben“ und als „irrational“ bezeichnet und abschließend mit folgenden Worten abgetan: „Das hört sich so an, als ob eine tote Person gleichzeitig einem Kind Verstand geben könnte. Findest du es logisch, von einer toten Person eine solche Sache zu erwarten?“ (Gruppendiskussion_I, 2003 : 2) Die von einer „spirituellen“ Einstellung geprägte Religiosität des Schülers der Pro-Seite, der seinen Wunsch durch die Bitte an einen Heiligen erfüllt sieht, wird durch die SchülerIn der Contra-Seite mit dem Argument fehlender Logik abgetan. „Eine tote Person“ könne nicht aktiv einen Wunsch erfüllen, in diesem Fall, indem es einem Kind genug Verstand für die Aufnahmeprüfung gäbe. Dahinter steht zum einen die Konzeptionalisierung des „Heiligen“ als Person bzw. Mensch ohne Zuschreibung einer besonderen Stellung und zum anderen eine Argumentationslogik, die auf einer naturwissenschaftlichen Weltanschauung basiert und sich auf rationale Denkmuster bezieht. Hieraus lässt sich an dieser Stelle folgern, dass von der Contra-Seite aus Sicht eines „orthodoxen“ Islamverständnisses argumentiert wird, welches den Status der „Heiligkeit“ von z.B. dem in Aserbaidschan bedeutsamen Grab des „Heili168

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gen“ Mirmövsum Ağa169 nicht anerkennt. Weiterhin kann festgehalten werden, dass hier von der Contra-Seite im Sinne eines sunnitisch-„orthodoxen“ Islamverständnisses argumentiert wird. Denn aus dieser Sicht wird niemandem außer Gott und seinem Gesandten Muhammad Autorität zugebilligt (Halm, 1994: 11).170 Zusammenfassend kann gesagt werden, dass auch in der Auswertung der „Gruppendiskussion“ wie schon in den Auswertungen der SchülerInnenaufsätze deutlich wird, dass dem in der Mehrheit der Bevölkerung verbreiteten Religionsverständnis durch die religiöse Erziehung in der İmam-Hatip-Schule ein neues, „orthodoxes“ Verständnis gegenübergestellt wird. Obwohl die Diskussion „offen“ endet, das heißt ohne Resultat im Hinblick auf die Frage, welche Gruppe Recht hat, kann die Pro-Seite dem Argument der Contra-Seite, die auf die Autorität der Quellen verweist, nichts entgegenhalten, womit die Contra-Seite am Ende der Diskussion zumindest das letzte Wort behält. Dabei wird auch die von der Contra-Seite ins Feld geführte Autorität der Quelle Koran und die alleinige Zuschreibung von Autorität an Gott und seinen Gesandten von der Pro-Seite nicht in Frage gestellt. In einer weiterführenden Interpretation können an dieser Stelle in Anlehnung an die Ausführungen zum türkischen Islam in Kapitel IV 1.5.2 Bezüge zum Konzept eines theologischen Islams türkischer Prägung aufgezeigt werden. Insbesondere Argumentationen mit Verweis auf die Notwendigkeit von Rationalität und auf ein Weltbild, das naturwissenschaftlich bestimmt ist, in Verbindung mit einem rationalen, wissenschaftlichen Religionsverständnis, zeigen sich auch in den Interviews mit den Studierenden der IslamischTheologischen Fakultät und können dabei in direkte Verbindung mit dem schon erwähnten Konzept eines theologischen Islams in der Türkei gebracht werden. Deshalb soll auch an dieser Stelle auf die Diskussion in dem oben angegebenen Kapitel „Das Konzept des wissenschaftlichen und (modernen) türkischen Islams“ verwiesen werden. Weil die den Islam unterrichtenden Lehrerinnen entweder an einer Theologischen Hochschule in der Türkei oder an der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität ausgebildet wurden, liegt die Annahme nahe, dass sie an der İmam-Hatip-Schule

169 Siehe zum in Aserbaidschan als „Heiligen“ verehrten „Mirmövsum Ağa“ in Fußnote 58 und in Fußnote 212. 170 Aus schiitisch-religiöser Sicht gibt es neben Gott außerdem die „vierzehn Unfehlbaren“ (der Prophet, seine Tochter FÁÔima und die zwölf ImÁme) (Halm, 1994: 43; Momen, 1985: 175), denen eine besondere Stellung zukommt. Aber auch aus „orthodox“ schiitischer Sicht gibt es (zumindest formal) keine „Heiligen“ entsprechend den als „Heiligen“ verehrten Personen im Kontext der aserbaidschanischen Religiosität. Zum unter den Muslimen weit verbreiteten Brauch der Heiligengräberbesuche siehe in Fußnote 58.

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das Islamkonzept repräsentieren bzw. lehren, das auch an der IslamischTheologischen Fakultät in Baku durch die türkischen Religionsdozenten gelehrt wird. Bestätigt wird diese Annahme unter anderem auch durch den Argumentationsverlauf im Kontext der Frage des Besuchs von Heiligengräbern. Die Argumente der SchülerInnen zeigen dabei deutliche Parallelen zu dem Konzept des türkischen „Meta-Islams“ (mezheb üstü) auf, wenn sie erstens nur den Koran und das Leben der Propheten als autoritative Quellen anerkennen und zweitens den rationalen Bezug zur Religion in den Vordergrund stellen.

2.5.2 „Gruppendiskussion“ II: Gleichstellung der Religionen? Die Lehrerin leitet die zweite Diskussion mit Fragen an die SchülerInnen ein. Dabei will sie wissen, welche Rolle die Propheten im Leben der SchülerInnen spielen und ob es Unterschiede zwischen den Propheten gebe. Weiterhin will sie wissen, inwiefern sich der Prophet Jesu171 von dem Propheten Mohammed unterscheide und ob es von einer prinzipiellen Notwendigkeit sei, Unterscheidungen zwischen den Propheten zu treffen. Im Rahmen dieser Diskussion erfolgt keine explizite Pro- und Contra-Gruppenbildung, auch überträgt die Lehrerin die Moderation nicht an eine SchülerIn, sondern moderiert das Gespräch mit zwischengeschalteten Fragen selbst. An der Diskussion beteiligen sich insgesamt neun SchülerInnen und die Lehrerin. Unterscheidungen zwischen den Propheten müssen nicht getroffen werden, lautet das erste Argument von Seiten einer SchülerIn, die Begründung ist dabei, dass alle Propheten aufgrund ihres sündenfreien Status gleich sind – im Gegensatz zu „normalen“ Menschen. Mit dem Hinweis, dass alle Propheten von Gott gesandt wurden, wird die These der prinzipiellen Gleichheit aller Propheten von den SchülerInnen nochmals verstärkt. Da alle Propheten dieselbe Aufgabe hätten, nämlich den Menschen den „rechten Weg im Namen Gottes“ zu zeigen, sei es nicht sinnvoll, sie in einer hierarchisierenden Betrachtung zu unterscheiden. In einem Wortwechsel zwischen drei SchülerInnen wird sich in einem Konsens darauf geeinigt, dass im Grunde jeder der Propheten zu einem bestimmten Zeitpunkt gesandt wurde und damit jeder in einem anderen Zeitalter eine je spezifische Aufgabe zu erfüllen hatte und erfüllt hat. Dabei wird argumentiert, dass ein Verbot von Alkohol und Glücksspiel zur Zeit des Propheten Adam unsinnig gewesen sei mit dem Hinweis, dass es beides damals 171 Nach dem Koran ist Jesus neben Noah, Abraham, Moses und Mohammed einer der Propheten und nicht wie im christlichen Glaubensverständnis Gottes Sohn (Hagemann, 1991: 417).

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noch nicht gegeben habe. Weiterhin könne das Trinken von Alkohol zu Zeiten des „Propheten Jesus“ nicht als Sünde gewertet werden, weil die koranischen Vorschriften, nach denen der Alkoholgenuss verboten ist, zu Jesus Zeiten noch nicht wirksam gewesen seien. Die SchülerInnen einigen sich also in Anbetracht der Angemessenheit der jeweiligen Aufträge der Propheten zu einem historischen Zeitpunkt auf ihre Gleichwertigkeit (Gruppendiskussion_II, 2003: 1). Indem die Lehrerin die Moderation übernimmt, hält sie die Ergebnisse der vorherigen Diskussion fest und konstatiert: „Gut. Als Ergebnis halten wir also fest, dass alle Propheten gegenüber Gott gleich sind. Als Muslime versündigen wir uns demzufolge, wenn wir einen Propheten über einen anderen stellen. Denn Gott hat die Propheten im Koran nicht voneinander (hierarchisch) unterschieden. Als Menschen gibt es für uns damit keinen Grund eine Unterscheidung vorzunehmen. Wunderbar, ich bin mit dem Ergebnis sehr zufrieden. Sagen wir, dass sie alle gleich sind. Aber warum sagen wir, dass wir keinen der Propheten über den anderen erhöhen sollen bzw. warum stellen wir dann die Bücher in eine hierarchische Reihenfolge?“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 2)

Es erfolgt damit in diesem Kontext von Seiten der Lehrerin eine die Diskussion weiterführende Fragestellung mit Blick auf eine Wertung der Religionen auf der Basis ihrer Schriften. Dabei verweist die Lehrerin auf die nach islamischer Sicht hierarchisierende Bewertung der Heiligen Schriften, nach der der Koran die Vollendung der Bücher Tora und Evangelium ist. Die SchülerInnen antworten auf ihre Frage, dass es im Hinblick auf die Bibel bekannt sei, dass sie im Laufe der Zeit Veränderungen erfahren habe, wohingegen der Koran „unverändertes Wort Gottes“ sei. Im Vergleich zum Koran, der von Gott herab gesandt sei, wisse man, dass die Bibel erst nachdem Tod des „Propheten Jesus“ geschrieben worden sei und da nur Jesus die genauen Worte gekannt habe, sei sie ohne Frage in einer „entstellten bzw. verfälschten“ Version niedergeschrieben worden (Gruppendiskussion_II, 2003: 3). Ausgehend vom Vergleich zwischen Koran und Bibel führt die Lehrerin die SchülerInnen zum Thema Propheten zurück und setzt dabei den Schwerpunkt auf die Definition des „Propheten Jesus“ aus islamischer Sicht. Dabei mündet sie letzten Endes in der Thematik der nach christlichem Glaubensverständnis bestehenden „Göttlichkeit“ des „Propheten Jesus“ und den Gründen aus islamischer Sicht ein, warum es außer Gott niemand anderen „Göttlichen“ geben kann.

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Weiterhin fährt sie fort, dass „Muslim-Sein“ den Koran kennen heiße: „Wenn man ein Muslim ist, dann kennt man den Koran. Dort steht auch, dass der Prophet Jesus nur ein Prophet ist.“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 3)172 Im Folgenden soll kurz zusammengefasst werden, zu welchem Ergebnis die Lehrerin die Klasse im Rahmen der Diskussion führt. Im Kontext der Thematik „Gleichstellung aller Religionen?“ stellt die Lehrerin die Frage nach der Bewertung der Propheten und der Heiligen Schriften in den Mittelpunkt. Im Zusammenhang mit der Frage nach der Stellung der Propheten geht es der Lehrerin insbesondere um die islamische Glaubensüberzeugung, nach der Jesus Prophet ist, in Gegenüberstellung zur christlichen Glaubensüberzeugung, nach der Jesus Gottes Sohn ist. Dahinter steht wiederum eine „klassische“ islamische Thematik: Ist es doch zentrales theologisches Dogma des Islams, dass Jesus nicht Gottes Sohn und damit nicht göttlich, sondern nur Mensch bzw. Prophet ist (Hagemann, 1991: 416). Eigentliches Bestreben der Lehrerin ist es also, nochmals die Prophetenschaft von Jesus zu thematisieren und zu betonen. Im weiteren Verlauf der „Gruppendiskussion“, wobei die von der Lehrerin ursprünglich angesagte Gruppendiskussion mehr den Charakter einer religiösen Unterweisung bekommt, wird deutlich, dass es das Anliegen der Lehrerin ist, im Kontext der Thematisierung der „Prophetenschaft Jesus“ auch die „besondere, göttliche“ Stellung des Imam Ali im Rahmen der schiitischen Religiosität sowie allgemein die „Vergöttlichung“ von Menschen wie z.B. des in Aserbaidschan von einer Mehrheit als „Heiligen“ verehrten Mirmövsum Ağa zu thematisieren. Dabei zieht die Lehrerin im Weiteren eine Parallele zwischen christlicher Religion und der „Vergöttlichung“ von Jesus im christlichen Glauben zu allgemein religiösen Praktiken innerhalb der islamischen Glaubensgemeinschaft, die sie als unislamisch bezeichnet (Gruppendiskussion_II, 2003: 4). Ausgehend vom Thema Christentum und Jesus geht die Lehrerin dabei zum Thema des „Imam Ali“ und seiner Stellung über, wie diese nach den Worten der Lehrerin: „[...] bei einigen schiitischen, religiösen Orientierungen“, und indem sie sich verbessert, hinzufügt: „[...] nein, nicht schiitischen Orientierungen, sondern bei den Arabern“ vorzufinden seien. Dabei erklärt sie, dass Ali bei eben diesen Orientierungen ähnlich wie Jesus im Christentum einen „heiligen Status“ zugesprochen bekommen habe und nach dem Glauben dieser schiitischen Orientierungen ein Buch überbracht haben solle. Aber im Islam gäbe es so etwas nicht, schließt sie ihre Ausführungen und fügt hinzu: „Für uns Muslime ist nur der Koran Beweis.“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 4) 172 Im Originalzitat heißt es: „Əgər Müsəlmansansa sən Quranın içinin bilirsən. Orada var ki, İsa Peygəmbər yalniz Peygəmbər.“

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Mit dem Verweis auf die ihren Worten zufolge „unbestrittene“ Tatsache, dass es im Zusammenhang mit Gott keinen Anfang und kein Ende gebe und Gott demzufolge nicht sterblich sei, Jesus aber gestorben ist, sei das vergleichbar mit der Annahme, dass Gott sterben könne (Gruppendiskussion_II, 2003: 5). Sie endet mit dem Hinweis auf das prinzipielle Verbot von Götzen und Bildern im Islam, die SchülerInnen selbst greifen ihre Worte auf und führen sie dahingehend aus, dass sie erzählen, dass in Aserbaidschan Menschen vor dem Bildnis von Mir Mövsum Ağa knien würden und das „iabdət etmək“, die rituelle Glaubenspraxis vollziehen würden. Die Lehrerin antwortet darauf: „Das ist dasselbe [d.h., vergleichbar dem Bilder- und Götzenverbot im Islam, Anm. C. H.-K.], [...] das heißt, das Christentum in seiner heutigen Form ist aus unserer Sicht verfälscht worden. Dies sind Ikonen [...] das heißt, es gibt auch im Islam Orientierungen, die verfälscht wurden. Diese Dinge ähneln sich nicht nur, sie sind das Gleiche. Während es im Christentum Ikonen gibt, sind es bei uns Bilder. Während im Christentum der Prophet Jesus erhöht wird, werden [in bestimmten islamischen Orientierungen, Anm. C. H.-K.] der Imam Ali, die seyidler und die Imame vergöttlicht.“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 4)

Es wird deutlich, dass die Lehrerin im Kontext der vermeintlichen Gruppendiskussion „Gleichstellung der Religionen“ Abgrenzungen zum christlichen Dogma der „Gottessohnschaft Jesus“ und darüber auch Distanz zur exponierten Stellung nicht nur des Imam Ali, sondern generell der Imame bei den Schiiten vornimmt. Im Zusammenhang mit den bewertenden Äußerungen, die sie über die schiitisch religiöse Orientierung trifft, ist von Interesse, dass sie zum einen versucht, nicht zu offensichtlich das Schiitentum anzugreifen, wenn sie sich z.B. verbessert und „einige schiitische religiöse Orientierungen“ mit „bei den Arabern“ ersetzt. Zum anderen aber bringt sie deutlich die Ablehnung von schiitischen Glaubensvorstellungen zum Ausdruck, wenn sie von der „Vergöttlichung der Imame“ bei den Schiiten spricht und dies in einen unmittelbaren Zusammenhang zu der „Vergöttlichung von Jesus“ bei den Christen setzt. Nur vor dem Hintergrund eines „orthodox“ islamischen Islamverständnisses als Religion eines strikten Monotheismus, das die „Einzigartigkeit Gottes“ als „Kernbotschaft des Islam“ (Hagemann, 1991: 313) begreift, ist das Ausmaß der Worte der Lehrerin zu verstehen und wird deshalb an dieser Stelle nochmals betont: Den SchülerInnen erteilt die Lehrerin die unmissverständliche Botschaft, dass ein Glaube an die zwölf Imame aus religiöser Sicht der Infragestellung der „Einheit und Einzigartigkeit von Gott“ gleichkommt und damit aus Sicht des (sunnitisch-)othodoxen Islams das „schwerste Vergehen“ überhaupt ist.

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Die Frage nach einer Gleichstellung der Religionen scheint sich mit Blick auf ein weiteres Zitat der Lehrerin von selbst zu beantworten: „Dem Christentum zufolge ist Jesus der Stellvertreter Gottes auf Erden. Wiederum einige Araber sagen, dass Ali ein Prophet Gottes auf Erden ist. Das ist nach unserer Meinung unlogisch.“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 6) Auch mit dem Verweis auf die Aufsätze der SchülerInnen und ihre Sichtweise zum Thema „Haltung zu anderen Religionen“ sowie die in den Aufsätzen der SchülerInnen dargestellten Konflikte mit den Eltern aufgrund eines Aufeinandertreffens von unterschiedlichen religiösen Orientierungen kann gesagt werden, dass von einer gleichberechtigten Stellung der Religionen im Kontext des Religionsunterrichtes an der İmam-Hatip-Schule nicht gesprochen werden kann. Umso erstaunlicher mag erscheinen, dass die Lehrerin die Stunde oder „Gruppendiskussion“ mit den Worten beschließt, dass letztendlich für eine Auszeichnung von Seiten Gottes mit Blick auf die Belohnung im Jenseits nicht die Religionszugehörigkeit, sondern die „guten Taten“ entscheidend seien. Dabei fährt die Lehrerin fort, dass es passieren könne, dass ein Christ vor einem Muslim eine „Auszeichnung“ durch Gott bekäme, wenn dieser Christ mehr „gute Taten“ zu verzeichnen habe als der Muslim. Letztendlich, so schließt die Lehrerin, stehe im Koran, dass „jeder seine eigene Religion habe und das dies bedeute, dass wenn jemand sich im Guten nicht überzeugen lasse, man auch keine Gewalt anwenden dürfe“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 6). Trotz dieser abschließenden Worte der Lehrerin vermittelt sie im Kontext der „Gruppendiskussion“, dass sie mit ihrem Religionskonzept einen größeren „Wahrheitsanspruch“ gegenüber aserbaidschanischen Formen von muslimischer Religiosität und auch gegenüber schiitisch-„orthodoxer“ Religiosität erhebt sowie ganz allgemein eine Definitionsmacht mit Blick auf die Frage nach dem „wahren Muslim-Sein“ oder „dem wahren Islam“ beansprucht. Zumindest muss an dieser Stelle konstatiert werden, dass die durch die Aufsätze und im Kontext der Gruppendiskussion deutlich gewordenen Einstellungen vor dem Hintergrund eines notwendigen Zusammenlebens von Schiiten und Sunniten in Aserbaidschan wie auch einer gleichberechtigten Akzeptanz anderer Religionen neben der eigenen als problematisch anzusehen sind.

2.6 Fazit Die Auswertung der SchülerInnenaufsätze mit Blick auf die Bedeutungszuschreibungen von „Religiös-Sein“ zeigt, dass von den SchülerInnen als Religiös-Sein ein Verhalten im Sinne der in Kapitel II 2.2.1 beschriebenen, normativen islamisch-„orthodoxen“ Religiosität gewertet wird. Gleichzeitig geht

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implizit aus den Aufsätzen hervor, dass diese Vorstellung von Religiosität im Gegensatz zu den im Elternhaus erfahrenen Formen von Religiosität steht. Dabei kann ausgehend von den SchülerInnenaufsätzen und den Gruppendiskussionen angenommen werden, dass die Eltern entweder gar keine Religiosität praktizieren oder aber die „muslimisch-aserbaidschanische“ Form der Religiosität leben oder ein „orthodox“-schiitisches Religiositätsverständnis haben. Jedes dieser Religiositätsverständnisse steht jedoch im Widerspruch zu dem an der İmam-Hatip-Schule gelehrten, denn keine SchülerIn berichtet von einer Übereinstimmung. Zwar gibt es den Aufsätzen zufolge Eltern, die sich von ihren Kindern über das im Islamunterricht Gelernte belehren lassen und zum Teil sogar ihre religiöse Glaubenspraxis demzufolge verändern. Es zeigt sich auch in einigen Aufsätzen, dass Konflikte im Elternhaus entstehen, wenn die SchülerInnen andere Religions- und Religiositätsverständnisse als die „wahren und richtigen“ darstellen und damit das Religiositäts- und Religionsverständnis der Eltern in Frage stellen und diese sich unter Umständen auch in ihrer Autorität hinterfragt sehen. Im Folgenden sollen in diesem Zusammenhang folgende als relevant erachtete Fragen diskutiert werden: Erstens: Warum schicken die Eltern ihre Kinder auf die İmam-Hatip-Schule? Zweitens: Warum übernehmen die in die Untersuchung eingegangenen SchülerInnen das Islamkonzept der Schule, auch wenn sie zu Hause eine abweichende religiöse Sozialisation erfahren haben? Drittens: Welche Rolle spielen Autorität(en) bei der Übernahme des Islamkonzeptes der Schule? Viertens: Im Anschluss daran sollen vor dem Hintergrund von (religions-)pädagogischen Überlegungen mögliche Konsequenzen des in SchülerInnenaufsätzen und Gruppendiskussionen sich abzeichnenden Islamverständnisses der İmam-Hatip-Schule erörtert werden.

2.6.1 Gründe für den Besuch der İmam-Hatip-Schule Die Gründe, warum die Eltern ihre Kinder auf eine İmam-Hatip-Schule schicken, ergeben sich durch eine Kombination der Ergebnisse der Auswertung der SchülerInnenaufsätze und der eigenen gemachten Beobachtungen an der Schule sowie im Rückschluss aus der Sekundärliteratur zu türkischen Bildungseinrichtungen in Zentralasien173. Der scheinbar naheliegende Grund, die eigenen Kinder auf eine Schule mit religiöser Ausrichtung zu schicken, das Ziel, ihnen eine islamische Bildung zukommen zu lassen, muss vor dem Hintergrund der Auswertung der Aufsätze differenziert in den Blick genommen werden. Die Hinweise auf die teilweise deutlich gewordenen Konflikte im Elternhaus über divergierende Is173 Siehe dazu in Kapitel I 2.2.3.

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lamkonzeptionen lassen vermuten, dass die Eltern sich über die Art der religiösen Ausrichtung der İmam-Hatip-Schule nicht im Klaren sind. Unter Umständen ist ihnen nicht bewusst, dass an der İmam-Hatip-Schule ein sowohl sunnitisch geprägtes174 als auch im Vergleich zur aserbaidschanischen Mehrheitsreligiosität „orthodoxes“ Islamverständnis unterrichtet wird. Eine weiterführende Schlussfolgerung wäre dabei, dass die Eltern wenig bis gar kein Wissen über den islamischen Glauben im Allgemeinen bzw. über unterschiedliche Merkmale von schiitischer und sunnitischer Glaubensorientierung besitzen. Auf ein allgemein geringes Wissen deutet auch das in einigen SchülerInnenaufsätzen dargestellte Interesse der Eltern, von ihren Kindern über den Islam zu lernen. Letztendlich würde dies auch den Ergebnissen der Untersuchung zur Religiosität in Aserbaidschan von Faradov entsprechen (Faradov, 2001: 28), dessen Ergebnisse einen allgemein niedrigen Wissensstand über den Islam bei der Mehrheit der aserbaidschanischen Muslime zeigen. Aber selbst bei einer eigenen festen religiösen Überzeugung und einer Vorstellung davon, was muslimische Religiosität für sie bedeutet, scheinen die Eltern wenig informiert über das Islamkonzept der Schule zu sein. Am eindrücklichsten zeigt sich dabei im Kontext der Datenauswertung das Beispiel der Mutter, die ihrer Tochter vorwirft, nichts an der Schule bzw. das Falsche gelernt zu haben. Ganz offenbar hat die Mutter eine Vorstellung davon, was ihre Tochter über die Religion lernen soll, doch stimmt diese nicht mit den islamischen Bildungszielen an der Schule überein: eine Situation, die für die Tochter letztendlich in einem Zustand der Resignation mündet. Obwohl im Falle dieser Mutter das Ziel, dem eigenen Kind eine islamische Bildung zukommen zu lassen, als Grund für den Besuch ein İmamHatip-Schule relevant ist, zeigt sich dennoch, dass einer möglichen Problematik von Vermittlung von religiösen Wissen z.B. hinsichtlich Fragen religiöser Pluralität von Seiten der Eltern nicht begegnet wird und werden kann, da diese wenig bis keine Information besitzen. Inwiefern diese Problematik des geringen religiösen Wissensstandes der Eltern im Rahmen z.B. von Bildungsaktivitäten der Türkei genutzt wird, um spezifische Islamkonzeptionen im Ausland zu verbreiten und dabei außenpolitische Ziele zu verfolgen, muss an dieser Stelle unbeantwortet bleiben.

174 Dass das Islamkonzept an der İmam-Hatip-Schule sunnitisch geprägt ist, folgere ich aus der in den SchülerInnenaufsätzen und den Gruppendiskussionen mehrfach deutlich gewordenen Abwertung von schiitischen Glaubensvorstellungen wie dem dreimaligen Beten am Tag (Aufsatz_7/IX, 2003) oder der Ablehnung der zwölf Imame durch die Lehrerin im Kontext der „Gruppendiskussion“ (Gruppendiskussion_II, 2003: 4).

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Ein weiterer Grund für den Besuch der İmam-Hatip-Schule kann im Bestreben der Eltern gesehen werden, den Kindern eine bessere Ausbildung zukommen zu lassen. Bezüglich dieser Information liegen mir allerdings nur mündliche Aussagen von Seiten der aserbaidschanischen Projektmitarbeiter vor, allerdings fügt sich diese Information zu den Resultaten der Untersuchung von Demir et al. (Demir et al., 2000: 144), die ebenfalls die bessere Ausbildung als wichtigen Grund für den Besuch von „türkischen“ Bildungseinrichtungen in den zentralasiatischen Staaten als Ergebnis ihrer Untersuchung festhalten. Die gute und zudem gebührenfreie Ausstattung mit Lehrmaterialien wie Unterrichtsbüchern lässt dabei zudem vermuten, dass die İmamHatip-Schule nicht die an aserbaidschanischen säkularen Schulen bestehenden finanziellen Probleme hat. Ebenso konnte ein Unterrichtsausfall während der gesamten Forschungszeit (regelmäßiger Besuch der Schule während der neun Monate) nicht beobachtet werden, ein Phänomen, von dem aserbaidschanische staatliche Schulen des Öfteren betroffen sind, wie mir vor allem der Aufenthalt in den aserbaidschanischen Familien deutlich machte.

2.6.2 Gründe für die Übernahme des Islamkonzepts der Schule Im Kontext der folgenden Interpretationen sollen die theoretischen Überlegungen, die in Kapitel II 1.3 zu „Religion und Erziehung“ ausgeführt wurden, vor dem Hintergrund der ausgewerteten Daten aufgegriffen werden. Hinsichtlich der Frage, welche Gründe es für die Übernahme des Islamkonzeptes der Schule durch die SchülerInnen gibt, steht die Frage im Vordergrund, ob es tatsächlich zu einer Übernahme kommt. Diese Frage kann zumindest den vorliegenden Daten zufolge mit einem uneingeschränktem „Ja“ beantwortet werden. Nicht nur werden religiöse Haltungen der Eltern, die nicht im Sinne des „þibÁdÁt“ die islamische Religion praktizieren, als „falsch“ von Seiten der SchülerInnen charakterisiert, sondern sie zeigen auch Anstalten, ihre Eltern zu bekehren und vom „richtigen, wahren“ Islamkonzept zu überzeugen. In Kapitel II 1.3.2 wird u.a. gefragt, ob es eine Erziehung zur Religiosität überhaupt geben kann und welche wissenschaftlichen Erkenntnisse dazu vorliegen. Im Kontext dieser Frage wurde dargestellt, dass Erziehung zur Religiosität nicht als Sonderbereich zu verstehen ist, sondern als Teil von soziokulturell bedingten Erziehungs- und Sozialisationsprozessen (Fraas, 1993: 76). Auf der einen Seite könnte also gerade das Fehlen einer formalen religiösen Erziehung (wie dem Beibringen des islamisch-rituellen Gebetes = namÁz) im Elternhaus der İmam-Hatip-Schule einen Vorteil dahingehend verschaffen, dass sie alleinige Autorität über den religiösen Erziehungs- und Sozialisationsprozess erhält. Das Gefühl bei einigen der SchülerInnen, zum ersten Mal die islamische Religion erklärt zu bekommen, wird deutlich, wenn eine Schü177

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lerin schreibt, dass sie, nachdem sie „die islamische Religion erklärt bekommen habe“ (7/IX 2003), sich vorgenommen habe, nur noch die Wahrheit zu sagen. Implizit besagt diese Aussage auch, dass sie zumindest ihrem Empfinden nach die islamische Religion noch nicht erklärt bekommen hat und dementsprechend die Erklärung, die ihr an der İmam-Hatip-Schule geboten wird, übernimmt. Es kann hiervon ausgehend angenommen werden, dass die religiöse Sozialisation in der Schule, die auf Erklärungen und der Vermittlung von konkreten Bildungsinhalten basiert, bei den SchülerInnen nachhaltiger wirkt, als die – wenn überhaupt vorhandene – religiöse Sozialisation zu Hause. Das sowohl in den SchülerInnenaufsätzen als auch in den Ergebnissen von Faradov (Faradov, 2001: 28) beschriebene fehlende Wissen über die Religion bei den Eltern bewirkt unter Umständen bei den SchülerInnen eine größere Offenheit gegenüber ihren ReligionslehrerInnen an der Schule.

2.6.3 Zur Rolle von Autorität(en) Es stellt sich im Anschluss daran die Frage, warum die SchülerInnen bereit sind, mit ihren Eltern in einen Konflikt zu treten und ihre „neue“ religiöse Haltung zu verteidigen und für diese einzutreten. Im Kapitel zur IslamischTheologischen Fakultät wurde die Frage nach der Übernahme des Islamkonzeptes der Religionsdozenten im Zusammenhang mit theoretischen Überlegungen zum Phänomen der Autorität erklärt. Diese lassen sich auch auf die Beziehung zwischen SchülerInnen und LehrerInnen an der İmam-HatipSchule übertragen. In Kapitel II 1.3.1 wurde zur Frage nach der Rolle von Autorität dargelegt, dass sowohl die interviewten aserbaidschanischen als auch die türkischen LehrerInnen und DozentInnen sich als Führungspersonen und Vorbilder sehen. Demgemäß schreibt eine Schülerin in ihrem Aufsatz, dass die Lehrerin ihr als Vorbild diene (Aufsatz_7/II, 2003). Wie auch schon die türkischen Dozenten an der Islamisch-Theologischen Fakultät haben auch die Lehrerinnen an der İmam-Hatip-Schule gegenüber den Eltern den Vorteil, eine theologische Ausbildung erhalten zu haben, und können damit aufgrund ihrer religiösen Bildung in anderen Zusammenhängen argumentieren als die Eltern. Sie besitzen aufgrund dessen eine größere Kompetenz in religiösen Fragen und nach den Ausführungen von Kron (Kron, 1990: 396) damit auch größere Autorität. Um dies zu verdeutlichen, sollen nochmals zwei Beispiele herangezogen werden: Im Kontext von „Gruppendiskussion“ II geht es um die Frage der Stellung der Propheten. Die Lehrerin will die SchülerInnen davon überzeugen, dass Jesus „nur ein Prophet“ ist und keinen „göttlichen Status“ haben kann. Dabei argumentiert sie, dass Jesus nicht göttlich sein könne, da er gestorben sei. Und wenn Jesus sterben könne, obwohl er göttlich sei, dann be-

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deute das, dass auch Gott sterben kann, was wiederum unmöglich wäre. Als logische Konsequenz folge daraus, dass Jesus nicht göttlich sei. Zum Vergleich soll nochmals die Argumentationsweise einer Mutter gegenübergestellt werden, die ebenfalls ihre Tochter zu überzeugen sucht, und zwar von der Vorstellung, dass eine schwarze Binde am Arm, getragen am þÀšÚrÁÿ-Tag des Monats Mu½arram, es ermögliche, an Gott einen Wunsch zu richten. Die Tochter, die diese Glaubensvorstellung als „falsch“ beurteilt mit dem Argument, dass Wünsche an Gott nur direkt gerichtet werden könnten, bekommt von der Mutter gesagt, dass sie krank geworden sei, weil sie nicht an Gott geglaubt habe. Insbesondere dieses Beispiel macht die Hilflosigkeit der Mutter deutlich, die ihr Glaubensverständnis verteidigen will, dies aber nur auf einer emotionalen Ebene vermag. „Sachliche“ Argumente, z.B. mit einem Bezug auf die religiösen Quellen, um die Tochter von ihrem Religiositätsverständnis zu überzeugen, fehlen ihr. Im Gegensatz dazu kann die Religionslehrerin anhand von „logischen“ Argumentationsketten aufzeigen, warum ihr Glaubensverständnis „richtig“ ist. Auch wenn es sich hier um nur ein Beispiel handelt, das als solches wenig Repräsentativität besitzt, ist das rationale Argumentieren im Hinblick auf Glaubensüberzeugungen typisch sowohl für die türkischen Religionsgelehrten als auch bei den LehrerInnen der İmamHatip-Schule. Wie schon im Fazit zum Kapitel zur Islamisch-Theologischen Fakultät gezeigt wurde, sind die Studierenden und eventuell auch die SchülerInnen offen gegenüber vermeintlich rationalen Denkkonzeptionen. Auch im Falle der SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule kann angenommen werden, dass sie rationale Erklärungsmuster spirituell-emotionalen vorziehen und dies unter Umständen auch als langfristiges Resultat von Säkularisierungsprozessen und dem Einfluss von westlich-rationalen Denkstilen gesehen werden kann (vergleiche dazu auch die Ausführungen in Kapitel IV 1.5.3 c). Dies kann an dieser Stelle allerdings nur als Hypothese formuliert werden und bedarf weiterführender Untersuchungen. Hinzu kommen der Stellenwert bzw. die Autorität von Koran und dem Leben des Propheten. Generell besitzt der Koran sowie der Prophet Mohammed bei der Mehrheit der Muslime eine nicht zu hinterfragende Autorität, die sich aus der offiziellen Lehrmeinung der Präexistenz des Koran ergibt (Mihiçiyazgan, 2003: 126). In der Konsequenz besitzt eine Lehrerin, die den Koran kennt und ihre Bildungsinhalte aus dem Koran bezieht, damit in religiösen Fragen Autorität. Man denke in diesem Zusammenhang auch an die Worte der Lehrerin selbst, die sie in der zweiten „Gruppendiskussion“ gleichsam als Erklärung für ihre Abwertung von christlicher und auch schiitischer Religion benutzte: „Für uns Muslime ist nur der Koran Beweis.“ Tatsächlich verfährt sie argumentativ vergleichbar den türkischen Religionsdozenten, die mit dem Verweis auf den Koran jegliches Gegenargument unwirksam ma-

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chen, das sich nicht ebenfalls auf die autoritativen Quellen „Koran“ und „beispielhaftes Leben des Propheten“ stützen kann.

2.6.4 Das Islamverständnis der İmam-Hatip-Schule und religionspädagogische Überlegungen Die islamische Bildung an der İmam-Hatip-Schule kann nicht im Sinne einer in Kapitel II 1.3.2 dieser Arbeit dargestellten religiösen Indoktrination gesehen werden, beansprucht sie doch mit ihrer Vermittlung von sowohl weltlichen als auch religiösen Bildungsinhalten keine alleinige Deutungsmacht in allen Bereichen des Lebens. Es werden keine religiösen Letztbegründungen (Benner, 2004: 28) von säkularen Unterrichtsfächern durch die Religion vorgenommen, wie z.B. in traditionalistisch islamischen Bildungskonzepten (Mihiçiyazgan, 2003: 126) vorgesehen wird. Dies wird deutlich, da islamische und weltliche Bildung inhaltlich voneinander getrennt unterrichtet werden und islamische Bildung nur im Kontext der dafür vorgesehenen Unterrichtsstunden gelehrt wird. So haben die Lehrerinnen, die säkulare Fächer wie z.B. Englisch, Mathematik und Biologie an der Schule unterrichten, ihre Ausbildung an den entsprechenden Fakultäten der aserbaidschanischen Hochschulen absolviert und sind selbst ohne eine theologische Ausbildung. Die Frage nach der Verwirklichung religiöser Pluralität lässt sich jedoch mit Blick auf die Auswertung der SchülerInnenaufsätze und vor dem Hintergrund der Resultate der Gruppendiskussionen nicht positiv beantworten. Obwohl aus den Aufsätzen hervorgeht, dass die SchülerInnen im Kontext der islamischen Bildung eine Haltung des Respekts und der Anerkennung gegenüber den sog. „Schriftbesitzern“, das heißt gegenüber Judentum und Christentum vermittelt bekommen, zeigen die Aufsätze gleichzeitig, dass der Islam als „die Letzte“ und „Vollendung“ aller Religionen und entsprechend einem monotheistischen Religionsverständnis als alleinige Deutungsmacht vermittelt wird. Gleichzeitig wird in den Aufsätzen deutlich, dass keine Anerkennung gegenüber den nicht-monotheistischen Religionen wie z.B. dem Hinduismus vermittelt wird; in mehreren SchülerInnenaufsätzen wird diesem sogar generell der Status einer Religion abgesprochen. In beiden „Gruppendiskussionen“175, die aufgrund der Thematik und des argumentativen Verlaufs einen Einblick in Bildungsinhalte geben, wird die Frage nach anderen Religionen in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wird in den Auswertungen der „Gruppendiskussionen“ deutlich, dass alle anderen Religionen, aber auch andere Islamkonzeptionen eine deutliche Abwertung erfah175 Siehe zur Definition von „Gruppendiskussion“ für die vorliegende Arbeit in Kapitel IV 1.4.

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ren. In der ersten „Gruppendiskussion“ wird auf die religiöse Praxis der muslimisch-aserbaidschanischen Religiosität Bezug genommen. Dabei wird die exponierte Stellung von „heiligen Personen“ wie z.B. Mir Mövsum Ağa als irrational erklärt und mit dem Verweis auf die einzig autoritativen Quellen Koran und Leben des Propheten Muhammad „widerlegt“. In der zweiten „Gruppendiskussion“ wird von Seiten der Lehrerin der göttliche Status von Jesus im Christentum und die exponierte Stellung der Imame im schiitischen Glaubensverständnis einer Infragestellung eines monotheistischen Gottesverständnisses gleichgestellt. Geht man davon aus, dass ein Verständnis von religiöser Pluralität die Anerkennung bzw. Toleranz von anderen religiösen Orientierungen beinhaltet, dann wird diesem Anspruch im Rahmen der islamischen Bildung an der İmam-Hatip-Schule nicht Rechnung getragen. Grundsätzlich drehen sich die Diskussionen um Fragen von religiösen Abweichungen von einem Islamkonzept, wie es an der İmam-Hatip-Schule Gültigkeit besitzt. Aufgrund der Ausbildung der LehrerInnen und aufgrund der deutlichen Parallelen der Argumente der SchülerInnen zu den Aussagen in den Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät in Baku wird angenommen, dass das Islamkonzept der İmam-Hatip-Schule das gleiche ist wie an der Islamisch-Theologischen Fakultät, es sich also ebenfalls um einen türkischen Islam theologischer Prägung handelt, der seine Schwerpunkte auf eine wissenschaftliche, rationale Ausrichtung setzt und sich selbst als „modern“ verortet. Da beide Institutionen in Kooperation mit dem türkischen Bildungsministerium bzw. dem diesem beigeordneten Amt für religiöse Angelegenheiten gegründet wurden, verwundert dies nicht besonders.

3 B e d e u t u n g u n d B e d e u t u n g sw an d e l vo n R e l i g i o n u n d R e l i g i o s i t ä t i n d e r I s l a m u n i ve r s i t ä t 3.1 Das Modell „Islamuniversität“ Im Zuge von Reformen des islamischen Bildungswesens wurden neben den traditionellen religiösen Lehr- und Ausbildungsstätten in den islamischen Ländern auch Hochschulen nach westlichem Vorbild errichtet. Die Entwicklung der verschiedenen Typen von Hochschulen führte dabei zu einer „Zweiteilung des Wissens“ (Hottinger, 2003). Die Hochschulen in der islamischen Welt lassen sich heute in zwei Arten klassifizieren, die „modernen“ Hochschulen, bei deren Gründung auf die Modelle der europäischen und amerikanischen Hochschulen zurückgegriffen wurde, sowie die Hochschulen, die auf die mittelalterlichen Hochschulen des Islams (Medresen) zurückgehen und die als theozentrisch zu charakterisieren sind. Theozentrisch bedeutet, dass die Vermittlung von religiösem Wissen im Mittelpunkt steht und andere Wissenschaften mit der Religion in Zusammenhang gebracht werden. Demzu181

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folge werden Fächer wie Mathematik, Astronomie, Philosophie, Geschichte, Literaturwissenschaft, Philologie und Logik, die heute in unseren Kulturkreisen als Teil der westlichen und weltlichen Wissenschaften etabliert sind, an den traditionellen Hochschulen in Verbindung mit der Religion im Sinne von Hilfswissenschaften gelehrt. „Astronomie konnte dazu dienen, die Gebetszeiten und die Festtage des religiösen Kalenders genau zu bestimmen. Die Grammatik und Philologie wurde entwickelt, um ein genaueres Verständnis des Koran zu ermöglichen. Algebra wurde damals erfunden, um die komplexen Erbteilungen durchführen zu können, die der Islam vorschreibt, und die Philosophie wurde zunächst, wie im Europa der gleichen Zeit, als ,Magd der Theologie‘, ancilla theologiae, aufgefasst.“ (Hottinger, 2003)

Auf dem Gebiet des Rechts, das in der europäischen Wissenschaftsentwicklung im Rahmen z.B. der Entwicklung des Römischen Rechts von der Theologie abgetrennt und als eine eigenständige Wissenschaft institutionalisiert wurde, fand in der islamischen Welt keine vergleichbare Entwicklung statt. Die fehlende innovative Kraft der theozentrischen Hochschulen durch eine starke Zentrierung auf den Islam, die mit einer weiteren Zurückdrängung der „Hilfswissenschaften“ einherging, führte dazu, dass Mitte des 19. Jahrhunderts „moderne“ Hochschulen nach westlichem Vorbild eingerichtet wurden. Das Islamverständnis der theozentrischen Hochschulen heute wird meist als „Reformislam“ bezeichnet und steht dabei für einen Islam, der sich gegen Formen des „Aberglaubens“ abgrenzt, zu denen auch Heiligen- und Gräberkult sowie „Wundertaten“ gerechnet werden. Es wird ein „reiner“ und „ursprünglicher“ Islam propagiert, wie er vermeintlich zur Zeit des Propheten bestand, und in diesem Kontext werden die Texte aus dem 9. und 10. Jahrhundert als die einzig gültigen anerkannt (Hottinger, 2003). Die Methoden an den theozentrischen islamischen Hochschulen spiegeln die traditionellen Haltungen der Institutionen wieder, an denen wenig Wert auf Innovationen gelegt wird. Immer noch dominiert die Methode des Auswendiglernens, also die Reproduktion von Wissen, das keiner Reflexion unterliegt und damit auch einfach kontrolliert werden kann. Für die Islamuniversität in Baku kann dies mit einigen Einschränkungen ebenso gelten. Zwar werden hier auch Fächer wie Englisch und Aserbaidschanisch sowie Persisch gelehrt, doch werden Fächer wie z.B. Astronomie und Geschichte im Sinne der beschriebenen „Hilfswissenschaften“ unterrichtet. Auch wird auf das Konzept eines „reinen“ und „ursprünglichen“ Islams zurückgegriffen, doch zeigen sich insbesondere hier Abwandlungen mit spezifischem Bezug auf die religiösen Gegebenheiten der aserbaidschanischen Gesellschaft. Dies wird im Folgenden unter anderem dargestellt werden.

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3.2 Die Gründungsgeschichte der Bakuer Islamuniversität Die Islamuniversität in Baku wird im Jahr 1989 als erste islamische Bildungseinrichtung von der Geistlichen Verwaltung der Muslime Transkaukasiens176 offiziell als Medrese etabliert (Əskərov, 2004: 10). Die Einrichtung wird nach dem Vorbild der Medrese in Buchara gegründet, allerdings wird das Curriculum der konfessionellen Situation in Aserbaidschan angepasst, d.h. es wird dschafaritisches und hanafitisches Recht unterrichtet. Im Jahre 1990 werden in der Islamuniversität 86 Studierende ausgebildet, die dort neben dem Fach Fiqh177 islamische Geschichte, den Koran und Arabisch studieren. Später werden zusätzlich zu den oben genannten Disziplinen noch TafsÍr (Interpretation des Korans) und Persisch in den Lehrplan übernommen. Im Januar 1991 wird die Medrese laut einer Anordnung der Geistlichen Verwaltung der Muslime Transkaukasiens in ein islamisches Institut umgewandelt und erhält den Status einer höheren Bildungseinrichtung. Gegen Ende des Jahres 1992 wird die Institution dann zur Islamuniversität ernannt und gleichzeitg verfügt, dass nach dem Besuch einer Medrese das Studium an der Islamuniversität aufgenommen werden kann. Die Studiendauer beträgt heute vier Jahre und wird nach einem fünften Jahr zur Vorbereitung auf die Examen mit einem Diplom abgeschlossen, das aber vom Bildungsministerium nicht als gleichwertig mit dem Diplom einer höheren Bildungseinrichtung anerkannt wird. Trotzdem genießen die AbsolventInnen innerhalb der staatlichen Strukturen die gleichen Rechte wie die Studierenden der offiziell anerkannten höheren Bildungseinrichtungen. Bis zum Jahr 2003 haben 700 Studierende das Studium an der Islamuniversität beendet. Informationen aus dem Jahr 2003 zufolge belaufen sich die Studiengebühren auf 500 Dollar pro Studierenden im Jahr. Die Universität bietet weiterhin die Möglichkeit, ein Jahr in einem arabischsprachigen Land wie Ägypten, Syrien oder im Irak zu studieren.

176 Siehe zur „Geistlichen Verwaltung der Muslime Transkaukasiens“ die Erläuterungen in Kapitel I 2.1.3. 177 Die eigentliche Bedeutung des Begriffs ÉarÍþa ist „Weg, Pfad“ und steht im Kontext der islamischen Religion für Gesetze, die das Zusammenleben der Muslime regeln durch 1) den Koran und 2) die ¼adÍÝ. Dementsprechend wird die Scharia als das Religionsgesetz verstanden und steht damit in engem Zusammenhang zu Fiqh, dem Gebiet der (menschlichen) rechtswissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem göttlichen Gesetz.

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Die Gebäude der Islamuniversität befinden sich auf dem Gelände von Aserbaidschans zentraler schiitischer Moschee, genannt Təzə Pir. Dort befindet sich gleichzeitig die zentrale Administration der Muslime des Kaukasus (Qafqazya Müsülmanlar İdarəsi). Demnach befindet sich die Universität an der zentralen Stelle schiitischer Religiosität in Aserbaidschan. Ziel der Gründung der Islamuniversität war, den „selbsternannten Mullas“ professionell ausgebildete Religionsgelehrte entgegenzusetzen und außerdem die Ausbildung von Studierenden im Ausland zu unterbinden. An der Islamuniversität werden heute neben den religiösen Fächern auch weltliche unterrichtet. Demzufolge findet je nach Gestaltung des Lehrplans und in Abhängigkeit von den zur Verfügung stehenden Lehrkräften zusätzlicher Unterricht in Psychologie, Aserbaidschanisch, Persisch und Englisch statt. Inzwischen gibt es neben der Institution in Baku auch fünf weitere Einrichtungen in Sumgait, Mingəcəvir, Zakatalı, Lenkoran und in Derbent (Dagestan)178 (Əskərov, 2004: 10). Im Gegensatz zu der Institution in Baku werden diese Einrichtungen von Əskərov (Əskərov, 2004: 9f.) nicht als Universitäten, sondern als Medresen bezeichnet.

3.3 Die DozentInnen Der Direktor der Universität, Haci Sabir Həsənli, ist eine bekannte religiöse Autorität in Aserbaidschan. Innerhalb der Bevölkerung wird er als eine „herausragende“ und „vorbildhafte“ Persönlichkeit und als Religionsgelehrter verehrt. Haci Sabir studierte an der Abteilung für Arabistik der orientalistischen Fakultät in Baku und erhielt seine theologische Ausbildung in der Medrese in Buchara, Usbekistan. Insgesamt arbeiten an der Islamuniversität ca. 20 DozentInnen. Ihre Ausbildung und teilweise auch ihre berufliche Tätigkeit sind heterogen. Während des Forschungsaufenthaltes konnte festgestellt werden, dass ein Teil der DozentInnen zur gleichen Zeit zum Lehrkörper der Akademie der Wissenschaften gehört, weitere Dozenten sind Absolventen der Medresen von Buchara und Taschkent oder ehemalige Studierende der Islamuniversität. Zwischenzeitlich unterrichten auch DozentInnen aus dem Ausland an der Universität, so erteilte zur Zeit des eigenen Aufenthaltes ein Lehrer aus Jordanien Unterricht in moderner arabischer Sprache.

178 Für die Einrichtung in Zakatalı gibt Əskərov dabei eine Anzahl von 100 Studierenden an, für die Einrichtung in Derbent (Dagestan) eine Anzahl von 10 und für die Medrese in Lenkoran eine Zahl von 20 Studierenden (Əskərov, 2004: 10). Zu den anderen Institutionen macht er keine Angaben.

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3.4 Die Studierenden Zum Zeitpunkt meines Forschungsaufenthaltes studierten an der Einrichtung ca. 150 Studierende, von denen sich die Zahl der weiblichen Studierenden auf zwölf (2002) bzw. im folgenden Jahr (2003) auf acht belief. Die Studierenden waren zwischen 17 und 30 Jahre alt, wobei sich die Mehrzahl von ihnen in einem Alter um die 20 Jahre befand. Insgesamt wurden mit 18 Studierenden Interviews geführt, dabei ein Einzelinterview und vier Gruppeninterviews. Von insgesamt ca. 100 Studierenden wurden fünf weibliche und 13 männliche Personen befragt.

3.5 Das Curriculum Die Studierenden werden in den Sprachen Arabisch, Persisch, Englisch und Aserbaidschanisch unterrichtet, außerdem in Qiraət (Lesen des Korans), Fiqh (islamisches Recht), İslam tarixi (islamische Geschichte), İslam əxlaqı (islamischer Moralerziehung), Məntiq (Logik), Nəhv (Grammatik des Korans), Təfsir (Interpretation des Korans), Astronomi (Astronomie) und Hədis (Traditionen des Propheten). Der Unterricht findet dabei für weibliche und männliche Studierende in getrennten Räumen statt.

3.6 Auswertung der Interviews mit den DozentInnen Im Folgenden soll die Auswertung und Interpretation von drei Interviews, die mit DozentInnen der Islamuniversität durchgeführt wurden, vorgestellt werden. Ergänzt werden die Interpretationen durch Daten, die in Gesprächen und in Form von Beobachtungen sowohl im Unterricht als auch im Lehrerzimmer erhoben und in Feldforschungstagebüchern schriftlich fixiert wurden. Die drei Interviews wurden mit einem Arabischdozenten aus Jordanien, einem Korangrammatikdozenten aserbaidschanischer Herkunft und einer ebenfalls aserbaidschanischen Arabischdozentin geführt.

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3.6.1 Der Arabischlehrer Abdullah Bəy179 aus dem Libanon: „Islam muss ein Synonym für Freiheit sein“ a) Biografisches Im Folgenden soll die Auswertung und Interpretation eines Interviews mit einem Arabischdozenten der Islamuniversität vorgestellt werden, der in Jordanien geboren und aufgewachsen ist und seit fünf Jahren an der Islamuniversität in Baku unterrichtet. Er war der einzige unter den DozentInnen, der meiner Bitte nach einem Interview unverzüglich und ohne Bedenken nachkam. Der Arabischdozent Abdullah Bəy ist zum Zeitpunkt des Interviews 29 Jahre alt. Er ist mit einer Aserbaidschanerin verheiratet und hat zwei Kinder. In Jordanien hat er bis zu seinem Abschluss 1996 an der IslamischTheologischen Fakultät studiert. Auf meine Frage nach der Motivation für sein Theologiestudium gibt er zur Antwort, dass er sich dafür interessiert habe und außerdem festgestellt habe, dass die Leute, was ihr „religiöses Gedankengut angeht, ein Problem hätten“ (Interview_7, 2002: Zeile 10). Im Zusammenhang mit dieser Erkenntnis habe er sich auch entschieden, im Anschluss an sein Theologiestudium das Journalistikstudium aufzunehmen, weil er glaube, dass der Beruf des Journalisten es ihm ermöglichen werde, nach der „Wahrheit zu suchen“. Als Dozent dagegen verlöre man Zeit und könne zu wenig bewirken (Interview_7, 2002: Zeile 191). Zum Zeitpunkt des Interviews studiert er parallel zu seiner Arbeit an der Islamuniversität Journalistik. Folgender Satz aus dem Interview mit ihm: „Glauben ist sinnvoll, aber erst nachdem man nachgedacht hat“ (Interview_7, 2002: Zeile 138) nimmt einen zentralen Stellenwert ein. Er charakterisiert sowohl das Islam- bzw. Religionsverständnis des Dozenten als auch seine Vorstellung von islamischer Erziehung und Bildung sowie der zu vermittelnden Methode. b) Erziehungs- und Bildungsziele Ausgangspunkt des Denkens von Abdullah Bəy ist seine Überzeugung, dass es sowohl im religiösen Denken der Menschen (Interview_7, 2002: Zeile 10) als auch im religiösen Bildungssystem ein Problem gibt (Interview_7, 2002: Zeile 17). Sein Erziehungs- und Bildungsziel drückt sich dabei auch in den Worten „Suche ist notwendig“180 (Interview_7, 2002: Zeile 140) aus, es wird dabei im Interview und auch in der Unterrichtsbeobachtung deutlich,

179 In Aserbaidschan steht „Bəy“ für die Anrede „Herr“ im Deutschen. Im Gegensatz zur deutschen Anrede wird diese nicht im Zusammenhang mit dem Nachnamen, sondern mit dem Vornamen gebraucht. Außerdem wird die Anrede dem Vornamen nachgestellt. 180 Im Originalzitat heißt es: „Axtarmaq lazım“.

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dass der Dozent damit die Notwendigkeit der aktiven Auseinandersetzung mit religiösen Fragen meint. Dieses Suchen muss, seinen Worten zufolge, zum Ziel haben, die „Wahrheit zu finden“. Was er unter Wahrheit versteht, lässt sich dabei aus seiner Antwort auf die Frage entnehmen, was in seinen Augen das Ziel der Bildung sei: Bildung solle zur Entwicklung der Fähigkeit führen, selbst zu entscheiden, was richtig ist (Forschungstagebuch_Teil1, 2002: Seite 9). Es ist anzunehmen, dass im Kontext des Bildungsziels der autonomen Entscheidung die „Suche nach Wahrheit“ als die Suche nach der für die individuelle Person gültigen Weltanschauung verstanden werden kann. Als weiteres Bildungsziel gibt der Dozent sein Bestreben an, Reformen im Denken der Studierenden der Islamuniversität durchzusetzen, da es seiner Ansicht nach innerhalb der Institution weder bei den Studierenden noch bei den DozentInnen „Modernität“181 gebe (Interview_7, 2002: Zeile 18). Dabei läge der Anteil der „modernen Gedanken“ bei DozentInnen und Studierenden bei ca. ein bis zwei Prozent, der Anteil der konservativen Gedanken jedoch bei 95 Prozent (Interview_7, 2002: Zeile 90). Seine Erziehungsziele macht der Dozent auch in der Beantwortung des Fragebogens182 nochmals explizit: Er möchte die Studierenden „zu selbständigem Denken ohne äußere Einflüsse“ und zum „Ergreifen von Eigeninitiative beim Erarbeiten von Fragestellungen und Problemen bringen“ (Fragebogen_1, 2002: Frage 12 und 13). Er will den Studierenden „Freiheit und Unabhängigkeit“ vermitteln und Freiheit und Unabhängigkeit sind auch die beiden Werte, die er mit dem Islam als Religion verbindet (Fragebogen_1, 2002: Frage 14).

c) Unterrichtsmethoden Sein Ziel, „Reformen im Denken“ hin zu mehr „Selbstständigkeit“ vorzunehmen, setzt der Dozent in Form einer im Unterschied zu den anderen DozentInnen der Islamuniversität spezifischen Unterrichtsgestaltung um. Neben der lehrplanmäßig vorgesehenen Vermittlung der modernen arabischen Sprache inszeniert der Dozent Diskussionen zu unterschiedlichen Thematiken. Das Ergebnis sind kontroverse Diskussionen im Unterricht zu Fragestellungen wie z.B.: „Darf eine Frau aus der Perspektive des Islams arbeiten oder nicht?“. Dabei hat sich der Dozent im Unterricht innerhalb der „Diskussionsrunden“ mit einem zum Teil erheblichen Widerstand von Seiten der Studierenden183 auseinanderzusetzen, wenn er eine Aussage wie „Es gibt keinen

181 Im Originalzitat heißt es: „Müasırlık yoxdur“. 182 Siehe zum methodischen Einsatz eines Fragebogens in Kapitel III 1.1. 183 Hierbei beziehe ich mich explizit auf den Unterricht bei den männlichen Studierenden.

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Grund aus Sicht des Islams, warum eine Frau nicht arbeiten gehen darf“ tätigt. So kommt es im Anschluss an diese Aussage zu einer fast körperlichen, aggressiven Reaktion eines Studierenden gegenüber dem Dozenten. Dieser springt von seinem Stuhl auf und schreit in Richtung des Dozenten los, dass dies nicht stimme. Eine geregelte Diskussionsabfolge im Sinne eines Austauschs von Argumenten ist auch in anderen Diskussionskontexten nicht möglich, meistens endet das Gespräch mit einem „vom Platz aufspringen und Schreien“ der Studierenden, die der Dozent dann erst wieder beruhigen muss. Im Interview auf diese Szenen angesprochen, bestätigt der Dozent, dass einige Studierende richtig ärgerlich werden würden, wenn er ihnen abverlange „eigenständig zu denken“ (Interview_7, 2002: Zeile 116). Auf der anderen Seite, fügt der Dozent hinzu, sei das gleichzeitig seine Methode, da er sie nur so dazu bringen könne, sich Gedanken zu machen (Interview_7, 2002: Zeile 121). Im Unterschied zu den Unterrichtsstunden bei den männlichen Studierenden kommen bei den weiblichen Studierenden überhaupt keine Diskussionen zustande; aufgefordert, ihre Meinung zu sagen, bleiben sie stumm, mühsam muss der Lehrer sie einzeln und wiederholt auffordern sich zu äußern. Um das Außergewöhnliche an den Unterrichtsmethoden des Dozenten aus Jordanien zu verstehen, ist es notwendig, den üblichen Ablauf einer Unterrichtsstunde der Islamuniversität zu beschreiben. Unterricht an der Islamuniversität ist nach einem uniformen Prinzip gestaltet und weist starke Parallelen zu Beschreibungen zum didaktischen Vorgehen in den sowjetischen Schulen auf. Grant beschreibt die sowjetischen Unterrichtsmethoden dabei (in der Schule!) mit folgenden Worten: „Die typische Unterrichtsstunde ist eine Art Einbahnstrasse: was der Lehrer sagt, gilt: die Schüler haben es zu schlucken und zu behalten. Die Unterrichtstechnik ähnelt also sehr stark dem Vorlesungsschema. Gelegentliche Fragestunden in der Klasse sollen gewährleisten, daß der vorgetragene Stoff auch verstanden worden ist. Diese Methodik lässt wenig Raum für spielerisches oder aktives Lernen – die Rolle der Kinder ist meistens passiv. In der Regel beginnt der Lehrer seine Stunde mit der Überprüfung der Hausaufgaben, die weitgehend darin besteht, daß die Schüler auswendig gelernte Dinge im Chor aufsagen oder einzeln die Fragen des Lehrers vorne an der Tafel beantworten [...]. Der zweite Teil der Stunde ist dem neuen Stoff gewidmet [...] Jede Stunde soll auf diese Weise eine genau umschriebene Einheit darstellen: Wiederholung und Prüfung des alten Stoffes, Einführung und Erklärung des neuen, vertiefende Fragen und Hausaufgaben [...] eine derartige Stundeneinteilung, [...] lässt wenig Raum für Spontaneität, aktive Mitarbeit oder Diskussion.“ (Grant, 1966: 122-124)

Obwohl sich diese Darstellungen des Unterrichtsgeschehens auf die Schule beziehen, sind sie mit meinen Beobachtungen des Unterrichtes an mehreren 188

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universitären Einrichtungen wie der Islamuniversität, aber auch des Unterrichts an der Fakultät für Geschichte der Bakuer Staatsuniversität identisch.184 So nimmt den aktiven Teil im Unterricht an der Islamuniversität üblicherweise die DozentIn ein, der den größten Teil der Stunde darauf verwendet, über ein Thema zu dozieren. Im Anschluss daran wird den Studierenden die Zusammenfassung des Themas zum Mitschreiben diktiert. Gelegentlich stellt die DozentIn Fragen, entweder um sicher zu gehen, dass der Stoff verstanden wurde, oder zum Abfragen desselben. Zu Beginn jeder Unterrichtsstunde an der Islamuniversität muss ein Studierender vor die Klasse treten und die diktierte Zusammenfassung auswendig vortragen. Vor diesem Hintergrund kann der Arabischlehrer mit seiner methodischen Vorgehensweise als Ausnahme angesehen werden, da er seine Studierenden gemäß seiner Erziehungs- und Bildungsziele zu einer aktiven Auseinandersetzung mit Fragestellungen auffordert. An welche Vorbilder er seine methodische Unterrichtsgestaltung anlehnt, kann im Anschluss an seine Aussagen im Interview nur vermutet werden: Im Kontext seiner eigenen Biografie berichtet der Dozent, dass er sich für das Theologiestudium u.a. interessiert habe, weil er findet, dass die „Menschen Probleme in ihrem religiösen Denken“ haben. Es ist demzufolge möglich, dass ihn die Motivation, etwas an dieser subjektiv wahrgenommenen Situation zu verändern, zu der unterschiedlichen methodischen Herangehensweise an die Auseinandersetzung mit religiösen Fragestellungen geführt hat.

d) Bedeutung von Religion und Religiosität Religiosität definiert Abdullah Bəy nicht im Zusammenhang mit der Einhaltung der Glaubenspraxis im Sinne des þibÁdÁt, sondern als innere Haltung, in der ein Bemühen um gutes und moralisches Handeln zum Ausdruck kommt (Interview_7, 2002: Zeile 48). Dabei sei die Entscheidung für die innere Haltung des Menschen als Zeichen seiner Religiosität obligatorisch, nicht jedoch das Einhalten der Glaubenspraxis, dieses sei Teil einer freien Entscheidung (Interview_7, 2002: 52). Wie unter dem Punkt Erziehungs- und Bildungsziele schon erwähnt, sind „Freiheit und Unabhängigkeit“ die beiden Werte, die er mit dem Islam als Religion verbindet (Fragebogen_1, 2002: Frage 14).

184 Auch wenn das Memorieren von Unterrichtsinhalten Bestandteil einer typisch islamischen Ausbildung in Moscheeschulen und auch Medresen ist (Kapitel IV 3.1, „Das Modell Islamuniversität“) sehe ich die didaktische Vorgehensweise an der Islamuniversität doch als das Erbe des sowjetischen Ausbildungssystems an, da an unterschiedlichen säkularen universitären Institutionen in Baku in dieser Form unterrichtet und gelernt wird.

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e) Fazit: Autonomie als Bildungs- und Erziehungsziel Der Arabischdozent aus Jordanien verfolgt sowohl seinen eigenen Worten als auch den Beobachtungen im Unterricht zufolge das Erziehungs- und Bildungsziel der Autonomie. Nicht nur im Vergleich zu den anderen DozentInnen und den an der Islamuniversität üblichen Unterrichtsmethoden, sondern auch im Hinblick auf die Studierenden verfolgt er damit ein meiner Meinung nach in Aserbaidschan unübliches Bildungsziel. Dass Autonomie oder Selbstbestimmung als Wert an sich nicht selbstverständlich innerhalb der aserbaidschanischen Gesellschaft ist, sagt auch der Menschenrechtsaktivist und Sozialwissenschaftler Hacızadə. Im Zusammenhang mit der sich durch Missionare unterschiedlicher Glaubensrichtungen entwickelnden religiösen Vielfalt in Aserbaidschan schreibt er zum Thema „Selbstbestimmung“, dass weder die Gesellschaft noch die Regierung Selbstbestimmung als höchstes Gut verinnerlicht habe und es generell Schwierigkeiten gebe, plurale Lebensformen zu tolerieren (Hacızadə, 1998). Weiter spricht er in diesem Kontext von den Schwierigkeiten in der Gesellschaft, vor allem auch des Staates an sich, „the right of the man to non-traditional life style or faith“ als grundlegenden Wert in das Denken zu integrieren (Hacızadə, 1998). Von Interesse sind diese Sätze von Hacızadeh an dieser Stelle, weil gerade das Beispiel des jordanischen Arabischlehrers in der Interaktion mit seinen Studierenden im Unterricht zeigt, wie schwer es für diese ist, dem Anspruch der selbstbestimmten Auseinandersetzung mit einer Thematik zu genügen. Dabei machen die Reaktionen sowohl seiner KollegInnen als auch der Studierenden auf die Vorgehensweise des Dozenten diesen beinahe zu einem „Bildungsabenteurer“. Muss er sich doch mit seinem Streben nach der Vermittlung von „autonomem Denken“ als Bildungsziel mit erheblichem Widerstand auseinandersetzen. Die Resignation des Dozenten, die sich darin äußert, dass er sich mehr Möglichkeiten, etwas zu verändern, von der Arbeit als Journalist verspricht, ist auch vor dem Hintergrund seiner Erfahrungen in der Islamuniversität zu verstehen. Obwohl er im Gegensatz zu den türkischen Professoren an der Islamisch-Theologischen Fakultät keinerlei Ressentiments gegen die Studierenden und KollegInnen hegt und sich weder im Interview noch im Unterricht mit einem Überlegenheitsanspruch präsentiert, kann er doch mit seinem Gedankengut nur schwer überzeugen. Die Haltung der anderen DozentInnen mit Hinblick auf die Frage nach Autonomie wird dabei von dem jordanischen Arabischdozenten mit folgenden Worten kommentiert: „Die anderen Dozenten sagen, Ich denke so, also denk du [zu den Studierenden, Anm. C. H.-K.] auch so‘.“ (Interview_7, 2002: Zeile 123) Dazu kommt der Widerstand der Studierenden gegen seine „Reformen“, die ja nicht nur einen anderen Unterrichtsstil an der Islamuniversität gewöhnt sind, sondern nach den Worten des Dozenten vorher auch schon in Medresen 190

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unterrichtet worden seien; dieser Tatbestand trägt nach Meinung des Dozenten ebenfalls dazu bei, dass er im Grunde nichts mehr ändern könne. Nach seinen Worten ist die religiöse Erziehung und Sozialisation der Studierenden schon vor der Aufnahme des Studiums abgeschlossen worden, so dass sie auch keine Bereitschaft hätten, etwas „Neues“ zu lernen (Interview_7, 2002: Zeile: 75, 86).

3.6.2 Der Korangrammatik-Dozent İbrahim Bəy: „Wir wollen die Einheit der Gesellschaft“ a) Biografisches Der Korangrammatikdozent İbrahim Bəy ist 40 Jahre alt, verheiratet und hat drei Kinder. Seine Ausbildung hat er an der Islamuniversität zu einem Zeitpunkt absolviert, als diese noch eine Medrese war. Ursprünglich sei es sein Ziel gewesen, in Taschkent oder Buchara zu studieren, aber wie er im Interview erzählt, hätte der dortige Mufti namens Scheich Şəmsəddin Babaxan ihn nicht als Schüler annehmen können. Gründe dafür nennt er allerdings keine. Im Weiteren habe er seine Ausbildung im Jahr 1989 an der heutigen Islamuniversität und damals neu eröffneten Medrese begonnen und sei dann für einen geplanten Aufenthalt von zwei Jahren ins Ausland geschickt worden, von dem er aber von der Regierung frühzeitig wieder zurückgerufen wurde. Seitdem arbeite er hier an der Institution. Die Motivation, sich mit dem Islam auseinanderzusetzen und sich für den Beruf des Religionsgelehrten zu entscheiden, habe er schon von Kindheit an gehabt. In diesem Kontext fügt er gleichsam als zusätzliche Erklärung hinzu, dass sowohl „sein Großvater als auch seine Großmutter gebetet haben“ (Interview_16, 2003: Zeile 24). Des Weiteren rühre der Berufswunsch sowohl von der „Reinheit“ (paklığını) des Islams (Interview_16, 2003. Zeile 25), die er schon als Kind erkannt habe, und von den „moralischen und sittlichen Fähigkeiten“ seiner Großeltern185 bzw. von deren „sittlicher und moralischer Vorbildfunktion“ her. b) Erziehungs- und Bildungsziele Auf die Frage, was seiner Ansicht nach die pädagogischen Grundlagen des Islam seien, antwortet er, dass es nicht sein Wunsch sei, dass die Muslime hinter der „Zivilisation“ zurückblieben. Weiterhin sei es nicht ihr [der Institu-

185 Im Originalzitat heißt es: „[...] anaatamın ədəbini, əqlaxını gördüm və həvəs yarandı“ (Interview_16, 2003: Zeile 26).

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tion, Anm. C. H.-K.]186 Ziel, dass sich der Islam mit den Angelegenheiten der Politik vermische. Ihr pädagogisches Ziel sei ein ganz anderes, und zwar „eine gesunde Gesellschaft zu gestalten“ (Interview_16, 2003: Zeile 30). Dabei solle zwischen den Studierenden eine „gute Beziehung“ herrschen. Sie [die Institution, Anm. C. H.-K.] würden die „Einheit der Gesellschaft“ anstreben.187 Er fügt hinzu, dass die Verbreitung des Islams mit dem Ziel erfolgen müsse, in der Gesellschaft „Einheit und Harmonie“ herzustellen. Dabei könne nur, wenn die Verbreitung des Islams „rein“ („saf“) (Interview_16, 2003: Zeile 32) sei, auch eine „reine“ (Interview_16, 2003: Zeile 33) Gesellschaft hervorgebracht werden.

c) Unterrichtsmethoden Als Antwort auf die Frage, wie seine methodische Vorgehensweise im Unterricht sei, antwortet er, dass sie [die Institution, Anm. C. H.-K.] von den „zivilisierten“ Methoden, die es auf dieser Welt gebe, Gebrauch machen würde, und zwar von „Moral und Sitte“, die die „Reinheit“ des Menschen fördern würden (Interview_16, 2003: Zeile 81). d) Bedeutung von Religion und Religiosität Gefragt, welche Bedeutung für ihn Religiosität habe, sagt İbrahim Bəy, dass die Bedeutung des Wortes Religiosität (dindarlıq) sei, dass man die äußeren und inneren Taten kontrolliere“ (Interview_16, 2003: Zeile 58). Dabei bedeute „religiös sein“ (dindar olamaq) (Interview_16, 2003: Zeile 60) nicht nur beten und fasten, sondern „religiös sein“ bedeute, „Gott zu kennen“ und sich ihm „zu unterwerfen“ („ibadət etmək“)188. Weiterhin bedeute „religiös sein“, die Gebote Gottes zu befolgen („Allahın qoyduğu əmrləri yərinə yetirmək“) und in der Gesellschaft „angemessen“ (Interview_16, 2003: Zeile 61) zu leben. Obwohl es jedermanns private Sache sei, ob er die Gebote (ibadət) befolge, verneint er meine Frage, ob auch ein Atheist ein „guter Mensch“ sein könne (Interview_16, 2003: Zeile 54). Auf die Frage, welche Rolle die Religion in Aserbaidschan spielen soll, antwortet er:

186 Im Originalzitat heißt es: „[...] bizim məqsədimiz“ (Interview_16, 2003: Zeile 29). Der Plural lässt vermuten, dass sich der Dozent auf die Institution der Islamuniversität bezieht und seine Erziehungsziele im Einklang mit den Zielen der ganzen Einrichtung definiert. 187 Im Originalzitat heißt es: „Biz cəmiyyətin vəhdətə olmasını istəyirik“ (Interview_16, 2003: Zeile 32). 188 Im Originalzitat heißt es: „Dindar olmaq Allahı tanımaq və ona ibadət etmək“ (Interview_16, 2003: Zeile 60).

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EMPIRISCHER TEIL

„Ich will den Islam in Aserbaidschan auf einem fortschrittlichen Niveau sehen. Ich will den Islam in Aserbaidschan in ehrlicher und freier Form sehen. Damit die Menschen diesen freien Islam leben können, müssen sie gebildet sein. Gebildete Muslime verbleiben gegenüber den weltlichen Mächten niemals schwach [...] Die Menschen kennen nicht die Bedeutung der Religion. Ich möchte, dass die Menschen die Bedeutung der Religion verstehen und den Islam annehmen.“ (Interview_16, 2003: Zeile 35-41)

e) Haltung zu anderen Religionen Seine Haltung anderen Religionen gegenüber sei von Respekt gekennzeichnet, da auch der Prophet gegenüber den anderen Religionen keine „schlechte Beziehung“ gehabt habe. Allerdings würden sie die „nicht göttlichen“ Religionen nicht anerkennen (Interview_16, 2003: Zeile 77), damit sind gemäß eines „orthodoxen“ Islamverständnisses die nicht als monotheistisch angesehen Religionen gemeint. Im Islam sehe er die „Vollendung“ aller Religionen (Interview_16, 2003: Zeile 71). f) Fazit: Einheit („vəhdət“) in der Gesellschaft als Bildungs- und Erziehungsziel Meinen Interpretationen zufolge ist die aktuelle Situation mit Bezug auf die ausländischen islamischen Missionare und die damit in Zusammenhang stehende Frage nach der Einheit der Gesellschaft im Hinblick auf ein friedliches Zusammenleben von Schiiten und Sunniten in Aserbaidschan für İbrahim Bəy vorrangig. Als sein Erziehungs- und Bildungsziel gibt er dementsprechend die „Einheit“ (vəhdət) in der aserbaidschanischen Gesellschaft an. Bestätigt wird diese Annahme auch durch die Antwort des Dozenten auf die Frage nach den im Unterricht verwendeten Büchern. Auf diese antwortet er: „Wir verwenden Bücher, die in Zusammenhang mit dem Koran zu sehen sind [...] Wir verwenden Bücher, die mit den islamischen Moralvorstellungen im Einklang sind. Zwar verwenden wir Möbel (mebellerindən istifadə edirik) aus Ägypten, der Türkei und dem Iran, aber wir bemühen uns im Zusammenhang mit dem Thema der religiösen Orientierungen, keine Spaltung hervorzurufen. Es gibt Schiiten und Sunniten in Aserbaidschan. Zwischen ihnen darf es keine Unruhe geben. Sie sollen zusammen lernen und nicht getrennt werden. Wir unterrichten hier schiitisches und sunnitisches Fiqh.“ (Interview_16, 2003: 89-94)

In dieser Antwort formuliert der Dozent explizit, was implizit im Kontext seiner Antworten z.B. auf die Frage nach den pädagogischen Grundlagen des Is-

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lams mitschwingt: nämlich dass der Einfluss aus dem Ausland, sprich der Türkei, dem Iran und hier auch Ägypten, für die Einheit der aserbaidschanischen Gesellschaft als Gefahr angesehen wird189 und dem Einfluss von ausländischen islamischen Bildungskonzeptionen ein (aserbaidschanisches) Islamkonzept entgegengehalten werden soll, das eine Spaltung von Schiiten und Sunniten verhindert. Dementsprechend wird sowohl sunnitisches als schiitisches Fiqh unterrichtet, um beide religiösen Orientierungen gleichberechtigt in das Curriculum zu integrieren. In diesem Sinne schreibt der Dozent dem Islam bzw. einer islamischen Bildung die Fähigkeit zu, ein friedliches gesellschaftliches Zusammenleben zu ermöglichen. Grundbedingung ist dabei ein Islamkonzept, das mit den Worten des Dozenten als „rein“ (saf), „ehrlich“ (həqiqi) und „frei“ (azad) zu beschreiben ist sowie durch die Attribute „gebildet“ (savad) und „fortschrittlich“ (inkişaf edən) gekennzeichnet ist. Der Dozent hat dabei die Vision einer idealen aserbaidschanischen Gesellschaft vor Augen, wenn er sagt: „[...] in Zukunft sollen reine (saf) und saubere (təmiz) Menschen heranwachsen. Sie sollen in der Gesellschaft keinen Krieg hervorrufen, es soll keine verlogenen Gedanken in der Politik geben, sie sollen ein gesundes Leben führen. Das ist für uns [die Institution, Anm. C. H.-K.] das Wichtigste. Sie sollen das Erwünschte (halallığa) machen und von dem Unerwünschten (haramdan), den Sünden, Abstand nehmen. Das entspricht dem Grundgedanken des Islams.“ (Interview_16, 2003: Zeile 84-87)

Ohne dass der Dozent dabei näher auf eine Abgrenzung zu „unehrlichen“ oder „unfreien“ etc. Formen eines Islam eingeht bzw. welches oder wessen Islamkonzept er damit meint, ist im Kontext seiner Antworten anzunehmen, dass er sich sowohl gegenüber nicht-aserbaidschanischen, ausländischen Konzeptionen des Islams abgrenzen will, als auch gegenüber Islamkonzeptionen von Seiten der aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung, die mit dem Islam die Figur des Mulla und in diesem Zusammenhang „Ungebildetheit“ und „Unehrlichkeit“ mit der Religion assoziiert190. Darauf wird auch im folgenden Absatz zur aserbaidschanischen Arabischdozentin Saadət nochmals eingegangen. Des Weiteren distanziert sich İbrahim Bəy auch von Vorstellungen von einem Islam, der mit „Terror“ in Zusammenhang gebracht wird. Dies wird deutlich, wenn er im Interview sagt, dass er bemerken wolle, dass der Islam

189 Damit sind an dieser Stelle die Islamuniversität und die dort tätigen aserbaidschanischen DozentInnen gemeint. 190 Siehe zur Bewertung der Figur des Mulla auch in Fußnote 149.

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heute mit Terror in Verbindung gebracht wird und er an dieser Stelle festhalten wolle, dass Religion an sich und damit auch der Islam nichts mit „Töten“ und „Terror“ zu tun habe (Interview_16, 2003: Zeile 167-169).

3.6.3 Die Arabischlehrerin Saadət Xanım: „Du kannst die Menschen mit dem Instrument der Religion beeinflussen“ a) Biografisches Saadət Xanım191 arbeitet an der Islamuniversität als Dozentin für Arabisch. Sie ist zum Zeitpunkt des Interviews 33 Jahre alt, nicht verheiratet und hat keine Kinder. Als Motivation für die Wahl ihres Berufes gibt sie die guten Erfahrungen an, die sie selbst gemacht habe: Elf Jahre habe sie kostenlosen Arabischunterricht von einer Lehrerin erhalten, die ihr in jeder Hinsicht „die Welt durch das Wissen“ nahe gebracht habe (Interview_17, 2003: Zeile 40). Gleichzeitig habe ihr diese Lehrerin auch einen „Auftrag“ mitgegeben; dieser lautete: „Eine Unterrichtseinheit dauert eine Stunde und 20 Minuten. In dieser Zeit dienst du ihnen [den Studierenden, Anm. C. H.-K.].“ Das seien die Maßstäbe, nach denen sie als Arabischdozentin heute ihr eigenes Dozentinnendasein definiere, sie erfülle einen „Dienst“ (xidmət) (Interview_17, 2003: Zeile 45) und begleiche damit eine „Schuld“ gegenüber Gott (Interview_17, 2003: Zeile 52). b) Erziehungs- und Bildungsziele Auch im Hinblick auf ihr Verhältnis zu den Studierenden hat ihre ehemalige Lehrerin Saadet Xanım geprägt: Jede SchülerIn sei wie ein „eigenes Kind“ zu lieben, habe ihr ihre Lehrerin gesagt. Dementsprechend antwortet mir Saadet Xanım gleich zu Beginn des Interviews auf die Frage, was das Ziel ihrer Unterrichtsstunden sei: „Ich liebe meine Arbeit und ich liebe meine Studierenden. Meiner Meinung nach ist die Rolle des Lehrers gegenüber den Studierenden der Rolle der Eltern vergleichbar.“192 (Interview_17, 2003: Zeile 17) Diese Äußerung ist zentral sowohl für die Motivation der Dozentin zu unterrichten, als auch für ihre methodische Vorgehensweise. Die Dozentin sieht sich selbst in der Elternrolle, mit ihren eigenen Worten beschreibt sie die Be191 In Aserbaidschan steht Xanım für die Anrede „Frau“ im Deutschen. Im Gegensatz zur deutschen Anrede wird diese nicht im Zusammenhang mit dem Nachnamen, sondern mit dem Vornamen gebraucht. Außerdem wird die Anrede dem Vornamen nachgestellt. 192 Im Originalzitat heißt es: „Mənə görə müəllim tələbələrin validəynidir“ (Interview_17, 2003: Zeile 17-18).

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ziehung zwischen der DozentIn und den Studierenden an anderer Stelle explizit als eine „Eltern-Kind-Beziehung“ (validəyn-uşaq-münasibəti), dabei müsse „man sich als Dozent auch für die Schwierigkeiten des Studierenden interessieren“ (Interview_17, 2003: Zeile 20). Als Erziehungsziel gibt die Dozentin weiterhin an, die Studierenden zu „fähigen“ Menschen erziehen zu wollen, die ihrer „Pflichten“ als Gesellschaftsmitglieder gerecht werden und sich der „Pflichtschuldigkeit“ Gott gegenüber bewusst würden (Interview_17, 2003: Zeile 16). Ihre „Strategie“, die Studierenden nach diesen Vorstellungen zu bilden und zu erziehen, ist dabei der Islam. Dies wird vor allem auch in dem in der Überschrift zitierten Satz: „Du kannst die Menschen mit dem Instrument der Religion beeinflussen“ deutlich (Interview_17, 2003: Zeile 73-74). Dabei sind es nicht unbedingt religiöse Ziele oder die Vermittlung der arabischen Sprache, die ihr mit Blick auf eine Bildung wichtig sind. Auf die Frage, welche pädagogischen Bildungsziele sie als wichtig erachtet, nennt sie an erster Stelle die „moralische Formung“ der Studierenden und im Anschluss daran die Vermittlung einer „klassischen Bildung“ durch Musik, Ausstellungen und Kino.

c) Unterrichtsmethoden Auch im Kontext der Frage nach ihren Methoden kommt die Dozentin auf die Beziehung zwischen DozentInnen und Studierenden zu sprechen. Sie fügt ihren vorherigen Aussagen hinzu, dass für sie der wesentliche Bestandteil der Arbeit die „Liebe“ der DozentIn gegenüber den Studierenden ist, die sie wiederum als vergleichbar mit einer „Liebe zu einem Kind“ („övlad məhəbbəti“) beschreibt. Des Weiteren beschreibt die Dozentin ihr Unterrichtsvorgehen folgendermaßen: Sie würde mit den Studierenden 20 Minuten Arabisch machen und ihnen dann ein Hadith erzählen. Grund dieses Vorgehens ist die Annahme, dass der Mensch – so ihre Worte – sich 20 Minuten lang konzentrieren könne, dann aber seine Aufnahmekapazität erschöpft sei (Interview_17, 2003: Zeile 34). d) Bedeutung von Religion und Religiosität Dem Islam räumt die Dozentin eine übergeordnete Stellung ein: Sowohl die eigene Arbeit als Dozent als auch die Bildungsziele werden mit einem Bezug auf den Islam definiert: „Der Islam formt sowohl den Pädagogen als auch die Gedanken der Menschen. Als Gott zugetaner Mensch sollst du deine Gedanken rein halten und mit Hilfe dieser Unterrichtsstunden kann man die Absichten der Studierenden und ihr Bewusstsein positiv beeinflussen. Der Islam stellt dabei eine starke pädagogische Einflussmöglichkeit dar. Diese Unterrichtsstunden können den Menschen aus einem schlechten 196

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Umfeld, in Krisensituationen des Lebens einen Weg weisen und helfen.“ (Interview_17, 2003: Zeile 4-10)

Dem Islam wird dabei von der Dozentin auch die Fähigkeit zugeschrieben, positiven Einfluss auf die Gestaltung von zwischenmenschlichen Beziehungen auszuüben. Gleichzeitig dient die Bewusstmachung der Religion der Dozentin als Möglichkeit, die Studierenden zu Selbstkontrolle im Hinblick auf ein moralisches Verhalten anzuhalten: „Wir wollen die Studierenden mittels unseres Unterrichts dahingehend lenken, dass sie wissen, Gott sieht dich, er ist der Richter deiner Gedanken, deiner Absichten und deines Bewusstseins. Du musst deine Taten unter Kontrolle haben, denn Gott sieht dich. Das wichtigste an den Unterrichtsstunden ist die Vermittlung dieses Bewusstseins: Du wirst von Gott beobachtet, du musst deine Taten kontrollieren.“ (Interview_17, 2003: Zeile 12-16)

Ihr selbst gebe die Religion „Freude am Leben“ (Interview_17, 2003: Zeile 91). In ihrer Familie habe sie keine religiöse Sozialisation erfahren, heute würde sie jedoch versuchen, ihrer Familie die Religion nahe zu bringen z.B. durch Koranunterricht (Interview_17, 2003: Zeile 125). Religiosität im Sinne des „ibadet“ allein würde nicht genügen, Religiosität definiert sie folgendermaßen: „Indem man seinem Beruf verbunden ist und rein bleibt, das ist im Wesentlichen Religiosität.“ (Interview_17, 2003: Zeile 128-132)

e) Fazit: „Gebildete Muslime“ als Bildungs- und Erziehungsziel Bevor die Dozentin auf die Rolle der Religion in ihrer Familie näher eingeht, antwortet sie auf meine Frage, ob sie eine religiöse (islamische) Erziehung in ihrem Elternhaus erfahren habe, mit dem folgenden kurzen Satz: „Nein, meine Familie ist gebildet“ (Interview_17, 2003: Zeile 66). Obwohl diese Antwort zuerst verwundern mag, kann ihr Inhalt doch den Zusammenhang zwischen den Erziehungs- und Bildungszielen der Dozentin und ihrer Haltung zum Islam aufzeigen. Wenn sie sagt, dass ihre Familie gebildet sei und damit im Kontext der Frage nach einer familiären religiösen Erziehung gleichzeitig implizit „Ungebildetheit“ mit der islamischen Religion in Zusammenhang bringt, dann spiegelt sich in ihren Worten eine Perspektive auf den Islam wider, wie sie im Kontext der Sowjetzeit entstanden ist. Verkörpert durch die Mullas entstand zu Sowjetzeiten in der Gesellschaft eine ambivalente Haltung gegenüber zumindest der öffentlichen islamischen Religion, die Sinnbild für „Korruption“, eine „doppeldeutige Moral“ und „Ungebildetheit“ wurde (siehe dazu auch die Ausführungen in Fußnote 149). Wenn die Dozentin als ihr Bildungsziel auf der einen Seite die „moralische Persönlichkeitsbildung“ der Studierenden angibt und zum anderen die 197

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Vermittlung von „klassischen Bildungsinhalten“ sowie im Anschluss daran beide Ziele im Kontext des Islam verortet, dann sind nur auf den ersten Blick der Islam und das Bildungsziel Vermittlung „klassischer Bildungsinhalte“ (Theater, Kino und Musik) unvereinbar. Entgegen einem Islam, der mit den Attributen „ungebildet“ und „unmoralisch“ besetzt ist, will sie einen „neuen“ Islam etablieren, der „gebildete“ und „moralische“ Menschen hervorbringt. Dem entspricht auch die Beschreibung des Islams des KoranGrammtikdozenten, der ebenso wie die Arabischdozentin einen Islam verbreiten will (təbliğ etmək), der mit den Attributen „gebildet“ und „fortschrittlich“ in Zusammenhang gebracht wird. Dabei sprechen beide DozentInnen im Zusammenhang von ihren Bildungszielen von „uns“, und meiner Ansicht zufolge beziehen sie sich dabei auf die Institution der Islamuniversität. Somit wird ausgehend von den Auswertungen der Interviews mit dem Korangrammatik-dozenten sowie der Arabischdozentin angenommen, dass es das Anliegen von beiden Dozenten ist, einen „neu konnotierten“ Islam zu verbreiten. Vor diesem Hintergrund könnte das Zitat „Du kannst die Menschen mit dem Instrument der Religion beeinflussen“ der Arabischdozentin nochmals aus einer anderen Perspektive gesehen werden: Die Möglichkeiten der Instrumentalisierung der Religion sind der Dozentin aus Sowjetzeiten als (negative) Erfahrung bekannt: Die Mullas setzten den Islam in den Augen der Aserbaidschaner als Instrument zur Manipulation und zu Zwecken der Korruption ein. Dagegen setzt sie ihr Erziehungs- und Bildungsziel, das Hervorbringen von „moralischen“ und „umfassend gebildeten“ Menschen, die sie mit der Hilfe der Religion als positiv verstandener Kontrollinstanz und Richtlinie schaffen möchte.

3.7 Auswertung der Interviews mit den Studierenden: „,Müsəlmanlar ayrılmasın‘ – Die Muslime sollen nicht getrennt werden“193 3.7.1 Biografisches a) Gründe bei den weiblichen Studierenden für die Aufnahme des Studiums Der ausschlaggebende Faktor für die Aufnahme eines Studiums an der Islamuniversität sind im Falle der weiblichen Studierenden die Eltern. Dabei spielt die von den Eltern angenommene moralisch-sittliche Zuverlässigkeit der Islamuniversität die wichtigste Rolle bei der Frage nach der Ausbildung 193 Im Originalzitat heißt es: „Müsəlmanlar ayrılmasın“ (Interview_13, 2003: Zeile 149).

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der Töchter. Eine Studierende aus Lenkoran – ein Gebiet im Süden des Landes an der Grenze zum Iran – berichtet im Interview von der Diskussion in ihrem Elternhaus über ein zukünftiges Studium. Die Eltern wollten ihr die Erlaubnis zu studieren nicht geben, und zwar, weil „[...] die Beziehung zwischen Männern und Frauen (qız-oğlan münasibətləri) an der Universität schlecht (pis) sei“ (Interview_15, 2003: Zeile 31-32). Im weiteren Verlauf des Interviews stellt sich heraus, dass mit der „schlechten Beziehung zwischen Frauen und Männern“ das Prinzip der Koedukation gemeint war, dass zu diesem Zeitpunkt an der Islamuniversität die Zusammensetzung der Klassen bestimmte.194 Ob die Studierende erst nach Aufhebung der Koedukation anfing zu studieren, wird nicht klar. Im Interview gibt sie folgende Erklärung dafür, dass sie letzten Endes von den Eltern die Erlaubnis zu studieren erhalten habe: „Weil es die Islamuniversität ist, haben sie die Erlaubnis erteilt. Sie haben hierher Vertrauen gehabt. Sie haben mir die Erlaubnis gegeben, allein hier zu sein (burada tək qalım). Wenn es eine andere Universität gewesen wäre, hätten sie mir die Erlaubnis nicht gegeben.“ (Interview_15, 2003: Zeile 31) Im Zitat wird ein weiterer Grund dafür deutlich, dass ihr die Eltern nicht die Erlaubnis geben wollten: Dadurch, dass die Studierende aus Lenkoran kommt, kann sie bei Aufnahme eines Studiums in der Hauptstadt Baku nicht bei ihrer Familie wohnen und wäre allein, d.h. ohne Aufsicht. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie bei ihrer Schwester und deren Familie, die, wie die Studierende wörtlich sagt, sich bereit erklärt habe, die Position einer Stellvertreterin der Eltern anzunehmen (Interview_15, 2003: Zeile 19-20). Assoziationen von der Islamuniversität als moralisch positiv besetztem Raum finden sich auch in den Worten einer zweiten Studierenden. Auf die Frage nach der Haltung der Eltern gegenüber der Bildungsinstitution sagt diese mit Bezug auf die Islamuniversität: „Welche Eltern verleugnen das Gute? Alle wollen es.“ (Interview_12, 2003: Zeile 70) Eine dritte Studierende antwortet auf die Frage, warum sie hier sei und welche Position ihre Eltern gegenüber ihrer Ausbildung beziehen würden: „Hier bekommen wir alles Gute beigebracht. Der beste Weg ist der Islam.“195 (Interview_12, 2003: Zeile 72-73)

194 Die Koedukation existierte zum Zeitpunkt meines Forschungsaufenthaltes bereits nicht mehr und ist nach Aussage der weiblichen Studierenden aufgrund moralischer Bedenken von Seiten der Eltern, aber auch der Schulleitung aufgehoben worden. 195 Im Originalzitat heißt es: „Burada bütün yaxşılıqları öyrədilər. En gözəl yoldur İslam“ (Interview_12, 2003: Zeile 72-73).

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b) Gründe bei den männlichen Studierenden für die Aufnahme des Studiums Auf die Frage nach dem Grund für die Aufnahme des Studiums an der Islamuniversität antwortet ein Studierender, dass in Aserbaidschan viele „Missionare“ tätig seien und er und seine Kommilitonen hier studierten, weil es einen Bedarf nach dem richtigen Islam gebe und sie ihn den Menschen beibringen würden (Interview_14, 2003: Zeile 4-7). Dazu passt auch die Aussage eines zweiten Studierenden, der an anderer Stelle im Interview auf die Frage nach der Rolle der Religion in seinem Leben sagt, dass es in Aserbaidschan Leute gebe, die den Islam „mit Füßen treten“ (Interview_14, 2003: Zeile 91f.) und dass er und seine Kommilitonen dies verhindern wollten. Er fügt hinzu: „Die Welt ist eine Prüfung und es kommt darauf an, wie man diese Prüfung absolviert. Der Grund, warum ich auf diese Universität gehe, ist, den Anderen die Religion nahe zu bringen. Wir verdienen uns dabei das Paradies.“ (Interview_14, 2003: Zeile 92) Das Ziel, den Islam zu lernen, um ihn „den Anderen“ beizubringen, ist einer der am häufigsten genannten Gründe für das Studium an der Islamuniversität von Seiten der männlichen Studierenden (Interview_13, 2003: Zeile 18; Interview_14, 2003: Zeile 78, Zeile 128). „Die Anderen“ sind dabei die aserbaidschanische Gesellschaft. In zwei Gruppeninterviews mit insgesamt zehn männlichen Studierenden (Interview_13, 2003; Interview_14, 2003) geben im ersten Interview von sechs Studierenden fünf an, an der Islamuniversität zu studieren, um den Islam später weitergeben zu können (təbliğ etmək196). Im zweiten Gruppeninterview geben alle vier der interviewten Personen an, den Islam zu lernen, um ihn weiter zu lehren. Im Gegensatz zu den weiblichen Studierenden, die aufgrund der Entscheidung der Eltern an der Universität studieren (Interview_12, 2003: Zeile 96-101), haben die männlichen Studierenden diese Entscheidung ihren eigenen Aussagen zufolge überwiegend selbst getroffen. Neben der Absicht der Verbreitung des Islams wurde als weiterer Grund für die Aufnahme des Studiums von der Mehrzahl der Befragten das Ziel angegeben, die eigene Person durch das Studium „zu vervollkommnen“. Ein Studierender sagt in diesem Zusammenhang: „Der Mensch muss sich selbst finden und das ist der Inhalt des Studiums.“ (Interview_14, 2003: Zeile 35ff.)

196 Die Vokabel təbliğ etmək hat neben der Bedeutung von „verbreiten“ und „bekanntmachen“ auch die Bedeutung von „Propaganda“ und wird im aserbaidschanischen Sprachgebrauch eingesetzt, wenn „missionieren“ ausgedrückt werden soll. In diesem Sinne kann es hier auch verstanden werden.

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Dabei wird das Studium an der Islamuniversität und das Lernen des Islams von einem Studierenden explizit nicht als Beruf, sondern als Berufung charakterisiert (Interview_13, 2003: Zeile 38).197 Das sei auch ein wesentlicher Unterschied zu den Studierenden von der İlahiyyat (der IslamischTheologischen Fakultät), wie der Studierende ausführt. Die Mehrzahl der Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät würde versuchen, ihr Studium von der praktischen Seite zu sehen und überlegen, wie sie mit ihrem Theologiestudium Geld verdienen könnten. Die Studierenden der Islamuniversität dagegen würden zwar ebenfalls ans Geldverdienen denken, aber sie würden die theologische Ausbildung „nicht vermarkten“ bzw. „zu Geld machen“. Die Betonung läge bei ihnen auf dem „Leben des Islams“ (Interview_13, 2003: Zeile 39). Ein zweiter Studierender sagt in diesem Kontext im Hinblick auf seine zukünftige berufliche Tätigkeit: „Nicht nur im Sinne einer Pflichtausübung [...]“ (Interview_14, 2003: Zeile 90) wolle er später arbeiten, sondern: „Egal was ich mache, ob Präsident oder Hirte, ich will den richtigen Weg gehen.“

c) Familiäre religiöse Sozialisation Im Vergleich zu den Auswertungen der Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät ergibt die Auswertung der Interviews mit den Studierenden der Islamuniversität, dass bei der überwiegenden Mehrzahl von diesen eine religiöse Erziehung in der Familie und auch eine religiöse Sozialisation im außerfamiliären Umfeld in der Moschee stattgefunden hat. Damit bestätigen die Auswertungen der 18 Interviews die Aussage des Arabischdozenten aus Jordanien, dass die Mehrzahl der Studierenden eine Ausbildung in einer Moschee erhalten hat, bevor sie mit dem Studium an der Islamuniversität begonnen haben. Dies wiederum ist nicht verwunderlich, da, wie eingangs dargestellt, die Bedingung zur Aufnahme des Studiums an der Islamuniversität der vorher absolvierte Unterrichtsbesuch an einer Moschee des Landes Aserbaidschan ist. Weiterhin berichtet die Mehrzahl der 18 InterviewpartnerInnen, dass ihre Familien zu Hause die Religion in Form von Beten und Fasten praktiziert haben sowie häufig gemeinsam im Koran gelesen wurde. Die meisten von ihnen gaben im Interview an, dass sie in ihrer Kindheit ein positives Bild von der Religion vermittelt bekommen haben (Interview_10, 2003: Zeile 5-6; Interview_13, 2003: Zeile 5-15). In diesem Zusammenhang berichtet die schon zitierte Studentin aus Lenkoran von der Rolle der Religion in ihrer Familie zu Sowjetzeiten (Interview_15, 2003: 11-15). Dabei stellt sie eine in ihrer Familie von dem 197 „İslam sənət kimi götürmək olmaz“ (Interview_13, 2003: Zeile 38).

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Vater häufig erzählte Anekdote in den Mittelpunkt ihres Berichtes: In der Fastenzeit habe er (der Vater) so getan, als ob er ein Konfekt esse, aber in Wirklichkeit aber habe er nur ein Konfektpapier auf die Strasse geschmissen und das Fasten nicht gebrochen. Meiner Interpretation zufolge transportiert der Vater mit der nacherzählten Handlung – für die seine Kinder zu jung sind, um sie selbst erlebt haben zu können – zwei Botschaften: Zum einen sind von ihm, seiner Darstellung zufolge, trotz Verbot durch das kommunistische Regime die religiösen Vorschriften (Fastenmonat) eingehalten worden (immerhin wurde das Fasten nach den Worten der Studierenden mit der Androhung von Gefängnis geahndet). Zum anderen macht er deutlich, dass dies nicht im Kontext einer Selbstgefährdung geschehen muss. Dies entspricht auch den schiitisch-religiösen (Erziehungs-)Vorstellungen198, da gemäß dem im schiitischen Glauben inhärenten Prinzip der Taqiyya die eigene Religiosität im Falle einer drohenden Verfolgung geheim gehalten werden darf. Gemäß den Ausführungen von Fraas im Kapitel zu „Theorien der religiösen Erziehung“ in dieser Arbeit findet im vorliegenden Beispiel die religiöse Erziehung über die in der Erzählung geschilderte Haltung des Vaters unter Einbezug der pragmatischen bzw. psychodynamischen sowie affektiven Komponente statt, die wie Fraas schreibt, sich oftmals überschneiden. Wenn wie Fraas (Fraas, 1978: 124) ausführt, Verhaltensdispositionen durch Gewöhnung auf der Basis affektiver Beziehungen erworben werden und dies im Kontext der Familie durch die Internalisierung von Verhaltensstrukturen geschieht, dann könnte die von der Studierenden geschilderte Erzählung als ein idealtypisches Beispiel für die theoretischen Überlegungen von Fraas gelten. Liefert doch der Vater mit seiner Geschichte die Möglichkeit zur Internalisierung eines loyalen und pflichtbewussten Verhaltens gegenüber religiösen Geboten. Die in der Familie gewonnene religiöse Haltung drückt sich meiner Meinung nach auch im Kontext ihrer Begründung zum Tragen einer Kopfbedeckung aus. Obwohl die Studierende erzählt, dass sie „schwere persönliche Kämpfe“ mit sich ausgetragen habe, habe sie sich letztlich für das Tragen eines Kopftuches entschieden (Interview_15, 2003: Zeile 30). Die Reaktionen ihrer Umwelt und dabei vor allem ihrer Eltern seien sehr positiv gewesen. In diesem Zusammenhang berichtet die Studierende auch, dass die Eltern ihr schon zu einem früheren Zeitpunkt den Ratschlag (məsləhət) (Interview_15,

198 Da die Studierende aus Lenkoran kommt, ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Schiitin ist, hoch, da der Süden Aserbaidschans schiitisch dominiert ist. Allerdings liegen mir bezüglich ihrer religiösen Orientierung keine Informationen vor.

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2003: Zeile 24) gaben, ein Kopftuch zu tragen. Der „Lohn“ dafür, dass sie ein Kopftuch trage, bestehe nun außerdem darin, dass ihr neben der Freude der Eltern viel „Ehrerbietung“ entgegenkomme (Interview_15, 2003: Zeile 3, Seite 3). Auf meine Bitte, diese Ehrerbietung näher zu konkretisieren, berichtet sie, dass ihr im Bus ein Platz überlassen werde, die Autos anhalten und sie vorbeiließen und sie außerdem keine „Schimpfwörter“ mehr von den Männern nachgerufen bekomme und sie sich deswegen „frei“ fühle (Interview_15, 2003: Zeile 5-6, Seite 3). Gefragt nach den Reaktionen ihrer Kommilitoninnen sagt sie, dass einige es guthießen; einige es jedoch für sich selbst als zu früh empfänden199. Sie fügt hinzu, dass sie das Kopftuch ja eigentlich schon mit neun Jahren hätte tragen müssen.200 Ihre Ausführungen lassen dabei deutlich werden, dass es sie eine innere Auseinandersetzung gekostet hat, sich für das Kopftuch zu entscheiden. Das ist angesichts der aserbaidschanischen Gesellschaft, die kopftuchtragende Frauen immer noch ungewöhnlich findet und nicht immer positiv aufnimmt, verständlich, da ein Kopftuch dem gängigen aserbaidschanischen „Schönheitsideal“ nicht entspricht und die Interviewte ihrem Aussehen zufolge großen Wert darauf legt, attraktiv zu sein. Auch hier wäre zu überlegen, inwieweit die von den Eltern religiös gelebte Haltung und das religiöse Umfeld, in dem sie sich durch das Studium befand, sozialisierend im Hinblick auf die eigene Religiosität wirkten. Letztendlich ist aus der Auswertung des Interviews zu schließen, dass sich die Studierende mit dem Gefühl entschädigt, durch das Tragen der Kopfbedeckung anderen Frauen überlegen zu sein, wenn sie sagt: „[...] ich weiß jetzt, dass wenn ein mir unbekanntes Mädchen meinen Weg kreuzt, dann weiß ich, meine moralische Haltung ist höher, besser als ihre [...] Denn ich befolge Gottes Befehle.“ (Interview_15, 2003: Zeile 18-19, Seite 3) In einem anderen Beispiel, bei einem der befragten Studierenden der Islamuniversität, der aus einer Familie kommt, die laut eigener Aussage nicht religiös (dindar) sei und die Glaubensgebote (ibadət) nicht einhalte, kehrt sich ebenso wie in der Institution der İmam-Hatip-Schule dargestellt, der Prozess der religiösen Erziehung um. Der Studierende, der ursprünglich aus Georgien kommt und über eine Moschee in Georgien an die Uni gekommen ist, erzählt, dass sein Vater nicht zufrieden gewesen sei mit dem Entschluss seines Sohnes, ein Studium an der Islamuniversität aufzunehmen. Er sollte eigentlich

199 An der Islamuniversität müssen alle Frauen eine Kopfbedeckung tragen, diese wird aber von den weiblichen Studierenden und auch von den Dozentinnen zum Teil beim Verlassen des Geländes der Islamuniversität abgelegt. 200 Nach „orthodoxer“ islamischer Glaubensvorstellung haben sich Frauen mit ca. neun Jahren, mit Beginn der Pubertät, zu bedecken.

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Wirtschaft studieren. Als er gesehen habe, dass sein Sohn nicht von seinem Weg abzubringen ist, habe er schließlich eingewilligt. Der Studierende erzählt weiter, dass die Eltern, die anfänglich gegen das Studium waren, heute, „ob sie wollten oder nicht, Interesse [am Islam] entwickelten“ (istər istəməz maraq yaranır) (Interview_14, 2003: Zeile 144). Die Wortwahl „ob sie wollten oder nicht“ könnte auch interpretiert werden als der „große Anreiz“, über den die Religion nach Meinung des Studierenden verfügt und der es auch seinen Eltern „unmöglich macht“, sich der Religion zu entziehen. Der Studierende erzählt auch, dass ihn seine Familie inzwischen sogar anhalte, sein Studium zu absolvieren, und wenn er einen Tag nicht an die Universität gehe, ihn sofort bedränge, das zu tun (Interview_14, 2003: Zeile 142f.).

d) Familiäre Autoritätskonflikte aufgrund des Studiums? Eben dieser Studierende, der sich gegen den Willen seines Vaters für ein Religionsstudium entschieden hat, antwortet auf meine Frage, ob er sich im Zweifelsfall für seine Familie oder für die Religion entscheide, dass seine Wahl zugunsten der Religion ausfallen würde (Interview_14, 2003: Zeile 140). Obwohl das Thema des Autoritätskonfliktes mit den Eltern mit Ausnahme dieses Studierenden bei den Studierenden der Islamuniversität keine Rolle spielt, ergibt die Interpretation des Interviews mit der Studierenden aus Lenkoran einen Fall von „verspäteter“ Auflehnung. Im Kontext des Berichtes über die Auseinandersetzung mit ihren Eltern im Hinblick auf die Aufnahme eines Studiums argumentiert sie im Interview, dass sie heute wisse, dass sie – entgegen den Vorschriften ihrer Eltern – auf jeden Fall auch eine andere Universität als nur die Islamuniversität hätte besuchen können. Dies begründet sie mit dem Hinweis darauf, dass der Islam bzw. der Koran schreibe, dass der Mensch lernen muss (Interview_15, 2003: Zeile 2, Seite 2). Von Interesse ist dabei, dass auch diese Studierende wie die Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät und die SchülerInnen der İmam-HatipSchule dem Koran eine größere Autorität einräumt als den Eltern. Es ist für die Studierende offenbar keine Frage, dass ein Argument mit Verweis auf die Aufforderung des Korans an die Menschen zu lernen, von Seiten der Eltern hätte akzeptiert werden müssen. e) Zukunftspläne Die einzigen „beruflichen Pläne“, die von fast allen befragten Studierenden der Islamuniversität angegeben wurden, ist die Absicht, den Islam später in der Gesellschaft verbreiten zu wollen (təbliğ etmək) (Interview_10, 2003: Zeile 9, Seite 4), und das unabhängig davon, welchen Beruf man ausübe, ob „als Händler oder Lehrer“ (Interview_13, 2003: Zeile 30). Die Absicht der Studierenden, den Islam in der Gesellschaft zu verbreiten, geht einher mit ei204

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ner Definition eines Islams, der den Gegebenheiten der aserbaidschanischen Gesellschaft gerecht wird, d.h. ein Islam, der der Situation des Zusammenlebens von Schiiten und Sunniten Rechnung trägt. Die Studierenden bringen das in den Interviews zum Ausdruck, wenn sie sagen, dass sie den „richtigen, wahren Islam“ in der Gesellschaft verbreiten wollen, vor allem angesichts der Präsenz ausländischer islamischer Missionare im Land, die sie entschieden ablehnen. Aus den Worten der Studierenden spricht somit der Wunsch, aktiv gegen die fremde Missionierung mit eigener Missionierung angehen zu wollen. Ein Zitat aus einem Interview mit einem Studierenden auf die Frage, warum er hier studiere, kann als charakteristisch für die Einstellung aller Interviewten zu diesem Thema bezeichnet werden: „In Aserbaidschan besteht das Volk zu 90 Prozent aus Muslimen. Unser – die wir hier studieren – Ziel ist es, hier eine religiöse Erziehung entgegen zu nehmen und diese in der richtigen Form an diejenigen weiterzugeben, die Bedarf haben zu lernen. Deswegen studieren wir hier.“ (Interview_14, 2003: Zeile 5-9) Die Formulierung des Studierenden, die eigene religiöse Erziehung „in der richtigen Form“ weiterzugeben, weist nochmals auf die deutliche Abgrenzung gegenüber als „falsch“ angesehenen Religionskonzeptionen hin. Auf meine Frage, ob sie als Mullas arbeiten wollen, geben die Studierenden ein „Nein“ zur Antwort und ein Studierender fügt hinzu, dass es den Beruf des Mulla in Aserbaidschan nicht gebe und man mit der Religion auch kein Geld verdienen dürfe, weil dies eine „Sünde“ sei (Interview_13, 2003: Zeile 263).

3.7.2 Bedeutung von Religion und Religiosität Die Interviews zeigen, dass für die Studierenden Religion in erster Linie den rechten Weg zu leben aufzeigen soll; und diesen Weg zu gehen, empfinden sie als Wert von übergeordneter Bedeutung. Zumindest ist es ihnen offenbar wichtiger zu studieren, um sich selbst in der Welt bzw. in der Beziehung zu Gott zu verorten, als um sich beruflich zu qualifizieren (Interview_14, 2003: Zeile 161-171). Diese Perspektive ist insofern bemerkenswert, als in der aserbaidschanischen Gesellschaft Berufsvorstellungen in erster Linie von dem Wunsch geprägt sind, Geld zu verdienen und durch den Beruf eine angesehene gesellschaftliche Stellung zu erhalten. Auf der einen Seite ist diese Haltung bedingt durch die schwierige wirtschaftliche Situation des Landes, die es nicht erlaubt, einen Beruf aufgrund eines Ideals zu ergreifen, auf der anderen Seite ist es, zumindest nach den Gesprächen zu urteilen, die ich mit jungen Menschen in Aserbaidschan geführt habe, auch unüblich, dass ein Beruf aufgrund einer Neigung oder geprägt von „Idealvorstellungen“ ausgesucht wird. Oftmals sind es sogar die Eltern, die für die Kinder einen Beruf bestimmen oder – wie im Falle der Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät 205

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und aller anderen Fakultäten der Bakuer Staatsuniversität – der Staat, der den Studierenden Studienfächer nach einem Punktesystem, gemäß den Leistungen ihres Schulabschlusses, zuteilt. Die Bedeutungszuschreibungen an die Religion als Ausdruck einer Weltanschauung und Form der Lebensgestaltung schaffen eine Verbindung zwischen den Studierenden; das zeigt auch der von allen Interviewten gebrauchte Plural, wenn ich Einzelne nach ihren beruflichen Absichten befrage und meistens die Antwort: „Wir wollen den Islam verbreiten“ bekomme. Die Tatsache, dass die Studierenden geschlossen diese Absicht als Ziel ihres Studiums angeben, kann auch ein Hinweis darauf sein, dass die Islamuniversität dieses Ziel vermittelt und „die wahre oder die den aserbaidschanischen Verhältnissen angemessene Form des Islams zu verbreiten“ ein Erziehungsziel der Institution ist, das von den Studierenden übernommen wird. Das Ziel einer „Belohnung im Jenseits“ stellt offenbar den wesentlichen Bedeutungszusammenhang von Religion bzw. Religiosität dar. Dies wird in mehreren Antworten deutlich, wenn ein Studierender sagt, dass er sich das „Paradies verdiene“ (Interview_14, 2003: Zeile 128), indem er anderen die Religion bringe. Ein anderer Studierender sagt, dass er die Gesetze Gottes befolge, weil er an das Jenseits glaube (Interview_14, 2003: Zeile 16). Bedeutung bekommt die Religion bzw. die eigene Religiosität auch im Hinblick auf die moralische Bewertung der eigenen Person, wie sie in den Worten der Studierenden aus Lenkoran deutlich wird. Die Vorstellung von der „Religiöswerdung“ – sowohl der eigenen als auch der der anderen – ist auch bei den Studierenden der Islamuniversität (wie auch im Übrigen bei sämtlichen anderen InterviewpartnerInnen), immer eine des verstandesmäßigen Begreifens der Religion. Religion müsse dabei laut den Aussagen der Studierenden auf „wissenschaftlichem“ (elm) Weg begriffen bzw. „verstanden werden“ (dərk etmək) (Interview_12, 2003: Zeile 2429).

a) Sunniten und Schiiten in Aserbaidschan und die Frage nach einem adäquaten Islamkonzept Den Islam in Aserbaidschan wollen die Studierenden unbeeinflusst „wie den ursprünglichen Islam“201 sehen (Interview_13, 2003: Zeile 105). Ein Studierender sagt dazu, dass sie nicht einen Islam „wie im Iran oder wie in der Türkei“ haben wollen, sondern ihn „frei“ sehen wollen (Interview_13, 2003: Zeile 106). Meine Frage, ob sie denn den Islam in der Türkei und im Iran als „falsch“ ansähen, bejahen sie; in der Türkei gebe es überhaupt keinen Islam

201 Im Originalzitat heißt es: „Əsl İslamın olduğu kimi“.

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und im Iran sei er „fanatisch“ (Interview_13, 2003: Zeile 108).202 Als Gründe, warum die Türkei seinen eigenen Worten zufolge kein muslimisches Land mehr sei, nennt er die Art und Weise des Gespräches zwischen Älteren und Jüngeren, das Verhalten der Jugendlichen sowie die Art und Weise der Frauen sich zu kleiden. Das alles sehe er im Fernsehen. Aus diesem Grund gebe es seiner Meinung auch Alkohol- und Drogenprobleme. Auch Einflüsse durch andere islamische „Missionare“ lehnt er vehement ab. Der Iran verbreite sein Konzept eines schiitischen Islams und dies könne eine Situation herbeiführen, wie sie es zwischen den Protestanten und den Katholiken gegeben habe (Interview_13, 2003: Zeile 115). Er argumentiert, dass die Situation an der Islamuniversität die sei, dass Schiiten und Sunniten gemeinsam an einem Tisch säßen und dass diese Situation einzigartig sei (Interview_13, 2003: Zeile 131). Hier [an der Institution der Islamuniversität, Anm. C. H.-K.] würde der Islam „in einer Einheit“ (vəhdət şəklində) gesehen werden. Weiterhin sagt ein Studierender, dass die Menschen in Aserbaidschan jede Religion annähmen, zu der man sie zu „missionieren“ versuche (Interview_13, 2003: Zeile 141). Diese Situation habe sich aufgrund der Sowjetzeit ergeben, die Religion sei verboten gewesen und es sei eine „kulturelle Lücke“ entstanden (Interview_13, 2003: Zeile 141). „Sie [die Menschen in Aserbaidschan, Anm. C. H.-K.] wissen gar nichts und sie glauben alles. Wenn ein schiitischer Schüler (tələbə203) in einer sunnitischen Schule lernt, bleibt er sein Leben lang Sunnit. Der Einfluss ist groß.“ (Interview_13, 2003: Zeile 143) Ein anderer Studierender äußert sich direkt zur Frage des Zusammenlebens von Sunniten und Schiiten in Aserbaidschan: „Es gibt ein Problem mit den unterschiedlichen religiösen Orientierungen.“204 (Interview_13, 2003: Zeile 218) Derselbe Studierende erzählt weiter von seiner persönlichen Antwort auf die Frage, welche religiöse Orientierung (məzhəb) die „richtige, wahre“ bzw. die „falsche“ sei. Im Grunde genommen, sagt er, würden es sowohl die Sunniten als auch die Schiiten nicht richtig machen, weil Gott gesagt habe, dass die Muslime sich nicht wie die Juden in Gruppen aufspalten sollten, und sie das aber getan hätten und damit Gottes Wort nicht gefolgt seien (Interview_13, 202 Im Originalzitat sagt der Studierende mit Bezug auf die Türkei und den Islam: „Türkiyə müsəlmancılıqdan tam çıxıb“ (Interview_13, 2003: Zeile 110), was im vorliegenden Kontext soviel heißt wie, dass die Türkei ganz vom „MuslimSein“ abgekommen sei. 203 Das Wort tələbə wird sowohl für SchülerInnen als auch für Studierende verwendet. 204 Im Originalzitat heißt es: „Məzhəb problemi var“ (Interview_13, 2003: Zeile 218).

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2003: Zeile 220-226). Der Studierende berichtet, dass er selbst schon bei Lehrern bzw. Institutionen mit unterschiedlicher religiöser Ausrichtung unterrichtet worden sei, und zwar in Zakatala und Ağdaş in einer sunnitischen Moschee und in Nardaran in einer schiitisch-iranischen Moschee sowie bei einem salafitischen („wahhabitischen“) Lehrer. Außerdem habe er noch in Syrien studiert. Er bezeichnet sich selbst als einen „wahren Suchenden“ und er habe sich auch auf diesem Weg eine eigene Meinung gebildet. Er äußert sich kritisch gegenüber der Tatsache, dass es ein sunnitisch-schiitisches „Problem“ gebe, und verurteilt die „Unzeitmäßigkeit“ der salafitischen („wahhabitischen“) Religionsinterpretation (Interview_13, 2003: Zeile 215). Die Welt sei im 21. Jahrhundert und habe Fortschritte gemacht. Nur die „Wahhabiten“ würden weiterhin „mit einem weißen Bart herumlaufen“ (Interview_13, 2003: Zeile 253). Mit seinen eigenen Worten fügt er hinzu, dass der Prophet auch anders lebte, wenn er in dieser Epoche geboren sei (Interview_13, 2003: Zeile 255).

b) Haltung zu anderen Religionen Auch die Studierenden der Islamuniversität vertreten wie die SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule einen Überlegenheitsanspruch des Islams, wenn sie im Interview Christentum und Judentum als Vorgängerreligionen des Islams bewerten. Weiterhin sagen sie, dass Tora und Bibel von Menschen verändert worden seien und deshalb nicht gleichwertig mit dem Koran seien. Der Koran sei jedoch für die ganze Menschheit bestimmt, der Prophet Muhammad sei das Siegel der Propheten (Interview_14, 2003: Zeile 193). Gefragt nach seiner Haltung zu anderen Religionen gibt ein Studierender an, dass er sie in drei Arten unterteile: 1) die göttlichen Religionen, 2) die Religionen der Vergangenheit (vaxtı kəcmiş dinlər) und 3) die „batil“, also die „unwahren“ und „falschen“ Religionen (Interview_14, 2003: zeile 311). „Büdpərəstlik“, also die Anbetung von sog. Götzen, gehöre zur Gruppe der „falschen“ Religionen bzw. dies würde gar nicht als Religion angesehen werden (Interview_14, 2003: Zeile 316). c) Haltung gegenüber der eigenen Gesellschaft und gegenüber dem Westen Die Motivationen zu studieren und die beruflichen Ziele der Studierenden haben gezeigt, dass die Studierenden einen hohen Anspruch an sich selbst haben. Aus den Interviews geht hervor, dass sie sich selbst und die Welt in Frage stellen, und dass diese Auseinandersetzung entweder zur Religion bzw. Religiosität der Studierenden oder später auch zur Aufnahme des Studiums geführt hat. Aus den Interviews geht weiter hervor, dass sich die Vorstellung von einem „guten und richtigen Leben“ immer in Abgrenzung zur eigenen Gesellschaft oder zur durch die Medien vermeintlich erfahrenen westlichen 208

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Gesellschaft zusammensetzt und die Studierenden als ihr Ideal angeben, „besser“ als die Menschen „der westlichen Welt“ sein und leben zu wollen. Die Motivation bzw. die Belohung für das „Besser-Sein“, das im Sinne eines „moralischen Überlegenseins“ verstanden werden kann, liegt den Worten der Studierenden nach im Jenseits. Einen hohen Stellenwert erfahren dabei Werte eines „guten und richtigen Lebens“ wie „nicht lügen“ (Interview_14, 2003: Zeile 34), ein „reiner Mensch sein“, den „Armen helfen“ (Interview_13, 2003: Zeile 34-35) sowie den „Islam leben, wie er eigentlich ist“ (Interview_14, 2003: Zeile 178-188). Auf meine Rückfrage, was das beinhaltet, sagt mir ein Studierender, dass die Menschen sich in Richtung des „Guten“ bewegen müssen, dass sie das „Schöne“ verstehen sollen und sich nicht dem Alkohol und Drogen hingeben sollen. „Auch wenn es heute nicht möglich ist“, ergänzt ein Studierender die immer gleichen aufgezählten Ideale, wenn er sagt: „[...] den Islam so zu leben, wie ihn der Prophet gelebt hat, weil weder die Politik diesen Weg verfolgt, noch die Gesellschaft das annimmt, [...] [denn] sie [die Gesellschaft, Anm. C.H.] lachen [über die Studierenden der Islamuniversität, Anm. C. H.-K.].“ (Interview_13, 2003: Zeile 178-182) Er fährt fort, dass im Koran steht, dass die, die nicht an Gott glauben, getötet werden sollen. Wenn man aber heute aufstehe und jemand töte, dann werde man ins Gefängnis gesteckt. Zur Zeit des Propheten hat man töten können, heute würden diese Befehle des Korans abweichend interpretiert werden. Es sei nicht die Zeit, wörtlich nach dem Koran zu leben, denn dann sei es nicht möglich, die Demokratie anzunehmen. Im Koran stehe, dass der Einzige, der Befehle geben darf, Gott sei. In diesem Kontext fügt er hinzu: „Wenn du in der Moschee aufstehst, versteht keiner, was du willst, sie denken, dass du gegen die Regierung agierst.“ (Interview_13, 2003: Zeile 190-199) Ein zweiter Studierender hält dieser Aussage entgegen, dass es für jede Zeit ihre Gesetze gibt und dass man die islamischen Gesetze mit den Gesetzen des Zeitalters in Einklang bringen muss (Interview_13, 2003: Zeile 205). Trotz oder wegen der Tatsache, dass sie die Gesellschaft im Grunde genommen stark abwerten und sich von ihr distanzieren, haben sie für sich den Anspruch aufgestellt, sich an der Religion zu orientieren: „Wir müssen den Weg des Propheten gehen. Er ist zu uns als Stellvertreter geschickt worden.“ (Interview_14, 2003: Zeile 98) Mit der Distanzierung von der aserbaidschanischen Mehrheitsgesellschaft geht gleichzeitig die Vorstellung der „Missionierung“ dieser einher. „Ein Muslim muss mit seiner eigenen Moral Vorbild für alle werden und den Glauben an die anderen weitergeben.“ (Interview_14, 2003: Zeile 93) Hier zeigt sich der Anspruch, mit dem „gläubig sein“ auch als Repräsentant zu gelten und einen „göttlichen Auftrag“ erhalten zu haben. Aufgrund des oben definierten hohen Anspruchs der Studierenden und der gesellschaftli209

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chen Tatsache, dass eine Umsetzung der Ansprüche nicht möglich ist, lässt sich in den Worten der Studierenden eine gewisse Resignation wahrnehmen. Sie hadern gleichsam mit der eigenen aserbaidschanischen und auch der westlichen Gesellschaft. Die eigene Situation wird aufgewertet, indem die eigene „moralische Überlegenheit“ gegenüber der westlichen Welt, insbesondere gegenüber Amerika und den Christen, angenommen wird, denn diese seien für das „Brechen vieler Gebote“ bekannt. Als Resultat dieser „Sünden“ habe es den 11. September gegeben (Interview_14, 2003: Zeile 172ff.). Auch dies, fügen die Studierenden hinzu, sei im Koran vorausgesagt worden. In der eigenen Gesellschaft sehen sie mit dem Einzug der „Demokratie“ und dem „Fortschritt“ ein „moralisches Zurückfallen“ des Menschen. Es stellt sich für die Studierenden ein Widerspruch zwischen „Fortschritt und Menschlichkeit“ dar, zwischen „Demokratie und Islam“ (Interview_14, 2003: Zeile 38-40). Dieser Widerspruch bzw. diese Gegenüberstellung von „Demokratie und Fortschritt“ sowie „Menschlichkeit und Islam“ manifestiert sich in ihren Augen vor allem im „Verhalten“ (der Bekleidung) der Frauen in der eigenen Gesellschaft. Die Frauen würden sich heute, zu „Zeiten der Demokratie“, „unter Wert verkaufen“, die Menschen würden insgesamt ihren „eigenen Wert“ nicht mehr kennen (Interview_14, 2003: Zeile 40ff.).

3.8 Fazit 3.8.1 Die Bedeutung von Religion und Religiosität Die Auswertung der Interviews mit den Studierenden und den DozentInnen hat gezeigt, dass die Religiosität der Studierenden der Islamuniversität mehrheitlich das Ergebnis von Erziehung und Sozialisation im Elternhaus bzw. in Moscheeschulen und Medresen ist, die vor dem Besuch der Islamuniversität durchlaufen wurden. Im Gegensatz zu den Studierenden der IslamischTheologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität und auch eines Teils der SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule werden die Studierenden der Islamuniversität während des Studiums nicht zum ersten Mal mit einem „orthodoxen“ Islamverständnis konfrontiert. Obwohl die Religions- und Religiositätskonzeptionen der Studierenden an sich nicht in Frage gestellt werden, werden die Studierenden, wie im folgenden Kapitel IV 3.8.2 ausführlicher zusammengefasst wird, jedoch im Sinne von gemeinsamen Bildungs- und Erziehungszielen im Hinblick auf einen „aserbaidschanischen Islam“ „neu“ sozialisiert. Die Studierenden an der Islamuniversität zeichnen sich weiterhin durch einen „konservativen“ Umgang mit Fragen der Religion und Religiosität aus. Dies zeigt sich unter anderem in dem erfolglosen Bemühungen des Dozenten Abdullah Bəy aus Jordanien, dessen Reformversuche in Richtung einer „selbständigeren Denkweise“ und diskursiven Auseinandersetzung mit religiösen 210

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Annahmen am deutlichen Widerstand der Studierenden scheitern. Auch in Fragen der religiösen Lebensweise vertreten die befragten Studierenden eine ablehnende Haltung gegenüber anderen als „orthodox“-muslimischen Lebensformen. Obwohl sie es ihren eigenen Aussagen zufolge für schwierig bis sogar unmöglich erachten, in der Gegenwart gemäß einer „ursprünglichen“ islamischen Lebensweise wie zu Zeiten des Propheten zu leben, sehen sie diese als Maxime an und verurteilen davon divergierende Lebensformen, die von ihnen unter den Begriffen „Fortschritt“ und „Demokratie“ subsumiert werden. „Demokratie“ und „Fortschritt“, die von den Studierenden in den Interviews dabei gleichzeitig unspezifisch mit „dem Westen“ in Zusammenhang gebracht werden, werden dabei von ihnen als unvereinbar mit „dem Islam“ angesehen. „Demokratie“ widerspreche der Vorstellung, dass nur Gott zu befehlen habe, und „Fortschritt“ wird gleichgesetzt mit „Unmoral“, die in einem „unmoralischen“ Bekleidungsstil bei den Frauen sowie im Gebrauch von Alkohol und Drogen ihren Ausdruck findet. Weiterhin betonen die Studierenden ihre Abgrenzung von anderen islamisch-religiösen Orientierungen, sie lehnen die Anwesenheit der türkischen, iranischen und arabischen Emissäre und deren Institutionen im Land ab und betonen die Notwendigkeit, den nach ihrer Meinung „wahren“ Islam zu verbreiten. Mit „wahrem“ Islam ist dabei aus Sicht der Studierenden ein Islam gemeint, der der Tatsache Rechnung trägt, dass in Aserbaidschan Schiiten und Sunniten leben. Meiner Interpretation zufolge geht es bei den Studierenden im Kontext der Abgrenzung von „Demokratie“, „Westen“ und „Fortschritt“ im Wesentlichen um eine „moralische“ Aufwertung der eigenen Identität, die sich als im Einklang mit „orthodoxen“ islamischen Glaubensvorschriften und damit als „moralisch höherwertig“ sieht. Ich würde mich in diesem Zusammenhang mit Vorbehalt den Beobachtungen und Interpretationen von Tietze (Tietze, 2001) anschließen, die im Zusammenhang mit muslimischen Migranten in Deutschland und Frankreich schlussfolgert (Kapitel III 1.2.3), dass die islamische Religion hier eine struktur-, ordnungs-, und sinngebende Funktion erhält, und zwar in Abgrenzung zur aserbaidschanischen Mehrheitsgesellschaft zum einen und gegenüber „dem Westen“ zum anderen. Die islamische Tradition hält den Interpretationen von Tietze zufolge auch eine Alternative zum gesellschaftlichen Alltag bereit. Diese Annahmen von Tietze im Hinblick auf die jungen deutschen und französischen Migranten stehen im Kontext einer Religiös-Werdung in Zusammenhang mit einer Alltagsbewältigung in Gesellschaften, die für die Jugendlichen Probleme im Hinblick auf Anerkennung aufwerfen. Mit Vorbehalt können die Überlegungen von Tietze auch auf die Studierenden der Islamuniversität bezogen werden. In den Interviews mit den Studierenden der Islamuniversität wird mehrfach auf die strukturierende und orientierende Funktion der Religion verwie211

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sen, dabei wird der Islam zur Projektionsfläche für die Vorstellung einer „gerechteren und besseren“ Gesellschaft, in der bei Einhaltung der Glaubensvorschriften von allen „Gerechtigkeit und Frieden“ eintreten. Der Islam wird dabei für die Jugendlichen auch als ideologisches Bezugssystem relevant, er erhält über die Dogmen hinaus einen individuellen, sinnstiftenden Wert. Die Studierenden der Islamuniversität verweisen auf das Jenseits und die Belohnung im Paradies, die sie für ihr „moralisch korrektes“ Leben im Sinne der islamischen Religion erwarten. Die Möglichkeit des Aufbaus einer Jenseitsorientierung ermöglicht dabei einen Abstand zum alltäglichen Leben und der Gesellschaft sowie eine Belohnung für ein Verhalten, das im Diesseits auf wenig Anerkennung stößt. Denn die Forderungen der Studierenden, die Gesellschaft sowohl auf politischer als auch auf individueller Ebene im Sinne des Islams zu gestalten, erzeugen keine Anerkennung. Dabei drückt sich das Empfinden der Studierenden, wenig oder ungenügende Anerkennung von Seiten der Gesellschaft zu bekommen, exemplarisch in der schon weiter oben im Text zitierten folgenden Äußerung aus: „[...] den Islam so zu leben, wie ihn der Prophet gelebt hat, weil weder die Politik diesen Weg verfolgt, noch die Gesellschaft das annimmt, [...] sie [die Gesellschaft, Anm. C.H.] lachen [über die Studierenden der Islamuniversität, Anm. C. H.-K.]“ (Interview_13, 2003: Zeile 178-182). Der Islam könne also nicht in seiner „ursprünglichen“ Form gelebt werden, weil die Gesellschaft darüber lachen würde. Die beiden unterschiedlichen Handlungsmotivationen für die eigene Religiosität, der Glaube an eine „Belohnung“ im Jenseits und die Hoffnung auf eine Veränderung der diesseitigen Gesellschaft, können somit als komplementär gesehen werden: die Resignation über fehlende Anerkennung im Diesseits wird von den Studierenden mit Blick auf das Jenseits kompensiert. Die muslimische Identität der Studierenden der Islamuniversität konstituiert sich gleichsam als Wechselprodukt von Fremd- und Selbstzuschreibungen. Dabei bilden die jeweiligen Bezugspunkte, von denen ausgehend der eigene Standpunkt der Studierenden der Islamuniversität beschrieben wird, erstens „der Westen“ mit den Zuschreibungen „Demokratie und Fortschrittlichkeit“ als „Bedrohung“ eines „moralischen Lebenswandels“ und zweitens die islamischen „Missionare“ bzw. Emissäre als „Bedrohung“ eines „friedlichen Zusammenlebens“ von Sunniten und Schiiten sowie drittens die aserbaidschanische Mehrheitsbevölkerung, die aufgrund von „Ignoranz“ die „muslimische Integrität“ der aserbaidschanischen Gesellschaft gefährdet und „vor sich selbst geschützt“ werden muss.

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3.8.2 Das Bildungs- und Erziehungsziel der Institution: Ein „aserbaidschanischer Islam“ Gemeinsames Bildungs- und Erziehungsziel aller befragten Akteure – mit Ausnahme des Dozenten aus Jordanien – ist die Schaffung eines „aserbaidschanischen Islams“. Unter dem Begriff „aserbaidschanischer Islam“ verstehe ich dabei die in den Interviews sowohl von den DozentInnen als auch von den Studierenden durchgängig genannten Ziele der, erstens, „Einheit“ Aserbaidschans und der, zweitens, Schaffung eines „gebildeten Islams“ bzw. von „gebildeten Muslimen“. Als weiteres gemeinsames Bildungs- und Erziehungsziel ist die Verbreitung des sog. aserbaidschanischen Islams in der eigenen Gesellschaft zu nennen. Ausdruck des Strebens einen „aserbaidschanischen Islam“ zu schaffen, ist unter anderem das Curriculum an der Islamuniversität, das vorsieht, dass das Fach Fikh sowohl im Sinne der sunnitisch-religiösen Orientierung als auch der schiitischen unterrichtet wird. Weiterhin ist vor allem den Aussagen des Dozenten İbrahim Bəy deutlich zu entnehmen, dass sein erstes Bildungs- und Erziehungsziel die „Einheit der aserbaidschanischen Gesellschaft“ ist. Von Bedeutung in diesem Zusammenhang ist sein ständiger Bezug auf die Personalpronomen „wir“ und „unser“. Meinen Schlussfolgerungen gemäß zeigt sich darin sein Bezug auf die Institution der Islamuniversität und das gemeinsame Ziel, eine „einheitliche Gesellschaft“ zu schaffen. Das Ideal der „Einheit“ (vehdət) ist wiederum nur mit Blick auf die gesellschaftliche Situation zu verstehen: Es geht um das „friedliche Zusammenleben“ von Sunniten und Schiiten und dies vor allem auch vor dem Hintergrund der Tätigkeiten der islamischen Emissäre in der aserbaidschanischen Gesellschaft. Dabei wird jedweder Einfluss aus anderen islamischen Ländern sowohl von dem Lehrer İbrahim Bəy als auch von den Studierenden als eine „Gefahr“ im Hinblick auf die „Einheit der Gesellschaft“ vehement abgelehnt. Dahinter ist auch das Ziel der Kontrolle des religiösen Bildungssektors bzw. ein Herrschaftsanspruch über diesen erkennbar. Das zweite gemeinsame Bildungs- und Erziehungsziel ist ein „gebildeter Islam“ bzw. „gebildete Muslime“. Auch dieses Ziel ist nur mit Bezug auf die aserbaidschanische Gesellschaft und die Rolle des Islams in dieser zu verstehen. Die besondere Betonung, die Bildung im Zusammenhang mit dem Islam erfährt, erschließt sich nur vor dem Hintergrund der in Kapitel II dargestellten spezifischen Situation der religiösen Bildung im sowjetischen Aserbaidschan, die auf institutioneller Ebene faktisch nicht mehr existent war und in der sich Islam und Bildung gleichsam als Gegensatz im Denken der Menschen etablierte. Zusammenfassend kann mit Bezug auf die Islamuniversität gesagt werden, dass sie ein relativ einheitliches Erziehungs-, Bildungs- und auch Islam213

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verständnis hat, das sich als solches auch in den Aussagen der interviewten Personen widerspiegelt. Es kann angenommen werden, dass die aserbaidschanischen DozentInnen als RepräsentantInnen der Islamuniversität anzusehen sind und als solche an die Studierenden ein spezifisches Bildungskonzept transportieren. Eine Ausnahme stellt der Dozent aus Jordanien dar, der weder im Hinblick auf sein Bildungskonzept noch hinsichtlich seiner Erziehungsund Bildungsideale konform mit den Zielen der Institution und ihrer Vertreter ist.

4 B e d e u t u n g u n d B e d e u t u n g sw an d e l vo n R e l i g i o n und Religiosität in den Moscheen Im Folgenden werden als „vierter Typ“ von Institution zwei Moscheen subsumiert. Obwohl es sich dabei insofern um zwei verschiedene Institutionen islamischer Bildung handelt, als die eine Moschee eine schiitische und die andere eine salafitische („wahhabitische“) religiöse Orientierung hat, sind sie nicht getrennt in die Auswertung der Daten eingegangen. Der Grund dafür sind deutliche Parallelen im Hinblick auf die Dateninterpretation, die es sinnvoll erscheinen lassen, die Auswertung der in den Moscheen erhobenen Daten in einem gemeinsamen Kapitel zusammenzufassen.

4.1 Die schiitische Cuma-Moschee Die schiitische Cuma-Moschee (Freitagsmoschee) wird von einem in Baku bekannten und in der religiös-schiitischen Bevölkerung angesehenen Imam geleitet. Der Imam studierte Philosophie an der Internationalen-ImamChomeini-Universität in Qazvin im Iran. Innerhalb der religiösen Szene in Baku ist eine Differenzierung in einen pro- bzw. contra-iranischen schiitischen Islam von Bedeutung, weil sowohl von Seiten der Bevölkerung als auch vom aserbaidschanischen Staat selbst ein schiitischer Islam, wie er im Iran durch das Ayatollah-Regime verkörpert wird, abgelehnt wird (Motika, 2005: 89)205.

205 Im Allgemeinen existieren Verbindungen der Schiiten in den schiitischen Iran und auch Irak, weil die schiitische Glaubenslehre vorsieht, dass alle Gläubigen in ihrem Handeln den Rechtsauslegungen eines lebenden Marğa-i taqlīd („Vorbild zur Nachahmung“) folgen müssen. Da es in Aserbaidschan keinen entsprechenden Ayatollah gibt, an dessen Rechtsprechung sich die Gläubigen orientieren könnten, gibt es entsprechende Verbindungen ins Ausland. So nehmen Vertreter dieser Ayatollah (Motika, 2005: 88) an wichtigen schiitischen Feierlichkeiten in Aserbaidschan teil. Dabei sind zwei schiitische Richtungen maßgeblich für die Schiiten im Land: Zum einen die Ayatollahs, die

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Im Sommer des Jahres 2004 kam es zu einem Konflikt zwischen der Regierung und dem Imam der Cuma-Moschee, weil dieser öffentlich die stärkste Oppositionspartei des Landes, die Musavat-Partei, unterstützte. Mit der Begründung, dass sie nicht registriert sei, wurde die Moschee geschlossen.206 Es kam zu Demonstrationen der Gemeindemitglieder und Übergriffen der Polizei auf die Demonstranten, die auch in der internationalen Presse Beachtung fanden. Der Konflikt endete mit einer Zwangsbesetzung der Position des Imams durch einen vom QMİ (Qafqaz Müselman İdaresi)207 ernannten Imam, dem die Gläubigen aber die „Gefolgschaft“ verweigerten.

4.2 Die salafitische Lesgi-Moschee Die Moschee heißt offiziell Lesgi-Moschee und wird in der Bevölkerung als „wahhabitische“208 Moschee bezeichnet, da sie zur religiösen Gemeinde der großen Abu-Bakr-Moschee gehört und diese wiederum als Zentrum der salafitischen („wahhabitischen“) Propaganda in Baku gilt209 (Əskərov, 2004: 9). Die Lesgi-Moschee ist eine kleine Moschee im Zentrum der Altstadt und liegt fast unsichtbar direkt neben der größeren schiitischen Cuma-Moschee. Die Frauen der Lesgi-Moschee sind an den Freitagen in der Abu-BakrMoschee anzutreffen, wo sie den Freitagspredigten des Imams zuhören und gemeinsam mit den anderen Frauen der salafitischen Gemeinde beten.

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die Linie des verstorbenen Groß-Ayatollahs Ruhollah Chomeini (Iran) verfolgen, und zum anderen die quietistisch orientierten Ayatollahs wie der verstorbene Ayatollah al-Chuū’ī oder der Großayatollah Sīstānī (Irak), dessen Schriften z.B. auch im schiitischen Fiqh-Unterricht der Islamuniversität verwendet werden und „generell vom aserbaidschanischen Staat mit größerem Wohlwollen betrachtet werden“ (Motika, 2005: 89). Seit 1998 werden die religiösen Aktivitäten, dabei auch der Unterricht in Moscheen und Medresen, von Seiten der Regierung stark eingeschränkt. Im Jahr 2001 wurde durch einen Erlass des Präsidenten die Gründung einen staatlichen Komitees für die Arbeit mit religiösen Organisationen verabschiedet. Sämtliche Aktivitäten religiöser Bildungseinrichtungen, die nicht beim Komitee registriert waren, wurden damals per staatliches Dekret eingestellt (Əskərov, 2004: 10). Tatsächlich hatte der Imam die Registrierung verweigert, weil das QMİ (Qafqaz Müselman İdaresi), die „Verwaltung der kaukasischen Muslime“, der Registrierung zustimmen muss. Das QMİ bzw. der es vorsitzende Scheichülislam wird von dem Imam jedoch nicht als Oberhaupt der Muslime anerkannt (Motika, 2005: 79). Siehe zum Umgang mit der Bezeichung „wahabitisch“ bzw. „salafitisch“ in der vorliegenden Arbeit in Fußnote 15. Siehe dazu auch die Ausführungen in Kapitel I 2.1.1.

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4.3 Die Lehrer und ihr Unterricht in der Cuma-Moschee Im Rahmen der Teilnahme an den Unterrichtsstunden in der Cuma-Moschee ist zu beobachten, dass der Imam über große religiöse Autorität bei seinen Schülerinnen verfügt. Der Unterricht heißt „Einführung in die Grundlagen des Islams“ und besteht in seinem Anspruch im Wesentlichen aus einer quasi „philosophischen“ Herangehensweise an die Frage, was Religion überhaupt ist und warum es sie gibt. Tatsächlich besteht der Unterricht in der Vermittlung einer islamischen Moral- und Sittenlehre sowie in Strategien der Argumentation gegenüber „Nicht-Gläubigen“. Das ist im Kontext der aserbaidschanischen Gesellschaft zu verstehen als das Erlernen von Argumenten zur „Verteidigung“ der eigenen Religiosität gegenüber anderen Muslimen in der eigenen Gesellschaft, die aber die Religion nicht praktizieren. Von größerer Bedeutung für die vorliegende Arbeit ist jedoch ein entfernter Verwandter des Imams, der als Lehrer für islamische Bildung die SchülerInnen des Imams ebenfalls unterrichtet und darüber Einfluss auf die Gruppe der untersuchten Frauen gewinnt. Nicht der Imam, sondern sein Verwandter wird im Folgenden näher vorgestellt werden. Wichtig für den vorliegenden Beitrag ist das Gruppen- und Zusammengehörigkeitsgefühl, das sowohl der Imam selbst als auch dieser Verwandte zwischen seinen SchülerInnen entstehen lassen kann.

4.4 Die Lehrerin und ihr Unterricht in der Lesgi-Moschee An der Lesgi-Moschee findet in dem Raum der Frauen dreimal pro Woche Unterricht in arabischer Sprache und eine Einführung in İslam əxlaqı (islamische Moral- und Sittenlehre) statt. Dieser wird von einer Absolventin der Islamuniversität erteilt. Die Unterrichtsmaterialien bestehen dabei aus einem Koran sowie mündlichen Instruktionen der Lehrerin Nergiz zu „richtigem“ Verhalten in allen Bereichen des Lebens. In einem Gespräch wurde mir von der Lehrerin mitgeteilt, dass es in absehbarer Zeit zu einem Unterrichtsverbot kommen könne. Obwohl sie selbst dazu keine weiteren Informationen geben wollte, ist anzunehmen, dass der Moschee im Rahmen der Einschränkung des sog. „unkontrollierten“ Unterrichts in Moscheen und Medresen eine Intervention von staatlicher Seite droht (siehe dazu die Ausführungen in Kapitel I 2.1).

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4.5 Die Schülerinnen in den Moscheen Mit Blick auf die Interpretation der ausgewerteten Daten erscheint es notwendig darauf hinzuweisen, dass viele der befragten Frauen210 in den Moscheen in sozialen und wirtschaftlichen schwierigen Verhältnissen lebten. Generell hat sich in den Interviews und vor allem auch während der Gespräche, die im Kontext der Teilnehmenden Beobachtung geführt wurden, gezeigt, dass die Entscheidung, islamische Religiosität zu leben bzw. „aktiv“ religiös zu sein, bei vielen der interviewten Frauen im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Transformationsprozess und den daraus resultierenden biografischen Konsequenzen steht. Religiosität zu leben, d.h. im vorliegenden Falle beispielsweise eine Kopfbedeckung zu tragen, die Glaubensvorschriften im Sinne der fünf Säulen des Islams einzuhalten sowie als aktives Mitglied in einer religiösen Moscheegemeinde teilzunehmen, fällt damit auffallend häufig mit einer Lebenskrise zusammen (Kapitel III 1.2.2). Auch zeigte sich vor allem in Gesprächen mit den (meist jungen) Frauen in den Moscheen, wie Religiosität die Funktion einer Erklärung und Verortung angesichts von persönlichen und gesamtgesellschaftlichen Unwägbarkeiten gewinnen kann (Oerter, 1996: 26). Eine 19-jährige Frau erzählte mir beispielsweise in einem persönlichen Gespräch, dass sie Vater und Mutter im Berg-Karabach-Konflikt211 verloren habe und nun Waise sei. Dies bringt in der aserbaidschanischen Gesellschaft den Wegfall von realen Zukunftschancen mit sich, da Waisenkinder keine finanzielle oder soziale Förderung erfahren und von der Mehrheitsbevölkerung generell mit Skepsis hinsichtlich ihrer „sozialen Integrität“ betrachtet werden. Die Möglichkeiten für diese junge Frau, einen gleichaltrigen Mann zu finden und eine Familie zu gründen bzw. einen Beruf zu erlernen oder zu studieren, sind demzufolge nicht vorhanden. Die junge Frau kommentierte ihre Situation mit den Worten: „Gott will mich prüfen“ (Gespräch_1, 2002), und berichtete weiterhin, dass sie in absehbarer Zeit zur finanziellen Sicherung ihrer Existenz innerhalb der Moscheegemeinde mit einem 60-jährigen Witwer mit mehreren Kindern verheiratet werde.

4.6 Auswertung der Interviews und der Teilnehmenden Beobachtungen Im Folgenden werden die Teilnehmenden Beobachtungen und die Interviews, die in den Frauenräumen der beiden Moscheen gemacht wurden, ausgewertet

210 In den Moscheen wurden nur Frauen befragt, da mir als Frau der Zugang zu den Räumen der männlichen Moscheebesucher nicht erlaubt war. 211 Siehe zum Berg-Karabagh-Konflikt in Fußnote 54.

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und interpretiert. Die Bedeutung von Religion und Religiosität lässt sich anhand dreier Kategorien, die im Zuge der Auswertung gebildet wurden, darstellen. Dabei erfahren Religion und Religiosität meinen Interpretationen zufolge drei Bedeutungszuschreibungen bei den interviewten Frauen in den Moscheen: zum einen als Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, zum zweiten als Ausdruck einer „moralischen Überlegenheit“ und zum dritten als Möglichkeit einer „Protesthaltung“ gegenüber den Eltern sowie der Mehrheitsgesellschaft. Vorab werden jedoch die Auswertungen mit je einer LehrerIn der Cuma- bzw. der Lesgi-Moschee präsentiert.

4.6.1 Der Lehrer Səmət Bəy de Cuma-Moschee: „Der Islam ist die Religion, die den Menschen vervollständigt“ a) Biografisches Der Lehrer Səmət Bəy ist ein Verwandter des Imams der schiitischen Moschee und ist aktives Mitglied in dessen Gemeinde. Er ist eigentlich Ingenieur von Beruf, erteilt jedoch in seiner Freizeit Religionsunterricht in einem dafür angemieteten Raum in Baku. Der Unterricht wird in der Zeitung annonciert und hat regen Zulauf. Pro Woche nehmen ca. 70 bis 100 Personen an diesem Unterricht teil, die Mehrzahl von diesen besucht parallel den Unterricht des Imams in der Moschee. Durch die Annoncen in den Zeitungen und durch Mundpropaganda vergrößerte sich die Anzahl der TeilnehmerInnen im Zeitraum meines Forschungsaufenthaltes kontinuierlich. Im Interview beschreibt der Lehrer Səmət Bəy seinen religiösen Werdegang. Seinen Worten zufolge komme er aus einer nicht religiösen Familie. In den ersten Semestern seines Studiums habe er sich jedoch intensiv mit Fragen nach seiner Identität sowie den Ursprüngen der menschlichen Existenz auseinandergesetzt. Das Auftauchen dieser Fragen stellt er dabei in einen kausalen Zusammenhang mit der gesellschaftspolitischen Umbruchsituation in den 90er Jahren und den daraus resultierenden Unsicherheiten, die sich für die Menschen ergaben (Interview_18, 2002: 1). Den neu entstandenen Fragen und Unwägbarkeiten sei eine Suche gefolgt. Dabei habe er sich zuerst politisch in der Unabhängigkeitsbewegung engagiert. Erst sei er Anhänger der Volkspartei geworden, später habe er sich jedoch von der Partei getrennt, „weil ich begriffen habe, dass keine Nation einer anderen Nation überlegen sein kann“ (Interview_18, 2002: 1). Er fügt hinzu, dass er keine Spaltung innerhalb der aserbaidschanischen Nation wolle, weder auf politischer noch auf religiöser Ebene. In diesem Zusammenhang kommt er auf die von ihm als „missionarisch“ bezeichneten Tätigkeiten der islamischen Emissäre zu sprechen. Dabei wirft er der Politik und dem Staat vor, nichts gegen die „Missionare“ zu unternehmen, weil sie an diesen Geld verdienten (Interview_18, 2002: 2). Die Resignation über die Politik habe bei ihm zu einer Abwendung 218

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von der Volkspartei geführt. Daraufhin habe er sich der Religion zugewandt. Diese habe Antworten auf seine Fragen bereitgestellt (Interview_18, 2002: 1). Der Islam sei dabei „die Religion, die den Menschen vervollständigt“ (Interview_18, 2002: 5). Wie die Teilnehmende Beobachtung im Unterricht, das Interview und mehrere Einladungen bei seiner Familie zeigen, ist der Lehrer Səmət Bəy ein überzeugter, streng religiöser, schiitischer Muslim.

b) Erziehungs- und Bildungsziele Der Unterricht des Lehrers Səmət Bəy basiert auf der Vermittlung von Konzepten eines „unmoralischen“ gegenüber einem „moralischen“ Lebensstil. Während sich der Unterricht des Imams selbst mehr im Kontext von – wie eine Schülerin es bezeichnet – „philosophischen“ Fragen zum Thema Religion bewegt bzw. der Imam Unterricht in den Sprachen Arabisch und Persisch erteilt, beschränkt sich der Unterricht des Lehrers Səmət Bəy auf die Vermittlung der „richtigen islamischen Lebensweise“. Als sein Ziel, das er in einen Kontrast gegenüber den Handlungen der islamischen Emissäre und des Staates stellt, die alles nur aus Gründen der „Korruption und des finanziellen Profits“ wegen tun würden, gibt er an, die Menschen bilden zu wollen und ihnen den „wahren Islam“ beibringen zu wollen (Interview_18, 2002: 2). Seine Vorstellung vom Islam in Aserbaidschan sei „ein Islam, der mit den schmutzigen Taten der Korruption nichts zu tun hat. Ich will einen Islam sehen, der im Dienst des Menschen steht: einen Islam, der auf einen ehrlichen Weg führt, einen wissenschaftlich begründeten und zivilisierten Islam“ (Interview_18, 2002: 2). Auch er sieht die Mullas als Inbegriff für einen „Nicht-Islam“. Er beschreibt die Mullas als „ungebildet“ (savadsiz), sie würden dazu beitragen, dass die Menschen eine Abneigung gegen die Religion entwickelten (Interview_18, 2002: 4). Ein religiöser Mensch müsse ein Beispiel für die Gemeinschaft sein (Interview_18, 2002: 5). Weiterhin solle er nicht nur religiös, sondern auch gebildet sein. Ein „wahrer Muslim“ solle durchdrungen sein von Freundlichkeit und sich seinen Mitmenschen gegenüber aufmerksam verhalten. Außerdem solle er ein „vollkommener Mensch“ sein, er solle ein Mensch sein, der „Sklave“ des Gesetzes ist, der „Gutes tut“ und anderen hilft (Interview_18, 2002: 5). Dieser Mensch, fügt er hinzu, sei auch für den Staat „gut“. Die Frage, ob ein atheistischer Mensch ein „reiner“ Mensch sein kann, verneint er. Im Hinblick auf eine notwendige Erziehung des Menschen zu „Sittlichkeit“, zu „Willensstärke“, und im Hinblick auf die Gesellschaft beschreibt der Lehrer ein entwicklungspsychologisches Stufenmodell, das die Aufgaben des Menschen in unterschiedlichen Lebensabschnitten in Familie und Gesellschaft festlegt (Interview_18, 2002: 8): Mit sieben Jahren sei das Kind der „Şahi“ der Familie, das heißt, es sei noch sündenlos und könne als „Fürspre219

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cher der Familie“ um ihr „Seelenheil“ im Jenseits bitten. Vom siebten bis zum 14. Lebensjahr sei das Kind der „Sklave“ der Familie, in dieser Zeit sei es notwendig, das Kind auszubilden. Im Alter von 14 bis 21 sei das Kind der „Wesir“ und „Ratgeber“ der Familie (Interview_18, 2002: 8). In den religiös fundierten islamischen Erziehungsvorstellungen des Lehrers Səmət Bəys zeigen sich Vorstellungen zur Kindheit, wie sie in der frühislamischen Gesellschaft bestanden (Motzki, 1986: 403). Diesen zufolge wurde das Kind als ein „Geschenk Gottes“ betrachtet, das eigene Rechte und Pflichten besitzt und den Eltern darüber hinaus eine Reihe von Vorteilen einbringen kann. Zu den profanen Vorteilen gehört, dass sie für die Eltern „Glück und Freude“ bringen, „Augentrost und Erquickung im Alter“ sind sowie die Eltern vor dem Alleinsein bewahren. Als „wirkungsvoll“ wurde der Tod eines Kindes betrachtet, der „heilstiftende Wirkung“ für die Eltern habe, da das tote Kind am Jüngsten Tag Fürsprache für die Eltern einlegen könne (Motzki, 1986: 404).

c) Unterrichtsmethoden Der Unterricht dauert ca. eineinhalb Stunden und besteht im Wesentlichen aus pragmatischen Anweisungen zur Einhaltung eines „angemessenen“ islamischen Lebensstils. Themen einer Unterrichtsstunde sind z.B. die „adäquate“ muslimische Bekleidung oder die „angemessene“ innere religiöse Einstellung beim Fasten. Parallel werden von dem Lehrer Səmət Bəy in pädagogischer Absicht Filme gezeigt: So wird zur Zeit meines Feldforschungsaufenthaltes unter anderem ein Film über eine junge dänische Frau vorgeführt, die einen türkischen Mann heiratet, der zwar Muslim, aber nicht religiös ist, und die aufgrund der Heirat zum Islam konvertiert. Durch ihre Konversion beginnt sie sich für ihre neue Religion zu interessieren, vor allem weil ihr im Umgang mit religiösen Frauen deren „Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft“ auffällt. Sie spricht eine Gruppe dieser Frauen auf der Strasse an und kommt dadurch in Berührung mit dem Islam. Gleichzeitig „öffnet“ ihr der Umgang mit diesen Frauen die Augen und sie erhält eine andere Perspektive auf den „unmoralischen“ Lebensstil ihres Mannes und seiner Familie, die, obschon Muslime, Alkohol trinken und sich auch sonst nicht an die religiösen Gebote halten. Die Frau ihrerseits verstärkt den Kontakt zu anderen „gläubigen Muslimen“ und beginnt sich zu verschleiern und zu beten. Außerdem versucht sie ihren Mann und seine Familie von deren „unmoralischem“ Lebensstil abzubringen und gibt ihr Bestes, diese zu „guten Menschen“ zu bekehren. Doch sie „scheitert“. Zudem versucht ihr Mann ihr die Ausübung der Religion zu verbieten. Das Ende des Films zeigt die Frau, wie sie das Haus und den Mann verlässt, um ein „Leben nach den religiösen Vorschriften führen zu können“. Neben dem Unterricht organisiert der Lehrer Səmət Bəy des Öfteren Fahrten nach Merdekan (ein kleiner Ort ca. 50 km vor Baku), wo zuerst das in 220

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Aserbaidschan von Pilgern hoch frequentierte Grabmahl von Mirmövsum Ağa, auch „Et Ağa“212 genannt, einem aserbaidschanischen „Heiligen“, besucht wird und dann ein Waisenhaus. Im Waisenhaus werden den Kindern Tüten mit Süßigkeiten und Obst übergeben, gleichzeitig nutzt Səmət Bəy die Besuche aber auch für eine „Hinführung“ der Kinder zu Gott. Vorzugsweise in Form des Stilmittels der Rhetorik stellt er ihnen Fragen wie z.B., woraus der Stuhl bestehe, auf dem sie säßen. Antworten die Kinder, der Stuhl sei aus Holz, fragt er die Kinder, woher das Holz komme. Antworten sie dann „von den Bäumen“, fragt er sie, woher die Bäume kommen und wer die Bäume geschaffen habe. So führt er alles, von ihrer Fähigkeit zu leben, weil sie atmen können, bis zu dem Tisch vor ihnen und dem Stuhl, auf dem sie sitzen, auf Gott zurück.

d) Bedeutung von Religion und Religiosität Səmət Bəy ist der Überzeugung, dass die Religion die Menschen zu „Einheit und Vollkommenheit“ führe. Wenn sie die Religion in ihrer „richtigen“ Form annähmen, dann sei dies ein großer Erfolg. Dabei zieht er einen Vergleich zur christlichen Welt und sagt, dass in der christlich-abendländischen Welt zwar der „Fortschritt“ begonnen habe, als sie sich von der Religion löste, dass die Menschen aber heute mit dem Problem der Areligiosität konfrontiert seien (Interview_18, 2002: 7). Die Menschen in Europa hätten zwar alles, respektive Wissenschaft und Bildung, aber sie seien nicht glücklich. „Nicht-religiös“ sind für Səmət Bəy die islamischen „Missionare“, die eine Spaltung zwischen den einzelnen „məzhəb“ herbeiführen, die es früher nicht gegeben habe (Interview_18, 2002: 1). Auch die Regierung, die sich an dem Geschäft mit den Missionaren bereichere, sei „nicht religiös“ und würde zudem jeder islamischen „Sekte“ und jeder Kirche erlauben, sich in Aserbaidschan „missionarisch“ zu betätigen. Ebenso schließt er die Leitung der Kaukasischen Muslime (QMİ) mit ein (Interview_18, 2002: 2). Auch diese sei nicht mit dem Ziel der „[Islamischen, C. H.-K.] Bildung“ beschäftigt, sondern mit „Korruption“. Wenn die Menschen in Aserbaidschan diese [die Leitung, C. H.-K.] anschauen würden, dann würden sie ein „Gefühl des Widerwillens“ entwickeln und sich den „extremistischen Sekten“ [hier sind die Salafiten gemeint, C. H.-K.]) zuwenden (Interview_18, 2002: 2).

212 Dieser Heilige trägt den Namen „Fleischmann“ (Et Ağa) im Volksmund, weil er, der Sage über sein Leben zufolge, keine Knochen besaß. Obwohl er ein „Mann ohne Knochen“ war, war er in der Lage, Widerstand gegen die sowjetischen Machthaber zu leisten, was in der Perspektive der Menschen Ausdruck seiner „Heiligkeit“ ist.

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Səmət Bəy versteht dabei unter „religiös sein“, nach den Verhaltensregeln der Religion (ibadət) zu leben. Das stimmt mit dem überein, was ich bei den Besuchen bei ihm und seiner Familie beobachten konnte, und auch mit seinen „moralischen“ Predigten anlässlich seines Religionsunterrichtes. Auf meine Frage, wie er den Islam in Aserbaidschan sehen möchte, sagt er, dass er ihn so sehen möchte, „wie ihn der Prophet gelebt habe“ (Interview_18, 2002: 2). In Zusammenhang mit der Frage, ob es Probleme zwischen den unterschiedlichen islamischen religiösen Orientierungen gebe, betont Səmət Bəy, dass er bei der Auseinandersetzung auf keiner Seite stünde. Sein Interesse sei es nur, „zu bilden“. Mit Auseinandersetzung meint er dabei offensichtlich das Streben der unterschiedlichen islamischen Emissäre nach Einfluss auf dem Bildungssektor, wobei er in diesem Zusammenhang die Salafiten sowie die eigene Regierung erwähnt (Interview_18, 2002: 1). Doch, fügt er hinzu, wenn die Menschen den Islam in einer „wissenschaftlichen“ Form erst vermittelt bekämen, dann hätten sie auch kein Interesse mehr, sich den „marginalen Sekten“ (marginal sektaya) (Interview_18, 2002: 1) anzuschließen.

e) Fazit Die Erzählung des Lehrers Səmət Bəy im Interview stellt meinen Interpretationen zufolge einen paradigmatischen Fall „aserbaidschanischer Religiöswerdung“ dar. Wie aus den Worten des Lehrers hervorgeht, steht sein Prozess der „Religiöswerdung“ in einem unmittelbaren Zusammenhang zu der gesellschaftspolitischen Umbruchsituation, die Fragen nach der eigenen Person auslösten und letztendlich zur Religion führten. Dies entspricht den Annahmen von Fraas, der den Ursprung von Religion und Religiosität in der Bewältigung von Lebenskrisen sieht (Fraas, 1993: 283). Darauf deutet auch die Aussage des Lehrers hin, dass er in der Religion die Antworten auf seine Fragen gefunden habe. Insgesamt habe ich im Kontext der Auswertung des Interviews und im Laufe der zahlreichen Teilnehmenden Beobachtungen an seinem Unterricht sowie mehreren Besuchen in seinem Haus den Eindruck gewonnen, dass es sich bei dem Lehrer Səmət Bəy um einen „idealistischen“ Menschen handelt, der in der Religion des Islams eine Antwort auf Fragen der Lebensgestaltung und des Sinns menschlichen Lebens sieht. Dabei vertritt er ein Islamkonzept, dass sich in Anlehnung an die Worte von Səmət Bəy als „wissenschaftlich begründet“ und „zivilisiert“ definieren lässt. Hinter diesen Definitionen stehen deutliche Abgrenzungen zu anderen Islamkonzeptionen von Muslimen, die in „Korruption“ involviert seien (nach seinen Worten der QMİ und der Staat) sowie Muslimen, die versuchen, die Bevölkerung in religiöser Hinsicht zu „spalten“ (hier bezieht er sich insbesondere auf die salafitischen islamischen Emissäre), aber auch zu den Mullas, die er als „ungebildet“ bezeichnet und deren Verhalten er als Widerspruch zu den „eigentlichen Werten“ des Is222

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lams sieht. Des Weiteren zeigen sich anti-sunnitische Tendenzen seines Islamverständnisses durch die Auswahl des weiter oben beschriebenen Films: In Anbetracht der traditionellen Spannungen zwischen Schiiten und Sunniten in der islamischen Welt ist es wohl nicht als Zufall zu werten, dass die „unislamische“ und im Film als „unmoralisch“ dargestellte Lebensweise am Beispiel einer türkischen Familie dargestellt wird. Die Türkei, in der die Mehrheit der Bevölkerung hanafitische Sunniten sind und deren Laizismus und Säkularismus in islamischen Ländern wie z.B. dem Iran auf Ablehnung stößt, dient dabei exemplarisch als Sinnbild für den „Abfall“ von der islamischen Religion. Dabei lässt sich in Anbetracht der Distanzierung des Lehrers gegenüber dem QMİ, gegenüber dem aserbaidschanischen Staat und aufgrund der durch die Auswahl des Films anklingenden anti-sunnitischen und antitürkischen Tendenzen vermuten, dass er einen Islam vertritt, der Verbindung zum schiitischen Islam im Iran hat. Diese Annahme wird dadurch gestützt, dass der Imam der Moschee, zu dessen Moscheegemeinde sowohl der Lehrer als auch die Mehrzahl seiner SchülerInnen gehören, seine theologische Ausbildung im Iran erhalten hat und damit eine Beziehung zum iranischschiitischen Islam nahe liegt. Religiosität bedeutet für Səmət Bəy „absolute Gehorsamkeit“ gegenüber Gottes Geboten, Religiosität steht hier gleichbedeutend mit dem „ibadət“. Die „Ergebenheit“ in Gottes Gebot als Erziehungs- und Bildungsziel lässt sich im vorliegenden Falle wiederum besonders gut an dem im Unterricht eingesetzten Film veranschaulichen: Vor einem möglichen „Gehorsam“ gegenüber dem Ehemann steht der „Gehorsam“ gegenüber Gott und die Botschaft des Filmes ist dabei, eher die Familie als Gott zu verlassen. Eine Alternative zur Religion gibt es dabei in den Augen des Lehrers nicht. Auf meine Frage, ob auch ein atheistischer Mensch „rein“ (temiz) oder „gut“ sein könne, bekomme ich eine verneinende Antwort. Dabei versucht mir Səmət Bəy an einem Beispiel deutlich zu machen, dass der Mensch ohne die Richtlinien der Religion „seinem Interesse am persönlichen Vorteil“ unterliegen würde und „gemäß seiner Natur“ auch müsse. In einem Beispiel handelt er den Fall eines Mannes ab, der ein krankes Kind hat. Dieser Mann sei ein „guter“ Mensch, der im Falle seines kranken Kindes alles täte, damit sein Kind gesund wird, auch wenn er sich in Korruption (rüşvət) verwickeln müsse. Der religiöse Mensch fände es nun nicht so schlimm, wenn sein Kind stürbe, jedenfalls nicht so, dass er sich deswegen in „Korruption“ involvieren ließe. Rüşvət sei für den Religiösen eine „Sünde“ und in keinem Falle zu begehen. Daraus folge, dass für den Atheisten bestimmte Fragen offen bleiben und diese für ihn „quälend“ sein müssten. Insgesamt lässt sich mit Blick auf Fragen der religiösen Erziehung festhalten, dass die Erziehungsziele des Lehrers auf die Einhaltung der religiösen Gebote durch seine SchülerInnen ausgerichtet sind. Die Grenze hin zur In223

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doktrination wird dabei überschritten, da Religion und Religiosität als einzig angemessene Lebensform vermittelt werden (Tulasiewizc/To, 1993: 6) (Kapitel III 1.3.2). Nicht nur zeigen die Auswertungen des Interviews, dass einem atheistischen Menschen die Fähigkeit „gut zu sein“ abgesprochen wird, sondern sie zeigen auch, dass zugunsten eines Einhaltens von religiösen Geboten auch der Erhalt von Leben – im Falle des Vaters und des kranken Kindes – in den Augen des Lehrers untergeordnet werden muss.

4.6.2 Die Lehrerin Nergiz Xanım der Lesgi-Moschee: „Ich will in Aserbaidschan den ursprünglichen Islam sehen“ a) Biografisches Die Lehrerin der Lesgi-Moschee, die sich mir mit ihrem Vornamen vorgestellt hat und hier als Nergiz bezeichnet wird, ist 28 Jahre alt und verheiratet. Sie stammt aus Lenkoran, dem Süden von Aserbaidschan, einer traditionell sehr religiösen, schiitischen Gegend. Eine religiöse Sozialisation habe sie in ihrer Familie erhalten. Auch zu Zeiten der sowjetischen Vorherrschaft habe ihre Familie den Glauben ausgeübt („ibadətlərini ediblər“). Ihren Glauben habe sie vor allem der religiösen Erziehung ihres Vaters zu verdanken. Auf Anregung und mit Unterstützung ihres Vaters sei sie nach Baku gekommen, um an der Medrese zu lernen; später habe diese den Status einer Islamuniversität erlangt. Bevor sie ihren Abschluss an der Islamuniversität gemacht hat, hat sie ein Jahr lang im Iran studiert. b) Erziehungs- und Bildungsziele Eines ihrer Ziele sei, den Islam in Aserbaidschan in seiner „ursprünglichen“ Form („əsl İslam olduğu kimi“) zu verbreiten (Interview_19, 2003: 2). Weder möchte sie einen Islam iranischer, noch möchte sie einen Islam türkischer Prägung in Aserbaidschan sehen. Gott habe den Menschen zwei mögliche Wege vorgegeben, einen „guten“ und einen „schlechten“. Er wolle, dass sich der Mensch für einen der beiden Wege entscheide. Ihr Ziel sei es dabei, dass das aserbaidschanische Volk eine islamische Erziehung und Bildung erhalte, damit es die Werte dieser Erziehung „schätzen lerne“ und damit es sich „vervollkommne“ (Interview_19, 2003: 2); es solle den Islam begreifen. Menschen, die eine islamische Bildung und Erziehung erfahren haben, seien „ehrlicher“ und „wahrhafter“; Fehler hätten ihren Ursprung in fehlender Bildung. c) Unterrichtsmethoden Der Unterricht selbst besteht aus einem gemeinsamen Lesen von Koransuren und dem Erlernen der arabischen Sprache. Nergiz beschäftigt sich mit jeder „Schülerin“ ca. eine viertel bis eine halbe Stunde und unterrichtet im Lau224

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fe des Nachmittags ca. zehn Frauen. Im Anschluss an den Unterricht erfolgt eine Gesprächsrunde, in der die Frauen in dialogischer Form eine Einweisung in die islamische Moral- und Sittenlehre erhalten.

d) Bedeutung von Religion und Religiosität Den Aussagen der Leherin Nergiz zufolge sei der Islam „rein“ (pak) und „sauber“ (təmiz) (Interview_19, 2003: 2). Ohne die Religion könne ein Mensch nicht wirklich ein „fehlerfreier“ (kamil) Mensch sein (Interview_19, 2003: 2). Wer in seinem Herz nicht Gott mit sich trage, der könne auch nicht sein ganzes Leben lang ein „guter“ Mensch sein. Dabei unterscheidet sie Glauben (iman) von der Einhaltung der göttlichen Gebote (ibadət). Zwar könne man die Gebote Gottes wie z.B. das rituelle Gebet befolgen, doch hätte man keinen Glauben, wenn man danach eine „schlechte“ Tat beginge. Ein religiöser Mensch sei jedoch ein Mensch, der Gott kenne und seine Gebote (ibadət) in jedem Moment befolge. Sie teilt die Menschen in zwei Gruppen ein: in diejenigen, die an Gott glauben, und in diejenigen, die nicht an Gott glauben. Vor Letzteren würde sie sich fürchten, weil diese alle „schrecklichen Taten“ zu verantworten hätten (Interview_19, 2003: 3). Dabei könne es einem Menschen, der nicht gläubig sei, passieren, dass Gott nicht nur ihn, sondern auch sein Kind strafe. Das Kind könne krank werden, so dass der „sündige“ Mensch jedes Mal beim Anblick seines Kindes vor Kummer sterben müsste. Es sei dabei mit der Gewissheit einer mathematischen Gleichung vorauszusehen, dass jeder, der „sündige“, eine Strafe zu erwarten habe. c) Fazit Die Lehrerin Nergiz beschreibt sich selbst als religiös seit ihrer Kindheit. Das passt zum Bild des typischen Studierenden bzw. AbsolventIn der Islamuniversität, die sie ja auch ist: In der Auswertung der Interviews mit den Studierenden der Islamuniversität zeigte sich, dass die Studierenden typischerweise ihre religiöse Sozialisation in der Kindheit erhalten haben. Weitere Parallelen zur Islamuniversität zeigen sich dahingehend, dass sie ihr Islamkonzept bzw. den Islam, den sie anstrebt, als den „ursprünglichen, reinen Islam“ bezeichnet, den als „Idealzustand“ auch die Befragten der Islamuniversität angeben. Weitere Aussagen hinsichtlich ihres Islamkonzeptes können auf Basis der Aussagen im Interview nicht getroffen werden. Mit Hinblick auf ihre Lehrtätigkeit in der salafitischen Lesgi-Moschee wäre es natürlich von besonderem Interesse gewesen, zu erfahren, ob sie eher das an der Islamuniversität durch den Lehrkörper repräsentierte Islamkonzept eines „einheitlichen, aserbaidschanischen“ Islams vertritt oder ob sie in ihrem Unterricht einen spezifischen „salafitischen Islam“ vermittelt. Die gesammelten Daten in der LesgiMoschee können allerdings nicht dazu dienen, diese Frage zu beantworten.

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4.6.3 Frauen in zwei Moscheen und die Bedeutung von Religion und Religiosität a) Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft Der Frauenraum der Lesgi-Moschee befindet sich auf einer Empore, die in den Hauptraum der Moschee hineingezogen ist. Am Nachmittag versammeln sich in diesem Raum dreimal wöchentlich ca. 20-30 Frauen. Da in der Moschee getrennte Räume für Männer und Frauen existieren und diese vom jeweils anderen Geschlecht nicht betreten werden dürfen, habe ich in den Moscheen nur mit Frauen gesprochen. Bei der Gruppe der Frauen handelt es sich überwiegend um junge Frauen zwischen 16 und 30 Jahren. Während der Teilnahme am Unterricht und dem „Zusammentreffen“ der Frauen am Nachmittag konnte beobachtet werden, dass die Frauen eine enge Gemeinschaft bilden. Parallel zum Unterricht wurden in Gesprächen der Frauen untereinander Alltagsprobleme bewältigt; in der Gemeinschaft wurden sich gegenseitig Aufgaben abgenommen: Einer jungen Mutter wurde regelmäßig, wenn sie erschöpft in der Moschee eintraf, das Kind abgenommen und für den Rest des Nachmittags von den übrigen Frauen versorgt. Um vierzehn Uhr wird das gemeinsame Nachmittagsgebet verrichtet. Nachzüglerinnen beten üblicherweise immer bei ihrer Ankunft. Wenn Frauen keine Anstalten machen zu beten, werden sie von ihren sog. „Schwestern“ dazu aufgefordert. Damit die Neuankömmlinge beten können, nehmen ihnen die „Schwestern“ bei Bedarf auch die Kinderbetreuung ab bzw. schaffen die notwendigen Voraussetzungen: So werden z.B. die Nicht-Betenden zu einer leiseren Gesprächführung ermahnt, um das rituelle Gebet nicht zu stören. Kinder werden gebeten, Rücksicht zu nehmen und nicht im Weg zu sein. Dabei wird deutlich, dass dem rituellen Gebet oberste Priorität eingeräumt wird. Wenn die Angekommene das Gebet verrichtet hat, nimmt sie entweder an den Unterrichtsstunden teil oder reiht sich in die Gruppe ein, um am Gespräch teilzunehmen. Gemeinsam wird am Ende des Nachmittags Tee getrunken. Altersmäßig hebt sich die Lehrerin Nergiz höchstens zwei bis drei Jahre von den anderen Frauen ab, aber aufgrund ihres Studiums und ihres dominanten Auftretens genießt sie große Autorität und ist die wichtigste Ansprechpartnerin auch für die privaten Sorgen der Frauen. Schon mit Blick auf die Bekleidung lässt sich eine Gruppenidentität auch im Unterschied zur schiitischen Gemeinschaft erkennen. In der Gruppe der salafitischen Frauen der Lesgi-Moschee ist der muslimische Bekleidungsstil ungleich strenger. Die Farben von Mänteln und Kopfbedeckung sind dunkel, die Stoffe nicht nach dem Kriterium der Schönheit ausgesucht. Keine Frau ist geschminkt oder vermittelt den Eindruck, ihrem Äußeren Wert beizumessen. Im Unterschied zu der Frauengruppe in der schiitischen Moschee wirkt die 226

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Gruppe der Frauen durch ihre dunkle Kleidung und die oftmals abgetragenen Stoffe auch wesentlich ärmer. Im Gegensatz dazu steht die muslimische Bekleidung bei den schiitischen Frauen der Cuma-Moschee. Bei der Wahl der Kopfbedeckung und Mäntel werden helle Pastellfarben bevorzugt. Fast alle Frauen tragen den Schleier auf die gleiche Art und Weise, indem sie ihn tief in die Stirn hinein ziehen und mit Spitzen verzieren. Die meisten Frauen sind sorgfältig geschminkt und vermitteln im Ganzen den Eindruck, dass sie auf ein feminines Äußeres großen Wert legen. Im Unterschied zur kleinen Gruppe der Frauen der LesgiMoschee213 ist die Gruppe der schiitischen Frauen der Cuma-Moschee sehr groß. Zu den Unterrichtsstunden am Sonntagnachmittag finden sich bis zu 200 Frauen in den Moscheeräumen ein. Viele von ihnen sind unter der Woche im Frauengebetsraum der Moschee anzutreffen, eine kleinere Gruppe von ihnen (ca. 10 bis 20 Frauen) findet sich am Mittwochnachmittag zum Unterricht für fortgeschrittene Schülerinnen beim Imam ein. Am Sonntag trifft sich ein Teil der Frauen nach dem Besuch des Unterrichts in der Moschee zum Unterricht des Lehrers Səmət Bəy, dem Verwandten des Imams, wieder. Auch in dieser Gruppe ist das Alter der Frauen hervorzuheben, es handelt sich vorwiegend um junge Frauen zwischen 15 und 30 Jahren. Ebenso ist in der schiitischen Gruppe das Element der Zugehörigkeit zur Gemeinschaft von großer Bedeutung. Wie schon am Beispiel des Betens in der Lesgi-Moschee veranschaulicht wurde, wird auch in der schiitischen Gruppe ein „konformes Verhalten“ der einzelnen Mitglieder erwartet. Anhand des Fallbeispiels von Leila soll dies veranschaulicht werden. Eine junge Frau namens Leila, die zwar in der schiitischen CumaMoschee verkehrt, aber eine sunnitische familiäre Herkunft hat, bekommt die Ablehnung ihrer Person aufgrund ihrer („fehlenden“) religiösen Orientierung deutlich zu spüren. Leila ist 30 Jahre alt und Lehrerin für Deutsch und Englisch, sie ist nicht verheiratet und lebt bei ihrer Familie. Im Gegensatz zu den anderen Frauen in der Gruppe trägt sie als eine der ganz wenigen Ausnahmen keine muslimische Bekleidung, also keine Kopfbedeckung und keinen Mantel, sondern ist nach der aserbaidschanischen Mode der Mehrheitsgesellschaft gekleidet. Aufgrund der Tatsache, dass sie in Deutschland einen einmonatigen Sprachkurs im 213 Dazu muss allerdings nochmals gesagt werden, dass die Lesgi-Moschee, wie schon erwähnt, zur Gruppe der Gläubigen der Abu-Bakr-Moschee gehört, die eine wesentlich größere Anzahl von Gläubigen umfasst. So konnte ich beim Freitagsgebet im Juni des Jahres 2003 dort mindestens 2000 bis 3000 Männer zählen; in den Frauenräumen hielten sich weitere Hunderte von Frauen auf. Bei dieser Gelegenheit traf ich die Frauengruppe der Lesgi-Moschee wieder, die zur Gemeinde dazugehört.

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Rahmen ihres Studiums absolviert hat, sucht sie den Kontakt zu mir und wir kommen ins Gespräch. Im Weiteren bitte ich sie, ein Interview mit ihr führen zu dürfen, und sie erzählt mir ihre „Geschichte“ in der Gruppe der schiitischen Frauen. Leila sagt gleich zu Beginn des Interviews, gleichsam einschränkend auf meine Frage, wie sie religiös geworden sei, dass sie nicht religiös im Sinne der Ausübung des „ibadət“ sei. Sie sei einfach neugierig auf die Religion (Interview_9, 2003: 1). Als Grund für ihre Neugier nennt sie die Ungerechtigkeiten, die in der Gesellschaft stattfänden, und die Frage, die sich ihr im Anschluss daran gestellt habe: Wenn es einen Gott gebe, warum lasse er dann diese Ungerechtigkeiten zu (Interview_9, 2003: 1)? Um darauf eine Antwort zu finden, habe sie sich überlegt, das Studium an der Islamuniversität aufzunehmen. Sie sei dann aber davor zurückgeschreckt, weil sie gehört habe, dass dieses „rein wissenschaftlich“ ausgerichtet sei. Deswegen sei sie hier zum Unterricht gekommen und habe auch gefunden, wonach sie suche. In der Familie wurde Leila nicht religiös erzogen, sie fügt aber hinzu, dass ihre Familie eigentlich Sunniten seien. Ihre Familie interessiere sich dafür, was sie im Unterricht in der Moschee und beim Lehrer Səmət Bəy lerne. Sie selbst habe sich noch nicht dafür entscheiden können, „religiös zu sein“ (im Sinne des ibadət), weil sie erst den Charakter der Gebete kennen lernen wolle. Obwohl sie erkenne, dass es ihr gut täte zu beten, fühle sie sich noch nicht völlig bereit dazu. Den Unterricht an der Moschee besuche sie seit dem Herbst, zum Zeitpunkt des Interviews also seit einem halben Jahr. Sie überlege auch, sich den Kopf zu bedecken, aber dann sei es sehr schwer in Aserbaidschan, eine Arbeit zu finden (Interview_9, 2003: 2). Die Gründe dafür sieht sie in der sowjetischen Zeit, die Gesellschaft finde Frauen mit Kopfbedeckung ungewohnt. Sie selbst habe sich nun daran gewöhnt und empfinde es als „normal“. Sie fügt ihren Betrachtungen zur Kopfbedeckung und der Akzeptanz innerhalb der Gesellschaft hinzu, dass sie glaube, dass vor allem eine islamische Bildung sinnvoll für die „moralische Entwicklung“ der Gesellschaft sei. Sie selbst erzähle in ihrem eigenen Unterricht selten über den Islam, weil sie andere Unterrichtsfächer habe, aber wenn sie darüber erzähle, dann sei ihr die Aufmerksamkeit bei den SchülerInnen gesichert: „Aber wenn es einen Konflikt gibt, wenn Fragen auftauchen, dann stelle ich den Unterrichtsstoff hinten an, dann spreche ich über den Islam. Sie hören dann sehr gespannt zu und sie stellen viele Fragen. Diese Fragen sind ausschließlich auf moralische Aspekte bezogen.“ (Interview_9, 2003: 3) Über andere Religionen, wie z.B. das Christentum, wisse sie gar nichts. Sie habe nur gehört, dass die Christen in Jesus „Gottes Sohn“ sähen, und dies erscheine ihr vor dem Hintergrund, dass Jesus ein Mensch und damit Gott auch einen menschlichen Anteil haben müsse, als unvorstellbar. 228

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Es stellt sich heraus, dass Leila an sich selbst den Anspruch hat, erst ganz sicher in ihrem religiösen „Fühlen“ sein zu wollen und erst dann beten will. Damit stößt sie auf Unverständnis bei den anderen Frauen in der schiitischen Gemeinschaft. Auch ihre innere Auseinandersetzung, ob sie wie eine Sunnitin oder wie eine Schiitin beten soll, wird nicht akzeptiert. Ihr Lehrer Səmət Bəy, an den sie sich mit dieser Frage gewandt hat, sagt ihr, dass „[...] das schiitische Gebet das richtigste aller Gebete sei“ (Interview_9, 2003: 6). Diese Antwort kann allerdings ihre Zweifel ob der Form des Gebetes nicht verringern, denn obgleich sie beteuert, großes Vertrauen in den Lehrer zu haben, der doch Akademiker und auch ihr Lehrer sei, habe sie das Gefühl, dass er dies gesagt habe, weil er selbst Schiit sei und das Sunnitentum als „falsch“ bewerte (Interview_9, 2003: 6). Sie aber glaube, dass es einen „einheitlichen Islam“ geben müsse. Auch von den anderen Frauen in der Gruppe sei sie gefragt worden, ob sie nun bete, und beschreibt im Interview die Reaktionen darauf: „Aber die anderen Mädchen bedecken jetzt ihren Kopf [baş bağlamaq] und beten jetzt. Sie haben mich gefragt, ob ich bete und ich habe verneint. Sie haben mich zweifelnd angesehen und gefragt, warum ich nicht bete. Aber ich will die Gebete erst ganz verstehen, bevor ich anfange zu beten.“ (Interview_9, 2003: 6) Auf meine Frage, ob sie dort die einzige Sunnitin sei, antwortet sie, dass sie nicht alle fragen könne, aber wen sie frage, der sei Schiit, und die Mädchen aus der Gruppe hätten zu ihr gesagt: „Wenn du Schiitin wärest, dann würdest du glücklicher sein.“ (Interview_9, 2003: 6) Dies ärgere sie, weil ihr diese Aussage das Gefühl vermittele, dass sie „als Sunnitin der unglücklichste Mensch der Welt sei“ (Interview_9, 2003: 6). Auch wenn sie sich nicht verletzt fühle von den anderen Frauen, so ärgere sie sich doch. So habe sie z.B. in einem Buch zum Islam, das sie von der Frauengruppe geliehen bekommen habe, gelesen, dass „wie ein Sunnit beten unwahr bzw. ungültig beten (batil olmaq) gleichkomme“ (Interview_9, 2003: 7). Sie finde dies nicht richtig. Auf meine Frage, ob sie überlege, von der schiitischen Gruppe Abstand zu nehmen, antwortet sie, dass sie noch nicht wisse, ob von der schiitischen Gruppe oder von der Religion an sich. Sie ginge den Dingen gerne auf den Grund, doch leider seien die Bücher in Aserbaidschan, die sie bisher gefunden habe, einschlägig entweder sunnitisch oder schiitisch orientiert. „Die reine Wahrheit zu finden ist schwer“ (Interview_9, 2003: 7), beschließt Leila das Interview. Bevor eine weiterführende Interpretation der hier vorgestellten Daten vorgenommen wird, soll eine weitere Kategorie, die sich bei der Auswertung der Interviews bilden ließ, dargestellt werden: die Vorstellung einer „moralischen Überlegenheit“ durch den eigenen religiösen Lebensstil innerhalb der beiden Frauengruppen.

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b) „(Moralische) Überlegenheit“ durch einen religiösen Lebensstil Wie auch schon die Auswertungen mit den Studierenden der Islamuniversität gezeigt haben, sind auch die in den beiden Moscheen befragten Personen von der „moralischen Überlegenheit“ überzeugt, die der Einzelne durch die Ausübung der Glaubenspraxis (ibadət) und damit der Befolgung von Gottes Geboten gewinnt. Ebenso wie bei den SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule und bei den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät und der Islamuniversität existiert auch bei den befragten Personen in den Moscheen die Vorstellung, dass durch den Islam die Gesellschaft in einem positiven Sinne „neu geschaffen“ werden kann und mit Hilfe des Islams gleichsam ein „Idealzustand“ einer Gesellschaft entstehen könne. In einem Gruppeninterview mit zehn Frauen der Cuma-Moschee äußert sich eine der Frauen folgendermaßen: „In Aserbaidschan gibt es so viele Menschen. Wenn sie alle nach den Gesetzen des Islams leben würden, dann könnte das Leben ganz anders aussehen.“ (Interview_8, 2002: 6) Diese Vorstellung zeigt sich unabhängig von der religiösen Orientierung der Befragten, ob Sunniten oder Schiiten; gemeinsam ist jedoch die Überzeugung von der Notwendigkeit einer „orthodox“-islamischen Lebensweise. Auf die Frage, wie sie den Islam in Aserbaidschan sehen möchte, antwortet eine Architektin in der Lesgi-Moschee, dass die islamische Partei an der Macht sein sollte, weil dann die islamischen Organisationen ihre Arbeit „noch effektiver“ machen könnten, und wenn der Islam in der ganzen Gesellschaft verbreitet sei, hätte diese ein „höheres moralisches Niveau“. Sie wolle, dass alle Menschen den Islam annehmen (Interview_20, 2003: 1). Der Islam habe dabei zahlreiche Funktionen: Er helfe, ein „reines, sauberes Leben“ zu führen und den Einzelnen darin unterstützen, die „Gesetze des Lebens zu verstehen“. Er helfe weiterhin dabei, „das Leben richtig zu leben“ (Interview_20, 2003: 1). Dies zeige sich auch in der Gruppe von Frauen, fährt die Befragte weiter fort, die sie hier vorgefunden habe, die viel „freundlicher“ (daha səmimi) und „ehrlicher“ als die übrige Gesellschaft sei, denn es sei eines der Grundprinzipien des Islams, nicht zu lügen (Interview_20, 2003: 3). Dies komme daher, dass man fünfmal am Tag bete. Ein Mensch, der fünfmal am Tag bete, der könne nicht anders als den „richtigen“ Weg einschlagen, das Gebet würde ihn gleichsam dazu zwingen (Interview_20, 2003: 3). Die Einhaltung der Glaubenspraxis des ibadet steht dabei wie bei den Befragten der anderen Institutionen islamischer Bildung auch im Mittelpunkt. Gerade mit Bezug auf die Frauen in den Moscheeräumen erweist sich aber insbesondere das Tragen einer Kopfbedeckung als unerlässlich. Im Rahmen einer Unterrichtsstunde habe ich die Möglichkeit erhalten, sechs Schülerinnen im Alter von ca. 15 Jahren gemeinsam zu interviewen. Auf meine Frage, welches religiöses Gebot sie als „das Wichtigste“ erachten, antwortete eines der Mädchen, dass der „hicab“, die Kopfbedeckung, das wichtigste Gebot sei, 230

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denn „Frauen, die einen Schleier (hicab) tragen, stehen Gott näher und sind außerdem ,reiner‘ (daha təmiz)“ (Interview_11, 2003: 2). Der Islam und als Symbol der eigenen Religiosität die Kopfbedeckung, sagt die Interviewte weiter, zeige dabei auch, dass man ein „moralisches“ Leben führe. Ein Mädchen, das heute bete, würde morgen „Ehre“ (namuz) und „Anstand“ (qeyrət) garantieren (Interview_11, 2003: 2). Sozusagen in Abgrenzung zum „modischen Auftreten“ der Frauen in der aserbaidschanischen Mehrheitsgesellschaft fügt sie hinzu: „Minirock tragen, zwei Kilo Kosmetik auftragen usw. ist nicht richtig. Diese Eltern müssen Angst haben, dass ihre Tochter vom Weg abkommt.“ (Interview_11, 2003: 2) Während in den anderen Institutionen islamischer Bildung das Kopftuch teilweise zwar auch Pflicht ist (wie z.B. in der Islamuniversität), zeigt sich vor allem in den Frauenräumen der Moschee eine Absolutsetzung dieses „Gebotes“. Dabei wird neben der „moralischen Überlegenheit“ mit dem Kopftuch auffallend häufig der Faktor Bildung in Zusammenhang gebracht. So erzählt eine der Teilnehmerinnen im Gruppeninterview mit zehn Frauen im Zusammenhang mit der Entscheidung, sich den Kopf zu bedecken (baş bağlamaq), Folgendes: „Bevor ich angefangen habe zu beten und zu fasten, hatte ich großen Respekt vor den Betenden und Fastenden. Aber über den hicab wusste ich nichts und ich habe mich nicht dafür interessiert [...] Eines Tages bin ich in einer Moschee zum Geburtstagsfest des Propheten eingeladen gewesen. Dort haben sie einen hicab getragen und ich habe gesehen, dass sie sehr gebildet sind. Sie haben sehr gebildet gesprochen. Und ich bin mit ihnen über den Schleier (örtük) ins Gespräch gekommen.“ (Interview_8, 2002: 4)

Die Betonung des eigenen islamischen Lebensstils dient dabei auch als Abgrenzung gegenüber den Eltern und der Mehrheitsgesellschaft.

c) Religiosität als Möglichkeit der Auflehnung gegen Eltern und Mehrheitsgesellschaft Der Wunsch, sich nach islamischer Art zu kleiden, stößt bei vielen Eltern auf Ablehnung und ein Verbot. Auch das Beten als „sichtbarer“ Ausdruck gelebter Religiosität ist zum Teil nicht erwünscht. Ein Mädchen in der Moschee berichtet im Interview Folgendes: „[...] mein Vater erlaubte mir nicht zu beten. Wenn ich mich seinen Worten verschloss, ging er zum Klavier und spielte westliche Musik. Er gab mir keine Möglichkeit [zu beten].“ (Interview_11, 2003: 2) Das verstärkt wiederum das Zugehörigkeits- und Gemeinschaftsgefühl der jungen Frauen untereinander. Eine junge Frau drückt das wie folgt aus: „Einerseits erlernen wir hier die Wissenschaft Gottes [Allahın elmini]. Zur glei231

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chen Zeit finden wir hier häufig wahre Freunde. Wir schließen untereinander Freundschaft. Es ist mehr als Freundschaft, wir sind Schwestern.“ (Interview_11, 2003: 7) Gefragt, ob sie auch in der staatlichen Schule Freunde haben, sagt ein Mädchen: „Ja, aber sie sind nicht so gute Freundinnen.“ (Interview_11, 2003: 7) Einige Mädchen berichten dabei im Interview von unterschiedlichen Reaktionen auf ihre Religiosität. Es gebe Klassenkameraden, die interessiert an ihrer Religiosität seien und auch gerne in die Moscheen kommen wollten, doch von den Eltern keine Erlaubnis erhielten. Obwohl gleichzeitig der Verlust von Freunden beklagt wird, wird er trotzdem hingenommen. Ein Mädchen erzählt, dass sich ihre alten Freunde in der Schule von ihr abwendeten, ihre beste Freundin verstehe sie einfach nicht (Interview_11, 2003: 7). Zum Teil erhalten die Mädchen bzw. jungen Frauen aufgrund ihrer „Besonderheit“ offensichtlich auch einen höheren Status. Ihrer Religiosität wird mit „Respekt“ begegnet. So erzählt ein Mädchen: „Wenn ich komme, dann geben sie mir den Weg frei, sie öffnen die Tür für mich. Früher ist so etwas nie passiert.“ (Interview_11, 2003: 4) Im Folgenden sollen die Auswertungen der Daten weitergehend interpretiert werden. Im Zentrum der Interpretation steht dabei die Annahme, dass die beiden Frauengruppen in den Moscheen strukturelle Gemeinsamkeiten mit dem Phänomen einer (Jugend-)Subkultur haben. Außerdem werden die Moscheen in Beziehung zu den Ausführungen von Böhnisch und Münchmeier (Böhnisch/Münchmeier, 1990) zur Funktion von sozialen Räumen für Jugendliche gesetzt. Die Bedeutung der beiden LehrerInnen für den Zusammenhalt und die inhaltliche Ausgestaltung der beiden Gruppen wird vor dem Hintergrund der ausgewerteten Daten in den Blick genommen.

4.7 Fazit Beide Frauengruppen zeichnen sich durch ihre hohe Exklusivität aus. Als Elemente der Konstruktion ihrer Gemeinschaften können sowohl die Verhaltensnormen als auch die Bekleidung gelten. Dabei sorgt eine gegenseitige Kontrolle innerhalb der Gemeinschaften der „Schwestern“ dafür, dass die einzelnen Mitglieder sich den Normen gerecht verhalten; im Falle von Leila zeigt die Gruppe deutliche Tendenzen diese auszugrenzen, weil sie in der Gemeinschaft gültige Werte („Schiitin sein und schiitisch beten“ bzw. das Schiitentum als den „richtigen Glauben“ akzeptieren) durch ihre Zweifel in Frage stellt. Abgrenzung findet auch gegenüber den Eltern statt, wenn diese den Glauben der Kinder nicht akzeptieren, sowie gegenüber der Mehrheitsgesellschaft, deren Lebensweise aus der Perspektive der Befragten nicht den „moralischen Ansprüchen“ einer religiös-islamischen Lebensform entspricht. Die Rolle der beiden LehrerInnen zeigt sich dabei in der Funktion einer jewei232

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ligen Verstärkung der Gemeinschaften. Am Beispiel des Films, den der Lehrer Səməd Bəy der Gruppe vorführt, wird exemplarisch die Botschaft an die Gemeinschaft sichtbar, dass die islamische Religion und Religiosität Vorrang vor der eigenen Familie hat und damit die eigene Gruppe zum wichtigsten Orientierungsfaktor wird. Auch am Beispiel der Lehrerin der Lesgi-Moschee und deren Rolle als Ratgeberin und Ansprechpartnerin wird die Funktion einer orientierenden und führenden Figur für die Gruppe der Frauen deutlich.

4.7.1 Religiosität und die Entstehung von (Jugend-)Subkulturen? Vor dem Hintergrund der Auswertungen der Interviews und Teilnehmenden Beobachtungen kann gesagt werden, dass die Kultur in den Frauenräumen der beiden untersuchten Moscheen von der homogenen Hegemonialkultur (Lüdtke, 1989: 114) der aserbaidschanischen Gesellschaft abweicht. Die Frauen in den Moscheeräumen unterscheiden sich dabei sowohl durch ihre Lebensweise als auch durch ihre Bekleidung. Die Gesellschaft heißt das Tragen einer Kopfbedeckung und eines langen Mantels bei jungen Frauen nicht gut, denn die gesellschaftlichen Vorstellungen bezüglich eines angemessenen Äußeren sind klar definiert214. Durch die öffentliche Demonstration von Religiosität durch einen islamischen Bekleidungsstil wird gegen die im gesellschaftlichen Leben einen hohen Stellenwert einnehmende Regel der Konformität verstoßen. Im Folgenden soll die Annahme untersucht werden, ob die beiden Frauengruppen strukturell mit dem Phänomen einer (Jugend-)Subkultur215 verglichen werden können. Kreutz hat sieben Kriterien zur Charakterisierung einer (jugendlichen) Subkultur festgelegt: „Von einer jugendlichen Subkultur kann gesprochen werden, wenn ein Interaktionssystem innerhalb der umfassenden Gesellschaft entstanden ist, das von Jugendlichen dominiert ist und zumindest in einer der folgenden Hinsichten von anderen Interaktionssystemen der gleichen Gesellschaft abweicht: Symbolwelt, Interaktionsformen, Normen, Werthaltungen, Zielsetzungen, Verhaltensmuster, Prüfkriterien für Wahrheit und Realität.“ (Kreutz, 1974: 151)

214 Wie auch schon an anderer Stelle im Text erwähnt, ist der momentane, gesellschaftlich konforme weibliche Bekleidungsstil von einer stark femininen Ausrichtung geprägt. 215 Von einer Charakterisierung als „Jugendsubkultur“ wird hier nur mit Vorbehalt gesprochen, da sich in der Gruppe der Frauen auch ältere Frauen befanden. Jedoch trifft zumindest die Beschreibung als „Subkultur“ auf die Gesamtheit der Gruppen zu und aufgrund einer großen Anzahl von jungen Frauen mit Einschränkungen auch der Begriff der „Jugendsubkultur“.

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Dabei reiche das Zutreffen eines der angeführten Aspekte, um von einer Subkultur zu sprechen. Versucht man, die „sieben Aspekte einer Kultur“ (Kreutz, 1974: 153) auf die Frauengruppen der Moschee zu übertragen, zeigt sich, dass mehrere Charakteristika zutreffen: Es besteht eine eigene Symbolwelt, die sich in einem religiösen Lebensstil manifestiert, der sich von dem Lebensstil der Hegemonialkultur deutlich unterscheidet. Diese religiöse Symbolwelt besteht aus islamischer Kleidung, im Beten und Fasten sowie in regelmäßigen Moscheebesuchen. Generell wird die islamische Kleidung von den Frauen als Zeichen einer bewussten Abgrenzung von der Mehrheitsgesellschaft getragen und entspricht damit einem weiteren Merkmal von (Jugend-)Subkulturen, einem „Kleidungscode“ (Lüdtke, 1989: 120), es lassen sich in den unterschiedlichen Gruppen außerdem spezifische Kleidungscodes bestimmen. Auch in ihren Normen und Werthaltungen, die sich u.a. in einer Ablehnung von korruptem Verhalten und „freizügiger“ weiblicher Bekleidung ausdrücken, heben sich die Frauen vom Verhalten der Mehrheitsgesellschaft ab. Die Verhaltensmuster in den Gruppen sind dabei festgelegt. Am Beispiel des Betens zeigt sich in beiden Gruppen das Wirksamwerden von Kontrolle innerhalb der Gemeinschaft. Von einer Subkultur könne laut Lütdke (Lüdtke, 1989: 116) erst gesprochen werden, wenn sie für die Mitglieder einen „eigenständigen und eindeutigen Sinnkontext“ garantiert. Dabei ist ein Hauptindikator auch die Existenz und das Funktionieren eines „eigenen Normen- und Sanktionssystems, das für die Gruppe verbindlich und identitätsstiftend ist, ungeachtet des Grades der Abweichung von der externen Kultur“ (Lüdtke, 1989): 116. In der schiitischen Frauengruppe steht die „sunnitische“ Frau Leila außerhalb der religiösen Norm und „stört“ die Identität der Gruppe. Diese Störung wird mit Ablehnung und Ausgrenzung sanktioniert. Zum „Prüfkriterium“ der Gemeinschaften wird der religiöse Lebensstil: Es finden sich in den Interviews zahlreiche Äußerungen, die die Aufwertung der eigenen Person durch die gelebte Religiosität und die Abwertung der anderen, nicht-religiösen Frauen als „moralisch minderwertiger“ zum Inhalt haben. Dabei zeigt sich außerdem, dass die jungen Frauen bereit sind, sich gegen die Vorstellungen der Elterngeneration aufzulehnen. Dies ist, wie schon an mehreren Stellen in dieser Arbeit betont wurde, im Rahmen der autoritärpatriarchalischen Struktur der aserbaidschanischen Gesellschaft durchaus ungewöhnlich. Der Vater, als Patriarch der kleinsten gesellschaftlichen Einheit, der Familie, hat unumstrittene Autorität (Hortaçsu/Bastuğ, 2000: 78). Die Orientierung des Vaters und der Tochter an unterschiedlichen Werten zeigt sich in einem Beispiel besonders deutlich: Während der Vater mit dem Spielen von westlicher Musik eine als „modern“ – hier zu verstehen als säkular oder westlich orientiert – zu bezeichnende Haltung ausdrückt, zeigt er der Tochter seine Ablehnung gegenüber ihrem Wunsch nach aktiver Religiosität. 234

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Religion und dabei vor allem die „aktive“ oder „gelebte“ Religiosität stellt in den Augen der meisten Aserbaidschaner ein der Zeit unangemessenes Verhalten dar. Die Menschen orientieren sich trotz der Betonung von traditionellen moralischen Werten und Normen innerhalb der Familie am Westen, den sie als „modern“ definieren. Indem sich die junge Frau für ein anderes Wert- und Normsystem entscheidet, wendet sie sich gleichsam von der Generation ihres Vaters ab und orientiert sich an den Gleichaltrigen ihrer religiösen Gemeinschaft. Das Ausleben von Religiosität trennt die jungen Frauen dabei nicht nur häufig von ihren Familien; die Auswertungen der Interviews zeigen auch, dass Abgrenzungen zu Gleichaltrigen in der staatlichen Schule entstehen. Die Solidarität der jungen Frauen und Mädchen beschränkt sich auf die eigene Gruppe. In dieser müssen Normen eingehalten werden, die durch die Religion bzw. die spezifische religiöse Orientierung bestimmt werden. Die Abgrenzung zu anderen religiösen Orientierungen spielt dabei in den Gruppen eine wichtige Rolle. Durch die eigene Symbolwelt und ein abweichendes Normen- und Wertesystem grenzen sich die beiden Frauengruppen auf jeweils ähnliche und gleichzeitig gruppenspezifische Weise von der restlichen Gesellschaft ab.

4.7.2 Die Moschee als sozialer Raum Theoretische Überlegungen zur sozialräumlichen Jugendpädagogik (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 20) beziehen sich auf Jugendräume und deren Funktion für Jugendliche in einer Zeit von Individualisierung und damit einhergehender Orientierungslosigkeit. Sie stellen die Frage, was soziale Räume in diesem Kontext an Orientierung und persönlichen Bezügen leisten können. Ausgehend davon soll hier gefragt werden, was die Moschee als sozialer Raum für die beiden Gruppen der jungen Frauen leistet. Wie sich in den Interviews herausstellte, befindet sich eine Mehrheit der jungen Frauen in den Moscheen in schwierigen Lebenssituationen, die von Arbeitslosigkeit und von konfliktreichen familiären Situationen geprägt sind. Deshalb wird hier die Hypothese aufgestellt, dass die Moschee den jungen Frauen als ein Ort der emotionalen Geborgenheit und des Rückzugs dient. Hier bietet sich ihnen ein Ort, an dem im Rahmen der gemeinsamen Treffen mit anderen Frauen und in Gesprächen Alltagssorgen aufgearbeitet oder zumindest geteilt werden können. Im Kontext der Untersuchung lassen sich viele Parallelen zwischen der von Böhnisch und Münchmeier beschriebenen Aneignung und Ausgestaltung von Räumen (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 23) sowie zwischen der Funktion, die die Frauenräume der Moscheen für die Gruppen gewinnen, finden. Die jungen Frauen haben mehrheitlich die üblichen institutionellen Strukturen, wie die Einbindung in den Arbeitsmarkt und die Familie, verloren. In der Mo235

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schee wird Zukunft mit Bezug auf Gott und in der eigenen Religiosität neu definiert, die Moschee steht als Raum für die Verkörperung eines neuen Sinnbezugs. Sie bietet gleichzeitig als Versammlungsort die Möglichkeit einer Integration in eine Gemeinschaft, in der Hilfe erfahren wird. Das Phänomen der Moschee als Raum mit vielfältigen sozialen Funktionen wird von dem Ethnologen Schiffauer in einem anderen Kontext, dem der türkischen Migranten in Deutschland, ebenfalls beschrieben: „[...] Moscheen waren für diese Migranten Inseln in einem Meer von Ungläubigen. Sie waren (und sind) weit mehr als religiöse Gemeinden – sie waren Selbsthilfeorganisationen. Sie waren Anlaufstellen für neue Migranten und soziale Treffpunkte. Hier konnte man Hilfe in Notfällen erhalten; [...] hier traf man Gleichgesinnte, tauschte Informationen und half sich bei der Wohnungs- und Arbeitssuche. Das Leben vieler Muslime war bestimmt von dem Dreieck Wohnung, Arbeitsplatz, Moschee.“ (Schiffauer, 2004: 14)

In der gleichzeitig spirituellen und sakralen Atmosphäre der Moschee und der gemeinsamen Praktizierung des Gebetsrituals bekommt die Moschee auch eine sozialisierende Funktion. Mit Blick auf die erzieherische Funktion von Räumen schreiben die Autoren Böhnisch und Münchmeier (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 29), dass Räume nicht nur notwendig sind, um dem Erzieher einen Ort zu geben, an dem er handeln kann, sondern dass ein Raum an sich durch seine Ausgestaltung – das setting – eine erzieherische Funktion gewinnt. Ein Raum erziehe indirekt (Böhnisch/Münchmeier, 1990: 35). Die Bedeutung der erzieherischen Funktion der Moschee wird beim Ritual des Betens deutlich. Die Frauen beobachten einander beim Beten und „verbessern“ sich gegenseitig. Vor allem die Lehrerin und ihre „Assistentin“, eine junge Frau, die sich von den anderen Frauen durch bessere Arabischkenntnisse und einen größeren Schatz an religiösem Wissen abhebt, greifen ein, wenn „falsch“ gebetet wird. Neue Frauen in der Gruppe werden von anderen auf die „Heiligkeit“ des Raumes hingewiesen, wenn sie zu lebhaft im Gespräch werden, und zur Mäßigung ermahnt. Religiosität und religiöses Verhalten werden dadurch anerzogen. Laut Böhnisch und Münchmeier suchen Jugendliche sich entsprechende sozialräumliche Kontexte, um einen „bestimmten Modus der Sozialisation“ im Sinne einer Entwicklung der Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Umwelt zu verwirklichen. Dies ist im Rahmen ihrer theoretischen Auseinandersetzung Folge von Ansprüchen der modernen Gesellschaft an die Jugendlichen. Auch die Gemeinschaft der jungen Frauen versucht meinen Interpretationen zufolge Konflikte, die sich aus gesellschaftlichen und persönlichen Schwierigkeiten ergeben, in den Räumen der Moschee zu lösen. Dabei gerät der Aspekt der „Lebensbewältigung“ in den Vordergrund: In den Räumen der Moscheen werden alternative Strukturen bzw. Le236

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benswelten aufgebaut, die als komplementär oder als Ersatz für die verloren gegangenen Strukturen und Lebenswelten in Familie und Arbeitswelt angesehen werden können.

4.7.3 Die Entstehung von Subkulturen und von sozialen Räumen: Phänomene des Wandels der Jugendphase in Aserbaidschan? Ausgehend von einer Beschreibung der Jugend in Aserbaidschan als Transition vom Kindes- ins Erwachsenenalter wurde in Kapitel II 1.2.1 in dieser Arbeit gefragt, ob die Phase der Jugend aufgrund der durch die Transformation entstandenen gesellschaftlichen Prozesse im Wandel begriffen ist. Als Ausdruck des Wandels der Jugendphase wurde das Entstehen eines Moratoriums als freiwilliger oder auch – aufgrund von Arbeitslosigkeit und erschwerter Familiengründung und damit fehlenden Zukunftsperspektiven – unfreiwilliger Verbleib im Zustand zwischen Kind- und Erwachsenensein definiert. Mit Reinders (Reinders, 2003: 51) wurde die Phase des Moratoriums als Zeit der Autonomie charakterisiert, in der ein eigener Lebensstil entwickelt wird, der zur Bewältigung des Alltags beitragen soll. Weiterhin seien Moratorien durch ihren Gegenwartsbezug und ihre Abgrenzung zur älteren Generation gekennzeichnet. Es wurde die Hypothese aufgestellt, dass Religion bzw. die Religiosität der jungen Frauen die Funktion einer inhaltlichen Ausgestaltung des entstehenden Moratoriums erhält. Dabei wurde angenommen, dass die jungen Frauen in Gruppen, die Elemente von (Jugend-)Subkulturen aufweisen, Möglichkeiten finden, die unfreiwillig entstandene Phase des Moratoriums sinnvoll zu gestalten. Die Auswertungen der Daten haben gezeigt, dass die Frauen in den religiösen Gruppen einen eigenen Lebensstil entwickeln und nach eigenen Symbolsystemen, Norm- und Werthaltungen leben, die sich von der Hegemonialkultur der Gesellschaft unterscheiden. Im Rahmen dieser spezifischen Lebensgestaltung grenzen sie sich sowohl von ihren Eltern als auch der Gesamtgesellschaft ab. Da ihre gelebte Religiosität auf Ablehnung stößt, kommt es zur Übernahme einer Protesthaltung gegenüber Familie und Freunden. Diese Ablehnung führt zu einer weiteren Förderung ihres Gemeinschaftsgefühls. Die Frauen übernehmen dabei die Funktion einer kritischen Haltung gegenüber den Verhaltensweisen der Hegemonialgesellschaft, deren Mitglieder sich zwar mehrheitlich als islamisch definieren, aber ihre Religiosität nicht im Sinne der islamischen Glaubensvorschriften konsequent und aktiv praktizieren. Die Ablehnung, die die jungen Frauen aufgrund ihrer Religiosität in der Öffentlichkeit erfahren müssen, wird von ihnen in Form einer Aufwertung der eigenen „moralischen Identität“ umgemünzt und verstärkt ihr Zusammengehörigkeitsgefühl. Die Wirkungen ihrer Gemeinschaft auf ihr Umfeld beinhal237

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ten dabei neben den negativen Reaktionen auch eine gewisse Anziehungskraft z.B. auf MitschülerInnen. Neben ihrer Ausgrenzung erfahren sie zum Teil auch eine Aufwertung, es wird ihnen, um mit den Worten der jungen Frauen selbst zu sprechen, „Respekt“ aufgrund ihrer Religiosität entgegengebracht. Anhand der theoretischen Ausführungen zu „sozialen Räumen“ von Böhnisch und Münchmeier (Böhnisch/Münchmeier, 1990) wurde angedacht, inwiefern erst durch die Nutzung der Räumlichkeiten der Moschee als Versammlungsort und als Ort der vertieften religiösen Sozialisation eine Moratoriumsphase verwirklicht werden kann. Durch die Existenz der Moschee als sozialem Raum kann sich ein eigener Lebensstil entfalten, gleichzeitig wird die Moschee zur Ersatzinstitution von Elternhaus, Schule oder Arbeitsplatz, indem in ihren Räumen eine alternative Lebenswelt aufgebaut wird. In ihren Räumlichkeiten werden in der Gemeinschaft der Frauen oder von LehrerInnen Alltagsprobleme gelöst; im Glauben und der Ausrichtung des Lebens auf Gott werden neue Orientierungsmuster geschaffen. Die Frage, ob sich im Phänomen der religiösen Gruppierungen der jungen Frauen ein Wandel der Jugendphase manifestiert, ist nach meiner Ansicht zu bejahen. Allerdings sind sie nur als eine mögliche Form der Veränderung der Jugendphase im Kontext der gesamtgesellschaftlichen Prozesse zu bewerten. Generell befindet sich die aserbaidschanische Gesellschaft in Bewegung, viele junge Menschen, die in einer vergleichbaren Situation wie die hier vorgestellten jungen Frauen sind, wenden sich nicht der Religion zu, sondern versuchen, eine Ausbildung in den westlichen Ländern zu erhalten oder im eigenen Land durch Studium und Ausbildung einen Platz in der Gesellschaft zu finden. Die Studie von Heyat (Heyat, 2002: 174) hat gezeigt, dass es auch andere Formen der „Girl Power“ – so überschreibt Heyat ein abschließendes Kapitel in ihrem Buch – gibt. In vielen Familien würden inzwischen die Kinder, die im Ausland studiert haben und ausgebildet wurden, in internationalen Organisationen und ausländischen Joint-Venture-Unternehmen das Vielfache ihrer Eltern verdienen. Dies führe, obwohl in den meisten Familien die traditionellen Familienstrukturen weitgehend unangetastet blieben, zu Veränderungen: „However, adherence to the ideal of a communal family with generational lines of authority, led by a male figurehead, has come under great pressure from demographic, social and cultural changes that have arisen in consequence of the economic breakdown and the transition to a free market.“ (Heyat, 2002: 175) Ein Wandel der Jugendphase in Aserbaidschan bzw. das Entstehen einer Jugendphase im Sinne eines Moratoriums ist in der Entwicklung begriffen. Wie auch in der westlichen Welt wird das Phänomen Jugend unterschiedliche Erscheinungsformen annehmen. Als eine davon können die Gruppen der jungen Frauen in den Moscheen gelten, die im Rückgriff auf religiöse Werte ihre Lebensform gefunden haben. Sie verkörpern exemplarisch die Suche vieler 238

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aserbaidschanischer Jugendlicher, mit denen ich gesprochen habe, nach „neuen Räumen“.

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VI Zusa mme nfass ung der Ergebnisse

1 Institutionelle islamische Bildung und mögliche Au s w i r k u n g e n a u f I n d i v i d u u m u n d G e s e l l s c h a f t i n B a k u / As e r b a i d s c h a n : Erziehung zum „wahren“ Muslim? Im Folgenden wird die Auswertung des erhobenen Datenmaterials im Hinblick auf die Untersuchungsfrage und Hypothese der Arbeit zusammengefasst. Dabei wird zuerst dargestellt, welche Bedeutung Religion und Religiosität für die Lernenden und Lehrenden in Institutionen islamischer Bildung haben. Im Anschluss daran wird die Frage beantwortet, ob es zu einer Übernahme der Islamkonzepte der Lehrenden durch die Lernenden kommt und inwieweit in diesem Zusammenhang von einem Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bzw. von einer Konversion von einer „unsichtbaren“ zu einer „sichtbaren“ Religion (Kapitel II 2) bei den Lernenden gesprochen werden kann. Im Weiteren wird die Frage nach dem möglichen Zusammenwirken der Faktoren „Transformation“, „jugendliches Alter und Funktion von Religion“ sowie „Autorität im islamischen Bildungs- und Erziehungsprozess“ im Hinblick auf eine Übernahme von Islamkonzepten bzw. einer Konversion (Kapitel II 1) vor dem Hintergrund der ausgewerteten Daten beantwortet. Im nächsten Kapitel wird die Rolle der Interaktion zwischen den Lehrenden und Lernenden zusammengefasst; die je spezifischen Resultate der Interaktionen werden aufgezeigt. Im Anschluss wird dargestellt, inwieweit sich die einzelnen Islamkonzeptionen den unterschiedlichen Institutionen zuordnen lassen. Zuletzt werden ausgehend von den Ergebnissen der eigenen Untersuchung mögliche Konsequenzen angedacht, die islamische Bildungsprozesse für die aserbaidschanische Gesellschaft haben können. 241

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

1.1 Bedeutung von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen Islamische Religion und Religiosität wird von allen Lernenden in den Institutionen islamischer Bildung im Sinne des „ibadət“ (der rituellen Glaubenspraxis) definiert. Dies ergibt sich aus den Antworten auf die Frage nach dem religiösen Werdegang. Es wird deutlich, dass alle interviewten Lernenden muslimische Religiosität nur in Verbindung mit der „orthodoxen“ Glaubenspraxis, also der Einhaltung der Glaubensvorschriften im Sinne der fünf Säulen des Islams, als „wahre“ Religiosität werten. Von Bedeutung ist dabei, dass auch ein Glaubensbekenntnis im Sinne der Anerkennung von Gott und einer Selbstdefinition als Muslim von allen befragten Lernenden nicht als ausreichend gewertet werden, um jemanden als religiöse Person zu charakterisieren. Personen, die Religiosität nicht im Sinne des „ibadət“ ausüben, jedoch an Gott glauben und sich als Muslime bezeichnen, werden von den Lernenden in den Daten als „gläubig“ (imanlı), jedoch nicht als „religiös“ (dindar) charakterisiert. Insbesondere in den Aufsätzen der SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule finden sich eindrückliche Beispiele für eine ausschließliche Definition von „wahrer muslimischer Religiosität“ im Sinne des „þibÁdÁt“ (Kapitel IV 2.4.1). Gleichzeitig findet hier, wie auch in den übrigen Daten, eine Abgrenzung gegenüber Religions- und Religiositätskonzepten statt, wie sie in der muslimisch-aserbaidschanischen Gesellschaft vorherrschen (Kapitel II 2.1.1, Kapitel I 2.1.2). Im Kontext der Auswertung der Daten wird deutlich, dass Abgrenzungen zu z.B. religiösen Praxen in der eigenen Familie, aber auch der Gesamtgesellschaft Ausdruck und Ergebnis eines veränderten Religionsverständnisses sind. Dieses Resultat gilt für die untersuchten Lernenden und Lehrenden in allen Institutionen islamischer Bildung. Jedoch ist mit Blick auf die Lehrenden zu sagen, dass sich in den Auswertungen der Interviews bei zwei Lehrpersonen, und zwar bei der Dozentin für Pädagogik und der Dozentin für Musiktheorie der Islamisch-Theologischen Fakultät, ein säkularisiertes Verständnis von Religion und Religiosität zeigt. Ihr Islamkonzept ist ein an individuellen Kriterien orientiertes Religionsverständnis und Teil einer Weltanschauung (Kapitel IV 1.5.1). Die Einhaltung der rituellen religiösen Glaubenspraxis ist für die Dozentinnen nicht Bedingung für eine Definition von Religiosität. Ihr Religionsverständnis kann damit als Ausdruck einer „unsichtbaren“ Religion im Sinne von Luckmann gesehen werden (Kapitel II 2.1). Im Gegensatz dazu steht das Islamverständnis der türkischen Dozenten, der Lehrerin an der İmam-Hatip-Schule, der DozentInnen an der Islamuniversität sowie der LehrerInnen an den Moscheen. Sie alle vertreten ein Islamkonzept, das sich an einem „offiziellen Modell“, an einem institutionalisierten Religionsverständnis 242

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

(= „sichtbare“ Religion, Kapitel II 2.2) bzw. an einem „orthodoxen“216 Islamkonzept orientiert. Obwohl auch zwischen den „orthodoxen“ Islamkonzepten der einzelnen Institutionen bzw. ihrer jeweiligen RepräsentantInnen unterschieden werden muss, ist allen gemeinsam, dass eine Definition von Religion und Religiosität keine individuellen Interpretationen der Glaubenslehren oder Entscheidungen hinsichtlich der Ausübung der Glaubenspraxis zulässt. Damit kann konstatiert werden, dass die untersuchten Personen Religion und Religiosität im Sinne des in Kapitel II 2.2.1 definierten normativen Konstrukts von islamischer Religion und Religiosität verstehen. „Religiös-Sein“ impliziert die rituelle Glaubenspraxis; eine rein individual-ethische Haltung (Nagel zit. in Tezcan, 2003: 214), wie sie z.B. von den aserbaidschanischen Dozentinnen vertreten wird, wird als Kriterium von „wahrer muslimischer Religiosität“ von der Mehrheit der Befragten ausgeschlossen.

1.2 Bedeutungswandel von Religion und Religiosität Im Folgenden wird erstens die Frage nach einem Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen beantwortet. Zweitens wird beantwortet, ob es sich bei einem möglicherweise stattfindenden Bedeutungswandel um eine Konversion von einer „unsichtbaren“ zu einer „sichtbaren“ Religion handelt. Aufgrund voneinander divergierender Resultate im Kontext der Datenauswertung wird im Weiteren nach Institutionen unterschieden.

1.2.1 Islamisch-Theologische Fakultät und İmam-Hatip-Schule Im Kontext der Auswertung der Daten zur Bedeutung von Religion und Religiosität bei den untersuchten Personen wurde deutlich, dass sich bei den befragten Lernenden der Islamisch-Theologischen Fakultät (Kapitel IV 1.5.3 c) und der İmam-Hatip-Schule (Kapitel IV 2.6.2) ein vormals bestehendes Religions- und Religiositätsverständnis mit dem Besuch einer Institution islamischer Bildung gewandelt hat. Dieser Bedeutungswandel lässt sich als ein Wandel von der muslimisch-aserbaidschanischen Form von Religiosität (Kapitel II 2.1.1) hin zu einem „orthodoxen“ (institutionalisierten) Islamverständnis bzw. hin zu einem spezifisch türkischen Islamkonzept (Kapitel IV 1.5.2, Kapitel V 1.5) beschreiben. Vor dem Hintergrund der theoretischen Ausführungen in Kapitel II 2 wird der Bedeutungswandel als Wandel von einer „unsichtbaren“ zu einer „sichtbaren“ Religion charakterisiert. 216 Siehe zur Verwendung des Begriffs „orthodox“ in der vorliegenden Arbeit auch in Fußnote 14.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

In Kapitel II. 2.3 dieser Arbeit wurden sieben Kriterien bestimmt, anhand derer ein Bedeutungswandel von Religion und Religiosität in den Daten operationalisiert werden sollte. Diese werden im Folgenden aufgegriffen. „Die subjektiven Bedeutungszuschreibungen an Religion“ (Kriterium 1): Wie in Kapitel V 1.1 bereits ausgeführt wurde, sind die Bedeutungszuschreibungen an Religion und Religiosität der befragten Personen der beiden hier im Fokus stehenden Institutionen im Sinne eines normativen islamischen Religions- und Religiositätsverständnisses zu charakterisieren, das in seinem Verständnis von Religion und Religiosität mit „orthodoxen“ Islamkonzeptionen gleichzusetzen ist (Kapitel II 2.2). „Die Definition von Religiös-Sein“ (Kriterium 2): Dies gilt im Hinblick auf den zweiten Faktor ebenso wie für eine Definition von Religiös-Sein im Sinne des þibÁdÁt. Die Bewertung der Notwendigkeit der Einhaltung von þibÁdÁt (Kriterium 3) wird, wie ebenfalls schon im vorherigen Kapitel beschrieben, als unabdingbar für eine Definition von muslimischer Religiosität angesehen. „Die Einstellung zum ziyarətgah“ (Kriterium 4): Die Praxis des ziyarətgah (religiöse Praxis der Besuche von Heiligengräbern, siehe Fußnote 58 und Fußnote 112) wurde in der vorliegenden Arbeit als typischer Bestandteil des muslimisch-aserbaidschanischen Religiositätsverständnisses (Kapitel II 2.1.1) gewertet. Mit dem Argument, dass die Praxis des ziyarətgah aus einer „orthodox“-islamischen Perspektive als „unislamisch“ beurteilt wird, wurde sie als Merkmal von „unsichtbarer Religion“ im Sinne von Luckmann verortet (Kapitel II 2.1). Vor allem in der Auswertung der Gruppendiskussion (Kapitel IV 2.5.1) der SchülerInnen der İman-Hatip-Schule wird deutlich, dass die Praxis der Heiligengräberbesuche von denjenigen SchülerInnen abgelehnt wird, die im Sinne eines „orthodoxen“ Islamkonzepts argumentieren. Im Kontext der Argumentation zeigt sich dabei auch, dass durch die Übernahme eines „orthodoxen“ Islamverständnisses im Rahmen der islamischen Bildung ein formalisiertes Verständnis von Religion entwickelt wird (Assmann, 2004: 51) (Kapitel II 2.2). Dieses formalisierte Verständnis von Religion zeigt sich, wenn z.B. in den „Gruppendiskussionen“ der SchülerInnen der İmam-HatipSchule deutlich wird, dass der Besuch von Heiligengräbern und der damit verbundene Glaube an die Erfüllung von Wünschen als „unislamisch“ und „irrationaler Aberglaube“ gewertet wird (siehe dazu die Ergänzungen in Fußnote 112). Weiterhin wurde das Kriterium der „Einschätzung der Person des Mullas217“ (Kriterium 5) als Kriterium des Bedeutungswandels operationalisiert. 217 Siehe zur „Figur“ des Mullas als Topos in der aserbaidschanischen Gesellschaft in Fußnote 149.

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ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

In den Auswertungen der Interviews insbesondere mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät (Kapitel IV 1.4.6. b) zeigt sich eine klare Reserviertheit gegenüber den religiösen Diensten der Mullas. In einigen Zitaten der Studierenden wird dabei deutlich, dass die Elterngeneration dem Mulla aufgrund ihrer Angewiesenheit auf ihn zum Vollzug von religiösen Ritualen noch einen wichtigen Platz in der Gesellschaft einräumt. Die Studierenden jedoch können die Dienste des Mullas entbehren, da sie sich durch ihre Ausbildung in der Lage sehen, die Rituale selbst auszuführen. Als „neue Fachleute“218 (Luckmann, 1991: 103-105) lehnen die Studierenden die Funktion des Mulla als Träger des „kulturellen Gedächtnisses“219 ab und verweisen auf die ausschließliche Autorität der kanonisierten Schrift (Assmann, 2004: 81), den Koran. In Kapitel II 2.2 ist ausgeführt worden, dass bei der Frage, wie es zum Wandel von einer „unsichtbaren“ zur „sichtbaren“ Religion kommt, die kanonisierte Schrift eine bedeutende Rolle spielt. Assmann schreibt dahingehend, dass die Triebkräfte des Entstehens von entdifferenzierten, unifizierten Religionen in einem Prozess der Theologisierung von kanonisierter Schrift zu finden sind. Die „lebendige, verkörperte Tradition [findet] ihren Tod in der normativen Schriftlichkeit“ (Assmann, 2004: 81). In den Auswertungen der Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät zeigt sich dabei eine Verlagerung der Autorität von der Person des Mullas auf den Koran, also auf die normative Schriftlichkeit. Im Prozess der Verschriftlichung drückt sich dabei laut Assmann ein Wandel von einer „unsichtbaren“ zu einer „sichtbaren“ Religion aus (Assmann, 2004: 69). Setzt man die „fehlende Vertrautheit der Gesellschaft mit den Schriftgrundlagen der Religion 218 Mit dem Auftauchen von „neuen Fachleuten“ charakterisiert Luckmann den Prozess der zunehmenden Institutionalisierung des „Heiligen Kosmos“ (= historisch gewachsene, der gesellschaftlichen Dynamik unterliegende Sinnsysteme, die je nach Institutionalisierungsgrad mehr oder weniger Ausdruck einer kollektiven Weltanschauung sind (Luckmann, 1991: 87ff.)). Im Laufe dieses Prozesses wird religiöses Wissen, indem es spezialisiertere Formen annimmt, dem Laien bzw. der breiten Masse weniger zugänglich und gelangt in zunehmendem Maße in die Hände von sog. Fachleuten. Diese erlangen dadurch auch die Kontrolle über religiöses Handeln und übertragen dieses wiederum an besondere Institutionen. 219 Der Mulla kann insofern als „kulturelles Gedächtnis“ im Sinne von Assmann (Assmann, 2004: 11ff., 18-19, 22ff., 38) charakterisiert werden, als er in „Abwesenheit von Text“ (was insofern symbolisch zu verstehen ist, als der „Text“ = der Koran, aufgrund des Fehlens von grundlegenden Kenntnissen islamischer Bildung, der Mehrheit der aserbaidschanischen Bevölkerung nicht vertraut und zugänglich war) die Funktion des Trägers von religiösem Wissen hatte. Stellvertretend für die Gemeinschaft „erinnerte“ er in der Durchführung von Ritualen das religiöse Wissen und reproduzierte dadurch ein Kollektiv und dessen Zusammengehörigkeit.

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

und mit dem schriftlich tradierten theologischen, juristischen und philosophischen Diskurs im Islam“ (Halbach, 2002: 25) (Kapitel I 1) mit dem Fehlen einer kanonisierten Schrift gleich, dann lässt sich die neue Bedeutung, die der Koran im Zuge der institutionellen islamischen Bildung z.B. an der IslamischTheologischen Fakultät und an der İmam-Hatip-Schule gewinnt, mit dem Entstehen einer „sichtbaren“ Religion vergleichen. Die religiöse Figur des Mulla, der zu Sowjetzeiten aufgrund der fehlenden Vertrautheit der Gesellschaft mit den Schriftgrundlagen der Religion größere Autorität in religiösen Fragen besaß, erfährt nun aufgrund der neuen Kenntnisse der Lernenden über den Koran eine zunehmende Abwertung.220 Der Mulla, der hier mit Bezug auf Assmann als „lebendige, verkörperte Tradition“ und als „kulturelles Gedächtnis“ (Assmann, 2004: 81) definiert wird, findet seinen „Tod“ demzufolge in der „normativen Schriftlichkeit“ (Assmann, 2004: 81), im vorliegenden Falle durch die „neue“ Autorität des Korans. Damit ist das sechste Kriterium, „die Bedeutung des Korans“, anhand dessen die Frage nach einem Bedeutungswandel operationalisiert werden sollte, ebenfalls beantwortet. Die veränderte Bedeutungszuschreibung an den Koran als „neue Autorität“ kann als Ausdruck des Bedeutungswandels der Studierenden und SchülerInnen hin zu einem „orthodoxen“ Islamkonzept bzw. zu einer „sichtbaren Religion“ gesehen werden. Die beiden letzten Kriterien, anhand derer ein Bedeutungswandel operationalisierbar gemacht werden sollte, sind die Haltung zu anderen religiösen Orientierungen und Religionen (Kriterium 7) und das Kriterium der Bedeutungszuschreibung an den bzw. die Propheten (Kriterium 8). Mit Blick auf die Haltung gegenüber anderen religiösen Orientierungen und Religionen lässt sich als Ergebnis der Auswertungen der Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät sagen, dass die Akzeptanz des türkischen Islamkonzepts (Kapitel IV 1.5.2) mit einer mehr oder weniger direkten Ablehnung von anderen religiösen Orientierungen verbunden ist. Diese werden von den Studierenden als „fanatisch“ bzw. „nichtobjektiv“ bezeichnet (Kapitel IV 1.4.6 b). Aus dem Kontext der Interviews und Teilnehmenden Beobachtungen heraus wird dabei deutlich, dass damit die in Aserbaidschan dominierende Form von muslimisch-aserbaidschanischer bzw. schiitischer Religion und Religiosität gemeint ist.

220 Diese These ist nur mit Einschränkungen zulässig, da der Mulla als religiöse Figur schon seit dem 19. Jahrhundert einen gesellschaftlichen Topos darstellt, der mit negativen Assoziationen versehen ist, und nicht erst im Zuge von institutionalisierter islamischer Bildung abgewertet wird (siehe auch in Fußnote 149).

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ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

Dasselbe Fazit kann mit Blick auf die SchülerInnen der İmam-HatipSchule gezogen werden: Aus den Auswertungen sowohl der Aufsätze als auch der Gruppendiskussionen wird eine Ablehnung von religiösen Orientierungen deutlich (Kapitel IV 2.4.4, Kapitel IV 2.5.2), die aus der Perspektive der Lehrerin dem monotheistischen Anspruch eines „orthodoxen“ Islamkonzeptes nicht gerecht werden. Die Auswertungen zeigen dabei, dass damit von Seiten der Lehrerin u.a. das Christentum und die schiitische religiöse Orientierung gemeint sind. In den Auswertungen der Aufsätze wird klar, dass die SchülerInnen diese Perspektive übernehmen. Auch hier lässt sich ein Bedeutungswandel anhand des Kriteriums „Haltung gegenüber anderen religiösen Orientierungen und Religionen“ zeigen: Das türkische Islamkonzept als „orthodoxes“ Islamkonzept wird übernommen, davon abweichende Formen muslimischer Religiosität abgelehnt. Hinsichtlich des letzten Faktors, der Bedeutungszuschreibung an den bzw. die Propheten, zeigt sich in den Auswertungen der Interviews bzw. der Aufsätze und Gruppendiskussionen sowohl bei den Studierenden der IslamischTheologischen Fakultät als auch bei den SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule zumindest eine verstärkte Wahrnehmung des Propheten Muhammad, die an die Stelle einer zuvor zentraleren Position des Imam Ali im Kontext der schiitischen religiösen Orientierung tritt (Kapitel IV 1.4.5.b). Allerdings muss einschränkend hinzugefügt werden, dass die Auswertung der Daten zeigt, dass eine Ablehnung z.B. der zwölf Imame, die sich vor allem auf Seiten der Lehrpersonen zeigt (Kapitel IV 1.4.3 b), auf Widerstand bei den Studierenden stößt und somit von einer vorbehaltlosen Übernahme des türkischen Islamkonzepts und damit von einem Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bzw. von einer Konversion bei den Lernenden immer auch mit einer gewissen vorsichtigen Zurückhaltung gesprochen werden muss.

1.2.2 Islamuniversität Bei den befragten Personen der Islamuniversität kommt es zu keinem Bedeutungswandel ihres Religions- und Religiositätsverständnisses mit dem Besuch einer Institution islamischer Bildung (Kapitel IV 3.8.1) – zumindest zu keinem, der sich als Wandel von einer „unsichtbaren“ zu einer „sichtbaren Religion“ charakterisieren lässt. Wie in den Auswertungen der Interviews deutlich wurde, ist die Mehrzahl der Studierenden bereits in der Kindheit religiös sozialisiert worden (Kapitel IV 3.7.1 c) und unterscheidet sich in ihrem „ReligiösSein“ von der typisch „muslimisch-aserbaidschanischen“ Form von Religiosität (Kapitel IV 3.7.2). Die Studierenden der Islamuniversität haben bereits bei Aufnahme des Studiums ein „orthodoxes“ Islamverständnis. Die Studierenden übernehmen jedoch das an der Institution vertretene Konzept eines „einheitlichen, aserbaidschanischen Islams“ und damit erfährt ihr Religionsverständnis 247

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

auch einen spezifischen Wandel (Kapitel IV 3.8.2). Weitere Ausführungen dazu folgen in Kapitel V 1.3.3 und in Kapitel V 1.5.

1.2.3 Moscheen Die Frauen in den Moscheen haben ein „orthodoxes“ Islamverständnis (Kapitel IV 4.6.3). Die ausgewerteten Daten zeigen, dass sie gemäß Assmanns Ausführungen vergleichbar „den religiösen Kosmos [...] in den Rang einer letztfundierenden, alles Wissen und Handeln determinierenden Wirklichkeit [erheben] und [...] den Unterschied zwischen unsichtbarer und sichtbarer Religion auf[heben]“ (Assmann, 2004: 51), wenn sie in den Moscheeräumen z.B. den „nicht-islamischen“ Lebensstil der muslimisch-aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung als generell „unmoralischen“ Lebensstil bezeichnen und dabei die eigene Lebensweise als „moralischer“ und höherwertiger aufgrund der eigenen „orthodox“ gelebten Religiosität werten. Im Hinblick auf einen möglichen Bedeutungswandel ihrer Religions- und Religiositätsverständnisse ist aufgrund der vorliegenden Daten jedoch keine verallgemeinernde Aussage möglich. Es ließ sich nicht feststellen, ob sie vor ihrem Eintritt in die jeweilige Moscheegemeinde eventuell andere Islamkonzeptionen vertreten haben. Demzufolge kann nicht gesagt werden, inwiefern sich das Islamverständnis der befragten Personen in den Moscheen im Kontext einer islamischen Bildung verändert hat.

1.2.4 Fazit: Bedeutungswandel als Konversion? „Aserbaidschanisch-muslimische“ Religiosität wurde in dieser Arbeit im Sinne von Luckmann als „unsichtbare“ („nicht-instiutionalisierte“) Religion charakterisiert. Sie wurde dabei als eine Form von muslimischer Religiosität verstanden, die sich von „orthodoxen“ („institutionalisierten“) Formen von islamischer Religion und Religiosität unterscheidet. Mit Luckmann wurde sie als säkularisiertes Religionsverständnis bezeichnet, da sich von Seiten der Gläubigen an keinem offiziellen Modell von Religion orientiert wird (Kapitel II 2.1) und die eigene Religion und Religiosität damit weniger anhand der Einhaltung von Glaubensvorschriften festgemacht wird, sondern mehr Ausdruck einer individual-ethischen Haltung ist. „Sichtbare“ Religion im Gegensatz zu „unsichtbarer“ Religion wurde mit Assmann im Anschluss an die Ausführungen von Luckmann als „die in spezifischen Institutionen des Kultes und Priestertums sichtbar gewordene Religion, die innerhalb des Weltganzen die speziellen Aufgaben des Umgangs mit dem Heiligen und der Verwaltung der Heilsgüter wahrnimmt“, definiert (Assmann, 2004: 46). Dabei wurde in der eigenen Arbeit die Annahme von Assmann übernommen, dass im Luckmannschen Begriff der unsichtbaren Religion eine Unterscheidung innerhalb des Religionsbegriffs vorliegt. Unsichtbare Religion bei Luckmann sei dabei laut 248

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

Assmann „die übergeordnete unsichtbare Religion, die das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft und zur ,Welt‘ bestimmt“ (Assmann, 2004: 46). Diese Unterscheidung innerhalb des Religionsbegriffes diente in der vorliegenden Arbeit als analytische Grundlage, um einen Bedeutungswandel als Konversion aufzuzeigen. Es wurde dabei „muslimisch-aserbaidschanische“ Religion und Religiosität als eine eigene Form von Religion bestimmt und gefragt, inwieweit die Übernahme eines „orthodoxen“ Islamkonzeptes einer Konversion (also dem Wechsel zu einer neuen Religion) gleichkommt. Dabei wurde angenommen, dass die Übernahme eines „orthodoxen“ Islamkonzeptes dann als Konversion zu bezeichnen ist, wenn mit ihr im Sinne der Definition von Wohlrab-Sahr eine Neustrukturierung von alten und neuen Inhalten sowie eine radikale Veränderung der „Struktur“ der Weltsicht bzw. der Deutungsmuster einhergeht (Kapitel II 2). Diese Wandel der Deutungsmuster können ausgelöst werden durch Erfordernisse der sozialen Interaktion, eine Situation, mit der sich insbesondere die befragten Personen der IslamischTheologischen Fakultät und der İmam-Hatip-Schule konfrontiert sehen, von der aber auch die Frauen in den Moscheen betroffen sind. Denn wie in der Arbeit gezeigt wurde, müssen sich sowohl die Studierenden der IslamischTheologischen Fakultät als auch die SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule mit einem Studium der islamischen Theologie bzw. mit dem Besuch einer religiösen Schule auseinandersetzen und aufgrund der Lebenssituation eine Haltung zur islamischen (Aus-)Bildung entwickeln (Kapitel IV 1.3, Kapitel IV 2.6.1). Auch die Frauen in den Moscheen sehen sich in gewisser Weise „Erfordernissen der sozialen Interaktion“ gegenüber, wenn sie in sozial schwierigen Situationen wie Arbeits- und Ehe- bzw. Kinderlosigkeit den von der Gesellschaft gesetzten Normen und Werten nicht entsprechen können (Kapitel II 1.2.1). Das soziale Umfeld der Moscheengemeinden stellt vor diesem Hintergrund alternative Lebensentwürfe durch ein religiöses (Er-)Leben bereit. Für die befragten Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät und einen Teil der SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule kann angenommen werden, dass sie mit einem Bedeutungswandel ihrer Religions- und Religiositätsverständnisse eine Konversion vollziehen. Vor allem die in den Daten beschriebenen Auseinandersetzungen mit ihrem familiären und gesellschaftlichen Umfeld (Kapitel IV 1.4.6, Kapitel IV 1.4.7, Kapitel IV 2.4.3) geben Hinweise darauf, dass ihre durch die islamische (Aus-)Bildung abgewandelten Deutungsmuster nicht mehr konform sind mit denen ihrer Elternhäuser bzw. der Mehrheitsgesellschaft. Die Gruppendiskussionen an der İmamHatip-Schule zeigen, dass der Koran und das Leben des Propheten alleinige Deutungsmacht für die SchülerInnen erhalten und die Eltern in ihrer normund wertsetzenden Funktion in den Hintergrund treten. Die Deutungsmacht des Korans respektive der Lehrerin und der Schule wird dabei nicht kritisch hinterfragt. „Abweichende“ Lehren wie religiöse Abspaltungen, aber auch 249

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Vorgängerreligionen werden gemäß den im Unterricht vermittelten Inhalten als „falsch“ und Irrglauben bezeichnet (Kapitel IV 2.6.4): im Sinne einer Konversion nach Wohlrab-Sahr kommt es bei den Befragten zu einer Neustrukturierung von alten und neuen Inhalten sowie zu einer radikalen Veränderung der „Struktur“ der Weltsicht bzw. der Deutungsmuster. Ebenso zeigen die Daten, dass sich die Frauen in ihrem religiösen Umfeld gleichsam eine „neue“ Kultur erschließen (Kapitel IV 4.7), wobei in der vorliegenden Arbeit „Kultur“ im Sinne eines „Orientierungssystems“ definiert wurde (siehe Fußnote 94). Allerdings ist es bei den befragten Frauen in den Moscheen, wie schon erwähnt, problematisch, von einer Konversion zu sprechen, da eventuell frühere Islamkonzeptionen nicht bekannt sind. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät und die SchülerInnen der İmam-HatipSchule deutliche Tendenzen zeigen, zum türkischen Islamkonzept der Religionsdozenten bzw. der Lehrerin zu konvertieren. Während sich für die Studierenden der Islamuniversität nicht sagen lässt, dass sie konvertieren und ihr Religions- und Religiositätsverständnis auch keine radikale Veränderung erfahren hat, kann mit Blick auf die befragten Frauen in den Moscheen zumindest die Aussage getroffen bzw. die Hypothese aufgestellt werden, dass sich ihre Islamkonzeptionen wesentlich von den Formen muslimisch-aserbaidschanischer Religiosität der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden und ihren Islamkonzepten unter Umständen eine Konversion vorausgegangen ist.

1.3 Das Zusammenwirken von Transformation, Jugend und islamischer Bildung als Ursache eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion Ein weiteres Ziel bzw. eine weitere Frage dieser Arbeit war es, die Daten mit Blick auf ein Zusammenwirken von Transformationsprozess, jugendlichem Alter und Funktion von Religion sowie der Rolle von Autorität im Prozess islamischer Bildung und Erziehung als mögliche Ursache eines Bedeutungswandels von Religion und Religiosität bzw. einer Konversion zu analysieren. Dabei wurde angenommen, dass eine möglicherweise aufgrund des jugendlichen Alters der Befragten existierende Sinnsuche und Weltorientierung durch wirtschaftliche und psychologische Prozesse des Transformationsprozesses verstärkt werden könnte und eine religiöse Bildung und Erziehung dabei alternative Sinn- und Weltanschauungsstrukturen eröffnen würde. Mit Blick auf die ausgewerteten Daten lässt sich sagen, dass eine differenzierte Betrachtung notwendig wird um zu sagen, inwieweit es zu einem Zusammenwirken der drei genannten Aspekte kommt. Es soll daher mit Bezug auf die einzelnen Institutionen und die darin befragten Personen unterschieden werden. 250

ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE

1.3.1 Islamisch-Theologische Fakultät Die Interviewauswertungen zeigen, dass sich die Studierenden an der Islamisch-Theologischen Fakultät zumindest bei Aufnahme des Studiums mehr oder weniger unfreiwillig mit ihrer religiösen Ausbildung und ihrem zukünftigen Beruf als ReligionslehrerIn arrangieren mussten. Das hängt damit zusammen, dass sie keine freie Studienfachwahl haben und zum Theologiestudium zugeteilt werden (Kapitel IV 1.3). Jedoch lässt sich gleichzeitig festhalten, dass sich im Laufe des Studiums die Haltung zumindest der interviewten Studierenden zu ändern beginnt und sie zahlreiche positive Aspekte der islamischen (Aus-)Bildung „entdecken“. Sowohl der Zugewinn an islamischer Bildung selbst als auch die Begleitumstände an der Institution erzeugen eine große Zustimmung bis hin zur Begeisterung über das Studium. Dabei werden die islamische Bildung und der damit in Zusammenhang stehende zukünftige Beruf den Auswertungen zufolge von den befragten Studierenden als Möglichkeit interpretiert, in der Gesellschaft Veränderungen zu bewirken. Die Institution selbst und dabei vor allem die türkischen Lehrkräfte werden im Unterschied zu den aserbaidschanischen DozentInnen als korruptionslos und „nicht-sowjetisch“ im Sinne von freundschaftlich und kameradschaftlich verstanden (Kapitel IV 1.5.2 a). Demzufolge kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass der Transformationsprozess und das jugendliche Alter der Studierenden insoweit eine Rolle spielen, als die Islamisch-Theologische Fakultät weniger von den negativen Auswirkungen des Transformationsprozesses auf den Bildungssektor betroffen ist, da z.B. der Faktor Korruption keine oder nur eine geringe Rolle spielt (Kapitel I 2.2). Außerdem kann die Hypothese formuliert werden, dass das jugendliche Alter der Studierenden (Kapitel IV 1.5.3 a) und eine damit „einhergehende Offenheit sich neu zu definieren“ (Liegle/Melzer, 1991: 236) sowie die Suche nach einer neuen „Ideologie“ (definiert als „Zugehörigkeit“ und „klare Weltanschauung“, Kapitel II 1.2.3) die Studierenden ein großes Interesse für die islamische Bildung entwickeln lässt, in der sie ein Potential sehen, gesellschaftliche Veränderungen umzusetzen. Hierbei sei das Beispiel des Mullas genannt, gegenüber dem sich die Studierenden aufgrund seiner religiösen Ungebildetheit sowie den daraus entstehenden gesellschaftlichen Konsequenzen kritisch äußern und den zu ersetzen sie sich nun aufgrund ihrer Ausbildung in der Lage sehen. Letztendlich kann im Falle der Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät auf die Frage nach einem Zusammenwirken von Transformation, jugendlichem Alter und islamischer Bildung und Erziehung als Ursachen für einen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität die Antwort gegeben werden, dass es zu einem Zusammenwirken der genannten Faktoren insofern kommt, dass eine Konversion zum türkischen Islamkonzept der Religionsgelehrten begünstigt wird (Kapitel V 1.5.3 e). 251

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

1.3.2 İmam-Hatip-Schule Für die SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule ist die Frage nach dem Zusammenwirken der genannten Faktoren nur im Hinblick auf den Aspekt des Transformationsprozesses und der Funktion von islamischer Bildung und Erziehung relevant. Der Aspekt des jugendlichen Alters spielt keine Rolle, da es sich bei den SchülerInnen nicht um Jugendliche, sondern um Kinder (12 bis 13 Jahre alt) handelt. Als Ergebnis der Auswertungen der SchülerInnenaufsätze lässt sich sagen, dass auch im Falle der İmam-Hatip-SchülerInnen die negativen Auswirkungen des Transformationsprozesses indirekt als Ursache des Bedeutungswandels bzw. einer Konversion eine Rolle spielen. Denn aus den Auswertungen der Aufsätze geht hervor, dass die Gründe der Eltern, ihre Kinder auf eine Schule mit einem Schwerpunkt auf religiöser Bildung zu schicken, u.a. in dem besseren Ausbildungsstandard der İmam-Hatip-Schule zu suchen sind (Kapitel IV 2.6.1). Dementsprechend stehen hier Transformationsprozess und islamische Bildung und Erziehung in einem Zusammenhang.

1.3.3 Islamuniversität Mit Blick auf die Studierenden der Islamuniversität wurde in (Kapitel V 1.2.2) schon festgehalten, dass ein Bedeutungswandel in der in dieser Arbeit zugrunde gelegten Definition von „unsichtbarer“ zu „sichtbarer“ Religion nicht stattfindet. Es wurde weiterhin gesagt, dass dennoch ein anders gearteter Bedeutungswandel stattfindet, der zur Übernahme des Konzepts eines „aserbaidschanischen Islam“ durch die Studierenden führt und im Kontext dessen das Ziel einer „Einheit der Gesellschaft“ verfolgt wird (Kapitel IV 3.8.2). Wie die Auswertungen der Interviews mit DozentInnen und Studierenden der Islamuniversität gezeigt haben (Kapitel IV 3.6.2 f, Kapitel IV 3.7.2 a, Kapitel IV 3.8.2), ist das Konzept des „aserbaidschanischen Islams“ die Antwort der Islamuniversität auf die Entwicklungen auf dem islamischen Bildungssektor. Die Institution will mit diesem Konzept einer Spaltung der Gesellschaft entlang der unterschiedlichen religiösen Orientierungen Sunnitentum und Schiitentum entgegenwirken, indem z.B. religiöse Inhalte beider Orientierungen in das Curriculum aufgenommen werden (Kapitel IV 3.5). Im Unterschied zu den anderen hier vorgestellten Institutionen islamischer Bildung ist die Islamuniversität eine „rein“ aserbaidschanische Institution (Kapitel I 2.1.1, Kapitel I 2.2.1, Kapitel IV 3.2). Die Entwicklungen auf dem islamischen Bildungssektor stehen wiederum mit dem Transformationsprozess und den daraus resultierenden gesellschaftlichen Veränderungen in einem Zusammenhang (Kapitel I 2.1.1). Somit kann im Hinblick auf die Institution der Islamuniversität bzw. die Studierenden festgehalten werden, dass im Hinblick auf ein Zusam252

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menwirken der Faktoren Transformationsprozess, jugendliches Alter und islamische Bildung und Erziehung als mögliche Ursachen eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion zum einen differenziert werden muss hinsichtlich der Art des Bedeutungswandels der Religions- und Religiositätskonzepte. Zum anderen lässt sich jedoch im Kontext des spezifischen Bedeutungswandels sagen, dass der Faktor „Transformationsprozess“ die ausschlaggebende Rolle für die Übernahme des Islamkonzeptes der Islamuniversität durch die Studierenden spielt, da sie mit der Übernahme des Konzepts des „aserbaidschanischen Islams“ den durch den Transformationsprozess ausgelösten Entwicklungen auf dem islamischen Bildungssektor entgegenzuwirken hoffen.

1.3.4 Moscheen Das Resultat der Auswertungen der Interviews und Teilnehmenden Beobachtungen in den Moscheen im Hinblick auf die Frage nach einem möglichen Zusammenwirken von Transformationsprozess, jugendlichem Alter und islamischer Bildung und Erziehung als Ursachen eines Bedeutungswandels von Religion und Religiosität ist, dass bei den befragten Frauen diese Faktoren zusammenwirken, wenn man von der Annahme ausgeht, dass ihre jetzigen Islamkonzepte Ergebnis eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion sind. Auch wenn sich in den ausgewerteten Daten nicht wie im Falle der drei anderen Institutionen festmachen lässt, ob das Islamverständnis der befragten Frauen früher ein „nicht-,orthodoxes‘“ im Sinne der muslimischaserbaidschanischen Form von Religion und Religiosität gewesen ist, besitzt diese Annahme insofern Berechtigung, da sich die befragten Frauen deutlich von Religiositätsformen der aserbaidschanisch-muslimischen Mehrheitsgesellschaft distanzieren (Kapitel IV 4.6.3). Weiterhin legt die Auswertung der Daten hinsichtlich der Frage nach dem religiösen Werdegang den Schluss nahe, dass im Falle vieler interviewter Frauen biografische Herausforderungen des Transformationsprozesses (Kapitel II 1.1) mit Hilfe der Religion und durch ein religiöses Leben verarbeitet und positiv aufgefangen werden konnten (Kapitel II 1.2.2). Im Umfeld der Moscheegemeinde können dabei religiöse Lebensformen verwirklicht werden, die einen alternativen Lebensentwurf in der Gesellschaft ermöglichen. Denn diese gibt zwar klare normative Strukturen hinsichtlich der Lebensgestaltung vor, aufgrund von sozioökonomischen Schwierigkeiten, die im Zusammenhang mit dem Transformationsprozess stehen, ist es jedoch vielen jungen Menschen unmöglich, ein „normales“ Leben im Sinne dieser Normen aufzubauen. Die Auswertungen der Interviews zeigen, dass die Moscheen einen Rückzugsort darstellen (Kapitel IV 4.7.2) und eine Gemeinschaft bereitstellen, zu der sich die befragten Frauen zugehörig fühlen und in der sie Anerkennung 253

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finden (Kapitel IV 4.6.3 a). Die islamische (Aus-)Bildung und Erziehung wiederum vermittelt nicht nur eine alternative Lebensform, sondern ermöglicht es den Frauen zudem, ein Gefühl der moralischen Überlegenheit gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu entwickeln und darüber gleichsam im Kontext einer Subkultur neue Formen von Identität zu verwirklichen (Kapitel IV 4.7.3).

1.4 Die Rolle der Interaktion zwischen Lernenden und Lehrpersonal im Hinblick auf einen Bedeutungswandel bzw. eine Konversion Die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrpersonal im Hinblick auf den Wandel der Islamverständnisse zeigt sich in den ausgewerteten Daten von großer Bedeutung. Vor allem die Funktion der Lehrenden als Vorbilder und Autoritäten spielt dabei im Hinblick auf einen Bedeutungswandel der Religions- und Religiositätskonzepte bzw. auf eine Konversion hin zu „orthodoxen“ Islamkonzepten eine wichtige Rolle.

1.4.1 Islamisch-Theologische Fakultät Als Resultat der Auswertungen der Interviews mit den Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät ist festzuhalten, dass die Interaktion zwischen den Lehrkräften und den DozentInnen im Hinblick auf die Vermittlung der Lehrinhalte den entscheidenden Ausschlag gibt (Kapitel IV 1.5.3). Dabei zeigt sich, dass nicht die aserbaidschanischen DozentInnen, deren Verhalten von den Studierenden in einem negativ konnotierten Sinne als „sowjetisch“ und „offiziell“ sowie als „unnahbar“ bezeichnet wird, sondern die türkischen Dozenten als Vorbilder angenommen werden. Diesen werden von den Studierenden die Attribute „freundschaftlich“ und „nicht-offiziell“ sowie „nicht-korrupt“ und „sozial“ bzw. „kollegial“ zugeschrieben (Kapitel IV 1.4.6). Auch der methodische Ansatz der türkischen Religionsdozenten bei der Vermittlung ihrer Unterrichtsinhalte ruft bei den Studierenden Zustimmung hervor. Die Dozenten betonen den Aspekt der Wissenschaftlichkeit und Rationalität in der Auseinandersetzung mit der Religion bzw. „ihrem“ Islamkonzept (Kapitel IV 1.5.2 a, Kapitel V 1.5.1). Des Weiteren vermitteln sie, dass der Zugang zur Religion selbstbestimmt sei, indem sich religiöses Wissen durch Lesen angeeignet werde und danach der Beurteilung des Einzelnen obliege (Kapitel IV 1.5.2 a). Vor dem Hintergrund, dass die Studierenden in einem säkularisierten Bildungssystem sozialisiert worden sind (Johnson, 2004a: 23), liegt die Annahme nahe, dass die Assoziation der religiösen Unterrichtsinhalte mit Rationalität und Wissenschaftlichkeit gegenüber dem in der Gesellschaft mehr spirituell-emotional, von traditionellen volksislami254

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schen Elementen geprägten, aserbaidschanischen Zugang zu Religion und Religiosität auf größere Resonanz bei den Studierenden stößt. Zusammen mit den positiven Zuschreibungen, die die türkischen Dozenten auf der zwischenmenschlichen Ebene erfahren, wird ihnen auf einer beruflichprofessionellen Ebene größere Kompetenz als den „alten“ Autoritäten wie dem Mulla oder den Eltern zugeschrieben. Die Dozenten besitzen damit Autorität sowohl auf einer persönlich-charismatischen Ebene als auch auf der Ebene der Zuschreibung von Autorität aufgrund von Qualifikation, so dass es zu einer „freiwilligen Folgsamkeit“ (Kron, 1990: 397; Schrott, 2003: 288) der Studierenden gegenüber den Dozenten kommt, die ihnen als Vorbild dienen (Kapitel II 1.3.1). Dazu kommt die Sozialisation der Studierenden in einer traditionell patriarchalischen Gesellschaft, in denen Autoritätsverhältnisse im mikro- und makrosozialen Bereich charakteristischer Bestandteil der Gesellschaftsstruktur sind, was eine gewisse Disposition der Studierenden gegenüber Autoritäten schafft (Kapitel IV 1.5.3 b). Zusammen mit den inhaltlichen Aspekten des türkischen Islamkonzepts der Religionsdozenten, auf das in Kapitel V 1.5.1. nochmals ausführlicher eingegangen wird, wird der Faktor der Autorität in der dargelegten Art und Weise im Hinblick auf einen Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bzw. eine Konversion bei den Studierenden wirksam.

1.4.2 İmam-Hatip-Schule „Autorität“ als Faktor im Prozess der islamischen Bildung und Erziehung (Kapitel II 1.3) spielt im Hinblick auf die Frage nach möglichen Ursachen eines Bedeutungswandels bzw. einer Konversion auch bei den SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule eine bedeutende Rolle (Kapitel IV 2.6.3). Die Auswertungen der SchülerInnenaufsätze zeigen, dass ihre Lehrerin eine Vorbildfunktion bei den SchülerInnen einnimmt. Es wird weiterhin deutlich, dass in Gesprächen über religiöse Fragen im Elternhaus die Autorität der Eltern von Seiten der SchülerInnen in Frage gestellt wird. Insbesondere die religiöse Ausbildung der Lehrerin und die daraus resultierende Fähigkeit, in religiösen Angelegenheiten im Vergleich zu den Eltern auf einer „Wissensebene“ und nicht auf einer „Gefühlsebene“ argumentieren zu können, tragen zu einem Autoritätsgewinn der Lehrerin bzw. ihrem Islamkonzept gegenüber dem Elternhaus und den dort vorherrschenden Religions- und Religiositätsverständnissen bei. Auch hier wird einer Person aufgrund von fachlicher Qualifikation Autorität zugesprochen bzw. Autorität wird als freiwillige Folgsamkeit gegenüber einer Person, die Vorbildfunktion besitzt, generiert (Kapitel II 1.3.1). Des Weiteren kommt der Faktor der Autorität der religiösen Quellen Koran und Sunna zum Tragen, da die Auswertungen der Aufsätze zeigen, dass deren autoritative Kraft gemäß einer vorherrschenden offiziellen Lehrmei255

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nung der Präexistenz des Koran (Mihiçiyazgan, 2003: 126) von den SchülerInnen nicht in Frage gestellt wird. In der Konsequenz daraus wird der Lehrerin, die den Koran kennt und ihre Bildungsinhalte aus dem Koran bezieht, in religiösen Fragen größere Autorität zugesprochen als den Eltern. Die Unfähigkeit der Eltern, den Argumenten der Kinder, die diese von der Schule mit nach Hause bringen, überzeugende Gegenargumente entgegenzusetzen (Kapitel IV 2.4.3), erinnert an Konflikte, die zwischen einer von Schiffauer untersuchten Gruppe von Jugendlichen mit türkischem Migrationshintergrund, die sich mit „orthodoxen“ Formen von islamischer Religiosität auseinandergesetzt haben, und ihren Eltern entstanden sind: Eine Gruppe von Jugendlichen der zweiten Einwanderergeneration wendet sich dabei von der ersten Generation (der Eltern) ab. Hintergrund ist der Verlust der elterlichen Autorität, die mit ihrem „unsystematischen Wissen“ gegenüber einem „systematischen“, in Bildungsinstitutionen (wie z.B. der Moschee) erworbenen Wissen bei den Jugendlichen respektive ihren Kindern keine Anerkennung mehr finden: „Hier wird die Autorität eines systematischen, in Kursen angeeigneten Wissens gegen unsystematisches, autodidaktisch erworbenes Wissen in Anschlag gebracht. Letzteres gerät damit hoffnungslos in die Defensive. Gegenüber den sich auf Texte beziehenden Argumenten der zweiten Generation haben die Metaphern und Geschichten der ersten Generation keinerlei Überzeugungskraft mehr.“ (Schiffauer, 2001)

Auch in Aserbaidschan bringt der Wechsel der Autorität von den Eltern zur Lehrerin bzw. zur Schule zum Teil weit reichende Folgen für die Generationenbeziehung mit sich. Dies zeigt sich in der Auswertung der Daten, wenn z.B. einzelne SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule, vom Islamkonzept der Schule überzeugt, den Eltern zu Hause vorwerfen, keine „wahren Muslime“ zu sein. Zeichen beginnender Identitätskonflikte zeigen sich auch bei SchülerInnen, die nicht mehr wissen, an welcher Autorität sie sich in religiösen Fragen orientieren sollen (Kapitel IV 2.4.3). Zusammenfassend kann gesagt werden, dass im Hinblick auf einen Bedeutungswandel der Religions- und Religiositätskonzepte bzw. einer Konversion bei den İmam-Hatip-SchülerInnen dem Wechsel der Autoritätsverhältnisse große Relevanz beigemessen werden muss.

1.4.3 Islamuniversität Die Interaktion zwischen den DozentInnen und den Studierenden der Islamuniversität hat im Hinblick auf den „spezifischen“ Bedeutungswandel (Kapitel V 1.2.2) des Religions- und Religiositätsverständnisses der Studierenden 256

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eine wichtige Funktion. Es zeigt sich jedoch, dass die Studierenden zwischen den DozentInnen Unterschiede machen. Während sie sich den Erziehungsund Bildungszielen der aserbaidschanischen DozentInnen gegenüber offen zeigen, lehnen sie die Reformversuche des Arabischdozenten aus Jordanien ab (Kapitel IV 3.6.1) Seine Versuche, eine „Reform“ in Richtung einer größeren Autonomie von Denk- und Meinungsbildungsprozessen bei den Studierenden anzustoßen, scheitern an deren Widerstand. Vor dem Hintergrund der ausgewerteten Daten wurde in diesem Zusammenhang vermutet, dass die Studierenden der Islamuniversität aufgrund ihrer religiösen Sozialisation (Kapitel IV 3.7.1) sowohl in den Familien als auch in Medresen schon vor der Aufnahme des Studiums an der Islamuniversität in bestehenden konservativen Denkmustern verhaftet waren und keine Bereitschaft zeigen, sich aus diesen zu lösen. Als ein weiterer Grund für das Scheitern des Arabischlehrers aus Jordanien, eine Diskussions- und Argumentationskultur im Unterricht zu verwirklichen, wurde die langjährige Sozialisation der Studierenden in Bildungsinstitutionen gesehen, die von sowjetisch-didaktischen Lehrformen wie der Betonung von Auswendiglernen und dem Fehlen von diskursiver Auseinandersetzung geprägt waren (Grant, 1966: 122-124) und die bis heute auf dem aserbaidschanischen, säkularen und islamischen Bildungssektor dominierend bei der Unterrichtsgestaltung sind (Kapitel IV 3.6.1 c). Im Gegensatz dazu geht aus der Auswertung der Daten hervor, dass die Studierenden das Konzept des „aserbaidschanischen Islams“ der beiden aserbaidschanischen DozentInnen (Kapitel IV 3.6.2 f, Kapitel IV 3.6.3 e) übernehmen. Die Studierenden integrieren das Konzept insofern als wesentlichen Bestandteil ihrer zukünftigen beruflichen Identität, indem sie es übereinstimmend als wichtigste Aufgabe in ihrem späteren Berufsleben bezeichnen, den „aserbaidschanischen Islam“ in der Gesellschaft zu verbreiten (Kapitel IV 3.8.1, Kapitel IV 3.8.2). Ohne dass sich genau bestimmen lässt, welches Element der Interaktion zwischen den aserbaidschanischen DozentInnen und den Studierenden zur Akzeptanz des Konzepts des „aserbaidschanischen Islams“ führt, lässt sich als Ergebnis festhalten, dass es zur Übernahme dieses Konzepts und zur Ablehnung der „Reformbestrebungen“ des Arabischdozenten aus Jordanien kommt.

1.4.4 Moscheen In den Moscheen spielt die Interaktion zwischen den LehrerInnen und den „SchülerInnen“ bzw. den (jungen) Frauen eine wichtige Rolle. Auch wenn die Interaktion aus bereits dargelegten Gründen nicht mit Blick auf den Bedeutungswandel von Religion und Religiosität bzw. eine Konversion beantwortet werden kann, haben sowohl die Lehrerin Nergiz der Lesgi-Moschee als auch der Lehrer Səməd Bəy der Cuma-Moschee eine bedeutende Funktion im Hin257

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blick auf den Gruppenzusammenhalt und die Herausbildung einer je spezifischen Gruppenidentität. Es zeigt sich, dass in der Frauengruppe der Lesgi-Moschee durch die Person der Lehrerin ein intensives Gemeinschaftsgefühl entsteht und die Gruppe zum symbolischen Rückzugsort von Alltagsproblemen, aber auch der Gesellschaft an sich wird (Kapitel IV 4.6.3 a). Im Zusammenhang mit der Datenauswertung zur Cuma-Moschee wiederum wurde aufgezeigt, wie der Lehrer Səməd Bəy, indem er die Einhaltung der islamischen Glaubensvorschriften als vorrangig auch vor zwischenmenschliche Belange setzt, die islamische bzw. schiitische Religion und Religiosität zum wichtigsten Bindeglied zwischen den einzelnen Mitgliedern der Gruppe macht und dadurch eine hohe Exklusivität innerhalb der Gruppe erzeugt (Kapitel IV 4.6.3 a). An den Auswertungen der Daten zu beiden Gruppen kann man sehen, dass im Kontext von normativen Interaktions- und Wertsystemen, zu deren Etablierung bzw. Aufrechterhaltung die LehrerInnen einen wichtigen Beitrag leisten, eine Abgrenzung gegenüber der Familie, gegenüber den Schulkameraden und Freunden bzw. der Mehrheitsgesellschaft an sich von den Befragten nicht nur hingenommen, sondern zum Teil auch angestrebt wird (Kapitel IV 4.6.3 b, Kapitel IV 4.6.3 c).

1.5 Zuordnung von spezifischen Islamkonzepten zu einzelnen Institutionen Im Zuge der Auswertungen der Daten wurde deutlich, dass hinsichtlich der Islamkonzeptionen von Institution zu Institution differenziert werden muss, da sich mit Ausnahme der Islamisch-Theologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität und der İmam-Hatip-Schule die Islamkonzeptionen der einzelnen Institutionen voneinander unterscheiden. Es lassen sich mit Blick auf die vier verschiedenen untersuchten Typen von Institutionen drei verschiedene Islamkonzepte als Ergebnis der Datenauswertung feststellen.

1.5.1 Islamisch-Theologische Fakultät Ergebnis der Untersuchung ist, dass die türkischen Dozenten ein Islamkonzept an der Islamisch-Theologischen Fakultät vertreten, das als İslamin özü bezeichnet wird (Kapitel IV 1.4.3). Diese Bezeichnung, die einer der Dozenten explizit und der andere implizit verwendet, steht für einen Islam, der über den Rechtsschulen, steht. Das Konzept hat laut der Aussagen der Dozenten den Anspruch, unabhängig von einer sunnitischen oder schiitischen Orientierung zu sein. Es konzentriere sich nur auf den eigentlichen „Kern des Islams“, nämlich den Koran und das Leben des Propheten. 258

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In einer weiterführenden Interpretation der Daten wurde gezeigt, dass die Wurzeln des Konzepts des „İslamin özü“ in einem spezifisch „türkischen Islamkonzept“ (Motika, 2007; Tezcan, 2003) zu suchen sind, das nur im Kontext von historischen und gesellschafts- bzw. religionspolitischen Entwicklungen in der Türkei zu verstehen ist (Kapitel IV 1.5.2). Weiterhin wurde vor dem Hintergrund der Auswertungen der Ergebnisse der Teilnehmenden Beobachtungen im Unterricht angezweifelt, inwieweit das Konzept des „İslamin özü“ tatsächlich eine Form eines „Meta-Islams“ – im Sinne einer echten Unabhängigkeit von den Rechtsschulen – ist bzw. eine sunnitische Prägung dieses Islamkonzepts vor dem Hintergrund der hauptsächlich schiitischen Orientierung der Studierenden von den türkischen Dozenten bewusst heruntergespielt wird. Zumindest lassen die Unterrichtsbeobachtungen erkennen, dass einer der beiden türkischen Dozenten sich entgegen seiner theoretischen Absichten abfällig gegenüber dem schiitischen Glauben äußert. Der andere türkische Dozent erweist sich im Hinblick auf die Thematisierung von den unterschiedlichen religiösen Orientierungen als sensibler und betont im Interview die Notwendigkeit, diese Thematik nicht zu verbalisieren, um die Studierenden, von denen viele Schiiten sind, nicht zu brüskieren. Die Resultate zeigen weiter, dass die türkischen Dozenten die Absicht haben, anhand der Islamisch-Theologischen Fakultät eine Art „Exempel“ zu statuieren: Aserbaidschan bzw. die Bildungsinstitution dient ihnen ihren eigenen Worten zufolge als „Pilotgebiet“, auf dem die Umsetzbarkeit des türkischen Islams als ein „Vorzeigeislam“ auch mit Blick auf die westliche Welt vorgeführt werden soll (Kapitel IV 1.4.3). Vor dem Hintergrund, dass die türkischen Dozenten im Auftrag des türkischen Amts für religiöse Angelegenheiten an der Fakultät in Baku lehren und damit einen Bildungsauftrag des türkischen Staates haben, lassen sich hinter den Erziehungs- und Bildungszielen der Dozenten geopolitische Interessen des türkischen Staates zumindest vermuten (Kapitel I 2.2.3, Kapitel IV 1.5.2).

1.5.2 İmam-Hatip-Schule Welches Islamkonzept an der İmam-Hatip-Schule vertreten wird, lässt sich aufgrund der dahingehend unzulänglichen Datenlage nicht wirklich bestimmen. Da die Daten zeigen, dass von vier der Lehrerinnen für den religiösen Unterricht drei ihr Studium an einer Islamisch-Theologischen Fakultät der Türkei absolviert haben (Kapitel IV 2.3) und eine vierte an der IslamischTheologischen Fakultät der Bakuer Staatsuniversität studierte, kann jedoch angenommen werden, dass die Lehrerinnen ein Islamkonzept haben, das dem der beiden türkischen Religionsdozenten nahe kommt bzw. mit diesem vergleichbar ist. Dass sie an einer Institution islamischer Bildung arbeiten, die,

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wie die Islamisch-Theologische Fakultät, in Kooperation von aserbaidschanischem und türkischem Staat gegründet wurde, bestärkt diese Vermutung. Diese Annahme wird insofern in der Datenauswertung bestätigt, als im Kontext der Gruppendiskussionen die religiöse Position einer Lehrerin deutlich wird. Im Zusammenhang mit der Diskussion um die „aserbaidschanische“ religiöse Praxis der Besuche von Heiligengräbern sowie im Hinblick auf ihren Standpunkt zur Einstellung gegenüber anderen Religionen bzw. religiösen Orientierungen wird ihre ablehnende Haltung gegenüber sowohl der aserbaidschanisch-muslimischen Form von Religion und Religiosität als auch gegenüber der schiitisch-religiösen Orientierung an sich deutlich (Kapitel IV 2.5.1, Kapitel IV 2.5.2). Die Auswertung der Gruppendiskussionen sowie die Aufsätze der SchülerInnen legen nahe, dass die Lehrerin eine sunnitische religiöse Orientierung vertritt. Allerdings kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden, inwieweit sie bzw. die anderen Lehrerinnen Vertreterinnen eines spezifischen türkischen Islamkonzeptes im Sinne der Repräsentanten der Islamischen-Theologischen Fakultät sind.

1.5.3 Islamuniversität Das Islamkonzept an der Islamuniversität beinhaltet als einziges keine mehr oder weniger ausgeprägte Tendenz zu entweder der schiitischen oder sunnitischen religiösen Orientierung. Dies zeigt sich sowohl im Curriculum, das schiitisches und sunnitisches Recht (Fiqh) berücksichtigt (Kapitel IV 3.5) als auch in den Auswertungen der Interviews mit aserbaidschanischen LehrerInnen und Studierenden (Kapitel IV 3.6, Kapitel IV 3.7). Den Ergebnissen zufolge wird an der Institution das Konzept eines „aserbaidschanischen Islams“, der die „Einheit der aserbaidschanischen Gesellschaft“ zum Ziel hat, von den aserbaidschanischen DozentInnen vertreten. Dieses Konzept des aserbaidschanischen Islams findet seinen Ursprung in der Abgrenzung gegenüber den islamischen Emissären aus der Türkei, dem Iran und den arabischen Ländern. Weiterhin lässt sich mit Bezug auf dieses Islamkonzept sagen, dass es ein konservatives Konzept ist, das sich nicht unbedingt offen gegenüber Reformansätzen sowohl im Hinblick auf neue intellektuelle Zugänge zur Religion (Kapitel IV 3.6.1) als auch hinsichtlich Fragen wie z.B. der Stellung der Frau oder gegenüber Demokratie und Fortschritt zeigt (Kapitel IV 3.7.2). Angestrebt wird außerdem ein Islam, der dem „ursprünglichen Islam“ gleichkommt; also ein Islam, wie er vermeintlich zur Zeit des Propheten Muhammad bestanden hat.

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1.5.4 Moscheen Mit Bezug auf die Moscheen kann für die Lesgi-Moschee bezüglich eines Islamkonzeptes gesagt werden, dass die Lehrerin ihre Ausbildung an der Islamuniversität von Baku erhielt und es ihren Aussagen zufolge ihr Ziel sei, die Verbreitung eines „ursprünglichen Islams“ in Aserbaidschan zu fördern. Aus den Daten geht nicht hervor, inwiefern ihr Islamkonzept inhaltlich in einem Zusammenhang damit steht, dass sie an einer innerhalb der aserbaidschanischen Bevölkerung als „wahhabitisch“ (salafitisch) bezeichneten Institution tätig ist, die außerdem in engem Kontakt zum Zentrum salafitischer („wahhabitischer“) Aktivitäten in Baku, der Abu-Bakr-Moschee, steht. Für die Cuma-Moschee kann als Resultat festgehalten werden, dass der Lehrer und die befragten Frauen in der Moschee ein schiitisch-„orthodoxes“ Islamkonzept vertreten (Kapitel IV 4.6.1 e, Kapitel IV 4.6.3). Im Kontext dessen distanzieren sie sich bewusst von der muslimisch-aserbaidschanischen Form von Religion und Religiosität und präsentieren sich als Vertreter einer „richtigen und wahren“ islamischen Lebensform und demzufolge als der aserbaidschanischen Mehrheitsbevölkerung moralisch überlegen. Zumindest der Lehrer zeigt auch eine deutliche Ablehnung gegenüber den islamischen Emissären und ihren Islamkonzeptionen, indirekt zeichneten sich durch die Wahl seiner Unterrichtsinhalte auch anti-türkisch-sunnitische Tendenzen ab (Kapitel IV 4.6.1 c, Kapitel IV 4.6.1 e).

1.6 Konsequenzen der islamischen Bildung mit Blick auf die aserbaidschanische Gesellschaft: Erziehung zum „wahren“ Muslim? Insgesamt lässt sich eine Polarisierung zwischen den SchülerInnen und Studierenden der Islamisch-Theologischen Fakultät und den untersuchten Personen der Islamuniversität sowie den Moscheen hinsichtlich ihrer Islamkonzeptionen ausmachen. Während man bei den SchülerInnen und den Studierenden der beiden erst genannten Institutionen von einer Erziehung zur Religiosität sprechen kann, bei der durch den Prozess der Transformation bedingte Schwierigkeiten auf dem Bildungssektor und das jugendliche Alter der Untersuchten zusammen mit einer Funktion von Religion als „Ideologie“ (verstanden hier als „Zugehörigkeit“ und „klare Weltanschauung“, Kapitel II 1.2.3) als positive Verstärker im Hinblick auf eine religiöse Erziehung wirken, verhält es sich in den restlichen Institutionen anders. Die Studierenden der Islamuniversität haben eine in der Kindheit begonnene und damit ursprünglich gewachsene religiöse Sozialisation erfahren, die sich wenig beeinflussbar zeigt und konservativ in ihrem Kern ist. Dies macht die Religiosität der Studierenden wenig offen für Reformen, aber auch nicht beeinflussbar durch Is261

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lamkonzepte von islamischen Emissären, die vehement abgelehnt werden. Der religiöse Werdegang der befragten Frauen in den Moscheen ist gekennzeichnet von der gesellschaftlichen Umbruchsituation und von Lebenskrisen. Die Ausrichtung des Islamkonzeptes der Cuma-Moschee erweist sich als eindeutig schiitisch. Die Darstellung der voneinander divergierenden und zum Teil auch gegenseitig konkurrierenden Islamkonzeptionen der einzelnen Institutionen hat gezeigt, dass die bestehende Struktur der islamischen Bildung ein hohes Potential besitzt, Spannungen, wenn nicht sogar Spaltungen, in der aserbaidschanischen Gesellschaft herbeizuführen. Hält man sich z.B. vor Augen, dass die Absolventen der Islamisch-Theologischen Fakultät der Staatsuniversität in Zukunft eventuell Religionsunterricht an staatlichen Schulen erteilen, und denkt man in diesem Zusammenhang an die in den Aufsätzen der SchülerInnen der İmam-Hatip-Schule deutlich gewordenen Konflikte in ihren Elternhäusern aufgrund der islamischen Bildung, dann stellt sich ausgehend von diesem Beispiel die Frage, ob die islamische Bildung in ihrer aktuellen Diversität dazu beiträgt, ein bis heute friedliches Zusammenleben von schiitischen und sunnitischen Muslimen zu gewährleisten. Auch Vertreter der islamischen Bildung an der schiitischen Cuma-Moschee zeichnen sich nicht durch eine tolerante Haltung z.B. gegenüber einer sunnitisch-religiösen Orientierung aus. Lediglich das Konzept eines „aserbaidschanischen Islams“ der Islamuniversität nimmt direkten Bezug auf die gesellschaftliche Situation und versucht, dieser gerecht zu werden. Hier wird offenbar der Versuch unternommen, schiitische und sunnitische Glaubensvorstellungen gleichermaßen zu berücksichtigen und zu tolerieren. Die Resultate der Untersuchung zeigen dennoch, dass an allen Institutionen die Vorstellung bestimmend ist, dass der eigene Weg, die eigene Islamkonzeption die einzig richtige ist. Die unterschiedlichen Repräsentanten nehmen jeweils für sich in Anspruch, mit ihren Bildungskonzeptionen die Erziehung zum „wahren“ Muslim zu gewährleisten.

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VII Litera turverzeichnis

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ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

2 Primärquellen In die Auswertung eingegangene Interviews und andere Daten (Personen wurden anonymisiert)

2.1 Islamisch-Theologische Fakultät der Staatsuniversität Baku 2.1.1 Interviews

• • • • • • •

(Interview_4, 2002): Interview mit Məriəm Məmmədova, aserbaidschanische Dozentin für Pädagogik, Baku, 29.10.2002 (Interview_3, 2002): Interview mit Sevda Guluzadə, aserbaidschanische Dozentin für Musiktheorie, Baku 29.10.2002 (Interview_5, 2002): Interview mit Murad Ali, türkischer Dozent für Religionssoziologie, Baku, 31.10.2002 (Interview_6, 2002): Interview mit Mahmud Yavaş, türkischer Dozent für islamische Theologie, Baku, 1.11.2002 (Interview_2, 2002): Interview mit einer weiblichen Studierenden von der Abscheronhalbinsel, 1. Jahrgang, Baku, 20.10.2002 (Interview_21, 2002): Interview mit drei männlichen Studierenden aus Şeki und Lenkoran, 4. Jahrgang, Baku, 24.10.2002 (Interview_1, 2002): Interview mit dem Doktoranden und Journalisten Xan Guluzadə, Baku, 19.10.2002

2.2 Islamuniversität in Baku 2.2.1 Interviews

• • • • • • • •

(Interview_7, 2002): Interview mit Abdullah Bəy, jordanischer Arabischdozent, Baku, 5.11.2002 (Interview_16, 2003): Interview İbrahim Bəy, aserbaidschanischer Korangrammatikdozent, Baku, 22.5.2003 (Interview_17, 2003): Interview mit Saadət Xanım, aserbaidschanische Arabischdozentin, Baku, 23.5.2003 (Interview_15, 2003): Interview mit einer weiblichen Studierenden aus Lenkoran, Abschlussjahrgang, Baku, 21.5.2003 (Interview_12, 2003): Interview mit vier weiblichen Studierenden, vierter Jahrgang, Baku, 13.5.2003 (Interview_10, 2003): Interview mit einer Klasse männlicher Studierender, 2. Jahrgang, Baku, 16.4.2003 (Interview_13, 2003): Interview mit vier männlichen Studenten, 1. Jahrgang, Baku, 19.5.2003 (Interview_14, 2003): Interview mit sechs männlichen Studierenden, ^ 1. Jahrgang, Baku, 21.5.2003

274

LITERATURVERZEICHNIS

2.2.2 Fragebogen

• • •

(Fragebogen_1, 2002): Fragebogen ausgefüllt von Abdullah Bəy, jordanischer Arabischdozent, Islamuniversität, Baku, 3.5.2002 (Fragebogen_2, 2002): Fragebogen ausgefüllt von İbrahim Bəy, aserbaidschanischer Korangrammatikdozent, Islamuniversität, Baku, 3.5.2002 (Fragebogen_3, 2002): Fragebogen ausgefüllt von Saadət Xanım, aserbaidschanische Arabischdozentin, Islamuniversität, Baku, 3.5.2002

2.3 Moscheen (beide in Baku) 2.3.1 Interviews

• • • • • •

(Interview_18, 2002): Interview mit dem Lehrer Səmət Bəy, aserbaidschanischer Ingenieur und „Freizeitpädagoge“ für islamische Moral- und Sittenlehre, Cuma-Moschee, Baku, 2.6.2003 (Interview_19, 2003): Interview mit der Lehrerin Nergiz, aserbaidschanische Lehrerin für Arabisch und islamische Moral- und Sittenlehre, LesgiMoschee, Baku, 4.6.2003 (Interview_11, 2003): Interview mit sechs jungen aserbaidschanischen Frauen, Schülerinnen der Cuma-Moschee, Baku, 28.4.2003 (Interview_8, 2002): Interview mit zehn Frauen, Schülerinnen der CumaMoschee, Baku, 20.11.02 (Interview_9, 2003): Interview mit Leila, Deutschlehrerin, „Schülerin“ in der Cuma-Moschee, Baku, 22.11.02 (Interview_20, 2003): Interview mit einer Architektin, „Schülerin“ in der Lesgi-Moschee, Baku, 5.6.2003

2.3.2 Gespräche



(Gespräch_1, 2002): Gespräch mit einem 19-jährigen Mädchen, Schülerin der Cuma-Moschee in Baku, 15.11.2002

2.4 İmam-Hatip-Schule in Baku 2.4.1 Aufsätze Aufsatz zu drei Fragen mit SchülerIn der İmam-Hatip-Schule, Baku, Mai 2003: • (Aufsatz_7/I, 2003) • (Aufsatz_7/II, 2003) • (Aufsatz_7/III, 2003) • (Aufsatz_7/IV, 2003) 275

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

• • • • • • • • • •

(Aufsatz_7/V, 2003) (Aufsatz_7/VI, 2003) (Aufsatz_7/VII, 2003) (Aufsatz_7/VIII, 2003) (Aufsatz_7/IX, 2003) (Aufsatz_7/X, 2003) (Aufsatz_7/XI, 2003) (Aufsatz_7/XII, 2003) (Aufsatz_7/XIII, 2003) (Aufsatz_7/XIV, 2003)

2.4.2 Gruppendiskussionen

• •

(Gruppendiskussion_I, 2003): Gruppendiskussion in der Jahrgangsstufe 7, İmam-Hatip-Schule, Baku, 9.4.2003 (Gruppendiskussion_II, 2003): Gruppendiskussion in der Jahrgangsstufe 7, İmam-Hatip-Schule, Baku, 23.4.2003

2.5 Feldforschungstagebuch/Unterrichtsdokumentation

• • •

(Forschungstagebuch_Teil1, 2002): Teil 1, 28.4.2002-20.5.2002 Teil 2, 2.10.2002-20.11.2002 (Forschungstagebuch_Teil3, 2003): Teil 3, 25.3.2003-30.6.2003

276

VIII An hang

277

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

1 Fragebogen 1.1 Aserbaidschanisches Original Sual-cavab Mən sizdən anonim bir neçə suallara cavab almaq istəyirəm. Əgər suala cavab verə bilməsəniz sualı boş qoyun. Zəhmətiniz üçün çox sağ olun. I. İlk olarak sizə bə’zi suallar özünüz haqqında vərmək istəyirəm. a.) Cinsiniz?

.....qadın .....kişi

b.) Sizin neçə yaşınız var?

...........................

c.) Siz haradan anadan olmusunuz?

...........................

d.) Milliyyətiniz nədir?

...........................

e.) Siz harada böyüdünüz ?

...........................

f.) Siz Sünni və Şiəsiniz?

...........................

g.) Sizin valideynlərinizin sənəti nədir?

...........................

h.) Sizin valideynlərinizin Sünni və ya Şiədirmi?

...........................

i.) Həyat yoldaşınız varmı?

...........................

j.) Sizin həyat yoldaşınız Sünni və ya Şiədirmi?

...........................

k.) Uşaqlarınız varmı?

...........................

l.) Uşaqlarınız Sünni və ya Şiədirmi?

...........................

m.) Siz özünüz hansı məktəbi və ya universiteti qurtardınız (adı və şəhər)? ...........................

II. Sənətiniz haqqında sizə bə’zi suallar vermək istəyirəm. Əgər suala cavab verə bilməsəniz sualı boş qoyun. a.) Siz nə vaxtdan müəllim işləyirsiniz?

...........................

b.) Siz hansı sahədə işləyirsiniz?

...........................

c.) İslam universitətdən başqa bir məktəbdə və ya universitetdə işlədinizmi? ...........................

278

d.) Başqa bir məktəbdə və ya universitetdə necə il işlədiniz?

...........................

e.) Orada eyni sahədə işlədinizmi?

...........................

f.) Siz nədən müəllim işləyirsiniz?

...........................

g.) Sizcə biliyi hansı yolla catdırmak daha yaxşı?

...........................

ANHANG

h.) Sizcə ideal tələbə hansı xüsusiyyətlərə malik olmalıdır?

...........................

i.) Sizcə dərslərin ən mühüm məqsədi? Məlumat vermək..... Tərbiyə vermək..... Gənclər arasında İslamı yaymaq..... Başqa səbəbdən ..... j.) Siz məktəbdə oxuyan zaman sizə təsir edən bir hadisə olubmu? Mütləq danışın! ...........................

k.) Bu hadisə müəllim olmağınıza tesir edibmi? Bəli..... Xeyir..... l.) Siz tələbəni tərbiyə etmək üçün hansı bir metoddan istifadə edirsinizmi? ...........................

m.) Sizin pedaqoqiq məqsədləriniz nədir?

...........................

n.) İslam dinin pedaqoqiq və tərbiyəvi əsasları varmı? Xeyir..... Bəli, əgər bəli, hansısı? ........................... o.) Sizcə didaktika nədir?

...........................

p.) Didaktik metodlar haqqında kitablar varmı? Var, adı..... Yox..... Bilmirəm..... q.) Tənəffüsdə və ya başqa yerlərdə pedaqoq yoldaşlarınızla, tələbələrlə bir problem haqqında diskusiya aparırsınızmı? ........................... r.) Pedaqoq kimi sizin pedaqoq idealınız?

...........................

s.) Əgər tələbələr təmbəlsə sizin buna reaksiyaniz?

...........................

t.) Oğlana bilik vermək daha mühüm..... asan..... faydalı..... çünkü,...........................

.

279

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

u.) Tələbə qarşınsında müəllim mövqəyi hansıdır?

...........................

v.) Tələbələr arasında müəllimə münasibət necədir?

...........................

w.) Sizin dərslərinizdə nəyi öyrənmək lazımdır? Birinci sinifdə: ........................... İkinci sinifdə: ........................... Üçünücü sinifdə: ........................... Dördünücü sinifdə: ........................... Beşinici sinifdə: ........................... x.) Sizcə İslam universitəti başqa universitetlərdən nə ilə fərqlənir?

...........................

y.) Sizcə İslam universiteti başqa tədris müəssisələrindən əhəmiyyətlidirmi? ...........................

Zəhmətiniz üçün çox sağ olun!

280

ANHANG

1.2 Deutsche Übersetzung Der Fragebogen

Ich möchte gerne, dass Sie mir auf einige Fragen Antwort geben. Wenn Sie auf eine Frage keine Antwort geben möchten, dann lassen Sie das entsprechende Antwortfeld frei. Der Fragebogen wird anonymisiert. Für Ihre Mühe bedanke ich mich bei Ihnen.

I. Zuerst möchte ich Ihnen gerne ein paar Fragen zur Ihrer Person stellen. a.) Ihr Geschlecht?

.....Frau .....Mann

b.) Wie alt sind Sie?

...........................

c.) Wo sind Sie geboren?

...........................

d.) Welche Nationalität haben Sie?

...........................

e.) Wo sind Sie aufgewachsen?

...........................

f.) Sie Sie Sunnit oder Schiit?

...........................

g.) Was sind Ihre Eltern von Beruf?

...........................

h.) Sind Ihre Eltern Sunniten oder Schiiten?

...........................

i.) Sind Sie verheiratet?

...........................

j.) Ist ihr Ehepartner Sunnit oder Schiit?

...........................

k.) Haben Sie Kinder?

...........................

l.) Sind Ihre Kinder Schiiten oder Sunniten?

...........................

m.) An welcher Schule und/oder Universität haben Sie einen Abschluss gemacht (Name ........................... und Stadt)?

II. Jetzt möchte ich Ihnen einige Fragen zu ihrem Beruf stellen. Wenn Sie auf eine Frage keine Antwort geben möchten, dann lassen Sie das entsprechende Antwortfeld frei. a.) Seit wann arbeiten Sie als DozentIn?

...........................

b.) Welches Fach unterrichten Sie?

...........................

c.) Haben Sie außer an der Islamuniversität schon an einer anderen Schule oder Universität gearbeitet? ........................... d.) Wieviele Jahre haben Sie an einer anderen Schule oder Universität gearbeitet? ...........................

e.) Haben Sie dort dasselbe Fach unterrichtet? f.) Warum arbeiten Sie als LehrerIn? g.) Wie wird Ihrer Meinung nach Wissen am besten vermittelt?

........................... ........................... ...........................

281

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

h.) Welche Eigenschaften hat Ihrer Meinung nach der ideale Schüler? ...........................

i.) Was ist Ihrer Meinung nach das wichtigste Ziel von Unterricht? Wissen vermitteln ..... Erziehung ..... Unter den Jugendlichen den Islam verbreiten ..... Andere Ziele ..... j.) Gab es zu Ihrer Schulzeit ein besonderes Ereignis, dass Sie nachhaltig beeinflusst hat? Wenn ja, erzählen Sie doch! ........................... k.) Hat dieses Ereignis Einfluss auf Ihre Berufswahl zum Lehrer gehabt? Ja ..... Nein ..... l.) Von welcher Methode machen Sie bei der Erziehung der Schüler Gebrauch? ...........................

m.) Was sind Ihre pädagogischen Ziele?

...........................

n.) Gibt es pädagogische Grundlagen des Islam? Nein ..... Ja, wenn ja, welche? ........................... o.) Was ist Ihrer Meinung nach unter Didaktik zu verstehen? p.) Gibt es ein Buch über didaktische Methoden? Ja, es heißt ..... Nein ..... Weiß ich nicht ..... q.) Entstehen in der Pause oder bei anderer Gelegenheit Diskussionen über Probleme mit Studierenden? ........................... r.) Wer ist als Pädagoge Ihr pädagogisches Vorbild?

...........................

s.) Was ist Ihre Reaktion auf einen Studierenden, der nicht lernt? ........................... t.) Einem männlichen Studierenden Wissen zu vermitteln ist wichtiger ..... einfacher ..... nützlicher ..... weil, ...........................

282

ANHANG

u.) Was ist die Position einer DozentIn gegenüber einem Studierenden? ...........................

v.) Wie sollte die Beziehung zwischen Studierenden und DozentInnen aussehen? ...........................

w.) Welches sind die Lerninhalte in Ihren Unterrichtsstunden? Erstes Studienjahr: ........................... Zweites Studienjahr: ........................... Drittes Studienjahr: ........................... Viertes Studienjahr: ........................... Fünftes Studienjahr: ........................... x.) Inwiefern unterscheidet sich die Islamuniversität Ihrer Meinung nach von anderen Universitäten? ........................... y.) Ist die Islamuniversität Ihrer Meinung nach positiver als andere Bildungsinstitutionen zu beurteilen? ...........................

Vielen Dank für Ihre Mühe!

283

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

2 L e i t f a d e n ( e r s t e V e r s i o n ) 221 f ü r I n t e r vi ew s m i t Studierenden und DozentInnen 2.1 Erkenntnisleitende Fragen

• • •

• • • •

Welche Bedeutung hat Religiosität für das Selbstverständnis von aserbaidschanischen Studierenden, die Zugang zu islamischen Bildungseinrichtungen in der säkularisierten, postsowjetischen Gesellschaft haben? In welchen Dimensionen sind diese Bedeutungen wirksam? (Ritualistische Dimension, ideologische Dimension, intellektuelle Dimension, Dimensionen der Konsequenzen der religiösen Überzeugungen) Welche Überschneidungen und Abgrenzungen lassen sich hinsichtlich der Einstellungen zu Bereichen der Religiosität und Erziehung zwischen den LehrerInnen unterschiedlicher religiöser Orientierungen ausmachen (Beziehung zwischen Religiosität und Erziehungsvorstellungen der LeherInnen)? Gibt es eine Wechselbeziehung zwischen der Religiosität der Studierenden und der Religiosität bzw. den religiösen Erziehungsvorstellungen der Lehrenden? Wird die Religiosität der Studierenden durch die jeweilige Bildungseinrichtung beeinflusst? Welche Vorstellung von pädagogischen Idealen gibt es auf Seiten der Lehrenden? Wie werden Erziehungsstile/religiöse Ideale auf Seiten der Lernenden wahrgenommen und inwieweit wird dadurch individuelle Religiosität konstruiert?

2.2 Fragen im Interview/Gespräch Familie und Studium

• • • • •

„Erzählen Sie doch mal von ihrer Familie!“ (Familienstruktur, Wohnverhältnisse, Leben in Aserbaidschan zur Sowjetzeit und zur Zeit der Unabhängigkeit; „Wo sind Sie aufgewachsen“?) Studium: „Warum studieren Sie dieses Fach?“ „Wie gefällt Ihnen Ihr Studium?“ „Wollten Sie ursprünglich etwas anderes studieren/werden?“ „Wie findet Ihre Familie Ihr Studium, Ihre Freunde von der Schule, Ihre Nachbarn und Verwandten?“ „Sind Ihre Eltern stolz auf Sie oder hätten sie es lieber gesehen, wenn Sie etwas anderes studiert hätten?“

221 Angelehnt an Karakaşoğlu-Aydın (Karakaşoğlu-Aydın, 2000: 476f.).

284

ANHANG

• • • •

„Wieviel Geld kostet Ihr Studium?“ Berufs- und Zukunftsvorstellungen: „Haben Sie Pläne für die Zeit nach dem Studium? (Ehe, Familiengründung, Berufsvorstellungen) „Wie denken Sie über den Beruf des Mulla?“ (Eigene Vorstellung und die der Familie, Verwandten, Nachbarn, Studierenden von anderen Fakultäten)

Religiöse Sozialisation

• • •

„Wie kam es zu Ihrer heutigen Einstellung zum Islam?“ (Religionszugehörigkeit, Bedeutung der Religion für Studierende/Lehrende persönlich, für die Familie, religiöse Erziehung innerhalb der Familie) Veränderung in der Einstellung zur Religion durch das Studium, Erfahrung mit außerfamiliärer Erziehung z.B. in der Schule, Korankurs, religiöse Vorbilder?) Einstellung zu anderen Religionen (Schiiten, Sunniten, christliche Religionen, zu islamischen Emissären aus der Türkei, Saudi-Arabien und dem Iran, zu christlichen Missionaren)

Religiösität

• • • • • • •

Welche Gebote stehen für Sie im Zentrum Ihres Glaubens?“ „Welche Möglichkeiten haben Sie, Ihre Vorstellungen innerhalb der Familie, Ehe, in Ihrem Umfeld zu praktizieren?“ „Wie würden Sie Ihr Verhältnis zu Gott beschreiben?“ „Was hat sich daran durch das Studium geändert?“ Würde es Ihnen etwas ausmachen, Ihre Gefühle Gott gegenüber zu beschreiben? (freies Assoziieren, falls Frage nicht verstanden wird, kann nachgefragt werden: Furcht, Bedürfnis, Erkennen, Vertrauen, Zuversicht) „Wie sollte ein religiöser Mensch Ihrer Meinung nach sein? Wie sollte er sich verhalten“ „Was macht einen ,guten Muslim‘ aus?“. „Was bedeutet religiös sein für Sie selbst?“ „Wie schlimm finden Sie es, wenn ein Mensch gegen die Gebote der Religion verstößt?“

285

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

Muslimische Kleidung und Kopftuch



„Was verbinden Sie mit einem Kopftuch, welche Bedeutung hat ein Kopftuch für Sie?“ (Entscheidungsprozesse dafür oder dagegen, biografische Fakten, Einstellung der Familie dazu, Reaktionen der aserbaidschanischen Gesellschaft, Kontakt zu Personen mit anderer Einstellung, Zukunftsvorstellung bezüglich der Kleidung: Heirat, Heiratschancen, Beruf, Wandel in der aserbaidschanischen Gesellschaft)

Familiengründung und Erziehungsvorstellungen

• • • • • •

„Wollen Sie heiraten?“ „Wer entscheidet das?“ „Soll/muss Ihre LebenspartnerIn religiös sein? (Partnerwahl, Partnervorstellungen, ethnische bzw. religiöse Präferenzen, Kinderwunsch) „Wer sollte hauptsächlich für die Erziehung der Kinder zuständig sein?“ (Eigene Erziehungsvorstellungen in Kontrast zur Erziehungspraxis der Eltern, religiöse Erziehungsvorstellungen) Was/ Wie ist ein idealer Schüler? Was/Wie ist ein idealer Lehrer? Was sagt der Islam zu Bildung/Wissen/Erziehung? Sollte jede Erziehung aus dem Blickwinkel des Islam stattfinden?

Offene Fragen

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Was bedeuten folgende Begriffe für Sie bzw. wie würden Sie folgende Begriffe definieren? „dindar“, „din“, “Schii“, “Sunni“, “din tədrisi“, “din fanatism“, “tolerans“ Was glauben Sie denkt die Mehrheit der aserbaidschanischen Gesellschaft zum Thema „religiöse Erziehung“? Was glauben Sie welche Rolle die Religion für die Mehrheit der aserbaidschanischen Gesellschaft spielt? Welche Kraft hat sie? Was kann sie den Menschen geben? Wie beurteilen Sie den Unterricht den Sie besuchen? Was macht für Sie eine gute ReligionslehrerIn aus? Welches Land ist aus religiöser Sicht Ihr Vorbild? Können oder sollen Fächer wie Englisch, Psychologie, Mathematik aus islamsicher Perspektive unterricht werden? Wie? Inwieweit gehört der Islam zur aserbaidschanischen Identität? Sollten Frauen in Aserbaidschan das Kopftuch tragen? Wie denken Sie von der Tradition der Besuche von Heiligengräbern in Aserbaidschan?

286

ANHANG

3 L e i t f a d e n ( z w e i t e V e r s i o n ) : I n t e r v i ew l e i t f a d e n f ü r I n t e r v i ew s m i t S t u d i e r e n d e n u n d D o z e n t I n n e n

• • • • • • • • • • • • • • • • •

Necə olduki, dinə geldiniz? („Wie wurden Sie religiös?“ oder „Wie kamen Sie zur Religion?“) Din sizin həyatınızda hansı rol oynayır? („Welche Rolle spielt die Religion in ihrem Leben?“) Siz sizin uşaqlarınız hansı bir din tədrisi vermək istəyirsiniz? („Welche Form der religiösen Erziehung möchten Sie Ihren Kindern zukommen lassen“?) Siz özünüz din derslər verisiniz? („Geben Sie selbst Religionsunterricht?“) Hansı dini qaydaları en mühüm hesab edirsiniz? („Welche religiösen Vorschriften erachten Sie als am wichtigsten?“) Soviet vaxtinda din hansı rol oyanırdı özellikle sizin üçün? („Welche Rolle spielte Religion zu Sowjetzeiten, vor allem für Sie selbst?“) Siz İslam Azərbaycanda necə görmək istəyirsiniz? („Welche Rolle soll der Islam Ihrer Meinung nach in Aserbaidschan spielen?“) Sizinlə Allahın münasibəti necədir? („Wie würden Sie Ihre Beziehung zu Gott beschreiben?“) Sizcə dindar bir adam necə olmalıdır? („Wie sollte sich Ihrer Meinung nach ein religiöser Mensch verhalten?“) Allaha ibadət etməyən insana münasibətiniz necədir? („Wie ist Ihr Verhältnis zu einem Menschen, der die religiösen Glaubensvorschriften nicht befolgt?“) Sizcə baş bağlamaq mühüm ya da mühüm değil? („Ist es Ihrer Meinung nach wichtig sich zu verschleiern?“) Sizcə uşakların tərbiyəsində ən mühüm rolu kim oynayır? („Wer spielt Ihrer Meinung nach die wichtigste Rolle bei der Erziehung von Kindern?“) Sizcə ideal bir tələbə necədir? („Wie würden Sie den idealen Schüler charakterisieren?“) Sizcə ideal bir müəllim necədir? („Wie würden Sie den idealen Lehrer charakterisieren?“) Azərbaycandaki zıyarətkahlar haqqında nə düşünürsünüz? („Was denken Sie über die Praxis der Heiligengräberbesuche in Aserbaidschan?“) Sizin kızınız baş bağlamaq istermezsə nə edirsiniz? („Was machen Sie, wenn sich Ihre Tochter nicht verschleiern will?“) Dersinizdə hansı kitablardan istifadə edirsiniz? („Von welchen Lehrbüchern machen sie im Unterricht Gebrauch?“) 287

ERZIEHUNG ZUM „WAHREN“ MUSLIM

• • •

Dersinizdə hansı metoddan isitfadə edirsiniz? (Welche Methoden bringen Sie im Unterricht zur Anwendung?) Dini xadimi hansi xüsusiyyətlərə malik olmalidir? („Welche Eigenschaften sollte Ihrer Meinung nach ein Religionsdiener [Mulla] besitzen?“) Sizcə din tədrisi Azaərbaycanda hansi rolu oynamalı? („Welche Rolle sollte Ihrer Meinung nach die religiöse Erziehung in Aserbaidschan spielen?“)

288

Bibliotheca Eurasia Christine Hunner-Kreisel Erziehung zum »wahren« Muslim Islamische Bildung in den Institutionen Aserbaidschans

Markus Kaiser (Hg.) Auf der Suche nach Eurasien Politik, Religion und Alltagskultur zwischen Russland und Europa

März 2008, 294 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 978-3-89942-839-1

2003, 398 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-131-6

Marit Cremer Fremdbestimmtes Leben Eine biographische Studie über Frauen in Tschetschenien

Markus Kaiser (Hg.) WeltWissen Entwicklungszusammenarbeit in der Weltgesellschaft

2007, 204 Seiten, kart., 21,80 €, ISBN: 978-3-89942-630-4

2003, 384 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-112-5

Anna Amelina Propaganda oder Autonomie? Das russische Fernsehen von 1970 bis heute 2006, 338 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-483-6

Sabine Ipsen-Peitzmeier, Markus Kaiser (Hg.) Zuhause fremd Russlanddeutsche zwischen Russland und Deutschland 2006, 430 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 978-3-89942-308-2

Irina Yurkova Der Alltag der Transformation Kleinunternehmerinnen in Usbekistan 2004, 212 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 978-3-89942-219-1

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de