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German Pages 352 Year 2017
Wolfgang Lessing, unter Mitarbeit von Maria Berge, Carola Klinkert und Anne-Kathrin Wagler Erfahrungsraum Spezialschule
Pädagogik
Wolfgang Lessing, geb. 1964, ist Cellist und Musikpädagoge. Er leitet den Studiengang Instrumental- und Gesangspädagogik an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden und gründete dort das Institut für musikalisches Lehren und Lernen.
Wolfgang Lessing
Erfahrungsraum Spezialschule Rekonstruktion eines musikpädagogischen Modells
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Inhalt
Einleitung | 9
1. TEIL: FRAGESTELLUNG UND METHODIK 1.1
Auf der Suche nach der Schulkultur (I) | 15
1.1.1 1.1.2 1.1.3 1.1.4
1.1.8
Begabungsförderung in Ost und West | 15 Der Einfluss der Institution – ein Forschungsdesiderat | 21 Schulkultur als nicht-normative Kategorie | 24 Schulkultur als Zusammenspiel des Realen, Symbolischen und Imaginären | 24 Schulkultur als Rekonstruktion eines konjunktiven Erfahrungsraumes | 30 Schulkultur in der Dialektik von Habitus und Feld | 31 Schulkultur im Spannungsfeld von Orientierungsrahmen und Orientierungsschema | 35 Die inhaltlichen Dimensionen der Schulkultur | 38
1.2
Zur Methodik der Studie | 42
1.2.1 1.2.2
Zur Methodologie der dokumentarischen Methode | 42 Zur methodischen Konzeption der Studie | 50
1.1.5 1.1.6 1.1.7
2. TEIL: FELDZUGÄNGE (I) DIE DRESDNER SPEZIALSCHULE IM KONTEXT HISTORISCHER UND GESELLSCHAFTSPOLITISCHER R AHMENBEDINGUNGEN 2.1 2.2 2.3 2.4 2.5
Wege zur Spezialschule (I) | 61 Exkurs: Zur Geschichte der musikalischen Ausbildungsinstitutionen in Dresden | 64 Wege zur Spezialschule (II) | 69 Das Bildungsgesetz von 1965 und seine Bedeutung für die Entwicklung der Spezialschulen | 71 Die Entwicklung der Dresdner Spezialschule | 76
3. TEIL: FELDZUGÄNGE (II) DER KONJUNKTIVE E RFAHRUNGSRAUM DER SPEZIALSCHULE UNTER DEM B LICKWINKEL SINNGENETISCHER TYPENBILDUNG 3.1
Vorbemerkung | 85
3.2
Der Hauptfachunterricht und das Verhältnis zum Hauptfachlehrer | 88
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.2.4 3.2.5
Falldarstellungen | 88 Konjunktive Elemente der erörterten Fälle | 112 Vorläufige sinngenetische Typenbildung (inhaltlich) | 113 Weitere Fälle | 118 Vorläufige sinngenetische Typenbildung (strukturtheoretisch) | 122
3.3
Die Allgemeinbildenden Fächer | 146
3.3.1 3.3.2
Falldarstellungen | 147 Sinngenetische Typenbildung | 172
3.4
Das Verhältnis zu den Mitschülern | 185
3.4.1 3.4.2
Falldarstellungen | 186 Sinngenetische Typenbildung | 203
3.5
Politische Einflüsse an der Spezialschule und ihre Auswirkungen auf die Orientierungsrahmen | 208
3.5.1 3.5.2
Falldarstellungen | 212 Sinngenetische Typenbildung | 229
4. TEIL: FELDZUGÄNGE (III) S OZIOGENETISCHE TYPENBILDUNG 4.1
Der Einfluss der Elternhäuser | 240
4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.1.4
Elternberufe | 241 Der Einfluss des Elternhauses auf die Genese des Orientierungsrahmens – Familie in der DDR | 244 Falldarstellungen | 248 Diskussion | 260
4.2
Instrumentalunterricht vor der Spezialschule | 265
4.2.1 4.2.2
Falldarstellungen | 269 Diskussion | 276
4.3
Instrument | 281
4.3.1 4.3.2 4.3.3
Instrumentale Lernkulturen | 283 Falldarstellungen | 292 Diskussion | 296
4.4
Prozessanalytische Typenbildung – Berufliche Situation heute | 298
4.4.1 4.4.2 4.4.3
Fall 2 als Musterbeispiel einer Prozessanalyse | 301 Falldarstellungen | 308 Diskussion | 318
5. TEIL: AUF DER SUCHE NACH DER S CHULKULTUR (II) RESÜMEE Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse | 325 Literatur | 339
Einleitung
Die vorliegende Monographie beschäftigt sich mit der ehemaligen Spezialschule für Musik Dresden im Zeitraum zwischen 1965 und 1990. Anders als diese nüchterne Gegenstandsbeschreibung vielleicht vermuten lässt, handelt es sich jedoch um keine historische Untersuchung. Weder ging es uns darum, der bislang noch immer viel zu wenig aufgearbeiteten Geschichte der Instrumentalpädagogik in der DDR einen – zweifellos wichtigen – Mosaikstein hinzuzufügen, noch trieb uns ein regionalgeschichtliches Interesse an. Eine Geschichte der Dresdner Spezialschule zu schreiben – so wie es Reinhard Schau vor einigen Jahren für die Weimarer Spezialschule in verdienstvoller Weise unternommen hat (vgl. Schau 2010) –, war zu keinem Zeitpunkt unsere Absicht. Worum geht es aber dann in diesem Buch? Zwei Begriffe aus dem von uns gewählten Titel mögen eine erste Richtung andeuten: Im Mittelpunkt unserer Untersuchung steht das, was in der interpretativen Soziologie mit dem Begriff des Erfahrungsraumes bezeichnet wird. Uns interessiert, welche geschriebenen und vor allem auch ungeschriebenen Regeln das Leben an dieser Schule prägten, inwieweit diese Regeln den Habitus (oder, wie wir sagen werden: den Orientierungsrahmen) der Akteure1 prägten und in welchem Verhältnis sie zu den Zielsetzungen staatlicher Förderpolitik, aber auch zu den elterlichen Milieus der Schülerschaft standen. Und eben weil wir nicht nur nach explizit sprachlichen Zeugnissen Ausschau halten, sondern vor allem nach praktischen Gepflogenheiten, prozeduralem Handlungswissen sowie nach den (nur scheinbar subjektiven) Wahrnehmungsstrukturen, die diesem Wissen zugrunde lagen, ist unsere Aufgabe eine rekonstruktive: sie beschränkt sich nicht allein auf manifeste Tatbestände, sondern auf die Bergung eines impliziten, den Befragten selbst mitunter gar nicht bewussten Wissens. Bei dieser Bergungsfahrt griffen wir auf das Methodenarsenal qualitativer Sozialforschung zurück, insbesondere auf das biografisch-narrative Interview und die dokumentarische Methode. Inwieweit ist ein derartiges Vorhaben von aktuellem Interesse? Bereits ein flüchtiger Blick auf gegenwärtige Tendenzen der deutschen Musikhochschullandschaft zeigt, dass sich die vorberufliche Qualifizierung des heimischen Musikernachwuchses zu einer Kernfrage entwickelt hat, von deren schlüssiger Beantwortung die Zukunft der 24 deutschen Musikhochschulen wesentlich abhängen wird. Die vielerorts zu beobachtenden Tendenzen, leistungsstarken Jugendlichen bereits vor Beginn ihres 1
Hier und in der gesamten weiteren Publikation ist bei allgemein maskulinen Personenbezeichnungen stets das generische Maskulinum gemeint.
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Musikstudiums durch neu geschaffene Förderinstitute bereits während ihrer Schulzeit eine Ausbildung auf Hochschulniveau zu ermöglichen, berufen sich dabei immer wieder auf die vier ehemaligen Spezialschulen der DDR, die nach ihrer Umwandlung in »Landesgymnasien für Musik« zum Teil noch heute existieren und wichtige Kennzeichen der alten DDR-Ausbildungsstruktur ins wiedervereinigte Deutschland transferieren konnten. Allerdings ist unübersehbar, dass die häufig proklamierte Vorbildfunktion der alten Spezialschulen meist entweder auf den subjektiven Erfahrungen einiger damaliger Akteure oder aber auf Hörensagen beruht. Eine wissenschaftliche Rekonstruktion dieses Erfahrungsraumes steht jedoch nach wie vor aus. Indem wir uns diesem Thema widmen, versuchen wir nicht nur, eine seit nunmehr 25 Jahren bestehende Lücke zu schließen. Der größer gewordene zeitliche Abstand erlaubt uns vielmehr, unsere Forschungsfrage auszuweiten und mit der Rekonstruktion des Erfahrungsraumes zugleich die Auswirkungen zu untersuchen, die die Spezialschulausbildung im Leben der ehemaligen Schülerinnen und Schülern hinterlassen hat. Ein Weiteres kommt hinzu: Bereits bei der ersten Konzeptionierung der empirischen Forschungsarbeit wurde offenbar, dass sich die Bedeutung eines Schultyps, der Jugendliche in einer für das damalige Westdeutschland unbekannten Intensität auf eine spätere professionelle musikalische Laufbahn vorbereitete, nicht angemessen beschreiben lässt, wenn man sich allein auf die Ergebnisse und Erfolge konzentriert, die aus dieser Ausbildung erwuchsen. Auch eine Fokussierung auf mögliche Schattenseiten schien uns dem Gegenstand in keiner Weise angemessen zu sein. Zu unterschiedlich und zum Teil auch gegenläufig waren – das ließ sich bereits in den ersten informellen Vorgesprächen erahnen – die Sichtweisen der Beteiligten auf ihre Schulzeit, als dass sich der die Schule prägende Erfahrungsraum durch einseitige Schwerpunktsetzungen bzw. unverbindliche Sowohl-als-auch-Darstellungen angemessen hätte beschreiben lassen. Weit wichtiger schien es uns, zu zeigen, wie gerade die extreme Unterschiedlichkeit der nachträglichen Einschätzungen zustande kam und inwieweit diese Gegenläufigkeit mit den geschriebenen und ungeschriebenen Regeln des Erfahrungsraumes in Beziehung stand. Indem wir unsere Forschungsfrage auf jenen »impliziten Algorithmus« richten, der, je nach den individuell divergierenden Ausgangsvoraussetzungen, in einer zwar unterschiedlichen, aber in dieser Unterschiedlichkeit eben doch zugleich regelhaften Weise den Orientierungsrahmen der Betroffenen prägte, glauben wir der aktuellen Diskussion um die Einrichtung von Hochbegabungszentren an den deutschen Musikhochschulen eine dringend notwendige wissenschaftliche Basis zu geben. Unser Vorhaben terminiert dabei nicht in dem Ziel, die pädagogischen Maximen der alten DDR-Spezialschulen als gelungen oder weniger gelungen, als vorbildhaft oder abschreckend zu bewerten, sondern versucht, die Schnittstelle zwischen den objektiven Ausbildungsstrukturen und den subjektiven Reaktionsformen darauf auf eine Weise zu bestimmen, dass klar werden kann, von welchen Kriterien und Gesetzmäßigkeiten die Passung – oder eben auch die Nicht-Passung – des Einzelnen zu dem ihn umgebenden Erfahrungsraum abhängig war. Selbstverständlich sind die Ergebnisse unserer Untersuchung nicht umstandslos auf die heutige Diskussion um den Zuschnitt von Pre-Colleges und Landesgymnasien für Musik zu übertragen. Dennoch ist der methodologische Ansatz bzw. der methodische Weg, der uns zu ihnen geführt hat, ohne nennenswerte Änderungen auch auf heutige Schulen und Einrichtungen übertragbar. Dabei können die in unserer Studie erarbeiteten Typologien als wichtige Referenz-
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werte gelten: lässt sich mit ihrer Hilfe möglicherweise beantworten, welche der von uns vorgelegten Ergebnisse unabhängig von den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für musikalische Spitzenförderung im Allgemeinen charakteristisch sind und welche lediglich für den engen Rahmen der DDR-Gesellschaft Geltung beanspruchen konnten. In diesem Zusammenhang lässt sich dann auch bestimmen, welchen Einfluss der Faktor der Institution auf die künstlerische und persönliche Entwicklung der jungen Musikerinnen und Musiker besaß. Diese Frage rührt an ein Desiderat der musikalischen Expertiseforschung, die bislang zwar intensiv den Einfluss unterschiedlicher Personengruppen (Lehrer, Eltern, Mitschüler, Geschwister) auf das Zustandekommen musikalischer Hochleistung herausgearbeitet hat, den institutionellen Kontext, in dem diese Personengruppen agieren, allerdings unberücksichtigt ließ. Obwohl die Forschungsfrage dieser Untersuchung vorrangig an die Community der wissenschaftlich arbeitenden Musikpädagogen adressiert ist, soll ihre Bearbeitung doch zugleich jenen praktisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen zu Gute kommen, die heute in der musikalischen Spitzenförderung tätig sind. Auch Sozialwissenschaftler, die an den Auswirkungen einer DDR-Sozialisation auf die weiteren biografischen Verläufe interessiert sind, und Erziehungswissenschaftler, die sich mit dem Passungsverhältnis zwischen dem einzelnen Schüler und der ihn umgebenden »Schulkultur« beschäftigen, sowie schließlich Expertiseforscher, die nach Einflussgrößen für die Entwicklung vom musikalischen Novizen bis hin zum Experten suchen, mögen hier ein vielfältiges Anschauungsmaterial finden. Und schließlich wünschen wir uns, dass diese Studie auch von den Betroffenen gelesen wird, insbesondere von den ehemaligen Schülerinnen und Schülern der vier DDR-Spezialschulen, die das musikalische Leben im heutigen Deutschland in den verschiedensten Tätigkeitsfeldern – vom international bekannten Solisten, über Hochschullehrer und Orchestermusiker bis hin zum Pädagogen an einer Musikschule – in erheblichem Maße prägen. Diese vielfältigen von uns avisierten Zielgruppen ließen die Verschriftlichung der Forschungsergebnisse zu einem schwierigen Balanceakt werden. Auf der einen Seite konnten und wollten wir auf die Darstellung der komplexen methodologischen Problemstellungen, die mit unserem Gegenstand verbunden sind, nicht verzichten. Zum anderen war es unser Ziel, den wissenschaftlichen Laien nicht mit einer Übermenge an »fachchinesischem« Vokabular zu überfallen. Das Ergebnis ist ein Kompromiss, der – wie alle Kompromisse – vermutlich nicht gänzlich befriedigen wird. Dem Laien muten wir zu, sich auf die wissenssoziologischen und hermeneutischen Problemstellungen unseres Ansatzes einzulassen. Und den Fachmann bitten wir um Verständnis dafür, dass diese Darstellungen immer wieder ihm selbstverständlich erscheinende Dinge berühren werden. Ein weiteres Problem ergab sich aus dem schieren Umfang der Untersuchung, der sich zwar durchaus hätte verringern lassen, allerdings um den Preis, dass eine Reihe der von uns ausgiebig zitierten Originaltöne dem Rotstift zum Opfer gefallen wären. Wir haben uns für eine gewisse Ausführlichkeit entschieden, weil nur durch sie der Facettenreichtum zum Ausdruck kommen kann, der den Erfahrungsraum Spezialschule prägte. Natürlich wünschen wir uns – wie alle Autoren –, dass unser Buch ganz gelesen wird. Allerdings war es uns zugleich ein Anliegen, die einzelnen Teile so zu gestalten, dass auch ausschnitthafte und kursorische Lektüren möglich sind. Unsere Bitte an eilige Leser wäre allerdings, sich nicht nur auf das einleitende Kapi-
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tel (1.1) sowie das Schlussresümee (5. Teil) zu konzentrieren, sondern auch die zusammenfassenden und weiterführenden Abschnitte zu lesen. Im Einzelnen wären das die Kapitel 3.2.5, 3.3.2, 3.4.2, 3.5.2, 4.1.4, 4.2.2, 4.3.3 und 4.4.3. Einschränkend möchten wir allerdings darauf hinweisen, dass eine Kritik an den Ergebnissen der genannten Kapitel auf den Mitvollzug der in den restlichen Teilen erfolgenden Materialauswertung angewiesen ist. Damit eine derart kursorische Lektüre möglich ist, haben wir uns ferner dazu entschlossen, die genannten Teile so zu gestalten, dass unser Forschungsansatz auch bei deren isolierter Lektüre erkennbar bleibt. Das führte natürlich unweigerlich zu gewissen Verdopplungen, die der Leser des ganzen Buches vielleicht als redundant empfinden mag. Gleichwohl war es unsere Absicht, auch die scheinbaren Wiederholungen so abwechslungsreich zu gestalten, dass auch der mit dem Ansatz bereits vertraute Leser immer wieder mit Neuem konfrontiert wird. Viele Menschen und Institutionen haben zum Gelingen des Spezialschul-Projekts beigetragen. Allen voran danken wir zunächst unseren zahlreichen Gesprächspartnerinnen und Gesprächspartnern, die sich bereit erklärt haben, uns nicht nur über ihre Spezialschulzeit, sondern auch über ihr Leben davor und danach zu erzählen. Ohne ihre Bereitschaft, uns ausführlich an ihrem Leben teilhaben zu lassen, hätte diese Studie nicht geschrieben werden können. Nicht minder wichtig ist der Dank an die Sächsische Akademie der Wissenschaften, durch deren geisteswissenschaftliches Förderprogramm sowohl die drei Mitarbeiterstellen für Maria Berge, Carola Klinkert und Anne-Kathrin Wagler, vielfältige Sachbeihilfen sowie der Einsatz zahlreicher studentischer Hilfskräfte bereitgestellt werden konnten. Für die Transkriptionen der teilweise sehr umfangreichen Interviews danken wir Lydia Hartwig, Georg Langner, Judith Schöpke und Stefan Weise. An der Bearbeitung der Fragebögen wirkten mit: Andrea Herms, Katharina Pitt und Stephanie Teistler. Unser Spezialschulprojekt war eines von insgesamt vier Projekten, die sich im Rahmen des Akademieprogramms mit dem Generalthema »Begabungsförderung in der DDR« auseinandersetzten. Neben dem Präsidenten der Sächsischen Akademie, Herrn Prof. Dr. Pirmin Stekeler-Weithofer, der mit großem Einsatz das Zustandekommen dieser einzelnen Projekte unterstützte, danken wir auch den anderen drei Forschungsgruppen für die interessanten Diskussionen und Impulse, die unsere regelmäßigen Treffen im Deutschen Literaturinstitut in Leipzig prägten. Im Einzelnen waren dies Patrick Primavesi, Juliane Raschel, Theresa Jacobs und Michel Wehren für das Projekt »Körperpolitik in der DDR. Tanzinstitutionen zwischen Eliteförderung, Volkskunst und Massenkultur«, Hans Ulrich Treichel, Isabelle Lehn, Sascha Macht und Katja Stopka für das Projekt »Das Institut für Literatur ›Johannes R. Becher‹, Leipzig (1955–1993)« sowie Sandy Adam, Tony Höwler, Gregor Hovemann und Luisa Hoffmann für das Projekt »Spitzensportliche Begabungsförderung in der DDR unter besonderer Berücksichtigung der Verbindung von Spitzensport und Schule bzw. Spitzensport und Beruf«. Ferner bedanken wir uns bei der Nachfolgeinstitution der alten Dresdner Spezialschule, dem Sächsischen Landesgymnasium für Musik Carl Maria von Weber. Dessen Direktor, Herr Mario Zecher, gewährte uns nicht nur den Einblick in jene Archivalien der Spezialschulzeit, die das Hochwasser 2002 überdauert hatten, sondern ermöglichte eine großzügige finanzielle Unterstützung der Druckkosten. An den Kosten beteiligte sich ebenfalls die Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, bei der wir uns ebenfalls für die große Unterstützung unseres Projekts be-
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danken. Neben vielen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern aus der Verwaltung danken wir insbesondere Frau Konstanze Kremtz für ihre kritische und genaue Durchsicht des Manuskripts. Dresden im Januar 2017 Wolfgang Lessing, Maria Berge, Carola Klinkert, Anne-Kathrin Wagler
1. Teil: Fragestellung und Methodik
1.1 AUF
DER
S UCHE
NACH DER
S CHULKULTUR (I)
1.1.1 Begabungsförderung in Ost und West Die Förderung des professionellen Nachwuchses in der Musik konnte auch nach dem Ende der DDR als eine besondere Errungenschaft des untergegangenen Systems gelten. In Westdeutschland gab es nichts Vergleichbares. Für besonders vielversprechende Instrumentalisten bestand dort zwar die Möglichkeit, den Status eines Jungstudierenden an einer Musikhochschule zu erhalten, für potenzielle spätere Musikstudenten boten die Musikschulen gesonderte Abteilungen an. Aber das war etwas völlig anderes als das nach sowjetischem Vorbild konzipierte Modell einer Spezialschule, das Jugendlichen die Möglichkeit gab, neben den allgemeinbildenden Fächern zugleich auch eine professionelle instrumentale Ausbildung unter dem Dach einer Musikhochschule zu erhalten. Zu den Charakteristika der vier Spezialschulen der DDR (Standorte waren Berlin, Dresden, Halle und Weimar) zählte vor allem die Tatsache, dass sie auf der einen Seite organisatorischer Bestandteil einer Musikhochschule waren, gleichzeitig aber den Charakter einer selbstständigen Institution trugen – mit eigenen Gebäuden, eigenem Internatsbetrieb und eigenen Stoffplänen, die eine möglichst optimale Hinführung an das spätere Studienniveau garantieren sollten. Daraus ergab sich eine charakteristische Mischung: Die Spezialschulen boten einen Lehrbetrieb, der von umfangreicher Einzelbetreuung gekennzeichnet war (Hauptfachunterricht, Korrepetition) und sich in dieser Hinsicht kaum vom eigentlichen Studium unterschied. Zum anderen waren sie aber auch »normale« Schulen, die sich am allgemeinen Lehrplan der Polytechnischen Oberschulen (POS) orientierten, einen Regelschulabschluss nach der 10. Klasse boten (mit der Möglichkeit eines anschließenden Musikstudiums) und durch einen Unterrichtsbetrieb geprägt waren, der sich – mit Ausnahme der kleineren Klassenstärken und einer teilweisen Nutzung der Nachmittagsstunden – nur wenig von den äußeren Abläufen anderer Schulen unterschied. Die Internatsstruktur, die sich aus dem Anspruch ableitete, alle Kinder der jeweiligen Region – und nicht nur die vor Ort ansässigen – zu erreichen, verstärkte die institutionelle Eigenständigkeit: Ein Spezialschüler war Teil einer eigens auf ihn ausgerichteten Institution und nicht lediglich, wie der Jungstudent im Westen, ein externer Besucher (um nicht zu sagen: Fremdkörper), der die hochschulischen Strukturen zwar nutzte, ohne doch wirklich dazu zu gehören.
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Dass es im Westen Derartiges nicht gab, hängt wohl vor allem mit der Tatsache zusammen, dass die Förderung von Begabung und Hochbegabung dort bis in die späten 1980er Jahre hinein weder ein Thema der Pädagogik noch der Bildungspolitik war. Mit Fragen der musikalischen Begabung beschäftigten sich vor allem die Musikpsychologen – allerdings ging es hier vorwiegend um Grundlagenforschung und so gut wie nie um die ins pädagogische Terrain hinein weisende Frage nach einer bestmöglichen Förderung des »begabten« Nachwuchses. Diese auffallende Ausklammerung zeigt sich etwa an der Tatsache, dass es in der 1983 gegründeten instrumentalpädagogischen Fachzeitschrift »Üben & Musizieren« bis zur Wiedervereinigung so gut wie keinen Beitrag gab, der sich dezidiert mit der Förderung angehender jugendlicher Profimusiker beschäftigte. Man muss die Einschätzung des ehemaligen Präsidenten der Hannoveraner Musikhochschule, Richard Jakoby, nicht unbedingt teilen, der die 68er-Bewegung dafür verantwortlich machte, in Westdeutschland eine Situation geschaffen zu haben, in der »unter den Reizworten ›Leistungsdruck‹ oder ›Fixierung‹ auch jene Jugendlichen, die zu höchster künstlerischer Leistung bereit waren, äußerst verunsichert und in ihrer Arbeit und Entwicklung […] gestört wurden«, um dennoch zu konstatieren, dass die Frage nach »Exzellenz«- oder gar »Eliteförderung« bis ca. 1990 in Westdeutschland eine musikpädagogische »Nogo-Area« darstellte (Jakoby 1985, S. 78). Es waren im Wesentlichen drei Ursachen, die dazu führten, dass sich diese Situation ab 1990 langsam, aber grundlegend veränderte. 1) Zum einen zeichnete sich in der Musikpädagogik zu diesem Zeitpunkt eine Situation ab, in der die öffentlichen Gelder für Musikschulen drastisch zurückgefahren wurden und das Schulfach Musik sich einem wachsenden Stundenausfall ausgesetzt sah. Diese als dramatisch empfundene Situation führte dazu, dass führende wissenschaftliche Fachvertreter ihr eigenes Tun verstärkt gesellschaftspolitisch begriffen und offen als Vorkämpfer »ihres« Faches in Erscheinung traten. Dem Musikpädagogen und Begabungsforscher Hans-Günther Bastian bleibt das Verdienst, erkannt zu haben, dass der Ruf nach musikalischer Spitzenförderung ein entscheidendes Vehikel war, um politisch die Forderung nach einer reflektierten Breitenarbeit durchsetzen zu können (vgl. Bastian 1989, S. 376; Bastian 1997a, S. 15). Denn anders als in den Jahren zuvor hatte sich die bildungspolitische Landschaft in Westdeutschland im Verlauf der 1980er Jahre so verändert, dass das Leistungsargument politisch durchaus wieder auf offene Ohren stieß. Der Slogan »Leistung muss sich wieder lohnen«, mit dem Helmut Kohl im Bundestagswahlkampf bereits 1982 gegen die sozialliberale Koalition angetreten war, hatte, wenn auch mit gehöriger Verzögerung, zu einer Neujustierung der bildungspolitischen Diskussion geführt, die Bastian mit drei großangelegten und politisch auf höchster Ebene unterstützten Symposien sowie der von ihm betriebenen Gründung des Paderborner »Instituts für Begabungsforschung und Begabungsförderung« geschickt zu nutzen wusste. 2) In diesem Zuge konnte mit der Wiedervereinigung das ostdeutsche Modell der Spezialschulen in ein helleres Scheinwerferlicht gerückt werden und eine Vorbildfunktion einnehmen, die in der westdeutschen Diskussion zuvor vakant geblieben war. Wenngleich die im engeren Sinne instrumentalpädagogische Szene der alten Bundesländer zunächst in erstaunlich geringem Umfang von diesen Einrichtungen Notiz nahm, so bildeten sie doch für die Schulmusik und die Begabungsforschung wichtige Orientierungspunkte. In zwei Expertentagungen wies der »Verband Deut-
F RAGESTELLUNG
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M ETHODIK | 17
scher Schulmusiker« Anfang der 1990er Jahre »auf die Bedeutung der ehemaligen Spezialschulen und Spezialklassen für Musik in der ehemaligen DDR« hin und empfahl sie »nach modifizierter Anpassung an das Bildungssystem der Bundesrepublik als eine vorbildliche und nachahmenswerte Einrichtung auch den westlichen Bundesländern« (Ehrenforth 1993, S. 128). Diese uneingeschränkt positive Sichtweise wurde von Bastian geteilt, der bereits 1991 im Anschluss an die von ihm initiierte »Internationale Expertenkonferenz über musikalische Begabungsforschung und Begabungsförderung« in Hadamar und als Antwort auf eine Große Anfrage im Deutschen Bundestag dem Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft einen Empfehlungskatalog vorgelegt hatte, in dem u.a. ein »sofortige[r] fachliche[r] Austausch über den (ggf. modifizierten) Fortbestand der Spezialschulen der ehemaligen DDR und den Spezialklassen an den Musikhochschulen« gefordert wurde (Bastian 1991, S. 270). Angesichts der Tatsache, dass die ehemaligen Spezialschulen just zu diesem Zeitpunkt um ihr Überleben kämpfen mussten, kann die Bedeutung dieses Petitums für das Fortbestehen dieser Institute kaum hoch genug eingeschätzt werden. Fünf Jahre später kam Bastian erneut auf die Situation in den neuen Bundesländern zurück und schrieb nahezu euphorisch über die nun teilweise zu Musikgymnasien umgewandelten ehemaligen Spezialschulen: »Bildungs- und Schulpolitiker können ihre reine Freude haben […]. [Es] herrscht offensichtlich eitel Sonnenschein im Osten. In den neuen Bundesländern hat die Begabtenförderung in der Musik ihre eigene Metapher: ›Der Himmel hängt voller Geigen.‹ Den Wolkenhimmel finden wir im Westen.« (Bastian 1997b, S. 159) Das wachsende Interesse an einer verstärkten Förderung des »begabten« Nachwuchses konnte sich in der Folgezeit mit dem allerorten um sich greifenden Interesse an der, wie es nun hieß, Förderung von »Exzellenz« verbinden. Spätestens mit dem so genannten Pisa-Schock im Jahre 2002 kam es zu »bedeutsame[n] Verschiebungen im öffentlichen Diskurs zu Bildung und Wissenschaft […], die nicht nur als Verschiebungen der Semantik zu verstehen [waren], sondern auf gravierende organisatorische Transformationsprozesse hinweisen und deren Ausdruck sind« (Helsper 2009, S. 167; vgl. auch Münch 2007). Ein beredter Ausdruck dieser Transformationsprozesse sind in musikpädagogischer Hinsicht die zahlreichen Gründungen von Einrichtungen, mit denen die deutschen Musikhochschulen sich nun verstärkt um die Förderung des heimischen Nachwuchses bemühten. Stellvertretend seien genannt: das Institut für musikalische Frühförderung Hannover (2000), das Pre-College Cologne (2005), das Detmolder Jungstudierenden-Institut (2005), die Freiburger Akademie zur Begabtenförderung (2007), die Young Academy Rostock (2008) und das PreCollege Würzburg (2013). Ein Ende dieser Gründungswelle ist noch nicht abzusehen. Alle diese Neugründungen können als Einlösung der bereits 1991 erhobenen Forderung des Deutschen Musikrates nach einer »systematischen Etablierung von Studienzentren in Verbindung mit den 21 Musikhochschulen in Deutschland« gelten (Eckhardt 1991, S. 118). Während diese Forderung damals allerdings noch mit dem Gedanken einer »modifizierte[n] Übernahme des in der ehemaligen DDR praktizierten Modells der […] Spezialschulen für Musik« verknüpft war (ebd.), scheint das ostdeutsche Erbe später keine allzu große Rolle mehr gespielt zu haben. Schon durch die häufig gewählte Bezeichnung »Pre-College« stellten sich die neu gegründeten Institute eher in einen internationalen Kontext (als Vorbild bei der Namensgebung fun-
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gierte möglicherweise das Pre-College der Juilliard School in New York), als dass sie an die ostdeutsche Tradition der Spezialschulen anknüpften. Deutlich zeigt sich diese internationale Ausrichtung etwa an der Selbstbeschreibung des »Instituts für musikalische Frühförderung« Hannover: »Der enorme Vorsprung, den andere Länder auf dem Gebiet der Hochbegabtenförderung in der Musik haben, ist Ansporn für das IFF. Dennoch ist es nicht der äußerliche ›Erfolg‹, der hier das vorrangige Ziel darstellt. Vielmehr sind es die immanenten Anforderungen der Musik an die Musiker und der Respekt vor der Begabung, die das Projekt von Anfang an inspiriert haben.« (IFF Hannover Homepage)
Womöglich aus Gründen einer innerdeutschen Hochschul-Konkurrenz wird die ostdeutsche Tradition hier schlichtweg ignoriert und ein Vorsprung »anderer« Länder diagnostiziert. Das wäre an sich keiner weiteren Erwähnung wert, zeigte sich an dieser Nicht-Beachtung nicht ein grundlegendes Versäumnis: So häufig die DDRSpezialschulen Anfang der 1990er Jahre als Vorbild für die westdeutsche Musikpädagogik genannt wurden, so sehr fehlte es in der Folgezeit doch an Versuchen, die Erfahrungen, die an diesen Schulen gemacht wurden, zu bergen und aufzuarbeiten. Es wurde versäumt, zentrale Themen der musikalischen Begabungsförderung mit den Erfahrungsbeständen der alten Spezialschulen in Beziehung zu setzen. Zu diesen Themen zählte Bastian (1997a, S. 20 f.) unter anderem folgende Aspekte: • • • •
»Allgemeinbildung und frühe Spezialisierung in Musik – ein Balanceakt? Bewahrung und Anforderung: als Jugendlicher schon Profi sein müssen! Disziplin und Freiheit: Zwischen Arbeiten, Spielen und Üben Skepsis und Hoffnung: Berufsaussichten und -alternativen oder: Zur sozialen Verwendung des Gelernten.«
Zu ergänzen wäre die Frage, ob und inwieweit eine institutionelle Zusammenfassung musikalisch »begabter« Kinder im Rahmen eines eigenständigen Instituts nicht auch eine Abtrennung von alltäglichen Lebenszusammenhängen bedeutet, die sich unter Umständen negativ auf die weitere Entwicklung auswirkt. Zu dieser Frage hatte Hermann Rauhe, der damalige Rektor der Hamburger Musikhochschule auf dem ersten Kongress des Paderborner Begabungsinstituts 1992 einen provokanten Denkanstoß geliefert. Ausgehend von der Überlegung, dass professionelles Musizieren wesentlich auf einer hochentwickelten Interaktionsfähigkeit gründet und Musiker daher immer auch »Vermittler« sein müssen, die in der Lage sind, ihre musikalischen Intentionen anderen Menschen verständlich zu machen, postulierte er: »Das soziale Umfeld der Hochbegabten […] wird bestimmt über die Fähigkeit, mit ›Normalen‹ umgehen, sich auf deren Bedürfnisse einstellen und sich damit verständlich machen zu können. […] Der soziale Aspekt läßt sich da betonen, wo in der Schule und in anderen Ausbildungsbereichen der (die) Hochbegabte seine (ihre) Fähigkeiten zur Förderung Minderbegabter einsetzt.« (Rauhe 1993, S. 116)
Aus diesem Grunde plädierte Rauhe gegen die Idee eines »Schutzpark[s]«, in dem Hochbegabte »ihre Kreativität frei von gesellschaftlichen Zwängen und einengenden
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Bindungen entfalten können.« (Ebd., S. 115) Seine Einlassung wurde jedoch nicht weiter verfolgt. Das ist umso bedauerlicher, als gerade die von ihm angeschnittene Frage von grundlegender Bedeutung für die konzeptionelle Entwicklung musikalischer Spitzenförderung wäre. In diesem Zusammenhang hätte auch diskutiert werden können, was für Konsequenzen es mit sich bringt, wenn man, wie es für die Spezialschulen der DDR kennzeichnend war, den künstlerischen Einzelunterricht mit der schulischen Allgemeinbildung unter einem Dach kombiniert. Welche Folgen hat es, wenn zwei derart unterschiedliche Formate des Lehren und Lernens in ein und denselben institutionellen Kontext gestellt werden? Hier der Hauptfachunterricht, der von einer intimen Nähe zwischen Lehrer und Schüler geprägt ist, der mit einer hohen intrinsischen Motivation des Schülers rechnet und der gerade in seinen intensivsten Momenten quasi zeitenthoben ganz in die Sache eintaucht (vgl. Grimmer 2010; Allert 2012). Dort die schulische Allgemeinbildung, die – wie immer sie im Einzelnen ausgestaltet sein mag – doch weitgehend einem starren Umgang mit der Zeit folgt und nicht zwangsläufig auf eine hohe Motivation auf Seiten der Schüler angewiesen ist: Klassenarbeiten und Abschlüsse lassen sich unter Umständen auch dann erfolgreich meistern, wenn kein sonderliches Interesse am Fachgegenstand besteht. Was passiert, wenn diese beiden grundverschiedenen pädagogischen Situationen in einem »dualen System« miteinander verbunden werden? Ermöglicht es eine Flexibilität, die der künstlerischen Ausbildung zu Gute kommt? Führt es zu einem »verschulten« Hauptfachunterricht? Wird der Bereich der Allgemeinbildung stärker marginalisiert als dies bei einer vollständigen Trennung der Institutionen möglicherweise der Fall wäre? Oder gibt es befruchtende Impulse zwischen beiden Säulen? Zur Klärung dieser und weiterer Fragen hätte eine gründliche Bestandsaufnahme der ostdeutschen Erfahrungen sicher einiges beitragen können. Hier fehlte (und fehlt) es jedoch an einschlägiger Forschungsarbeit. 3) Schließlich ist auf bedeutsame Forschungsentwicklungen hinzuweisen, die seit Beginn der 1990er Jahre die Herangehensweise an die Begabungsthematik grundlegend verändert haben und – anders als dies zuvor der Fall gewesen war – eine Verknüpfung von musikpsychologischen Erkenntnissen und bildungspolitischen Initiativen möglich machten. Mit dem so genannten »Expertise-Modell« verlagerte sich der Fokus von den mehr oder minder greifbaren Voraussetzungen einer Leistung (Begabungsbegriff) hin zur Genese dieser Leistungen im Verlauf einer Biografie. Da sich unsere Studie – wiewohl sie in methodischer und inhaltlicher Hinsicht völlig andere Wege beschreitet – an den zentralen Aussagen dieses Modells orientiert, sei an dieser Stelle etwas näher auf diesen Forschungsansatz eingegangen (vgl. Gruber & Lehmann 2008): Die Expertiseforschung stellt sich schlicht und einfach die Frage, auf welche Weise Menschen zu »Experten« in einer bestimmten »Domäne« werden. Sie konzentriert sich dabei weniger auf jene Dimensionen, die sich nicht oder nur kaum beeinflussen lassen, wie etwa auf das Begabungspotenzial oder bestimmte körperliche Voraussetzungen, die zur Meisterschaft innerhalb einer Domäne notwendig sind. Vielmehr sucht sie zu ergründen, auf welche Weise sich die Lebensumstände eines Experten von denjenigen eines Amateurs unterscheiden. Gibt es bestimmte Dinge, die im Leben eines leistungsstarken professionellen Musikers schlichtweg anders verlaufen sind als im Leben anderer Menschen und können diese Unterschiede zur Erklärung dieser besonderen Leistungsfähigkeit dienen?
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Der erste Forscher, der im Bereich der Musik in diesem Sinne den Weg eines »Novizen« zum »Experten« nachzeichnete, war Karl A. Ericsson. In einer Studie, die er 1993 an der Berliner Universität der Künste durchführte, beschränkte sich Ericsson auf einen einzigen und sehr naheliegenden Parameter: die Übezeit. Das Ergebnis seiner Studie mündete in dem einfachen und doch bemerkenswerten Nachweis, dass das Spiel derjenigen Instrumentalisten, die in ihrem Leben am meisten geübt hatten, von einer Expertenkommission auch am besten bewertet wurde. Die überraschende Eindeutigkeit dieses Befundes veranlasste Ericsson dazu, den Begabungsaspekt kategorisch in Frage zu stellen und der »folk psychology« zuzurechnen. Aber natürlich war der bloße Zeitfaktor als Erklärung nicht wirklich befriedigend. Schließlich wurden mit ihm lediglich Quantitäten erfasst. Über die Qualität des Übens konnte auf diese Weise keine Aussage getroffen werden. So präzisierte Ericsson seine These durch den Begriff der »deliberate practice«: Zu einem erfolgreichen Experten entwickelt sich, so seine durch Befragungen gewonnene Kernaussage, wer möglichst lange bewusst (= deliberate), konzentriert und intensiv geübt hat. Bereits zwanzig Jahre zuvor war die zeitliche Dauer dieser deliberate practice in Hinblick auf eine andere Domäne, das Schachspiel, mit zehn Jahren beziffert worden (vgl. Chase & Simon 1973): So lange müssen Schachnovizen in der Regel kontinuierlich und bewusst üben, um als Experten gelten zu können. Diese sogenannte Zehn-JahresRegel ist mittlerweile auch für Domänen wie die Musik und den Sport anerkannt (vgl. Ericsson 1996). In der anschließenden Diskussion wurde dieses Modell zum Teil scharf kritisiert, weil sich schnell zeigte, dass eine Reihe von naheliegenden Problemen auf diese Weise nicht geklärt werden konnte, so etwa die Frage, aufgrund welcher Faktoren ein Schüler in einem bestimmten Alter im Sinne der deliberate practice mit einem zielorientierten Üben beginnt, ein anderer hingegen nicht. Auch die Tatsache, dass sich mit dem Expertise-Modell das Phänomen der so genannten Wunderkinder nicht erklären ließ, wurde kritisch hervorgehoben (vgl. Gembris 2009, S. 166). Die polare Gegenüberstellung zwischen der Begabungsforschung auf der einen und dem Expertise-Ansatz auf der anderen Seite ist heute einer wesentlich differenzierteren Sichtweise gewichen. Auch Expertiseforscher leugnen Begabungseinflüsse nicht mehr kategorisch, weisen allerdings darauf hin, dass auch »kleine dispositionelle Unterschiede durch optimale Expertisierung in große individuelle Leistungsunterschiede mutieren [können]« (Gruber & Lehmann 2008, S. 499; Lehmann 2014). Eine der wesentlichen Aufgaben von Expertiseforschung ist es demnach, im Einzelnen aufzuzeigen, auf welche Weise ein Üben im Sinne der deliberate practice zu einer Veränderung der zugrundeliegenden Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen führt und damit besondere Leistungen ermöglicht (vgl. Lessing 2016b). Hier öffnen sich starke Berührungspunkte zur Neurobiologie, die die erstaunliche Plastizität und Modellierungsfähigkeit des Gehirns aufzeigen konnte und damit zu der Erkenntnis führte, dass ein intensives und zielgerichtetes Üben und Musizieren über einen langen Zeitraum hinweg zu einer grundlegenden Umgestaltung der musikbezogenen Wahrnehmungsfähigkeit führt. Wieso aber entschließen sich Menschen dazu, den mitunter mühevollen Weg eines täglichen Übens im Sinne der deliberate practice auf sich zu nehmen? In der Expertiseforschung besteht Einigkeit darin, dass extrinsische Faktoren (also etwa äußerer Druck) für sich genommen nicht ausreichen, um die häufig mühevolle Arbeit
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der täglichen Auseinandersetzung mit dem Instrument über lange Zeiträume hinweg auf sich zu nehmen. Sportwissenschaftler konnten zeigen, dass sich die Leistung herausragender Sportler nicht nur durch eine zeitintensive deliberate practice in den Jugendjahren erklären lässt, sondern wesentlich von der Art und Weise abhängt, wie der Sport zuvor, im prägenden Alter (sampling phase) von 7–12 Jahren betrieben wurde (vgl. Côté 1999, S. 395–417; Côté Hay 2002, S. 484–502). Bei erfolgreichen Sportlern scheinen diese Jahre gerade noch nicht von einer deliberate practice, sondern vielmehr von einem »deliberate play« beherrscht zu sein. Gemeint ist damit ein spielerisches und lustbetontes Ausüben der jeweiligen Sportart im Sinne eines »Regelspiels« (Piaget & Inhelder 2004, S. 126 f.) unter weitgehender Vernachlässigung von externen Leistungskategorien. Ebenso wurde gezeigt, dass Menschen, die später sportlich erfolgreich werden, in frühen Jahren häufig ebenso lustvoll Aktivitäten ausübten, die nichts mit ihrer künftigen Domäne zu tun haben. Diese Erkenntnis scheint auch für die Musik von Belang zu sein, wenngleich sich hier ein deliberate play zumeist in einem weit früheren Lebensalter, in aller Regel im familiären Raum ereignet (vgl. McPherson & Lehmann 2012). Die besondere Bedeutung der elterlichen Unterstützung wurde bereits 1995 von der polnischen Musikpsychologin Maria Manturzewska hervorgehoben, die zeigen konnte, dass die Elternhäuser erfolgreicher Musiker häufig von emotionaler Wärme, einer kindzentrierten Haltung der Eltern sowie einem hohen Leistungsbewusstsein geprägt sind, wobei dieses Leistungsbewusstsein eher aufgaben- als zielorientiert in Erscheinung tritt: Nicht der zu gewinnende Wettbewerb, sondern die Arbeit um der Sache selbst willen tritt als prägende Haltung in den Vordergrund (vgl. Manturzewska 1995, S. 11–22). Unterstützt wird dieser Befund durch eine Längsschnittstudie, in der anhand der Faktoren »emotionale Wärme« und »Anregungen« vier verschiedene Familientypen abgeleitet wurden, wobei sich für Musiker derjenige Familientyp als besonders günstig erwies, der sowohl von Wärme als auch von Anregungen gekennzeichnet war (vgl. Csíkszentmihály et al. 1993). Als ein weiterer Aspekt, der für die Entwicklung eines zielgerichteten Übens im Sinne der deliberate practice von Belang ist, wurde in der Expertiseforschung die Rolle des Lehrers untersucht – und hier insbesondere die des ersten Lehrers. Gerade die Kinder, die später auf ihrem Instrument erfolgreich sind, beschreiben ihren ersten Lehrer rückwirkend häufig als sympathisch und freundlich (vgl. Davidson, Sloboda & Howe 1995/96; Gembris 2009, S. 196). 1.1.2 Der Einfluss der Institution – ein Forschungsdesiderat All diese und noch weitere Aspekte – Elternhäuser, Geschwister, Beziehung zum Hauptfachlehrer, Verhältnis zu Gleichaltrigen – werden auch in unserer Studie eine Rolle spielen. Wir werden vor dem Hintergrund der von der Expertiseforschung vorgelegten Ergebnisse die Frage stellen, inwieweit das Modell »Spezialschule« die frühe Entwicklung einer autonom und um ihrer selbst willen erfolgenden deliberate practice beeinflusste. Allerdings wären die Besonderheiten des Lebens und Lernens an den Spezialschulen durch die Fragestellungen der Expertiseforschung alleine nicht zureichend erfasst. Denn offen bliebe, inwieweit die Spezialschule selbst als Institution die Entwicklung der heranwachsenden Musikerinnen und Musiker beeinflusste. Und genau diese Frage ist es, die bislang nicht aufgearbeitet wurde, die aber bei der
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Diskussion um die Gestalt heutiger Landesgymnasien für Musik und Pre-Colleges zu berücksichtigen wäre. Der Einfluss einer Ausbildungsinstitution auf den künstlerischen Entwicklungsprozess junger Musikerinnen und Musiker stand wohl auch deshalb bislang nicht im Fokus des wissenschaftlichen Interesses, als der Weg zur instrumentalen Meisterschaft ja keineswegs zwingend auf derartige Institutionen angewiesen ist. Denn im Zentrum der Ausbildung steht unangefochten der instrumentale Einzelunterricht. Die mitunter hermetisch von der Außenwelt abgeriegelte Dyade zwischen Lehrer und heranwachsendem Jugendlichen stellt sicherlich eine eigene und historisch sehr alte Form des institutionalisierten Lernens dar. Doch ist sie nicht zwingend an eine schulische Ausbildungsinstitution gekoppelt, sondern lässt sich durchaus auch auf privater Basis realisieren. In den westlichen Bundesländern ließ sich vor der Gründungswelle der Pre-Colleges die Tendenz feststellen, dass gerade erfolgreiche Teilnehmer am Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« häufig aus privaten Unterrichtsverhältnissen (und keineswegs aus den Musikschulen) kamen. So ist es nicht verwunderlich, dass die jene Dyade umgreifende Ausbildungsinstitution als eigenständiger Faktor bei der Entwicklung musikalischer Expertise bislang weder in Bezug auf die vorberufliche Ausbildung, noch in Bezug auf das daran anschließende Studium genauer in den Blick genommen wurde. Da das Kernstück instrumentalen Lernens, der Einzelunterricht, eine Institution sui generis darstellt, die nicht zwangsläufig auf eine sie umfassende Ausbildungsinstitution angewiesen zu sein scheint, lag es nahe, sich bei der Suche nach Einflussgrößen primär an Personengruppen – Eltern, Geschwister, Lehrer (im Spannungsverhältnis von Kunst und Pädagogik) und Peers – zu orientieren und die institutionellen Kontexte, in die das Handeln dieser Personen eingebunden ist, weitgehend zu vernachlässigen. Das gilt selbst für die Überlegungen von Christa und Tilman Allert, die zwar durchaus beanspruchen »die Musikhochschule als Ort der Professionalitätsschulung« zu thematisieren (so der Untertitel ihres Beitrags), die aber letztlich beim Einzelunterricht stehen bleiben (Allert & Allert 2012). Indem die Autoren nahezu ausschließlich von der »Meister-Schüler-Beziehung« sprechen und dieses »pädagogische Arbeitsbündnis« zum »Arkanum der Institution« erheben (ebd., S. 5), entgeht ihnen genau die Frage nach dem Einfluss des institutionellen Kontextes auf dieses Arbeitsbündnis. So zutreffend in diesem Artikel die Besonderheiten künstlerischen Lernens und die damit verbundene Rollenproblematik für Lehrer und Schüler beschrieben werden, so unscharf und überprüfungsbedürftig erscheinen doch die wenigen Bemerkungen, die der Institution selbst gelten. Den Autoren geht es nicht um eine Analyse der institutionellen Rolle, sondern eher um das Erteilen von Empfehlungen, wie etwa der Forderung nach einem institutionellen Kontext, der »Schonräume für Entwicklungen bereit[stellt]« und dafür Sorge trägt, die Studierenden mit »Handlungskompetenzen auszustatten, die ihnen eine autonome Handlungsfähigkeit und Anpassungselastizität an unterschiedliche Tätigkeitsfelder und wechselnde berufliche Anforderungen erlauben« (ebd., S. 17). Was das konkret heißt, bleibt aber genauso klärungsbedürftig wie die Behauptung, dass »das professionelle Klima einer Hochschule die häufig schmerzhafte Konfrontation mit Leistungsunterschieden auf[fangen] und […] Studierenden die Erfahrung intellektueller Sublimation« ermöglichen würde (ebd., S. 18). Selbst gesetzt, es wäre so, müsste doch im Einzelnen zu zeigen sein, in welcher Weise die Institution derartige Sublimierungen auslöst und begleitet. Solange
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dies nicht erfolgt, bleibt es bei einem bloßen Postulat, dessen Triftigkeit sich allein schon aufgrund von Alltagserfahrung durch genügend viele Gegenbeispiele bezweifeln lässt. Natürlich stellt sich die Frage, worin sich der Aspekt des Institutionellen, wenn er denn mehr sein soll als die Summe einzelner Einflussgrößen, genau äußert. Und daran lässt sich die weiterführende Frage anschließen, was hier eigentlich unter einer Institution verstanden wird. Soll deren möglicher Einfluss auf instrumentale Lernbiografien untersucht werden, so müsste doch immerhin klar sein, was gemeint ist, wenn von »Institution« gesprochen wird. So unproblematisch dieser Begriff in der Umgangssprache sein mag, so schwierig scheint es doch, ihn im Rahmen einer wissenschaftlichen Auseinandersetzung präzise zu fassen. Bevor wir die hier angeschnittenen Fragen theoretisch zu klären versuchen, ist es sinnvoll, noch ein wenig im vorwissenschaftlichen und umgangssprachlichen Bereich zu verweilen. An einer Stelle ihres Textes sprechen Allert & Allert, wie oben zitiert, vom »professionellen Klima«, das in ihren Augen eine Musikhochschule prägt. Das ist hier sicher kein wissenschaftlicher Terminus, sondern eine alltagssprachliche Formulierung, die zwar zweifellos unscharf ist, die aber dennoch – oder vielleicht sogar gerade wegen ihrer Unschärfe – mehrere kleine Fingerzeige enthält, die zumindest die grobe Richtung angeben, in die möglicherweise zu suchen ist, wenn es um den Einfluss der Institution Spezialschule auf den künstlerischen Entwicklungsgang junger Musikerinnen und Musiker geht. Zunächst ist festzustellen, dass wir, wenn wir umgangssprachlich vom »Klima« sprechen, das wir an einer bestimmten Schule, Hochschule oder Universität empfinden, uns in aller Regel auf Sachverhalte beziehen, die nicht ausschließlich in Form von Regelungen, Studien- und Prüfungsordnungen etc. schriftlich kodifiziert sind. Die Metapher des Klimas bezieht sich – ihrer meteorologischen Herkunft gemäß – eher auf atmosphärische Gegebenheiten, die mitunter kaum greifbar erscheinen, aber dennoch, wie gerade konstruktivistische Lerntheorien immer wieder hervorheben (vgl. Neubert, Reich & Voss 2001, S. 258), unleugbar einen großen Einfluss auf die Befindlichkeit und damit das Lernverhalten der Akteure haben können. Zweitens sind im Klima, das Studierende oder Lehrende an ihrer jeweiligen Schule oder Hochschule empfinden, sowohl äußere Faktoren als auch die dadurch ausgelösten subjektiven Reaktionen untrennbar miteinander verbunden. Ein Klima muss empfunden werden, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Ohne ein Subjekt, das eine bestimmte Atmosphäre wahrnimmt, auf die es dann gefühlsmäßig in einer bestimmten Art und Weise reagiert, wäre es nicht möglich, von einem Klima zu sprechen. Diese subjektiven Anteile provozieren natürlich die Frage, ob und inwieweit das Klima, das eine Person an einer Schule wahrnimmt, eine über diese Person hinausgehende Gültigkeit beanspruchen kann. Nimmt nicht jeder – je nach Herkunft, Charakter, Erwartungshorizont, und sicherlich auch je nach Leistungsvermögen – das ihn umfangende Klima etwas anders wahr? Dem steht gegenüber, dass wir diesen Begriff im Alltag nie allein verwenden, um unsere subjektiven Gefühle und Reaktionen zu schildern. Wer sagt, dass er das Klima an dieser oder jener Schule persönlicher, warmherziger, offener oder inspirierender empfindet als an einer anderen, der will damit nicht so sehr sein eigenes Erleben kennzeichnen, sondern auf einen spezifischen Charakter einer Einzelschule im Vergleich zu anderen hinweisen. Der Begriff des Klimas äußert sich also in einer subjektiven Reaktionsform, die sich aber ihrem
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Anspruch nach wertend auf den Auslöser dieser Reaktion – hier: auf die jeweilige Einzelschule – bezieht und insofern, zumindest aus der Position des jeweiligen Sprechers heraus, mehr zu sein beansprucht als lediglich eine subjektive und damit nicht verallgemeinerungsfähige Empfindung. 1.1.3 Schulkultur als nicht-normative Kategorie Statt von Klima werden wir im Folgenden von »Schulkultur« sprechen (vgl. Helsper et al. 2001). Dieser Begriff, der um die Jahrhundertwende Eingang in die erziehungswissenschaftliche Diskussion gefunden hat, bezeichnet wesentlich mehr und zum Teil auch anderes als der Alltagsbegriff »Klima«. Dennoch ist von allen umgangssprachlich zur Verfügung stehenden Formulierungen der Begriff des Klimas zweifellos am ehesten anschlussfähig an das, was mit dem Begriff der Schulkultur umrissen werden soll. Wenn alltagssprachlich von »Kultur« die Rede ist, impliziert dies häufig eine wertende Unterscheidung: Es gibt Menschen, Gruppen, Nationen, die »haben« Kultur, andere hingegen nicht. Bezogen auf den Begriff der Schulkultur würde ein derart normativ-wertender Kulturbegriff bedeuten, dass es Schulen gibt, die ihrer Zielbestimmung in einer besonders »kultivierten« Form nachkommen. Sie pflegen beispielsweise ein bestimmtes »Ethos« des Miteinanders, sie haben eine hochentwickelte Feedback-Kultur, sie ermöglichen ein eigenverantwortliches Handeln, sie bringen Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung in Einklang etc. Der Begriff der Schulkultur wird mitunter durchaus auch in diesem Sinne verwendet, etwa wenn von Schulprogrammentwicklung die Rede ist (vgl. Bildungskommission NRW 1995, S. 79; Helsper et al. 2001, S. 18). Dabei werden dann anhand normativer Kriterien die Stärken und Schwächen einer Schule herausgearbeitet und Zielsetzungen formuliert, die letzten Endes dann auf die Entwicklung einer »guten« Schulkultur hinauslaufen. In diesem Sinne verwenden wir den Begriff der Schulkultur nicht. Im Anschluss an Werner Helsper verstehen wir Schulkultur vielmehr als einen »nicht[-]normative[n], ethnografisch-analytische[n]« Begriff (Helsper et al. 2001, S. 11). Schulkultur ist für uns keine »bewertende Folie […], in der ›gute‹ Schulen Schulkultur besitzen und ›schlechte‹ Schulen demgegenüber kulturelle Defizite aufweisen, die sie durch Schulkulturentwicklung wettmachen können« (ebd., S. 19). Unser Begriff der Schulkultur zielt vielmehr auf eine »sinnhafte Erschließung der Alltagspraxen, Rituale, Interaktionsformen, Symboliken […] in der Spannung formeller und informeller Ebenen einer Schule« (ebd.). Es gibt keine Schule ohne Schulkultur, so wie es keine Landschaft ohne Klima gibt. 1.1.4 Schulkultur als Zusammenspiel des Realen, Symbolischen und Imaginären Der Begriff der Schulkultur bezieht sich immer auf eine einzelne Schule. Er thematisiert nicht das, was allen Schulen gemeinsam ist, sondern richtet sein Augenmerk auf die spezifische Art und Weise, in der dieses Gemeinsame von bestimmten Akteuren an einer bestimmten Schule in einem bestimmten lokalen Umfeld ausgeformt und gelebt wird. Schon aus diesem Grund ist es naheliegend, dass sich unsere Studie nicht
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mit den DDR-Spezialschulen allgemein befasst. Unsere Beschränkung auf die Dresdner Spezialschule wird getragen von der Überzeugung, dass die handelnden Personen einer Schule mehr sind als austauschbare Vollstrecker eines im Hintergrund wirkenden institutionellen Willens oder einer allgemein formulierbaren Ausbildungsidee. Vielmehr sind sie durch jeweils eigene, biografisch und regional beeinflusste Vorstellungen geprägt und gehen auf Grund dieser Prägungen auf eine spezifische Weise mit dem um, was die Institution von ihnen verlangt. Genau in dieser je besonderen Aneignungsform tritt die Institution aber überhaupt erst in Erscheinung. Sie »ist« nur dadurch, dass sie auf eine bestimmte Art und Weise von den in ihr handelnden Personen verkörpert wird. Wenn wir den Einfluss der Institution Spezialschule auf den instrumentalen und künstlerischen Bildungsweg heranwachsender Musikerinnen und Musiker untersuchen wollen, sind wir somit immer auf die Umsetzungsmodalitäten einer Einzelschule verwiesen. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob und inwieweit sich die daraus gewonnenen Ergebnisse dann generalisieren lassen. Gerade wenn wir uns auf eine DDR-Spezialschule beziehen, wenden wir uns ja einer vergangenen – um nicht zu sagen untergegangenen – Epoche zu, deren gesellschaftliche Rahmenbedingungen sich von den unsrigen so stark unterscheiden, dass Zweifel angebracht sind, ob die in diesem Zusammenhang getroffenen Befunde auf heutige Verhältnisse überhaupt anwendbar sind. Dem ließe sich entgegenhalten, dass trotz völlig unterschiedlicher gesellschaftlicher Rahmenbedingungen entscheidende Komponenten der Spezialschulausbildung – und hier insbesondere die Lehrer-Schüler-Dyade des Hauptfachunterrichts – eine gewisse Zeitlosigkeit besitzen und damit durchaus auch heute noch Aktualität beanspruchen können. Beide Argumentationen beruhen aber vornehmlich auf Vermutungen. Wir plädieren daher an dieser Stelle dafür, die Frage der Übertragbarkeit, die sich bei unserem methodologischen Ansatz in jedem Fall stellen würde, zunächst einmal als Frage ernst zu nehmen. Welche Aspekte des institutionellen Einflusses als typisch für eine Musikausbildung gelten können und welche sich hingegen als Ausformungen eines DDR-spezifischen Umgangs mit musikalischer Spitzenförderung begreifen lassen, werden wir erst dann wissen, wenn wir uns intensiv auf den Mikrokosmos der Dresdner Spezialschule eingelassen haben. Die ebenso berechtigte Frage, warum wir uns mit unserem Erkenntnisinteresse denn überhaupt auf eine in der Vergangenheit liegende Institution bezogen haben und nicht auf eine uns zeitlich näherliegende Einrichtung, beantwortet sich, wenn man bedenkt, dass sich schulische Ausbildung ihrem Wesen nach immer auf die Zukunft bezieht. Wie genau eine Schulkultur beschaffen ist, erschließt sich, wie wir im Methodenkapitel (1.2.2) noch genauer darlegen werden, erst dann vollständig, wenn man die Auswirkungen berücksichtigt, die diese Ausbildung in der Biografie der beteiligten Personen hervorgerufen hat. Insofern wird für unsere Fragestellung gerade die Tatsache, dass die Ausbildungszeit der Befragten in der Vergangenheit liegt, eine wichtige Informationsquelle darstellen. Auch wenn Schule als Institution nur in je einzelnen Ausformungen hervortritt, beziehen sich diese Ausformungen doch immer auch auf Vorfindliches – auf Sachverhalte, die für alle Schulen gelten und die die Akteure nicht beeinflussen können. Um dieses Zusammenspiel von vorgegebenen Rahmungen und jeweils konkreten Ausformungen beschreibbar zu machen, unterscheiden Werner Helsper et al. (2001, S. 24–26) zwischen einer realen (a), einer symbolischen (b) und einer imaginären (c)
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Dimension von Schulkultur.2 Diese Differenzierung ist auch für unsere Konzeption von Schulkultur von großem Belang, wenngleich bereits an dieser Stelle darauf hingewiesen werden soll, dass wir sie teilweise etwas anders fassen werden. Folgen wir aber zunächst der Definition Helspers: a) Mit dem Begriff des Realen bezeichnet Helsper all jene regelhaften Aspekte von Schule, die die Akteure als »gegeben« vorfinden. Das Reale beschreibt den von außen vorgegebenen Rahmen ihres Handelns. Dazu gehören etwa ein spezifischer Bildungsbegriff, dem ein Schulsystem unterliegt, sowie die Vorstellungen über die Rollen, die dem Lehrer und dem Schüler in diesem System zugewiesen werden. Im Falle der DDR-Spezialschulen wären diese allgemeinen Rahmungen zu ergänzen durch einen besonderen Bildungsauftrag (Förderung des »begabten« musikalischen Nachwuchses), bestimmte schulgesetzliche Regelungen, die diesen Auftrag ermöglichen sollten, interne Absprachen und Vereinbarungen der vier Spezialschulen untereinander, die Organisation der Prüfungen, die besondere Lehr-Lernsituation im Hauptfachunterricht, die Internatsstruktur sowie die organisatorische Anbindung an die Hochschule. Schließlich zählt Helsper zu dieser Dimension des Realen auch die so genannten »pädagogischen Antinomien« (ebd., S. 39–67). Damit werden in den Erziehungswissenschaften jene grundlegenden Widersprüche pädagogischen Handelns bezeichnet, die sich schlechterdings nicht auflösen lassen, sondern für jede Unterrichtsbeziehung – unabhängig von ihren historischen oder gesellschaftlichen Kontexten – Geltung besitzen. Als Beispiel für eine derartige Antinomie diene hier an dieser Stelle die so genannte »Begründungsantinomie«, die davon ausgeht, dass jede Form des Unterrichts auf Seiten des Lehrenden einerseits ständig ein spontanes Handeln erfordert, andererseits aber in jedem seiner Momente begründbar sein sollte. Da sich Spontaneität und Begründbarkeit aber zumindest teilweise ausschließen, liegt hier ein nicht vollständig auflösbarer Widerspruch zwischen »erhöhtem Entscheidungsdruck und gesteigerter Begründungspflichtigkeit« vor, eben die »Begründungsantinomie« (vgl. Oevermann 1996, S. 77). Diese und noch viele weitere Antinomien gehören nach Helsper eben deshalb zur Dimension des Realen, weil sie nicht beliebig außer Kraft gesetzt werden können. Sie umschreiben eine Problematik, die ein Lehrender zwangsläufig vorfindet – einerlei, zu welcher Zeit und in welchem Gesellschaftssystem er seinen Beruf ausübt. Er kann sie zwar auf eine spezifische Art gestalten, aber nicht beliebig außer Kraft setzen. b) Allerdings wäre es zu kurz gegriffen, das Handeln schulischer Akteure auf den Rahmen des Realen zu reduzieren. Jede Rahmung muss in Interaktionen von Akteuren umgesetzt werden, um überhaupt in Erscheinung treten zu können. Im Zuge dieser Umsetzungen kommt es zu teils geringen, teils aber auch gewichtigeren Modifikationen des Rahmens. Keine Umsetzung ist einer anderen vollständig gleich. Ob an einer Schule mit Lehrplänen eher verbindlich oder lax umgegangen wird, ob – ein Thema, um das eine Beschäftigung mit DDR-Schulen nicht herumkommt – politische Inhalte und Rituale eher pflichtgemäß absolviert werden oder eine zentrale Rol2
Die Unterteilung von Schulkultur in die Aspekte des »Realen«, »Symbolischen« und »Imaginären« deckt sich terminologisch mit den Grundbegriffen der Psychoanalyse Jaques Lacans. Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass diese Begriffe bei Helsper et al. (2001) eine vollständig andere Bedeutung besitzen.
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le im Schulleben spielen, hängt eben nicht nur von den Rahmenbedingungen, dem Realen, ab, sondern vor allem auch von der Art und Weise, wie diese Rahmenbedingungen in einem bestimmten Kontext interpretiert und gelebt werden. Diese je unterschiedlichen Bearbeitungen des Realen werden von Helsper et al. mit dem Begriff des »Symbolischen« bezeichnet. Im Spannungsfeld von Allgemeinem und Besonderem bezeichnet das Symbolische den Ort des Besonderen, wobei dieses Besondere ebenfalls wiederum regelgeleitete Strukturen aufweist, die es in seiner Besonderung erklärbar machen. Anders formuliert: Es gibt Gründe, warum eine Einzelperson, aber auch eine Schule als Ganze die realen Rahmenbedingungen auf eine ganz spezifische Art und Weise symbolisch umsetzt. Wenn – wie wir in Kapitel 3.5 genauer zeigen werden – an der Dresdner Spezialschule auf politische Linientreue insgesamt weniger geachtet wurde als etwa an der Schwesterinstitution in Weimar, hat das nicht nur etwas mit der »Persönlichkeit« einzelner zentraler Akteure zu tun (obwohl dieser Aspekt sicher eine wichtige Rolle spielt), sondern eben auch mit schulinternen Usancen und regionalen Eigenheiten, die, ohne dass sie irgendwo kodifiziert hätten sein müssen, in Dresden eben anders waren als in Weimar. Und dies, obgleich sich die »realen« Rahmenbedingungen beider Schulen in hohem Maße deckten. Genau hier liegt die Schnittstelle zum alltagssprachlichen Begriff des Klimas: Wer beispielsweise zwei Schulen desselben Schultyps, desselben Profils und innerhalb derselben Stadt miteinander vergleicht und der einen ein aufgeschlossenes, der anderen hingegen ein eher restriktives Klima zuweist, der benennt Unterschiede, die nicht die Ebene des Realen betreffen – denn die wäre für beide Schulen ja in etwa identisch. Vielmehr bezieht er sich auf die Art und Weise, wie mit dieser realen Ebene innerhalb dieser beiden Schulen umgegangen wird. Und diese Art und Weise ist mehr als die Summe einzelner zufälliger Verkörperungen: Eine Aussage über das Klima einer Schule wird von der Überzeugung getragen, dass jede Schule eine schulspezifische Art der Symbolisierung ausprägt, durch die sie sich von anderen Schulen unterscheiden lässt. Der Ort dieser Symbolisierung ist die Alltagspraxis – jenes unmittelbare Handeln, in dem die Akteure einer Schule aufeinander einwirken und miteinander in Beziehung treten. Diese Praxis wird von der Ebene des Realen getragen, vollzieht sich aber in aller Regel auf einer atheoretischen – und das heißt: vorsprachlichen und präreflexiven – Ebene. Auf dieser Ebene bilden sich Umgangsformen und Sprachstile heraus, die den Akteuren nicht unbedingt bewusst sein müssen, aber dennoch ihr Wahrnehmen, Denken und Handeln prägen. c) Die reflexive Ebene spielt aber natürlich dennoch mit in die Schulkultur hinein und prägt selbstverständlich auch ihrerseits die symbolischen Umsetzungen der Akteure. Wenn ein Gesprächspartner in unserer Studie etwa die Ansicht vertritt, die Dresdner Spezialschule sei eigentlich eine Orchesterschule gewesen, deren Hauptaufgabe in der Nachwuchsgewinnung der beiden Dresdner Orchester (Staatskapelle und Philharmonie) bestand, dann weist er der Schule eine bestimmte Rolle zu. Und diese Zuschreibung lenkte und bestimmte gewiss auch sein damaliges Handeln, mithin seine symbolische Umsetzung der realen Rahmenbedingungen. Nach Helsper handelt es sich hierbei um die Ebene des Imaginären. Auf dieser Ebene werden die Selbstbilder formuliert, die einzelne Personen innerhalb einer Schule, aber auch eine Schule als Ganze, von ihrer eigenen Arbeit besitzen. Diese Ebene ist keineswegs nur das rationale und reflexive Pendant der symbolischen Umsetzung: Es kann durchaus sein, dass ein imaginäres Selbstbild nur bedingt oder sogar überhaupt nicht mit der
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Art und Weise übereinstimmt, in der symbolisch agiert wird. Ein Lehrender kann die Ansicht vertreten, dass seine Arbeit der Hervorbringung besonderer künstlerischer Persönlichkeiten dient (Ebene des Imaginären), in seinem Unterricht allerdings auf eine Weise handeln, die diesem Ziel eher abträglich ist (Ebene des Symbolischen). Die Ebene des Imaginären dient zwar der Selbsterklärung der eigenen symbolischen Praxis, kann aber eben auch in erheblichem Widerspruch zum eigenen Handeln stehen – sie hat mitunter geradezu die Funktion, die inneren Widersprüche und Probleme, die auf der Handlungsebene auftreten können, durch eine scheinbar stringente Argumentation zu kaschieren. Und nicht nur zur Ebene des Symbolischen, sondern sogar zu der des Realen kann die imaginäre Dimension in Widerspruch stehen: Auch wenn die Spezialschule unleugbar Musiker ausbildete, die später eine Anstellung in den Dresdner Orchestern fanden, so war sie doch ihrer offiziellen Aufgabenbeschreibung nach sicher keine reine Orchesterschule. Das abweichende imaginäre Selbstbild des erwähnten Gesprächspartners steht durchaus in Widerspruch zum Selbstverständnis anderer Akteure (etwa auf Seiten der Schulleitung), was – wie wir sehen werden – im pädagogischen Alltag zu Konflikten führen konnte. Helspers begriffliche Differenzierung lässt sich als Versuch deuten, die Ebenen des Allgemeinen (Realen) und des Besonderen (Symbolischen) einerseits voneinander abzuheben, um sie in dieser Trennung dann aber andererseits auch aufeinander beziehen zu können. In Bezug auf den Begriff der Schulkultur wird durch diese Differenzierung die Thematisierung einer Einzelschule vor dem Hintergrund allgemeiner institutioneller Voraussetzungen möglich. Das Reale ist nicht zu ermessen, wenn nicht zugleich seine symbolischen Umsetzungen »vor Ort« in den Blick genommen werden. Wenn wir die Dresdner Spezialschule in den Fokus unserer Untersuchung rücken, betreiben wir also keine partikulare Regionalgeschichte, sondern können, indem wir Reales und Symbolisches voneinander abheben, den Zusammenhang zwischen allgemeinen Voraussetzungen und konkreten Umsetzungspraktiken im Rahmen einer Einzelschule herausarbeiten und damit die Spielräume des Realen überhaupt erst ausloten. Stärker noch als dies in Helspers Konzeption von Schulkultur der Fall ist, begreifen wir die Ebene des Symbolischen als eine im Wesentlichen atheoretische Dimension. Sie bezieht sich nicht auf die Intentionen, die Personen nachträglich mit ihrem Handeln verbinden, sondern versucht die Handlungspraxis selbst zu fokussieren. Die Ebene des Imaginären wird demgegenüber als der Ort begriffen, an dem Akteure dieses Handeln aus der Perspektive eines »Sprechens über …« mit Intentionen in Verbindung bringen. Sie bezeichnet somit das, was der Soziologe Alfred Schütz in seiner Auseinandersetzung mit Max Webers Begriff des Idealtyps als »Um-zu-Motive« bezeichnet hat (vgl. Schütz 1974, S. 116). Danach ist »jedes Handeln (im Unterschied zu einem ›sinnlosen‹ ›Sich-Verhalten‹) an einem Entwurf orientiert […], durch den dieses Handeln typenhaft antizipiert wird.« (Bohnsack 2010, S. 145) Eine Handlung wäre als solche gar nicht denkbar, wenn der Handelnde nicht über ein Motiv oder eine Intention verfügen würde, das den Grund seines Handelns formuliert und diesem dadurch überhaupt erst eine erkennbare Form verleiht. Dennoch wird sein Handeln selbst durch diese Um-zu-Motive nicht zureichend erfasst. Denn es speist sich immer auch aus Motiven, die gewissermaßen im Rücken des Handelnden liegen und für ihn nicht direkt einsehbar sind, obgleich sie seine Handlung wesentlich mitkonstituieren.
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Schütz sprach hier von den so genannten »Weil-Motiven« (Schütz 1974, S. 116). Bezogen auf eine Einzelperson kann man sich den Unterschied zwischen Um-zu- und Weil-Motiven an einem einfachen Beispiel vergegenwärtigen: Wir sind in unserer Studie auf einen Gesprächspartner gestoßen, der an der Spezialschule durch einen weit überdurchschnittlichen Fleiß auffiel und ein für sein Alter untypisch hohes Leistungsniveau aufwies. Für sein Umfeld – und allem Anschein nach auch für ihn selbst – lag der »Grund« für sein extensives tägliches Üben in dem durch und durch intrinsischen Bestreben, die eigenen musikalischen Vorstellungen immer besser und genauer verwirklichen zu können. Dieser Grund stellt hier ein klassisches Um-zu-Motiv dar: Das eigene Handeln wird mit einer typenhaften, intersubjektiv unmittelbar einsichtigen Deutung in Verbindung gebracht. Sowohl im Kontext der Spezialschule als auch seiner Familie stellt das Motiv der intrinsischen Begeisterung für die Musik und die Selbstverpflichtung zu unablässiger instrumentaler Verfeinerung für den Gesprächspartner eine gewissermaßen standardisierbare Begründung bereit, die das Handeln mit einem bestimmten »Sinn« versieht: Wäre er damals gefragt worden, warum er so viel übt, hätte er auf genau dieses vorgeprägte und wohl auch ihm selbst plausibel erscheinende Begründungsmuster hingewiesen, das scheinbar reibungsfrei mit seinem Handeln in Übereinstimmung stand. Aus dem Kontext des Interviews lässt sich nun aber rekonstruieren, dass der entscheidende Grund für sein Üben in der Person seiner Mutter lag, deren große Erwartungshaltung bei ihm einen inneren Druck aufbaute, aus dem heraus er seinen ungewöhnlichen Fleiß entwickelte. Das geht bis zu der nachträglichen Einsicht, dass er eigentlich nie besondere Lust zum Üben verspürt hätte. Was hier zum Vorschein kommt, ist also ein unterschwellig wirkendes Weil-Motiv, das die »Ursache« eines Handelns darstellt, die durchaus nicht identisch mit dem »Grund« ist, den sowohl der Handelnde selbst als auch sein damaliges Umfeld seinem Handeln unterschob. Wir verstehen also die Ebene des Symbolischen als jene Ebene des unmittelbaren Handelns, auf der Weil- und Um-zu-Motive unablässig ineinandergreifen. Dieses Handeln ist im Wesentlichen atheoretisch, weil es eine Praxis beschreibt, auf die der Handelnde keineswegs ungehindert Zugriff hat. Demgegenüber stellt die Ebene des Imaginären ein rationalisierbares »Sinn-Potenzial« bereit, durch das mögliche Konflikte zwischen Um-zu- und Weil-Motiven zugunsten einer schlüssigen Um-zuArgumentation geschlichtet werden. Man sieht leicht, dass zwischen der Ebene des Symbolischen und der des Imaginären insofern eine Schnittstelle besteht, als auf beiden Ebenen Um-zu-Motive eine Rolle spielen. Diese Motive werden aber aus unterschiedlicher Perspektive betrachtet. Auf der symbolischen Ebene geht es um die unmittelbare Handlungspraxis, die sich aus dem Zusammenspiel von Weil-Motiven und deren Überführung in sinngenerierende Um-zu-Motive ergibt. Die Ebene des Imaginären kommt hingegen ins Spiel, wenn ein Akteur sein Handeln auf einen begrifflichen Nenner zu bringen versucht, indem er also über sein Handeln spricht – was ihm nur möglich ist, wenn er in diesem Moment aus dem von ihm thematisierten Handlungsprozess hinaustritt.
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1.1.5 Schulkultur als Rekonstruktion eines konjunktiven Erfahrungsraumes Wieso können wir aber davon sprechen, dass nicht nur einzelne Akteure, sondern Institutionen als Ganze zu einer symbolischen Umsetzung des Realen gelangen – zu einer Umsetzung, die so spezifisch ist, dass sie sich von den Umsetzungen anderer Institutionen trotz identischer »realer« Rahmenbedingungen unterscheiden lässt? Um diese Frage zu beantworten, ist eine weitere terminologische Präzisierung notwendig, die für unsere Arbeit absolut zentral ist: Die Unterscheidung zwischen konjunktivem und kommunikativem Wissen. Wenn wir nach der Schulkultur der ehemaligen Spezialschule fragen, begeben wir uns auf die Suche nach dem gemeinsamen Erfahrungsraum, der die Akteure miteinander verband. Es gehört zum Wesen derartiger Erfahrungsräume, dass die Personen, die sich hier begegnen, einander in vielerlei Hinsicht unmittelbar verstehen, ohne die Äußerungen und Handlungen ihrer Mitmenschen eigens interpretieren zu müssen. Die Gegenüberstellung von »verstehen« und »interpretieren« geht auf den Ahnherrn der Wissenssoziologie, Karl Mannheim, zurück. Mannheim ging davon aus, dass jedes Wissen – und damit sind nicht nur sach- und faktizitätsbezogene Kognitionen, sondern auch Glaubensvorstellungen, Körperpraktiken, Routinen alltäglicher Lebensführung etc. gemeint – immer aus einer Handlungspraxis hervorgeht und durch diese Praxis beeinflusst wird. Ralf Bohnsack, dessen Arbeiten sich dezidiert auf die Mannheim’sche Wissenssoziologie beziehen, veranschaulicht das am Beispiel eines Dorfes: Was genau ein Dorf ist, scheint einerseits in seiner »verwaltungsmäßigen, juristischen, verkehrstechnischen oder auch wissenschaftlichen Bedeutung mehr oder weniger verfügbar [zu sein]. Eine zusätzliche, aber völlig andere Bedeutung gewinnt [dieser Begriff aber] für diejenigen, die, im Dorf wohnend, Erfahrungen der dörflichen Alltagsexistenz damit verbinden.« (Bohnsack 2010, S. 61) Für seine Bewohner besitzt das Dorf eine Bedeutung, die sich aus der Praxis des alltäglichen Lebens ergibt. Um diesen Unterschied zu verdeutlichen, spinnen wir das von Bohnsack gegebene Beispiel etwas weiter: Wenn ein Dorfbewohner etwa zum anderen sagt: »Im Dorf wird darüber geredet …«, dann umschließt die Formulierung »Dorf« hier ein ganzes Bündel von Interaktionen, ein Wissen über tonangebende Personen und – damit verbunden – über mögliche Außenseiter, über Stimmungen, Empfindlichkeiten etc., das der Sprecher wahrscheinlich kaum verbal explizieren kann, das aber dennoch eine feste Erfahrungsgröße für ihn darstellt, mit der er sich innerhalb der Dorfgemeinschaft verständigen kann. Was für den Sprecher in diesem Zusammenhang »das Dorf« bedeutet, ist, solange er mit Mitgliedern desselben Erfahrungsraumes spricht, nicht interpretationsbedürftig, weil seine Bedeutung einer gemeinsam geteilten Erfahrungsgrundlage entspringt. Diese Dimension des »konjunktiven«, d.h. geteilten Wissens, ist untrennbar an eine gemeinsame Handlungspraxis gebunden. Man kann dieses Wissen daher auch als ein »praxeologisches« Wissen bezeichnen. Ihm steht die Dimension des »kommunikativen Wissens« gegenüber, die zwar direkt sprachlich mitteilbar ist, aber kaum die Handlungspraxis selbst zu fokussieren in der Lage ist. Wenn unser Dorfbewohner einem Außenstehenden erklären soll, was alles in der Äußerung »Im Dorf wird darüber geredet …« mitschwingt, würde ihn das vermutlich vor große Schwierigkeiten stellen. Wenn es ihm überhaupt gelänge, so wäre seine
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Erklärung ebenso kompliziert und langatmig wie der Versuch, einem anderen Menschen mit Hilfe sprachlicher Mittel erklären zu wollen, wie ein Dur-Akkord klingt oder welche Bewegungen ein Streicher bei einem Lagenwechsel ausführen soll. Genau in dieser umständlichen und aufwändigen Überführung praxeologischen Wissens in eine kommunikativ einsehbare begrifflich-theoretische Explikation liegt die Aufgabe des Forschers begründet, der versucht, einen verbindenden (»konjunktiven«) Erfahrungsraum, wie ihn die Dresdner Spezialschule ohne jeden Zweifel darstellte, zu rekonstruieren. Wir können also sagen, dass nicht nur einzelne Akteure, sondern auch eine Schule als Ganze die real gegebenen Rahmenbedingungen symbolisch umsetzt, insofern sie nämlich einen konjunktiven Erfahrungsraum darstellt, der implizite Regeln, Rituale und Sprachformen ausformt, die die Akteure kennen und wissen, auch wenn sie sie nicht explizieren können. Dieser konjunktive Erfahrungsraum stellt zwar einen »kollektiven Sinnzusammenhang« dar (Bohnsack 2010, S. 63), doch er konstituiert sich keineswegs unabhängig von der Perspektive der einzelnen Individuen. Jeder Akteur, ob Schüler oder Lehrer, trägt – er mag wollen oder nicht – zu diesem Erfahrungsraum bei. Schulkultur, wie wir sie verstehen, ist keine Dimension, die dem Einzelnen als eine von ihm unabhängige Größe gegenübertritt. Vielmehr trägt jeder Akteur durch sein Verhalten zu der spezifischen Ausformung des konjunktiven Erfahrungsraumes bei. Und nicht nur durch sein Verhalten: Das Beispiel des Dorfes zeigte, dass bereits die grundlegende Wahrnehmungsstruktur, aus der dann ein spezifisches Verhalten resultiert, von diesem Erfahrungsraum affiziert ist und eben dadurch zu seiner Konstitution beiträgt. Das Verhalten eines Dorfbewohners in der dörflichen Gemeinschaft ist nur zu einem kleinen Teil ein willentlich steuerbarer Prozess. Wer Teil dieses Erfahrungsraumes ist, betrachtet die Vorkommnisse innerhalb dieses Raumes von vornherein durch eine bestimmte Brille, deren Färbung ihm gar nicht bewusst sein muss. Und diese zugrundeliegende »primordiale« Wahrnehmung steuert dann sein Verhalten. Um das Zusammenspiel zwischen kollektivem Sinnzusammenhang und der Perspektive des einzelnen Akteurs deutlich zu machen, verwendet die »dokumentarische Methode«, auf die wir uns bei unserer Rekonstruktion des Erfahrungsraumes Spezialschule beziehen, den Begriff des »Orientierungsrahmens«. Dieser Begriff weist eine große Nähe zu einem anderen, weitaus geläufigeren Terminus aus: Dem Habitusbegriff des französischen Soziologen Pierre Bourdieu. 1.1.6 Schulkultur in der Dialektik von Habitus und Feld Nach Bourdieu unterliegt jegliches individuelle Denken, Wahrnehmen, Fühlen und Handeln gesellschaftlichen Prägungen und Wahrnehmungsschablonen (vgl. Bourdieu 2012, S. 277–404). Diese Schablonen bilden den Habitus eines Menschen. Der Habitus bezeichnet, stark vereinfacht formuliert, so etwas wie eine Brille, durch die ein Akteur die Welt betrachtet. Allerdings kann er diese Brille nicht einfach abnehmen. Sie ist gleichsam mit seiner gesamten körperlich-geistigen Existenz verwoben. Der Habitus bestimmt das Denken und strukturiert die Wahrnehmung. Ja, mehr noch: Die gesamte körperliche Erscheinung eines Menschen, seine Art sich zu bewegen, seine Tischmanieren, sein Musikgeschmack, seine Art, beim Spielen eines Schülers die Stirn zu runzeln, sind Ausdruck seines Habitus. Dieser Habitus strukturiert aber nicht nur, sondern ist selber das Ergebnis einer Strukturierung – und zwar einer Strukturie-
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rung, in der sich die gesellschaftlichen Ordnungsverhältnisse spiegeln. Der Habitus ist strukturierend und strukturiert in einem. Musikpädagogen besitzen einen anderen Habitus als Werftarbeiter, Orchestermusiker einen anderen als Verwaltungsmitarbeiter oder Parteikader. Im Habitus drückt sich der soziale Ort des Einzelnen in Relation zur Gesamtheit des »sozialen Raumes« aus. Insofern gibt es für Bourdieu kein friedliches Nebeneinander unterschiedlicher Habitusformen, sondern – und das galt in seinen Augen explizit auch für die DDR! – eine durchaus vertikale Struktur (vgl. Bourdieu 1991). Im Habitus drückt sich aus, wer oben und wer unten ist. Es geht – so Bourdieu – letztlich immer um Kapital: und zwar nicht lediglich – wie Marx es sich gedacht hatte – um ökonomisches Kapital, sondern auch um kulturelles bzw. soziales Kapital.3 Und dieses Kapital besitzt man nicht nur, man verkörpert es. Vor diesem Hintergrund ist für Bourdieu die Institution Schule kein neutraler und exterritorialer Ort des Lernens, sondern ein Schauplatz, an dem sich ein Kampf um das Erreichen bestimmter als legitim und wünschenswert herausgestellter Habitusformen zuträgt (vgl. Bourdieu & Passeron 1973). 3
Bourdieu unterscheidet systematisch zwischen insgesamt vier verschiedenen Kapitalsorten: Das »ökonomische Kapital« umfasst den Bereich der materiellen Güter, mithin alles, was sich direkt und unmittelbar in Geld umrechnen lässt. Im Begriff des »sozialen Kapitals« werden jene Einflussmöglichkeiten gebündelt, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe ergeben. Das »kulturelle Kapital« eines Menschen wird durch seine Bildung und Bildungstitel (z.B. den Professorenstatus), aber auch durch seine Umgangsformen und Geschmackspräferenzen bestimmt. Diese drei Kapitalsorten können sich gegenseitig beeinflussen und verstärken: Ökonomischer Reichtum kann sich in einem bestimmten Lebensstil (kulturelles Kapital) äußern, der seinerseits ein bestimmtes soziales Kapital hervorbringt (Freunde und Bekannte, die über einen ähnlichen Lebensstil verfügen und sich so gegenseitig Einflussmöglichkeiten zusichern). Aus dem Zusammenspiel dieser drei Kapitalsorten erwächst dann »symbolisches Kapital«: Ein Mensch mit hohem Kapitalvolumen muss seine ökonomischen Ressourcen nicht mehr direkt zeigen, weil er nach außen hin ein gewisses Ansehen besitzt, das gesellschaftliche Legitimation verbürgt. In beschränktem Maße sind diese Kapitalsorten gegenseitig konvertierbar. Ein Professor verdient vielleicht in ökonomischer Hinsicht weniger als ein Unternehmer, besitzt aber durch seinen Bildungstitel (kulturelles Kapital) ein öffentliches Ansehen, das ihm gesellschaftliche Anerkennung (und damit womöglich auch Kreditwürdigkeit [in ökonomischer Hinsicht]) gewährt. In diesem Sinne definiert Bourdieu symbolisches Kapital pointiert als »die Macht, mit Wörtern Dinge zu schaffen« (Bourdieu 1992, S. 153). In Bezug auf die DDR wies Bourdieu 1991 darauf hin, dass das ökonomische Kapital hier – wie in allen anderen Ostblockstaaten auch – seine Macht verloren habe (Bourdieu 1991). An diese Stelle sei aber ein spezifisches »politisches Kapital« getreten. Hierunter versteht er »die Möglichkeit der Mitglieder der politischen Nomenklatura, sich über politische Macht die private Aneignung öffentlicher Güter und Dienstleistungen zu sichern.« (Miethe 2006, S. 82) Ingrid Miethe differenziert hiervon ausgehend nochmals zwischen einem »ererbten« und einem »erworbenen« politischen Kapital: Ersteres ergibt sich aus einer proletarischen Abstammung. Erworbenes politisches Kapital ist hingegen ein Kapital, zu dem eine Person durch eigene Entscheidung und Verhalten Zugang erhalten kann. Dazu zählt in der DDR in erster Linie systemloyales Verhalten, das z.B. durch eine aktive SED-Mitgliedschaft nach außen dokumentiert werden kann.« (Ebd., S. 82 f.)
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Nun ist der soziale Raum einer modernen Gesellschaft kein homogenes Gebilde, sondern gliedert sich in einzelne Felder, in denen jeweils eigene Regeln gelten: Bourdieu unterscheidet etwa zwischen dem Feld des Politischen, dem Feld der Kunst, der Justiz etc. – Differenzierungen, die zweifelsohne auch im sozialistischen System der DDR Geltung besaßen. Auch die Spezialschule mit ihrer spezifischen Verschränkung von allgemeinbildenden und musikalischen Fächern lässt sich unter dem Gesichtspunkt eines Feldes beschreiben – wobei die Frage besteht, ob es sich hierbei wirklich um ein Feld handelte, oder es nicht vielmehr zur Struktur der Spezialschule gehörte, dass hier zwei einander an sich fremd gegenüberstehende Felder eher lose aneinander gekoppelt waren. Feld und Habitus sind für Bourdieu auf das Innigste miteinander verzahnt: Jedes Feld rechnet nämlich implizit mit einem bestimmten Habitus und schließt andere Habitusformationen, die ihm nicht oder kaum entsprechen, aus. Umgekehrt kann der Habitus des Einzelnen bereits aus sich heraus jene Züge ausprägen, die das Feld von ihm erwartet. »Die soziale Realität existiert sozusagen zweimal, in den Sachen und in den Köpfen, in den Feldern und den Habitus, innerhalb und außerhalb der Akteure.« (Bourdieu & Wacquant 2006, S. 161) In genau diesem Sinne verwendet Bourdieu auch den Begriff der Institution, wenn er an anderer Stelle schreibt: »Die Institution existiert zweimal, in der Objektivität und in der Subjektivität, in den Dingen und in den Gehirnen.« (Bourdieu 2014, S. 209) Indem wir dieser recht weiten Fassung des Institutionenbegriffs folgen, können wir unsere Frage nach dem Einfluss der Institution Spezialschule – die sich in Bezug auf den Begriff der Institution bislang ja noch in einem umgangssprachlichen Terrain bewegte – folgendermaßen präzisieren: Inwieweit rechnete der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule mit einem bestimmten Habitus, der in den Köpfen der Akteure von sich aus jene Bedingungen ausprägte, die das Feld charakterisierten? Wie sah dieser Habitus aus und welche Bedingungen mussten vorliegen, damit er sich ausprägen konnte? Und wie ging der Erfahrungsraum mit habituellen Dispositionen um, die den Feldbedingungen weniger bis gar nicht entsprachen? In der Dialektik von Habitus und Feld werden die Pole der Subjektivität und der Objektivität außer Kraft gesetzt: Der »subjektive« Habitus ist insofern »objektiv«, als er von spezifischen Feldbedingungen geprägt ist. Diese Bedingungen beziehen sich nicht allein auf den schulischen Erfahrungsraum, sondern ebenso sehr auf den familiär geprägten Lebensstil der Akteure, auf ihre Generationenzugehörigkeit, auf ihre Geschlechterrolle etc. Gleichzeitig wird das Feld als solches aber nur deshalb erkennbar, weil es durch bestimmte charakteristische Habitusformen, mithin durch »subjektive« Verkörperungen, geprägt ist. Ein Beispiel mag das verdeutlichen: Kinder aus bildungsbürgerlichen Elternhäusern besitzen ein intuitives Gespür für das, was beispielsweise an einem humanistischen Gymnasium von ihnen erwartet wird. Und sie kommen diesen Erwartungen sogar mit einer gewissen Lässigkeit nach: Ihr Habitus entspricht einfach dem imaginären Bild, das sich das Gymnasium von einem »idealen« Schüler macht. Gerade in der Lässigkeit, in der sie den Anforderungen begegnen, zeigt sich die besondere Harmonie zwischen Habitus und Feld. Kinder aus kleinbürgerlichen Verhältnissen stehen hingegen womöglich in einem weniger günstigen »Passungsverhältnis«: Sie passen zum bildungsbürgerlichen Ambiente der gymnasialen Schulkultur weniger gut und müssen sich anstrengen, um dort ihren
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Platz zu behaupten. Und eben diese Anstrengung wird man ihnen – so Bourdieu – immer ansehen. Der Habitus kann also die Feldstruktur bereits aus sich selbst heraus ausprägen, ohne dass auf Seiten des betreffenden Schülers eine bewusste Neigung zu erkennen wäre, dem Feld besonders entsprechen zu wollen: »Verhalten kann auf Ziele gerichtet sein, ohne bewußt auf sie hinorientiert, durch sie geleitet zu sein. Der Begriff des Habitus ist erfunden worden, wenn ich so sagen darf, um diesem Paradox gerecht zu werden.« (Bourdieu 1992, S. 28 f.) Die Verbindung zwischen dem kollektiven Sinnzusammenhang, der beispielsweise durch einen gemeinsam geteilten schulischen Erfahrungsraum gestiftet wird, und der Perspektive des einzelnen Akteurs besteht also darin, dass der Habitus, den die Akteure mitbringen, hier auf spezifische Feldbedingungen stößt, die ihm stärker oder schwächer entsprechen. Man kann dieses Passungsverhältnis auch aus der Perspektive des Feldes heraus formulieren: In jedem schulischen Erfahrungsraum herrschen bestimmte Vorstellungen darüber, wie der »ideale« Habitus eines Schülers auszusehen hat, d.h. es gibt einen dominanten Habitus, der die impliziten Regeln des Feldes in besonderer Weise verkörpert. Wer diesem Habitus nicht oder nur partiell entspricht, ist dadurch natürlich nicht von dem gemeinsamen Erfahrungsraum ausgeschlossen: Er bekommt die Differenz, die ihn vom Ideal-Habitus trennt, allerdings immer zu spüren. Und gerade dadurch, dass er den Feldregeln nicht vollgültig entspricht, aber dennoch zum Feld gehört, trägt er zur Geltung der Regeln bei. Insofern kann Bourdieu sagen, dass eine Schule auf die Existenz »schlechter« Schüler geradezu angewiesen ist: Indem deren Scheitern als »natürliche Unfähigkeit« und fehlende Begabung ausgewiesen werden kann (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 225 ff.; Kramer 2011, S. 107), trägt es zur Legitimation der im Feld herrschenden Regeln bei. Bezogen auf die strukturtheoretische Unterscheidung zwischen den Ebenen des Realen und des Symbolischen lässt sich sagen, dass dem Habitus die Ebene der symbolischen Verkörperung, dem Feld hingegen die Ebene des Realen entspricht. Zugleich ist zu sehen – und hier gehen Bourdieus Überlegungen über das von Helsper vorgelegte Schulkultur-Modell hinaus –, dass beide Ebenen dialektisch aufeinander bezogen sind: Das Reale erscheint nicht nur als eine vorgegebene Größe, der die Akteure auf eine bestimmte Art Folge leisten, sondern wird durch deren habituelle Prägungen bereits auf eine bestimmte Art vorweggenommen. Wenn der Habitus auf Feldbedingungen stößt, die ihm absolut entsprechen, dann bewegt er sich, so drückt Bourdieu es in einer schönen Metapher aus, »wie ein Fisch im Wasser und die Welt erscheint ihm selbstverständlich.« (Bourdieu 2006, S. 161) Ein Feld ist also beides zugleich: eine Struktur, die von vornherein nur in einer spezifischen Bearbeitung durch den jeweiligen Habitus der Akteure in Erscheinung tritt, die aber zum anderen einer vorgegebenen, »realen« Regelhaftigkeit folgt, auf die sich die habituellen Prägungen der Akteure notgedrungen beziehen müssen. Eine restlose Übereinstimmung zwischen Feld und Habitus ist dabei keinesfalls die Regel, sondern eher eine Ausnahme. Ein Feld ist insofern immer auch ein Ort des Kampfes, als in ihm unterschiedliche Habitus um die Deutungshoheit im Feld kämpfen. »Es gehört gerade zu den Merkmalen der Felder, dass man in ihnen kämpft, um nach den immanenten Regeln des Spiels zu siegen.« (Bourdieu 2014, S. 176) Derartige Kämpfe müssen nicht offen ausgetragen werden, sondern können auch untergründig wirken. Sie äußern sich in unterschiedlichen »Lagern« eines Lehrerkollegiums oder auch
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im Aufbegehren einzelner »renitenter« Schüler – wobei die Art und Weise, in der dann mit einer solchen Renitenz umgegangen wird, wiederum zu den impliziten Spielregeln des Feldes gehört. Mit anderen Worten: Schulkultur, die sich aus dem Spannungsverhältnis zwischen Realem, Symbolischem und Imaginärem bzw. aus der Dialektik von Habitus und Feld ergibt, ist kein einheitliches Gebilde, sondern unterliegt einer permanenten inneren Dynamik. Es mag gewagt erscheinen, Bourdieus Feldbegriff mit einem Schulkulturmodell in Beziehung zu setzen, das ja aus dem Bestreben heraus konzipiert wurde, den Erfahrungsraum einer Einzelschule zu beschreiben. Bourdieu dagegen zielte immer auf gesamtgesellschaftliche Formationen ab und hatte den Mikrokosmos einer einzelnen Institution niemals im Sinn. Gerade aber seine Vorstellung, nach der Felder als Orte des Kampfes zu verstehen sind, macht eine Anwendung auf eine Einzelschule denkbar: Deren Schulkultur, die sich von der Schulkultur einer anderen Schule unterscheiden lässt, wäre in seinem Sinne als ein dynamisches Gebilde zu begreifen, in dem unterschiedliche Habitusprägungen um eine Deutungshoheit »kämpfen«, und in dem sich am Ende ein dominanter Habitus durchsetzt. Indem wir die Genese dieser Felddynamik nachzeichnen, werden die Spielräume sichtbar, die die Dimension des Realen überhaupt zulässt. Um es an dem schon erwähnten Beispiel der politischen Einflussnahme zu veranschaulichen: So unbestritten das Feld der Bildung in der DDR einer massiven staatlichen Indoktrination unterlag, so bot es unter bestimmten Bedingungen doch ein gewisses Maß an Freiräumen, was dazu führte, dass die politische Dimension an der Weimarer Spezialschule eine immense, an der Dresdner hingegen eine eher untergeordnete Rolle spielen konnte. Diese Bedingungen haben etwas mit dem jeweils spezifischen konjunktiven Erfahrungsraum zu tun, der es möglich machte, dass die Dimension des Realen in Dresden auf eine Art und Weise umgesetzt wurde, die sich von der in Weimar deutlich unterschied. 1.1.7 Schulkultur im Spannungsfeld von Orientierungsrahmen und Orientierungsschema Wie bereits erwähnt, werden wir in unserer Studie nicht von »Habitus«, sondern von »Orientierungsrahmen« sprechen. Bei aller Nähe zu Bourdieu setzt das Konzept der dokumentarischen Methode, innerhalb dessen der Begriff des Orientierungsrahmens eine große Rolle spielt, an vier Stellen Akzente, die für die Rekonstruktion eines konjunktiven Erfahrungsraumes von zentraler Bedeutung sind und durchaus in Widerspruch zur Habituskonzeption stehen. 1) Bourdieu zielte mit seinem Habitusbegriff vornehmlich auf jene Aspekte ab, durch die sich ein Habitus von einem anderen unterscheidet. Wenn sich im Habitus die relationale Position des Einzelnen im sozialen Raum artikuliert, liegt es nahe, ihn vornehmlich als Zeichen der Abgrenzung zu verstehen, durch die ein Habitus auf sein höheres kulturelles Kapital im Vergleich zu einem anderen hinweist. Der konjunktive Erfahrungsraum, den wir fokussieren, zielt jedoch nicht primär auf Unterschiede, sondern vor allem auf die gemeinsame Erfahrungsgrundlage ab, d.h. auf eine grundlegende »habituelle Übereinstimmung« (Bohnsack 2010, S. 68). Pointiert gesprochen: Vor der Distinktion interessiert uns die Konjunktion. Das heißt natürlich nicht, dass Unterschiede keine Rolle spielen. Wenn wir in Bourdieus Sinne ein Feld
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als Schauplatz eines latenten Kampfes unterschiedlicher Habitusformen definieren, müssen wir natürlich die Auseinandersetzung unterschiedlicher Habitusprägungen beobachten. Doch – und das ist entscheidend – diese distinktiven Elemente werden in einem konjunktiven Erfahrungsraum vor dem Hintergrund einer die Distinktionen umspannenden gemeinsamen Erfahrungsgrundlage ausgetragen. Um das an einem weiteren Beispiel zu verdeutlichen: Wir werden in unserer Studie auf Schüler treffen, die den allgemeinbildenden Fächern an der Spezialschule mit selbstbewusster Geringschätzung begegneten und in ihnen vornehmlich eine Störung ihrer künstlerischen Entwicklung sahen. Ebenso werden wir aber auch die Bekanntschaft mit Schülern machen, die gerade dieser Seite der Spezialschulausbildung ein besonders hohes Gewicht zumaßen. Beide Reaktionsformen lassen sich als Ausdruck eines grundverschiedenen Orientierungsrahmens deuten, der eng mit dem Selbstbild der jeweiligen Personen verknüpft ist – einem Selbstbild, dessen Genese sich bis in die Elternhäuser zurückverfolgen lässt. Beide Perspektiven sind aber – ungeachtet ihrer Unterschiede – insofern miteinander verbunden, als sie von einem gemeinsamen Erfahrungsraum getragen werden – einem Erfahrungsraum, in dem es unter den Schülern und zum Teil auch den Instrumentallehrern die implizite Überzeugung gab, dass es alleine auf die Leistung im instrumentalen Hauptfach ankäme. Obgleich sich also beide Orientierungsrahmen im Sinne einer Distinktion voneinander abgrenzen lassen, sind sie doch durch eine im konjunktiven Erfahrungsraum angelegte implizite Regel miteinander verbunden: Während der eine Orientierungsrahmen dieser Regel innerlich entspricht und daher als »dominanter« Orientierungsrahmen bezeichnet werden kann, steht der andere mit dieser Regel in Konflikt, wobei ihre Gültigkeit für den konjunktiven Erfahrungsraum aber in keiner Weise bestritten wird. Mit anderen Worten: Schüler mit diesem Orientierungsrahmen wissen, dass ihr starkes Interesse für die allgemeinbildenden Fächer für den Erfahrungsraum der Spezialschule untypisch ist und von einigen Mitschülern auch als befremdlich empfunden wird. 2) In einem weiteren Punkt unterscheidet sich die dokumentarische Methode von Bourdieus Theorie: Bourdieu versucht die Genese des Habitus durch den Hinweis auf »objektiv vorgegebene Soziallagen« zu erklären. Demnach entscheidet die soziale Herkunft über den Lebensstil und damit verbunden über die habituelle Prägung der Menschen. Dies ist aber eine kausalgenetische Zuordnung, die nicht erklärt, aufgrund welcher konkreten Wahrnehmungen und Erfahrungen sich diese habituelle Prägung herausbildet. Mit anderen Worten: Das Erleben, das die entscheidende Grundlage für Habitusprägungen darstellt, wird zugunsten einer eher mechanistischen und außerhalb der beteiligten Personen angesiedelten Relation ausgeblendet. Genau auf die Frage, welche Erlebnisse und Erfahrungen die Basis für die Entstehung der Sinnstruktur eines Orientierungsrahmens bilden, zielt aber die dokumentarische Methode ab. Wenn es das Ziel ist, die konjunktive Grundlage eines Erfahrungsraumes zu beschreiben, wird es zwingend erforderlich, die Ebene des gemeinsamen Erlebens und der geteilten Erfahrung herauszuarbeiten. Statt um eine kausalgenetische Relation geht es in der dokumentarischen Methode also um die Rekonstruktion eines soziogenetischen Zusammenhanges. 3) Des Weiteren geht die dokumentarische Methode davon aus, dass es sich beim Orientierungsrahmen eines Menschen um ein mehrdimensionales Gebilde handelt, dessen einzelne Ebenen durchaus nicht homolog aufeinander abgestimmt sein müssen. Der Orientierungsrahmen eines Spezialschülers ergibt sich aus seiner Stellung
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innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes Spezialschule, ebenso sehr aber auch aus seiner familiären Herkunft, seinen instrumentalen Vorerfahrungen und nicht zuletzt auch aus der Art seines Instrumentes: Eine pianistische Identität sieht anders aus als die eines Blechbläsers. Diese Dimensionen überlagern sich und erzeugen eine Mehrdimensionalität, die der Habituskonzeption Bourdieus fremd ist. 4) Und schließlich stellt Ralf Bohnsack dem Begriff des Orientierungsrahmens den Terminus des Orientierungsschemas gegenüber. Auch das ist eine Erweiterung gegenüber Bourdieu und knüpft an die Unterscheidung zwischen konjunktivem und kommunikativem Wissen an: Während das Orientierungsschema den Bereich des kommunikativen Wissens, d.h. beispielsweise das Wissen um Normen und Rollenbeziehungen umfasst, bezieht sich der Orientierungsrahmen auf das konjunktive Wissen. Was wir für die Um-zu-Motive geltend gemacht haben, gilt auch hier: Orientierungsschemata spielen nicht nur auf einer reflexiven und kommunikativen Ebene eine Rolle, sondern bestimmen auch die unmittelbare Handlungspraxis selbst. Insofern nämlich, als »aus praxeologischer Perspektive die Orientierungsschemata ihre eigentliche Bedeutung erst durch die Rahmung, d.h. die Integration und Brechung in und durch die fundamentale existentielle Dimension der Handlungspraxis erhalten, wie sie sich im modus operandi des Habitus oder eben Orientierungsrahmens vollzieht.« (Bohnsack 2013, S. 181, Hervorhebungen im Original) Bohnsack schlägt daher vor, zwischen einem Orientierungsrahmen im engeren und einem im weiteren Sinne zu differenzieren: »Somit bezeichnet der Begriff des Orientierungsrahmens im engeren Sinne – wie auch derjenige des Habitus – die Struktur der Handlungspraxis selbst und ist damit der Gegenbegriff zu demjenigen der Orientierungsschemata. Andererseits ist der Orientierungsrahmen im weiteren Sinne aber auch als übergeordneter Begriff zu demjenigen der Orientierungsschemata zu verstehen.« (Ebd.)
Dieser Orientierungsrahmen im weiteren Sinne enthält also sowohl die unmittelbare praxeologische und nicht-reflexive Basis des konjunktiven Wissens als auch jene Motive und Begründungen, die für die jeweilige Person dann den explikativ formulierbaren Sinn der Handlungspraxis herstellen sollen. Unser Modell der Schulkultur greift also, um die Argumentationsrichtung der vorangegangenen Abschnitte bündig zusammenzufassen, drei Theoriestränge auf und versucht diese zu verbinden: Im Zentrum steht die strukturtheoretische Differenzierung zwischen den Ebenen des Realen, Symbolischen und Imaginären. Diese Ebenen werden mit Bourdieus Dialektik von Habitus und Feld sowie dem wissenssoziologischen Ansatz der dokumentarischen Methode in Verbindung gebracht, in deren Zentrum die Unterscheidung von konjunktivem und kommunikativem Wissen steht. Folgende Abbildung verdeutlicht, an welchen Punkten wir diese drei unterschiedlichen Theoriesprachen zusammenführen:
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Abbildung 1: Übersicht der Theoriemodelle
1.1.8 Die inhaltlichen Dimensionen der Schulkultur Wir haben bislang noch keinerlei Aussagen über die inhaltlichen Dimensionen von Schulkultur getroffen. Wir wissen mithin noch gar nicht, anhand welcher Aspekte wir das Zusammenspiel von Realem, Symbolischem und Imaginärem beobachten wollen. Diese Frage enthält insofern ein grundsätzliches methodisches Problem, als wir mit unserer Fokussierung der Akteurs-Perspektive ja zunächst einmal offen für die Themen- und Relevanzsetzungen unserer Gesprächspartner sein wollen und sein müssen. Gleichzeitig können wir – ebenso wenig wie jeder andere qualitative Forscher – nicht verleugnen, dass wir uns aufgrund unserer theoretischen Beschäftigung mit dem Gegenstand bereits im Vorfeld eine »theoretische Sensibilität« für das Feld erarbeitet haben, die ausschließen zu wollen absurd wäre (Kelle & Kluge 1999, S. 20 f.). Überdies brächte der Versuch, aus Interviewdaten übergeordnete Begriffe zu konstruieren, einen folgenschweren Kategorienfehler mit sich, da Begriffe, aus denen heraus das Material geordnet werden soll, in diesem prinzipiell nicht selbst enthalten sein können. Kelle und Kluge bezeichnen eine derartige Fokussierung auf das Interviewmaterial unter Ausblendung der »theoretischen Vorurteile« als ein »induktivistisches Selbstmissverständnis« (ebd., S. 18 ff.). Man kann, so ihre Argumentation, aus kontingenten Daten keine allgemeineren Begriffe generieren, wenn man über diese nicht zuvor schon in irgendeiner Form verfügt. Im Anschluss an die Zeichentheorie von Charles Sanders Peirce begreifen die Autoren qualitative Forschungsarbeit weder als induktives noch als deduktives Vorgehen, sondern unter dem Gesichtspunkt der »Abduktion«. Hiermit wird ein Schlussverfahren bezeichnet, bei dem der Forscher sein Datenmaterial probeweise mit bestimmten bereits vorhandenen Allgemeinbegriffen bzw. Theorien in Zusammenhang bringt und prüft, ob und inwieweit diese Begriffe ihm bei der Ordnung seines Materials helfen.
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Wenn wir an dieser Stelle die inhaltlichen Dimensionen, anhand derer im Folgenden die Schulkultur der Spezialschule untersucht werden soll, nennen, so stellen wir etwas an den Anfang der Untersuchung, was sich streng genommen erst in deren Verlauf entwickelt hat. Bei der Suche nach entsprechenden thematischen Feldern unterstützte uns Werner Helspers inhaltliche Konzeptionierung von Schulkultur (vgl. Helsper et al. 2001, S. 35–39) – aber nicht in dem Sinne, dass wir die dort entwickelten Kategorien einfach übernahmen, sondern eher im Sinne eines Diskussionsimpulses, der uns dazu verhalf, jene besonderen Bedingungen der Spezialschule begrifflich zu bündeln, von denen unsere Gesprächspartner berichteten. Helsper geht von insgesamt vier relevanten Bereichen von Schulkultur aus: 1) Leistung, 2) Inhalte, 3) Pädagogische Orientierung und 4) Partizipation. 1) Leistung: Es ist nicht zu bestreiten, dass der Leistungsbegriff in jedem Bildungssystem einen »zentralen schulischen Operationsmodus« darstellt (ebd., S. 37). Für die besonderen Bedingungen musikalischer Ausbildung reicht er alleine jedoch nicht aus, da er, wie wir sehen werden, im Feld der Musikausbildung in weit stärkerem Maße, als das sonst der Fall ist, mit dem Begabungsbegriff verknüpft wird, auf den hin die Leistung bezogen wird. Statt alleine von Leistung zu sprechen, liegt es also nahe, den Umgang mit Leistung und Begabung zu thematisieren. 2) Inhalte: Nach Helsper bilden die Inhalte eine »jeweils zu begründende und als relevant auszuweisende Auswahl aus dem ständig wachsenden und sich beschleunigt umschlagenden Wissensvorrat« (ebd., S. 37). Darüber hinaus geht er davon aus, dass sich Schulen über die Akzentuierungen von Inhalten zu profilieren und gegenseitig voneinander abzugrenzen suchen: »Die Dominanz spezifischer Fächer und ihrer Lehrkräfte innerhalb jeweiliger Schulen ist dabei auch für andere Dimensionen der Schulkultur insofern relevant, als mit den verschiedenen Fachkulturen auch unterschiedliche Modi universitärer und beruflicher Einsozialisation verbunden sind, die umfassendere habituelle Auswirkungen besitzen.« (Ebd., S. 37) Beide Kennzeichnungen sind für eine Rekonstruktion der Schulkultur an der Dresdner Spezialschule in dieser Form sicher nicht sinnvoll. Die These vom ständig wachsenden und beschleunigt umschlagenden Wissensvorrat lässt sich weder auf das DDR-Schulsystem beziehen noch trifft sie den Bereich der instrumentalen Hauptfachausbildung, der sich bis auf den heutigen Tag vor allem mit der Pflege des fest gefügten klassischromantischen Repertoires auseinandersetzt. Ebenso wenig kann die für das heutige Schulsystem zutreffende Beobachtung, dass sich auch Schulen, die einem identischen Schultyp angehören (z.B. Gymnasien), durch inhaltliche Konzeptionierung (musisches, sprachliches, naturwissenschaftliches Profil) voneinander abzugrenzen versuchen, auf die Schulen der DDR bezogen werden – und ganz gewiss nicht auf die Spezialschulen, bei denen die spätere berufliche Orientierung ja von vornherein weitgehend feststand. Diese wiesen dafür aber eine ganz andere Problematik auf: nämlich das Verhältnis zwischen der schulischen Allgemeinbildung und dem instrumentalen Hauptfachunterricht. Obwohl nominell gleichwertig, wurden beide Bereiche innerhalb des Schullebens sowohl von den Lehrenden als auch innerhalb der Schülerschaft durchaus unterschiedlich gewichtet – zumeist (wenngleich nicht immer) in dem Sinne, dass den allgemeinbildenden Schulfächern eine geringere Bedeutung zuerkannt wurde. Hier kommt ein Spannungsverhältnis zwischen zwei Akteursgruppen – den allgemeinbildenden Lehrern und den Instrumentallehrern – zum Ausdruck, das nachzuzeichnen für eine Rekonstruktion von Schulkultur sicher rele-
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vant ist. Wenn wir dennoch davor zurückscheuen, für das Verhältnis zwischen schulischer Allgemeinbildung und instrumentalem Hauptfachunterricht eine eigenständige Kategorie zu reservieren, dann hängt das damit zusammen, dass dieses Verhältnis nur ein Teilmoment eines noch umfassenderen Komplexes ist: Denn man muss sich vergegenwärtigen, dass die Zielbestimmung der Spezialschulen nicht allein im Heranbilden professioneller Musiker, sondern immer zugleich auch in der Versorgung des Arbeitsmarktes bestand. Mit ihren insgesamt 87 Profiorchestern hatte die Kulturpolitik der DDR stets mit dem Problem eines Fachkräftemangels zu kämpfen, dem abzuhelfen eine wichtige Aufgabe der Spezialschulen war. Die Tatsache, dass der Besuch einer Spezialschule für Musik nicht mit dem Abitur, sondern mit dem Regelschulabschluss der Polytechnischen Oberschulen endete, weist eindringlich darauf hin, dass sich das Idealbild einer vielseitig interessierten und umfassend gebildeten Musikerpersönlichkeit mit einem Selbstverständnis konfrontiert sah, für das die Aufgabe der Spezialschulen hauptsächlich in einer ganz konkreten Berufsorientierung bestand, für die die allgemeinbildenden Fächer in der Tat weniger relevant war. Hier zeichnet sich ein Spannungsfeld ab, das sich nicht nur eindimensional als Konflikt zwischen Allgemeinbildung und künstlerischer Ausbildung beschreiben lässt, sondern das darüber hinaus auch auf das Selbstverständnis der künstlerischen Ausbildung abzielt. In diesen Zusammenhang gehört auch die bereits angeschnittene Frage, ob die Dresdner Spezialschule für die Schüler eher als eine »Nische« in Erscheinung trat, die die Entfaltung eigener Interessen ermöglichte und dabei zugleich die Zwänge des staatlichen Schulsystems abzuschirmen versuchte, ob sie vielleicht doch eher eine »Kaderschmiede« darstellte, die vor allem einen bestimmten Typus von Leistung erwartete und durchzusetzen bestrebt war, oder ob sie schließlich beide Aspekte in einem genauer zu beschreibenden Bedingungsgefüge zugleich ausprägte. Wir bündeln die hier thematisierten Fragen in einem umgreifenden Spannungsfeld, das durch die Pole Persönlichkeitsentfaltung und/oder Berufsorientierung gekennzeichnet ist. 3) Pädagogische Orientierungen: Nach Helsper umfassen die pädagogischen Orientierungen »die schulischen Werte und Normen, die pädagogischen Konzepte und die pädagogischen Deutungsmuster bzw. Handlungsstrukturen. Hierzu gehören die Vorstellungen eines angemessenen Lehrerhandelns, des Umgangs mit den Schülern, didaktische und methodische Prinzipien, die Gestaltung des Unterrichts, Vorstellungen über Nähe und Distanz, Person- und Sachorientierung, den Umgang mit Regelübertretungen und Sanktionierungen etc.« (Ebd., S. 37) Es kann kein Zweifel bestehen, dass die von Helsper genannten Aspekte von großer Wichtigkeit für eine Beschreibung von Schulkultur sind, denn gerade in dieser Kategorie werden so entscheidende Dimensionen wie Rollenverständnis, Rollenerwartungen und Interaktionsformen thematisiert – Dimensionen, die in aller Regel nicht schriftlich dokumentiert sind, die aber zum großen Teil das Alltagshandeln der Akteure bestimmen. Auf den zweiten Blick ist jedoch zu sehen, dass Helsper unter dieser Rubrik durchaus unterschiedliche Aspekte subsummiert. Neben den Punkten, die auf die Ausgestaltung der Lehrer-Schüler-Beziehung abzielen (»angemessenes Lehrerhandeln«, »Umgang mit den Schülern«, »Vorstellungen über Nähe und Distanz«, »Person- und Sachorientierung«, »Umgang mit Regelübertretungen« sowie »Sanktionierungen«) werden hier auch Kriterien wie »didaktische und methodische Prinzipien« und »Gestaltung des Unterrichts« genannt – Kriterien, die sich in unseren Augen eher unter der bereits genannten Dimension »Persönlichkeitsentfaltung und/oder Berufsorientierung« dis-
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kutieren lassen. Denn sowohl die didaktisch-methodische Konzeption von Unterricht als auch die konkrete Unterrichtsgestaltung hängen in entscheidendem Maße von der Frage ab, welche Bildungs- oder eben Ausbildungsziele dieser Unterricht verfolgt. Betrachten wir nach Ausschluss dieser beiden Aspekte die verbleibenden Kriterien, so scheinen uns die bei Helsper thematisierten Rollenerwartungen und Interaktionsformen noch zu einseitig an der Lehrer-Schüler-Beziehung ausgerichtet zu sein. Denn auch die Schüler untereinander entwickeln im Rahmen einer Schulkultur spezifische Vorstellungen bezüglich eines angemessenen Handelns oder des Verhältnisses von Nähe und Distanz. Ebenso handeln sie untereinander bestimmte Regeln aus (ein geläufiges Beispiel wäre etwa das Vermeiden eines »Streber«-Verhaltens), deren Übertretung unter Umständen Sanktionierungen (etwa den sozialen Ausschluss oder gar Mobbing) nach sich zieht. Und wenn sie – wie an der Spezialschule – im Rahmen des Internats nicht nur den schulischen Alltag, sondern zum Teil auch die übrige Zeit miteinander teilen, eröffnet sich ein weiterer Themenbereich: nämlich die Relation zwischen dem Rollenverhalten in der Schule und in der Freizeit. Für eine Schule in der DDR kommt an dieser Stelle schließlich noch die politische Dimension hinzu, die ja nicht nur im Rahmen eines Schulfachs wie Staatsbürgerkunde in Erscheinung trat, sondern in grundlegender Form das Verhältnis der Einzelnen zueinander bestimmte. Wem konnte man im schulischen Kontext vertrauen, wem eher nicht? In welchen Zirkeln konnte man frei seine Meinung äußern, wo war Vorsicht geboten? Für die in dieser Kategorie verbleibenden und dann erweiterten Aspekte ist der Titel »Pädagogische Orientierungen« nicht mehr sinnvoll. Wir wählen stattdessen die Bezeichnung Rollenidentität und Beziehungsgefüge. 4) Partizipation: Die Partizipationsverhältnisse der jeweiligen Schule bilden für Helsper »die Grundlage für die Möglichkeiten unterschiedlicher kollektiver und individueller Akteure sich in schulischen Kommunikations-, Klärungs- und Entscheidungsprozessen Gehör zu verschaffen, Einfluß zu nehmen, Argumente und Gründe vortragen zu können und damit beteiligt zu werden« (Helsper et al. 2001, S. 38). Diese Dimension hängt damit zum einen von den Rahmenbedingungen ab, denen eine Schule unterliegt, ebenso aber auch von den konkreten Ausformungen dieser Bedingungen innerhalb einer Schulkultur. Helsper denkt hier zunächst an das Verhältnis zwischen Schulleitung und Lehrern oder das Verhältnis »zwischen verschiedenen Lehrergruppierungen und individuellen Akteuren.« (Ebd.) Von diesen beiden Beziehungsebenen hängen in seinen Augen die Partizipationsmöglichkeiten der Schüler ab. »Denn wenn es bei Entscheidungen zwischen den professionellen Akteuren bereits zu grundlegenden Ausschlüssen kommt bzw. strategisch dominierte Machtkalküle dominieren, die die kommunikative Reziprozität brechen, dann bedeutet diese institutionelle moralische Struktur, daß Heranwachsenden Partizipation eher verweigert wird.« (Ebd.)
Diese These erscheint uns etwas zu gewagt, um mit ihr eine leitende Kategorie begründen zu wollen. Es kann durchaus sein, dass auch an der Spezialschule die Qualität des Verhältnisses der Lehrenden untereinander den Rahmen und Umfang der Partizipationsmöglichkeiten der Schüler bestimmte – das wäre aber eher am Material zu zeigen, als dass es vorausgesetzt werden dürfte. Des Weiteren müssten zunächst einmal die Spielräume geklärt werden, innerhalb derer sich an der Spezialschule Partizi-
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pation überhaupt realisieren konnte. Dessen ungeachtet ist es gerade für die Nachzeichnung des »dominanten Habitus« der Spezialschule (bzw. der internen Auseinandersetzungen, aus denen dieser Habitus hervorging) unumgänglich, die Rahmungen und Handlungsspielräume auszuloten, die sich den einzelnen Akteursgruppen boten bzw. die sie durch ihr Handeln ermöglichten. Wir erhalten also als Ergebnis unserer Auseinandersetzung mit den inhaltlichen Dimensionen von Schulkultur bei Werner Helsper insgesamt vier thematische Felder: 1. 2. 3. 4.
Leistung und Begabung Persönlichkeitsentfaltung und/oder Berufsorientierung Rollenidentität und Beziehungsgefüge Rahmungen und Handlungsspielräume
Der letzte Punkt wird von uns allerdings nicht als ein eigenständiger abgehandelt, sondern als eine Meta-Kategorie begriffen, die auch in die vorhergehenden mit hineinspielt. Diese Sonderstellung ergibt sich auch aus der Tatsache, dass die Ermittlung von »Handlungsspielräumen« zum Kerninventar der dokumentarischen Methode zählt, die – wie wir im Methodenkapitel zeigen werden – den Orientierungsrahmen einer Person über die Beschreibung ihres so genannten »Enaktierungspotenzials« zu bestimmen versucht (vgl. Bohnsack 2010, S. 136) – mithin über die ihm zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen. Insofern durchzieht schon allein deshalb der Aspekt »Rahmungen und Handlungsspielräume« unsere gesamte Studie und wird aus diesem Grunde von uns nicht als eine eigenständige inhaltliche Kategorie thematisiert.
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1.2.1 Zur Methodologie der dokumentarischen Methode Wer einen konjunktiven Erfahrungsraum rekonstruieren will, muss zu einem »methodisch kontrollierten Fremdverstehen« in der Lage sein (Bohnsack 2010, S. 19– 21). Nicht die Vorannahmen des Forschers, sondern die von den Befragten selbst vorgenommenen Strukturierungen und Relevanzsetzungen geben den Rahmen der Rekonstruktion ab. Diese Strukturierungen sind jedoch nicht unmittelbar zugänglich. Der Interviewpartner, der mit ihnen operiert, weiß mitunter selbst nicht, dass er über sie überhaupt verfügt. Als Teil seines konjunktiven Wissens sind sie ihm derart selbstverständlich, dass er sie nicht eigens thematisiert – in vielen Fällen könnte er es nicht einmal, selbst wenn er es wollte. Die Bergung dieses konjunktiven Wissens wird durch die dokumentarische Methode geleistet, die in ihren Grundzügen bereits von Karl Mannheim, dem Begründer der Wissenssoziologie, in den 1920er Jahren entworfen wurde. Diese Methode hat in jüngerer Zeit in den Sozialwissenschaften wieder vermehrt Beachtung gefunden und sich mittlerweile zu einem elaborierten Instrument qualitativer Sozialforschung entwickelt. In der Musikpädagogik ist sie hingegen noch kaum verwendet worden. Da sich unsere Studie nicht primär an Sozialwissenschaftler, sondern vor allem an Musi-
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ker und Musikpädagogen richtet, seien die mit der dokumentarischen Methode verbundenen methodologischen Implikationen zunächst kurz dargestellt. 1.2.1.1 Bedeutungssinn und Dokumentsinn Mannheim ging davon aus, dass Texte jeglicher Art sowohl einen kommunikativgeneralisierenden »Bedeutungssinn« als auch einen »Dokumentsinn« besitzen (vgl. Mannheim 1964a, S. 104 ff.). Während der Bedeutungssinn das enthält, was ein Sprecher (oder Autor) in kommunikativer Absicht über eine bestehende Praxis zum Ausdruck bringen möchte, bezieht sich der Dokumentsinn auf die Praxis selbst. Und zwar nicht auf die Praxis, über die gesprochen, sondern auf die Praxis, aus der heraus gesprochen wird. Jeder Text, sei er schriftlich kodifiziert oder mündlich gesprochen, ist selbst Niederschlag einer spezifischen Praxisform, deren Gestalt eine Fülle von Voraussetzungen enthält, auf die der Sprechende selbst keinen direkten Einfluss hat. Anders formuliert: Jeder Text bringt etwas zum Ausdruck, das über das, was der Sprecher kommunikativ mitteilen möchte, hinausgeht. Dieses Etwas ist in seiner Praxis verankert. Folgende Passage diene als Musterbeispiel, anhand dessen wir diesen methodologischen Ansatz zu verdeutlichen suchen. In einem unserer Interviews äußert sich ein Befragter folgendermaßen über die Wettbewerbe, die er im Laufe seiner Spezialschulzeit – zum Teil äußerst erfolgreich – absolviert hat: In der Zeit war, wie gesagt, viel, äh äh, waren viel, äh, Wettbewerbe, solches Zeug eben, (..) so wie Jugend musiziert, durch alle, äh (..) äh, Größen durch und da hat man dann natürlich auch ein bisschen unterrichtsfrei gekriegt, das war natürlich auch sehr angenehm, (.) das war eigentlich das Angenehmste (kurzes Auflachen, in das die Interviewerin einstimmt) äh, äh, an dem Ganzen und (.) man hat eben auch mal andere Schüler von anderen Schulen kennengelernt und so weiter und so fort.4
Auf der Ebene des Bedeutungssinnes möchte der Befragte zum Ausdruck bringen, dass es während seiner Ausbildungszeit an der Spezialschule ein vielstufiges Wettbewerbssystem gegeben hat (alle Größen durch). Diese von ihm gesetzte Themensetzung – in der dokumentarischen Gesprächsanalyse spricht man von »Proposition« (Bohnsack 2010, S. 125) – wird nun weiter ausgearbeitet (Elaboration): Da er sich in einer Interviewsituation befindet, in der er einem Menschen gegenübersitzt, der das Feld, von dem er spricht, nicht kennt, präzisiert er seine Beschreibung durch einen Vergleich mit der heutigen Situation (so wie »Jugend musiziert«). Insgesamt ist in seiner Wortwahl (solches Zeug eben) eine gewisse Distanz zum Gegenstand seiner Beschreibung zu erkennen, was durch die bewertende Bemerkung, das Angenehmste an diesen Wettbewerben sei die Unterrichtsbefreiung gewesen, noch verstärkt wird. 4
Anmerkung des Autors: Hier und in den folgenden Interviewtranskriptionen bedeutet die Zeichenfolge »(.)« eine kurze, »(..)« eine mittlere und »(…)« eine lange Sprechpause. Eckige Klammern bedeuten wie üblich Auslassungen. Hierbei handelt es sich um einen Originalausschnitt aus dem Interviewtranskript. Im Folgenden werden die Interviewpassagen in einer den Konventionen der Schriftsprache entsprechenden Form wiedergegeben. Gleichwohl ist zu betonen, dass die hermeneutische Textarbeit auf die Originalgestalt der Transkription angewiesen war.
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Mit dieser letztgenannten Beobachtung eröffnen sich Fragen, die über den reinen Bedeutungssinn hinausgehen. Denn auf welche Weise wird die Abgrenzung von den Wettbewerben im Text formuliert, und – vor allem – welche Motive stehen dahinter? Damit nähern wir uns der Frage nach dem Dokumentsinn. Dass sich der »Vorteil« der Unterrichtsbefreiung nicht mit den offiziellen Intentionen der Spezialschulleitung deckt, aus denen heraus diese Wettbewerbe veranstaltet wurden, zeigt das kurze Auflachen des Gesprächspartners. Der Befragte übernimmt hier für einen kurzen Moment die Schülerperspektive, die dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nicht den offiziellen pädagogischen Zweck der Wettbewerbe, sondern den damit verbundenen unmittelbaren Nutzen für den Schüler (Unterrichtsbefreiung) akzentuiert. Diese Übernahme ist jedoch keine direkte Identifikation: die Schülerperspektive wird nicht im Sinne einer aktuellen Sichtweise zur Aufführung gebracht, sondern eher als eine »typische« Rolle zitiert, die man gemeinhin mit Schülern in Verbindung bringt. Der Gesprächspartner nimmt zudem anscheinend an, dass die mit ihr verbundenen Implikationen auch von Personen verstanden werden, die nicht dem konjunktiven Erfahrungsraum angehören: das zeigt sich neben dem Gemeinsamkeit stiftenden Lachen auch an der doppelten Verwendung des Wortes natürlich, durch die die Schülerperspektive als eine gleichsam logische und unmittelbar einsichtige erscheint: es wird unterstellt, dass es gewissermaßen in der Natur einer Schüleridentität liegt, wenn man sich bei einem Wettbewerb in erster Linie über die Unterrichtsbefreiung freut. Der Subtext des Auflachens besagt also: »So sind Schüler nun mal!« bzw. »Auch ich war mal so ein typischer Schüler!« Die Reaktion der Interviewerin, die in das kurze Auflachen einfällt, zeigt, dass dieses als zeitübergreifend und allgemeingültig präsentierte Schülerverhalten in eben diesem Sinne verstanden wird. Interviewter und Interviewerin begegnen sich in einem gemeinsam geteilten Wissen über »typische« Schülerreaktionen. Die nachgeschobene Präzisierung (man hat eben auch mal andere Schüler von anderen Schulen kennengelernt und so weiter und so fort) knüpft dieses gemeinsame Band weiter. Die Vorteile, die mit den Wettbewerben für ihn als Schüler verbunden waren, werden zwar benannt, andererseits aber – das zeigt die Wendung und so weiter und so fort – in einer Weise präsentiert, als erübrige es sich, darüber weiter viel zu reden: der Gesprächspartner geht ganz offensichtlich davon aus, dass die Interviewerin schon weiß, was gemeint ist. Was steckt nun dahinter? Will sich der Gesprächspartner als jemand präsentieren, der einem leistungsbetonten Wettbewerbssystem, wie es an den Spezialschulen praktiziert wurde, generell skeptisch gegenübersteht? Diese immerhin mögliche Deutung wird durch den weiteren Interviewverlauf allerdings in keiner Weise gedeckt. Im Gegenteil, der Befragte gibt sich hier durchweg als entschiedener Anwalt des Leistungsgedankens zu erkennen und vermisst an der heutigen musikalischen Nachwuchsförderung, dass dieser Leistungsgedanke oftmals zu wenig im Vordergrund steht. Was ist dann aber der Grund für seine Abgrenzung von dem Zeug der Wettbewerbe? Der Dokumentsinn dieser Passage erschließt sich, wenn deutlich wird, in welchem Verhältnis die offenkundige Distanz zu den damaligen Wettbewerben (bei gleichzeitiger Bejahung des damit verbundenen Leistungsgedankens) und die Mobilisierung der Schülerrolle zueinander stehen. Um dieses Verhältnis zu bestimmen, ist es notwendig, eine weitere Textstelle hinzu zu ziehen. Der Vergleich zwischen bei-
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den Passagen zeigt, um das Ergebnis hier schon vorwegzunehmen, dass der Befragte sich immer dann eines kritischen und abgrenzenden Tonfalles bedient, sobald es nicht um die Inhalte der Spezialschulausbildung geht, die er nachdrücklich befürwortet, sondern um die Spezialschule als offizieller staatlicher Institution, der er als jemand, der aus einem kirchlichen Kontext stammt, mit unverhohlenem Misstrauen begegnet. Und um zu zeigen, dass er mit der Spezialschule als staatlicher Institution nichts zu tun haben möchte, greift der Gesprächspartner in diesen Fällen mit fast schon systematischer Regelmäßigkeit auf die Schülerrolle zurück, die ja dadurch gekennzeichnet ist, dass sie nach landläufigem Verständnis im Rahmen der Institution Schule die Position eines Unterlegenen darstellt, der die ihm gegenüberstehenden Rahmenbedingungen nicht aktiv verändern, sondern bestenfalls unterlaufen kann. Folgen wir der Vergleichsstelle nun im Detail: Öh, der größte Quatsch war natürlich, ähm, (.) der Sportunterricht. (.) Äh, weil, äh, alle Schüler hatten von ihren Hauptfachlehrern irgendwo so’n Ausrufezeichen im Hinterkopf, äh, dass sie auf ihre Hände aufpassen müssen, weil das ist ja das Kapital praktisch, ne? (.) So, und dann hatte man natürlich auch Sportlehrer, die, äh, (.) (kurzes Räuspern) der Meinung waren, das ist, äh äh, (..) nicht notwendig und da wurde also, äh, (…) haben wir genauso, was weiß ich, irgendwelche Küren und am Reck und am Stufenbarren und diesen ganzen=diesen ganzen, (.) äh, Zauber auch alles mitgemacht. Und (kurzes Räuspern) so weiter und so fort, sind natürlich auch genügend Sachen passiert dann und so weiter? (…) Und, äh, (..) es hing immer irgend so’n bisschen die Überschrift drüber, ja, also, äh, wir wollen keine Fachidioten ausbilden, die hier im Hauptfach ’ne Eins haben und alles andere, äh, (.) Allgemeinbildung und Sport geht den Berg runter, ne?
Der Quatsch, den einige Sportlehrer veranstalteten, wird hier direkt mit einer Intention in Verbindung gebracht, den »die« Institution in den Augen des Gesprächspartners mit der Spezialschulausbildung verband: es hing immer irgend so’n bisschen die Überschrift drüber, wir wollen keine Fachidioten ausbilden, die im Hauptfach ’ne Eins haben und alles andere, Allgemeinbildung und Sport, geht den Berg runter. In den Forderungen der Sportlehrer schlägt sich für den Erzähler demnach ein institutioneller Wille nieder; es handelt sich in seiner Darstellung nicht um einzelne Personen, die Abwegiges verlangten, sondern um eine generelle Ausbildungsidee, die sich im Handeln Einzelner manifestiert. Um zu verstehen, warum der Gesprächspartner das Bemühen der Institution um eine gute Allgemeinbildung hier als eine fragwürdige Intention kennzeichnet, muss man als Hintergrundinformation wissen, dass die Beschwörung eines allgemein gebildeten Schülers in der DDR mit der Forderung nach einer »allseitig gebildeten« sozialistischen Persönlichkeit in eins gesetzt wurde. Es geht dem Interviewten nicht so sehr darum, die Allgemeinbildung als solche für unwichtig erklären zu wollen. Vielmehr distanziert er sich hier von einer »offiziellen« Bildungsidee, die ihm als kirchlich sozialisiertem Schüler damals wie heute suspekt erschien. Dem institutionellen Willen stellt der Erzähler in dieser zweiten Passage sprachlich nun das Kollektiv der Schüler gegenüber, dessen innere Zusammengehörigkeit durch die Verwendung der ersten Person Plural zum Ausdruck gebracht wird (da haben wir genauso, was weiß ich, irgendwelche Küren und am Reck und am Stufenbarren und diesen ganzen Zauber mitgemacht). Es geht also nicht nur darum, dass ihm
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persönlich der Sportunterricht keinen Spaß gemacht hat. Sprachlich konstruiert er vielmehr einen Gegensatz zwischen der Institution, die einen derartigen Zauber veranstaltet, und der Schülerschaft als ganzer, die diesen Zauber über sich ergehen lassen musste. Wie der abschätzige Begriff des Zeugs in der vorangegangenen Textstelle, so enthält auch die Metapher des Zaubers ein distanzierendes Element. In ihr verdichtet sich das hochgradig Künstliche und Gewollte der sportlichen Anforderungen, die in keiner Weise auf die Schülerbedürfnisse zugeschnitten waren. Das Begriffsfeld Zeug/Zauber fokussiert mithin die Distanz, die zwischen den offiziellen Intentionen der Institution und der Schülerperspektive besteht. Durch diese latent abschätzige Metaphorik tritt der Standort zutage, den sich der Sprecher innerhalb des Erfahrungsraumes zuschreibt. An ihr enthüllen sich die negativen Gegenhorizonte, die er – und damit ist er, wie wir sehen werden, nicht allein – mit dem Erfahrungsraum verbindet. In der dokumentarischen Methode spricht man in diesem Zusammenhang von so genannten »Fokussierungsmetaphern«, die aufgrund ihrer »metaphorischen Dichte jene kollektiven Orientierungen, welche im Fokus der Gruppe […] stehen, in besonders prägnanter und/oder elaborierter Weise zum Ausdruck [bringen].« (Bohnsack 2010, S. 124) Wie in der vorangegangenen Passage, greift der Sprecher auch hier also auf eine typisierende und generalisierende Darstellung der Schülerperspektive zurück. Dass es möglicherweise Mitschüler gegeben hat, die den Sportunterricht durchaus nicht als Quatsch empfunden haben (und solche gab es!), wird durch das kollektive »Wir« ausgeblendet. Es lässt sich also zusammenfassend sagen, dass die Spezialschule, sobald sie als Institution thematisiert wird – und das wird sie in beiden Textstellen –, als ein »negativer Gegenhorizont« erscheint: als etwas, wovon der Interviewte sich nachdrücklich abgrenzt. Sprachliches Merkmal dieser Abgrenzung ist die Selbsteinordnung in eine Schülerperspektive, die der staatlichen Institution entgegensteht und mit der entweder eine statusbedingte Unterlegenheit gegenüber der offiziellen Leitungsebene bzw. eine ebenso statusbedingte Umfunktionierung offizieller Intentionen verbunden wird: Nicht in der pädagogischen Idee, sondern in der Schulbefreiung liegt für einen »typischen« Schüler der eigentliche Nutzen dieser Wettbewerbe. Diese Form der Abgrenzung findet sich mit fast schon systematischer Regelmäßigkeit im gesamten Interview. Von dieser Beobachtung ausgehend muss man nun folgern, dass die Abgrenzung vom Zeug der Wettbewerbe nicht einer Ablehnung des Wettbewerbgedankens entspringt – wie gesagt: das Interview gibt keinerlei Grund für die Annahme einer derartigen Distanzierung –, sondern eine Distanz gegenüber der Spezialschule als Institution zum Ausdruck bringt. Diese Distanz ist vor allem deshalb bemerkenswert, weil der Gesprächspartner immer dann, wenn es um die konkreten musikalischen Ausbildungsinhalte geht, von seiner Zeit an der Spezialschule in den höchsten Tönen spricht und es sehr bedauert, dass diese Form der Ausbildung in seinen Augen heute nicht mehr in dieser Intensität möglich ist. In diesen Fällen bedient er sich nicht mehr der Schülerrolle, sondern artikuliert die Perspektive eines Profimusikers, der aus eigener Erfahrung weiß, wie wertvoll diese Ausbildung für die weitere Biografie war. Das gesamte Interview ist also von einer eigentümlichen Ambivalenz durchzogen: Der Befragte möchte ebenso seine Distanz zum DDR-System und der mit diesem in Verbindung gebrachten »offiziellen« Spezialschule wie auch seine restlose Zustim-
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mung zu der Art und Weise zum Ausdruck bringen, in der er sich an dieser Institution die musikalischen Ausbildungsinhalte aneignen konnte. Diese Ambivalenz wird nicht offen, im Sinne des Bedeutungssinns oder des diesem zugeordneten intendierten Ausdruckssinnes, formuliert. Es ist sogar fraglich, ob sich der Interviewpartner ihrer überhaupt bewusst ist. Es handelt sich also ganz offenkundig um einen Sinn, der sich im Text »dokumentiert«, ohne doch absichtsvoll in ihn hineingelegt worden zu sein. Und das genau ist die Ebene des Dokumentsinnes, die mit Hilfe der dokumentarischen Methode rekonstruiert werden soll. Der Kunsthistoriker Erwin Panofsky hat im Zuge seiner Auseinandersetzung mit dem »Problem der […] Inhaltsdeutung von Werken der Bildenden Kunst« unter Berufung auf Karl Mannheim den Dokumentsinn als Ausdruck eines »Habitus« bezeichnet (daran knüpfte – unter ausdrücklichem Rekurs auf Panofsky – später Pierre Bourdieu an) (vgl. Panofsky 1989; Panowsky 1932, S. 115). Während der so genannte »intendierte Ausdruckssinn« eine bewusst vorgenommene und direkt zu steuernde Inszenierung darstellt, die sich mit den Intentionen deckt, die der Sprecher willentlich zum Ausdruck bringen möchte, ist der Habitus, der sich im Dokumentsinn manifestiert, nicht beliebig zu beeinflussen. Er bildet den Rahmen, aus dem heraus gesprochen wird. Daher verwendet die dokumentarische Methode, wie bereits dargelegt, anstelle des Habitusbegriffs den Begriff des Orientierungsrahmens. Der Orientierungsrahmen enthält beides: sowohl die kommunikativ explizierbaren Intentionen (Um-zu-Motive) als auch die hinter diesen Schemata liegenden Weil-Motive: ein derartiges Weil-Motiv wäre im Falle unseres Musterbeispiels eben die Ambivalenz zwischen dem negativen Horizont der Spezialschule als staatlicher Institution und dem positiven Horizont der Spezialschule als einem rundherum positiv konnotierten Erfahrungsraum. Weil der Orientierungsrahmen des Befragten aufgrund seiner familiären Vorprägung sowohl der offiziellen Institution kritisch gegenübersteht als auch den Erfahrungsraum, den diese Institution bot, als überaus bedeutsam erlebte, ist sein Sprechen über die Spezialschule von einem beständigen Changieren zwischen der Spezialschule als »Agentur« des Staates und der Spezialschule als zentralem Ort intensiver musikalischer Bildungserlebnisse gekennzeichnet. Dass der Interviewte so spricht, wie er spricht, lässt sich nicht allein aus seinem Orientierungsschema (Umzu-Motive) ableiten, sondern entspringt den gewissermaßen in seinem Rücken liegenden Weil-Motiven, zu denen er, obgleich er aus ihnen heraus operiert, nur begrenzt unmittelbaren Zugang hat. Und beides zusammen – seine Um-zu- und seine Weil-Motive – machen seinen Orientierungsrahmen aus. 1.2.1.2 Formulierende und reflektierende Interpretation Mit dem hier gegebenen Beispiel haben wir bereits zwei entscheidende Phasen des Interpretationsprozesses, wie ihn die dokumentarische Methode vorsieht, kennen gelernt. Um zum Dokumentsinn zu gelangen, muss zuvor der Bedeutungssinn rekonstruiert werden. Es geht also darum, zunächst im Akt einer »formulierenden Interpretation« festzustellen, was der Befragte auf der Ebene des Bedeutungssinnes – bzw. des damit verbundenen intendierten Ausdruckssinnes – eigentlich sagen möchte. Erst wenn das geklärt ist, kann in einem zweiten Schritt die Art und Weise geklärt werden, wie dieses Was in Erscheinung tritt: das ist die Ebene der »reflektierenden Interpretation«. Auf ihr wird jener so genannte »modus operandi« freigelegt, aus dem heraus der Befragte erzählt, beschreibt oder argumentiert. In der Rekonstruktion die-
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ses modus operandi tritt der Dokumentsinn des Interviews – und mit ihm der Orientierungsrahmen – hervor. 1.2.1.3 Einzelinterview und kollektiver Sinnzusammenhang Der Orientierungsrahmen, der sich aus der reflektierenden Interpretation ergibt, ist nun aber kein rein individueller, sondern vielmehr ein Bezugspunkt, der als Niederschlag eines kollektiven und verbindenden, mithin eines »konjunktiven« Wissens verstanden wird. Dieses Wissen muss nicht zwangsläufig auf einer unmittelbaren Interaktion einzelner Personen beruhen, die aufgrund ihrer gegenseitigen Bekanntschaft über einen Vorrat an gemeinsamen Erfahrungen verfügen. Mannheim ging hier einen entscheidenden Schritt weiter, indem er postulierte, dass etwa auch Angehörige einer bestimmten Generation, die sich persönlich möglicherweise noch nie begegnet sind, über ein konjunktives Wissen verfügen. Wenn sich etwa zwei Personen erstmalig treffen, die beide aus der DDR stammen und die ungefähr im selben Alter die Wiedervereinigung erlebt haben, dann verfügen sie über ein aus der eigenen Handlungspraxis stammendes Wissen, das sie, ohne dass sie sich groß weiter darüber verständigen müssten, beim Anderen ebenfalls voraussetzen können. Ihr Generationenzusammenhang stiftet eine konjunktive Verbundenheit (vgl. Mannheim 1964b, S. 542). Wie lässt sich nun aus einem einzelnen Interviewtext ein derart kollektiv geteiltes Wissen rekonstruieren? Dazu muss man wissen, dass die dokumentarische Methode zunächst gar nicht im Zusammenhang mit Interviews konzipiert und angewendet wurde, sondern vor allem in der Gruppendiskussion Verwendung fand. Die Aufgabe des Forschers besteht hierbei darin, aus der Art und Weise, wie Einzelne in einer Gruppe agieren, sowohl die gemeinsamen Fundamente dieser Gruppe – also das, was die Gruppe als Gruppe zusammenhält – als auch die Position der Mitglieder innerhalb der Gruppe zu rekonstruieren. Das ist in Einzelinterviews natürlich nicht möglich. Wie lässt sich hier dieses Gemeinsame rekonstruieren? Obgleich sich die dokumentarische Methode, sofern sie mit Interviews arbeitet, in der Art ihrer Datenerhebung wie auch hinsichtlich entscheidender Auswertungsverfahren an den Verfahrensweisen des narrativen Interviews orientiert, gibt es doch einen Punkt, in dem sie sich nachdrücklich von dem Ansatz der Narrationsstrukturanalyse unterscheidet – und dieser Punkt hängt gerade mit dem Bestreben zusammen, vom Einzelinterview auf den konjunktiven Sinnzusammenhang zu schließen: Während es nämlich dem Narrativen Interview, wie es von Fritz Schütze begründet wurde, darum geht, die Lebensgeschichte eines Befragten hinsichtlich seiner biografischen Wandlungen und Entwicklungen zu untersuchen, um erst dann, nachdem dies geschehen ist, über die Grenzen des Einzelfalls hinauszutreten (vgl. Küsters 2009, S. 168 ff.), wird in der dokumentarischen Methode der lebensgeschichtliche Zusammenhang des Einzelnen sofort in einen Vergleich mit anderen Biografien gestellt. Die dokumentarische Methode arbeitet von Anfang an komparativ. Ihr Bezugspunkt ist nicht die individuelle Biografie, sondern der kollektive Zusammenhang, der die einzelnen Biografien prägt. Das komparative Vorgehen dient zum einen der methodischen Kontrolle (vgl. Bohnsack 2010, S. 65): Die Stimmigkeit eines rekonstruierten Orientierungsrahmens zeigt sich daran, ob die herausgearbeiteten Orientierungsfiguren (z.B. negative Gegenhorizonte) sich auch in anderen Interviews finden. Zum anderen lassen sich durch das komparative Verfahren auch typenhafte Differenzen innerhalb einer Gruppe dingfest machen (ebd.). Die dokumentarische Metho-
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de terminiert in einer Typenbildung, die sowohl zum Ausdruck bringt, was die gemeinsame Grundlage einer Gruppe ist, als auch, welche spezifischen Unterschiede sich vor dem Hintergrund dieser Gemeinsamkeit erkennen lassen. 1.2.1.4 Typenbildung Diese Typenbildung vollzieht sich auf zwei Ebenen, einer sinngenetischen und einer soziogenetischen. 1) Zunächst geht es darum, auf einer sinngenetischen Ebene festzustellen, welche Sinnkonstruktionen einzelne Interviewpartner in Bezug auf den konjunktiven Erfahrungsraum vornehmen und welche Gemeinsamkeiten oder Unterschiede dabei auftreten. Denn dass ein gemeinsamer Erfahrungsraum (wie zum Beispiel die Spezialschule) vorliegt, heißt noch lange nicht, dass die Mitglieder dieses Erfahrungsraumes ihn auch identisch wahrnehmen. Auf der Basis einer zugrundeliegenden Konjunktion lassen sich Unterschiede beobachten (Distinktionen), die ihrerseits aber nicht rein individuell sind, sondern sich in bestimmte Klassen (Typen) unterteilen lassen. Der Gesprächspartner unseres Ausgangsbeispiels repräsentiert etwa einen Typ, dessen Orientierungsrahmen sehr genau, im Sinne der beschriebenen Ambivalenz, zwischen der Spezialschule als offizieller Institution und der Spezialschule als Ort wertvoller persönlicher Erfahrungen unterscheidet. Diese Ambivalenz lässt sich bei einigen anderen Gesprächspartnern ebenfalls beobachten, in anderen Interviews fehlt sie hingegen ganz. Dafür gibt es hier dann andere Wahrnehmungsweisen, die ebenfalls über das Einzelinterview hinausgehen und somit einen anderen sinngenetischen Typ ausprägen. 2) Die Ausarbeitung einer sinngenetischen Typologie bildet eine Kernaufgabe der dokumentarischen Methode. Dennoch bliebe durch sie allein die Rekonstruktion des Erfahrungsraumes unvollständig. Darauf hat insbesondere Ralf Bohnsack hingewiesen, dem die Entwicklung der dokumentarischen Methode zu einem anerkannten Erhebungs- und Auswertungsverfahren wesentlich zu verdanken ist. Im Unterschied zum Habitusbegriff Pierre Bourdieus ist der Orientierungsrahmen, wie Bohnsack ihn konzeptionell entwickelt hat, von einer prinzipiellen Mehrdimensionalität gekennzeichnet. Der Orientierungsrahmen, der sich in einem sinngenetischen Typus manifestiert, ist das Ergebnis bestimmter Prägungen, die sich ebenfalls nach Typen differenzieren lassen und die auf unterschiedlichen Ebenen stattfinden: Ob ein Befragter den Erfahrungsraum Spezialschule so wahrnimmt wie der Interviewpartner unseres Beispiels, hängt möglicherweise mit seiner frühkindlichen Sozialisation zusammen, mit den Berufen seiner Eltern, vielleicht aber auch damit, ob er aus einer städtischen oder ländlichen Gegend stammt. In sozialwissenschaftlichen Kontexten ist es üblich, diesen »soziogenetischen« Typus nach Kategorien wie »Geschlecht«, »Generation«, »Milieuzugehörigkeit« etc. zu differenzieren. Da unsere Studie sich zwar eines sozialwissenschaftlichen Ansatzes bedient, in ihrem Kern allerdings ein musikpädagogisches Anliegen – die Frage nach dem Einfluss des Erfahrungsraumes Spezialschule auf die Entwicklung instrumentaler Expertise – verfolgt, schien es uns geboten, die soziogenetischen Faktoren in Hinblick auf diese besondere Fragestellung zu bestimmen. Dazu gleich mehr. Das Design einer an der dokumentarischen Methode angelehnten und mit dem Instrumentarium des Einzelinterviews arbeitenden Studie umfasst damit drei Auswertungsphasen. Zunächst werden die Interviewtexte auf ihren Bedeutungssinn (for-
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mulierende Interpretation) sowie auf ihren Dokumentsinn (reflektierende Interpretation) hin befragt (1. Schritt). Durch unablässige Kontrastierung entsteht eine sinngenetische Typologie (2. Schritt), die sich mit jedem neu hinzugekommenen Interview so lange ausdifferenziert, bis eine theoretische Sättigung eingetreten ist und sich die erarbeitete Typologie als stabil erweist. Bei der im Anschluss daran erfolgenden soziogenetischen Typenbildung (3. Schritt) werden die zuvor entwickelten sinngenetischen Typen für einen Moment wieder vergessen und die Karten neu gemischt. Jetzt werden die Texte hinsichtlich übergeordneter Kategorien – wie etwa Sozialisation, Herkunft etc. – neu gruppiert. Diese soziogenetischen Typen werden abschließend dann mit der sinngenetischen Typologie in Beziehung gesetzt. Hier lässt sich dann feststellen, welche Faktoren die Herausbildung des sinngenetischen Orientierungsrahmens in welcher Weise beeinflusst haben. Wir werden im Folgenden auf jeden dieser Schritte näher eingehen und in diesem Zusammenhang zugleich die Rahmenbedingungen sowie das Design unserer Studie vorstellen. 1.2.2 Zur methodischen Konzeption der Studie 1.2.2.1 Lebensgeschichtlicher Ansatz Die Entscheidung, den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule mit Hilfe narrativer lebensgeschichtlicher Interviews zu rekonstruieren, hängt eng mit unserer Fragestellung zusammen. Wenn – wie in Kapitel 1.1.6 dargelegt – die Schulkultur der Spezialschule aus dem Ineinanderwirken von Habitus/Orientierungsrahmen und Feld heraus begriffen werden soll, wenn es also um die Rekonstruktion jener impliziten Regeln geht, die über das Passungsverhältnis zwischen dem Einzelnen und dem konjunktiven Erfahrungsraum entscheiden, dann ist es notwendig, zunächst beim Orientierungsrahmen des Einzelnen anzusetzen, um darauf aufbauend dann dessen »Passung« zum Erfahrungsraum herauszuarbeiten. Das wäre in einer Gruppendiskussion, die sich als Setting ja ebenfalls angeboten hätte, so nicht möglich gewesen, denn hier hätte man zwar einen Einblick in die Stellung des Einzelnen innerhalb des Erfahrungsraumes bekommen, aber zu wenig Informationen über die soziogenetischen Prägungen erhalten, die diese Stellung begründen. Es kommt hinzu, dass unser Begriff der Schulkultur nicht rein vergangenheitsbezogen konzipiert ist. Was eine spezifische Schulkultur ausmacht, erschließt sich erst dann vollständig, wenn die weitere biografische Entwicklung der Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen wird. Schulische Bildung – und damit ist in unserem Zusammenhang auch der instrumentale Hauptfachunterricht gemeint – ist ihrem Wesen nach auf die Zukunft bezogen. Was sie ausmacht, ja: was sie recht eigentlich »bedeutet«, tritt erst dann zutage, wenn man diese Zukunft mitbedenkt. Insofern hat sich unser erzählgenerierender Impuls nicht darauf beschränkt, die Interviewpartner nach ihrer Zeit an der Spezialschule zu befragen. Unsere Erzählaufforderung lautete vielmehr: »Erzählen Sie uns Ihre Lebensgeschichte!« Während der nun folgenden Gesprächspassage, der so genannten »Eingangserzählung«, haben wir uns darum bemüht, den Gesprächspartner nicht zu unterbrechen, damit ein möglichst ungehinderter Erzählfluss entstehen konnte. Im Anschluss an diese Phase, deren Umfang zwischen wenigen Minuten und einer Dauer von weit über einer Stunde changieren konnte, ging es zunächst um Verständnisfragen bzw. um eine Präzisierung des zuvor Gesagten. Auf
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diesen immanenten Nachfrageteil folgte dann eine exmanente Phase, in denen wir von uns aus alle Themen anschnitten, die zuvor noch ausgeblendet worden waren, die uns aber aufgrund unseres ersten Feldkontaktes (s.u.) sowie unserer theoretischen Vorannahmen wichtig erschienen. Es waren dies: 1) 2) 3) 4)
Der Hauptfachunterricht und das Verhältnis zum Hauptfachlehrer Die allgemeinbildenden Fächer Das Verhältnis zu den Mitschülern Die Dimension des Politischen
Jedes dieser vier thematischen Felder wurde bei der Auswertung dann auf die inhaltlichen Komponenten unseres Schulkultur-Modell (Leistung und Begabung, Persönlichkeitsentwicklung und Berufsorientierung, Rollenidentität und Beziehungsgefüge) bezogen. Diese von uns vorgängig konzipierten Rahmungen waren notwendig, um überhaupt Dimensionen zur Verfügung zu haben, auf die hin wir die einzelnen Interviews untersuchen konnten. Gleichzeitig erschienen sie uns offen genug, um die Relevanzsetzungen und die thematischen Akzentuierungen der Befragten nicht zu beeinträchtigen. Bei der Auswertung der Interviews zeigte sich, dass in der Tat alle Befragten diese vier thematischen Felder zumindest ansatzweise von sich aus in den Eingangserzählungen berücksichtigten. Allerdings war es höchst aufschlussreich, zu untersuchen, an welcher Stelle und in welcher Intensität welches Feld berührt wurde. Im Gegensatz zu unserer Vorannahme, die davon ausgegangen war, dass alle Interviewpartner zunächst einmal ausführlich über den Hauptfachunterricht sprechen würden, gab es etwa eine Reihe von Befragten, die diesen zentralen Bereich der Ausbildung erst ganz gegen Ende der Eingangserzählung – und dann auch nur flüchtig – streiften. Was uns dann zu der Frage führte, aus welchen Motiven heraus diese späte Thematisierung erfolgte. Angesichts unserer im Vorfeld erfolgten Rahmensetzungen lässt sich die Frage stellen, ob mit der Fokussierung auf uns charakteristisch erscheinende Bereiche des Spezialschullebens nicht die lebensgeschichtliche Perspektive im Grunde überflüssig wird. Dagegen ist zweierlei zu sagen. Zum einen bedeutet die Konzentration auf den Erfahrungsraum Spezialschule im engeren Sinne nicht, dass die weitere Biografie des Befragten bei unserer Auswertung keine Rolle spielt. Gerade wenn wir dessen Leben und seine aktuelle Situation kennen, können wir die Position, aus der heraus er erzählt und urteilt, bestimmen und bei unserer Auswertung berücksichtigen (vgl. dazu den folgenden Abschnitt). Und ferner werden die lebensgeschichtlichen Stationen vor und nach der Spezialschule von uns auch explizit analysiert, allerdings nicht im Rahmen der sinngenetischen Rekonstruktion, die sich in der Tat nur auf den Erfahrungsraum selbst bezieht, sondern im Rahmen der soziogenetischen und prozessanalytischen Auswertung (vgl. den vierten Teil unserer Studie). 1.2.2.2 Die Gruppe der Schüler als entscheidender Akteur unserer Studie Obgleich wir diesen lebensgeschichtlichen Ansatz in unserer Studie auf unterschiedliche Akteursgruppen der Spezialschule (Schüler, allgemeinbildende Lehrer, instrumentale Hauptfachlehrer) angewendet haben, blieb eine ausgearbeitete sinn- und soziogenetische Typologie doch der Gruppe der Schüler vorbehalten. Diese Entschei-
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dung liegt in unserem spezifischen Erkenntnisinteresse begründet, das mit der Suche nach dem Passungsverhältnis von Habitus/Orientierungsrahmen und Feld die Frage fokussiert, auf welchen »imaginären« Schülertyp die Spezialschule abzielte, und davon ausgehend untersucht, wie der Erfahrungsraum mit Schülern umging, die gut, weniger gut oder gar nicht diesem imaginären Bild entsprachen – wobei wir, um es noch einmal zu wiederholen, davon ausgehen, dass nicht nur Lehrer und Schulleitung, sondern vor allem auch die Mitschüler selbst mitsamt ihrer im Hintergrund wirkenden familiären Kontexte diesen Erfahrungsraum entscheidend mitgeprägt haben. Damit wird die Gruppe der Schüler in unserem Ansatz zur entscheidenden Akteursgruppe. Das bedeutet nicht, dass die Orientierungsrahmen der Lehrenden überflüssig wären. Deren Perspektive findet allerdings nicht in einer eigenständigen Typologie ihren Niederschlag, sondern wird immer im Zusammenhang mit den Feldbedingungen (der Dimension des Realen) thematisiert, die den Rahmen für die symbolischen Bearbeitungen der einzelnen Orientierungsrahmen auf Schülerseite darstellen. Wir nähern uns dem Erfahrungsraum Spezialschule also primär aus der Schülerperspektive, für die die Orientierung der Lehrenden zu einem vorgegebenen und nicht veränderbaren Grundinventar des Erfahrungsraumes zählt. Damit soll nicht bestritten werden, dass ein Ansatz, der die Frage der Passung oder Nicht-Passung auch in Bezug auf die Lehrenden stellt, nicht ebenso möglich gewesen wäre. Ebenso haben wir darauf verzichtet, bei unserer Probandenauswahl nach konkreten Lehrer-Schüler-Dyaden Ausschau zu halten (obgleich sich in unserem Sample durchaus Lehrer und Schüler befinden, zwischen denen über längere Zeitabschnitte hinweg ein gemeinsames Unterrichtsverhältnis bestand). Mag der Gedanke auch verlockend sein, die Erfahrungen eines Schülers mit den Erfahrungen seines Lehrers zu kontrapunktieren, so hätte dieser Ansatz für die Rekonstruktion des Erfahrungsraumes vermutlich nicht allzu viel abgeworfen. Folgt man Mannheims Grundsatz, wonach konjunktive Erfahrungsräume nicht durch die gemeinsamen Erlebnisse einer Face-to-Face-Kommunikation, sondern durch personenübergreifende Erfahrungsbestände geprägt sind, so ist davon auszugehen, dass die Untersuchung einer konkreten Lehrer-Schüler-Beziehung vielleicht in psychologischer Hinsicht Aufschlussreiches zutage gefördert, aber kaum einen wesentlichen Beitrag zur Erschließung der impliziten Regeln geliefert hätte, an denen sich das Handeln von Personen innerhalb eines konjunktiven Erfahrungsraumes orientiert. 1.2.2.3 Vergangener und aktueller Orientierungsrahmen Die Aufforderung an unsere Gesprächspartner, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, bot die Möglichkeit, nicht nur sachliche Informationen über den Erfahrungsraum Spezialschule zu erhalten, sondern die Interviewpartner zugleich als Konstrukteure ihrer eigenen Lebensgeschichte beobachten zu können. Nicht allein was sie an der Spezialschule erlebt hatten, konnte sich dadurch mitteilen, sondern zugleich auch die Art und Weise, wie diese Erlebnisse nachträglich in einen biografischen Zusammenhang gebracht werden. Dadurch konnten wir wichtige Informationen bezüglich der Relevanz erhalten, die die Spezialschulausbildung in ihrem gegenwärtigen Leben besitzt. Natürlich, und das ist ein gewichtiger Einwand, erhalten wir in einem narrativen Interview zunächst einmal nur einen Einblick in den aktuellen Orientierungsrahmen unser Interviewpartner, nicht aber in den Orientierungsrahmen, den sie als Schüler
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ausgeprägt haben. Besteht somit nicht die Gefahr, dass wir die aktuelle Sichtweise mit der damaligen verwechseln? Diesem Einwand lässt sich auf mehreren Ebenen begegnen. Zunächst muss man darauf hinweisen, dass persönlich erlebte Erzählungen sowieso immer nachträgliche Konstruktionen sind – einerlei, ob man sich ihrer im Abstand von dreißig Jahren erinnert, oder ob es sich um ein Erlebnis von heute Morgen handelt: »Wir befinden uns also bereits in unserem aktuellen Handeln immer bereits im Modus der Biografie« (Kramer 2002, S. 88). Und es ist keineswegs gesagt, dass die näher liegende Erinnerung um jeden Preis die genauere ist. Im Zusammenhang mit unserem Thema lässt sich sogar häufig eine gegenteilige Sichtweise akzentuieren. Gerade der Vergleich zwischen der Situation an der Spezialschule und den heutigen Rahmenbedingungen musikalischer Nachwuchsförderung führte viele Gesprächspartner dazu, nachträglich Charakteristika der früheren Ausbildung zu akzentuieren, die zu betonen ihnen damals vermutlich kaum in den Sinn gekommen wären – etwa die Tatsache, dass der ganze Problemkreis der späteren beruflichen Orientierung und, damit verbunden, die Notwendigkeit von Kompetenzen wie Selbstmanagement für die Spezialschüler von damals keinerlei Rolle gespielt haben. Diese Feststellung ist unseren Gesprächspartnern nur deshalb möglich, weil sie mittlerweile die Erfahrung gemacht haben, in welch hohem Maße dieser Problemkreis heute eine Musikerbiografie begleitet. Erst die Konfrontation mit einem anderen gesellschaftlichen System bringt Kennzeichnungen zum Vorschein, die das ehemalige Spezialschulsystem zwar charakterisieren, die aber von Menschen, die sich ausschließlich innerhalb dieses Systems bewegten, nicht als Charakteristika wahrgenommen werden konnten. Des Weiteren ist zu betonen, dass es bei der Rekonstruktion eines Orientierungsrahmens nicht primär um die »Richtigkeit« von Erinnerungen geht. Anders als der Historiker, der ein Zeitzeugeninterview mit dem Ziel führen muss, faktisch zutreffende Sachverhalte aufzuzeigen, geht es bei unserer Fragestellung ja um die Bergung des Rahmens, aus dem heraus diese Sachverhalte dargestellt werden. Auch »falsche« Darstellungen können hierbei wertvoll sein – denn sie ermöglichen die Frage, aus welchen Gründen hier verzerrt berichtet wird. Natürlich kann auch dieser Rahmen im Laufe des Lebens Veränderungen erfahren und muss insofern nicht mehr einem vergangenen Stand entsprechen. Der Vorteil eines lebensgeschichtlichen Interviews liegt aber gerade darin, dass solche Veränderungen ihren Niederschlag im Text selbst finden und insofern bei der Rekonstruktion berücksichtigt werden können. Der lebensgeschichtliche Abstand zwischen der Erzählsituation und dem Erzählten ist damit nicht nur ein Unsicherheitsfaktor, der die Faktizität des Erlebten (nach der wir, wie gesagt, ja gar nicht primär suchen) beeinträchtigt, sondern bietet zugleich auch die Möglichkeit, die aktuelle und die vergangene Perspektive systematisch voneinander abzuheben. Als ein weiteres Beispiel aus unserer Studie diene folgender Fall, der in Kapitel 4.4.1 ausführlich erörtert wird: Ein Interviewpartner, der über weite Strecken des Gesprächs eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit den aktuellen Bedingungen artikuliert, unter denen freischaffende Musiker heute ihr berufliches Dasein fristen müssen, beschwört als »positiven Gegenhorizont« dazu die Sicherheit, die die DDR professionellen Musikern geboten habe. Auf diese Weise sei eine absolute Konzentration und Versenkung in die Musik möglich gewesen, die sich ein Freiberufler von heute, der sich in erster Linie immer selbst verkaufen müsse, gar nicht mehr erlauben könne. Auf der Ebene des Bedeutungssinnes kann man also feststellen, dass das alte Ausbildungssystem als ein in jeder Hinsicht positives Gegenbild den heutigen Zu-
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ständen gegenübergestellt wird. Das legt den Gedanken nahe, dass das Spezialschulsystem hier, da es aus einer als negativ empfundenen Jetzt-Perspektive heraus dargestellt wird, ein hohes Maß an Idealisierung – und damit an Verzerrung – erfährt. Doch das greift zu kurz, denn genau diese Idealisierung lässt sich im Text selbst als eine Konstruktion kenntlich machen, die keineswegs reibungsfrei mit dem übereinstimmt, was der Gesprächspartner en détail erzählt. Sobald er sich nämlich auf eine genaue Schilderung der damaligen Situation einlässt, kommt er nicht umhin, zu erwähnen, dass ihm persönlich genau jene ungestörte Förderung, die er im Nachhinein positiv am DDR-System hervorhebt, verunmöglicht wurde, da ihm wegen zu häufigen Schwänzens im Fach Marxismus-Leninismus während seiner Studienzeit das fünfte Studienjahr verweigert worden sei und er nach seiner Exmatrikulation nur äußerst widerwillig ein Engagement an einer Musikschule habe aufnehmen müssen. Diese Episode passt in keiner Weise zum Bedeutungssinn des Interviews. Dass der Gesprächspartner sie überhaupt erzählt, hängt mit den so genannten »Zugzwängen« zusammen, denen ein Sprecher in Stegreiferzählungen ausgesetzt ist (vgl. Kallmeyer & Schütze 1977, S. 166; Küsters 2009, S. 27 f.). Wenn sich ein Gesprächspartner darauf einlässt, unvorbereitet sein Leben zu erzählen, dann kann er nicht verhindern, dass die Form des Erzählens eigene Regeln schreibt, die durchaus in Widerspruch zu dem stehen können, was auf der kommunikativen Ebene intendiert ist. So muss er sich etwa, sobald er sich für eine chronologische Erzählform entscheidet, im Großen und Ganzen an den Gang der Ereignisse halten und kann nicht beliebig Situationen auslassen (und wenn er das tut, hinterlässt diese Aussparung Spuren im Text); ebenso muss er so detailliert erzählen, dass sein Gegenüber einen Eindruck von der Situation bekommt. Im vorliegenden Falle bringt die chronologische Orientierung eine Situation zum Vorschein, die den expliziten Erzählintentionen geradezu zuwiderläuft. Hier lässt sich also die Konstruktion einer Idealisierung der Spezialschule sehr genau als Ausdruck eines späteren Orientierungsrahmens erkennen, der nicht mit dem früheren identisch ist. Und gerade die Tatsache, dass dieser Wandel eher unbeabsichtigt artikuliert wird, als dass bewusst von ihm gesprochen würde, erhöht seine Glaubwürdigkeit. Wie wir in Kapitel 4.4.1 zeigen werden, vollzieht sich der Wandel des vorliegenden Interviews nicht als scharfer Bruch mit dem Vergangenen, sondern als ein langsamer Prozess, bei dem der vergangene Orientierungsrahmen keineswegs abgestreift, sondern eher in eine neue Rahmung integriert wird, deren Entstehung mit der Wendezeit zusammenfällt. Indem wir diesen Wandlungsprozess aus der rückwärtigen Perspektive nachzeichnen, indem wir also Faktoren angeben, die ihn ausgelöst haben, können wir uns schrittweise an den ursprünglichen Rahmen herantasten. Und wir können erschließen, inwieweit dieser frühere Rahmen trotz seiner Wandlungen auch die aktuelle Wahrnehmung noch prägt. Dass ein früher herausgebildeter Orientierungsrahmen noch einen Einfluss auf die aktuelle Situation besitzt, ist natürlich fast schon eine triviale Feststellung. Es liegt auf der Hand, dass in allem, was ein Sprecher artikuliert, die Summe seiner im Laufe seines Lebens gebildeten Erfahrungen mitschwingt. Die Frage ist eher, mit welcher Berechtigung sich eine aktuelle Äußerung als direkter Niederschlag einer ganz bestimmten früheren Prägung deuten lässt. In diesem Zusammenhang ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, dass wir nicht den Orientierungsrahmen »an sich« rekonstruieren wollen, sondern lediglich in Hinsicht auf einen Teilbereich untersuchen. Und dieser Teilbereich wird durch das Passungsverhältnis definiert, das zwi-
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schen dem Einzelnen und einem auf eine Berufstätigkeit als professioneller Musiker abzielenden Erfahrungsraum bestand. Dem Erfahrungsraum war also der Anspruch inhärent, einem Orientierungsrahmen zur Ausprägung zu verhelfen, der sich auch und vor allem im späteren Berufsleben bewähren musste. Wenn wir den heutigen Orientierungsrahmen unserer Gesprächspartner – so wie er uns in der Interviewsituation gegenübertritt – in Hinblick auf das jeweilige berufliche Selbstverständnis rekonstruieren, dann müssen wir also davon ausgehen, dass dieser aktuelle Orientierungsrahmen, der in der überwiegenden Zahl von Fällen noch immer der eines musikalische Profis ist, immer auch auf den Erfahrungsraum zurückweist, in dem er geprägt wurde. Da wir nur einen ganz bestimmten thematischen Strang des Orientierungsrahmens verfolgen, dessen Ursprung zudem an einen ganz bestimmten gemeinsamen Erfahrungsraum gekoppelt ist, ist eine Rückführung dieses Rahmens auf den Ort seiner Prägung an wesentlich weniger alternative Einflussgrößen gebunden, als dies bei anderen Themen der Fall wäre. Und in dem Maße, in dem uns durch unser komparatives Vorgehen sowie durch die Analyse des Feldes (= des Realen) eine Rekonstruktion dieses Erfahrungsraumes gelingt, können wir ihn bei der Untersuchung des aktuellen, im Gespräch artikulierten Orientierungsrahmens in Rechnung stellen: mit jedem hinzutretenden Interview verfügen wir also über eine zunehmende Kenntnis der unsere Gesprächspartner verbindenden gemeinsamen Erfahrungsgrundlage, mit der wir die aktuellen Äußerungen in Beziehung setzen können. 1.2.2.4 Differenzierung nach Textsorten Das soeben genannte Beispiel, dem sich, entgegen der explizit in den Text hineingelegten Intentionen, Hinweise auf Erlebnisse entnehmen lassen, die dem aktuellen Orientierungsschema des Gesprächspartners zuwiderlaufen, zeigt, wie wichtig es ist, bei der Rekonstruktion der Orientierungsrahmen auf eine genaue Unterscheidung der Textsorten zu achten. Die neuere, von Ralf Bohnsack konzipierte, Fassung der dokumentarischen Methode bedient sich daher jener von Fritz Schütze, dem Begründer des Narrativen Interviews, entwickelten Differenzierung zwischen Erzählungen, Beschreibungen und Argumentationen (vgl. Kallmeyer & Schütze 1977; Küsters 2009, S. 25 f.): Hinter dieser Unterscheidung steht die These, dass ein Sprecher im Modus des Erzählens einen Zugang zu einer früheren Erfahrungsaufschichtung erhält, der sich ihm im Modus der Argumentation so nicht eröffnen würde. Infolge der mit dem Erzählmodus verknüpften »Zugzwänge der Sachverhaltsdarstellung« kann er, sobald er unvorbereitet zu erzählen beginnt, nicht frei schalten und walten, sondern ist gezwungen, sich an früheren Schemata zu orientieren – für die Integration dieser Sachverhalte in neuere Schemata hat er aufgrund der Stegreifsituation schlichtweg keine Zeit. Schützes These ist nicht unwidersprochen geblieben (vgl. hierzu Nassehi & Saake 2002, S. 4 f.), wobei die Kritik in der Regel nicht bestreitet, dass der Modus des Erzählens in der Tat einen Zugang zu einer früheren Erlebnisaufschichtung gewähren kann. Gefragt wird allerdings, ob dieser Zusammenhang wirklich in jedem Fall so zwingend ist, wie von Schütze behauptet wird. Die dokumentarische Methode folgt zwar Schütze insoweit, dass sie den Erzählungen und Beschreibungen innerhalb eines Interviews besondere Bedeutung zukommen lässt. Das heißt aber nicht, dass sie der Textsorte der Argumentation nicht ebenfalls große Aufmerksamkeit widmet. Allerdings geht es hierbei nicht primär um eine inhaltliche Auseinandersetzung mit den jeweils verfochtenen Positionen, sondern immer um die Art und Weise, wie diese
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Positionen konkret ins Werk gesetzt werden. Das haben wir anhand des einleitenden Beispiels zu zeigen versucht. Es wird also etwa gefragt, von welchen positiven oder negativen Gegenhorizonten eine Argumentation getragen ist und ob sie auf ein hohes oder niedriges Enaktierungspotenzial schließen lässt. Mit anderen Worten: Es geht auch hier nicht so sehr um die Argumentation als solche als vielmehr um die Rekonstruktion des »modus operandi«, mit dem diese Argumentation im Text konstruiert wird. 1.2.2.5 Sinngenetische Typenbildung Die Typenbildung ist in der dokumentarischen Methode kein Arbeitsschritt, der erst erfolgt, wenn die formulierende und reflektierende Interpretation aller Texte abgeschlossen ist, sondern ergibt sich direkt aus dem komparativen Verfahren. Bereits mit der Hinzunahme eines zweiten Interviews lässt sich ein »tertium comparationis« – also die gemeinsame Grundlage beider Texte, auf deren Basis dann eine Bestimmung von Unterschieden möglich ist – ermitteln. Die Bestimmung dieser Gemeinsamkeit ist zunächst eine Interpretationsleistung des Forschers, die in hohem Maße von seiner Fragestellung und seinem theoretischen Vorwissen abhängt. Wenn wir etwa unser Ausgangsbeispiel mit einem weiteren Interview vergleichen und feststellen, dass sich in beiden Texten die oben erläuterte Ambivalenz zwischen der Spezialschule als einer distanziert betrachteten offiziellen Institution und als eines persönlich wertvollen Erfahrungsraums aufzeigen lässt, dann hat die Feststellung dieser Gemeinsamkeit zunächst einmal sehr viel mit uns selbst als Forschenden zu tun: Ohne unsere Forschungsfrage und die sie begleitenden theoretischen Zugänge würde diese Gemeinsamkeit verborgen bleiben, denn sie liegt ja schließlich nicht auf der Hand, sondern muss als ein unter der Oberfläche verborgener Dokumentsinn erst hermeneutisch dingfest gemacht werden. Mit jedem neu hinzutretenden Interview, das diese Gemeinsamkeit bestätigt, wächst jedoch die empirische Fundierung des von uns herausgearbeiteten Vergleichshorizontes. Das komparative Verfahren der dokumentarischen Methode gewährleistet also eine methodische Kontrolle, durch die eine intersubjektive Nachvollziehbarkeit möglich wird. Es kann nun aber sein, dass wir auf ein Interview stoßen, das die hier beschriebene Ambivalenz nicht in dieser Form ausprägt, sondern alle persönlichen Erlebnisse innerhalb des Erfahrungsraumes auf die offizielle Institution bezieht. Im Gegensatz zu den anderen Interviews, die auf der Ebene der persönlichen Erfahrung ein hohes Maß an Handlungsfähigkeit, mithin ein großes Enaktierungspotenzial, zu erkennen geben, sind die Darstellungen hier jetzt von dem Bewusstsein einer großen Ohnmacht gegenüber der Institution geprägt. Damit würde die Hypothese, wonach die Ambivalenz zwischen offizieller Institution und persönliche wertvollem Erfahrungsraum zum generellen Kennzeichen aller Spezialschüler zählt, hinfällig. Diese Gemeinsamkeit wäre also nur noch ein Merkmal einiger Interviews. Die allen Interviews zugrundeliegende Gemeinsamkeit müsste neu bestimmt werden. Bezogen auf unser Beispiel wäre dann etwa festzustellen, dass in allen Interviews die Spezialschule als offizielle staatliche Institution in Erscheinung tritt, wobei die Art und Weise, in der sie dies tut, differiert. Vor dem Hintergrund dieses gemeinsamen Rahmens lassen sich Unterschiede bestimmen, die nach dem Prinzip des größtmöglichen Unterschieds nun hinsichtlich einzelner Typen differenziert werden. Die Bezeichnung »größtmöglicher Unterschied« besagt, dass nicht nach irgendwelchen Unterschieden
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gesucht wird, sondern nur nach denen, die sich als eine spezifische Klasse der zugrundeliegenden gemeinsamen Basistypik begreifen lassen. Dass die in dieser Klasse versammelten Fälle ihrerseits Unterschiede ausprägen können, bleibt dabei unberücksichtigt. Es sind »minimale Unterschiede«, die die grundsätzliche Typenbildung nicht berühren. Allerdings können diese kleineren Unterschiede nun wiederum zu »größtmöglichen Unterschieden« werden, wenn innerhalb der gewonnenen Typenbildung nochmals nach Untertypen differenziert werden soll. Dieses Verfahren der Typenbildung begleitet den gesamten Auswertungsprozess und kann als abgeschlossen gelten, wenn durch das Hinzutreten neuer Fälle keine grundsätzliche Änderung der gewonnenen Typen mehr notwendig ist. Hier liegt dann eine »theoretische Sättigung« vor; man kann nun davon ausgehen, dass die konstruierten Typen das Forschungsfeld angemessen abbilden. 1.2.2.6 Soziogenetische und prozessanalytische Typenbildung Der hier beschriebene Prozess der Typenbildung bezieht sich sowohl auf die Stufe der sinngenetischen, der soziogenetischen wie auch der prozessanalytischen Interpretation. Während es bei der sinngenetischen Typenbildung aber um eine typenhafte Unterscheidung jener Orientierungsrahmen geht, die für den im Fokus stehenden konjunktiven Erfahrungsraum kennzeichnend sind, so wird in der soziogenetischen Typenbildung nach den dahinter stehenden Ursachen gefragt, mit denen sich die unterschiedlichen sinngenetischen Orientierungen erklären lassen. Unter soziogenetischen Vorzeichen begnügt sich der Forscher also nicht damit, die unterschiedlichen Wahrnehmungsweisen einzelner Akteure deren »Persönlichkeit« zuzuschreiben (nach dem Motto: »Der eine empfindet es eben so, der andere anders …«). Vielmehr sucht er herauszufinden, welchen übergeordneten Parametern diese Wahrnehmung zugrunde liegt. Wie bereits gesagt, werden in sozialwissenschaftlichen Untersuchungen hier in der Regel Kriterien wie »Generation«, »Geschlecht« oder »Milieu« angelegt. Aufgrund unserer genuin musikpädagogischen Fragestellung sind wir in diesem Punkt jedoch von diesen Kriterien abgewichen. Auf der Basis unserer theoretischen Vorannahmen, die im vierten Teil ausführlich erläutert werden, versuchen wir die Gründe für die unterschiedlichen sinngenetischen Ausprägungen anhand spezifisch musikbezogener Kriterien zu bestimmen. Es handelt sich hierbei um folgende Aspekte: 1) 2) 3) 4)
Berufe der Eltern (Musiker/Musikliebhaber/Laien?) Familiärer Lebensstil (unter besonderer Fokussierung der musikalischen Sozialisation) Instrumentalunterricht vor der Spezialschule Charakteristika des Hauptfachinstruments
Jeder dieser Aspekte führt zu eigenständigen Typenbildungen, die in einem abschließenden Schritt dann mit der sinngenetischen Typologie in Beziehung gesetzt werden. Auf diese Weise kann man dann etwa bestimmen, ob und in welcher Form eine bestimmte Qualität des familiären Lebensstils oder des ersten Instrumentalunterrichts einen Einfluss auf die Zuordnung zu einem bestimmten sinngenetischen Typ besitzt. Den Abschluss der Untersuchung bildet dann eine prozessanalytische Untersuchung (vgl. Kapitel 4.4). Vor dem Hintergrund der herausgearbeiteten sinn- und so-
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ziogenetischen Typen stellen wir die Frage, ob und inwieweit sich die an der Spezialschule gebildeten Orientierungsrahmen im Laufe der weiteren Biografie verändert haben. Auch dieser Aspekt führt zu einer Typologie, die ebenfalls mit den sinn- und soziogenetischen Typen in Beziehung gesetzt werden kann. Diese drei Klassen von Typen beschreiben zusammengenommen das Passungsverhältnis einzelner Orientierungsrahmen zur Schulkultur der Spezialschule, die, wie bereits gesagt, nicht nur durch den in der Vergangenheit liegenden Erfahrungsraum, sondern zugleich auch durch jene Zukunft charakterisiert ist, deren Erschließung den Kern jedweden schulischen Lernens darstellt. Vor dem Hintergrund dieses schrittweise zu erschließenden Passungsverhältnisses werden im Laufe der Studie dann all jene Aspekte beschrieben und eingeordnet, die dem einzelnen Schüler als nicht veränderbare Rahmenbedingungen des Erfahrungsraums gegenübertraten. Diese Dimension des Realen wird verkörpert durch die Lehrerinterviews sowie alle weiteren offiziellen und halboffiziellen Dokumente, die charakteristisch für den Erfahrungsraum waren. 1.2.2.7 Theoretisches Sampling Um zu stichhaltigen und validen Aussagen zu gelangen, ist es in der qualitativen Forschung unerlässlich, das zugrundeliegende Sample so auszuwählen, dass durch die Auswahl der Interviewpartner das Feld angemessen repräsentiert wird. Im Unterschied zur quantitativen Forschung, bei der diese Auswahl durch eine randomisierte Stichprobe erfolgt, muss hier aufgrund der theoretischen Zielsetzungen das Sample aktiv konstruiert werden. Dieser Konstruktionsprozess erfolgt nicht vor den Befragungen, sondern begleitet den gesamten Prozess der Datenerhebung. So ergab sich in unserer Studie beispielsweise ab einem bestimmten Punkt die Notwendigkeit, unsere Interviewpartner hinsichtlich ihrer Hauptfachinstrumente zu spezifizieren, was beispielsweise dazu führte, dass wir gezielt nach tiefen Streichern Ausschau hielten. Um aber überhaupt an unser Datenmaterial zu gelangen, mussten zunächst möglichst viele Absolventen der Dresdner Spezialschule aufgespürt werden. Auf der Grundlage der erhaltenen Klassenbücher konnten ca. 300 ehemalige Schülerinnen und Schüler kontaktiert werden. Um auf dem Weg dieser Kontaktaufnahme zugleich Informationen zu erhalten, die für die Konstruktion des theoretischen Samples relevant sein konnten, wurde ein Fragebogen entworfen, der uns ein Großteil jener Informationen liefern sollte, die uns zu diesem Zeitpunkt für eine derartige Konstruktion notwendig erschien. Die Rücklaufquote dieser Fragebogenaktion betrug 31,2 %. Neben allgemeinen Fragen zur Person, zu den wichtigsten biografischen Stationen, zu den jeweiligen Elternhäusern und zur gegenwärtigen beruflichen Situation, nutzten wir diesen Fragebogen zugleich, um uns einen ersten Eindruck über unser Forschungsfeld zu verschaffen. Hierbei differenzierten wir nochmals zwischen allgemeinen Fragen zur Spezialschulzeit und gezielten Fragen zur musikalischen Ausbildung. Die Ergebnisse dieses Fragebogens wurden zwar statistisch aufbereitet, fanden aber keinen direkten Eingang in den Forschungsprozess. Eine Triangulation aus statistischen Daten und qualitativer Rekonstruktion, wie sie etwa in der Qualitativen Inhaltsanalyse häufig praktiziert wird, war nicht beabsichtigt, da sie sich kaum mit dem Forschungsansatz der dokumentarischen Methode vereinbaren ließe. Aus diesem Grund werden wir im Folgenden die Ergebnisse dieses Fragebogens nicht sys-
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tematisch darstellen, sondern immer nur dort einfließen lassen, wenn es als Rahmeninformation thematisch sinnvoll erscheint. Aus dem uns bis dahin vorliegenden Datenmaterial konstruierten wir nun ein Sample, das wir bis zum Ende der Befragungen unablässig weiter verfeinerten. Auf Schülerseite kamen insgesamt 21 Interviews zustande, von denen wir 18 transkribierten und 14 in unser endgültiges Sample aufnahmen. Im Einzelnen berücksichtigte das Sample folgende Aspekte: Geschlechterverhältnis, Zeitraum des Schulbesuchs, Elternberufe, Internatsschüler vs. Dresdner Schüler, heutige berufliche Situation (Solisten, Orchestermusiker, Musikpädagogen, musikfremde Berufe) sowie das jeweilige Hauptfachinstrument. Mit den Lehrenden führten wir 11 Interviews, von denen 10 transkribiert wurden (vier aus dem Bereich der Allgemeinbildung sowie sechs Instrumentallehrkräfte). Parallel zu diesen narrativ-biografischen Interviews führten wir Expertengespräche mit wichtigen Akteuren der damaligen Zeit, die wertvolle Einblicke in die Struktur der Dresdner Spezialschule sowie in das Verhältnis der vier Spezialschulen untereinander gewährten: Neben den Schulleiterinnen Julianne Erxleben und Gudrun Schröter konnten wir mit Katharina Rebling, einer altgedienten Violinprofessorin an der Berliner Musikhochschule »Hanns Eisler«, mit der Klavierpädagogin Sigrid Lehmstedt sowie mit dem Musikpsychologen – und dem Begründer des Faches Musiktherapie in der DDR – Christoph Schwabe sprechen. Die dokumentarische Quellenlage erwies sich als äußerst schwierig, da der Großteil der die Dresdner Spezialschule betreffenden Dokumente dem Hochwasser 2002 zum Opfer gefallen war. Immerhin war es aufgrund der uns zugänglichen Materialien, von denen ein nicht unbeträchtlicher Teil aus Privatbesitz stammte, aber möglich, zumindest einen ungefähren Einblick in die organisatorischen Abläufe und intern geführten Diskussionen zu erhalten. Ergänzt wurden diese Dokumente durch Quellen aus der Sächsischen Landes- und Universitätsbibliothek sowie dem Dresdner Stadtarchiv, deren Umfang jedoch ebenfalls überschaubar war. Die diesen Dokumenten zu entnehmenden Daten wurden komplettiert durch Informationen zu den DDRSpezialschulen im Allgemeinen, die wir durch Quellen aus dem Bundesarchiv sowie dem Hochschularchiv der Musikhochschule Weimar gewinnen konnten. 1.2.2.8 Zur Darstellung der Forschungsergebnisse Da sich unsere Studie nicht nur an die wissenschaftliche Community, sondern ebenso an interessierte Musiker und Musikpädagogen richtet, haben wir uns bei der Darstellung der Forschungsergebnisse zu einigen Modifikationen entschlossen. Zunächst werden wir im Folgenden nicht den Forschungsprozess als Ganzen darstellen. Insbesondere die zeitaufwändige Phase der reflektierenden Interpretation, in der Interviewtexte Satz für Satz und bisweilen auch Wort für Wort durchgepflügt und gemeinschaftlich diskutiert wurden, wäre für wissenschaftliche Laien eine arge Strapaze. Da jedoch genau diese hermeneutische Textarbeit das eigentliche Herzstück einer an der dokumentarischen Methode orientierten Untersuchung darstellt, die sich keineswegs auf die Darstellung der aus ihr resultierenden »Ergebnisse« reduzieren lässt, werden wir dem Leser dennoch zumuten, sich auf die Verästelungen einer feingliedrigen Textarbeit einzulassen. Allerdings erfolgt unsere Darstellung immer schon aus der Kenntnis des abgeschlossenen Forschungsprozesses heraus, was von vornherein eine Auswahl unter Relevanzgesichtspunkten impliziert. Die sich daraus ergebende Zir-
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kelstruktur lässt sich nicht vollständig ausschalten. Um den Leser jedoch nicht zum willfährigen »Opfer« unserer Interpretation zu machen, haben wir uns um eine gewisse Ausführlichkeit der zitierten Interviewpassagen bemüht. Die Länge dieser Abschnitte lässt, so hoffen wir, genügend Spielräume, so dass der Leser auch selbstständig eigene Lesarten und Deutungen entwickeln kann, die sich durchaus von unseren Analyseergebnissen unterscheiden mögen. Als ein weiteres großes Problem bei der Darstellung erwies sich die Gewährleistung der notwendigen Anonymität. In der überschaubaren Welt der Spezialschule reicht eine einfache Anonymisierung der Namen nicht aus, um den Kennern des Feldes dennoch den Rückschluss auf die dahinter stehenden Personen zu ermöglichen. Wir haben uns daher zu weiteren Modifikationen entschlossen. Insbesondere wurde im dritten Teil, bei dem es um die Erarbeitung der sinngenetischen Typologie ging, darauf verzichtet, die Hauptfachinstrumente der Befragten anzugeben. Des Weiteren wird im anschließenden soziogenetischen Teil, in dem es um so verräterische Aspekte wie »Elternhäuser« oder »Instrument« geht, komplett auf die Nennung der im vorangegangenen Teil gewählten Pseudonyme verzichtet. Hier werden jetzt einfach die Fälle durchnummeriert. Damit ist nur noch eine Zuordnung zu einem sinngenetischen Typ, aber nicht mehr zu den konkreten Personen, aus denen dieser Typ hervorgeht, möglich. Ein letztes Wort gilt der äußeren Darstellungsform. In den Teilen 3 und 4 werden Zitate befragter Personen auftauchen, die kursiv gesetzt sind, während an anderen Stellen die traditionellen Anführungszeichen beibehalten werden. Das hat folgenden Grund: Kursivierte Abschnitte sind Zitate, bei denen es nicht um historische Fakten, sondern um die Bergung des konjunktiven Wissens geht. Zitate in Anführungsstrichen werden hingegen immer dann verwendet, wenn der rein informatorische Gehalt der zitierten Stelle im Vordergrund steht. Des Weiteren werden Personennamen im Folgenden immer dann kursiv gesetzt, wenn es sich um Pseudonyme handelt. Bei nicht kursivierten Namen handelt es sich hingegen um Klarnamen. Der Grund für diese doppelte Form liegt darin, dass wir zwar einerseits eine wissenssoziologische musikpädagogische Studie vorlegen, die aber zugleich notgedrungen stark historisch orientiert ist. Und auf dieser historischen Ebene lassen sich Klarnamen zumindest teilweise nicht umgehen.
2. Teil: Feldzugänge (I) Die Dresdner Spezialschule im Kontext historischer und gesellschaftspolitischer Rahmenbedingungen W OLFGANG L ESSING & M ARIA B ERGE
Bevor wir mit dem eigentlichen Ziel unserer Studie, der Rekonstruktion sinn- und soziogenetischer Orientierungsrahmen, beginnen, ist es notwendig, das Feld, innerhalb dessen sich diese Rahmungen herausgebildet haben, genauer kennenzulernen. In diesem Teil soll der Leser eine erste Tuchfühlung mit der Dimension des »Realen« erhalten, auf deren Grundlage die Akteure dann ihre »symbolische« Praxis entfalten konnten. Im Gegensatz zu den entscheidenden späteren Teilen ist die folgende Darstellung ausschließlich historisch geprägt (vgl. hierzu auch Lessing et al. 2015).
2.1 W EGE
ZUR
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»Werte Genossen! Das schlechte Abschneiden unserer jungen Solisten beim Tschaikowsky-Wettbewerb in Moskau 1962 wird nach dem Bericht der Kulturabteilung darauf zurückgeführt, daß unsere Pianisten und Streicher ungenügend ausgebildet sind. Es wird die Frage gestellt, mit der Ausbildung befähigter Kinder im Alter von 6–8 Jahren zu beginnen. Der Vorschlag, spezielle Musikschulen zu schaffen, ist meines Erachtens jetzt nicht real. Ich bitte, doch unseren alten Vorschlag wieder hervorzuholen, musikbegabte Kinder durch Sondermaßnahmen an den Volksmusikschulen zu fördern. Wäre es nicht an der Zeit, einen Wettbewerb junger Musiker anläßlich eines bestimmten Gedenktages in der DDR zu organisieren, damit eine stärkere Förderung der jungen Talente angeregt wird? Mit sozialistischem Gruß W. Ulbricht« (Ulbricht 1962)
Diese kleine Hausmitteilung Walter Ulbrichts an die Politbüro-Sekretäre Kurt Hager und Alfred Kurella vom November 1962 entstammt einer Zeit des bildungspoliti-
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schen Umbruchs in der DDR – eines Umbruchs, dessen inhaltliche Neujustierung sich nicht zuletzt in der zwiespältigen Haltung äußerte, die die Parteiführung dem Spezialschulgedanken zunächst entgegenbrachte. Die unscheinbare Formulierung »jetzt nicht real« deutet an, dass Ulbricht der Idee einer Einrichtung »spezieller Schulen« nicht prinzipiell ablehnend gegenüberstand, allerdings den Zeitpunkt ihrer Realisierung für noch nicht gekommen hielt. Ein weiteres, kurze Zeit später entstandenes Dokument aus den obersten Kreisen der Staatsführung bestätigt diese zögernde Haltung. In einem Schreiben an den Stellvertretenden Vorsitzenden des DDR-Ministerrats Alexander Abusch vom 14.11.1962 fasst der damalige Abteilungsleiter im Ministerium für Kultur, Siegfried Wagner, der anscheinend direkt mit Ulbricht über dieses Thema konferiert hatte, dessen Position noch einmal zusammen und pflichtet ihr im Wesentlichen bei. Anstatt die Frage der musikalischen Nachwuchsförderung nun aber alleine den Volksmusikschulen zu überlassen oder sie durch punktuelle Maßnahmen wie einen Wettbewerb anlässlich eines Gedenktages lösen zu wollen, fordert Wagner zusätzlich einen verstärkten »Aufbau von Oberschulklassen«5 an den Musikhochschulen und fährt fort: »Wir betrachten [diese Oberschulklassen] als erste Keimzelle für später zweifellos zu schaffende Spezialoberschulen auf diesem Gebiet. In der Öffentlichkeit sollten wir jedoch über die Einrichtung dieser Oberschulklassen nicht breit diskutieren, das Problem der Spezialoberschule zur Zeit überhaupt nicht in die Debatte werfen, damit wir nicht die Initiative in eine falsche Richtung lenken. In der Öffentlichkeit sollte zur Zeit mit aller Entschiedenheit über eine Verbesserung der Arbeit der Musikschulen in dem vorhergehenden Sinne gesprochen werden.« (Wagner 1962)
Die Warnungen vor einem vorschnellen Gang an die Öffentlichkeit und vor einer »Initiative in die falsche Richtung« weisen auf einen gewichtigen bildungspolitischen Paradigmenwechsel hin, den die Parteiführung anscheinend vorbereitete, ohne ihn jedoch schon gezielt befördern zu wollen. Dieser Paradigmenwechsel hatte in seinem Ursprung nicht direkt etwas mit der Musik zu tun, sondern war allgemein bildungspolitischer Natur, womit er sich dann freilich wiederum auch auf die musikalische Ausbildung auswirkte. Worum ging es dabei? In den 50er Jahren war es zentrales Ziel der Bildungspolitik der DDR gewesen, Kindern mit proletarischer Herkunft höhere Bildungsabschlüsse zu ermöglichen – ihnen also die Möglichkeit zu geben, durch den Erwerb entsprechender Bildungstitel in Leitungsfunktionen aufzusteigen. In der ersten Hälfte der 60er Jahre gelangte nun immer stärker ein Denken in den Vordergrund, das Bildung als einen entscheidenden Schlüssel zur Gestaltung des rasanten technischindustriellen Wandels begriff. Wohl nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer massiven Abwanderung hochqualifizierter Arbeitskräfte in den Westen wurde die Formel »Bildung ist Macht« durch »den Satz ›Bildung erzeugt wissenschaftlich-technischen Fortschritt‹ [abgelöst]. […] Technische Entwicklung, Arbeitsteilung und die mit ihr institutionalisierten Leistungsansprüche standen jetzt im Mittelpunkt der Bildungspo5
Unter dem Begriff »Oberschule« firmierte in der DDR, im Unterschied zum Sprachgebrauch in der alten Bundesrepublik, die allgemeinbildende Schule von der 1. bis zur 10. Klasse.
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litik.« (Stock 1997, S. 311) Es ging also nicht mehr nur darum, Menschen mit einem »ererbten politischen Kapital« (also einer proletarischen Herkunft) eine entsprechende Bildungslaufbahn zu ermöglichen (vgl. Miethe 2006, S. 86 ff.). Vielmehr kam es zu einer stärkeren Betonung des Leistungsprinzips, als dessen Indikator das Vorhandensein eines bestimmten akademischen Abschlusses begriffen wurde. Dieser Umbruch äußerte sich beispielsweise in der Tatsache, dass die so genannten »Arbeiterund Bauern-Fakultäten«, die in den 50er Jahren die Aufgabe gehabt hatten, jungen Erwachsenen mit proletarischer Abstammung und ohne ausreichende Schulbildung einen akademischen Abschluss zu ermöglichen, in den Jahren 1961–1962 geschlossen wurden (vgl. ebd., S. 79 sowie Stock 1997, S. 313). Und auch die Rolle der Massenorganisationen, denen das »Gesetz über die Entwicklung des sozialistischen Schulwesens in der DDR« noch im Jahre 1959 ein wichtiges Mitspracherecht bei der Entscheidung über die Vergabe von Studienplätzen eingeräumt hatte, wurde drastisch zurückgefahren. Ab 1963 waren dafür alleine die Universitäten zuständig (vgl. Stock 1997, S. 313). In den fünfziger Jahren war für die Idee eines die Allgemeinbildung und die Spezialbildung verbindenden Schultyps, wie er sich in den späteren Spezialschulen für Fremdsprachen, Mathematik, Sport und eben auch für Musik herauskristallisierte, kein Raum gewesen. Bildungspolitik zielte hier vornehmlich auf die Gewinnung einer neuen Machtelite. Das unangefochten im Zentrum stehende Bemühen, Proletarierkindern eine Teilhabe an gesellschaftlich relevanten Positionen zu ermöglichen, wäre kaum mit dem Gedanken einer Spezialausbildung für besonders befähigte Kinder und Jugendliche vereinbar gewesen, denn dieser Gedanke hätte zur Konsequenz gehabt, vornehmlich nach dem Leistungsprinzip zu verfahren und wäre damit womöglich auch Kindern aus dem alten Bürgertum (oder gar solchen mit einem kirchlichen Hintergrund) zu Gute gekommen. Mit dem Problem, dass eine »Eliteförderung« (die damals selbstverständlich nicht so hieß) – zumal auf musikalischem Gebiet – gerade Kindern aus diesen Milieus zu Gute kam, ja sogar von deren Existenz in hohem Maße abhing, sollten sich die 1965 dann ins Leben gerufenen Spezialschulen auch weiterhin herumschlagen. Im Unterschied zur Situation der 50er und frühen 60er Jahre ließ das in späteren Jahren zunehmend an Gewicht gewinnende Prinzip der Leistungsorientierung aber immerhin zu, dass die prinzipielle Unvereinbarkeit des Leistungs- und des Abstammungsgedankens sich überhaupt als Problem in der Praxis manifestieren konnte (vgl. ebd.). Das war zuvor ausgeschlossen gewesen. Sowohl der Hinweis Ulbrichts als auch dessen genauere Paraphrase durch den Abteilungsleiter Wagner lassen erkennen, dass die Parteiführung schon Anfang der 60er Jahre die Notwendigkeit erkannt hatte, das alleinige Primat der proletarischen Abkunft zu lockern und durch ein System zu ersetzen, in dem es zum einen um Leistungsorientierung ging, das zum anderen aber auch die Möglichkeit eröffnete, ein fehlendes proletarisches Erbe (ererbtes politisches Kapital) durch ein entsprechendes gesellschaftliches Engagement (erworbenes politisches Kapital) ausgleichen zu können (Miethe 2006, S. 86 ff.). Zugleich zeigen beide Quellen, dass anscheinend davor zurückgeschreckt wurde, sich allzu abrupt von den Maximen der 1950er Jahre zu verabschieden. So laufen die Verbesserungsvorschläge zunächst im Wesentlichen auf eine qualitative Verbesserung des Status quo hinaus. Wie sah dieser Status quo aus? Welche Möglichkeiten gab es bis Mitte der 1960er Jahre für Kinder und Jugendliche, eine professionelle musikalische Karriere
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in Angriff zu nehmen? Diese Frage lässt sich nicht generell beantworten, sondern hängt eng mit den unterschiedlichen regionalen Voraussetzungen der späteren Spezialschulstandorte zusammen. Wir verknüpfen die Frage nach dem Status quo an dieser Stelle daher mit einem kleinen Exkurs zur Geschichte der musikalischen Ausbildungsinstitutionen in Dresden. Das ist auch deshalb wichtig, weil nur vor diesem Hintergrund deutlich werden kann, in welch hohem Maße sich bestimmte Problemstellungen, auf die wir im Zusammenhang mit der Spezialschulausbildung stoßen werden, auf historische Wurzeln zurückführen lassen. Hierbei ist vor allem die seit jeher besondere Rolle der Musiker der Staatskapelle zu nennen, deren durchaus eigenständiges Interesse an der Ausbildung qualifizierten Nachwuchses sich nicht immer reibungsfrei in die akademischen Ausbildungsinstitutionen einfügte.
2.2 E XKURS : Z UR G ESCHICHTE DER MUSIKALISCHEN AUSBILDUNGSINSTITUTIONEN IN D RESDEN Die Geschichte der institutionalisierten musikalischen Berufsausbildung führt in Dresden bis weit in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück und ist von Anfang an eng mit der Dresdner Orchester- und Operntradition verknüpft gewesen. Bereits 1814 skizzierte Francesco Morlacchi als damaliger Hofkapellmeister der Sächsischen Hofoper und der königlich-sächsischen musikalischen Kapelle Dresden die Idee einer in ihrer Gesamtheit hochschulähnlichen musikalischen »BildungsAnstalt für Gesang, Instrumentalmusik und Composition« (Heinemann 2005, S. 8), deren Ausbildungskonzeption unter anderem auch die Verbindung mit lokalen traditionsreichen Ensembles wie der »musikalischen Kapelle und der Oper« beinhalten sollte. Dabei zielte Morlacchi vor allem darauf ab, die Arbeit der Hofkapelle durch Substitutendienste der Studenten zu erleichtern, um diesen im Gegenzug Unterrichtsgebühren zu erlassen. Umgekehrt war er bestrebt, die Kosten für eine musikalische Ausbildung möglichst gering zu halten, indem er vorschlug, als Lehrkräfte überwiegend auf Dresdner Musiker zurückzugreifen, denen dann lediglich die Überstunden vergütet worden wären (ebd., S. 9). Diesen Musikern, deren Status sich mit dem eines heutigen Lehrbeauftragten vergleichen lässt, sollte nur eine relativ geringe Zahl hauptamtlich beschäftigter Dozenten zur Seite gestellt werden. In Morlacchis Hoffnung, mithilfe dieses Ausbildungsinstitutes würde »eine Anzahl tüchtige[r] Tonkünstler und Sänger zunächst für Dresden, sodann für Sachsen überhaupt und selbst für das Ausland […]« (ebd., S. 10) ausbilden zu können, manifestiert sich der erste Versuch, die musikalische Ausbildung in Dresden auch mit den Anforderungen der regionalen Musikpflege zu verbinden und dabei insbesondere kontinuierlich zur Sicherung des musikalischen Nachwuchses der Dresdner Ensembles – vornehmlich der Hofkapelle – beizutragen (vgl. ebd., S. 14). Morlacchis umfangreiche Pläne fanden jedoch keine offizielle Unterstützung, was zur Folge hatte, dass Dresden als Ausbildungsort bald schon von Städten wie Leipzig, Weimar und Berlin überholt wurde. Erst einige Jahrzehnte später fand sich mit dem Geiger Friedrich Tröstler ein Musiker der Sächsischen Hofkapelle, auf dessen Initiative hin die Gründung eines privaten Konservatoriums erneut geplant und 1856 schließlich umgesetzt wurde. Auch hier bestand der Lehrkörper überwiegend
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aus Musikern, die aktiv in Dresdens königlicher Kapelle, dem Theater und den großen Kirchen der Stadt wirkten, obgleich das Ausbildungskonzept des Konservatoriums weitestgehend auf die Anbindung an die öffentliche Musikpraxis verzichtete. Bereits vier Jahre nach Gründung übernahm Friedrich Pudor die mittlerweile bankrotte Ausbildungsanstalt mit dem Ziel, Rahmenbedingungen zu schaffen, die denen einer höheren berufsmusikalischen Ausbildung entsprachen. Neben Abteilungen für Fortgeschrittene – einem pädagogischen Seminar für Musiklehrer, Fachrichtungen für Streicher und Bläser sowie für Klavier und Orgel, der Gesangsschule für Solisten und Chorsänger, der Abteilung Musiktheorie sowie einem Bereich für Theater, Oper und Schauspiel (vgl. ebd.) – existierten innerhalb dieses neukonstituierten Konservatoriums bereits Einrichtungen, die auf die musikalische Ausbildung jüngerer Schülerinnen und Schüler abzielten. So wurden in weiteren Abteilungen eine »Elementar-« sowie die sogenannte »Vor- und Nebenschule« (die in späteren Jahren auch als »Mittelschule« bezeichnet wurde) angegliedert. Während die Elementarschule sich damit beschäftigte, Kindern einen »gründlichen methodischen, auf künstlerische Ziele gerichteten Elementarunterricht« zu erteilen, diente die Vor- und Nebenschule dazu, Schüler auszubilden, »welche den Ansprüchen, die beim Eintritte in [das Konservatorium] erhoben werden, noch nicht genügen, sowie der Ausbildung von Schülerinnen und Schülern, welche eine allseitige Ausbildung zum Zwecke eines künstlerischen Lebensberufes nicht anstreben, sondern nur einzelne Zweige der Musik als allgemeines Bildungsmittel in ernster Weise treiben wollen« (Direktorium des Königlichen Conservatoriums 1906, zit. nach Heinemann 2005, S. 18). Grundlegender Bestandteil war der Unterricht in den instrumentalen bzw. gesanglichen Hauptund Nebenfächern, der zum Zwecke eines höheren »Eifers« und »gemeinsame[n] Streben[s]«, der Schärfung des »Urtheil[s] über die eigenen Leistungen« und der Vermeidung von »Einseitigkeit der Anschauungen« in Kleingruppen von vier (im Hauptfach) bis sechs Schülern (im Nebenfach) erteilt wurde (ebd.). Auch hier setzte man zahlreiche Lehrkräfte ein, die innerhalb Dresdens an verschiedenen Stellen hauptamtlich musikalisch beschäftigt waren. Unter ihnen befanden sich markante Persönlichkeiten der Dresdner Hofoper wie der Hofkapellmeister Adolf Hagen, der Hofkonzertmeister Professor Eduard Rappoldi, der Oboist und Kammermusiker Rudolf Hiebendahl, der Cellist Friedrich Grützmacher, der Korrepetitor des Hoftheaters Eugen Krantz oder der Hofschauspieler und Oberregisseur Albrecht Marcks – Persönlichkeiten, denen teilweise auch die Leitung der einzelnen Abteilungen oblag (vgl. ebd., S. 22). 1890 wurde das Konservatorium von Eugen Krantz aufgekauft, ab 1898 von seinen beiden Söhnen geleitet; als »Krantzsches Konservatorium« befand es sich bis 1937 im Besitz der Familie. Unter Krantz, der sich als ausgesprochen engagierter Pädagoge erwies, traten neue und umfangreiche Statuten in Kraft, die unter anderem auch den Einsatz besonders qualifizierter Lehrkräfte innerhalb des »Grundunterrichts« als Vorstufe des Hochschulstudiums vorsahen (ebd., S. 27). Krantz’ Söhne aber – beide keine ausgebildeten Musiker – konnten dem Konservatorium nicht zu dem ihm nötigen Ansehen verhelfen. Die folgenden Jahrzehnte dieses Institutes waren geprägt von wechselhaften Kämpfen, etwa um eine eventuelle Verstaatlichung des Institutes, vom Ringen um die künstlerische Qualität der Ausbildung oder von den wiederholten Forderungen nach besseren Entlohnungen für Honorarlehrkräfte (vgl. John 1999, S. 142–144). Des Weiteren sollte auch die Anbindung der Lehre an
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die öffentliche Musikpraxis von Hofkapelle und Hoftheater bzw. der großen Chöre der Stadt in dieser Zeit vollständig in den Hintergrund treten. 1923 kam es zu einer deutlichen Zäsur im bisherigen Lehrbetrieb: Infolge eines auf Gegenseitigkeit beruhenden Ressentiments zwischen der berühmten Pianistin Laura Rappoldi-Kahrer und dem Solocellisten der Sächsischen Staatskapelle, Georg Wille, kündigten fast alle am Konservatorium tätigen Kapellmitglieder ihre bestehenden Honorarverträge und gründeten die »Orchesterschule der Staatskapelle Dresden« als eigene Ausbildungseinrichtung. Aufgrund dieser selbstbewussten und eigenmächtigen Handlung drohte Konservatoriumsbetrieb zum Erliegen zu kommen, stellten doch die Mitglieder der Staatskapelle einen überdurchschnittlich hohen Anteil der Lehrbeauftragten. Der drohende Kollaps wurde jedoch verhindert – nicht zuletzt durch die Bereitschaft von Mitgliedern der Dresdner Philharmonie, die freien Lehrstellen zu besetzen (vgl. ebd., S. 144). Die Gründung dieser Orchesterschule wird auch heute noch von den Orchestermusikern der Staatskapelle anders beurteilt als von musikwissenschaftlicher Seite: Während der Dresdner Musikwissenschaftler Hans John von »peinlich[en] wie beschämend[en]« Vorgängen spricht, die beinahe den »Untergang einer respektablen Lehranstalt herbeigeführt« hätten (ebd., S. 144 f.), bewertete Joachim Ulbricht, ehemaliger Solobratschist der Staatskapelle, diesen Vorgang folgendermaßen: »Als die Bemühungen [um die Gründung einer staatlichen Hochschule für Musik] endgültig scheiterten, nahm die Kapelle die Ausbildung und Sicherung ihres Nachwuchses selbst in die Hand, ein in dieser Art wahrhaft einmaliger Vorgang. […] Bis 1937 leistete sie das, wozu der Staat selbst nicht willens oder fähig war. Praxisverbundener Instrumentalunterricht erzog eine neue Generation von Kapellmitgliedern, mehr noch, auch Kapellmeister, Pianisten und Sänger trugen den Ruf dieser Institution in das ganze Land.« (Ulbricht, J. 1991, S. 27)
Hatte die Abspaltung der Orchesterschule zunächst erst einmal administrative Auswirkungen, wohnte diesem Vollzug jedoch auch ein Geist inne, der tief im Selbstverständnis dieses Orchesters verankert war. Hier ging es vor allem um die Intention, die spezifische Klangtradition der Staatskapelle im eigenen Nachwuchs auszuprägen und auszubilden. »Lebenswichtig für die Existenz eines Ensembles ist«, so Reinhard Ulbricht, langjähriger Konzertmeister der zweiten Violinen in der Staatskapelle und ebenso lange Honorarprofessor an der Dresdner Musikhochschule und der Spezialschule, »[…] die Ausbildung und Förderung des Nachwuchses. Hier deckt sich Geist, Musizierhaltung und Moral, mit der wir von unseren Kapell-Lehrern ausgebildet wurden, mit der großen Verantwortung, mit der wir versuchen, unsere nachfolgende Generation auf ihren Beruf vorzubereiten. Auch hier […] haben in der vergangenen Zeit verantwortungsvolle Kapellmitglieder gewirkt, um die ›Orchesterschule der Staatskapelle‹ im Jahre 1923 ins Leben zu rufen, mit der Absicht, die ihnen geläufige, ihr Kapelleben bestimmende Klangvorstellung, ihre Musizierweise und ihre künstlerische Haltung auch als Lehrer weiterzugeben, also auch das fundierte Handwerk zu vermitteln, das ja unabdingbare Grundlage für die Ausübung echter Kunst ist.« (Ulbricht, R. 2001, S. 226, zit. nach Herrmann 2005, S. 45 f.)
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Für Ulbricht sollte die Ausbildungsaufgabe also maßgeblich in den Händen der Kapellmusiker liegen, die als Lehrkräfte ihren beruflichen, an der musikalischen Praxis orientierten Habitus an nachfolgende Generationen weitervermitteln (vgl. Herrmann 2005, S. 46). Das sich hier manifestierende Ausbildungsverständnis kann auf eine lange Kapell-Tradition zurückblicken: »Die eigene Ausbildung von Nachwuchs in der Kapelle ist alt. Zunächst eine individuelle Angelegenheit zwischen Vater und Sohn, zwischen Musiker und Kollegensohn […], kam es im 19. Jahrhundert zur Gründung eines Dresdner Konservatoriums, in dessen Lehrkörper von Anfang an die Kapellmitglieder dominierten.« (Landmann 1996, S. 31) Insgesamt war die Orchesterschule – die 1936 zudem eine eigene Opernschule ins Leben gerufen hatte – eine »hochbedeutende Ausbildungsstätte für zukünftige Musiker« (Herrmann 2005, S. 55), deren Absolventen innerhalb und außerhalb der Staatskapelle anzutreffen waren. Das Konservatorium unterdessen – nach wie vor als private musikalische Bildungsstätte im Besitz der Familie Krantz – konnte auf keine glorreiche Entwicklung verweisen. Nachdem erneute Versuche scheiterten, das Institut in den Rang einer staatlichen Hochschule zu erheben und nachdem 1936 Staatskapellmeister Kurt Striegler sein Amt als künstlerischer Direktor des Konservatoriums aufgab, um als Operndirektor an die Sächsische Staatsoper zu wechseln, wurde der aus Leipzig stammende Dirigent und Kapellmeister Dr. Walther Meyer-Giesow als sein kommissarischer Nachfolger berufen. Dieser hatte neben der künstlerischen und betrieblichen Leitung des Konservatoriums außerdem die Leitung der Orchesterklasse, der obersten Chorklasse und der Opernschule inne und war nun beauftragt, das private Bildungsinstitut in städtische Trägerschaft zu überführen (Herrmann 2005, S. 58). Hierzu Krantz: »Der Kampf zwischen Konservatorium und Orchesterschule ist entbrannt wie noch nie, und man ist wieder dabei, mit Verstaatlichung oder neuen Hochschulplänen, natürlich wie immer mit der Orchesterschule als Grundlage, zu operieren.« (John 2002, S. 205) 1937 schließlich wurde von den Nationalsozialisten die Zusammenlegung der Orchesterschule der Staatskapelle und des Konservatoriums endgültig beschlossen und die neue Ausbildungseinrichtung unter dem Namen »Akademie für Musik und Theater« eröffnet. Künstlerischer Leiter wurde der Chefdirigent der Sächsischen Staatskapelle und Generalmusikdirektor der Staatsoper, Karl Böhm, der bis dahin auch die Leitung der Orchesterschule innegehabt hatte. Gleichzeitig berief man – neben Meyer-Giesow – den Kapellgeiger Arthur Tröber in die Direktion des Instituts. Damit sollten also auch nach der Vereinigung von Konservatorium und Orchesterschule die Kräfte der Staatsoper – unterstützt von zahlreichen Lehrbeauftragten aus dem Orchester – tonangebend bleiben (vgl. Herrmann 2005, S. 61). Die Vorschule – als Grund- und Mittelschule hauptsächlich in den Räumlichkeiten der Landhausstraße 11 untergebracht – blieb auch nach der Fusion und Neugründung fester Bestandteil der Einrichtung (vgl. John 2002, S. 208). Während der Jahre des Zweiten Weltkrieges sah sich die Akademie mehrfach mit der Gefahr einer drohenden Schließung konfrontiert. Nachdem in der Nacht der Bombardierung Dresdens am 13./14. Februar 1945 fast alle Unterrichtsgebäude zerstört wurden, kam der Unterrichtsbetrieb nach der Kapitulation der deutschen Wehrmacht und dem Einmarsch der Roten Armee am 8. Mai dann vollkommen zum Erliegen (vgl. ebd., S. 211). Doch schon am 15. Juni 1945 konnte er aufgrund des
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Engagements einiger Lehrkräfte in den Räumen der »Villa Rothermundt« auf der Mendelssohnallee 34 – dem Gebäude der späteren Spezialschule für Musik – wieder aufgenommen werden. Zu diesen Lehrkräften zählte auch die Klaviermethodikerin, Musiktheoretikerin und Chorleiterin Elfriede Gerstenberg, die ab 1965 dann als erste künstlerische Direktorin der neugegründeten Spezialschule fungieren sollte. Immer noch unter der Bezeichnung »Akademie für Musik und Theater« wurde das Institut nach dem Krieg zunächst von dem Komponisten Fidelio F. Finke geführt, 1952 schließlich offiziell in den Rang einer staatlichen Hochschule für Musik erhoben und sieben Jahre später mit einem für die Bildungsinstitutionen der DDR charakteristischen Ehrentitel ausgezeichnet: Bis auf den heutigen Tag trägt sie die Zusatzbezeichnung »Carl Maria von Weber«. Erster Rektor der Hochschule war der Musikwissenschaftler und Musikkritiker Karl Laux (vgl. ebd., S. 211). Zwischen 1945 und 1952 besaß die Akademie drei Ausbildungsbereiche: Einerseits die Musikschule (Fachgrundschule für Musik) zur Ausbildung 14- bis 18jähriger zukünftiger Berufsmusiker (mit der Möglichkeit eines parallel dazu erfolgenden Abiturabschlusses), andererseits das Konservatorium, das als eine Fachschule für Musik firmierte, an der unter anderem Musikpädagogen und Orchestermusiker ausgebildet wurden; und zum Dritten eine Studienabteilung, die zwar auch von Orchestermusikern besucht wurde, überwiegend aber den Sängern, Komponisten, Dirigenten und Meisterklassen-Solisten vorbehalten war und damit einen exklusiveren Status besaß (vgl. Stephan 1988, S. 217). Nach dem vierjährigen Besuch der Fachgrundschule, die ihre Schüler mittels Eignungstests auswählte und in der neben einem modifizierten Kanon allgemeinbildender Fächer eine schwerpunktmäßige, musikbezogene Ausbildung erfolgte, entschied eine weitere Aufnahmeprüfung über die Berechtigung zum Besuch des Konservatoriums oder der Hochschule. Im Zuge der 1952 erfolgten Verstaatlichung der Akademie wurden Musikschule und Konservatorium dann verselbstständigt und in einem ehemaligen Internatsgebäude auf der Blochmannstraße untergebracht – auf eben jenem Grundstück, auf dem sich in Vorkriegszeiten das frühere Konservatorium und die Orchesterschule der Staatskapelle befunden hatten. Die neue Hochschule verblieb weiterhin in den bereits von der Akademie genutzten Räumlichkeiten der Rothermundt-Villa auf der Mendelssohnallee. Die Mehrzahl der angehenden Orchestermusiker besuchte allerdings die Fachschule des Konservatoriums ohne Hochschulstatus, da der dortige Abschluss bereits für eine Orchesterstelle qualifizierte. Trotz der organisatorischen Trennung der Ausbildungseinrichtungen blieben diese drei Institute als eine Art »Kombinat« in enger Verbindung, was unter anderem auch dadurch gewährleistet war, dass eine Reihe von Lehrkräften an allen drei Einrichtungen unterrichtete (und sich im Übrigen nach wie vor zu großen Teilen aus den beiden Dresdner Orchestern – Staatskapelle und Philharmonie – rekrutierte) (vgl. ebd., S. 218). Ein leistungsstarker jugendlicher Musiker konnte in Dresden bis 1965 also erst mit der 9. Klasse (ca. ab dem 15. Lebensjahr) im Rahmen eines Besuches der Fachgrundschule in ein Ausbildungsverhältnis eintreten, das den Erwerb eines professionellen instrumentalen Leistungsniveaus zum Ziele hatte. Das war zwar deutlich früher als im damaligen Westdeutschland, aber immer noch später als das Eintrittsalter der späteren Spezialschulen. Da das Erlangen eines Expertenstatus (im Sinne der Expertiseforschung) vor allem bei Streichern und Pianisten aber auf eine wesentlich früher einsetzende Zeit intensiven Übens angewiesen ist, konnten auch in der DDR
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zunächst nur jene Jugendlichen dieses Angebot nutzen, die zuvor ohne entsprechende staatliche Förderung eine souveräne Beziehung zu ihrem Instrument aufzubauen vermocht hatten. Diese Jugendlichen stammten in aller Regel aus Elternhäusern, in denen dem Musizieren und dem Aufbau solider instrumentaler Grundlagen ein entsprechender Wert beigemessen wurde. Das war hauptsächlich in jenen Familien möglich, in denen die bürgerlichen Werte der Vorkriegszeit noch eine gewichtige Rolle spielten. Und innerhalb dieser Gruppe waren es vor allem die Kinder aus kirchlich gebundenen Elternhäusern, die über die notwendige musikalische Vorbildung verfügten. Wie die Hausmitteilung Walter Ulbrichts zeigt, waren die Volksmusikschulen zum damaligen Zeitpunkt nicht in der Lage, eine entsprechende Vorbereitung zu gewährleisten. Im Gegensatz zum Abschluss der späteren Spezialschule, der ausschließlich zum Studium an einer Musikhochschule befähigte, konnte der Besuch der Fachgrundschule noch mit dem Ablegen des Abiturs verbunden werden.
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Sowohl Walter Ulbrichts Zurückweisung »spezieller Musikschulen« als auch Siegfried Wagners Warnung vor einer »Initiative in die falsche Richtung« müssen vor dem Hintergrund der Tatsache gesehen werden, dass sich entsprechende Initiativen zu Beginn der 1960er Jahre schon sehr weit vorgewagt hatten. Im Grunde waren die Weichen in Richtung Spezialschule 1962 schon so gut wie gestellt. Auf dem 4. Plenum des ZK der SED hatte das Ministerium für Volksbildung 1959 den Auftrag erhalten, zu prüfen »ob die Bildung einiger spezieller Oberschulen zweckmäßig und möglich ist.« (Ministerium für Volksbildung 1962a) Das Ergebnis dieser Prüfung fand in mehreren innerministeriellen Begründungen und Argumentationshilfen für die Einrichtung von Spezialschulen ihren Niederschlag. In Bezug auf die Spezialschulen für Musik mündeten diese Überlegungen zu Beginn des Jahres 1962 in eine ausformulierte Richtlinie, die vom zuständigen Minister für Volksbildung, Lemnitz, nur noch hätte unterschrieben werden müssen, wenn sie nicht – vielleicht auch wegen der Intervention durch Ulbricht – kurz darauf zu den Akten gelegt worden wäre (vgl. Ministerium für Volksbildung 1962b). Gemessen an dem, was in den folgenden Jahren festgeschrieben wurde, war diese Richtlinie noch ein ganzes Stück ambitionierter: Einerseits sah sie einen Beginn der Spezialschulausbildung bereits ab dem 3. Schuljahr vor. Darin orientierte sie sich ganz offenkundig am Vorbild der sowjetischen Spezialschulen, die bereits Kindern der ersten Klasse offenstanden. Andererseits sollten sich die geplanten Einrichtungen nicht nur auf die Ausbildung von Instrumentalisten beschränken, sondern zugleich auch künftige Schulmusiker, Dirigenten, Chorleiter, Ensembleleiter, Komponisten, Musikwissenschaftler, Opernregisseure und Tonmeister auf ihren Beruf vorbereiten (vgl. ebd., S. 2). Das war natürlich ein durch und durch praxisferner Ansatz, denn die Vorstellung, dass sich Jugendliche bereits im Alter von ca. 15–16 Jahren auf das Berufsziel »Musikwissenschaftler« festlegen lassen, entbehrte wohl selbst im sozialistischen Bildungssystem, in dem der Aspekt der Berufslenkung bekanntermaßen eine große Rolle spielte, jeder Realität. Immerhin sah diese Konzeption aber für diese künftigen Berufsgruppen einen eigenständigen Zweig vor, der zum Abitur führen sollte – eine Möglichkeit, die in den späteren Spezialschulen für Musik ganz gestrichen wurde. Bezüglich der
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Schülerkapazitäten ging sie bis zum 8. Schuljahr von einer Zweizügigkeit mit je 20– 25 Schülern aus (vgl. ebd., S. 3). Eine Prüfung im 8. Schuljahr hätte dann darüber entscheiden sollen, wer an der Spezialschule verbleiben durfte und wer zurück an seine ehemalige POS musste (vgl. ebd.). Für den anschließenden zweiten Ausbildungsabschnitt war die Bildung einer Klasse für Instrumentalisten (mit dem Regelschulabschluss) und einer Abiturklasse vorgesehen, wobei beide Klassen von mindestens 15 Schülern besucht werden sollten. Nimmt man die später eingerichteten vier Spezialschulen zusammen, so hätte es in der ganzen DDR jedes Jahr um die 1300 Spezialschüler gegeben – eine Zahl, die den Richtwert von 500, der in einer zeitgleich entstandenen innerministeriellen Denkschrift genannt wird (vgl. Ministerium für Volksbildung 1962a), um weit mehr als das Doppelte übersteigt und die auch deutlich höher ist als die später erreichten tatsächlichen Schülerzahlen. Man kann sich gut vorstellen – genauere Dokumente fehlen hier leider –, dass sowohl die frühe Herauslösung der Spezialschüler aus dem einheitlichen Bildungsplan als auch deren schiere Zahl für all jene ein Problem darstellte, die dem Gedanken einer für alle geltenden sozialistischen Bildung anhingen und die möglicherweise die Gefahr heraufdämmern sahen, dass mit einer derartigen Richtlinie Kinder aus ehemals bürgerlichen und kirchlichen Kreisen in großer Zahl die Möglichkeit einer staatlich unterstützten Sonderbildung erhalten hätten. Da half wohl auch der Hinweis auf die sowjetischen Spezialschulen nicht. Denn die bildungspolitischen Voraussetzungen in beiden Ländern unterschieden sich grundlegend: Anders als in der DDR war in der Sowjetunion die Ausbildung von Instrumentalisten von vornherein eine Sache des Staates – hier gab es weder ein Bildungsbürgertum, das musikalische Betätigung von sich aus als Ausdruck eines spezifischen Lebensstils begriffen hätte, noch jene Tradition des evangelischen Pfarrhauses, in dem die Musik den zentralen Mittelpunkt des Familienlebens bildete und das daher eine regelrechte »Brutstätte« für eben jenen Nachwuchs darstellte, der an den Spezialschulen herausgebildet werden sollte. Die große Nähe der späteren Spezialschul-Klientel zur Kirche spiegelte sich in den Ergebnissen der Umfrage wider, die wir zu Beginn unserer Forschungsarbeit unter den ehemaligen Spezialschülerinnen und -schülern durchführten (vgl. Kapitel 1.2.2.7, S. 58 ff.): 75 % der Befragten antworteten auf die Frage »Hatte Ihre Familie einen Kontakt zur Kirche?« mit Ja. Dieser – freilich nicht repräsentative – Wert wird ergänzt durch die Tatsache, dass 54 % der Befragten angaben, konfirmiert worden zu sein; weiteren 10 % war die katholische Firmung zuteil geworden. Der sich daraus ergebende Wert von 64 % ist zwar ebenfalls nicht repräsentativ, gibt aber der begründeten Vermutung Raum, dass eine kirchliche Bindung in den Reihen der Spezialschüler deutlich häufiger zu finden war als bei Schülern einer normalen POS. Formulierte die Richtlinie von 1962 hinsichtlich der Kapazität, des Schuleintrittsdatums und der differenzierten Abschlüsse eine »große Lösung« (die in den folgenden Jahren dann um einiges kleiner gemacht wurde), so gab sie sich in anderer Hinsicht deutlich zurückhaltender. Dies betraf vor allem das Verhältnis zwischen Spezialschule und Musikhochschule: Während die spätere Spezialschule zwar einen organisatorisch selbstständigen Bereich darstellte, aber dennoch Teil der jeweiligen Musikhochschule war, so wurde den Hochschulen hier lediglich ein beratender Status zugebilligt. Und nur für die »talentiertesten Schüler« der Spezialschulen galt die Festlegung, dass sie bei »qualifizierten Lehrkräften der Hochschulen und Konservatorien« Unterricht erhalten sollten, während alle anderen Lehrkräfte lediglich durch
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die Hochschulen beraten und gefördert werden sollten. Das war ein großer Unterschied zu den späteren Spezialschulen, deren entscheidendes Merkmal ja die Tatsache war, dass die Hauptfachdozenten ausnahmslos den Status eines Hochschullehrers hatten. Ungeachtet dieser Differenzen wurden in dieser Richtlinie aber zugleich schon wesentliche Eckpunkte definiert, die auch das spätere Spezialschulmodell prägen sollten. Hier ist insbesondere die Streckung des allgemeinbildenden Schulstoffes auf einen Zeitraum von elf Jahren zu nennen: Die Inhalte der 10. Klasse wurden auf zwei Jahre verteilt, um den Schülern die Gelegenheit zu geben, sich gleichermaßen auf ihren schulischen wie musikalischen Abschluss vorbereiten zu können. Ferner sah auch diese Richtlinie schon vor, dass es in besonderen Fällen – etwa bei der Vorbereitung großer Wettbewerbe – für einzelne Schüler umfassende Unterrichtsbefreiungen geben sollte.
2.4 D AS B ILDUNGSGESETZ VON 1965 UND SEINE B EDEUTUNG FÜR DIE E NTWICKLUNG DER S PEZIALSCHULEN Auch in Dresden war 1962 schon alles bereit. Wäre es nach dem Willen der Abteilung für Volksbildung beim Rat des Bezirks Dresden gegangen (vgl. Ministerium für Volksbildung 1962c), so hätte bereits zum 1.9.1962 in einem Schulgebäude Ecke Thälmannstraße/Friesenstraße der Unterrichtsbetrieb in den Klassen 6–9 (mit je 25 Schülern) beginnen können. Es fehlte lediglich ein offizieller Beschluss durch den Rat der Stadt, der seinerseits von einer staatlichen Grundsatzentscheidung über die Einrichtung von Spezialschulen abhängig war, die freilich nicht erfolgte. Es mussten noch drei Jahre vergehen, bis mit dem »Gesetz über das einheitliche sozialistische Bildungssystem« die Aufgabe und Rolle der Spezialschulen ihren festen Platz im Bildungswesen gefunden hatte. Mit diesem Gesetz wurde der Leistungsgedanke – der im Vorgängergesetz von 1959 eine eher untergeordnete Rolle gespielt hatte – in den Vordergrund gerückt, ohne dass dabei freilich auf eine politische Kontrolle des Bildungswesens durch den Staat verzichtet worden wäre.6 Der Paragraf, der die Rolle der Spezialschulen regelt, lautet folgendermaßen: »§ 18 (1) Spezialschulen sind allgemeinbildende Schulen. Sie dienen besonderen Erfordernissen der Nachwuchsentwicklung für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport und die Kultur. Die Spezialschulen nehmen Schüler mit hohen Leistungen und besonderen Begabungen auf. (2) Es sind Spezialschulen und Spezialklassen technischer, mathematischer, naturwissenschaftlicher, sprachlicher, künstlerischer und sportlicher Richtungen einzurichten. 6
Im Zuge dieses Gesetzes wurde »zweifellos das rigideste Selektionssystem im Vergleich mit anderen sozialistischen Staaten [geschaffen]‚ indem sich darin Leistungsprinzip, soziale Regulierung und politisch-ideologische Bewertung miteinander verbanden und die Vergabe bzw. die Verweigerung von Bildungschancen zu einem nicht zu unterschätzenden Instrument der politischen Systemsicherung entwickelt wurde.« (Anweiler 1988, S. 98)
72 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE (3) Spezialschulen und Spezialklassen führen in der Regel zur Hochschulreife. Spezialschulen und Spezialklassen, die nicht zur Hochschulreife führen, bereiten auf besondere künstlerische oder sportliche Leistungen vor. (4) Spezialschulen und Spezialklassen sind nur in begrenztem Umfang zu errichten. Anzahl und Standort legt das Ministerium für Volksbildung fest. (5) Die wichtigsten Einrichtungen für die außerunterrichtliche instrumentale Musikerziehung sind die Musikschulen. (6) Die Betriebe, die wissenschaftlichen und künstlerischen Einrichtungen sichern gemeinsam mit den Organen für Volksbildung die personellen und materiellen Voraussetzungen.« (GBl. I Nr. 6, S. 83)
Liest man diesen Paragrafen im Kontext des gesamten Gesetzestextes, so fällt zunächst auf, dass hier keinerlei inhaltliche Bestimmungen vorgenommen werden. In allen übrigen Paragrafen finden sich genaueste Vorgaben zu Lehrinhalten und Lehrmethoden. So wird etwa festgelegt, dass die Kindergartenkinder »entsprechend ihrem physischen und psychischen Entwicklungsstand elementare Kenntnisse von unserem sozialistischen Leben und von der Natur« erhalten sollen, während für den Deutschunterricht der Mittelstufe eine Fortführung der »systematischen Lehrgänge in Grammatik und Rechtschreibung« (ebd.) festgelegt wird. In Hinblick auf das jeweils im Zentrum stehende Spezialisierungsfach fehlt jedoch jede Präzisierung. Für diese Aussparung gab es sicher handfeste redaktionelle Gründe: Schließlich hätte man hier für jeden Spezialschultyp eigenständige Bildungsziele formulieren müssen, was zweifelsohne den Rahmen gesprengt hätte. Doch es gab vielleicht auch ein weiteres Motiv: Augenscheinlich beließ es der Gesetzgeber dabei, die Spezialschulen strukturell mit den allgemeinbildenden Schulen zu verklammern. Die inhaltliche Ausgestaltung der Spezialbildung scheint jedoch von vornherein den Fachleuten, also vor allem den Hochschullehrern, überlassen worden zu sein. Mit dieser auffälligen Aussparung der inhaltlichen Komponenten konnte der Gesetzgeber das Problem umgehen, das zweifelsohne entstanden wäre, wenn in ein und demselben Gesetz einerseits die absolute Durchlässigkeit des Bildungssystems und die Erreichbarkeit aller Berufe vom einheitlichen Sockel der Polytechnischen Oberschule ausgehend gefeiert und zugleich aber auch ein Kanon an zusätzlichen, nur für Spezialschüler geltenden Fähigkeiten und Kenntnissen definiert worden wäre. Die Angst, ein Gesetzeswerk, das wesentlich vom »Gleichheitsimperativ« beherrscht war, mit einer allzu präzisen Beschreibung exklusiver (und damit exkludierender) Spezialfähigkeiten zu belasten, scheint groß gewesen zu sein. Dazu passt die Vorgabe, dass Spezialschulen »nur in begrenztem Umfang« zu errichten seien. Den Spezialschulen wird in diesem Gesetz mithin der Charakter einer notwendigen Ausnahme zugesprochen. Sie erhalten ihre Legitimation aus den »besonderen Erfordernissen der Nachwuchsentwicklung für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport und die Kultur«. Eben weil es für bestimmte Berufe spezielle Vorlaufzeiten gibt, muss der Staat diese Vorlaufzeiten in einem genau definierten Maße zur Verfügung stellen und damit Bildungsorte schaffen, deren Erreichbarkeit nicht mehr jedem offen steht. Umso wichtiger war es allerdings, den Eindruck zu vermeiden, dass die speziellen Fähigkeiten, die für den Zugang zu einer Spezialschule notwendig sind, sich in einem Raum entwickeln mussten, der außerhalb des staatlichen Zugriffs lag. Im Falle von
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Spezialschulen für Mathematik, Sprachen und Naturwissenschaften war das unproblematisch, denn diese Fächer wurden ja ohnehin an allen POS gelehrt. Instrumentalspiel war hingegen kein Gegenstand des Musikunterrichts an den POS, sondern fand ausschließlich – wie im Westen – im außerunterrichtlichen Rahmen statt. Daher der gezielte Hinweis in Absatz 5 auf die Rolle der Musikschulen. Auf diese Weise konnte der Eindruck erweckt werden, dass die an den Spezialschulen geforderten Fähigkeiten letztlich doch nicht völlig exklusiv waren, sondern durch das einheitliche sozialistische Bildungssystem gezielt gefördert und vorbereitet wurden. Im Falle der Musik wurde die Realität damit freilich nur zur Hälfte erfasst. So wichtig für einen erfolgreichen Spezialschulbesuch die instrumentale Vorbildung im Rahmen einer Musikschule in den allermeisten Fällen war7, so reichte sie doch allein nicht aus. Als entscheidender Indikator für ein gelungenes Passungsverhältnis von Spezialschüler und Spezialschule erwies sich in unserer Studie vor allem das Elternhaus (vgl. Kapitel 4.1). Die Rolle der Musik im familiären Kontext – die frühkindlichen Musikerfahrungen, das Engagement der Eltern für den Instrumentalunterricht, die Art und Weise, in der das tägliche Üben begleitet wurde – entschied in hohem Maße über den Erfolg der späteren Ausbildung. Dieser entscheidende Nährboden des innerfamiliären Lebensraums wurde offiziell jedoch kaum thematisiert; stattdessen versuchte man über ein differenziertes System der »Talenteförderung« mögliche »Begabungen« frühzeitig aufzuspüren und bestmöglich zu fördern. Dabei ließ man sich von der Prämisse leiten, dass es sich bei dem, was musikalische Begabung genannt wurde, um eine Ressource handelte, die innerhalb der Bevölkerung gleichmäßig verteilt war. Dass man trotz dieser Normalverteilungsthese am Ende in den Spezialschulen doch zum überwiegenden Teil mit Kindern aus entsprechend »vorbelasteten« Elternhäusern zu tun hatte, wurde, zumindest in den offiziellen Dokumenten, nicht erwähnt – und wenn, dann nur in Form einer ständig wiederkehrenden Mahnung, für eine genügende Anzahl von Proletarierkindern zu sorgen. In der Praxis kamen die Spezialschulen dieser Forderung häufig in Form von Kaschierungen und Beschönigungen nach. So erfuhren wir von einem Gesprächspartner, dessen Vater zwar als professioneller Musiker arbeitete, zuvor aber eine Ausbildung als Friseur gemacht hatte, dass diese handwerkliche Ausbildung als Nachweis des Proletarierstatus ausreichte. Ähnliche Erkenntnisse konnten wir bei der Durchsicht der Klassenbücher gewinnen, die zeigen, dass ein Proletarierstatus oftmals an den Haaren herbei gezogen wurde. Zumindest ansatzweise scheint die Forderung nach einer ausreichenden Zahl an Proletarierkindern in den letzten Jahren der DDR immer weniger eine Rolle gespielt zu haben, was sich sicherlich auch auf grundsätzliche bildungspolitische Erwägungen zurückführen lässt: »Nachdem die immer weitere Annäherung der sozialen Klassen und Schichten über Jahrzehnte als raison d’etre der sozialistischen Gesellschaft aufgefasst worden war und als Topos das gesellschaftspolitische Denken geprägt hatte, entdeckten Soziologen die ›Triebkraftfunktion sozialer Unterschiede‹ […]. Im Gegensatz zur orthodoxen Sichtweise, in der soziale Unterschiede ausschließlich im Sinne vertikaler (Herrschafts-)Strukturen vorkamen, arbeiteten Lötsch u.a. (Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED) die funktionale Dimension so7
Unsere Umfrage unter den ehemaligen Dresdner Spezialschülern ergab, dass 82% der Befragten vor dem Spezialschulbesuch an einer Musikschule Unterricht hatten.
74 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE zialer Differenzierungen heraus, die eine hochgradig arbeitsteilige Gesellschaft, auch wenn sie sozialistisch verfaßt war, nicht negieren konnte.« (Schreier 1996, S. 237)
Aus heutiger Sicht betrachtet, weist der Gesetzestext von 1965 einen grundlegenden Widerspruch auf: Zum einen wenden sich die Spezialschulen an Schüler mit entsprechend hoher Leistung und Begabung, zum anderen scheint durch ihre Zweckbestimmung als Institutionen, die den »Erfordernissen der Nachwuchsentwicklung für die Wirtschaft, die Wissenschaft, den Sport und die Kultur« nachzukommen haben, eine Bindung an die jeweilige Arbeitsmarktsituation vorzuliegen (wobei diese Arbeitsmarktsituation nicht dem Mechanismus von Angebot und Nachfrage folgte, sondern das Resultat staatlicher Planung darstellte). Leistung und Begabung wurden also nicht als Werte begriffen, die um ihrer selbst willen eine Förderung verdienen bzw. die sich individuell und damit immer auch unvorhergesehen entfalten, sondern sie wurden nur dann als ausbauwürdig anerkannt, wenn sie bestimmten vordefinierten Erfordernissen dienten. Das deckt sich mit entsprechenden erziehungswissenschaftlichen Definitionen des Begabungsbegriffs aus dieser Zeit.8 Ganz deutlich zeigt sich diese Verschränkung von Begabungsförderung und staatlicher Bedarfsplanung auch an einer späteren Spezialschulrichtlinie aus dem Jahre 1975, in der es heißt: »Die zur Vorbereitung auf das Hochschulstudium erforderliche musikalische Spezialbildung ist unter Beachtung eines der sozialen Struktur der DDR-Bevölkerung entsprechend hohen Anteils an Arbeiter- und Bauernkindern von einem möglichst frühen Zeitpunkt an […] wie folgt zu vermitteln: Durch Aufnahme von Instrumentalschülern unter besonderer Berücksichtigung von Schülern von Streichinstrumenten sowie von kompositorisch begabten Schülern in einer der den Hochschulen zugehörigen Spezialschulen für Musik.« (Ministerium für Kultur, 1975)
Die Aufgabe der Spezialschulen war es also nicht, bestimmte Neigungen und Fähigkeiten aufzugreifen und bestmöglich zu verstärken, sondern bestand in erster Linie darin, einen vordefinierten Bedarf zu befriedigen, was in diesem Falle zu einer gezielten Suche nach Streichern und Komponisten führte. Das leistete einem Ausbildungsverständnis Vorschub, das sehr dezidiert die Bahnen vorgab, innerhalb derer sich eine künstlerische Entwicklung zu bewegen hatte. Prüfungen, Leistungsvergleiche und Wettbewerbe waren damit vordefinierte Wegmarken, in die sich die jeweiligen Biografien einzupassen hatten. Die heikle Balance, die das Bildungsgesetz von 1965 zwischen einer den POSAbschlüssen in nichts nachstehenden Allgemeinbildung und einer sich parallel dazu vollziehenden instrumentalen Spezialausbildung zu bewahren versuchte, erwies sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten als schwer zu realisieren. Angesichts einer an den Spezialschulen immer wieder beklagten Überbelastung der Schüler kam es bereits 1973 zu einer deutlichen Veränderung der Stundentafel: Wurden die naturwissenschaftlichen Fächer sowie Mathematik um insgesamt neun Jahreswochen-
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So heißt es in einem Beitrag der Zeitschrift »Elternhaus und Schule« aus dem Jahre 1982: »Ihren Wert erlangen Begabungen, wenn sie zu schöpferischen Leistungen, die für die Gesellschaft wichtig sind, und zum Fortschritt beitragen.« (Elternhaus und Schule 1982, zit. nach Hilgendorf 1984, Anlage 7, S. 100)
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stunden gekürzt, so kam es in Deutsch und Kunsterziehung zu einer Aufwertung um je eine Jahreswochenstunde. Zweifellos erlebten die beteiligten Schüler und Lehrer diese Kürzung als überaus wohltuend – war doch im Anschluss an das Bildungsgesetz von 1965 ein für alle POS gültiges, »wissenschaftlich überfrachtetes Lehrplanwerk installiert« worden (Schulz 1998, S. 94), wobei die musikalisch-instrumentale Spezialausbildung unter Wegfall des produktionsbezogenen praktischen und theoretischen Unterrichts zunächst einfach hinzuaddiert wurde.9 Die instrumentalen Übezeiten wurden für die jüngeren Jahrgänge offiziell mit ca. 2–3 Stunden veranschlagt, die mit höherem Alter der Schüler gesteigert werden sollten, so dass sich gegen Ende der Schulzeit in Klasse 10.2 eine offizielle wöchentliche Arbeitszeit von knapp 60 Stunden ergab (vgl. Neumann 1972, S. 22). Die Stundentafelkürzung von 1973 zeigte, dass von staatlicher Seite durchaus die Bereitschaft bestand, die Allgemeinbildung nicht mehr von egalitär gedachten Bildungsstandards, sondern vornehmlich von den für den späteren Beruf erforderlichen Kompetenzen her zu definieren. Diese Bereitschaft verdankt sich wohl nicht allein der Einsicht, dass durch die Überbelastung der Schülerinnen und Schüler die Hervorbringung genau jener instrumentalen Spitzenleistungen erschwert wurde, die ja doch eigentlich von den Spezialschulen erwartet wurde.10 Ebenso entscheidend dürfte die Tatsache gewesen sein, dass sich seit Ende der 60er Jahre bildungspolitisch sowieso die Tendenz abzeichnete, Schulbildung immer stärker aus der Perspektive der Anforderungen des späteren Berufslebens zu betrachten. »Manche Formulierungen in unserer Propaganda«, so konstatierte Margot Honecker auf dem 8. Parteitag der SED 1971, »[erwecken], beeinflußt von einigen nicht ganz realistischen Prognosen, […] zeitweilig den Eindruck, als müßte unsere Schule in erster Linie auf das Studium an den Hoch- und Fachschulen vorbereiten« (Honecker 1971, zit. nach Stock 1997, S. 318). Schule habe jedoch die Aufgabe, »ihrer Verantwortung für die Vorbereitung eines hochqualifizierten Facharbeiternachwuchses noch besser gerecht werden« (ebd.). Da die Spezialschulen in den Augen der Staatsführung aber eben diese hochqualifizierten Facharbeiter hervorzubringen hatten, entsprach die Kürzung der allgemeinbildenden Stundentafel im Grunde genau dem bildungspolitischen Trend. Stärker noch als im Bildungsgesetz von 1965 trat jetzt zutage, dass die Spezialschulen neben ihrer Bestimmung, international wettbewerbsfähige Solisten heranzuziehen, in erster Linie die Aufgabe hatten, die insgesamt 87 Profiorchester des Landes mit ausreichend qualifiziertem Nachwuchs zu versorgen. Es wurde also nicht nur eine international wettbewerbsfähige Spitze, sondern vor allem auch ein gut qualifizierter Durchschnitt benötigt, mit dessen Hilfe sich der notorische Mangel an Orchestermusikern kompensieren ließ. 9
Neben dem regulären Fächerkanon gab es eine intensive musikalische Ausbildung im instrumentalen Hauptfach, den Fächern Musiktheorie sowie Musikkunde/Gehörbildung (dem späteren Fach Musikgeschichte), in der Chor- bzw. Orchesterarbeit, dem Korrepetitionsunterricht und dem Nebenfach Klavier (vgl. Neumann 1972, S. 22). 10 Im Entwurf zur neuen Stundentafel ist davon die Rede, dass die Notwendigkeit einer Reduzierung das Ergebnis einer »Einschätzung […] durch die Ergebnisse der Inspektionen der Abteilung Volksbildung der Räte der Bezirke, durch die Hinweise und Forderungen von Eltern sowie von bekannten Musikpädagogen, Musikwissenschaftlern und Interpreten, wie Gen. Prof. Zechlin« sei (Ministerium für Kultur 1973).
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Die Ausbildungszeit der Spezialschulen erstreckte sich über die Klassenstufen 7– 10 (im Unterschied zur Sowjetunion, wo der Unterricht an den Spezialschulen bereits mit der ersten Klasse begann), wobei die 1967 zwischen dem Ministerium für Volksbildung und dem Ministerium für Kultur vereinbarte Streckung des Schulbesuches auf sechs Jahre (vgl. Neumann 1972, S. 21) in Dresden ab 1968 schrittweise – zunächst mittels einer geteilten Klasse 8, ab 1970 dann durch eine Verdopplung der zehnten Klasse (10.1 und 10.2) – realisiert wurde.11 Diese Regelung, die der zeitlichen Entlastung der Schüler zugunsten der musikalischen Ausbildung dienen sollte, ist noch heute am Sächsischen Landesgymnasium für Musik in Kraft. 1975 kam es dann mit der Einführung der ersten 6. Klasse zu einer Erweiterung nach unten. Der Regelschulabschluss der Spezialschule, der mit dem Abschluss einer normalen POS vollkommen identisch war, galt als Qualifikation für die Aufnahme eines anschließenden Musikstudiums. Allerdings bestand für interessierte Schüler bis 1973 die Möglichkeit, das Abitur studienbegleitend im Rahmen eines Volkshochschulbesuches zu absolvieren. Dieses Angebot bestand in späteren Jahren allerdings nicht mehr, so dass die Absolventen einer Spezialschule für Musik tatsächlich kein anderes Fach studieren konnten.
2.5 D IE E NTWICKLUNG
DER
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Auch in Dresden wurde die bis dahin für die Ausbildungsarbeit zuständige »Fachgrundschule« 1965 in eine »Spezialschule für Musik« (mit integrierter allgemeinbildender POS) umgewandelt und der Musikhochschule zugeordnet. Ihren Sitz erhielt die Spezialschule im Gebäude der Rothermundt-Villa auf der Mendelssohnallee 34 in Dresden-Blasewitz, in dem sie bis zum heutigen Tag residiert. Die Hochschule bezog hingegen die Räumlichkeiten auf der Blochmannstraße (Gervink 2005a, S. 85 f.). Als erste künstlerische Direktorin wurde die damalige Oberstudienrätin Elfriede Gerstenberg von der Hochschulleitung mit dem Aufbau der Spezialschule für Musik beauftragt. Gleichzeitig erhielt sie den Status einer Abteilungsleiterin der Hochschule, da der künstlerische Schulbereich administrativ und damit in allen »inhaltlichen, personellen, materiellen und finanziellen Fragen der speziellen Ausbildung« quasi als Sektion der Musikhochschule fungierte (vgl. Ministerium für Volksbildung 1962a). Sämtliches Lehrpersonal der Spezialschule sowie alle Mitarbeiter der Verwaltung, ja selbst Köche und Hausmeister, waren Angestellte der Hochschule und unterstanden dem Weisungsrecht des Rektors und somit letztlich dem Ministerium für Kultur; gleichzeitig übernahmen die Stadtschulräte und damit das Ministerium für Volksbildung die staatliche Schulaufsicht im Bereich der Allgemeinbildung. Auf diese Weise entstand ein Doppelinstitut, das gleichzeitig den Wünschen von zweierlei Ministerien Rechnung zu tragen hatte. Die Tatsache, dass in offiziellen Verordnungen direkte Regularien zur Frage der Zuständigkeiten aber größtenteils fehlten und die vier Spezialmusikschulen für das Volksbildungsministerium, dem ja Hunderte 11 Tatsächlich war es in der Dresdner Spezialschule als einziger unter den vier Spezialschulen aus Platzgründen bis 1975 nicht möglich, den Unterricht ab Klasse 6 beginnen zu lassen (vgl. Ministerium für Kultur 1973). Dies änderte sich jedoch mit der Umsiedlung des allgemeinbildenden Bereiches in ein anderes Schulgebäude.
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von POS unterstanden, eher eine Nebensächlichkeit darstellten, hatte zur Folge, dass sich administrative Zuständigkeiten für die Belange der Spezialschule häufig nicht so ohne Weiteres zuordnen ließen. Damit blieben vielfältige Entscheidungsspielräume offen, die die jeweiligen Hochschulrektoren bzw. die Spezialschulleiter durch eigene Initiativen ausfüllen konnten (vgl. Schau 2010, S. 133). So wurde in Bezug auf die Leitungsstruktur – und damit auch in Hinblick auf das Verhältnis von Allgemeinbildung und musikalischer Spezialbildung – in einer am 30.11.1965 durch das Ministerium für Kultur veröffentlichten »Ordnung«12 lediglich festgelegt, dem Schulleiter der Spezialschule einen Stellvertreter beizuordnen, wobei jeweils der eine dem allgemeinbildenden, der andere dem künstlerischen Bereich entstammen sollte. Da die genaue Definition der Verteilung aber offenblieb, wurden Leitungsstrukturen und Schwerpunktsetzungen an den Spezialschulen durchaus unterschiedlich gehandhabt: Während etwa in Weimar der berühmt-berüchtigte Direktor und Lehrer für Physik und Astronomie Siegfried Möckel (1927–2008) die Geschicke der Spezialschule mit schärfster politischer Kontrolle und nicht immer im Dienste der Musik führte, wurde in Dresden mit Elfriede Gerstenberg eine Musikerin und überaus engagierte Musikpädagogin eingesetzt, der es gelang, sich in der männerdominierten Landschaft von Spezialschuldirektoren und Hochschulrektoren mit energischem Auftreten für die musikalischen Belange ihrer Schülerinnen und Schüler einzusetzen. Als aktive Lehrerin des künstlerischen Zweigs leitete sie unter anderem den Chor der Spezialschule und unterrichtete die Fächer Musiklehre und Musikgeschichte. Obwohl von den Schülern auch scherzhaft »Oma« genannt, prägte sie als respekteinflößende und leidenschaftliche Schulleiterin die ersten acht Jahre das Gesicht der Schule. Unterstützt wurde ihre Autorität unter anderem auch dadurch, dass sie zwar nominell dem damaligen Hochschulrektor Siegfried Köhler unterstellt war, de facto aber weitgehend selbstständig agieren konnte. In einem 1985 geführten Interview äußerte sie: »Wir spannen einen guten Faden, der Siegfried und ich, aber er ließ sich eben auch nicht in der Spezialschule blicken. Und wenn ich mit meinen Akten angereist kam: ›Können wir das Kantorenkind aufnehmen oder können wir es nicht?!‹, da klappte der die alle zu, legte sie auf einen Stoß […] und sagte: ›Elfriede, das weißt du doch viel besser als ich – ich kann dir doch da nicht helfen. Mach’s, wie du denkst.‹« (Gerstenberg 1985, privater Interviewmitschnitt).
Obwohl Elfriede Gerstenberg sich zunächst gegen ihren neuen Einsatzbereich sträubte – für die Lehrkräfte besaß die Position der künstlerischen Leitung die gesamte Schulgeschichte hindurch eine eher wenig attraktive Ausstrahlung –, wurde sie, die zuvor als Hochschullehrerin und musikpädagogische Generalistin die Abteilungen Theorie/Tonsatz sowie das Fernstudium aufgebaut hatte und mit der Betreuung der Methodik-Kindergruppen im Pädagogenseminar von allen Lehrkräften wohl den engsten Kontakt zur musikalischen Elementarausbildung aufwies, für die geeignetste 12 Ordnung zur Vervollkommnung des Leitungssystems der Spezialschulen bzw. Spezialklassen sowie der Kinderklassen der Hochschule für Musik und zur Gewährung von Amtsvergütungen für die mit Funktionen betrauten Pädagogen vom 30.11.1965, hrsg. vom Ministerrat der Deutschen Demokratischen Republik – Ministerium für Kultur – Sektor Schulische Einrichtungen, i.V. gezeichnet von Dr. Mrowetz, Wissenschaftlicher Mitarbeiter, o.S., vgl. Schau 2010, S. 133.
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Kollegin gehalten, der man die Leitung der künftigen Spezialschule anvertrauen konnte. Überdies hatte sie gemeinsam mit Rudolf Neumann – dem Hallenser Klavierpädagogen und späteren künstlerischen Leiter der Spezialschule Leipzig/Halle – auf vorbereitenden Studienreisen nach Moskau, Leningrad und Kiew das dort seit 1938 existierende Spezialschulmodell begutachtet und war anschließend an der Entwicklung der Lehrpläne mitbeteiligt gewesen (vgl. Schau 2010, S. 149). Im Gegensatz zu Elfriede Gerstenberg spielte Herbert Hader, der ihr beigeordnete Stellvertretende Direktor für Allgemeinbildung von 1965–74, in offiziellen Dokumenten und unseren Interviews keine nennenswerte Rolle. Nach dem Ausscheiden Elfriede Gerstenbergs als Spezialschuldirektorin 1973 erlebte die Schule unter Leitung Wolfgang Heins, einem Chorleiter der Hochschule, und seinem Stellvertreter, dem Pianisten Karl-Heinz Naumann, eine Phase, die strukturell sowie inhaltlich eher einer Interimslösung glich und in unseren Interviews daher auch kaum thematisiert wurde. Ganz im Gegensatz zu Heins Nachfolgerin Julianne Erxleben (Jahrgang 1927), die zunächst als stellvertretende kommissarische Leiterin Karl-Heinz Naumann ablöste und der ab 1976 die offizielle künstlerische Leitung der Spezialschule übertragen wurde. Es gibt nur wenige Interviews, in denen Frau Erxleben keine Erwähnung fand. Auch Julianne Erxleben zögerte anfänglich, den Posten der künstlerischen Leiterin zu übernehmen, wurde dann aber von Elfriede Gerstenberg, ihrer vormaligen Klavierlehrerin und Vorgesetzten, sowie dem Rektor der Musikhochschule schlussendlich überredet. Gemeinsam mit den stellvertretenden Direktoren für Allgemeinbildung Ulrich Deptuller (1974–83) und Peter Locke (1983–90) wurde in ihrer Amtszeit eine Reihe von Neuerungen durchgeführt. In ihre Ägide fielen Aktivitäten wie der Aufbau der gemischten Internate, die Einführung der Informationshefte ab Klasse 7, in denen einerseits die bearbeitete Unterrichtsliteratur des Hauptfaches, andererseits aber auch freizeitliche Schüleraktivitäten wie Konzertbesuche oder und private Buchlektüre dokumentiert wurden. Auch der musiktheoretische Unterricht wurde erneuert, ebenso das Prozedere der Eignungsprüfung, bei dem sie in Zusammenarbeit mit dem Psychologen und Musiktherapeuten Christoph Schwabe sogenannte »Maltests« zur besseren Einschätzung der Schüler initiierte. Auch für sie schien die Kräfteverteilung zwischen künstlerischem und allgemeinbildendem Bereich klar definiert gewesen zu sein: Wie bereits Elfriede Gerstenberg hielt sie es für selbstverständlich, sich die allgemeinbildenden Lehrer für ihre Schule selbst auszusuchen – ein Luxus, der heutzutage vollkommen undenkbar scheint! Dass sie – im Gegensatz zu Elfriede Gerstenberg – nicht in der SED war und trotzdem einen derartigen Leitungsposten bekleidete, deutet auf Freiräume hin, die an einer normalen POS so nicht denkbar waren. Eine weitere Neuerung in ihrer Amtszeit stellte die 1981 offiziell etablierte Kinderklasse dar (vgl. Straumer 1989, S. 458–460), die nominell zwar der Musikhochschule angegliedert war, inoffiziell wohl aber als eine Art Kaderschmiede zukünftiger Spezialschüler, insbesondere hoher Streicher fungieren sollte: »Ausgehend von der Erkenntnis, daß viele kleine Kinder bereits vor der Einschulung für eine intensive musikalische Arbeit zu interessieren und besonders aufnahmebereit sind, ist der Spezialschule für Musik Dresden seit 1981 eine Vorschul- und Kinderklasse angeschlossen, die sich besonders um die Findung und frühe Führung geigerischer Talente bemüht.« (Gudrun
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Schröter, zit. nach Spezialschule der Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber« 1985, S. 9).
Im Rahmen der Kinderklasse erhielten 4- und 5-jährige Kinder Unterricht in musikalischer Früherziehung sowie im instrumentalen Einzelunterricht aus der Hand von Hochschul- und Spezialschullehrkräften. Nachfolgerin Julianne Erxlebens war die Violinprofessorin und Fachrichtungsleiterin Gudrun Schröter, die gemeinsam mit der heutigen Professorin für Rhythmik, Christine Straumer, als »Talentebeauftragte« 1981 die Kinderklasse der Hochschule ins Leben gerufen hatte und von 1987–91 der Spezialschule als Künstlerische Direktorin vorstand. In ihrem Rückblick dominieren Erinnerungen an personellen und materiellen Mangel, wobei der schlechte bauliche Zustand der Rothermundt-Villa hierbei sein Übriges tat. Dennoch sind mit ihrer Amtszeit zugleich auch wichtige Neuorientierungen verbunden – so vor allem der Versuch, das Abitur zum festen Bestandteil der Spezialschulausbildung zu machen. Initiativen in diese Richtung waren im Grunde ebenso alt wie die Spezialschule selbst. Bereits 1969 verfasste die Dresdner Musikhochschule ein Programm zur Umsetzung der 1967 vom Staatsrat der DDR beschlossenen 3. Hochschulreform, die sich auch den Spezialschulen gewidmet hatte. Zur optimalen Findung und Förderung geeigneter Talente und deren Erziehung zu sozialistischen Künstlerpersönlichkeiten sei es, so hieß es dort, »erforderlich, die Spezialschule in der Perspektive zu einer vollen Schule von der 1. bis zur 12. Klasse auszubauen.« Um zu verhindern, dass Abiturienten die Chance einer verlängerten Ausbildungszeit bekämen, solle die letzte Klasse vor dem Abitur gleichzeitig als Grundstudium und das Abitur selbst als Vorprüfung nach dem Grundstudium gewertet werden. Allerdings wurden erst in den frühen 80er Jahren die Forderungen nach dem Abitur nachdrücklicher formuliert, sichtbar beispielsweise an einem Brief des Weimarer Hochschulrektors Diethelm Müller-Nilsson an das Ministerium für Kultur aus dem Jahre 1984. In diesem umfangreichen Papier, in dem sich Müller-Nilsson für die Ausgewogenheit zwischen Allgemein- und musikalischer Spezialbildung ausspricht, wird dafür plädiert, die Spezialschulausbildung »nicht nur nach unten, sondern auch nach oben« zu erweitern (vgl. Müller-Nilsson 1984). Dabei gehe es nicht vorrangig um ökonomische Aspekte. Vielmehr entstünde erstmalig die Chance einer wirklichen allgemeinbildenden Qualifizierung. Erst nach Einführung einer Abiturstufe sei, so Müller-Nilsson, die eigentliche Zweckbestimmung der Spezialschulen erfüllt. Auch in Dresden wurden ab Mitte der Achtziger Jahre die Bemühungen verstärkt, den bisherigen inoffiziell diskutierten Konzepten politische Geltung zu verschaffen. Diese Bemühungen mündeten 1989 in offiziell formulierte Forderungen an das noch bestehende Ministerium für Kultur der DDR in Berlin, wie sie unter anderem aus einem Brief des Elternaktivs der Dresdner Spezialschule hervorgehen. Darin wurde die Notwendigkeit eines Fachabiturs vor allem durch die drohende Benachteiligung derer begründet, denen die für das Musikstudium nötigen Leistungen fehlten: »Die Durchsetzung des Leistungsprinzips [führt] zwangsläufig zur Selektion der fähigsten Schüler für das Studium an einer Hochschule für Musik. Die übrigen Schüler [müssen] bei der Wahl eines neuen Berufszieles auch noch die Möglichkeit eines anderen künstlerischen Studi-
80 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE enweges haben. Die allgemeinen Voraussetzungen dafür [besitzen] sie, denn sonst wären sie nicht in die Spezialschule aufgenommen worden.« (Ebd.)
Dazu wurden in den Folgemonaten, auch in Zusammenarbeit mit den Leitungsebenen der anderen drei Spezialschulen, zahlreiche programmatische Ideen skizziert, das bisherige allgemeinbildende und künstlerische Ausbildungssystem der Schule zu reformieren und in Form von Positionspapieren und Statut-Entwürfen in die Diskussion eingebracht, die in den ersten beiden Jahren nach der Wende zunehmend von der Gefahr einer generellen Schließung der Spezialschulen geprägt war. Erst nach erbitterten, aber erfolgreichen Kämpfen um die Existenzberechtigung und generelle ministerielle Zuordnung der Schule konnte 1991 die langgehegte Vision einer musikalischen Spezialausbildung mit Abitur faktisch in die Tat umgesetzt werden. Die Zuordnung der Schüler zu den Spezialschulen erfolgte nach genau festgelegten schulischen Einzugsgebieten und war nicht frei wählbar – wenngleich wir bei unseren Befragungen unter anderem auch auf eine Schülerin gestoßen sind, deren kirchliche Herkunft laut eigener Aussage eine Aufnahme an der Berliner Spezialschule unmöglich gemacht hatte13 und die deshalb aus eigener Initiative mit Erfolg eine Aufnahme in Dresden versuchte. Die Dresdner Spezialschule rekrutierte ihre Schüler neben dem Dresdner Raum überwiegend aus dem Vogtland, Erzgebirge und der Gegend um Cottbus. Zugleich bot die intensive Zusammenarbeit der Fachrichtungsleiter mit dem engmaschigen staatlichen Musikschulnetz die Möglichkeit, entsprechend geeignete junge Instrumentalisten frühzeitig herauszufiltern und dem Ausbildungssystem der Spezialschule zuzuführen. Einzug in die Spezialschule hielten die jungen Musiker, nachdem sie die zentralen Eignungsprüfungen auf der Mendelssohnallee erfolgreich absolviert hatten, die sich in der Regel über drei Tage erstreckten und neben den Prüfungsvorspielen im instrumentalen Haupt- und Nebenfach auch musiktheoretische Tests und allgemein-berufsbezogene Aufnahmegespräche zwischen Lehrkräften und Bewerbern beinhalteten. Darüber hinaus wurden die Bewerber, die über diese drei Prüfungstage hinweg im Internat untergebracht waren, von den dortigen Erziehern im Auftrag der Hauptfachlehrer beim Üben beobachtet, wobei die Ergebnisse dieses Übeprozesses nach erneutem Vorspiel dann mit in die instrumentalen Einschätzungen einbezogen wurden. Nach der Aufnahme an die Schule mussten die Schüler dann im Halbjahresabstand Pflichtprüfungen im instrumentalen Haupt- und Nebenfach absolvieren, von deren Bestehen auch der weitere Verbleib an der Spezialschule abhängig gemacht wurde (vgl. Ministerium für Volksbildung 1962a). Während es in den unteren Jahrgangsstufen durchaus auch zu Abbrüchen kam, gab es ab Klasse 10.1 kaum noch vorzeitige Abgänge; ebenso sank die Zahl derjenigen Schülerinnen und Schüler, die nach dem Schulabschluss außermusikalische Berufe ergriffen. Wie war nun der Alltag der Dresdner Spezialschule organisiert? – Zentraler Ort des künstlerischen und allgemeinbildenden Unterrichts sowie anfänglich einziges Schulgebäude und streckenweise alleinige Internatsunterkunft auswärtiger Spezialschüler war – wie bereits erwähnt – das ehemalige Hochschulgebäude, die Rother13 Was natürlich nicht bedeutet, dass es in Berlin generell keine Kirchenkinder gab. Allerdings – darauf deuten unsere Interviews hin – scheint die dortige Spezialschule in dieser Hinsicht insgesamt restriktiver als die Dresdner gewesen zu sein.
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mundt-Villa in Dresden-Blasewitz. Heute zählt Blasewitz – einstiger Villenvorort der Stadt – mit seinen prachtvollen historischen Wohnhäusern zu den gehobeneren Stadtteilen Dresdens. Hier fand Ende des 19. Jahrhunderts auch der vermögende Unternehmer und Kunstsammler Adolf Rothermundt (1846–1930) eine Heimstätte, nachdem er den bekannten Loschwitzer Architekten Karl Emil Scherz (1860–1945) beauftragt hatte, auf dem Grundstück der Mendelssohnallee 34 einen herrschaftlichen Familiensitz mit großzügiger, parkähnlicher Gartenanlage zu errichten. Die »Villa Rothermundt«, von ihrem Besitzer auch als repräsentativer Salon einer umfangreichen Kunstsammlung genutzt, avancierte schnell zu einem gefragten Treffpunkt Dresdner Musiker, Maler und Kunstbegeisterter. Wie die Aussagen unserer Interviewpartner im Rahmen dieser Studie zeigen, sollte dieses ehrwürdige Gebäude mit seiner eindrucksvollen Innen- und Außenausstattung (vgl. Landsberg 2005, S. 77– 82), auch auf spätere Generationen von Musikstudenten, Spezialschülern und Lehrkräften eine ausgesprochen hohe Faszination ausüben. Ein langjähriger Lehrer dazu: »Also die Grundstruktur war natürlich alles (…), die Ausstattung so, dies Holz und so (…) Das hat mich also gleich beim Reinkommen unheimlich fasziniert.« Auch in den Schülerinterviews wurde das hochherrschaftliche Ambiente immer wieder thematisiert: »Und eben schon allein architektonisch, dieses Haus dort, Mendelssohnallee, so schlossartig; hinten ein bissel gruselig, weil’s dunkel war, aber der Turm wieder ein bissel reizend, weil – dort haben wir also die erste Zigarette [geraucht] und vielleicht hab ich dort auch mal schwarz übernachtet, keine Ahnung. Und das war nun überhaupt nicht respekteinflößend, das war ja alles schön und in dem schönen Blasewitz und dann mit der alten Vier, mit der Straßenbahn ins Zentrum gefahren. Andre Kinder gehen da in so hässliche Gebäude rein und bei uns war ja alles immer schön und verspielt und diese ästhetischen Dinge wurden dadurch ja auch immer wach gerufen. Deswegen.«
Ungeachtet des eindrücklichen Ambientes ließen sich die Folgen sozialistischer Mangelwirtschaft und den damit verbundenen eingeschränkten räumlichen und materiellen Möglichkeiten aber auch in Dresden nicht leugnen. Ein ehemaliger Lehrer im allgemeinbildenden Bereich erinnert sich: »Diese ganze Struktur im Haus, das mit dem Holz, das war begeisternd, aber zu Zeiten der DDR war der absolute krasse Widerspruch, was uns alle gestört hat […], da hingen überall Neonröhren. […] Dieser Raum, wo wir jetzt sitzen, war ein Unterrichtszimmer: Dort war die Tafel, hier standen die Bänke – ’ne ganz schlechte Akustik hier drin, wenn hier ’ne Klasse saß. […] Dann hier drüben, die beiden Räume waren ein Unterrichtsraum. Unten – das war früher die Nummer fünf – war Physik-, Chemieraum und Biologie. Da war so’n Klappgestühl drin, so wie ein Kino ungefähr. Und da war die Wand durchgezogen, da war dann das, wo die ganzen Chemikalien und das alles war. Und dort hinten waren für Physik, Chemie so die nötigsten Dinge, die es gab. Hier unten war Internat noch und oben war auch Internat. Es war natürlich ein Gedrängel und Gewusel hier. Nun konnte es sein hier, dass Mathematikunterricht oder sonst irgendwas [war], und nebenan übt einer noch, die ganze Zeit. Also, Sie hatten im Unterricht hier immer gegen das Musikalische irgendwie anzukommen. [...] Ich hatte [den] Eindruck, das ist gar keine richtige Schule hier. Auch die Ausstattung mit Lehrmitteln war natürlich ziemlich schlecht am Anfang. Das hat sich dann später gebessert, aber am Anfang gabs eigentlich
82 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE bloß für Physik und Chemie etwas, das war Trockenchemie und Trockenphysik meistens, wenig Versuche, weil vieles eigentlich gar nicht da war.«
Ab Mitte der 70er Jahre wurden die meist einzügigen Klassenstufen mit etwa 20–25 Schülern pro Jahrgang in zusammenhängenden, halbtägigen Blöcken vormittags und nachmittags unterrichtet, wobei es auch möglich war, dass Unterrichts- und Übephasen des instrumentalen Haupt- und Nebenfachs in den Vormittagsstunden erfolgten bzw. umgekehrt der allgemeinbildende Schulunterricht am Nachmittag bis zum frühen Abend stattfand. Die Verteilung der Unterrichtsbereiche der Spezialschule auf mehrere Örtlichkeiten verlangte von den Schülerinnen und Schülern ein hohes Maß an Mobilität und Selbstständigkeit. Ein Dresdner Spezialschüler erinnert sich: »Das war im Grunde ganz modern und auch ganz aufregend für ein Kind. Normal geht ein Kind in die Schule, was weiß ich, um zehn vor acht geht der Unterricht los und um 14.00 Uhr oder 13.30 Uhr ist der zu Ende. Und wir hatten ja Tage, wo wir vormittags Allgemeinbildung hatten, aber eben auch Tage, wo nachmittags Allgemeinbildung war. Ich hab das geliebt, wenn ich früh um zehn, was weiß ich, Hauptfach hatte und um zwölf noch Korrepetition und dann konnte man am Fučikplatz im ›Dreckigen Löffel‹ essen gehen, und dann hat man sich mit ’nem satten Bauch und dem Gefühl, ›das Wichtige hab ich erledigt‹, hingesetzt, und dann ging 14.00 Uhr Mathematik los, und es hat dich überhaupt nicht interessiert. Und ging eben dann bis 18.00 Uhr, und im Herbst war es dann um sechs – oder im Winter – dunkel. Und dann hast du als Kind mit der sechsten oder siebenten Klasse in der Schule gesessen, aufm Fučikplatz, und draußen fuhren die Straßenbahnen, und es war dunkel. Und du musstest dann aber – 18.10 Uhr war immer die letzte Stunde zu Ende – und du musstest dann halt noch mit der Straßenbahn wieder irgendwie übern Körnerplatz und dann hoch zum Weißen Hirsch und bist dann viertel acht oder was aus der Schule gekommen, von Mathe oder von Physik oder was. Aber das war aufregend, aber ich hab das als sehr angenehm empfunden. [...] Also, das war ja für uns schon selbstverständlich, dass wir die halbe Lebenszeit auf der Straßenbahn verbracht haben.«
Die angespannte Raumsituation führte nicht nur zu straff organisierten Übeplänen für Internatsbewohner, deren Einhaltung durch die Erzieher überwacht wurde, sondern veranlasste auch die künstlerischen Lehrkräfte dazu, ihren Unterricht weitestgehend auf die Räumlichkeiten ihrer Privatwohnungen oder die Probenräume der Orchester zu verlegen. Zeitweilig wurde etwa die Hälfte des künstlerischen Hauptfachunterrichts außerhalb der Schulräume durchgeführt (vgl. Aktennotiz vom 09.12.1974, HSArch Dresden). Dennoch konnte auch damit der eklatante Platzmangel nicht ausgeglichen werden, weshalb der allgemeinbildende Unterricht 1973 zunächst in das Gebäude der 2. POS auf der Herbert-Borow-Straße (heutiges Marie-Curie-Gymnasium auf der Zirkusstraße) und schließlich im Schuljahr 1977/78 in die Räume der 113. POS (heutige Georg-Nehrlich-Straße) verlagert wurde. Allerdings sollten beide Umzüge dem Bereich der Allgemeinbildung keine nennenswerten Verbesserungen bringen: Da die Spezialschule von den »Hauptbewohnern« lediglich als Untermieter geduldet wurde, musste die Leitung der Allgemeinbildung regelmäßige Kämpfe um ihre Gleichberechtigung und die Nutzung der Fachräume ausfechten. Nach Gründung der Spezialschule wurden zur Unterbringung auswärtiger Schüler Internatsunterkünfte für Jungen in den Räumlichkeiten der Rothermundt-Villa einge-
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richtet, einige Kilometer weiter – auf der Basteistraße – entstand das Mädcheninternat. Mitte der 1970er Jahre wurde die strenge Geschlechtertrennung aufgehoben und gegen die Regelung ausgetauscht, die jüngeren Schüler auf der Basteistraße, die älteren auf der Mendelssohnallee einzuquartieren. Die hohe Zahl auswärtiger Schüler (1973 etwa gab es bei einer Gesamtzahl von 116 Schülern allein 80 Internatsplätze, vgl. ebd.) und der gleichzeitig bestehende Zimmermangel machte insbesondere in den Anfangsjahren eine Internatsbelegung von bis zu acht Schülern pro Zimmer erforderlich, was für manche Schüler durchaus eine Belastungsprobe darstellen konnte. Musikalisch betätigten sich die jungen Instrumentalisten – abgesehen vom Hauptfach- und dem Korrepetitionsunterricht – im Jugendsinfonieorchester der Spezialschule, welches aus dem Streichorchester der früheren Fachgrundschule hervorgegangen war. Ab 1965 wurde das Orchester unter Einbeziehung von Bläsern und Schlagzeugern von Rudolf Neuhaus und ab 1973 von Klaus-Dieter Stephan geleitet. Gleichzeitig beauftragte die Hochschule von Beginn an führende Mitglieder aus Staatskapelle und Philharmonie mit der Betreuung der instrumentalen Gruppen (Streicher, Holz- und Blechbläser). Die Teilnahme im JSO erfolgte, neben einer wöchentlichen Probe im Gebäude der Musikhochschule, in jährlich stattfindenden Konzerten im Dresdner Hygienemuseum, dem Schauspielhaus und später der Semperoper. Zusätzlich zum »großen« Sinfonieorchester, welches (im Übrigen bis zum heutigen Tage) den höheren Jahrgängen vorbehalten blieb, erfolgte die Teilnahme für jüngere Schüler in zusätzlich eingerichteten Streicher- und Bläservereinigungen, beides ebenfalls von Orchestermusikern geleitet. Kammermusikalische Aktivitäten waren an der Spezialschule zwar erwünscht, wurden aber offiziell kaum strukturiert und blieben damit der persönlichen Initiative von Lehrern und Schülern überlassen. Priorität hatte die solistische Leistung auf dem Hauptfachinstrument, die in regelmäßig stattfindenden Musizierstunden sowie in Klassenvorspielen (jede Klasse gestaltete dabei ein eigenes Gesamtprogramm) und Schülerkonzerten präsentiert wurde. Die Schülerkonzerte boten als etablierte Einrichtung des Dresdner Musiklebens auch den Spezialschülern regelmäßig die Möglichkeit, solistische und kammermusikalische Podiumserfahrungen zu sammeln. Auch abseits der instrumentalen Betätigung wurden die Schülerinnen und Schüler zu einer Beschäftigung mit musikalischen Inhalten angeregt, etwa bei Klassenausflügen, Konzert- und Probenbesuchen der Dresdner Orchester bei Führungen durch Instrumentenwerkstätten. Auch die jährlich stattfindenden Landheimfahrten ins sächsische Umland wurden in der Regel mit Probenphasen des Jugendsinfonieorchesters verbunden. Im Bereich der Allgemeinbildung kamen Lehrkräfte zum Einsatz, die von der künstlerischen Leitung geordert bzw. von der staatlichen Schulbehörde an die Schule geschickt worden waren. In den Anfangsjahren musste dabei mitunter auf Pädagogen zurückgegriffen werden, die für die betreffenden Fächer zunächst keine staatlichen Hochschulabschlüsse und keine offiziellen Lehrbefähigungen besaßen, die dies aber in der Regel im Rahmen von Weiterbildungslehrgängen nachholten (vgl. Ministerium für Kultur 1973). Ende der 80er Jahre unterrichteten an der Dresdner Spezialschule laut offizieller Dokumente 17 Schullehrer in den allgemeinbildenden Fächern, hinzu kamen insgesamt 92 künstlerische Lehrkräfte. In den Bereich des instrumentalen Hauptfachs waren 40 Honorarkräfte (hierbei vor allem Musiker der beiden Dresdner Spitzenorchester) und 28 hauptamtlich angestellte Kollegen eingebunden (vgl. Aktennotiz vom 18.10.1990, Archiv der Spezialschule für Musik).
3. Teil: Feldzugänge (II) Der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule unter dem Blickwinkel sinngenetischer Typenbildung
3.1 V ORBEMERKUNG In diesem Teil wird es um die Rekonstruktion sinngenetischer Typen gehen. Wir werden charakteristische Bereiche des Erfahrungsraums Spezialschule, die in allen Schülerinterviews thematisiert wurden, miteinander vergleichen und in Hinblick auf Wahrnehmungsstrukturen untersuchen, die bei unseren Gesprächspartnern als gemeinsame und verbindende oder aber auch als trennende Elemente wiederkehren. Einleitend seien in sechs Schritten noch einmal die wichtigsten Leitlinien unseres Interpretationsansatzes zusammengefasst, den wir in Kapitel 1.2 ausführlich erläutert haben. 1) Im Fokus unserer sinngenetischen Rekonstruktion und Typenbildung steht das, was wir im Anschluss an Ralf Bohnsack als Orientierungsrahmen bezeichnen (vgl. Bohnsack 2013, S. 181 f.). Wir konzentrieren uns also nicht lediglich auf das, was unsere Interviewpartner vordergründig meinen und argumentativ zu begründen versuchen, sondern zielen auf die impliziten Wahrnehmungsstrukturen ab, die diesen Meinungen und Argumentationen unterlegt sind. Diese Strukturen gelten also nicht allein den expliziten Motiven der Befragten (die wir mit dem Begriff des Orientierungsschemas fassen), sondern zielen vielmehr auf jene Tiefenschicht des Wahrnehmens, Denkens und Handelns – mit anderen Worten: auf die Handlungspraxis selbst – ab, die diesen Strukturen zugrunde liegt. Unsere Suche gilt somit nicht dem »kommunikativen« Wissen, dass ja immer ein »Wissen über etwas« ist (vgl. Schütz 1971, S. 30; Bohnsack 2013, S. 179), als vielmehr jenem Bereich, den Karl Mannheim – der Ahnherr der Wissenssoziologie – als »konjunktives Wissen« bezeichnet hat (Mannheim 1980, S. 296): Es ist ein implizites oder stillschweigendes Wissen, das die Mitglieder eines gemeinsamen Erfahrungsraumes miteinander teilen, ohne dass sie sich dessen bewusst sein müssten. Die Rekonstruktion dieses tiefer liegenden konjunktiven Wissens erfolgt sowohl immanent, d.h. im Rahmen der einzelnen Interviews, als auch durch den kontrastierenden Vergleich der einzelnen Fälle. In beiden Perspektiven geht es um die Herausarbeitung von Vergleichshorizonten (vgl. Bohnsack 2010, S. 201). Wir achten also auf jene Bereiche, mit denen sich unsere Ge-
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sprächspartner verbunden fühlen bzw. auf das, wovon sie sich mehr oder minder offensichtlich abzugrenzen versuchen (positive und negative Gegenhorizonte). Zugleich versuchen wir, aus dem Berichteten auf die damaligen Handlungsmöglichkeiten (Enaktierungspotenziale) der Befragten zu schließen (vgl. ebd., S. 136). 2) Ferner lassen wir uns bei der folgenden Analyse von dem Grundsatz leiten, dass in dem Orientierungsrahmen, der sich in der Interviewsituation äußert, zwar immer auch Perspektiven zum Tragen kommen, die sich erst im späteren Leben der Befragten herausgebildet haben und insofern für den uns interessierenden Orientierungsrahmen der Spezialschulzeit keine Bedeutung zu besitzen scheinen. Zugleich gehen wir aber davon aus, dass dieser aktuelle Orientierungsrahmen nichts gänzlich Anderes und Neues ist, sondern durch die Erfahrungen der primären und sekundären Sozialisation (Familie, Schule) wesentlich geprägt wurde. In dem Maße, in dem es uns gelingt, durch den Vergleich unterschiedlicher Rahmungen Orientierungen dingfest zu machen, die mehreren Interviewpartnern in Bezug auf die Spezialschulzeit gemeinsam sind, können wir rückblickend auf jenen Erfahrungsraum schließen, der die Grundlage dieser gemeinsamen Orientierungen gebildet hat. 3) Bei der folgenden Analyse wird es nicht primär um die Frage gehen, ob die Wahrnehmungsweisen unserer Interviewpartner »richtig« oder »falsch« sind. Diese Perspektive, die für einen Historiker zweifellos im Vordergrund stehen müsste, ist in unserem wissenssoziologisch orientierten Ansatz zwar nicht ganz unwichtig, aber doch nachgeordnet. Es geht uns um das, was Karl Mannheim als die »Seinsverbundenheit« des Denkens bezeichnet hat (Mannheim 1952, S. 227; vgl. auch Bohnsack 2010, S. 173). Mit diesem Begriff wollte Mannheim darauf hinweisen, dass die Entstehung jedweden Wissens – sei es das Wissen über einen Gegenstand, sei es das Wissen über die eigene Person – an den ganz spezifischen Standort des jeweiligen Sprechers gekoppelt ist; es ist mit dem »Sein« des Befragten unauflösbar verbunden. Nicht die Triftigkeit oder Untriftigkeit einer Darstellung interessiert uns also, sondern die Bedingungen, die den Gesprächspartner zu dieser – und keiner anderen – Darstellung veranlassen: Bedingungen, die durch seinen Orientierungsrahmen definiert werden und auf die er keinen unmittelbaren Einfluss hat. Wir klammern also die Geltungsfrage weitgehend aus und nehmen eine »genetische Einstellung« ein, indem wir beobachten, auf welche Art in einem Interview über bestimmte Sachverhalte gesprochen wird, wobei wir insbesondere auch auf mögliche Widersprüche achten, die einen guten Hinweis auf mögliche innere Konflikte zwischen den dargestellten Sachverhalten und dem diese Sachverhalte wiedergebenden Orientierungsrahmen liefern. Durch das Mittel des kontrastierenden Vergleichs schließen wir dann auf gemeinsame oder trennende Orientierungen, die hinter diesen Sprechweisen liegen und erfassen diese Gemeinsamkeiten und Unterschiede in einer sinngenetischen Typologie, von der ausgehend wir Schlussfolgerungen über die Beschaffenheit des Erfahrungsraumes ziehen können, aus dem diese unterschiedlichen Typen hervorgegangen sind. 4) Die Rekonstruktion unterschiedlicher Orientierungsrahmen, die im Zentrum dieses Kapitels steht, lässt die Frage zunächst unberührt, aus welchen biografischen bzw. sozialisationsspezifischen Interaktionen heraus die unterschiedlichen Orientierungen bei den einzelnen Gesprächspartnern erwachsen sind. Diese Einflüsse herauszuarbeiten ist die Aufgabe der anschließenden soziogenetischen Interpretation (vgl. den vierten Teil der Studie), bei der wir uns dann auf bestimmte Aspekte der Herkunft bzw. Sozialisation unserer Interviewpartner konzentrieren.
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5) Die Rekonstruktion unterschiedlicher Orientierungsrahmen erfolgt vor dem Hintergrund unseres Schulkultur-Modells, das wir in Kapitel 1.1 sowohl inhaltlich als auch strukturtheoretisch begründet haben. Wir konzentrieren uns bei der Analyse also zunächst auf jene inhaltlichen Dimensionen, die wir als zentral für unseren Begriff der Schulkultur erachten (Begabung/Leistung; Persönlichkeitsentfaltung/Berufsorientierung; Rollenidentität/Beziehungsgefüge). Diese Dimensionen sind bewusst so allgemein gefasst, dass sie genügend Spielraum für Zusammenhänge lassen, die aus dem Material selbst emergieren. Die dabei herausgearbeiteten Unterscheidungsmerkmale dienen uns dann in einem zweiten Schritt als Ausgangspunkt für die Kennzeichnung der unterschiedlichen symbolischen und imaginären Bearbeitungsstrategien der jeweiligen Typen. Auf dieser Grundlage versuchen wir im Anschluss daran jene Dimension zu erschließen, die wir im Anschluss an Werner Helsper als das Reale bezeichnen und die im Wesentlichen die für die Spezialschule charakteristischen pädagogischen Antinomien umfasst (vgl. Kapitel 1.1.4). 6) Bei der Auswahl der Textstellen orientieren wir uns an der Textsortentheorie Fritz Schützes und versuchen insbesondere Passagen zu berücksichtigen, in denen erzählt und beschrieben und nicht so sehr geurteilt und bewertet wird (vgl. Schütze 1976, S. 7 f.; 1987, S. 237; Kallmeyer & Schütze 1977; Küsters 2009, S. 25). Gleichwohl ist darauf hinzuweisen, dass unser Ziel – die Freilegung der impliziten Wahrnehmungsstrukturen – immer auch die Beurteilungen und Bewertungen der Befragten berücksichtigen muss. Wir behandeln diese Urteile allerdings nicht im Sinne kommunikativer Aussagen, zu denen man argumentativ – im Sinne von Zustimmung oder Ablehnung – Stellung beziehen kann, sondern als Explikationen, die etwas über den Orientierungsrahmen verraten, aus dem heraus sie artikuliert werden (vgl. Bohnsack 2010, S. 201). Vorab müssen wir schließlich noch darauf hinweisen, dass die Reihenfolge unserer Darstellung nicht mit dem zeitlichen Ablauf unseres Forschungsprozesses identisch ist, den wir in Kapitel 1.2.2 ausführlich dargestellt haben. Der Leser möge also bedenken, dass die folgenden Kapitel zu einem Zeitpunkt entstanden sind, als wir bereits über eine mehr oder minder ausgearbeitete Typologie verfügten. Die aus dieser Typologie gewonnenen Erkenntnisse versuchen wir hier nun in eine auch für den wissenschaftlichen Laien nachvollziehbare Form zu bringen. Wir verzichten darauf, die (mühseligen) Arbeitsschritte der formulierenden und reflektierenden Interpretation im Einzelnen zu dokumentieren, sondern wählen eine Darstellungsform, die einerseits nahe genug an der vorangegangenen Textarbeit ist, um dem Leser die von uns gezogenen Schlussfolgerungen plausibel erscheinen zu lassen, die aber andererseits die Mikroebene des Textes nur dann ins Spiel bringt, wenn es uns aus der Rückschau des Forschungsprozesses sinnvoll und zielführend erscheint. Ebenfalls aus Gründen der Lesbarkeit lassen wir in den folgenden Teilkapiteln nicht alle unsere Interviewpartner in gleicher Ausführlichkeit zu Wort kommen, sondern beschränken uns zunächst auf eine Auswahl, anhand derer sich der Prozess der Typenbildung gut veranschaulichen lässt. Die übrigen Fälle, die selbstverständlich ebenso zu diesem Prozess beigetragen haben, werden erst im Anschluss an die vorläufigen Typenbildungen in knapperer Form vorgestellt und in die Typologie eingeordnet. Damit aber alle Interviewpartner die Möglichkeit haben, ausführlich zu Wort zu kommen, werden in jedem Teilkapitel andere Fälle detailliert behandelt.
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Als charakteristische Bereiche des Erfahrungsraumes Spezialschule, die in allen Interviews von unseren Gesprächspartnern thematisiert wurden, können folgende Bereiche gelten: 1) 2) 3) 4)
Der Hauptfachunterricht und das Verhältnis zum Hauptfachlehrer Die allgemeinbildenden Fächer Das Verhältnis zu den Mitschülern Die Dimension des Politischen
Jeder dieser Bereiche wird in einem der folgenden Kapitel ausführlich dargestellt. Um den Arbeitsprozess der sinngenetischen Typenbildung gut nachvollziehbar machen zu können, stehen am Ende des jeweiligen Teilkapitels eine vorläufige Typologie sowie ein Abschnitt, in dem die für den betrachteten Aspekt zentralen Antinomien bestimmt und beschrieben werden.
3.2 D ER H AUPTFACHUNTERRICHT ZUM H AUPTFACHLEHRER
UND DAS
V ERHÄLTNIS
3.2.1 Falldarstellungen Christian Schaller Wenn ich lange Programme hatte für Wettbewerbe, dann hat sich [mein Lehrer] in seinen Sessel gesetzt und dann hab ich erst mal ’ne halbe Stunde gespielt. Und dann hieß es: »Da war was, da war was« und das konnte der wunderbar. Der musste also nicht mit den Noten mitlesen, der konnte ’ne halbe Stunde Musik hören, und dann genau mit Taktzahl und Adresse, sofort: »Da war’s zu tief, da war’s zu schnell.« Und dann: »Wollen wir nicht da mal ein bisschen mehr Vibrato machen und dann da ein bisschen lauter?« Das war wirklich richtig toll. Und der konnte sich so in den Geiger hinein fühlen, rein physisch. Der hörte ein Stück Musik und dann hat er gesagt: »So. Und jetzt lass mal bitte diese und jene Muskelpartie richtig locker.« (…) Und schon ging das. Da musste man nicht erst stundenlang üben, sondern es ging SOFORT auf Anhieb. So was konnte der einem auf den Kopf zu sagen. Und da hat man eben eine, äh, wie soll ich mal sagen? Eine Art, na wie beim Auto: so ’nen Fahrtenschreiber. Da läuft so ’ne Kontrollkamera mit, aber absolut unterschwellig. Also ich muss mich auf der Bühne nicht damit befassen, ob die Finger warm sind, ob die laufen oder ob die verkrampft sind oder ob ich gerade streiche oder sonst was. Ich kann also wirklich richtig Musik machen. Und wenn ich irgendwo ’ne Stelle habe, die ich zwar geübt habe, wo ich aber weiß: Ok, die ist heikel, die könnte danebengehen oder irgendwas. Und sie ist nicht so gekommen, wie ich es wollte, dann kann ich ja nicht ewig und drei Tage auf der Bühne stehen und sagen: »Ja, woran hat denn das jetzt gelegen, dass das nicht kam, das ist doch ärgerlich.« Das geht nicht. Weil, ich muss ja dann das Stück erst mal weiter und … – Ja gut, ich meine, es gibt viele Zuhörer, die so was gar nicht merken, dass irgendwas passiert. Aber ich, ich kann dann aber zu Hause, sozusagen, diesen Computer anwerfen und sagen: »So, jetzt mal in Slow Motion, was ist da eigentlich passiert?« Und das hab ich von meinem Lehrer. Der hat uns, alle seine Schüler, so minutiös analysiert und das ist Gold wert. Das ist Gold wert. Weil: Man steht nie vor Problemen, die nicht lösbar
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sind. Ja? Und man kann wirklich bis ins hohe Alter, man kann von Auftritt zu Auftritt immer wieder sich verbessern. Ja? Und das ist, also das ist nicht mit Gold aufzuwiegen.
Vermutlich wird sich mancher Leser die Frage stellen, inwieweit ein derartiger Textausschnitt Auskunft über den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule geben kann. Schließlich wird hier – zumindest auf den ersten Blick – so gut wie nichts thematisiert, was den engen Fokus der Lehrer-Schüler-Dyade überstiege. Wie soll man hiervon ausgehend Auskunft über jene Anteile des Einflusses erhalten, den die Spezialschule auf den Orientierungsrahmen Herrn Schallers ausgeübt hat? Die Frage ist berechtigt; ihre Antwort kann nur in einer möglichst genauen und detaillierten Textlektüre liegen, bei der auch scheinbar unwichtige Kleinigkeiten ernst genommen werden. Und dabei werden wir sehen, dass auch diese scheinbar allein auf den abgeschlossenen Raum der Zweierbeziehung zielende Beschreibung eine Reihe wichtiger Fingerzeige enthält. Zunächst ist zu sagen, dass Herr Schaller hier etwas beschreibt, das man in den Erziehungswissenschaften als ein gelungenes »Passungsverhältnis« bezeichnen würde. Zwar spricht er in allererster Linie über seinen Lehrer und dessen frappierende Fähigkeit, aus dem Stand heraus präzise und zielführende Korrekturen am Spiel seines Schülers vornehmen zu können. Aber indirekt thematisiert er sich damit vor allem selbst. Denn auch die sinnvollsten und genauesten Verbesserungsvorschläge eines Lehrers müssen ja fruchtlos bleiben, wenn sie nicht auf einen Schüler stoßen, der sie umsetzen kann und dadurch überhaupt erst ihre Triftigkeit zum Vorschein bringt. Dass der Lehrer hier mit schlafwandlerischer Sicherheit eine verkrampfte Muskelpartie zu benennen weiß, deren Entspannung dann sofort auf Anhieb und ohne stundenlanges Üben zum Erfolg führt, ist zweifellos eine auf langer Erfahrung, großem Wissen und sensiblem Einfühlungsvermögen gründende instrumentalpädagogische Fähigkeit. Aber um dies so wie hier zum unmittelbaren Erfolg zu führen, ist zu einem mindestens ebenso großen Teil ein Schüler vonnöten, dessen Spiel so fest gegründet ist, dass die Bewältigung einer schweren Stelle wirklich auch über eine kleine und präzise Korrekturanweisung erfolgen kann. Herr Schaller charakterisiert sich rückblickend als einen von Anfang an professionell arbeitenden Musiker, der zwar auf Korrekturen angewiesen war, dessen Spiel aber bereits während der Ausbildungszeit keiner grundsätzlichen Hilfestellung mehr bedurfte. Auffallend ist in diesem Zusammenhang sein hochgradig technisches Vokabular: Es ist nicht nur die Kontrollkamera, die beim Spielen mitläuft und auch nicht nur der innere Computer, den er zu Hause beim Üben anwerfen kann, um sich selbst in Slow Motion beobachten zu können. Die ganze Beschreibung der Interaktion mit seinem Lehrer hat etwas von »Lernen auf Knopfdruck«. Es gibt ein unvollkommenes Vorher, eine präzise Korrektur und ein fehlerfreies Nachher. Eine derart technokratische Sprache deutet nicht zwangsläufig auf ein entfremdetes Verhältnis zur Musik und zur eigenen Körperlichkeit hin. Für Herrn Schaller gilt eher das Gegenteil: Er sieht sich als jemanden, der richtig Musik machen kann, der sich auf der Bühne völlig seinem Spiel hinzugeben imstande ist und der im Unterricht gerade deswegen all jene störenden Elemente behoben sehen möchte, die ihn an diesem erfüllten Musizieren hindern. Die Aufgabe, die Herr Schaller dem Lehrer dabei zuweist, besteht nicht primär im Lehren des Musizierens, nicht in der Entwicklung einer Künstlerpersönlichkeit und auch nicht in der psychologischen Begleitung eines heranwachsenden Musikers.
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Es geht hier eher um eine Art Coaching, bei dem ein älterer und erfahrener Kollege einem Jüngeren, der bereits ohne dessen Zutun in vielerlei Hinsicht seine Sprache spricht, etwas von seinem Wissen und Können weitergibt. Der Schüler ist dabei zwar nicht unbedingt in seinem Leistungsstand, wohl aber wesensmäßig ein Ebenbürtiger. Schüler und Lehrer können passgenau miteinander interagieren, weil sie sich beide als vollgültige Musiker empfinden und gegenseitig wertschätzen. Dabei fällt auf, dass Herr Schaller, obgleich er über lange Strecken nur von sich und der Passung zu seinem Lehrer spricht, am Ende der Passage in die erste Person Plural wechselt: Der hat uns, alle seine Schüler, so minutiös analysiert und das ist Gold wert. Der Subtext scheint zu besagen: »Nicht nur ich, sondern auch alle meine Mitschüler konnten von den präzisen Korrekturen meines Lehrers so profitieren wie ich es getan habe.« Innerhalb des Interviews ist diese Gleichsetzung der eigenen Person mit den Mitschülern kein Einzelfall. Immer wenn er von anderen Spezialschülern spricht, betont Herr Schaller die Gemeinsamkeit des zugrunde liegenden Orientierungsrahmens und reiht sich in diesen Rahmen ein: An der Spezialschule waren, sagen wir mal, zu 80 Prozent Kinder von Musikern, von Kantoren und von Pfarrern. Also aus Familien, wo ein bisschen Musik stattfand. So im Sinne eines Gottesdienstes oder Hausmusik. Oder der Vater war eben Musiker oder Dirigent oder Komponist oder irgendwie so was. Oder eben Klavierstimmer, so dass immer im Haus irgendwo die Leute auch zumindest entfernt mit Musik was zu tun hatten. Ja, und das war’n sozusagen auch die sogenannten Leistungsträger der Schule. Und das war dann der Staatsführung oder auch der Stadt natürlich irgendwo ein Dorn im Auge.
Einerseits geht Herr Schaller hier davon aus, dass 80 % der Spezialschüler aus musikaffinen Kontexten kamen.14 Im gleichen Atemzug bezeichnet er diese Gruppe aber als Leistungsträger. Das ist ein offenkundiger Widerspruch, denn der Begriff des Leistungsträgers bezieht sich naturgemäß immer nur auf wenige und sicher nicht auf 80 % der Schülerschaft. Indem Herr Schaller einerseits die zahlenmäßige Dominanz eines bestimmten Orientierungsrahmens an der Spezialschule herausstellt, diesen mehrheitlichen Orientierungsrahmen dann aber mit dem Begriff des Leistungsträgers in Verbindung bringt, verabsolutiert er seine eigene Biografie, die in der Tat die eines aus einem Musikerhaushalt stammenden Leistungsträgers ist. Von Schülern, bei denen möglicherweise ein nicht ganz so reibungsfreies Passungsverhältnis vorlag, ist weder hier noch im gesamten weiteren Interview die Rede; es ist, als seien diese nicht existent. Das perfekte Ineinandergreifen von Schülerbedürfnissen und Lehrerverhalten erscheint in Herrn Schallers Darstellung nicht als Ausnahmefall, sondern als Regel. Oder anders formuliert: Die Spezialschüler werden weitgehend aus dem Blickwinkel der eigenen Erfahrungen und Bedürfnisse betrachtet. Andere kommen nicht vor.
14 Diese geschätzte Zahl ist deutlich zu hoch. In unserem Fragebogen gaben 34,8 % der Befragten an, dass mindestens ein Elternteil Musiker gewesen sei. Auf den Bereich Kirche/Kirchenmusik fielen 9,8 %. Dass Herr Schaller eine weit höhere Zahl annimmt, mag damit zusammenhängen, dass diese Gruppe, der er sich selbst zurechnet, einen besonderen Einfluss innerhalb der Schülerschaft besaß.
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Der Orientierungsrahmen von Herrn Schaller ist somit vom Bewusstsein einer Gemeinschaft aller Spezialschüler getragen, der als negativer Gegenhorizont die Staatsführung oder auch die Stadt – mithin der institutionelle Rahmen der Schule – gegenübergestellt wird. Diese Gemeinschaft beruht auf einer Verabsolutierung der eigenen Person und wird – darauf weist der Begriff des Leistungsträgers hin – mit einem hohen Enaktierungspotenzial in Verbindung gebracht. Im Sinne unserer genetischen Einstellung ist also festzuhalten, dass Herr Schaller sich als Teil einer tonangebenden und leistungsstarken Gruppe empfindet, deren Dominanz so ausgeprägt ist, dass die Existenz anderer Gruppen völlig ausgeblendet werden kann. Das Ausmaß dieser Ausblendung werden wir im vollen Umfang erkennen, wenn wir den immanenten Rahmen dieses Interviews verlassen und durch den kontrastierenden Vergleich mit anderen Fällen feststellen, dass die tonangebende Gruppe, aus deren Perspektive Herr Schaller erzählt, in Wahrheit nur einen Teil der Schülerschaft abbildet. Insofern wird zu sehen sein, dass seiner Nicht-Thematisierung anderer Orientierungsrahmen eine implizite Ausgrenzung zugrunde liegt. Eine anders gelagerte Art der Grenzziehung lässt sich – trotz großer sonstiger Übereinstimmungen – auch im folgenden Fall erkennen: Sebastian Dürer Prof. Bentheim kann man rückblickend nur vorwerfen, dass er eigentlich kein guter Lehrer war. Er war ein guter Musiker, aber er hatte kein gutes Gespür für wirklich junge Leute. Er hat auch viele Leute aufm Gewissen und ich hatte nur das Gefühl, ich komme mit seiner Art und mit seiner verbalen Art ganz gut zu Recht, und das konnten manche überhaupt nicht. Die wollten wissen: Wie setz ich den Finger und wie halte ich meinen Arm und blablabla. Wir hingegen konnten uns sogar unterhalten, so über eine blumige Sprache und Metaphern, ja? Also, er hat mir auch im Prinzip manchmal halbe Stunden irgendwelche Geschichten erzählt, wo man dann als junger Mensch, wie als Quintessenz, rausfiltern musste: Was will er denn hier eigentlich damit sagen? – »Sie spielen wie ein schöner Tisch und wenn ich nah heran gehe, sehe ich, dass der ganze Tisch Striemen hat.« Ok? Also: Es wirkt ganz toll, aber wenn ich genau hinhöre, ist es noch so. Und ich hab das verstanden, aber andere Leute nicht. Und jeder Unterricht war so. Ne? Ich hatte Schiss, ich saß also ’ne halbe Stunde aufm Klo, dann bin ich rein, so. Und dann lief die Maschine, aber am Schluss hatte ich das Gefühl: Ich bin locker, aber nur mit dieser Sprache. Und andre konnten damit nix anfangen.
Auf den ersten Blick mag der einleitende Satz nahezu zynisch wirken: Was bleibt von einem Lehrer übrig, dem man rückblickend »nur« vorwerfen kann, dass er eigentlich kein guter Lehrer war? Der weitere Verlauf der Passage zeigt aber, dass Herr Dürer auf etwas ganz anderes abzielt. Auf der einen Seite ist es für ihn unbestreitbar, dass Prof. Bentheim über kein gutes Gespür für wirklich junge Leute verfügte und viele auch aufm Gewissen hatte. Gleichzeitig jedoch nimmt er sich selbst in gewisser Weise davon aus. Zwar hatte auch er Schiss und saß ’ne halbe Stunde vor dem Unterricht aufm Klo. Aber – und das ist entscheidend – dabei blieb es nicht. Denn ungeachtet der Furcht, die er, wie alle anderen auch, vor Prof. Bentheim empfand, war er anscheinend doch in der Lage, einen Zugang zu ihm zu finden. Als Bindeglied zwischen Lehrer und Schüler nennt Herr Dürer eine metaphorische Sprache, die für viele Mitschüler hermetisch blieb, von ihm selbst aber verstanden wurde. Mit dieser Gegenüberstellung konstruiert er einen negativen Gegenhorizont. Herr Dürer
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formuliert eine Abgrenzung zu Anderen, um durch diesen Ausschluss die eigene Position genauer bestimmen zu können. Negativ ist dieser Horizont, weil er eine implizite Wertung enthält. Während die ersten Sätze noch vermuten lassen, dass sich Herr Dürer mit jenen Vielen solidarisiert, die sein Lehrer aufm Gewissen hatte, so zeigen seine weiteren Äußerungen, dass er sich durchaus von diesen Mitschülern abgrenzen möchte. Er selbst rechnet sich nämlich ausdrücklich nicht zu denen, die wissen [wollten], wie setz ich den Finger und wie halte ich meinen Arm und blablabla. Mit dem letzten Wort gibt er deutlich zu verstehen, was er von derartigen Fragen hält. Sie repräsentieren für ihn etwas Vorkünstlerisches, von dem er sich dezidiert abgrenzt. Wer so fragt, zeigt in seinen Augen, dass er noch nicht zum Kern des Musizierens vorgedrungen ist. Dieser Fixierung auf das Technisieren wird als Gegenpol die blumige Sprache der Metaphern entgegengesetzt. Diese Sprache erscheint in Herrn Dürers Darstellung letztlich als eine Sprache der Eingeweihten. Wer sie beherrscht, findet den Zugang zur schwierigen Künstlerpersönlichkeit von Prof. Bentheim. Durch diese Differenzlinie teilt sich die Schülerschaft von Prof. Bentheim in die wenigen Berufenen, die bereits von sich aus über den Schlüssel verfügen, den man besitzen muss, um bei Prof. Bentheim auf produktive Weise lernen zu können, und in die Mehrheit der Ausgeschlossenen, die diesen Schlüssel nicht besitzen, die beim Technisieren Zuflucht suchen müssen und dadurch zum eigentlichen musikalisch-künstlerischen Lernen gar nicht vordringen können. Der Kontext des gesamten Interviews zeigt, dass es sich für Herrn Dürer bei diesem Berufen-Sein um eine letztlich nicht erlernbare Eigenschaft handelt, die auf einem statischen, d.h. biografisch nicht veränderbaren Begabungsbegriff fußt. Gleich zu Beginn des Gesprächs, gleichsam als Visitenkarte, grenzt er sich auf diese Weise von seinem Bruder ab: Meine Eltern haben mir eine sehr schöne Kindheit bereitet, gemeinsam mit meinem Bruder, der komischerweise künstlerisch gar nix so richtig von den Genen mitbekommen hat. Er war so mehr der Techniker und nüchterner Part in unsrer Familie. Wie gesagt: Schöne Kindheit. Sehr zeitig wurde mein musikalisches Talent entdeckt.
Wie Herr Schaller, so sieht sich auch Sebastian Dürer trotz der Ängste, die er vor dem Unterricht bei Prof. Bentheim empfindet, als ein im Grunde Ebenbürtiger. Auch wenn die Fallhöhe zwischen dem gestrengen Meister und ihm, dem zunächst furchtsam-ehrfürchtigen Adepten, noch gewaltig sein mag, so scheint er sich doch innerlich bereits während seiner Zeit als Spezialschüler im Grunde als zur Sphäre des Lehrers gehörend betrachtet zu haben. Wie im Falle von Herrn Schaller lässt die Darstellung auf ein hohes Enaktierungspotenzial schließen. Während Herr Schaller allerdings im Sinne einer kollektiven Identität von Wir spricht und der Möglichkeit, dass ein Schüler möglicherweise ein weniger ausgeprägtes Enaktierungspotenzial als er selbst besaß, keine Beachtung schenkt, geht es in der Schilderung bei Herrn Dürer um die unterschwellige Ausgrenzung der Nicht-Berufenen. Im Gegensatz zu den Erinnerungen von Herrn Schaller fällt bei ihm die Gemeinschaft der »wirklichen« Musiker nicht mit der Gemeinschaft der Spezialschüler zusammen. Die wirklichen Musiker bilden innerhalb der Schulgemeinschaft anscheinend noch einmal einen eigenen, exklusiven Raum. Einen Raum, der zwar administrativ nicht definiert ist, der aber dennoch sehr genaue Zugehörigkeitsgrenzen kennt. Ließ sich bei Herrn Schaller eine Ausgrenzung
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durch Nicht-Beachtung feststellen, so handelt es sich hier um eine ganz explizit gezogene Differenzlinie zwischen den »Besonderen« und dem ganzen Rest. Christiane Trenkler In der DDR gab’s schon, trotz allem Guten, ein bisschen so eine restriktive Pädagogik einfach. Also dieses Kleinmachen, ne? Dass man also sagte: »Du hast das so und so nicht richtig geübt, weil du …« Also: Der Schüler ist schuld, der Schüler ist schlecht. Und bei allen Leistungsanforderungen denke ich heute, dass man das einfach anders machen sollte. Also, ich mach’s heute anders. Und habe zum Glück auch Lehrer kennengelernt, die das anders gemacht haben. Also, die diese Waage sehr gut hatten zwischen der Anforderung, die sein muss. Aber in ’ner positiven, unterstützenden Pädagogik. Ich denke, dass Herr Ickert das gut gekonnt hat. Ich war aber nicht sofort bei ihm. Vorher gab’s einige Lehrerwechsel, die nicht ganz unproblematisch waren. Also die musikalische Laufbahn war nicht so ganz geradlinig bei mir. Weil ich nicht gleich so den Lehrer gefunden habe, der zu mir gepasst hat. Und der mich wirklich fördern konnte. Ich bin dann erst mit 16 zum Ickert gekommen. Und bin dann bei ihm geblieben bis zum Ende des Studiums. Ja, ich hab ihm vorgespielt und wir haben uns unterhalten. Das war auch ein Unterricht, der irgendwie, glaub ich, zu der damaligen Zeit gar nicht mal so angesagt war. Also, das war eigentlich ’n ganz ruhiger Arbeiter, der sehr auf den Beruf bezogen unterrichtet hat. Und nicht auf irgendwelche spektakulären Abschlüsse oder so. Und nach den ersten zwanzig Berufsjahren hab ich so gemerkt, dass ich mit vielen Sachen rein körperlich besser klarkomme als meine Kollegen. Und hab es dann tatsächlich auf die spezielle Art geschoben, wie er unterrichtet hat. Und hab ihm das dann auch mal schriftlich mitgeteilt, also, wie ich das sehe. Ich meine, die ersten zehn Jahre spielt man ja sowieso von alleine, ja? Nach’m Examen. Und wenn man dann merkt, es geht wirklich sehr, sehr leicht, fragt man sich, warum geht es denn so leicht? Weil es einfach Sachen waren, an die ich mich erinnert habe, die ich gelernt hab. Interviewerin: Können sie das einmal konkret machen? CT: Ja, da ging es zum Beispiel um so ’ne Arbeit, die in dem Moment, in dem sie passiert, überhaupt keinen Glamour hat. Das heißt, dass man sich auf die Bewegungsabläufe konzentriert und wirklich über ewig lange Zeiträume immer wieder beharrt auf einer Sache, wo ich dachte: »Herrgott. So wichtig ist es ja jetzt auch nicht. Warum beißt der sich jetzt da so fest? Ist ja richtig, dass er’s sagt. Er hat ja auch recht. Aber warum kann er denn jetzt nicht auch mal ’ne Phrase laufen lassen? Warum können wir hier nicht mal schön künstlerisch arbeiten? Warum muss er mich so langweilen?« Da ging es zum Beispiel einmal um ein inaktives Handgelenk, Schulter, Unterarm, Ellbogen. Und ich dachte: »Mein Gott. Also, dem fällt wahrscheinlich nichts mehr ein.« Oder: »Was ist denn mit dem Mann los?« Aber weil ich ja gut erzogen war und weil überhaupt kein anderer in der Nähe war, dachte ich: »Ja, Herrgott. Dann machst es halt.« Was sollt ich machen? Ich hab’s halt gemacht. Und tatsächlich, über die Jahre hat sich herauskristallisiert, wozu’s gut war. Dass man also diese Bewegungsabläufe tatsächlich bis zum heutigen Tage abrufen kann. Und das empfind ich schon als sehr, sehr gute Sache. Das heißt, mit einigen Sachen, mit denen Kollegen vielleicht Mühe haben, damit habe ich keine Mühe. Und ich glaube, dass es damit zu tun hat. Mit dieser Arbeit, die einfach nur im Kämmerlein war. Und die überhaupt kein Aufsehen erregt hat. Und schlussendlich natürlich langweilig war.
Dieser Textausschnitt bereitet dem Interpreten einige Mühe, da Frau Trenkler hier zwischen drei verschiedenen Zeitebenen hin und herspringt. Im Mittelpunkt steht natürlich die Beschreibung ihres Verhältnisses zu ihrem Lehrer, Herrn Ickert, während
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der Spezialschulzeit. Hinzu kommen dann zweitens die Erfahrungen nach zwanzig Berufsjahren, die drittens ihrerseits aus der Ist-Perspektive des Interviews beschrieben und reflektiert werden. Problematisch ist diese Gleichzeitigkeit der Zeitperspektiven vor allem deshalb, weil die späteren Berufserfahrungen nach zwanzig Jahren Orchesterdienst der rückblickenden Legitimation des Hauptfachunterrichtes dienen, der nun aber seinerseits mit nicht gerade begeistert wirkenden Formulierungen wie kein Aufsehen erregt oder langweilig belegt wird. Wie kann man als Interpret sicher sein, dass hier keine nachträgliche Neu- bzw. Uminterpretation früherer Erlebnisse stattfindet? Wie lassen sich bei einer derartigen Überblendung früherer Erlebnisse durch spätere Erfahrungen zuverlässige Rückschlüsse über den damaligen Orientierungsrahmen von Frau Trenkler ziehen? Angesichts der Tatsache, dass wir durch unsere Entscheidung für lebensgeschichtlich-biografische Interviews die Möglichkeit haben, später gemachte Erfahrungen als solche identifizieren zu können und dadurch die Gefahr minimieren, sie unreflektiert in unsere Interpretation einzubeziehen, bedeutet es gerade keine Erschwernis, wenn Frau Trenkler die Erfahrung ihres langweiligen Unterrichts in späteren Jahren neu bewertet. Gerade weil wir wissen, dass es sich hier explizit um eine Neubewertung handelt (und nach den ersten zwanzig Berufsjahren hab ich so gemerkt …), können wir die Tatsache, dass sie im Rückblick von der inhaltlichen Qualität des Unterrichts überzeugt ist, als eine nachträglich gebildete Erfahrung identifizieren, die bei unserer Rekonstruktion zunächst ausgeklammert werden muss. In der damaligen Situation an der Spezialschule scheint die Tatsache, dass Herr Ickert über ewig lange Zeiträume auf die Präzision und Sauberkeit technischer Grundlagen bestanden hat, bei Frau Trenkler neben anderem vor allem auch Verdruss und Langeweile hervorgerufen zu haben. Wir müssen daher die Frage an den Text stellen, aufgrund welcher Motive sie sich dennoch in diesen auf sie wenig inspiriert wirkenden Unterricht gefügt hat. In diesem Zusammenhang ist es zunächst wichtig, sich die Horizonte bzw. Gegenhorizonte zu vergegenwärtigen, aus denen heraus sie ihren Unterricht beschreibt. Hier unterscheidet sie sehr dezidiert zwischen einem Unterricht, der auf spektakuläre Abschlüsse ausgerichtet war und dem Unterricht von Herrn Ickert, der genau diese Qualität anscheinend nicht aufwies. Mit dem Zusatz, dass dieser Unterricht zu der damaligen Zeit gar nicht mal so angesagt war, markiert sie eine Differenz, die direkt auf den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule abzielt. Aus ihrer Sicht gab es unter den Schülern anscheinend eine Unterscheidung zwischen Lehrern, die etwas galten, weil sie spektakuläre Abschlüsse erzielten und anderen, die Derartiges nicht aufwiesen. Die Tatsache, dass Herr Ickert aus ihrer Sicht zu diesen anderen gerechnet wurde, könnte beim Gesprächspartner natürlich den Eindruck hervorrufen, dass es sich bei Frau Trenkler um eine Schülerin gehandelt hat, die anscheinend keinen Anlass für die Erwartung eines solchen Abschlusses geboten hat. Doch genau dieser möglicherweise abschätzigen Sichtweise steuert sie entgegen: Zum einen schickt sie der Formulierung spektakuläre Abschlüsse das Indefinitpronomen irgendwelche voraus. Dadurch wird das Spektakuläre tendenziell entwertet, denn zum Wesen eines spektakulären Abschlusses zählt doch sicherlich dessen ausstrahlende Sicht- und Erkennbarkeit, durch die er sich von anderen Abschlüssen abhebt. Irgendwelche Abschlüsse hingegen verschwinden in einer unbestimmten Menge und verlieren an Profil. Durch
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diese Formulierung entsteht der Eindruck, dass es sich bei derartigen Abschlüssen um etwas aufgeblasene Ergebnisse handelte, die zwar im Kontext der Schule faszinierend gewirkt haben mögen, denen aber letztendlich die Relevanz abgesprochen wird. Frau Trenkler distanziert sich von der innerschulischen Werteskala und eröffnet damit zugleich die Antithese »schulintern-schulextern«, die zwischen dem unterscheidet, was innerhalb der schulischen Grenzen als erstrebenswert galt und jenen Anforderungen, die von einem erfahrenen Orchesterpraktiker wie Herrn Ickert erhoben wurden. Denkt man die zu Beginn des Interviews erwähnte Tatsache hinzu, dass Frau Trenkler von früher Kindheit an eine Laufbahn als Orchestermusikerin (und nicht etwa als Solistin) angestrebt haben will, so lässt sich vermuten, dass sie in ihrer instrumentalen Ausbildung frühzeitig alles misstrauisch beäugte, was sich nicht direkt auf dieses Ziel beziehen ließ. Dazu zählten einseitige solistische Ambitionen ebenso wie die Teilnahme an einem schulinternen Konkurrenzkampf. Mit beidem wollte und will sie nichts zu tun haben. An einer späteren Stelle distanziert sie sich in nicht weniger als neun (!) fast unmittelbar aufeinander folgenden Verneinungen von dem Berufsziel des Solisten: Also Solist, dazu hat’s einfach nicht gereicht. Wollt ich auch überhaupt nicht. Tatsächlich wollt ich’s wirklich nicht. Also, ich hatte diese Ambitionen wirklich nicht. Ich denke, wenn man die Ambitionen hat, dann ist man auch so gut. Also, man weiß ja nicht, was zuerst da war: die Henne oder das Ei, ja? Also, wollt ich nie. Hab ich auch nie damit gehadert. Also auch heute nicht. Also, ich bin wirklich Tuttist aus Leidenschaft, sag ich immer, ja? Das mach ich total gerne und fühl mich überhaupt nicht so, dass ich nicht zum Zuge käme. Hab auch nicht das Gefühl, dass ich mich nicht einbringen kann.
Die Wahl eines Lehrers, dessen Unterricht nicht so angesagt war, weist auf eine deutliche Distanz gegenüber jenem Treiben hin, das in ihren Augen die Interaktionen an der Spezialschule prägte. In diese Distanz fügt sich auch ihre zu Beginn der Textpassage vorgetragene Beurteilung des damaligen Ausbildungssystems ein. Mit ihrer These, dass in der DDR zumeist einseitige Forderungen an den Schüler ohne Rücksicht auf die jeweilige Persönlichkeit erhoben wurden, konstruiert sie einen negativen Horizont, dem sie als positives Gegenbeispiel ihren Lehrer Herrn Ickert gegenüberstellt, der ihrer Ansicht nach dennoch zu einer unterstützenden Pädagogik in der Lage war. Damit wird aber zugleich auch ein Urteil über die sonstige Schule gesprochen, die – da sich Herr Ickert von ihr unterscheidet – trotz aller Vorzüge anscheinend eher als Ort einer restriktiven Pädagogik gesehen wird. Indem sich Frau Trenkler für Herrn Ickert entschied, wählte sie – ihrer Darstellung zufolge – einen Praktiker, der einen wohltuenden Abstand zum sonstigen Unterrichtsbetrieb bot. Sie präsentiert sich damit als eine Schülerin, die schon damals bewusst auf Distanz zu einem in ihren Augen tendenziell fremdbestimmten Hauptfachunterricht ging. In dieser Distanz schwingt ein Moment des Unangepassten mit. Der Subtext könnte besagen: »Ich hatte es nicht nötig, mich dem anzupassen, was an der sonstigen Spezialschule als ›in‹ galt.« Dazu passt, dass sie sich auch sonst als eine sehr selbstbestimmt agierende Schülerin mit hohem Enaktierungspotenzial darstellt. Deutlich wird das an der Formulierung, sie habe längere Zeit suchen müssen, bis sie den Lehrer gefunden habe, der zu [ihr] gepasst hat. Die Wahl des Lehrers wird also als ein aktiv von ihr betriebener Vorgang beschrieben. An anderer Stelle heißt es: Ich
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wollte ja den Lehrer haben, den ich möchte. Und nicht den, den die mir vorsetzen, weil: Das hatte ich ja schon. Dadurch unterscheidet sie sich deutlich von anderen Befragten, die einen Lehrerwechsel an der Spezialschule als etwas charakterisierten, auf das sie keinerlei Einfluss hatten. In hohem Maße selbstbestimmt erscheint auch ihre Reaktion auf das stete Beharren Herrn Ickerts in spieltechnischen Fragen. Zwar fügt sie sich eher widerwillig seinen eintönig wirkenden Forderungen, aber das geschieht nicht aus Gehorsam oder Willfährigkeit. Der von ihr beschriebene innere Monolog deutet auf fast so etwas wie Mitgefühl hin: Was ist denn mit dem Mann los? […] Ja, Herr Gott. Dann machst es halt. Frau Trenkler versteht nicht ganz, warum Herrn Ickert bestimmte Dinge so wichtig sind, aber sie lässt sich aus einer gewissen Fürsorglichkeit – fast so, als wolle sie ihn schonen – auf seine Forderungen ein. Ihre Folgsamkeit entspringt keiner Fremdbestimmung, sondern wird als freiwilliges Entgegenkommen präsentiert. Zweifelsohne lässt sich diese ganze Passage auch in der Weise lesen, dass sich Frau Trenkler hier mit einem beträchtlichen sprachlichen Aufwand dafür rechtfertigen möchte, dass ihr Lehrer – und damit auch sie selbst – nicht zu denen gehörte, die an der Spezialschule zu den »Angesagten« zählten. Gerade die Insistenz, in der sie solistische Ambitionen von sich weist, lässt durchaus den Verdacht zu, dass hier mit aller Gewalt etwas bestritten werden muss, was ihr vielleicht doch nicht ganz so fremd war, wie sie nachträglich behauptet. Allerdings lässt das weitere Interview eine Reihe von Indizien erkennen, die die von ihr vorgetragene Sichtweise in hohem Maße plausibilisieren. Ihre Angabe, dass sie keine besonderen solistischen Ziele verfolgte, sondern von Anfang an relativ unbeirrt eine Laufbahn als Tuttistin anstrebte, wird durch die Tatsache erhärtet, dass sie nach ihrem Studium eine ihr angetragene Soloposition ausschlug: Nach dem Studium wurde mir eine Solostelle angeboten. Da gingen bei mir vor Panik alle roten Lampen an. Drei Sparten waren es. Ballett: Alle großen Soli, Schwanensee, Romeo und Julia. Dann Oper: Lustige Weiber. Mir lief das in Sekunden vor meinem geistigen Auge ab, diese ganzen Soli. Und habe dann gesagt: Nein, nein. Möchte ich nicht. Und damals war ich 22. Und da wusste ich, was auf mich zukommt.
Zugleich berichtet sie von einer parallel zu ihrer ersten Berufstätigkeit erfolgten professionellen Ausbildung in einem zweiten künstlerischen Hauptfach. Dort hatte sie keinerlei Probleme mit einem solistischen Auftreten. Gerade weil sie sich dort solistisch bewähren konnte, wirkt ihre Behauptung, sie habe das in Bezug auf ihr ursprüngliches Hauptfach weder gekonnt noch angestrebt, glaubwürdig. Und schließlich ist zu bedenken, dass Frau Trenkler später als die meisten ihrer Mitschüler (nämlich erst in der 8. Klasse) an die Spezialschule gekommen ist und auch sonst – da sie nicht aus dem Einzugsgebiet der Spezialschule stammte – in gewisser Weise als Exotin galt. Aufgrund dieses Status konnte sie womöglich mit einem anderen Grad an Selbstständigkeit im Gefüge der Schule agieren als andere. Wie im Falle von Herrn Schaller und Herrn Dürer ist auch der Orientierungsrahmen von Frau Trenkler durch ein beträchtliches Enaktierungspotenzial gekennzeichnet. Sie erweist sich als eine überaus handlungsfähige Schülerin, die von Beginn ihrer Spezialschulzeit an ihre eigenen musikalischen Interessen zu verfolgen in der
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Lage war. Wie die beiden anderen hat sie bereits vor der Spezialschulzeit eine selbstständige Entscheidung für den Beruf der Profimusikerin getroffen. Im Gegensatz zu den beiden vorhergehenden Fällen errichtet Frau Trenkler allerdings eine deutliche Differenzlinie zwischen ihrer eigenen Person und der sonstigen Spezialschule. Sie sieht ihre Spezialschulzeit gerade deshalb in einem positiven Licht, weil sie sich einen Lehrer wählen konnte, der im Grunde nicht direkt in dieses Ausbildungssystem involviert war. Sowohl Herr Schaller als auch Herr Dürer sprechen aus der Perspektive des Spezialschulsystems heraus, d.h. sie konstruieren ihre eigene Position im Bewusstsein einer übergeordneten Gruppenzugehörigkeit – Herr Schaller, indem er diese Gruppe mit seinem eigenen Orientierungsrahmen gleichsetzt, Herr Dürer, indem er sie zur Herausstellung seiner eigenen Besonderheit benötigt, denn ohne die »Normalen« könnte er seine Differenzlinie nicht ziehen. Frau Trenklers Orientierungsrahmen ist hingegen von dem Bewusstsein geprägt, zu dieser Gruppe nicht wirklich dazu zu gehören. Sie unterscheidet sehr genau zwischen ihrem eigenen Fall und den sonstigen Spezialschülern, deren Orientierungsrahmen sich in ihren Augen an Lehrern orientierte, die etwas galten – der mithin also von einem innerschulischen Bewertungsmuster geprägt war, das sie für sich ablehnt. Albert Leininger [Wie es im Hauptfach war?] Nun, streng war’s, pünktlich musste man sein. Pünktlich musste man sein, man musste alles können und ich durfte bei dem guten Ihring auch nie widersprechen. Das war also kein kommunikativer Unterricht, also kein partnerschaftlicher, sondern es war wirklich ein autoritärer Unterrichtsstil. Was ja nicht immer schlecht sein muss, wenn man gute Nerven hat. Aber es war so sehr unkünstlerisch im Grunde. Ok, es ist mein Hauptfachlehrer, aber ich muss das so sagen, auch wenn das vielleicht kränkend ist für ihn. Aber trotzdem hab ich ganz viel gelernt, auch musikalisch, weil, das war ein hochsensibler Musiker. Sie müssen ja immer trennen: das Handwerk dann von dem großen Ganzen. Und ein ungeheuer sensibler, klangschöner Spieler. Der hat mir bestimmte Dinge erklärt, die sind unvergesslich für mich, wirklich! Auch im Einschätzen von Musik, im Hören von Musik. […] Ich sage Ihnen das, Sie können das ausstrahlen über den gesamten Deutschlandfunk: Wenn ich Musiker geblieben wäre, wäre ich genauso ein Knochen geworden, wie das der Ihring gewesen ist. Weil, mich hat diese Pünktlichkeit, diese Korrektheit schon beeindruckt. Also, das wäre jetzt Unsinn, wenn ich sagen würde, ich hätte den doof gefunden oder so. Im Gegenteil, ich hatte ’nen großen Respekt und hab das auch bewundert. Diese nachgerade fehlerlose Präzision, die der Mann hatte. Und insofern war das ’n Vorbild. Aber ’n Vorbild darf ja auch Seiten haben, die man kritisiert, oder? […] Und, ich hatte immer bissel Furcht, wenn ich mit meinem eigenen Hauptfachlehrer [in der Oper] Praktikantendienste hatte, weil der eben fürchterlich streng und sehr konservativ in seinem ganzen Erscheinen war. Und der hat auf alles geachtet, auf jede Geste, zum Beispiel wen ich grüße oder wenn ich etwa vergessen hatte, irgendeinen Kollegen zu grüßen, versehentlich, in der Garderobe oder so. Das wurde alles lang und breit ausgewertet. […] Und deswegen bin ich wiederum so froh gewesen, dass ich dann im Klavierunterricht jemanden hatte, der das ganze Gegenteil war, nämlich die Frau Kauer. Das war ein großes Glück, weil ich glaube, wenn ich nicht zu ihr ins Pflichtfach Klavier gekommen wäre, hätte ich vielleicht irgendwann das mal eher hingeschmissen, alles. Weil, der Ihring, das ist eine ganz ehrenwerte, respektable Person, ein ganz ehrlicher, geradliniger Mensch und ein großartiger Musiker, aber als Musikpädagoge katastrofürchterlich! Vernichtend, im Grunde. Und es haben
98 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE ja auch massenhaft, na ja vielleicht nicht massenhaft, aber es haben ja viele aufgehört bei ihm oder haben gewechselt. Und ich hatte schon gute Nerven, im Grunde hat das mich nicht völlig vernichten können, aber es war immer ein Druck und nie ’ne große Freiheit. Und dann bin ich eben im Klavier zu Frau Kauer gekommen, und das war wundervoll. Und, wie gesagt, ich hatte den Glücksfall durch die Frau Kauer, die war für mich auch Vorbild, aber anders eben. Die war mehr so dieses menschliche und musikalische Vorbild, währenddessen, der Hauptfachlehrer war das handwerkliche und das berufsethische Vorbild.
Eine Darstellung, die von tiefen Ambivalenzen geprägt ist. Herr Leininger beschreibt einen Hauptfachlehrer, der einen katastrofürchterlichen Unterricht gibt, der aber trotzdem bewundert und respektiert wird. Einen Lehrer, dem man nie widersprechen durfte, der aber trotzdem als der gute Ihring firmiert und der anscheinend genug Identifikationspotenzial bot, um Herrn Leininger heute zu dem Schluss kommen zu lassen, er hätte sich, wäre er beruflich bei der Musik geblieben, vermutlich zu genau so ein[em] Knochen entwickelt. Obgleich er mit spürbarer Faszination von den großen musikalischen und künstlerischen Qualitäten seines Lehrers spricht, scheinen diese Qualitäten im Unterricht selbst eine eher untergeordnete Rolle gespielt zu haben. Was als zusammenfassende Bilanz am Ende der Passage übrig bleibt, ist vielmehr das handwerkliche und berufsethische Vorbild. Für die Musik hingegen scheint der Nebenfachunterricht zuständig gewesen zu sein, der hier eindeutig als positiver Gegenhorizont fungiert. Ohne diesen Ausgleich, vermutet Herr Leininger, hätte er das irgendwann mal eher hingeschmissen, alles. Allerdings sind selbst die Aspekte, die an Herrn Ihring bewundert werden, durchaus anders gelagert als die Bewunderung, die Herr Schaller und Herr Dürer, aber auch Frau Trenkler ihren Hauptfachlehrern zuteilwerden lassen. Nicht nur, dass hier dezidiert eine Trennlinie zwischen der handwerklich-berufsethischen und der menschlich-musikalischen Dimension gezogen wird. Was Herr Leininger bewundert, sind vor allem Aspekte, die sich gerade nicht vollständig mit dem eigenen Orientierungsrahmen decken. Anders als bei den bisher behandelten Fällen, bei denen letztlich das Gefühl einer grundsätzlichen Identifikation mit dem Hauptfachlehrer dominiert, ist hier das Bewusstsein einer Sphäre zu spüren, zu der Herr Leininger sich zwar hingezogen fühlte, die ihm aber im konkreten Unterrichtsalltag vornehmlich in Gestalt eines unkünstlerischen Drills entgegentrat. Anders als Frau Trenkler, die sich trotz gelegentlicher Langeweile und Eintönigkeit innerlich bei ihrem Lehrer Ickert aufgehoben fühlte, empfand er diesen Drill letztlich als Fremdbestimmung. Dass sich der Orientierungsrahmen des Lehrers nicht restlos mit seinem eigenen verbinden konnte, zeigt sich an der Tatsache, dass Herr Leininger in der zweiten Hälfte seiner Schulzeit kurzzeitig einen Ausstieg erwogen und – wie er im anschließenden Teil des Interviews ausführlich schildert – in späteren Jahren seine Laufbahn als Orchestermusiker dann entschlossen und abrupt beendet hat. Seitdem hat er sein Hauptfachinstrument nicht mehr angerührt. Aber auch der Unterricht selbst lässt Züge eines durchaus problematischen Passungsverhältnisses erkennen. Anders als Herr Dürer, dem es anscheinend gelang, seinen Schiss vor Prof. Bentheim immer wieder zu überwinden und zu einer gemeinsamen musikalischen Sprache mit seinem Lehrer zu finden, hängt die Tatsache, dass Herr Ihring seinen Schüler nicht vollständig vernichten konnte, weniger mit einer tiefgehenden Übereinstimmung im musikalisch-künstlerischen Bereich zusammen,
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sondern ist schlicht und einfach den guten Nerven geschuldet, die Herr Leininger sich selbst zuschreibt. Im Gegensatz zu Herrn Dürer konstruiert er keine grundsätzliche Differenz zwischen sich und seinen Mitschülern. Sie alle waren dem autoritären Unterrichtsstil gleichermaßen ausgeliefert, konnten allerdings aufgrund unterschiedlicher Nervenstärke damit unterschiedlich gut umgehen. Wenn Herr Leininger eine Differenzlinie zieht, dann ist es nicht eine zwischen den »Normalen« und den »Auserwählten«, sondern eher zwischen der Mehrheit der Spezialschüler und den Wenigen, die aus Leistungsgründen die Spezialschule verlassen mussten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass andere ’ne große Bedrückung aus der Spezialschulzeit mitnehmen – mit Ausnahme derer, die vielleicht wirklich große Probleme in ihrem musikalischen Bereich hatten. Weil, wenn Sie nicht mehr zurechtkamen, dann waren Sie auch nicht mehr so sehr viel wert. Ich überspitze das jetzt mal.
Während Herr Dürer eine Abgrenzung im oberen Bereich vornimmt, distanziert sich Herr Leininger nach unten. Wenn Herr Dürer »Wir« sagt, meint er in erster Linie seinen Lehrer und sich. Herr Leininger hingegen bezieht sich auf die Mehrheit der Schülerschaft, der er sich selbst zurechnet. Diejenigen, die nicht mehr zurechtkamen, werden hingegen als Ausnahme bezeichnet. Allerdings führt die oben beschriebene Ambivalenz gegenüber seinem Hauptfachlehrer dazu, dass er diese Differenzlinie nicht konsequent durchhält. Immer wenn – bei aller habituellen Fremdheit – seine Faszination vor dem Orientierungsrahmen des Orchesterpraktikers durchschlägt, beschreibt Herr Leininger – und er nähert sich hier unübersehbar der Perspektive von Herrn Dürer an – eine exklusive Sphäre, die davon geprägt ist, dass sie, im Gegensatz zu ihm, vielen Mitschülern verschlossen blieb: [Die meisten Hauptfachlehrer] waren im Grunde keine Pädagogen […]. Was einen großen Vorteil hat, weil sie Praktiker sind. Ja, weil sie also das, was sie unterrichten und was sie weitergeben, genau kennen und verstehen. Aber im Grunde nicht wissen, wie sie’s übermitteln sollen. Da ist viel gemacht worden, was nicht so ganz hundert Prozent in Ordnung ist. Und ich bin trotzdem immer ein Verfechter der Profis gewesen, also ich hab lieber bei jemandem Unterricht gehabt, der weiß, was er macht, als einer, der nur theoretisch weiß, was er macht. Aber für viele andere Mitschüler war das oftmals problematisch.
Während die Mitschüler, die Probleme im musikalischen Bereich hatten, zuvor eine Ausnahme darstellten, sind es nun plötzlich viele andere Mitschüler, die anscheinend ein Problem mit den gering entwickelten pädagogischen Fähigkeiten der Orchesterpraktiker hatten. Das Bedürfnis, sich selbst als passend zum Orientierungsrahmen dieser Praktiker darzustellen, verleitet Herrn Leininger plötzlich zu einer starken Abgrenzung: Er selbst gehörte anscheinend nicht zu diesen vielen anderen. Sobald aber wieder über die Spezialschule als Ganzes geurteilt wird, zeichnet Herr Leininger erneut das Bild einer relativ homogenen Schülerschaft, die im Hauptfach mit ähnlichen Strukturen und Problemen zu kämpfen hatte. Hier schrumpft das Idealbild des Orchesterpraktikers, das ihn zuvor zu einer ähnlichen Ausgrenzung, wie sie bei Herrn Dürer zu beobachten war, bewogen hatte, innerhalb kurzer Zeit auf das handwerklich-berufsethische Vorbild, dem jedes künstlerische Moment fehlt. Obgleich er also stellenweise den Orientierungsrahmen von Herrn Dürer zu übernehmen scheint, so
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ist diese Übernahme bei Herrn Leininger jedoch nicht stabil, sondern wirkt eher wie das Ausprobieren einer Rolle, die letztlich doch nicht die Seine ist. Was bei diesem Ausprobieren allerdings zutage tritt, ist eine latente Polarität zwischen »Praktikern« und »Pädagogen«. In dem Moment, in dem Herr Leininger versuchsweise in den Orientierungsrahmen des Orchestermusikers schlüpft, glaubt er, einen negativen Gegenhorizont zur Sphäre des Pädagogischen konstruieren zu müssen, die in seiner Darstellung durch einen Mangel an praktischem Wissen und Können gekennzeichnet ist. Daraus ergibt sich ein fundamentaler Selbstwiderspruch: Denn gerade der von ihm so hochgelobte menschlich-musikalische Nebenfachunterricht wurde schließlich von einer Lehrkraft gegeben, die in ihrem ganzen Berufsleben ausschließlich pädagogisch tätig war. Dass Herr Leininger diesen Widerspruch gar nicht bemerkt, weist beredt darauf hin, dass der probeweise gewählte Orientierungsrahmen des Orchesterpraktikers eine Reihe von Erfahrungen einfach ausblendet. Indem Herr Leininger vorübergehend in diese Rolle schlüpft, sagt er weniger über sich selbst aus als vielmehr über jene Eigenschaften, von denen er glaubt, dass sie mit dem Orientierungsrahmen eines Orchestermusikers verbunden sind – und dazu gehört anscheinend eine tendenzielle Verachtung des Nur-Pädagogischen. Anders formuliert: Indem Herr Leininger eine Rolle aufführt, mobilisiert er ein bestimmtes Rollenverhalten, das ihm für diese Rolle typisch zu sein scheint. In Bezug auf das Hauptfach erweist sich das Enaktierungspotenzial von Herrn Leininger als deutlich geringer ausgeprägt, als dies bei den vorangegangenen Fällen zu beobachten war. Obgleich er immer dann, wenn er probeweise den Orientierungsrahmen seines Lehrers übernimmt, seine Handlungsfähigkeit betont (und ich hatte schon gute Nerven, im Grunde hat das mich nicht völlig vernichten können), so gesteht er an anderer Stelle doch ein, dass genau dieser Rahmen von ihm als hochgradig fremdbestimmend empfunden wurde. Olga Groß Ja, ich hatte zwei Hauptfachlehrer im Laufe meiner Zeit. Einmal den Herrn Mörchen. Weiß gar nicht, ob der Philharmonie oder Staatskapelle war. Und dann den Herrn Kowalke. Beide haben’s nicht leicht mit mir gehabt. Also ich hab sie beide gemocht irgendwo. Aber ich wusste, dass ich nie mit meinen Lehrern an dieser Stelle zufrieden sein kann und die auch nicht mit mir, weil ich genau wusste, dass [die Musik nicht so ganz meins ist]. Also ich hab’s als bereichernd empfunden. Hab auch in den Stunden mitgemacht. So ist’s nicht. Aber ich habe immer eigentlich sehr frühzeitig das Gefühl gehabt, das IST es nicht. Aber erstaunlich, wie lange man das dann irgendwie sozusagen mit ’nem gewissen Leistungswillen auch durchhält. Und ich hab meinen Eltern auch keinen Kummer gemacht an der Stelle. […] Interviewerin: Können Sie sich an Unterrichtssituationen erinnern? OG: Erinnern? I: Können Sie etwas erzählen? OG: Äh, also (stöhnt). Na ja. Im Grunde, man hat ja Hausaufgaben aufbekommen. Oder hat eben sozusagen die Stücke geübt. Und, na das, das, das wurde dann bearbeitet, gearbeitet, und je nachdem … Also, ich kann mich an Stunden erinnern, da hab ich ’ne Woche lang innerlich gebockt und hab überhaupt nicht geübt. Aber war total fit für diese Stunde, so dass mein Lehrer echt begeistert von mir war. Also, ob er das nur so getan hat, um irgendwo zu sagen: »Jetzt los. Du musst ein bissel üben.« Keine Ahnung. Ähm, und dann gab’s da Zeiten, wo ich wirklich geübt hab. Wo man einfach sozusagen vielleicht was nicht verstanden hatte. Und ich
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wusste irgendwo immer: Ich bin nicht der große Auswendigspieler. Also, ich kann mir heute alles Mögliche merken. Aber, bis heute [sucht nach Worten] wüsste ich: Ich habe die gleiche Schwäche, dass ich irgendwo gerne Noten bei mir hätte. Ich hab’s halt mit’m Kopf gemacht. Und nicht mit den Fingern und nicht mit’m Bauch. Also kein Vollblutmusiker. […] Und da war ja noch der Nebenfachunterricht Klavier. Da hatte ich erst die Frau Kauer. Also die hab ich sehr gemocht. Ja, und dann hatte ich die Frau Paulsen. Und die beiden wussten ja: Das ist nicht Hauptfach. Also, ich muss nicht der große Crack werden. Sondern es geht darum, ein bestimmtes Verständnis zu entwickeln. Und beide Frauen waren für mich sehr beeindruckende Persönlichkeiten. Die habe ich geachtet, die habe ich respektiert. Und, ähm, ich glaub, dass die mich auch gemocht haben und mich irgendwo als sympathisches Kind in Erinnerung haben. Die haben ja auch auf andere Dinge geachtet. Das fand ich gut. Also da war nicht nur das Klavier.
Während die Person des Lehrers bei Herrn Schaller, Herrn Dürer sowie – mit leichten Abstrichen – auch bei Frau Trenkler und Herrn Leininger einen nicht wegzudenkenden, markanten Bezugspunkt in der instrumentalen Biografie darstellt, scheinen die beiden hier genannten Hauptfachlehrer im Leben von Frau Groß keine sonderlich prägende Rolle gespielt zu haben. Bezeichnenderweise kann sie sich nicht mehr erinnern, in welchem der Dresdner Orchester Herr Mörchen seinen Dienst tat. Und auf die Frage nach speziellen Erinnerungen antwortet sie in einer Weise, die nicht erkennen lässt, von welchem der beiden Lehrer sie nun eigentlich spricht. Beide erscheinen letztlich als austauschbar. Das mag damit zusammenhängen, dass Frau Groß bereits zum damaligen Zeitpunkt darüber Klarheit hatte, dass sie eigentlich keine Musikerin werden wollte – in der Tat arbeitet sie heute außerhalb des Musikbereichs. Gleichwohl fällt auf, dass sie den hier vorliegenden Interessenkonflikt nicht dem Hauptfachunterricht oder der Spezialschule anlastet. Frau Groß sucht die Ursache bei sich: Nicht sie hat es schwer mit ihren Lehrern, sondern diese haben es schwer mit ihr gehabt. Dennoch betont sie, dass sie in den Stunden mitgemacht und den Unterricht auch als bereichernd erlebt habe. Als Hauptgrund für ihre Bereitwilligkeit nennt sie nicht etwa ihre Faszination für die Musik, sondern ihren Leistungswillen, der seinerseits an Erwartungen der Eltern gekoppelt zu sein schien (ich hab meinen Eltern auch keinen Kummer gemacht an der Stelle). Der Unterricht repräsentiert für sie primär ein Gelände, das der Erprobung von Willensstärke und Durchhaltevermögen dient; eine intrinsische Motivation zum Musizieren scheint dabei nicht unbedingt vonnöten. In genau diesem Sinne rechnet es Frau Groß an einer späteren Stelle des Interviews zu den großen Vorzügen des Spezialschulsystems, dass man dort das Dranbleiben und Durchhalten gelernt hätte: Und dieses Gefühl, etwas zu machen, weil machen besser ist als nicht machen, das habe ich an der Spezialschule gelernt. Also das ist für mich eigentlich der Punkt, weshalb ich der Spezialschule bis heute dankbar bin. Eigentlich diese Lebensschule, diese Notwendigkeit, eine Herausforderung irgendwie anzunehmen und zu gucken: »Was mach ich daraus?«
Die geringe Bedeutung der inhaltlichen Dimension hat zur Konsequenz, dass sich Frau Groß nur blass und verschwommen an den Hauptfachunterricht erinnert. Sie muss zum Erzählen mehrfach ermuntert werden und was dann, begleitet von einem leichten Stöhnen, kommt, sind kaum mehr als Belanglosigkeiten (Man hat ja Haus-
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aufgaben aufbekommen. Oder hat eben sozusagen die Stücke geübt. Und das wurde dann bearbeitet, gearbeitet). Bezeichnend ist auch, dass sie die Ebene der konkreten Erinnerung gleich wieder verlässt und von sich und ihrem Übeverhalten spricht. Die Art und Weise, wie sie sich selbst als Musikerin thematisiert, ist dabei von einem durchweg statischen Selbstbild geprägt, bei dem man sich fragen kann, ob es die Konsequenz ihrer geringen Motivation ist oder ob umgekehrt die mangelnde Begeisterung fürs Instrument nicht auch die Folge eines Denkens ist, das den eigenen Orientierungsrahmen für im Grunde unveränderlich hält. Die Statik ihres Selbstbildes zeigt sich vor allem an der Tatsache, dass in Bezug auf die Musik mögliche Unterschiede zwischen ihrer Jugend und ihrer heutigen Perspektive grundsätzlich nicht thematisiert werden. Frau Groß geht davon aus, dass sie schon immer so war, wie sie heute ist und beschreibt ihren Orientierungsrahmen in einem zeitlosen Präsens. So bescheinigt sie sich, nicht der große Auswendigspieler zu sein, der auch heute noch gerne Noten bei sich hat – so, als wenn es sich beim Auswendigspielen nicht um eine Fähigkeit handelte, die zu einem Großteil entwickelbar wäre. Damit nicht genug, bezeichnet sie sich als keine Vollblutmusikerin, sondern vielmehr als einen Menschen, der alles eher mit’m Kopf gemacht habe und auch heute noch macht. Sie konzeptualisiert sich selbst damit als eine jener Nicht-Eingeweihten, die – in den Worten von Herrn Dürer – immer genau wissen wollten, wie setz ich den Finger und wie halte ich meinen Arm und blablabla. Ganz ähnlich wie im Fall von Herrn Dürer lässt sich aus ihren Interviewäußerungen eine latente Zweiteilung der Schülerschaft erschließen, wobei sie sich im Gegensatz zu ihm auf der Seite der Nicht-Eingeweihten verortet. Anders als Herr Schaller, Herr Dürer und Frau Trenkler sieht sie sich nicht als »echte« Musikerin; allerdings setzt sie ihren ganzen Willen und Ehrgeiz daran, dennoch jene Leistungen zu erbringen, die von den sich zur Musik berufen fühlenden Schülern erwartet werden. In deutlicher Antithese zu den Erfahrungen im Hauptfachunterricht steht dann, ganz wie bei Herrn Leininger, die Beschreibung des Nebenfachunterrichts Klavier. Durch ihre Aussage, dass sie hier nicht der große Crack werden musste, weist sie indirekt auf die Zielsetzungen hin, denen sie sich im Hauptfach ausgesetzt zu sein glaubte und denen sie dort durch die Mobilisierung von Willensstärke zu genügen suchte. In der Beschreibung ihrer beiden Nebenfachlehrerinnen schimmert zugleich etwas von dem Erwartungshorizont durch, den sie an eine Lehrer-Schüler-Beziehung knüpft, für den sie im Hauptfachunterricht jedoch keinen Platz sieht. So hebt sie als wichtigstes Kennzeichen hervor, dass die beiden Klavierlehrerinnen ja auch auf andere Dinge geachtet hätten und nicht nur aufs Klavier. Neben der Einschätzung, dass es im Klavierunterricht nicht um Hochleistung, sondern eher um das Erwecken eines bestimmten Verständnisses ging, thematisiert Frau Groß also vor allem die Tatsache, dass sie sich auch in musikalischer Hinsicht im Nebenfachunterricht als ganze Persönlichkeit wahrgenommen und respektiert fühlte. Vor diesem Hintergrund erscheint der Hauptfachunterricht, ebenfalls wie bei Herrn Leininger, als ein Ort, in dem anscheinend für derartige Aspekte kein Platz war. Frau Groß ist allerdings weit entfernt davon, dies ihren Hauptfachlehrern vorwerfen zu wollen, sondern hält eine derartige Ausklammerung des zwischenmenschlichen Bereichs im Hauptfach für etwas anscheinend Normales und Adäquates. Sie hat die Erwartungshaltung der Hauptfachlehrer damit in einer Weise verinnerlicht, dass selbst der positive Gegenhorizont des Nebenfachs nicht zu einer grundsätzlichen Kritik am Hauptfach führt. Pointiert gesprochen: Für den positiven Gegenhorizont des Klavier-
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unterrichts gibt es kein negatives Pendant. Bei Herrn Leininger ließ sich diese Paradoxie durch die oben beschriebene Ambivalenz zwischen Bewunderung und innerer Distanz gegenüber seinem Hauptfachlehrer erklären – eine Ambivalenz, die bis heute letztlich nicht überwunden erscheint. Anders Frau Groß: Sie löst die Paradoxie dadurch auf, dass sie sich selbst die Schuld gibt. Der Hauptfachunterricht war, so ihr Tenor, genauso okay wie der Nebenfachunterricht. Hätte sie mehr Interesse und Motivation mitgebracht, wäre es für sie kein Problem gewesen, dass dort zwischenmenschliche Aspekte keine nennenswerte Rolle gespielt haben. Mehr noch: Gerade diese mangelnde Berücksichtigung persönlicher Befindlichkeiten bezeichnet sie rückblickend als entscheidendes Qualitätsmerkmal der Spezialschulausbildung. Die Bezeichnung Lebensschule zeigt, dass es nicht so sehr die manifesten Inhalte der Spezialschulausbildung sind, von denen sie sich im Nachhinein geprägt sieht, als vielmehr ein »heimlicher Lehrplan«, der Sekundärqualitäten wie Durchhaltevermögen und Willensstärke förderte und dem sie, indem er derartige Tugenden zu entwickeln half, grundlegenden Einfluss auf ihre Biografie zuschreibt. Claudia Thalheim Also, ich hatte eine Lehrerin, die hab ich sehr gern gehabt, ne? Da bin ich so in der siebten Klasse zweimal in der Woche zum Hauptfach gegangen. Da bin ich in die Wohnung zu ihr gegangen und die hat sich auch so privat so’n bisschen gekümmert, ist dann mal mit mir ins Konzert gegangen, so. Die ist dann, äh, schwanger geworden. Und hat mich dann zum Prof. Bömmelmann gegeben. (…) Und, das muss [ich] jetzt mal so sagen (lacht): Das war das schlimmste Jahr meines Lebens bis dahin. Ja, äh, ich war einfach noch viel zu jung und zu, äh, … Ich konnte mit ihm nichts anfangen, er konnte mit mir nichts anfangen. Ich hatte regelmäßig, also wenn ich zum Hauptfach musste, morgens Durchfall. Ich hatte richtig Angst. Also das war richtig schlimm. Na ja, und da hat der mich nach dem Jahr wieder abgegeben zum Ingo Ochsenknecht. Und mit dem bin ich so eigentlich dann ganz gut klar gekommen. Ja, mal mehr, mal weniger, wie das halt so ist. Wie gesagt, ich bin also nie so der Durchstarter gewesen, hab einfach, ich war einfach zu faul. Muss ich sagen. Der Ochsenknecht hat schon auch die eine oder andere zynische Bemerkung machen können. Aber irgendwie, also mit ihm ging es dann besser. Aber so’n Hauptfachinstrument ist ja einfach wirklich sehr übungsintensiv und sehr … Ich hab dann viele Sachen einfach nicht eingesehen: Herrgott, und wenn dann mal ein falscher Ton drin ist, dann geht die Welt doch auch nicht unter davon. […] Mit anderen zusammen gespielt oder so, hab ich aber unheimlich gerne. Aber ich war halt nicht die Perfektion in Persona. Die Spezialschule hat mit Sicherheit das Selbstbewusstsein gestärkt. […] Also ich denke mal, man hatte schon das Gefühl, wenn du die Spezialschule überstanden hast, dann haste was geschafft. Und ich denke, das ist auch so. Das würde ich auf jeden Fall unterschreiben. […] Es wurde überwacht, dass geübt wurde und man hatte auch immer die Möglichkeit, wenn man dran war. Also das wurde gewährleistet und das war schon, ich denke, das ist auch ein Grund dieser na ja, man kann schon sagen: eigentlich Erfolgsgeschichte. Würde ich so sehen.
Zunächst fällt auf, dass Frau Thalheim in Bezug auf ihre Hauptfachlehrer an vorderer Stelle die Ebene des Zwischenmenschlichen thematisiert. Von ihrer ersten Lehrerin an der Spezialschule erfährt man nicht, ob sie fachlich kompetent war oder ob Frau Thalheim viel bei ihr gelernt hat. Wichtiger scheint ihr zu sein, dass sie ihre Lehrerin sehr gern gehabt hat und froh war, dass sie sich auch privat so’n bisschen gekümmert
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hat. In dieser Erwartungshaltung gleicht sie Frau Groß, die jedoch in Bezug auf den Hauptfachunterricht derartige Bedürfnisse für im Grunde inadäquat hält. Bevor sie auf den wegen der Schwangerschaft ihrer Lehrerin notwendig gewordenen Wechsel zu Prof. Bömmelmann eingeht, setzt Frau Thalheim ein großes verbales »Ausrufezeichen«, indem sie vorgreifend resümiert, das folgende Jahr sei das schlimmste ihres Lebens bis dahin gewesen. Das kurze Lachen, von dem diese Feststellung begleitet wird, lässt sich als eine gewisse Distanz zu ihren damaligen Gefühlen interpretieren. Frau Thalheim beschreibt ein emotional belastendes Erlebnis, relativiert aber zugleich dessen Bedeutung für die weitere Biografie. Deutlich sichtbar wird diese Selbstentlastung an der nachgeschobenen rationalen Erklärung, sie sei für einen Unterricht bei Prof. Bömmelmann einfach noch zu jung gewesen. Auch wenn es damals schlimm für sie war, hatte es anscheinend schon seine Richtigkeit damit, dass es nicht geklappt hat. Wie sich bereits bei Frau Groß – und in anderer Form auch bei Herrn Leininger – beobachten ließ, so fällt auch hier auf, dass davor zurückgeschreckt wird, den Hauptfachunterricht bei aller Kritik und bei allen belastenden Erlebnissen als negativen Gegenhorizont zu etablieren. Ebenso wie Frau Groß sucht auch Frau Thalheim die Ursache für das Misslingen vor allem bei sich. Die Episode bei Prof. Bömmelmann wird einseitig beendet, Frau Thalheim selbst scheint weder bei der Beendigung des Unterrichtsverhältnisses noch bei der Wahl des neuen Lehrers ein Mitspracherecht gehabt zu haben. (Man vergleiche das mit der Selbstständigkeit, in der Frau Trenkler sich »ihren« neuen Lehrer suchte!) Die Charakterisierung des anschließenden Unterrichts bei Herrn Ochsenknecht trägt einen moderat-temperierten Charakter. Es fehlt die zwischenmenschliche Wärme, die bei ihrer ersten Spezialschullehrerin im Vordergrund stand, aber auch die Angst, die bei Bömmelmann dominierte. Frau Thalheim schildert ein Auf und Ab (mal mehr, mal weniger), dem sie einen quasi allgemeingültigen Charakter verleiht (wie das halt so ist). Damit beschreibt sie den Hauptfachunterricht als eine im weitesten Sinne »normalisierte« Angelegenheit – als ein Geschäft, bei dem keine besonderen musikalischen Höhenflüge zu erwarten sind, sondern bei dem die »Mühen der Ebene« dominieren. Den Grund für diese Normalität sucht Frau Thalheim auch wieder bei sich: Wäre sie eine Durchstarterin gewesen, sei es wahrscheinlich anders gelaufen. Mit dieser Selbstzuschreibung deutet sie an, dass auch sie eine latente Zweiklassenstruktur verinnerlicht hat: die Durchstarter und das einfache Fußvolk, dem sie sich rückblickend als zugehörig beschreibt. Sie erklärt diesen Status vor allem durch ihre Übefaulheit. Damit lenkt sie auf ein Thema, das im Laufe ihres Interviews immer wieder anklingt. Sieht sie sich auf der einen Seite als notorisch faul, so erscheint die Spezialschule in ihrem Rückblick andererseits als der Ort, der ihr die Möglichkeit gab, diese Faulheit zu überwinden. Als Grund für die Erfolgsgeschichte der Spezialschule wird von ihr nicht etwa der qualifizierte Unterricht oder die Vereinbarkeit von Schule und professioneller Musikausbildung genannt, sondern vor allem die permanente Verpflichtung zum Üben. Auch dies ist als eine Aussage zu bewerten, die in erster Linie etwas über sie selbst verrät: Die Spezialschule wird von ihr als eine Arena charakterisiert, in der sie lernen musste, mit ihren inneren Widerständen gegenüber einem an Perfektionsmaßstäben ausgerichteten Üben klarzukommen. Im Unterschied zu den Erinnerungen von Frau Groß, die keinerlei Anzeichen einer echten Motivation für die Musik und ihr Instrument erkennen lassen, hat Frau Thalheim jedoch unheimlich gerne mit anderen zusammen musiziert und anscheinend alle sich
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bietenden Gelegenheiten zum gemeinsamen Musizieren genutzt. Motivationsprobleme tauchen bei ihr ausschließlich im Zusammenhang mit dem Üben und dem Hauptfachunterricht auf. Wie Frau Groß zieht sie aber gerade aus ihrer Selbstüberwindung, aus dem Gefühl, die Spezialschule geschafft zu haben, ein hohes Maß an Genugtuung. Ihr ausgeprägtes Enaktierungspotenzial verdankt sie also nicht dem Hauptfachunterricht; auf welche Ursachen es zurückzuführen ist, werden wir in den kommenden Kapiteln genauer untersuchen. Udo Innstedt Also, ich bin ein sehr introvertierter Mensch. Also, der auch ein sehr reiches Innenleben hat und der sehr oft auch in seinem Inneren ist. Und in meinen Zeugnissen steht sehr oft drin: »Er könnte.« Und heut stell ich mir die Frage: »Ja warum hab ich nicht, wenn ich könnte?« Das ist ja kein böser Wille. Und ich denk mal, dieses »er könnte«, das muss auch meine Hauptfachlehrerin, die Friederike Lenz, gedacht haben. Weil, manuell bin ich sehr geschickt und kann auch sehr schnell spielen. Und das müssen die irgendwie erkannt haben und haben das ausgebeutet. Ich sag das mal so streng. Und ich kann mich erinnern, dass wir dort stundenlang manchmal an Details gearbeitet haben, die muss also sehr perfektionistisch veranlagt gewesen sein. Ich weiß es nicht. Oder die hat was erwartet, vielleicht ein künstlerisches Verständnis des Werkes oder eine gewisse Freiwilligkeit des Herangehens. […] Auf der einen Seite hat die Spezialschule mein Leben total verändert, bereichert, und ich trauer dem nicht nach und ich find das alles klasse. Aber auf der anderen Seite gibt’s in der Musik einen Punkt, wo ich das Gefühl hab, dass 80 Prozent aller Leute, die mit mir umgegangen sind, als Lehrer, als Betreuer und so, die wollten immer was von mir. Na, das ist, wie wenn man [einen] Menschen sieht und man traut dem irgendwas zu. Ob der das aber selber will, das weiß man ja nicht. […] Währenddessen, ich kann mich dran erinnern, da hat der Norbert Siegmund, bevor der nach Moskau zum Studium gegangen ist, im Plenarsaal in Dresden, im Rathaus, ein sogenanntes Abschiedskonzert gegeben. Da haben wir uns gefragt: »Na warum fährt’n der dorthin studieren? Der kann doch schon spielen!« Na? Das sind also ganz andre Kaliber geworden. Und das sind die aber auch schon damals gewesen. Genau wie der Burkhard Völkel, der war damals schon wie … (kurzes Auflachen) – sag ich mal in Anführungsstrichen – wie so’n »weiser Uhu«. Das ist ein ganz anderer Musiker schon damals gewesen als wir. […] Aber es gab auch Lehrer, die achteten jeden als, wie soll ich das sagen, als Persönlichkeit oder als Individuum. […] Da war etwa der Prof. Heinrich, bei dem wir Improvisation hatten. Da hatte ich immer für mich das Gefühl: Der nimmt mich so, wie ich bin. Und da kann ich mich erinnern an ’nen Moment – wir haben dann immer mal so was vorimprovisieren müssen – da hab ich so frei improvisiert, aber wirklich frei im Sinne von abstrakt kann man fast sagen. Das muss eine ganze kleine Sonate gewesen sein, also mehrsätzig. Und was mich dann eben so fasziniert hat, wie er dann sagt: »Sehr schön. Gut.« Und damit war das erledigt. Und ich wusste: Der meint das so. Bei all dem, was man jetzt vielleicht hätte noch ändern können von der Struktur, vom Klang oder irgendwie. Man kann ja, wenn man improvisiert, auch an diesen Dingen arbeiten. Und bei meiner Hauptfachlehrerin hatte ich hingegen immer das Gefühl, die wollte mit mir was erreichen.
Wie Herr Leininger, Frau Groß und Frau Thalheim, so kommt auch Herr Innstedt erst sehr spät im Interviewverlauf – und hier auch erst auf explizite Nachfrage – auf den Hauptfachunterricht zu sprechen. Bei ihm ist diese späte Thematisierung aber in-
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sofern besonders auffällig, als er gleich zu Beginn des Interviews – in der Eingangserzählung – von sich aus auf die fantastischen Lehrer an der Spezialschule zu sprechen kommt und der Leser bzw. Hörer des Interviews erst einige Zeit benötigt, um festzustellen, dass hiermit gar nicht die Instrumentallehrer, sondern die Lehrer im allgemeinbildenden Bereich gemeint sind. Wenn es dann, fast schon gegen Ende, dann doch endlich zum Thema Hauptfachunterricht kommt, fallen zunächst Vorwarnungen wie: Jetzt werden wir mal konkret, das müssen Sie nicht mitschneiden. Es scheint für Herrn Innstedt nicht ganz leicht zu sein, nach seinen anfänglichen Hymnen auf die Spezialschule nun etwas Negatives sagen zu müssen – und dann auch noch in Bezug auf einen so wichtigen Kernbereich. Was er dann inhaltlich anmerkt, ist – hierin den beiden vorangegangenen Fällen absolut vergleichbar – zunächst einmal deutlich durch die Fußvolk-Perspektive geprägt, die auch er fest verinnerlicht hat. Wie Frau Thalheim und – von der anderen Seite aus – auch Herr Dürer scheiden sich für Herrn Innstedt die Spezialschüler in jene, die schon als Jugendliche ganz andere Kaliber bzw. ganz andere Musiker waren und den Rest. Für diesen Rest wird, im Sinne einer kollektiven Identität, die erste Person Plural verwendet (Da haben wir uns gefragt […], das ist ein ganz anderer Musiker schon damals gewesen als wir). Man beachte, dass es sich hier um ein ganz anderes »Wir« als bei Herrn Schaller handelt: Dort fungierte es als Verabsolutierung des eigenen überaus leistungsstarken Orientierungsrahmens, wobei andere Rahmen quasi nicht zur Kenntnis genommen wurden. Hier gilt es jetzt den laut Selbsteinschätzung weniger Bemittelten, die aber gerade dadurch, dass sie in der ersten Person Plural erscheinen, als dominierende Gruppe präsentiert werden, der einige wenige namentlich genannte Mitschüler gegenüberstehen. Und ebenso wie Frau Thalheim und Frau Groß beschreibt Herr Innstedt den Hauptfachunterricht unter dem Gesichtspunkt einer nur sehr eingeschränkt funktionierenden Passung: Auch wenn er seiner eigenen Ansicht nach wichtige Voraussetzungen (manuell sehr geschickt) mitbrachte und sich willig darauf eingelassen hat, mit seiner Lehrerin stundenlang manchmal […] an Details [zu arbeiten], bleibt bei ihm dennoch das Gefühl zurück, dass sich sein reiches Innenleben nicht vollständig mit den Anforderungen des Hauptfachunterrichts verbinden konnte. Gerade die Thematisierung dieses Innenlebens offenbart jedoch einen wichtigen Unterschied zu den beiden vorangegangenen Fällen. Während Frau Groß und Frau Thalheim den Hauptfachunterricht auch aus heutiger Perspektive im Sinne einer feststehenden und im Grunde nicht zu kritisierenden Instanz betrachten und die Ursache für die von ihnen dargestellten Schwierigkeiten nahezu ausschließlich bei sich selbst suchen, geht Herr Innstedt von seinem eigenen Innenleben als Fixpunkt aus und stellt sich davon ausgehend die Frage, warum es der Lehrerin im Hauptfachunterricht eigentlich nicht gelungen ist, an dieses Innenleben heranzukommen. Für Frau Groß und Frau Thalheim sind es statische Selbstzuschreibungen wie keine Vollblutmusikerin oder Faulheit, die als Gründe für die eingeschränkte Passung fungieren. Herr Innstedt hingegen wendet die von ihm aufgeworfene Frage (Ja warum hab ich nicht, wenn ich könnte?) nicht gegen sich, sondern gegen die Institution: 80 Prozent aller Leute, die mit mir [in musikalischer Hinsicht] umgegangen sind, als Lehrer, als Betreuer und so, die wollten immer was von mir. Es fällt auf, dass er hier, wo es doch um seinen Hauptfachunterricht – mithin um eine ganz konkrete Lehrer-Schüler-Beziehung – geht, sehr schnell die Dyade zwischen ihm und seiner Lehrerin, Frau Lenz, verlässt.
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Der Einzelfall wird als etwas dargestellt, was in seinen Augen für einen Großteil der musikalischen Lehrer und Betreuer an der Spezialschule zutraf. Er erscheint als systemtypisch. Dass sich diese doch recht massive Kritik im Kontext des Interviews dennoch nicht zu einem Gesamturteil über die Spezialschule verdichtet, hat drei Gründe: Zum einen findet Herr Innstedt, hierin den Nebenfach-Erinnerungen von Herrn Leininger und Frau Groß vergleichbar, im Improvisationsunterricht bei Prof. Heinrich einen positiven Gegenhorizont, durch den er das Gefühl erhält, als Persönlichkeit und Individuum geachtet zu werden. Interessanterweise handelt es sich auch hier wieder um einen Bereich, der an Wichtigkeit und Bedeutung dem Hauptfachunterricht deutlich untergeordnet war. Im Hauptfachunterricht scheint eine derartige Akzeptanz und Würdigung der Schülerpersönlichkeit weit weniger selbstverständlich gewesen zu sein. Zweitens machen die Erlebnisse im Hauptfach für Herrn Innstedt nur einen kleinen Teil seiner Spezialschulerfahrungen aus. Wie noch genauer zu sehen sein wird, ist die große Bildungserfahrung, die er seiner Spezialschulzeit zuschreibt, vor allem durch die allgemeinbildenden Fächer geprägt worden – und hier in erster Linie durch die Fächer Kunst und Deutsch. Die Faszination, die diese Fächer auf ihn ausübten, ist nicht allein durch die Qualität des Unterrichts zu erklären und auch nicht nur durch seine spezifische Interessenlage. Die soziogenetische Typenbildung wird zeigen, dass es vor allem das in diesen Fächern besonders zutage tretende bildungsbürgerliche Kulturbewusstsein war, das auf ihn – einem Kind aus einem Elternhaus mit eher kleinbürgerlichem Lebensstil – wie eine Offenbarung wirkte. Und drittens – auch dies wird im Rahmen der soziogenetischen Typenbildung noch genauer erörtert werden – hat Herr Innstedt im Gegensatz zu Frau Thalheim oder Frau Groß durch seine spätere Tätigkeit als Musikschullehrer ein Verständnis instrumentaler Lernprozesse gewonnen, das auch seine eigene Entwicklung als Musiker positiv beeinflusst hat. Die Erfahrung, sich in diesem Bereich verändert haben zu können, führt dazu, dass die negative Sicht auf den Hauptfachunterricht nicht das letzte Wort behält. Die Hauptfacherfahrungen seiner Spezialschulzeit beherrschen Herrn Innstedt also nicht, sondern werden in ein Gesamtbild integriert, bei dem spätere Erkenntnisse und andere Aspekte der Spezialschule deutlich die Oberhand besitzen. Hans Trescher Und ich hab relativ viel geübt. Also ich würde sagen, ich hab bestimmt mehr geübt als manche andere, die halt auch so da waren, also, die jetzt die Durchschnittstalente waren. Und ich hab mir da selber auch vielleicht bisschen Druck gemacht, aber ich hab’s auch ein bissel als Druck empfunden. (…) Wobei mein Hauptfachlehrer das nicht künstlich forciert hat, das kann man jetzt nicht sagen. Aber trotzdem schwebte das halt immer so mit, dass ich viel üben muss, um mitzuhalten. Und ich hab das natürlich auch gemerkt, wenn ich so andere spielen gehört hab, dass die natürlich weiter waren. Also, vor mir war immer so’n Supertalent, das hat mich sehr fasziniert. Einfach, wie der gespielt hat. Der hat auch sehr verinnerlicht gespielt, und das wollte ich auch gern können. Also, es war jetzt nicht unbedingt so, dass ich mir so’n Druck auch gemacht hab, um jetzt ’ne gute Note zu haben oder ’ne gute Punktzahl oder besser zu sein als der eine oder andere Schüler, sondern ich wollte es gern können. Und ich hab gemerkt, dass ich’s nicht kann oder dass vieles nicht funktioniert. Und ich weiß auch, was schwierig war.
108 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Mein Lehrer wollte mich natürlich dann auch so, ähm, na ja, motivieren oder auch mir Mut machen oder was. Und ich weiß noch, dass ich dann aufgrund meines Fleißes halt auch gelobt wurde, aber das sind ja zwei verschiedene Sachen: Das, was man kann und das, was man investiert. Und das war dann für mich manchmal schwierig so als Orientierung. Also, ich hätte manchmal lieber gern was Negatives gehört und nur dann, dass es gut war, wenn’s auch gut war. Und diese Rückmeldung, die war jetzt nicht immer so authentisch für mich, und das hat einen auch manchmal verunsichert, dann eben, so dass man auch, wenn man jetzt vielleicht ein Lob gekriegt hat, an dem auch gezweifelt hat. Also dass ist so praktisch die negative Seite, wenn man jemanden aus gut gemeinten, psychologischen Gründen jetzt irgendwie motivieren will. […] Man wollte an der Spezialschule die Talente eben so [ein] bissel ausfiltern, möglichst zeitig, ne? Und das war vielleicht auch nicht schlecht, aber ich bin sehr skeptisch, dass das so funktioniert oder dass das in der Form gut war. Weil: Ich bin eben der Meinung bis heute, dass das vielleicht im Sport, aber nicht in der Musik so funktioniert. Bei Musik kann man mit Fleiß nur bedingt was erreichen. Also ich bin der Meinung, dass die Begabung entscheidend ist. Was man auch immer alles dazu zählt. Auch die motorische Begabung ist da sehr wichtig, also nicht nur, dass man gut hört und so was alles. Natürlich muss man was tun und braucht ’nen guten Unterricht, alles klar. Aber man kann das nur bedingt, meiner Meinung nach, verbessern oder auf ein gewisses Level bringen. Und das ist auch das, was ich beobachtet hab. Also ich hab einmal gesehen, in der sechsten Klasse, wir hatten da ein paar Stars, die eben halt damals schon die Supertalente waren. Die sitzen jetzt in der Staatskapelle. Und die damals Mittelmaß waren, die sind es bis heute.
Die in vielen der bisher erörterten Fälle hervortretende Zweiklassenstruktur wird in diesem Beispiel besonders deutlich: Herr Trescher unterteilt die Spezialschüler in die Supertalente und die Durchschnittstalente, wobei er sich selbst am unteren Rand der letztgenannten Gruppe positioniert, denn er musste viel üben, um mitzuhalten. Der Talentbegriff, der im ganzen Interview mit ihm sehr häufig fällt, weist – wie in den Fällen von Herrn Dürer und Frau Groß – auf ein ausgeprägt statisches Selbstbild hin: Ein Bild, das von der Grundannahme getragen ist, dass Begabungs- und Leistungsgrenzen vordefiniert sind und sich einer grundsätzlichen Veränderbarkeit entziehen. Diese Überzeugung verleiht der Darstellung seines extensiven Übens einen latent verzweifelten Charakter. Die unermüdliche Arbeit soll etwas kompensieren, was sich laut seiner eigenen späteren Überzeugung im Grunde nicht kompensieren lässt. Verzweifelt ist die Handlungsstrategie des verstärkten Übens vor allem deshalb, weil sie weniger von außen an ihn herangetragen, sondern von ihm selbst vollständig internalisiert wurde: Und ich hab mir da selber auch vielleicht bisschen Druck gemacht. Im Unterschied zu Frau Thalheim und Frau Groß gelingt es Hans Trescher nicht, die Sinnhaftigkeit der Hauptfachausbildung in der Erfüllung eines von außen vorgegebenen Leistungsanspruchs zu suchen. Obgleich auch er die Spezialschule bis zum Ende durchlaufen hat, kommt es bei ihm nicht zu der befriedigenden Gewissheit von Frau Thalheim, die sich sagen kann, wenn du die Spezialschule überstanden hast, dann haste was geschafft. Stattdessen scheint sein Üben an der Spezialschule von dem Wunsch begleitet gewesen zu sein, den Level der Supertalente – wenn die »Begabung« schon nicht entsprechend war – durch besonders harte Arbeit erreichen zu können: Also, zum Beispiel vor mir war immer so’n Supertalent, das hat mich sehr fasziniert. Einfach, wie der gespielt hat. Der hat auch sehr verin-
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nerlicht gespielt, und das wollte ich auch gern können. Herrn Trescher geht es um die Sache. Er ist fasziniert von dem Spiel weiter fortgeschrittener Schüler und setzt alles daran, deren musikalische und instrumentale Qualitäten zu erreichen, obgleich er im Nachhinein zu dem Schluss kommt, dass sich Begabungsunterschiede nicht durch Fleiß ausgleichen lassen. Bei seinem angestrengten Üben fühlt er sich von seinem Lehrer jedoch nur unzureichend unterstützt. Gerade die aufmunternd gemeinten Feedbacks und das häufige Loben seines Fleißes werden von ihm nicht als Ansporn empfunden. Sie scheinen eher seine Eigenschaft als Durchschnittstalent zu sanktionieren, nach dem Motto: »Für Deine (eingeschränkten) Möglichkeiten machst Du das richtig gut!« Im Unterschied zu allen anderen bisher diskutierten Fällen bleibt in Hans Treschers Rückblick ein Stachel zurück. Er hat sich zwar nach besten Kräften bemüht und auch die Schule bis zum Ende durchlaufen, aber es ist dennoch keine Erfolgsgeschichte, die er erzählt. Der Hauptfachunterricht ist kein Ort zwischen Ebenbürtigen (Herr Schaller), zwischen strengem Meister und erfolgversprechendem Adepten (Herr Dürer), zwischen Orchesterpraktiker und künftiger Kollegin (Frau Trenkler); er ist keine »Lebensschule«, an der man das Durchhalten lernen kann (Frau Groß und Frau Thalheim) und er lässt sich auch nicht durch die menschlichkünstlerischen Erfahrungen im Nebenfach bzw. durch die Bildungserlebnisse im allgemeinbildenden Bereich kompensieren (Herr Leininger und Herr Innstedt). Er ist vielmehr ein Schauplatz, der ihn permanent mit dem Gefühl des Nicht-GenügenKönnens konfrontiert, ohne dass es einen Ausgleich gäbe. Der zitierte Ausschnitt lässt nicht erkennen, ob das hier diagnostizierte statische Selbstbild bereits während der Spezialschulzeit das Denken Hans Treschers prägte oder sich erst später herausbildete und rückblickend auf die Spezialschulzeit projiziert wird. Allerdings zeigt das Interview, das wir parallel mit seinem damaligen Lehrer führen konnten, dass sowohl die quasi selbstverständliche Unterteilung in die Supertalente und das Mittelmaß als auch seine implizite Überzeugung, dass diese Begabungen den möglichen Leistungslevel im Vorhinein definieren, auch dort in nahezu identischen Formulierungen auftreten. Immer wieder werden Schüler dort vor jeder anderen Kennzeichnung als große, mitunter gar herrliche bzw. eben nur durchschnittliche Begabungen charakterisiert. Der Begabungsbegriff scheint für Lehrer und Schüler so etwas wie ein fest implementiertes Koordinatensystem darzustellen, das vor allen anderen Beurteilungsmaßstäben, die ja immerhin auch denkbar wären, zur Anwendung gelangt. Irene Dahlke Und vor der Lehrerin hatte ich am Anfang Angst, weiß ich. Ich hab eine ganz große Hochachtung vor der Frau, aber am Anfang war die mir unheimlich. Eigentlich war das ’ne ganz herzliche Frau auch, aber extrem ehrgeizig, konsequent. Musste sie ja auch sein. Aber ich wollte ja nicht. Aber es wurde dann halt gemacht. Und dann hab ich dort erst mal – ich denke, schon ein halbes Jahr oder so – nur technische Übungen gemacht. Ich nehme mal an, das war so ’ne isolierte Fingertechnik, die ich da bei meinem vorhergehenden Lehrer gelernt hab. Und das musste dann eben mehr und mehr auf Armbeteiligung und so weiter umgestellt werden, aber mir ist das nicht so bewusst gewesen. Und ja, im Prinzip hat sich da sicher ’ne ganze Menge getan. […] Meine Lehrerin war dann der Meinung, sie kann jetzt nicht mehr so viel für mich Neues tun und hat mich abgegeben an den Professor Ullrich. Ich sag’s ganz ehrlich: Ich erinnere
110 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE mich nicht daran, dass ich da persönlich Probleme gehabt hätte, aber anscheinend wurde ich schlechter in der Leistung. Ich hab noch ’nen Brief von meiner alten Lehrerin gefunden, in dem stand: »Wir wissen doch alle, dass du viel mehr kannst und dass du nicht deine Leistung gezeigt hast.« Und so. Und dann hat sie sich dafür eingesetzt, zusammen mit meiner Mutter, dass ich von meinem Lehrer wieder weg kam. Zum Burkhardt. Und der war ja natürlich in Dresden schon die oberste Instanz, also, was das Künstlerische betraf und so. Ist also auch ein toller Unterricht gewesen. Wobei ich mit vielen anderen immer so das Gefühl hatte, dem genügst du sowieso nicht. Das ist immer alles, äh, viel zu wenig durchgearbeitet und viel zu wenig. Aber ich denke, er hatte halt auch meistens erwachsene Schüler und so. In der achten Klasse war ich dann dort. Das war selbstverständlich, dass das (…) bei mir so ankam, aber ich glaube, der hat schon auch, äh, ähm, viel von mir gehalten. Hat das mir auch gezeigt und mich bestärkt. Aber es war halt schon ’ne Herausforderung bei ihm. […] Ich hab an der Spezialschule nie das Gefühl gehabt, es geht jetzt hier um mich oder um meine Wünsche, sondern das wurde eben festgelegt, was jetzt dran ist. Und wenn’s Wettbewerbe gab, dann war das nicht, äh, irgendwie um den Leuten da einen Gefallen zu tun, die da spielen, sondern eben »für unsere DDR« und so weiter und man hatte da schon zu funktionieren. Und das Ärgerliche ist halt, wenn man mal nicht so funktioniert hat, dann wurde eben nicht nachgefragt, sondern dann hieß es eben: Es wird erwartet, dass das wieder besser wird. Und es gab also da kaum jemanden, der sich dann mal gekümmert hat, woran könnte das denn liegen? Man kann ja nicht erwarten, dass man das selber rausfindet, in dem Alter. […] Ich hätte mir schon gewünscht, dass ein Lehrer sich unabhängig von den Vorgaben, die da waren, mit seinen Schülern vielleicht noch mal in eine andere Richtung beschäftigt hätte.
Auch in diesem Interview wird zunächst der Aspekt der Fremdbestimmung im Hauptfach thematisiert: Frau Dahlke schildert die beklemmenden Gefühle gegenüber ihrer ersten Lehrerin, von der sie erst später noch eine ganz andere Seite kennenlernte. Obgleich sie aus der rückwärtigen Perspektive Verständnis für deren Ehrgeiz und Konsequenz äußert (musste sie ja auch sein …), dominiert zunächst ein starker Widerwille gegenüber dem Unterrichtsstil der Lehrerin (aber ich wollte ja nicht). Bezeichnenderweise hat Frau Dahlke nur noch ganz unscharfe Erinnerungen an die musikalisch-technischen Inhalte dieses frühen Spezialschulunterrichts. Ihre Begründung, warum sie ein halbes Jahr nur technische Übungen machen musste, mutet eher wie eine später nachgereichte Deutung an (ich nehme mal an …), die rückwirkend erklären soll, was ihr damals unverständlich blieb. Auch ihre Aussage im Prinzip hat sich da sicher ’ne ganze Menge getan, zielt nicht auf das unmittelbare damalige Erleben ihrer instrumentalen Entwicklung ab. Wüsste man es nicht aus dem Zusammenhang, so würde man nicht unbedingt denken, dass Frau Dahlke hier über den eigenen Entwicklungsfortschritt spricht; eher drängt sich angesichts der distanzierten Ausdrucksweise der Eindruck auf, dass sie über einen Dritten urteilt. Auffallend auch, dass sie kein Wort über den gewiss nicht der Norm entsprechenden Umstand verliert, dass ihre Lehrerin sie abgab, weil sie jetzt nicht mehr so viel Neues für sie tun [konnte]. Dass sie eine für ihr Alter anscheinend außergewöhnlich weit fortgeschrittene Instrumentalistin war, wird nicht einmal andeutungsweise erwähnt; es scheint ihr nicht wichtig zu sein. Stattdessen dominieren auch bei der Beschreibung des nun folgenden Unterrichts bei Prof. Ullrich die Erinnerungslücken. Frau Dahlke kann sich nicht mehr daran erinnern, dass sie auf dem Instrument schlechter wurde. Sie benötigt den Rückgriff auf ein außenstehendes Urteil (den Brief ihrer ehemaligen Lehrerin), um
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ihre eigene Entwicklung verifizieren zu können. Die emotionale Bindung an das Instrumentalspiel scheint trotz hoher Leistungsfähigkeit insgesamt so gering gewesen zu sein, dass detailgenaue Erinnerungen für sie kaum möglich sind. Das ändert sich jedoch bei der nun folgenden Beschreibung des Unterrichts bei Prof. Burkhardt. Obwohl auch dieser Wechsel ohne ihr Zutun, sondern auf Betreiben der ehemaligen Lehrerin und ihrer Mutter erfolgte, und obwohl auch hier durchaus Selbstzweifel anklingen ([ich hatte] immer so das Gefühl […], dem genügst du sowieso nicht), dominieren hier plötzlich respektvolle und begeisterte Kennzeichnungen. Man spürt trotz aller Selbstzweifel dennoch die Befriedigung und den Stolz darüber, dass Prof. Burkhardt, der doch sonst nur ältere Schüler unterrichtete, viel von ihr gehalten hat. Umso auffallender ist es allerdings, dass in Frau Dahlkes Resümee ihrer Spezialschulzeit diese doch anscheinend so wichtige Episode keinen nennenswerten Widerhall findet. Stattdessen steht hier wieder die Fremdbestimmung im Zentrum. Es stellt sich damit die Frage, ob Frau Dahlke ihren Lehrer Prof. Burkhardt innerlich überhaupt der Sphäre der Spezialschule zurechnete. Man hat eher den Eindruck, dass sie ihn als jemanden wahrnahm, der über den Dingen schwebte. Dazu passt, dass sie ihn nicht etwa als den besten Lehrer der Spezialschule, sondern als oberste Instanz in Dresden charakterisiert. Er scheint auf jeden Fall nicht gemeint zu sein, wenn Frau Dahlke rückblickend beklagt, an der Spezialschule hätte sich niemand erkundigt, woran es liegen könnte, wenn es mal nicht gut lief. Und bestimmt gehörte er auch nicht zu denjenigen, der bei Wettbewerben den Slogan für unsere DDR ausgab. Ohne dass es ihr möglicherweise selbst bewusst ist, errichtet Frau Dahlke durch die Art und Weise ihrer Formulierung eine feine Differenzlinie zwischen den Akteuren, die sie dem Spezialschulsystem zurechnet, und der bewunderten Künstlergestalt von Prof. Burkhardt, der zwar an der Spezialschule unterrichtete, aber anscheinend doch als eine Instanz sui generis von ihr wahrgenommen wird. Darin ähneln ihre Äußerungen – trotz aller sonstigen Unterschiede – denen von Herrn Schaller und vor allem von Frau Trenkler, die ihre Lehrer ja ebenfalls nicht primär als Vertreter des Schulsystems wahrnahmen. Auch bei Herrn Dürer bot der Hauptfachunterricht den Anlass für eine Differenzsetzung. Während seine Selektion jedoch auf eine Unterteilung der Schülerschaft abzielte (Auserwählte vs. Unberufene), so geht es Frau Dahlke um die Herauslösung ihres Lehrers aus dem Schulkontext. Der Grund für diesen unterschiedlichen Ansatzpunkt liegt vermutlich in der Tatsache, dass Herr Dürer als ein hochgradig motivierter Instrumentalist den Aspekt der Fremdbestimmung, der bei Frau Dahlke so unübersehbar im Zentrum steht, an der Spezialschule nicht kennengelernt hat, und daher keinen Grund sieht, zwischen der Schule und seinem Lehrer, Prof. Bentheim, einen Unterschied machen zu müssen. Sein Ansatzpunkt ist die Unterscheidung der Schülerschaft in solche, die als »echte« Musiker die Sprache der Eingeweihten sprechen, und dem Rest. Frau Dahlke hingegen verfügt über keinen selbstbestimmten Zugang zum Instrument. Obgleich sie an der Spezialschule sehr erfolgreich ist und bereits früh vielversprechende Leistungen zeigt, sieht sie sich immer wieder mit Ansprüchen konfrontiert, denen sie zu genügen sucht, obgleich sich ihr Orientierungsrahmen innerlich dagegen aufbäumt. Das verbindet sie, obgleich ihr Fall so ganz anders gelagert erscheint, weit eher mit Hans Trescher als mit anderen »Leistungsträgern« wie beispielsweise Christian Schaller.
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3.2.2 Konjunktive Elemente der erörterten Fälle Auf den ersten Blick ist es sicher nicht weiter überraschend, wenn die Akteure einer Spezialschule zwischen »besonderen« Leistungsträgern und eher »durchschnittlichen« Schülern unterscheiden. Solche Hierarchisierungen sind für Institutionen, an denen es um die Hervorbringung von Spitzenleistungen geht, typisch, und es wäre eher ungewöhnlich, wenn sich an der Dresdner Spezialschule derartige Unterscheidungen nicht gefunden hätten. Auffallend ist allerdings, dass in der Mehrzahl der hier wiedergegebenen Textausschnitte mit dieser Differenzierung anscheinend implizit ein weiteres Urteil verknüpft wird: Viele der Befragten deuten nämlich an, dass für sie die Zugehörigkeit zum Durchschnitt mit einer vergleichsweise eingeschränkten Teilhabe an den Lernmöglichkeiten des Hauptfachunterrichts verbunden ist. Bei Herrn Dürer tritt das ganz offensichtlich in Erscheinung: Wer nicht aus sich heraus schon ein Eingeweihter – und damit über den Durchschnitt herausragend – war, konnte, so der Tenor seiner Darstellung, aus dem Unterricht von Prof. Bentheim keinen vollgültigen Profit ziehen. Nicht ganz so offensichtlich, aber dennoch greifbar ist diese Überzeugung auch bei Frau Groß und Frau Thalheim: Das Selbsturteil, dass sie keine Vollblutmusikerin sei und daher bereits während der Spezialschulzeit an berufliche Alternativen gedacht habe, dient Frau Groß als »Argument« dafür, dass sie ihren Lehrern keine Freude gemacht hätte – und umgekehrt. Die Möglichkeit eines erfüllenden Hauptfachunterrichts wird damit letztlich an eine Bringschuld des Schülers geknüpft. Pointiert formuliert: Wer nicht bereits aus sich selbst heraus ein hochmotivierter Vollblutmusiker ist, braucht sich nicht zu wundern, wenn es im Unterricht zwischen ihm und dem Lehrer nicht so ganz rund läuft. Frau Groß scheint es definitiv nicht zur Aufgabe des Hauptfachlehrers zu rechnen, Motivation und Begeisterung zu entzünden. Wer das nicht von alleine mitbringt, kann zwar – so wie sie – über die Mobilisierung von Willensstärke versuchen, einen bestimmten Leistungslevel zu erbringen. Keinesfalls aber handelt es sich hier um eine Einstellung, die von Schüler und Lehrer gemeinsam bearbeitet werden müsste. Ganz ähnlich bei Frau Thalheim: Die Tatsache, dass sie keine Durchstarterin und einfach zu faul war, wird von ihr als Begründung für die Tatsache genannt, dass es im Unterricht mal besser, mal schlechter lief. Der unausgesprochene Umkehrschluss hieße: Erfüllenden Unterricht gibt es nur für bienenfleißige Durchstarter. Die Anderen, sie selbst eingeschlossen, müssen mit einem weniger inspirierenden und primär dem Erreichen eines bestimmten Leistungslevels verpflichteten Unterricht vorlieb nehmen. Herr Trescher erlebt den Unterricht nicht als Treffpunkt, der an seine persönlichen Voraussetzungen anknüpft, sondern als einen Ort, der ihm permanent seinen Rückstand gegenüber den Supertalenten vor Augen führt. Da helfen auch die gut gemeinten Aufmunterungen seines Lehrers nichts, im Gegenteil: Diese bringen, weil sie als nicht authentisch empfunden werden, die Differenz überhaupt erst richtig hervor. Zwar kommt es bei ihm im Gegensatz zu den anderen Befragten in diesem Zusammenhang zu dezidierter Kritik, doch bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass diese Kritik nicht primär dem Hauptfachunterricht selbst, sondern eher der an der Spezialschule praktizierten Ausbildungspolitik gilt: In seinen Augen gab es an der Spezialschule zu viele Durchschnittstalente, denen der Leistungslevel der Spitze prinzipiell verwehrt war. Seine Überzeugung, dass Durchschnittlichkeit angeboren ist und auch bei größter Förderung letztlich nicht grundlegend verändert werden kann,
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versteht sich zwar als Kritik an der Spezialschule, ist aber von eben jener Differenzsetzung getragen, die sich auch in den anderen zitierten Textstellen findet und kann durchaus als ein Einfluss des konjunktiven Erfahrungsraumes Spezialschule auf seinen späteren Orientierungsrahmen gelesen werden. Die in den Schülerinterviews häufig gezogene Differenzsetzung zwischen den »echten« Musikern und dem Durchschnitt macht es notwendig, zwei Gruppenbildungen voneinander abzuheben. Zum einen die Gruppe der Spezialschüler insgesamt: Sie ist durch eine formelle Mitgliedschaft geprägt: Wer die Eignungsprüfung bestanden hatte und die jährlichen Prüfungen erfolgreich absolvierte, gehörte zur Spezialschule und konnte eine Identität als Spezialschüler ausprägen. Demgegenüber ist die Zugehörigkeit zur Gruppe der »echten« Musiker anderer Natur: Sie wird durch kein Aufnahmeverfahren geregelt, sondern ist etwas, das auf wechselseitigen Zuschreibungen der Akteure gründet. Die Anerkennung als »echter« oder »geborener« Musiker bzw. als Supertalent oder Durchstarter bedarf auf Seiten des so Bezeichneten zugleich eines Selbstbildes, das auf der Gewissheit basiert, in der Musik den entscheidenden und zentralen Lebensinhalt gefunden zu haben. Dieses Selbstbild scheint sich – wie wir im soziogenetischen Teil noch genauer zeigen werden – in aller Regel bereits vor der Spezialschulzeit herausgebildet zu haben. 3.2.3 Vorläufige sinngenetische Typenbildung (inhaltlich) Anhand der bisher herausgearbeiteten Differenzierungen können wir die diskutierten Fälle in aller Vorläufigkeit in drei unterschiedliche Typen unterteilen. Wir folgen dabei dem Grundsatz des »maximalen Kontrasts«. Es geht hier also um Unterschiede, die auf einer Makroebene eine prinzipielle Abgrenzung der Fälle erlauben. Damit ist nicht gesagt, dass sich die Fälle, die auf diese Weise ein und demselben Typ zugerechnet werden, nicht ihrerseits untereinander in vielerlei Hinsicht unterscheiden. Doch diese Differenzen sind auf einer Mikroebene angesiedelt, es sind »minimale Kontraste«. In Bezug auf unser Thema können sie zwar zu einer weiteren Unterteilung innerhalb des jeweiligen Typus dienen, ändern aber an der grundsätzlichen Zuordnung nichts. Typ A (»Fisch im Wasser«): Herr Schaller, Herr Dürer, Frau Trenkler Herr Schaller, Herr Dürer und Frau Trenkler erleben eine sehr ausgeprägte Passung zwischen ihrem persönlichen Orientierungsrahmen und dem Hauptfachunterricht. Sie können die Anforderungen des Hauptfachs mit ihren eigenen musikalischen Zielsetzungen und Ambitionen gut in Verbindung bringen. Selbst im Rahmen einer streng asymmetrischen Meister-Schüler-Beziehung (Herr Dürer) ist ihr Verhältnis zum Hauptfachlehrer vom Bewusstsein einer prinzipiellen Dazugehörigkeit getragen. Der Lehrer erscheint im übertragenen Sinne als Verwandter – einerlei, ob sich diese Verwandtschaft nun als Ebenbürtigkeit (Herr Schaller) oder als paternalistische MeisterSchüler-Beziehung (Herr Dürer) oder aber als Beziehung zwischen erfahrenem Praktiker und künftiger Kollegin (Frau Trenkler) realisiert. Ist diese verwandtschaftliche Beziehung nicht mehr gegeben (wie bei Frau Trenklers früheren Lehrern), wird eigenständig nach Alternativen Ausschau gehalten. Die Vertreter dieses Typs fühlen sich zur Musik berufen und sehen diese Orientierung als natürlich für einen Spezialschüler an. Der Musikerberuf wird als selbstverständlicher Zielpunkt der Ausbildung
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vorausgesetzt, eine Divergenz zwischen persönlichen Zielen und Ausbildungszielen ist nicht zu erkennen. Die Deckungsgleichheit zwischen persönlichen und von außen vorgegebenen Zielen führt dazu, dass Leistungsanforderungen für die Vertreter dieses Typs in der Regel nicht als Anforderungen der Institution, sondern immer als direkt aus der Musik erwachsende Problemstellungen begriffen werden. Umgekehrt wird dort, wo die Institution Leistungsanforderungen definiert, die nicht mit dem persönlichen Orientierungsrahmen übereinstimmen, selbstbewusst Kritik an diesen Vorgaben geübt (Frau Trenkler). Im gleichen Sinne erscheint der Hauptfachlehrer nicht so sehr als Vertreter der Spezialschule, sondern immer als eine Person, deren Leistungserwartungen unauflösbar mit den immanenten Herausforderungen der Musik bzw. der musikalischen Praxis verbunden sind. Die starke Identifikation mit dem Musikerberuf führt entweder – im Falle von Herrn Dürer – zu einer latenten Ausgrenzung von Mitschülern, die diese Berufung so nicht erkennen lassen bzw. – im Falle von Herrn Schaller und Frau Trenkler – zu einem Orientierungsrahmen, der die Existenz anderer Rahmungen quasi nicht zur Kenntnis nimmt, was sich – überspitzt formuliert – als eine Ausgrenzung durch Nichtbeachtung bezeichnen lässt. Insgesamt nehmen der Hauptfachunterricht und die Person des Hauptfachlehrers eine zentrale Stellung im Rückblick auf die Spezialschule ein. Pierre Bourdieu hat, wie wir in Kapitel 1.1.6 gesehen haben, für die enge Übereinstimmung zwischen Habitus und Feld die Metapher des »Fisch[es] im Wasser« gefunden (Bourdieu 2006, S. 160). Uns erscheint dieses Bild für die Kennzeichnung des hier beschriebenen Orientierungsrahmens sehr geeignet und wir werden es im Folgenden zur Charakterisierung des Typs A verwenden. Typ B (»Schüler«): Herr Leininger, Frau Groß, Frau Thalheim, Herr Innstedt Obgleich Herr Leininger, Frau Groß, Frau Thalheim und Herr Innstedt in anderen Schulkontexten (Nebenfachunterricht, gemeinsames Musizieren mit Mitschülern, Improvisation) durchaus große innere Begeisterung für die Musik und das Instrument an den Tag legen, sind sie nicht in der Lage, den Hauptfachunterricht mit dieser Begeisterung in Verbindung zu bringen. Sie erleben dessen Anforderungen in erster Linie als von außen an sie herangetragen. Sofern sie sich, wie Herr Leininger, mit ihrem Hauptfachlehrer identifizieren, bleibt diese Identifikation höchst ambivalent; sie erscheint als versuchsweises Ausprobieren eines Orientierungsrahmens, dem man sich nicht vollständig zugehörig fühlt. Trotz der gefühlten Fremdbestimmung im Hauptfach kommt es bei allen Vertretern dieses Typs dennoch nachträglich zu einer sehr grundsätzlichen Identifikation mit der Spezialschule. Der entscheidende Grund für die Identifikation liegt allerdings nicht in einer prinzipiellen Passung zwischen der eigenen Person, dem Hauptfachlehrer und den Zielen der Institution, sondern wird durch eine Kompensationsleistung ermöglicht. Die gefühlte Fremdbestimmung im Hauptfach wird in Kauf genommen, weil entweder eine gewisse Faszination für den an sich fremden Orientierungsrahmen des Hauptfachlehrers vorhanden ist (Herr Leininger), weil das Bewältigen von Anforderungen zu einem Selbstzweck überhöht wird (Frau Groß, Frau Thalheim) oder weil die Sphäre der Spezialschule insgesamt als faszinierende Alternative zum Herkunftsmilieu erlebt wird (Herr Innstedt). Dadurch, dass sich der eigene Orientierungsrahmen als nur begrenzt anschlussfähig an den Hauptfachunterricht erweist, treten dessen Anforderungen immer als Forderun-
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gen in Erscheinung, die nicht primär durch die Musik, sondern vor allem durch die Institution an den Einzelnen herangetragen werden. Vertreter dieses Typs schildern ihre Erfahrungen im Hauptfachunterricht daher vornehmlich aus einer Perspektive, die weitgehend von jenen Rollenmustern geprägt ist, die Schüler im Rahmen einer allgemeinbildenden Schule an den Tag legen. Das bedeutet, dass die Inhalte des Hauptfachunterrichtes zuallererst im Sinne schulischer Anforderungen erlebt werden, nach deren Anschlussfähigkeit an den jeweiligen Orientierungsrahmen nicht gefragt wird. Die Schülerperspektive führt auch dazu, dass sich dieser Typ trotz aller Begeisterung und Liebe zur Musik auch im Rückblick nicht primär als Musiker und Künstler, sondern vor allem als Spezialschüler definiert. Deutlich erkennbar ist das an der Tatsache, dass die Vertreter dieses Typs in den Interviews so gut wie nie zu den musikalischen Inhalten des Hauptfachunterrichts Stellung beziehen. Damit verbunden ist die freiwillige Selbsteingliederung in eine imaginäre Mehrheit, die in einer Reihe von Fällen als Durchschnitt (oder Fußvolk) konzeptualisiert wird. Mit der Einordnung ins Mittelfeld wird zugleich auch die Tatsache akzeptiert, dass der Hauptfachunterricht für den Einzelnen wenig motivierende Züge trägt. Für die meisten Vertreter dieses Typs scheint es auch im Nachhinein normal zu sein, dass ein inspirierender und persönlich bereichernder Unterricht nur denjenigen Schülern vorbehalten ist, die bereits aus sich heraus in einer reibungslosen Passung zur Musik und zum Hauptfachunterricht stehen. Zur Kennzeichnung dieses Typs verwenden wir im Folgenden den Begriff des »Schülers«. Diese Bezeichnung mag auf den ersten Blick verwirren, da es sich bei den Vertretern der anderen beiden Typen natürlich auch um Schüler handelt. Wir wollen mit dieser Bezeichnung jedoch nicht auf den Status, sondern auf einen spezifisch »schülerhaften« Orientierungsrahmen dieser Gruppe hinweisen. Typ C (»Fremdling«): Herr Trescher, Frau Dahlke Auch die Vertreter dieses Typs nehmen den Hauptfachunterricht als Ort der Fremdbestimmung wahr. Im Gegensatz zum Typ B können sie diese Wahrnehmung jedoch nicht durch anderes kompensieren (z.B. durch eine Sichtweise, die den Hauptfachunterricht als Übungsgelände für das eigene Durchhaltevermögen begreift bzw. durch erfüllte Musiziererfahrungen außerhalb des Hauptfachunterrichts). Es dominiert das Gefühl, den Anforderungen des Hauptfachs ausgeliefert zu sein. Dieses Gefühl ist nicht zwangsläufig an schlechte Leistungen gebunden, sondern kann – wie bei Frau Dahlke – auch bei einem hohen Leistungslevel vorhanden sein. Entscheidend ist, dass der eigene Orientierungsrahmen als grundsätzlich nicht passend zu den Anforderungen des Hauptfachs erlebt wird. Dennoch wird versucht, diesen Anforderungen zu entsprechen. Der Hauptfachlehrer wird nicht als unmittelbarer persönlicher Bezugspunkt, sondern als Vertreter der Institution gesehen, der deren Forderungen durchzusetzen hat. Die Institution ihrerseits wird häufig als Teil eines staatlichen Systems begriffen, dem sich die Vertreter dieses Typs ausgeliefert fühlen. Umgekehrt wird dort, wo es zu einer vertrauensvollen und von gegenseitigem Respekt getragenen Lehrer-Schüler-Beziehung kommt (wie im Verhältnis zwischen Frau Dahlke und Prof. Burkhardt), der Hauptfachunterricht als ein Ort wahrgenommen, der innerlich nicht mehr der Spezialschule zugerechnet wird. Mit dem Gefühl der NichtPassung korrespondiert das Bewusstsein, mit dem eigenen Orientierungsrahmen ei-
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ner Minderheit anzugehören. Eine Identifikation mit der Mehrheit der Spezialschüler ist nicht möglich. Daher bezeichnen wir diesen Typ als »Fremdling«. Es muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass diese vorläufige Typenbildung keineswegs das instrumentale Leistungsniveau der Befragten abbildet – in dem Sinne etwa, dass es sich bei Vertretern des Typs »Fisch im Wasser« um besonders herausragende Instrumentalisten und bei Typ »Fremdling« um Schüler am unteren Rand der Leistungsskala handelt. Zwar ist durchaus die Tendenz erkennbar, dass der Typ »Fisch im Wasser« aus leistungsstarken Schülern besteht. Doch derartige Schüler finden sich im Typ »Fremdling« ebenso – möglicherweise handelt es sich bei Frau Dahlke um eine Musikerin, deren solistisches Profil noch ausgeprägter ist als etwa dasjenige von Frau Trenkler, die sich selbst ja eher als Tuttistin sieht. Es geht bei dieser Typenbildung nicht um reale Leistungen, sondern um die Kennzeichnung und Unterscheidung verschiedener Orientierungsrahmen. Natürlich erfolgt die Prägung dieser Rahmen dennoch keineswegs völlig unabhängig von den jeweiligen Leistungen. Wer, wie etwa Herr Trescher, permanent zurückgespiegelt bekommt, dass sein instrumentales Leistungsniveau unter dem der anderen liegt, wird kaum das Gefühl einer Passung zwischen eigenem Orientierungsrahmen und Hauptfachunterricht ausprägen können. Dennoch ist es nicht die Leistung selbst, die in dieser Typisierung abgebildet wird, als vielmehr der innere Maßstab, mit dem der Einzelne seine Leistung im Kontext der Spezialschule einordnet. Ebenso muss an dieser Stelle natürlich auf die Vorläufigkeit dieser Typenbildung hingewiesen werden. Zwar können kaum Zweifel bestehen, dass die im Hauptfachunterricht gesammelten Erfahrungen einen bedeutenden Beitrag für die Ausprägung des jeweiligen Orientierungsrahmens liefern. Die genaue Beschaffenheit dieses Orientierungsrahmens und damit die Identifikation eines sinngenetischen Typus, aus dem sich dann – in Verbindung mit der anschließenden soziogenetischen Typenbildung – auf die Schulkultur der Spezialschule schließen lässt, können wir allerdings erst dann vornehmen, wenn wir andere Bereiche des schulischen Lebens genauer untersucht und miteinander verglichen haben. Bereits jetzt können wir allerdings, bezogen auf den Hauptfachunterricht, die inhaltlichen Kennzeichnungen dieser vorläufigen Typenbildung auf einer etwas höheren Abstraktionsstufe reformulieren, indem wir sie sowohl auf die inhaltlichen als auch auf die strukturtheoretischen Aspekte unseres Schulkulturmodells beziehen.
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Persönlichkeitsentfaltung & Berufsorientierung
Leistung & Begabung
Sinngenetische Typologie I (Inhaltsdimension): Hauptfachunterricht/Verhältnis zum Hauptfachlehrer Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Es liegt ein starker Glaube an die eigene instrumentale Leistungsfähigkeit und an die persönliche Eignung zur professionellen Musikerausbildung vor.
Es herrscht die Überzeugung, den Anforderungen des Hauptfachunterrichtes prinzipiell entsprechen zu können. Dennoch wird keine automatisch gegebene Passung zwischen diesen Anforderungen und der eigenen Leistungsfähigkeit gesehen.
Das Erbringen musikalisch-instrumentaler Leistungen lässt sich nur gegen innere Widerstände mit dem eigenen Orientierungsrahmen verbinden. Grund dafür ist entweder ein statischer Begabungsbegriff (Trescher) oder das Gefühl, fremdbestimmt zur Musik gekommen zu sein (Dahlke).
Es dominiert die Überzeugung, für die Musik geboren zu sein. Diese Überzeugung äußert sich entweder in einem statischen Begabungsbegriff oder in der vollständigen Ausblendung von Entwicklungsalternativen.
Die Leistungsanforderungen im Hauptfach werden als Herausforderungen für den eigenen Orientierungsrahmen empfunden, deren Bewältigung auf anderweitige Kompensationen angewiesen ist: a) Leistung als positiver Zweck an sich (Groß, Thalheim) b) Leistung als Möglichkeit, an einem als tendenziell fremd, gleichzeitig faszinierend empfundenen Orientierungsrahmen teilhaben zu können (Leininger, Innstedt).
Es herrscht ein deutlich ausgeprägtes Bewusstsein, dass die eigene Leistungsfähigkeit immer kleiner ist als von außen erwartet wird.
Persönliche Ziele und Ausbildungsziele im Hauptfach erscheinen kongruent. Wo dies nicht mehr der Fall ist, wird eigenständig die Suche nach Alternativen betrieben (Trenkler).
Die Anforderungen des Hauptfachs werden als von außen auferlegt wahrgenommen. Eine in vielen Fällen vorhandene grundsätzliche Motivation für Musik und das Musizieren erstreckt sich nicht auf den Hauptfachunterricht.
Die Anforderungen des Hauptfachs werden als von außen auferlegt wahrgenommen. Eine etwaige eigene Motivation ist überlagert durch Zwänge und Fremdansprüche.
Musikalisch-instrumentale Problemstellungen werden nicht als institutionell vorgegebene Anforderungen, sondern als persönliche Aufgabenstellungen im Dienste der individuellen Weiterentwicklung zum Musiker begriffen.
Musikalisch-instrumentale Aspekte werden vorrangig als Anforderungen begriffen, die die Institution bzw. der Lehrer (und nicht etwa die Musik) an den Schüler stellt.
Musikalisch-instrumentale Aspekte werden als Anforderungen begriffen, die die Institution an den Schüler stellt; die Institution wiederum erscheint als Verlängerung eines staatlichen Ausbildungssystems, dem sich der Einzelne ausgeliefert fühlt.
Rollenidentität & Beziehungsgefüge
118 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Motivation und Inspiration werden im Hauptfachunterricht erlebt und eingefordert.
Innerliche Akzeptanz der Tatsache, dass der Hauptfachunterricht wenig inspirierende und motivierende Züge trägt.
Der Hauptfachunterricht wird insgesamt als wenig motivierend erlebt. Wo er inspirierende Züge trägt (Dahlke), wird er nicht mehr der Institution zugerechnet, sondern als ein exterritorialer Raum wahrgenommen.
Der Hauptfachlehrer wird als (gleichberechtigter oder paternalistischer) Verwandter hinsichtlich der Ausrichtung auf das gemeinsame Lebensthema Musik und nicht als Vertreter der Institution wahrgenommen; wo dies nicht mehr der Fall ist, wird nach Alternativen Ausschau gehalten.
Der Hauptfachlehrer wird als Vertreter der Institution und ihrer Ausbildungsziele wahrgenommen.
Der Hauptfachlehrer wird als Vertreter der Institution und des verordneten Ausbildungssystems wahrgenommen.
Übernahme einer »Schülerrolle«, die die Anforderungen im Hauptfach im Sinne eines Schulstoffs begreift.
Eigene Rolle als »Opfer des Systems.«
Selbstverständnis als »natürlicher« Adressat der Institution. Andere Orientierungsrahmen werden entweder ausgegrenzt oder nicht beachtet.
Identifikation mit einer in der Regel als »Durchschnitt« empfundenen imaginären Mehrheit, der wenige Ausnahmen (nach oben oder unten) gegenübergestellt werden.
Bewusstsein, im Rahmen der Schule einer (deplatzierten) Minderheit anzugehören. Auch die Identifikation mit einer »Durchschnittsmehrheit« ist nicht möglich.
3.2.4 Weitere Fälle Auf der Grundlage der hier herausgearbeiteten inhaltlichen Merkmale können wir nun auch die bislang nicht erörterten Fälle in diese Typologie einordnen. 3.2.4.1 Weitere Vertreter des Typ A (»Fisch im Wasser«) Martin Gundolf kommt als hochmotivierter Instrumentalist und mit dem festen Ziel, Berufsmusiker zu werden, an die Spezialschule. Zunächst fühlt er sich überfordert vom anderen Wind, der dort nun für ihn weht (höheres Pensum und rationalere Herangehensweise des Lehrers). Er sieht sich aber dennoch am richtigen Platz und ist durch sein Selbstverständnis als geborener Musiker stark motiviert, sich mit den erhöhten Ansprüchen auseinanderzusetzen. Von seinem Hauptfachlehrer wird er gut abgeholt in seinem Bedürfnis nach Vielfältigkeit und Tiefgang (umfassende Werkanalyse, Spezialgebiet Alte Musik etc.). Gegen Ende der Spezialschulzeit verstärkt sich aber das Gefühl, dass dieser Lehrer ihm nicht mehr guttut, da für ihn wesentliche Aspekte des Musizierens im Rahmen dieser Unterrichtsbeziehung nicht mehr eingelöst werden. Wie im Falle von Frau Trenkler macht er sich selbstständig auf die Su-
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che nach einem Lehrer, der besser zu ihm passt. In dieser Phase kommt es zu starken Instrumentalisierungsversuchen seines Lehrers, der ihn mit Appellen wie Du bist ja mein Meisterschüler! unbedingt zu halten versucht. Diese Instrumentalisierung wird in seinen Augen von Seiten der Spezial- bzw. später der Hochschule nicht durchbrochen, sondern sogar implizit verstärkt. Daraufhin kommt es zum offenen Konflikt zwischen Lehrer und Schüler, in dessen Folge Herr Gundolf die Hochschule wechselt. Wie Herr Schaller und Frau Trenkler fühlt auch er sich so sehr als geborener Musiker und Profi, dass er die Existenz anderer Orientierungsrahmen unter den Schülern nicht zur Kenntnis nimmt. In diesem Punkt gleicht er insbesondere Frau Trenkler, da auch er eine deutliche Differenz zwischen einem gegängelten und einem freien Musizieren zieht. Wie bei allen anderen Vertretern des Typs A führt dies aber nicht zu einer grundsätzlichen Kritik an der Institution Spezialschule. Natalie Kolbe hat bereits vor ihrer Spezialschulzeit bei ihrem künftigen Hauptfachlehrer Unterricht und wird bei ihm bis zum Ende ihres Studiums bleiben. Bereits während dieser Zeit bildet sich der Wunsch heraus, Profimusikerin zu werden. Der Unterricht ist aus ihrer Perspektive von einem starken Vertrauensverhältnis geprägt, ihr Lehrer erscheint ihr explizit als Vaterfigur oder so ’ne Elternteilfigur, was für sie bedeutet, dass man ihn achtet, ehrt, aber auch irgendwo in gewisser Weise, na, ich weiß, klingt vielleicht blöd, liebhat. Das Vertrauensverhältnis äußert sich auch in der Tatsache, dass ihr Lehrer ihr viele Freiheiten in Bezug auf die Repertoirewahl lässt und sie in ihren Wünschen kaum je beschneidet. Charakteristisch für die Interaktion mit ihrem Lehrer ist die Tatsache, dass sie nicht jede Kritik von seiner Seite zwangsläufig auf sich selbst bezieht. Wie Frau Trenkler, die manchen Interventionen ihres Lehrers denkt Was ist denn mit dem Mann los?, so besitzt auch Frau Kolbe das, was man im Sinne der Kommunikationspsychologie als ein Selbstoffenbarungs-Ohr bezeichnen kann (vgl. Schulz von Thun 2001, S. 26). Sie verfügt über genügend musikalisches und persönliches Selbstbewusstsein, um beispielsweise eine von ihrem Lehrer geäußerte Kritik (Hier stimmt ja kein Ton!) nicht mit ihrer Leistung, sondern mit seiner schlechten Laune in Verbindung zu bringen: Also ich hab mich da nie so beeindrucken lassen. Ich dachte dann, ach, na irgendwas wird schon stimmen, so schlimm kann’s nicht sein. Wie im Falle von Herrn Schaller verläuft auch Frau Kolbes instrumentaler Weg sehr geradlinig und führt sie zur Mitgliedschaft in einem hervorragenden Orchester, dem sie bis heute angehört. Und auch bei ihr ist von anders gearteten Orientierungsrahmen nicht die Rede. 3.2.4.2 Weitere Vertreter des Typ B (»Schüler«) Für Clemens Hauschka war die Musik während seiner Spezialschulzeit jetzt nicht so der Lebensinhalt. Er wäre in anderen Berufen auch zurechtgekommen. Leistungsmäßig ordnet er sich im Mittelfeld ein; er sei nie direkt ganz schlecht, aber auch nie direkt richtig gut gewesen. Was ihn von anderen Vertretern des Typs B zunächst unterscheidet und eigentlich eher in die Richtung des Typs C weist, ist die Tatsache, dass er sich in Hinblick auf sein Hauptfach tendenziell als Außenseiter gefühlt hat. Schaut man sich aber etwas genauer an, woran er diese Außenseiterposition festmacht, wird man auf Zusammenhänge stoßen, die eine Verortung im Typ B plausibler erscheinen lassen. Seine Außenseiterrolle wird zu einem nicht geringen Teil durch seinen Lehrer, einem Orchestermusiker aus Leipzig, mit verursacht, den er nämlich selbst als einen Außenseiter innerhalb des Kollegiums bezeichnet. Der Hauptfachunterricht
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scheint in einem gewissermaßen luftleeren Raum stattzufinden, der fast wie ein Privatunterricht wirkt und nur wenig Anbindung an die Schule erkennen lässt. Anders als in den Fällen des Typs A, wo sich diese institutionelle Enthobenheit als Ausdruck einer intensiven, durch die Musik gestifteten Verbundenheit von Lehrer und Schüler lesen ließ, handelt es sich hier eher um eine Abschottung vom restlichen Schulgeschehen: Herr Hauschka konstruiert in Bezug auf die Lehrerschaft einen Gegenhorizont, der auf der einen Seite durch die viele[n] Kollegen von der Kapelle und von der Philharmonie geprägt ist, während auf der anderen Seite sein Lehrer steht, der immer eigens zum Unterricht mit dem Zug angereist kommt und anscheinend viele Abläufe an der Schule gar nicht richtig mitbekommt. Das führt dazu, dass Herr Hauschka in seiner gesamten Schulzeit im Gegensatz zu vielen seiner Mitschüler nicht ein einziges Mal im Orchester der Spezialschule mitspielt. Diese Außenseiterposition in Bezug auf das Hauptfach wird auch durch seinen Status begünstigt. Er bedauert, nicht im Internat gelebt zu haben, da er dort geregelte Übezeiten gehabt hätte, während er mit dem Freiraum bei sich zu Hause nicht habe umgehen können – was damit zusammenhängt, das seine Eltern, insbesondere sein Vater, nur wenig Verständnis für seine musikalische Laufbahn aufbrachten. Im Gegensatz zu den anderen Vertretern des Typs B erlebt Herr Hauschka den Hauptfachunterricht nicht als fremdbestimmt. Dennoch findet er hier keine Orientierung. Wohl kann er sich mit seinem Lehrer freundschaftlich über außermusikalische Dinge austauschen, erhält von ihm aber kaum Impulse, die ihn zu einem selbstbestimmten musikalischen Arbeiten anregen. Obgleich sein Lehrer ganz und gar nicht als Vertreter der Institution erscheint, so äußert sich deren Präsenz doch indirekt, nämlich in dem Gefühl des Isoliert-Seins. Es ist eben kein echter Privatunterricht, der sich zwanglos in den sonstigen Alltag einfügt, sondern ein Unterricht, der im Rahmen einer Institution stattfindet, deren implizite Regeln auch dort gelten, wo der Unterricht von der Institution abgeschnitten erscheint. Zwar wird der gefühlte Leistungsabstand zwischen Herrn Hauschka und anderen Mitschülern nicht zum Gegenstand eines erhöhten Leistungsdrucks im Unterricht. Das verhindert aber nicht, dass er selber immer wieder den Eindruck hat, die anderen seien doch viel besser als er. Das bleibt aber eher ein numinoser, schwer greifbarer Eindruck, der viel mit seiner Abschottung im Hauptfach zu tun hat: Man wusste ja nie, was der andere macht. Wie es insgesamt für den Typ B charakteristisch ist, gelingt es Herrn Hauschka aber dennoch, sich ohne größere innere Widerstände in die vorgezeichneten Bahnen zu fügen, was nicht nur mit der Tatsache zusammenhängt, dass er sich als jemanden bezeichnet, der aus Harmoniegründen viel »Ja« gesagt habe. In seinem Falle wird die fehlende Orientierung im Hauptfach vor allem durch seine gute soziale Einbindung in die Schulklasse kompensiert. Hier ist er ganz und gar kein Außenseiter. Unter anderem lernt er in seiner Klasse seine spätere Frau kennen, die für ihn so der Ausgleich, Ruhepol war, wo ich dann eben gemerkt habe: Das lohnt sich eigentlich, [sich] auch mal bissel anzustrengen. 3.2.4.3 Weitere Vertreter des Typ C (»Fremdling«) Obgleich sich Gernot Brauchbach seit seiner Kindheit zum Musiker berufen fühlt, mischen sich in diese Überzeugung doch immer wieder auch ambivalente Gefühle (die Musik ist sein geliebtes und gehasstes Lebensgebiet). Wie Hans Trescher, so thematisiert auch er in Bezug auf seine Spezialschulzeit das Gefühl eines ausgepräg-
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ten instrumentalen Defizits gegenüber seinen Mitschülern. Die in diesem Zusammenhang gezogene Differenz zwischen den Könnern auf dem Instrument und dem Rest der Schülerschaft ist bei ihm zugleich auch eine Unterscheidung zwischen den Dresdner Schülern und den Auswärtigen, die wie er im Internat lebten (Die Dresdner waren eben auch diese Olympiakämpfer, diese Könner auf dem Instrument). In seiner Wortwahl erscheinen diese Olympiakämpfer wenn nicht als Mehrheit, so doch als dominierende Gruppe, zu der Herr Braubach sich dezidiert nicht zählt. Die Tatsache, dass er stattdessen mit zwei Schülern Freundschaft schließt, die innerhalb der Schule als Außenseiter wahrgenommen werden, unterstreicht seinen gefühlten Minderheitenstatus (die stürzten sich nicht so rein in dieses Musikalische, sondern hatten eben auch ausgesprochenes Interesse an Geschichte und Philosophie und Religiösem oder Angrenzendem oder Unaussprechlichem). Anders als Herr Trescher sieht er die instrumentale Leistungsspitze nicht nur bewundernd, sondern auch kritisch. In seinen Augen war die Spezialschulausbildung zu sehr vom Primat der Virtuosenmusik sowie von einem Vortäuschen von Emotionen beherrscht, was ihn kirre gemacht habe, da er es mit seinem Bedürfnis nach einem emotional berührenden und gehaltvollen Musizieren nicht in Übereinstimmung habe bringen können. Im Gegensatz zu Vertretern des Typs A kann er seine kritischen Gedanken aber nicht in sein Handeln einfließen lassen. Wie Hans Trescher versucht er sich anzupassen, wobei es immer wieder zu Abbruchgedanken kommt. Als er seiner Lehrerin seine Überlegungen bezüglich möglicher beruflicher Alternativen mitteilt, erscheint sie ihm jedoch hilflos. Rückblickend ist er zu der Überzeugung gelangt, dass sie zwar das von ihm als russisches Prinzip bezeichnete Ausbildungssystem vertreten musste, sich innerhalb dieses Systems aber genauso einsam gefühlt habe wie er. Eine wichtige Alternative zur Praxis der Spezialschulausbildung lernt er in Gestalt eines Schülervaters kennen, der selber Orchestermusiker ist und ihm seine Überzeugung mitteilt, dass das, was an der Spezialschule als wichtig erachtet wird, für das spätere Berufsleben nur begrenzt Relevanz besitzt (Ihr könnt euer Konzert da rauf und runter spielen, so viel ihr wollt. Das braucht ihr später nie im Beruf). Das Grundgefühl, das Carla Senff mit ihrem Hauptfachunterricht verbindet, ist Stress. Sie ist rückblickend der Ansicht, dass ihre Lehrerin an der Spezialschule auf alle Fälle zu viel Druck gemacht habe. Zugleich beklagt sie, ebenso wie Frau Dahlke, dass im Hauptfach nie nach ihrer persönlichen Situation gefragt worden sei. Sie wünscht sich – als positiven Gegenhorizont – heute, dass sie im Hauptfach jemanden gehabt hätte, der mitkriegt, was er da eigentlich für ein Kind sitzen hat und der in ihrem Falle gemerkt hätte, dass ihre Familie ständig umgezogen sei und sie gerade ihren dritten Schulwechsel hinter sich gebracht habe. (Das hat [die Lehrerin] absolut ausgeblendet, mich nicht ein einziges Mal gefragt, so [weit] ich das weiß. Und die hat auch nie irgendwie meinen Eltern so’n Feedback gegeben.) Das geringe Interesse der Lehrerin an ihrer Person führt sie auf die Tatsache zurück, dass sie insgesamt nicht deren Erwartungen entsprochen habe. Die mangelnde menschliche Anteilnahme führt bei ihr zu genau eben jener inneren Distanz zum Instrument, die dafür verantwortlich ist, dass sie sich nicht auf die von der Lehrerin gewünschte Weise entwickelt (richtig positive Erinnerung[en], dass es mir irgendwie mal doll Spaß gemacht hätte oder sowas, oder dass ich ein tolles Konzert gehabt hätte, hab ich nicht. Überhaupt nicht. Also, ich bin dahin gegangen, einmal die Woche, 60 Minuten. Und war immer heilfroh, wenn sie mich heil gelassen hat.) Gleichzeitig sieht sie ihre Lehrerin
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nicht ausschließlich als Einzelperson, sondern als Vertreterin des Systems: Sie hat auch Stress gemacht, weil einfach … na ja, weil das System so war. Leistungsmäßig schätzt sie sich als ein bissel Mittelfeld ein, lässt aber nebenbei fallen, sie sei zu Beginn ihrer Spezialschulzeit noch als gut gehandelt worden – wobei genau an dieser Wortwahl deutlich wird, dass sie sich eher als Objekt äußerer Zuschreibungen und nicht als handlungsfähige Person sieht. Wie bei den anderen Vertretern des Typs C ist ihr Enaktierungspotenzial nur sehr gering ausgeprägt. Die Selbsteinordnung in die Mittelklasse geht bei ihr nicht mit einem Aufgehen in einer gefühlten Mehrheit einher. Sie gebraucht diese Selbsteinschätzung eher so, als werde damit eine Außenseiterposition bezeichnet. Sie unterstreicht dadurch die Tatsache, dass der Unterricht bzw. die damit verbundenen Leistungserwartungen auf einen Orientierungsrahmen zielten, der an besonderen Leistungen orientiert war und an den die »Normalen« nur begrenzt anschließen konnten. Im Unterschied zu Typ B hat sie keine Möglichkeit, ihren Status als Angehörige des Mittelfelds zu kompensieren. In ihrer Darstellung dominiert der Eindruck des Ausgeliefert-Seins, der weder durch andere Inhalte außerhalb des Hauptfachunterrichts noch durch die Interaktion mit Mitschülern ausgeglichen werden kann. 3.2.5 Vorläufige sinngenetische Typenbildung (strukturtheoretisch) 3.2.5.1 Die Dimension des Symbolischen und Imaginären In strukturtheoretischer Hinsicht wurde in Kapitel 1.1.4 zwischen den Dimensionen des Realen, des Symbolischen und des Imaginären unterschieden. Diese Dimensionen, mit denen Werner Helsper et al. ihren Begriff von »Schulkultur« begrifflich zu fassen versuchen, wurden von uns – im Anschluss an Kramer (2002) – auch als Möglichkeit zur Kennzeichnung der individuellen Orientierungsrahmen verstanden und werden deshalb auch zur Unterscheidung der sinngenetischen Typen herangezogen. Dabei haben wir das von Helsper unter Rückgriff auf Ulrich Oevermann konzipierte Schulkultur-Modell jedoch insofern modifiziert, als wir davon ausgingen, dass die Dimension des »Realen« – jener »harte Fels« (Helsper et al. 2001, S. 65), auf dessen Grundlage dann unterschiedliche symbolische Bearbeitungen stattfinden – in Bezug auf ein zunächst einmal fremdes Ausbildungssystem nicht vorgängig definiert werden kann. Wir haben in diesem Zusammenhang die Gültigkeit zentraler pädagogischer Antinomien, die bei Helsper die Basis dieses Realen bilden, zwar nicht grundsätzlich bestritten, allerdings darauf hingewiesen, dass im Rahmen einer Untersuchung zu einer vergangenen Schulkultur über diese Gültigkeit erst nach der Analyse des Datenmaterials entschieden werden kann. Ob sich, so unsere Argumentation, Antinomien wie etwa die Antinomie zwischen Person und Sache oder die Differenzierungsantinomie (einheitliches Ausbildungsziel vs. Differenzierung von Einzelfällen) an einer Spezialschule in der DDR überhaupt ausprägen konnten – in dem Sinne, dass sie einen Handlungsrahmen bildeten, der Spielräume für symbolische Bearbeitungen durch die einzelnen Akteure zuließ – kann erst dann bejaht werden, wenn sich in den Orientierungsrahmen der Akteure Hinweise auf die Wirkungsmächtigkeit und Relevanz dieser Antinomien finden lassen. Unsere Aufgabe bestand demnach also nicht darin, auf der Grundlage einer normativ gesetzten Dimension des Realen die symbolischen Bearbeitungen und imaginären Konzepte der Akteure zu beobachten. Stattdessen mussten wir umgekehrt aus der Kenntnis dieser Bearbeitungen die Di-
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mension des Realen überhaupt erst zu erschließen versuchen. Dies war vor allem auch deshalb wichtig, weil wir uns bei unserer Konzeption von Schulkultur nicht allein auf kommunikativ zugängliches Wissen, sondern auf den konjunktiven Erfahrungsraum beziehen. Bei der Konzeption unseres strukturtheoretischen Modells von Schulkultur half uns Pierre Bourdieus Unterscheidung zwischen Habitus und Feld. Zur Erinnerung: Bourdieu ging erstens davon aus, dass der Habitus der Akteure innerhalb eines Feldes mit größerem oder geringerem Erfolg die Regeln des Feldes abzubilden versucht. Im seltenen Fall einer restlosen Übereinstimmung zwischen Habitus und Feld reproduziert der Habitus bzw. Orientierungsrahmen aus sich selbst heraus die Regeln des Feldes, so dass eine Differenz zwischen Habitus und Feld nicht zu erkennen ist; der Akteur bewegt sich – so Bourdieu – innerhalb des Feldes wie ein »Fisch im Wasser«. Zweitens lassen sich dort, wo Habitus und Feld gerade nicht in lückenloser Passung ineinandergreifen, Spuren jener internen Kämpfe und Auseinandersetzungen erkennen, die in Bourdieus Augen jedes Feld prägen. Auf der Grundlage der im vergangenen Abschnitt entwickelten vorläufigen Typenbildung ist es uns nun möglich, erste Rückschlüsse auf die Beschaffenheit jenes »harten Felses« zu ziehen, der die »reale« Grundlage des von uns untersuchten Feldes darstellt. Die folgende Übersicht versucht, die inhaltlichen Bestimmungen der drei von uns konzipierten Typen auf die Dimensionen des Symbolischen (Ebene der handelnden Auseinandersetzung) und des Imaginären (Ebene imaginärer [Selbst-] Zuschreibungen) zu beziehen. Daraus werden in einem dritten Schritt jene Spannungsfelder (Antinomien) erschlossen, die die Dimension des »Realen« bilden. Sinngenetische Typologie I (strukturtheoretische Dimension): Hauptfachunterricht/Verhältnis zum Hauptfachlehrer
Ebene des Imaginären
Ebene des Symbolischen
Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Hauptfachunterricht als Hauptfachunterricht als Ort musikalisch künstleri- Ort der Leistungserbrinscher Auseinandersetzung. gung.
Hauptfachunterricht als Ort des Ausgeliefertseins.
Persönliche Ziele und Ausbildungsziele im Hauptfach sind kongruent. Daraus resultiert das Gefühl der Selbstverwirklichung; musikalischfachliche Impulse werden aktiv eingefordert.
Anforderungen des Hauptfachs werden als von außen auferlegt wahrgenommen. Daher gibt es nur wenig Raum für selbstwirksames Agieren; stattdessen werden Strategien zur Kompensation entwickelt. Den musikalischen Motivationen wird außerhalb des Hauptfachunterrichtes nachgegangen.
Anforderungen des Hauptfachs werden als von außen auferlegt wahrgenommen. Daher besteht kein Raum für selbstwirksames Agieren; Mobilisierung innerer Widerstände, die nicht kompensiert werden können.
Selbstbild als geborener Musiker/Künstler und damit »natürlicher« Adressat des Unterrichtes (»am richtigen Platz«).
Selbstbild als Schüler, der die an ihn gestellten schulischen Anforderungen zu erfüllen sucht.
Selbstbild als Ausbildungsobjekt, das vom Gefühl her den Ansprüchen nicht genügt (»fehl am Platz«) und dem System ausgeliefert ist.
124 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Spezialschule erscheint als Lernort für intrinsisch motivierte und besonders begabte Musiker.
Spezialschule erscheint als Ausbildungsinstitution für musikalisch leistungsstarke Schüler.
Spezialschule erscheint als Ausbildungsstätte, die staatlich vorgegebene Ziele durchzusetzen sucht, ohne auf den Einzelnen Rücksicht zu nehmen.
Es ist leicht zu sehen, dass jeder Typus sich seine eigene Wirklichkeit schafft, die die Grundlage seiner symbolischen Bearbeitungen darstellt. Die Dimension des Imaginären ist dabei sowohl Ursache als auch Wirkung. Ursache ist sie, weil erst durch imaginäre (Selbst-)Zuschreibungen das Reale auf eine bestimmte Weise hervortritt. Wirkung ist sie, weil die Wahrnehmung des Realen seinerseits die Entstehung von (Selbst-)Zuschreibungen begünstigt. 3.2.5.2 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen Besonderheit und Normalität Allerdings wäre es eine grobe Verkürzung, die divergierende Wahrnehmung des Realen lediglich als »unterschiedlich« bezeichnen zu wollen. Vielmehr sind bei aller Unterschiedlichkeit doch bestimmte Aspekte bzw. Themen erkennbar, die in allen drei Typen vorkommen, dort allerdings unterschiedlich attribuiert werden. Diese Attribuierungen lassen sich, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auf insgesamt drei grundlegende Antinomien beziehen, die als kennzeichnend für die sich im Rahmen des Hauptfachunterrichts manifestierende Ebene des Realen gelten können. Wie zu sehen war, ist es für die Vertreter des Typs »Fisch im Wasser« selbstverständlich, ihren eigenen Orientierungsrahmen als den eines »natürlichen« Adressaten der Hauptfachausbildung anzusehen. Andere Orientierungsrahmen werden dabei entweder ausgegrenzt oder schlichtweg nicht zur Kenntnis genommen. Das steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu der Tatsache, dass Teile dieses Adressatenkreises sich entweder selbst als Minderheit – im Sinne einer herausragenden Ausnahme – sehen (vgl. Herr Dürer) oder von Typ B als eine solche Ausnahme betrachtet werden. Einige Vertreter von Typ B (Frau Groß, Frau Thalheim und Herr Innstedt) zeigen die Tendenz, dem Durchschnitt, zu dem sie sich selbst zählen, tendenziell die Vollgültigkeit abzusprechen. Sie akzeptieren, dass eine enge Passung zu den Zielen der Hauptfachausbildung beim Fußvolk nicht möglich ist. Daraus ergibt sich ein grundlegender Widerspruch: Einerseits richtet sich der Hauptfachunterricht nominell an alle Spezialschüler gleichermaßen, andererseits wird er aber von den Vertretern des Typs B und zum Teil auch von Typ C als eine Ausbildung wahrgenommen, die von ihrem Anspruch her auf die Gruppe der »besonderen« Schüler zielt, während die sich als Mehrheit fühlende Gruppe der »Normalen« den eigenen Orientierungsrahmen als nur begrenzt anschlussfähig erlebt. Überspitzt formuliert, fühlt sich ausgerechnet die Gruppe, die sich selbst als Durchschnitt begreift, im Hauptfachunterricht als nicht ganz richtig am Platz. Es geht hier, um es noch einmal zu betonen, nicht um reale Quantitäten: Ob sich die Schülerinnen und Schüler, die sich selbst als »Schüler« konzeptualisieren, gegenüber dem Typ »Fisch im Wasser« nun wirklich in der Mehrheit befanden, ist weniger
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entscheidend als die Tatsache, dass bei ihnen, wie die bislang zitierten Textausschnitte zeigen, das Gefühl vorhanden war, ein kollektives »Wir« zu repräsentieren, dem einige wenige Auserwählte gegenüberstanden. Unter dieser Perspektive ist es gerade kein Widerspruch, wenn auch ein Vertreter des Typs A wie etwa Herr Schaller seinerseits den eigenen Orientierungsrahmen in eine unbestimmte erste Person Plural integriert (ohne dabei zu realisieren, dass es jenseits dieses Kollektivs überhaupt noch andere Orientierungsrahmen gibt). Gefühlte Mehrheiten sind keineswegs irrelevant, sondern können präzise Auskunft darüber geben, wie der konjunktive Erfahrungsraum aus unterschiedlichen Blickwinkeln heraus wahrgenommen wird. Indem wir diese unterschiedlichen Blickwinkel systematisch aufeinander beziehen, versuchen wir, das gegenseitige Bedingungsgefüge, dem sie unterliegen, freizulegen. So kann man gerade in der Tatsache, dass sich Herr Schaller (Typ A) als Teil einer Mehrheit versteht, zu der es anscheinend keine Minderheit gibt, den Niederschlag eines quasi selbstverständlichen Dominanzgefühls erblicken, in dessen Angesicht dann bei den Typen B und C der Eindruck entsteht, zu diesem »Wir« nicht vollgültig dazuzugehören – wobei Typ B dieses Inferioritätsgefühl dann seinerseits durch ein anderes kollektives »Wir« kompensiert, während dem Typ C (»Fremdling«) genau diese Fähigkeit zur imaginierten Mehrheitsbildung fehlt, sei es, dass – wie bei Hans Trescher – »alle anderen« als »besser« wahrgenommen werden, sei es, dass – wie bei Frau Dahlke – das Gefühl entsteht, alleine und mehr oder minder hilflos der schulischen Institution ausgesetzt zu sein. Ein vergleichbares Dominanzgefühl wie im Falle von Herrn Schaller liegt vor, wenn Herr Dürer (ebenfalls Typ A) sich sehr bewusst gerade nicht als Vertreter einer Mehrheit sieht, sondern als Auserwählter von einem imaginären Durchschnitt abgrenzt. Es wäre sicher zu kurz gegriffen, wollte man die Existenz von Orientierungsrahmen, die sich selbst als Durchschnitt und Mehrheit konzeptualisieren und die in eben diesem Zuge die Leistungsfähigkeit einer schmalen Spitze zum Maß aller Dinge erklären, für das exklusive Charakteristikum einer musikalischen Ausbildung oder gar für ein besonderes Merkmal der Spezialschulen in der DDR halten. Denn ganz Ähnliches haben Pierre Bourdieu und Jean Claude Passeron vor über vierzig Jahren an französischen Schulen und Universitäten beobachten können: Bildungsinstitutionen neigen – so das Fazit der beiden Soziologen – generell dazu, sich bei den Inhalten, die sie zu vermitteln vorgeben, immer an denjenigen Schülern und Studenten zu orientieren, deren Habitus bereits im Vorhinein über die Werkzeuge verfügt, die für eine Bewältigung dieser Inhalte notwendig sind. Das Schulsystem bietet damit »eine Art der Bildung und des Wissens, die nur denen wirklich zugänglich ist, welche die implizit vorausgesetzte Bildung bereits besitzen.« (Bourdieu & Passeron 1971, S. 126) Mit dieser Zirkelstruktur beschreiben die Autoren – hier jetzt aus dem Blickwinkel der Institution –, genau das, was wir in einigen der zitierten Fallbeispiele herausgearbeitet haben: Man denke an Herrn Dürer, der darauf hinwies, dass er im Gegensatz zu anderen Mitschülern quasi aus sich heraus die blumige Sprache Prof. Bentheims verstanden und damit über ein wichtiges Lernwerkzeug verfügt habe, das jenen anscheinend prinzipiell nicht zu Gebote stand. Und auch Herr Schaller präsentierte sich ja als ein Schüler, der gleichsam habituell und im Vorhinein über genau jene Voraussetzungen verfügte, die notwendig waren, um die Korrekturanweisungen des Lehrers gezielt umsetzen zu können.
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Interessanterweise haben Bourdieu und Passeron ebenfalls zeigen können, dass auch im Bereich der allgemeinen schulischen Bildung diese offenkundige Tendenz zur Reproduktion von Ungleichheit durch die Mobilisierung eines gleichsam naturwüchsigen Begabungsbegriffs verschleiert wird. Unter Rückgriff auf die Studien von Basil Bernstein machen die Autoren deutlich, dass sowohl an Schulen als auch an Universitäten der Erfolg eines Schülers oder Studenten gerne seiner »Persönlichkeit« oder seiner »Begabung« zugeschrieben wird, während er doch in hohem Maße »von frühzeitigen Orientierungen abhängig [ist], die unweigerlich durch das familiäre Milieu bestimmt werden.« (Bourdieu & Passeron 1971, S. 31 f.; vgl. auch Kramer 2011, S. 84) Genau das wird in unserer soziogenetischen Typenbildung (vgl. Kapitel 4.1) zu untersuchen sein. Ohne den Begabungsbegriff prinzipiell als Einflussfaktor ausschließen zu wollen, werden wir der Frage nachgehen, ob und inwieweit sich bei den Vertretern des Typ A derartige frühe, durch das familiäre Milieu bestimmte Orientierungen finden lassen, die sich von denen der Typen B und C unterscheiden. Gesetzt, derartige Unterschiede ließen sich zeigen, wäre im Anschluss daran der Anspruch der Spezialschulausbildung kritisch zu hinterfragen, der unter Berufung auf einen milieuunspezifischen Begabungsbegriff darauf abzielte, zumindest nominell die »jungen Talente« aller Bevölkerungsschichten zu erfassen. Was die Antinomie zwischen Besonderheit und Normalität an den Spezialschulen der DDR – im Unterschied zu den von Bourdieu und Passeron untersuchten allgemeinen Bildungseinrichtungen – in besonders deutlicher Form hervortreten ließ, lässt sich im Wesentlichen auf drei Faktoren zurückführen: 1. Zunächst ist die Orientierung an »besonderen« Leistungen jeder musikalischen Spitzenförderung inhärent. Der Erwerb musikalischen Wissens und Könnens wird in Ausbildungskontexten, die sich an professionellen Maßstäben ausrichten, nahezu zwangsläufig an Maximalforderungen gemessen. In dieser Tendenz offenbart sich das Erbe des Geniebegriffs der Aufklärung, der eine Ausrichtung an einer am Grundsatz der Erlernbarkeit orientierten Regelpoetik nur noch im Rahmen einer propädeutischen Vorbereitung gelten ließ und die Leistungen der besonderen künstlerischen Persönlichkeit zu einem nicht hintergehbaren Richtwert erhob.15 Die erörterten Textpassagen zeigen, dass diese Orientierung durchaus auch an den Spezialschulen vorhanden war. Das ist keineswegs so selbstverständlich, wie es sich vielleicht liest: Folgt man dem Selbstverständnis maßgeblicher Akteure, so verstanden sich die Spezialschulen keineswegs primär als Orte eines ambitionierten künstlerischen Lernens, sondern weit eher als eine propädeutische und auf das so genannte »Handwerk« fokussierte Ausbildungsstätte für ein im späteren Studium dann auszuprägendes künst15 Genau im Sinne des kantischen Geniebegriffs: »Nach diesen Voraussetzungen ist Genie: die musterhafte Originalität der Naturgabe eines Subjekts im freien Gebrauche seiner Erkenntnisvermögen. Auf solche Weise ist das Produkt eines Genies […] ein Beispiel nicht der Nachahmung […], sondern der Nachfolge für ein anderes Genie, welches dadurch zum Gefühl seiner eigenen Originalität aufgeweckt wird […]. Weil aber das Genie ein Günstling der Natur ist, dergleichen man nur als seltene Erscheinung anzusehen hat: so bringt sein Beispiel für andere gute Köpfe eine Schule hervor, d.i. eine methodische Unterweisung nach Regeln […] und für diese ist die schöne Kunst sofern Nachahmung, der die Natur durch ein Genie die Regel gab. Aber diese Nachahmung wird zur Nachäffung, wenn der Schüler alles nachmacht.« (Kant 1957, S. 419, A 198, 199/ B 201)
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lerisches Handeln. Ein von uns interviewter Bläserdozent meinte: Wenn ich einen Spezialschüler nehme, muss der während der Spezialschulzeit sein Instrument so bedienen lernen, dass es keine Probleme mehr gibt. Wenn er dann zum Studium kommt, dann wird richtig musikalisch gearbeitet. In einem vergleichbaren Sinne äußerte sich auch die von uns interviewte Violinpädagogin Kathinka Rebling, die lange Jahre an der Berliner Spezialschule unterrichtete und die Entstehung der Spezialschul-Lehrpläne für Violine Ende der 1960er Jahre aus nächster Nähe mit verfolgt hat: »Sie müssen davon ausgehen, dass unser Beruf ja erst einmal ein Handwerk ist. Und was zum Handwerk gehört, war in den Lehrplänen genau vorgegeben. Es gab also einen methodisch gesicherten Aufbau, der dazu führte, dass an allen vier Standorten dasselbe gelehrt wurde.« Diese beiden Einschätzungen sind, um es mit dem Vokabular unseres strukturtheoretischen Schulkultur-Modells zu formulieren, auf der Ebene des Imaginären angesiedelt. Es handelt sich um Zuschreibungen, die darüber Auskunft geben, was Spezialschulen nach Ansicht der Befragten sind oder sein sollten. Die Rolle der von Kathinka Rebling genannten Lehrpläne sollte dabei nicht unterschätzt werden. Sie stellen eine imaginäre Vorstellung bezüglich des Entwicklungsganges eines »idealen« Spezialschülers dar. Natürlich gilt für alle Lehrpläne, dass sie zunächst einmal auf geduldigem Papier stehen, dessen bloße Existenz noch lange nicht verbürgt, dass in der Praxis dann auch danach gehandelt wird. Im Falle der Spezialschul-Lehrpläne ist aber zu betonen, dass hier in sehr kleingliedriger Form eine methodische Kette für die Klassen 6–10 vorliegt, die nicht von irgendwem, sondern von führenden Pädagogen innerhalb der doch recht kleinen Spezialschulwelt durchdacht und niedergeschrieben worden ist. So haben an dem 1967 entstandenen Lehrplan für Violine Fachvertreter aller vier Spezialschulen mitgewirkt: Georg Brinkmann (Dresden/Vorsitz), W. Buchholz (Berlin), Heinz Nitschke (Berlin), Hans Bülow (Halle-Leipzig), Klaus Hertel (Leipzig), Annemarie Dietze (Dresden) und Rolf Baumgarten (Weimar). An jedem der vier Standorte gab es also einflussreiche Pädagogen, die ihre methodische Erfahrung in die Lehrpläne eingegeben hatten und die in der Praxis dafür Sorge tragen konnten, dass sie zumindest ihrem Geist nach auch umgesetzt wurden. Selbst wenn den einzelnen Dozenten (etwa den nicht hauptamtlich angestellten Orchestermusikern) der genaue Wortlaut der Lehrpläne nicht vertraut war, so kann doch ein kollektiv geteiltes Wissen um den methodischen Aufbau und die vorzugsweise zu verwendende Literatur angenommen werden. Es steht außer Frage, dass es sich – um beim Beispiel Violine zu bleiben – bei dem Lehrplanwerk um ein äußerst sorgfältig erarbeitetes und höchst detailliertes Dokument handelt, das auch heute noch zweifellos eine Bereicherung für jede methodische Diskussion darstellen kann.16 Dennoch fällt auf, dass der Aspekt der Entstehung und Ausbildung künstlerischer Persönlichkeit in der Tat kaum im Fokus steht; der von Rebling ins Spiel gebrachte Begriff des »Handwerks« scheint eindeutig zu dominieren. Einer genaueren Lektüre offenbart sich allerdings, dass es hier nicht so sehr um eine Trennung von Handwerk und 16 Und von dem man sich wünschen möchte, dass es von jedem angehenden Geigenpädagogen einmal intensiv studiert wird. Nicht weil es sich in der normalen Musikschularbeit auch nur ansatzweise verwenden ließe, wohl aber, weil hier das Prinzip eines folgerichtigen Aufbaus von den Grundlagen bis hin zu einem professionellen Status mit äußerster Akribie umgesetzt wird.
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Kunst (im Sinne eines gestuften »Vorher-Nachher«) geht. In Wahrheit spielt – wie sollte es auch anders sein? – die Dimension des Künstlerischen durchaus eine gewichtige Rolle. Sie ist allerdings derart eng an die technisch-handwerkliche Dimension gebunden, dass sie als eigenständiger Faktor kaum zu greifen ist. Und paradoxerweise wird sie gerade dadurch, dass sie im Handwerklich-Technischen nahezu verschwindet, zu einem entscheidenden Selektionskriterium. Dieser Zusammenhang sei näher erläutert: In der Einleitung des Lehrplans Violine heißt es explizit, dass als »Grundlage der Musikerziehung […] das Prinzip einer einheitlichen technischen und künstlerischen Entwicklung« zu dienen habe (Brinkmann et al. 1967, S. 4). Gerade dieses Postulat der Einheitlichkeit führt nun aber zu einer gewissen Verengung: Künstlerische Entwicklung wird an das Durcharbeiten eines bestimmten Stoffplans gebunden, der zeitlich sehr genau gegliedert ist. Wer, aus welchen Gründen auch immer, nur so gerade eben diesen technischen Stoff bewältigt, wird kaum seine künstlerische Persönlichkeit entwickeln können. Ein Ausscheren aus dem vorgegebenen zeitlichen Rahmen ist jedoch nur in geringem Maße möglich, da jedes Schuljahr an bestimmte Leistungsziele gebunden ist.17 Zwar wird ausdrücklich zugestanden, dass »im ganzen gesehen […] das Studienmaterial die individuellen Eigenheiten des Studierenden, den Stand seiner allgemeinen technischen und musikalischen Entwicklung berücksichtigen [sollte]«, ein »Vor- oder Zurückgreifen im Schwierigkeitsgrad« sei »erlaubt«, doch es folgt der Satz: »Dieses sollte jedoch begründet werden.« (Ebd., S. 3) Das Verhältnis zwischen vorausgesetzter Regel und geduldeter Ausnahme ist damit ziemlich genau definiert. Die Kopplung der musikalischen Persönlichkeitsentwicklung an einen zeitlich eng strukturierten technischen Stoffplan läuft somit Gefahr, dass bei »langsamen« Schülern der erstgenannte Aspekt unter die Räder gerät. Die Formel von der »einheitlichen technischen und musikalischen Entwicklung« birgt noch ein weiteres Risiko: Sie befördert ein Denken, das davon ausgeht, dass sich die musikalische Persönlichkeit gewissermaßen im Schlepptau vorgegebener – und innerhalb gewisser Grenzen sogar individuell zugeschnittener – methodischer Interventionen entwickelt. Seinem Selbstverständnis nach besitzt der Lehrplan eine 17 Als Beispiel ein Ausschnitt aus dem Stoffplan der Klasse 7: »Rechts: 1. Die Stricharten sind weiter zu fördern in Bezug auf genaues Einhalten der vorgeschriebenen Tempi und der Tonqualität (z.B. Sevcik op. 2 Heft I Nr. 6, 7, 11 oder an Etüden Kayser Nr. 13, 18, 24; Dancla op. 68 Nr. 12; Spindler Heft II S. 25 und 26) 2. Pflege des Bogenwechsels an allen Stellen des Bogens vor allem am Frosch. Bogenwechsel mit Legatoformen und Saitenübergängen (Auswahl aus Sevcik op. 2 Nr. 11 und 29) 3. Bei den Saitenwechselstudien sollten auch springende Saitenwechsel über drei und 4 Saiten an entsprechendem Material einbezogen werden (z.B. Sevcik op. 2 Nr. 11, 29, 31, 33, 34; Etüden: Wohlfahrt op. 54 Nr. 27, 55; Mazas Heft I Nr. 11 u,a.) 4. Tonbildungsstudien sind fortzuführen (z.B. an gehaltenen Einzel- und Doppelgrifftönen unter Berücksichtigung der Kontaktstellen, z.B. Kayser 17, Mazas Heft Nr. 7, 27 u.a.) 5. Beginn der Strich-Akkord-Studien (z.B. Sevcik op. 2 Nr. 37; Dancla op. 68 Nr. 3)« (Brinkmann et al. 1967, Lehrplan Violine, S. 13 f.).
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ausreichende Variabilität an unterschiedlicher Unterrichtsliteratur, so dass die Entwicklung künstlerischer Persönlichkeit eigentlich sichergestellt sein müsste. Im Umkehrschluss heißt das aber: Stellt sich das gewünschte Ergebnis nicht ein, dann liegt – gesetzt, der Lehrer hat die Variabilität des Plans voll ausgenutzt – die »Schuld« beim Schüler, der eben nicht über genügend »Persönlichkeit« verfügt. Gerade die Detailliertheit und Differenziertheit der Vorgaben sowie die dahinter zu spürende Genugtuung, vielfältigste Aspekte bedacht zu haben, begünstigt eine Haltung, die im Vorhandensein oder in der Abwesenheit musikalischer Persönlichkeit einen Hinweis auf die »Begabung« des Schülers sieht. Wenn auf methodischer Seite alles Gebotene getan wurde, dann kann es ja eigentlich nur am Schüler liegen! Vor diesem Hintergrund ist es durchaus plausibel und nachvollziehbar, wenn ein Kriterium wie »musikalische Persönlichkeit«, das nach Ansicht des zitierten Bläserkollegen eigentlich erst im Hochschulstudium eine zentrale Rolle spielen sollte, in der konkreten Bewertungspraxis an den Spezialschulen – mithin auf der Ebene des Symbolischen – nicht nur eine fraglose Rolle spielte, sondern die Funktion eines zentralen Selektionskriteriums innehatte. Das lässt sich zumindest indirekt an einer Analyse von Prüfungsprotokollen zeigen. Die Formulierungen in derartigen Protokollen sind natürlich oft durchsetzt von routinierten Floskeln, da für eine genauere schriftliche Würdigung angesichts des bei Wettbewerben und Prüfungen üblichen engen zeitlichen Korsetts kaum die Gelegenheit besteht. Insofern ließe sich zumindest auf den ersten Blick die Aussagekraft derartiger Quellen bezweifeln. Einer Untersuchung, der es um die Rekonstruktion der konjunktiven Wissensbestände geht, kann aber eben dieser Floskelhaftigkeit wichtige Hinweise auf implizite Gewichtungen und Haltungen entnehmen. Denn gerade weil Floskeln ein Moment der Routine enthalten, geben sie unfreiwillig Auskunft über den Orientierungsrahmen, dem diese Routinen entsprangen. Zwei im Rahmen des Zentralen Leistungsvergleichs der Klassen 7–9 im Fach Violine getroffene Einschätzungen aus dem Jahre 1985 mögen das veranschaulichen: »Holger verfügt […] über eine gute Geläufigkeit. Der künstlerische Gesamteindruck blieb jedoch noch einförmig und blass.« (Arbeitsgruppe Violine/Viola 1985, S. 4) »Das Programm war sehr gut gearbeitet und wurde solide und korrekt dargeboten. […] Im ganzen fehlt Christianes Spiel noch die Eigenständigkeit und persönliche Ausstrahlung.« (Ebd.)
Holgers Leistung wurde mit 16, Christianes mit 16,6 von insgesamt 25 möglichen Punkten bewertet. In beiden Fällen handelt es sich um eher »durchschnittliche« Leistungen. Keineswegs kann man also sagen, dass an den Spezialschulen ein solides, korrektes und gut gearbeitetes, mit anderen Worten: ein handwerklich sauberes Spiel einseitig zum Maß aller Dinge erhoben wurde. Schaut man sich jene insgesamt acht Kandidaten an, denen im Anschluss an diesen Leistungsvergleich als »besondere Fördermaßnahme« eine dritte Hauptfachstunde gewährt wurde, so sieht man, dass es sich fast ausnahmslos um Schülerinnen und Schüler handelte, denen in der schriftlichen Einschätzung Prädikate wie »Musikantentum«, »persönliche Klanggestaltung«, »Farbigkeit«, »persönliche Beziehung zum Geigenton« oder »Schwung« attestiert wurden. Diese Aspekte dienten als Differenzkriterium zwischen diesen auserwählten
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»Besonderen« und dem Rest. Da diese Kriterien aber untrennbar mit dem technischhandwerklichen Fortschreiten verbunden waren, gerieten Schüler, die womöglich einiges an musikalischer Ausdruckskraft mitbrachten, aber in technisch-manueller Hinsicht Defizite aufwiesen, schnell ins Hintertreffen. Es ist überaus aufschlussreich, dass es in allen uns vorliegenden Protokollen der Leistungsvergleiche keine Beispiele dafür gibt, dass einer Leistung musikalische Persönlichkeit bei gleichzeitig vorliegenden technischen Mängeln zuerkannt wurde. Wenn das handwerkliche Soll nicht erfüllt war, konnte ersteres anscheinend nicht sein! Ob eine derartige Verbannung ins Mittelfeld für die Ausgeschlossenen nun aber der geeignete Ansatz ist, die vermissten Persönlichkeitseigenschaften zu »fördern«, lässt sich bezweifeln – zumal die Entfaltung einer künstlerischen Persönlichkeit mit der Erfüllung der im Lehrplan festgelegten Norm durchaus auch in einer Konkurrenzsituation stehen konnte, was mitunter zu Kollisionen führte. In den Protokollen desselben Leistungsvergleichs findet sich auch folgende Beurteilung: »Veronikas Spiel ist noch ganz kindlich und lässt ein künstlerisches Konzept vermissen. […] Das Bériot-Konzert ist für Kl. 9 zu leicht.« (Ebd., S. 5) Obgleich die Dimension der künstlerischen Persönlichkeit (oder wie es hier heißt: eines künstlerischen Konzepts) eine Kategorie darstellt, die in dieser Beurteilung explizit eingefordert wird und die ein entscheidendes Selektionskriterium zwischen den einer besonderen Förderung würdigen Schülern und dem Rest bildete, scheint sie dennoch nichts gewesen zu sein, was den Ruf nach einer speziell auf den jeweiligen Schüler zugeschnittenen Unterrichtsweise hätte laut werden lassen. Wie anders ließe sich erklären, dass in ein und demselben Atemzug sowohl das Fehlen eines künstlerischen Konzepts als auch der zu geringe Schwierigkeitsgrad bei der Stückauswahl kritisiert wird? Wäre es wirklich darum gegangen, Veronika zu einem künstlerischen Konzept zu verhelfen, hätte in diesem Falle der Schwierigkeitsgrad ja wohl kaum eine Rolle spielen dürfen. Indem die Jury auf einem normativ festgeschriebenen Schwierigkeitsstandard beharrt, gibt sie zu erkennen, dass sie die Entwicklung eines künstlerischen Konzepts für etwas hält, das sich beim Durchlaufen des Lehrplans entweder von alleine einstellt – oder eben nicht! Dass die Entfaltung dieser Kategorie mitunter eine Abkehr von der geforderten Entwicklungsnorm verlangt, scheint im Bewusstsein dieser Kommission, der immerhin führende Vertreter aller vier Spezialschulen angehörten, nicht vorhanden gewesen zu sein. Was die Selektion zwischen besonderen Auserwählten und der breiten Normalität für den individuellen Orientierungsrahmen bedeutete, können wir an unseren Typen B und C studieren: So schildert sich Herr Innstedt rückblickend als einen Schüler, der sich mit großem Fleiß auf die Detailversessenheit seiner Lehrerin einließ und der insofern sicherlich ebenfalls als jemand gelten konnte, der die »Norm« der Lehrplanvorgaben gut erfüllt hat. Dennoch scheint bei ihm permanent das Bewusstsein vorhanden gewesen zu sein, dass er sich grundsätzlich nicht mit jenen Mitschülern vergleichen konnte, die ihm schon damals als ganz andere Musiker erschienen. Daraus resultierte der Eindruck des Deplatziert-Seins, das bei ihm subjektiv mit dem Gefühl permanenter Fremdbestimmung einher ging – einem Gefühl, das in seinen Augen aber gerade die Herausbildung und Entwicklung seiner Persönlichkeit verhinderte – jenes Faktors also, der, hätte er über ihn verfügt, ihn vermutlich von diesem Gefühl befreit hätte. Im Nachhinein stellt er diesen Zusammenhang folgendermaßen dar:
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Wenn man sich eben selber nicht wohl fühlt und man Druck kriegt oder so, [geht das alles nicht]. Ich sag mir heute immer: Das muss auch ohne Druck gehen, das kann auch durch Lust, durch Neugier gehen. Und wenn sich das dann durch Lust und Neugier anfängt zu entwickeln, dann macht man sich selber Druck. Und das ist ’ne ganz andere Sache, wenn das intrinsisch ist, als wenn man das von außen ständig um die Ohren gehauen kriegt. Na ja, und das ist dann ein Beleg dafür, dass eben dieser äußere Druck an der Spezialschule unterm Strich nicht aufgeht. Es gab mal ’n Jahr, ich weiß allerdings nicht, wann das gewesen ist, da waren es dreie aus meiner Klasse – ein Cellist, ein Geiger und ich selbst –, die in Kaliningrad studieren sollten. Das muss dann in der 10.1 gewesen sein. Und da sind wir nach Berlin gefahren. Und haben vor ’ner Jury vorgespielt. Da saßen die ganzen renommierten Namen und haben sich die Leute, die eben im Ausland studieren wollten, angehört. Und wir sind alle drei nicht dran gekommen. Ne? Weil die eben einfach gesehen haben, dass wir nicht diese – wie soll ich das nennen? – Künstler ist nicht der richtige Ausdruck … Ich meine: Vom Fachlichen her war unsere Leistung bestimmt schon ausgereift, sonst hätten sie uns ja dort nicht hingeschickt und hätten uns das nicht zugetraut letzten Endes. Aber es gehört was anderes dazu. Man muss in seinem Inneren ein richtiger Künstler sein. Und heute kann ich das, also heut würd ich das machen. Ich sag immer: Wenn ich noch mal auf die Welt kommen würde, würde ich wieder Musiker. Weil ich jetzt weiß, wie das geht. Und damals haben die eben gemerkt: Da sitzen Leute, die machen das zwar wahrscheinlich solide, aber das haut mich nicht vom Hocker.
Obwohl es also eine Norm gegeben hat, die den Erfolg der Spezialschulausbildung am Erreichen der in den Lehrplänen vorgeschriebenen handwerklichen Ziele maß, scheint der konjunktive Erfahrungsraum aller vier Spezialschulen doch von dem Bewusstsein geprägt gewesen zu sein, dass die Entsprechung dieser Norm keineswegs genügte, um sich als vollgültiger Musiker fühlen zu können. Die Benotungspraxis war eindeutig auf die Erzeugung einer Gruppe »besonderer« Schüler zugeschnitten, in deren Angesicht dem ganzen Rest dieser Status abgesprochen wurde. Die von uns präsentierten Beispiele zeigen deutlich, welche Spuren diese Selektion im Selbstbild der Betroffenen hinterließ. Es ergäbe allerdings ein unvollständiges Bild, wollte man ausblenden, dass das Problemfeld der Entwicklung und Entfaltung musikalischer Persönlichkeit nicht doch zumindest diskutiert worden ist. Diese Diskussionen wurden allerdings nicht vom »Wissenschaftlich-Methodischen Zentrum für musikalische Hochschulausbildung des Ministeriums für Kultur« vorangetrieben, das sich im Zuge des Spezialschulgesetzes von 1965 konstituiert hatte und an der Hanns-Eisler-Hochschule in Berlin angesiedelt war. Die Arbeit dieses Zentrums erschöpfte sich weitgehend in einer statistischen Aufbereitung der Ergebnisse bei Wettbewerben und Leistungsvergleichen. Innovativere Impulse kamen dagegen von der Arbeitsgruppe Psychologie/Pädagogik an der Dresdner Musikhochschule. Unter der Leitung des rührigen Psychologen, Musikers und Mitbegründers des Faches Musiktherapie in der DDR, Christoph Schwabe, veranstaltete diese Arbeitsgruppe eine Reihe von Arbeitstagungen und Symposien, an denen Musikpädagogen, Psychologen und Instrumentallehrer aus der ganzen DDR teilnahmen. Interessant für unseren Zusammenhang ist etwa die Arbeitstagung »Musikalische Elementarerziehung« vom September 1985. Auf dieser Tagung, an der auch Lehrkräfte der Spezialschulen teilnahmen, wurde offen die Tendenz eines »dressierenden und gängelnden« Hauptfachunterrichts beklagt (Hochschule für Musik »Carl Maria von Weber« Dresden, Abteilung Musikwissenschaft/Arbeitsgruppe
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Psychologie/Pädagogik 1985, Protokoll, S. 9) und die Forderung erhoben, durch das Fach »Musikalische Elementarerziehung« Schülern aller Alters- und Leistungsstufen einen auf unmittelbarer Sinnlichkeit und Emotionalität gründenden Zugang zur Musik zu ermöglichen. Schwabe definierte gegen Ende dieser Tagung Musikalische Elementarerziehung als eine »Lebenshaltung«, die jede andere »musikalische Tätigkeit mehr oder minder beeinflusst« und daher gerade auch für die musikalische Entwicklung im Hauptfach von großer Wichtigkeit sei. Die Tagungsmitschrift einer Teilnehmerin konkretisierte diese Protokollnotiz durch Aspekte, die speziell für den künstlerischen Hauptfachunterricht als wesentlich erachtet wurden: »Rhythmische Erziehung, Training von Kommunikation, Empfinden für Raum, Training der Ausstrahlungskraft«. Allerdings wurde auch auf dieser Tagung sehr schnell die Frage laut, auf welche Weise sich eine derartige »Lebenshaltung« konkret in den Köpfen der Akteure ansiedeln ließe. Eine Spezialschullehrerin konstatierte trocken: »Unsere Lehrer kann man kaum verändern.« (Ebd., S. 12) Eine Diskussion, die auch heute noch stattfinden könnte! 2. Ferner richtete sich die Ausbildung an den Spezialschulen gewissermaßen per definitionem an eine »spezielle« Schülerklientel; eine generelle Orientierung an »besonderen« Leistungen war also systemimmanent vorgegeben. Da besondere Leistungen aber ihrem Wesen nach dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sich von weniger besonderen Leistungen abheben lassen, reproduzierte sich mit dieser Orientierung auch innerhalb der Spezialschulausbildung eben jene pyramidale Struktur einer schmalen Spitze und einer breiten Normalität, die gesamtgesellschaftlich durch die Gegenüberstellung »besonderer« Spezialschulen und »normaler« Musikschulen realisiert wurde. Im Vergleich zu einem Musikschüler war ein Spezialschüler »besonders«, auch wenn er im Rahmen der Spezialschule lediglich als »normal« beurteilt wurde. Anders formuliert: Jenseits der Ebene subjektiv gefühlter Mehrheiten gab es innerhalb der Spezialschulen eine ganz reale Bewertungshierarchie, die wenige Spitzenleistungen von einem normalen Mainstream abgrenzte. Diese Hierarchie unterstützte die Entstehung unterschiedlicher Orientierungsrahmen wie »Fisch im Wasser«, »Schüler« und »Fremdling«, wobei nochmals zu beachten ist, dass es keinen Mechanismus gab, durch den etwa eine hervorragende Leistung automatisch zum Typ »Fisch im Wasser« führte. Diese Bewertungshierarchie ist bereits vor der Wende statistisch untersucht worden. In einer 1986 verfassten Diplomarbeit untersuchte Stefan Görlich, der selbst Spezialschüler war, die Ergebnisse der Dresdner Schüler bei den Leistungsvergleichen der Klassen 10.1 im Zeitraum zwischen 1979 und 1985 (vgl. Görlich 1986, S. 33 f.). Die Ergebnisse zeigen, dass nur 16,5 % der Schüler mindestens 19 Punkte von insgesamt 25 erzielten und damit in einem Bereich angesiedelt wurden, der den Schulnoten 2 und besser entsprach. Der gesamte Rest – also über 80 % der Schüler – lag darunter.
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Abbildung 2: Ergebnisse Dresdner Schüler bei den zentralen Leistungsvergleichen
Quelle: Görlich 1986, S. 33
3. Und schließlich war die Normalität des Durchschnitts an den Spezialschulen zwar für die individuellen Orientierungsrahmen etwas Mängelbehaftetes, nicht aber für das Ausbildungssystem als solches. So deplatziert sich die »Schüler« und die »Fremdlinge« auch teilweise fühlen mochten: Sie wurden gebraucht. Gerade das führte aber zu einer Verstärkung der inneren Widersprüchlichkeit zwischen einer »eigentlich« intendierten Besonderheit als Schüler der Spezialschule und einer per definitionem als defizient angesehenen Normalität innerhalb der Schule. Gebraucht wurden die Normalen nämlich nicht nur im Sinne Bourdieus, der in der Existenz »schlechter« Schüler eine Rechtfertigung und Selbstbestätigung des Bildungssystems sah, weil deren Scheitern als »natürliche Unfähigkeit« und fehlende Begabung ausgewiesen werden kann (vgl. Bourdieu & Passeron 1971, S. 107), wodurch sich die Institution wiederum das Recht zur Selektion schwächerer Schüler nimmt. Notwendig waren die Normalen an der Spezialschule vielmehr aus einem ganz pragmatischen Grund: Im Gegensatz zum Sport – wo die Zugehörigkeit zur normalen Durchschnittlichkeit mit dem Entzug von Privilegien oder gar mit dem Ausschluss aus dem staatlichen System der Spitzenförderung einherging (vgl. hierzu Kapitel 3.5.2.3, S. 231 ff.) – konnte man an den Spezialschulen für Musik auch als Angehöriger des Fußvolks oder gar als »Fremdling« erfolgreich die Ausbildung durchlaufen (das zeigen in besonderer Weise die Äußerungen von Frau Groß und Frau Thalheim). Da die Spezialschulen nicht nur eine international wettbewerbsfähige Elite hervorbringen, sondern vor allem auch den Nachwuchs für das breitgefächerte kulturelle Leben der DDR bereitstellen sollten, wurde der Durchschnitt dringend benötigt – auch wenn er innerhalb der Spezialschulen dann letztlich doch nach den Kriterien der Spitze gemessen und beurteilt wurde. Das erklärt vielleicht, wieso für Typ B (»Schüler«) trotz des offenkundigen
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Gefühls der Fremdbestimmtheit im Hauptfach eine grundsätzliche Identifikation mit der Spezialschule selbstverständlich ist. In unserem Fragebogen antworteten lediglich sechs von insgesamt 112 Befragten auf die Frage »Konnten Sie sich mit der Spezialschule identifizieren?« mit »Nein«. Keiner von diesen sechs gehörte zum Typ B unseres Samples. Dasselbe Bild ergab die Frage »Empfanden Sie es als Ehre oder Auszeichnung, der Spezialschule anzugehören?«, die zu 79,1 % mit »Ja« und zu 21,1 % mit »Nein« beantwortet wurde. Innerhalb unseres Samples waren es nur zwei Befragte, die zu diesen Nein-Stimmen gehörten – beide aus dem Typ C. 3.2.5.2 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen Autonomie und Heteronomie Wie zu sehen war, unterscheiden sich die drei von uns generierten Typen vor allem auch durch das Ausmaß der ihnen zu Gebote stehenden Handlungsmöglichkeiten. Die Vertreter des Typs A gehen mit den Anforderungen des Hauptfachunterrichts in hohem Maße selbstbestimmt um, weil sich diese Anforderungen relativ lückenlos mit den Ansprüchen verbinden lassen, die sie an sich selbst und an die Musik stellen. Und wo eine derartige Passung fehlt, nehmen sie ihre Geschicke selbstständig in die Hand (wie etwa Frau Trenkler, die sich während ihrer Schulzeit von alleine auf die Suche nach einem Lehrer begibt, der zu [ihr] passt). Typ B hingegen erlebt das Hauptfach als fremdbestimmt und benötigt anderweitige Motivationsquellen, um sich dennoch auf dessen Anforderungen einlassen zu können, während Typ C genau diese Kompensationsmöglichkeiten fehlen. Dieser Typ erlebt die Anforderungen als Zwänge, die sich nur gegen innere Widerstände erfüllen lassen. Eine gute Passung zum Hauptfachunterricht scheint an der Spezialschule daher – zumindest in einem bestimmten Maße – an die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten Handeln gekoppelt gewesen zu sein. Dieser Befund wirft die Frage auf, in welchem Verhältnis diese anscheinend notwendige Fähigkeit zu dem Eindruck von Fremdbestimmung und Gängelung steht, von dem Typ B und C übereinstimmend berichten. Im Folgenden werden wir daher anhand einiger Lehrerinterviews zunächst prüfen, wie sich das Spannungsfeld von Autonomie und Heteronomie aus der Perspektive der Lehrenden gestaltete und ob sich aus deren Äußerungen konjunktive Elemente ableiten lassen, die als prägend für den Erfahrungsraum der Spezialschule gelten können. Wir fragen also – um es mit unserem strukturtheoretischen Schulkulturvokabular zu formulieren – ob und inwieweit sich hinter den symbolischen Verkörperungen und imaginären Zuschreibungen unserer Interviewpartner eine Ebene des Realen erkennen lässt, die die Spielräume der handelnden Personen definierte. Untersucht man die Äußerungen der von uns interviewten Lehrer, so erhält man vordergründig zunächst den Eindruck, dass aus deren Perspektive eine Erziehung zu selbstständigem musikalischen Handeln an der Spezialschule in keiner Weise vorgesehen war. Theo Bormann, ein ehemaliger Lehrer und renommierter Orchestermusiker, verwendete zur Kennzeichnung seiner Ausbildungsphilosophie den vielsagenden Begriff des Kontrollstudiums: Das Musikstudium ist ein Kontrollstudium. Das ist kein Studium, wo der Professor sagt: »Hier also, wir sehen uns in vier Wochen wieder, hier habt ihr ’nen Stoß Bücher; wird alles durchgearbeitet, macht ein Konzept darüber« oder Rezept oder wie man’s nennt. Geht nicht. Musik ist
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ein Kontrollstudium: Es muss mindestens im wöchentlichen Abstand das, was sich der Schüler alleine erarbeitet hat, kontrolliert werden. Und berichtigt werden. Verbessert werden oder verändert werden oder so. […] Interviewerin: Und diese Kontrolle gab es auf der Spezialschule? TB: Die gab es dort genauso.
Hier wird nur die eine Seite der Medaille thematisiert. Herr Bormann betont die wohl unbestreitbare Notwendigkeit eines möglichst engmaschigen Unterrichts gerade zu Beginn der instrumentalen Ausbildungszeit. Das nicht minder wichtige Gegenstück bleibt jedoch unerwähnt: Schließlich, das würde wohl auch er kaum bestreiten können, muss selbst in einem auf permanente Kontrolle ausgerichteten Unterricht der Schüler in die Lage versetzt werden, das gemeinsam Erarbeitete zu Hause so umzusetzen, dass er dort zu einer selbstständigen Beurteilung seines Tuns fähig ist. Dieser Aspekt bleibt jedoch unerwähnt. Herr Bormanns Selbstverständnis als Lehrer artikuliert sich in einer Sprache, die den Schüler in ein gleichsam willenloses Objekt pädagogischer Intervention verwandelt. Über andere Sprachmöglichkeiten scheint er nicht zu verfügen. Das zeigt sich vor allem an dem als negativer Gegenhorizont dienenden Beispiel aus dem Wissenschaftsbereich, das natürlich kaum mehr als eine Karikatur ist. Gerade an diesem karikierenden Moment wird jedoch offenbar, dass alles, was die Unterrichtsphilosophie einer permanenten Kontrolle in Frage stellen könnte, von Herrn Bormann für absolut undenkbar und letztlich absurd gehalten wird. In dieses pädagogische Credo mischt sich in hohem Maße das Selbstverständnis des Orchestermusikers, in dem der Begriff der Disziplin eine unangefochtene Leitfunktion besitzt. Disziplin zu lernen ist für den Beruf nun einmal unbedingt wichtig. Also, ein Musiker, der keine Disziplin hat, kann zum Beispiel nie mit anderen Musikern in einem Orchester spielen. Das geht einfach nicht. Insofern sind das eigentlich die Grundlagen gewesen […]. Dass Herr Bormann mit dem Begriff der Disziplin vor allem auch die Bereitschaft zu restloser Unterordnung gegenüber höher stehenden »Respektspersonen« meint, zeigt sich an der Tatsache, dass er an mehr als nur einer Stelle des Interviews zur Kennzeichnung seiner Vorstellung vom Lehrer-Schüler-Verhältnis die eigene Position als erfolgreicher und einflussreicher Orchestermusiker ins Spiel bringt: Es ging im Prinzip darum, dass die ganzen Lehrer, die damals hervorragende Solisten, Konzertmeister der Kapelle und der Philharmonie waren, und sich die Mühe gaben … Das war natürlich auch immer noch ’ne Mühe. Man war viel mehr gebunden, wenn man an der Spezialschule unterrichtet hat und dieses durchschnittlich vier bis fünf Jahre … Und nach den fünf Jahren, dann sagt der Herr Schüler: »Ach na ja, das ist doch nichts Richtiges für mich. Och nee, ich will doch lieber Mediziner werden.« Also, DAS gab es früher NICHT.
Hier artikuliert sich eine prinzipielle Asymmetrie: Wenn auf der einen Seite von hervorragenden Solisten die Rede ist, die sich durchschnittlich vier bis fünf Jahre Mühe geben, dann kann auf der anderen Seite eigentlich nur ein Schüler stehen, der dankbar und pflichtschuldig den Anweisungen dieser hochkarätigen Würdenträger folgt. Dabei wird selbstverständlich vorausgesetzt, dass der Spezialschüler von vornherein bereit ist, sich im jugendlichen Alter auf die vom Lehrer vorgegebenen Ziele, die ja immer auch Berufsziele sind, einzulassen. Ein Ausscheren aus der vorgezeichneten
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Perspektive ist nicht nur unerwünscht, sondern erscheint als regelrecht ungehörig: So kann man mit hervorragenden Solisten und Konzertmeistern aus der Kapelle und der Philharmonie nicht umgehen. Die Entscheidung, ob vom vorgesehenen Weg abgewichen wird oder nicht, liegt allein beim Lehrer: [Nach einem Jahr sah man:] Oh, der eine wird gut, prima. Zweites Jahr: Der wird besser, alles logisch, alles klar. Der wird ein Student bei uns. Aber bei dem, nee, das wird nichts, da müssen wir uns leider trennen. Da mussten die wieder in ihre Heimatschulen zurück. Die Arbeitskraft des Lehrers war natürlich weg, aber alle anderen, die gut waren, kamen automatisch auch zum Studium.
Interessant ist nun allerdings, dass Herr Bormann, sobald es um seine eigene Biografie geht, ganz selbstverständlich den Aspekt der Eigenständigkeit ins Spiel bringt. Angesichts der Tatsache, dass er selbst in ganz jungen Jahren ins Orchester gekommen ist, bezieht sich die folgende Passage sehr wohl auf die Altersstufe eines Spezialschülers: Ich hatte auch einen sehr guten Lehrer […], der hat mich fünf Jahre lang ausgebildet und da hat man vieles übernommen, dieses und anderes, und manches hat man nicht übernommen, absichtlich. Die Fähigkeit zu einem derart selbstständigen Abwägen und Beurteilen, die Herr Bormann für sich ganz klar in Anspruch nimmt, findet, wie man sieht, allerdings keinen Eingang in sein pädagogisches Selbstverständnis. Sie ist aber als Kategorie bei ihm gleichwohl vorhanden. Allem Anschein nach geht für ihn eine bestimmte Leistungsfähigkeit durchaus mit dem Vermögen zu selbstbestimmten Entscheidungen einher. Die Kategorie der Selbstständigkeit ist also keineswegs inexistent, erscheint jedoch als exklusives Vorrecht besonderer Leistungsträger. Damit stellt sich natürlich die Frage, ob die von Herrn Bormann vertretene Unterrichtsphilosophie nicht von vornherein genau jene Zielgruppe verfehlt, die sie fördern möchte. Dass sich hier nicht allein der Orientierungsrahmen eines einzelnen Kollegen äußert, sondern eine generelle Tendenz zum Ausdruck gebracht wird, zeigt der Vergleich mit anderen Lehreräußerungen. Gerade angesichts des Umstandes, dass es sich bei den von uns interviewten Lehrern um sehr ausgeprägte Persönlichkeiten handelt, die sich keineswegs über einen Kamm scheren lassen, weist die Tatsache, dass die Idee eines selbstbestimmt arbeitenden und handelnden Schülers einerseits als pädagogische Maxime inexistent bleibt, während sie andererseits als unausgesprochener Hintergrundmaßstab ein irrlichterndes Dasein führt, auf ein konjunktives Element hin, das durchaus kennzeichnend für den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule gewesen sein muss. Ein weiteres sehr anschauliches, um nicht zu sagen drastisches Beispiel liefern die Erinnerungen von Ludwig Nierhoff, der von einer Schülerin berichtet, die mit einer etwas schlappen Haltung im Unterricht bei ihm auftauchte: Und ich bin ja nun wirklich ein bissel brutal, hab dann zu ihr gesagt: »Pass auf, Mädel, eins ist jetzt klar: Du kommst montags hier zum Unterricht, da bist Du munter. Aber noch muntrer geht’s gar nicht. Und sollte das nicht der Fall sein, dann könnte’s Dir passieren, dass ich mit Dir hier wie bei der deutschen Armee Strafexerzieren anstelle. SO sitzt Du hier nicht mehr!« Da guckte sie, da kamen Tränen, der Unterricht war vorbei. Zwei Stunden später kam sie und sagte: »Herr Nierhoff, ich will.« […] Und die hat dann richtig gut gearbeitet.
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Das Besondere in diesem Fall besteht in der Tatsache, dass sich Herr Nierhoff einerseits bezüglich seiner Wortwahl und Sprache eindeutig als Vertreter einer schwarzen Pädagogik positioniert. Andererseits konstruiert er in anderen Interviewpassagen aber einen entschieden negativen Gegenhorizont, wenn er etwa über jene Kollegen spricht, die glaubten, über eine ausschließlich auf Druck und Repression basierende Lehrweise zum Erfolg zu kommen. Sobald es um die inhaltlichen Aspekte des Unterrichts geht, erweist er sich als entschiedener Verfechter einer »modernen«, methodisch abgesicherten Unterrichtsweise. Ein Beispiel für seine Abgrenzung gegenüber – wie er es nennt – Kollegen von 1850 liefert seine Erzählung über die Einführung des Faches Methodik für sein Instrument an der Hochschule: Ich hatte einen Kollegen … Da gab es allerdings einen Wermutstropfen, der war für Neuerungen nie offen. Also, er hat auch mal zu mir gesagt, als ich dann die Methodik des Hauptfachs einführen wollte, was ja keiner kannte: »Fang das auf keinen Fall an, da müssen wir das alle machen.« Und dafür hatte ich nun gar kein Verständnis.
Und in Bezug auf seine eigene Biografie gibt er deutlich zu erkennen, was er von einem auf offener Repression gründenden Unterrichtsstil hält:, Also, ich hab erst mal mit großem Widerwillen seit meinem sechsten Lebensjahr Violine gespielt und hatte eine hervorragende Lehrerin. Da hat das auch Spaß gemacht, da ging das auch voran. Aber die starb dann. Und dann hatte ich einen Lehrer, der war dann später auch an der Hochschule. Das kann man sich gar nicht vorstellen: Bogen in die Rippen gestoßen, an den Haaren gezogen und so weiter. Ja, so was war das. Und da war natürlich bei mir der Ofen aus.
Das hindert ihn aber nicht daran, von einem Spezialschüler auf folgende Weise zu berichten: Da kam einer an, also, ich muss das wirklich brutal sagen: Gleich erst mal links und rechts ’ne Triole auf die Backen. Da war absolut null. Selbst wenn hier bewusst übertrieben wird und die Triole auf die Backen lediglich symbolischen Charakter besitzt, so offenbart sich dahinter doch ein pädagogisches Selbstverständnis, das sich von dem des erwähnten Geigenlehrers nur in dem Punkt unterscheidet, dass es mit dem Anspruch auftritt, methodisch durchdacht zu sein. Wir haben hier also einen Fall vor uns, bei dem sich eine in methodischer Hinsicht modern und fortschrittlich verstehende Fachkompetenz mit einer auf Repression gründenden pädagogischen Grundüberzeugung reibungsfrei zu paaren scheint. Oder genauer: bei dem die Überzeugung, aufgrund methodischer Fachkompetenz den Schüler zum gewünschten Ergebnis führen zu können, den Einsatz repressiver Mittel legitimiert. Allerdings wäre, und hier besteht die Parallele zu Herrn Bormann, die Unterrichtsphilosophie von Herrn Nierhoff unvollständig beschrieben, wollte man ausklammern, dass dem Ideal des sich gehorsam einfügenden Schülers gleichsam als Kontrapunkt die respektvoll-anerkennende Schilderung selbstbestimmt auftretender Schüler gegenübersteht. Von einem älteren Schüler berichtet er folgendermaßen: Da war unter anderem einer, der war bei der Armee Chefkoch gewesen […] und da hatte ihm ein Leutnant irgendwas gesagt und den hat er rausgeschmissen. Der ist dann wiedergekom-
138 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE men, da hat er ihn angefasst und ihm eine unters Kinn gehaun. Und daraufhin drei Jahre Schwedt. Das war also ’ne Persönlichkeit, der wusste, was er wollte. Das war einer, wo man sagen konnte: »Na ja, komm, setz Dich mal hierher, wir woll’n mal bissel arbeiten.«
Als letztes Beispiel seien die Erinnerungen von Trude Jebens hinzugezogen. Im Unterschied zu den beiden vorgenannten Fällen handelt es sich bei ihr um eine hauptamtlich angestellte Lehrerin. Während die Perspektive der sich als »Praktiker« verstehenden Kollegen Bormann und Nierhoff den Schüler zu einem gefügigen Spielball pädagogischer Intervention macht und ihn so in ein Objekt der Fremdbestimmung verwandelt, lassen sich ihre Äußerungen zunächst als ein Plädoyer für ein am Entwicklungsstand des Schülers orientiertes Unterrichten lesen – für ein Unterrichten, das Räume lässt und auf Freiwilligkeit gründet. Ich war im Grunde nicht so sehr ehrgeizig. Ich hatte den Ehrgeiz, einen guten Unterricht zu machen. Und wenn jemand Lust und Liebe zu dem Instrument hatte, dann habe ich gesagt: »Gut, das versuchen wir jetzt.« Und das war eben dann so zustande gekommen, dass ich da zwei solche Nachzügler unterrichtet hab und mir das Spaß gemacht hat. Und dann war aber eine Auswertung in der Absolventeneinsatzkommission. Da waren ja alle Fachrichtungen vertreten. Und da hat mich der eine geärgert, der Professor Imme aus Leipzig, der hat gesagt: »Nu sagen Sie mal, Sie sind die Einzige, die fast lauter Jungs in ihrer Klasse hat.« Da hatte ich ein Mädchen und das andere waren alles Jungs. Und die anderen hatten alle fleißige Mädchen. Und die waren immer vorne dran und ich lag mit meinen Jungs dann nicht so. Da hab ich dann gesagt: »Ich hab nicht den Ehrgeiz, hier so’n paar fleißige Mädchen vorzustellen, sondern, es sind eben ein paar ganz schöne Nachzügler dabei.« Und das hat sich ja eigentlich erhalten, dass die Jungs später kommen. Interviewerin: Und haben Sie in der Aufnahmeprüfung dann auch manchmal gesagt: »Nein, ich würde den trotzdem nehmen«? Oder hat mal jemand gesagt: »Das können wir nicht machen«? TJ: Na ja, das gibt’s und gab’s auch. Aber man spürt das irgendwo, ob jemand die Eignung hat oder nicht.
Auf den ersten Blick scheint diese Passage in deutlichem Gegensatz zu den beiden zuvor thematisierten Fällen zu stehen: Wo Herr Bormann und Herr Nierhoff die Bedürfnislage des Schülers komplett übergehen, steht hier eine deutliche Skepsis gegenüber dem Ideal des braven und folgsamen Schülers im Raum. Frau Jebens kleidet diese Skepsis in einen Geschlechtergegensatz, bei dem die Mädchen den Part der Bravheit und Folgsamkeit zu spielen haben. Im Gegensatz zu Herrn Bormann, für den es ja nahezu einem Sakrileg gleichkommt, wenn sich ein Spezialschüler gegen Ende seiner Schulzeit gegen den Musikerberuf entscheidet, vertritt sie die Ansicht, dass die Berufsentscheidung immer ein freiwillig erfolgender Akt sein muss. In diesem Zusammenhang berichtet sie von folgender Praxis, die sie in ihrer Klasse angewendet hat: In der neunten, zehnten Klasse kam bei den Jungs dann immer so eine Motivationsschwäche. Die mussten so viel üben und haben dann gesagt: »Es wäre schön, ’nen anderen Beruf zu haben« und so. Und in der Altersstufe hab ich dann immer gesagt: »Bitte, Du brauchst jetzt mal vier Wochen lang nicht ins Hauptfach zu kommen, orientiere Dich. Mach ’nen anderen Beruf.«
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Und da hat die Frau Weißkopf – die gab’s da noch – gesagt: »Das wagen Sie sich? Wenn der nun nicht wieder kommt?« Ich sag: »Dann wäre das zu Ende [und das] Weiterführen sowieso eine Quälerei für beide Seiten. Und es wäre für ihn verlorene Zeit.« Die sind alle wiedergekommen. Es war dann aber ein Bekenntnis, und von da an ging das vorwärts und dann brauchte man nicht mehr zuzureden.
Genau an dieser Praxis, mit deren Erwähnung Frau Jebens doch eigentlich ihre Skepsis gegenüber dem Ideal des folgsamen Schülers zum Ausdruck bringen möchte, zeigt sich allerdings, dass auch sie diesem Ideal nicht wirklich etwas entgegenzusetzen hat. Was von ihr als triumphierende Bestätigung intendiert ist (die sind alle wiedergekommen), lässt sich ebenso gut auch in dem Sinne deuten, dass ein Schüler am Ende seiner Spezialschullaufbahn derart von der ihn umgebenden selbstverständlichen Ausrichtung auf den Musikerberuf befangen war18, dass auch eine vierwöchige Auszeit keine grundsätzliche Neuorientierung mehr zu leisten imstande war – schon gar nicht angesichts der Tatsache, dass für ihn durch die nicht vorhandene Möglichkeit zum Abitur sowieso nur höchst begrenzte Berufsalternativen in Frage kamen. Vor diesem Hintergrund liest sich Frau Jebens Plädoyer für Freiwilligkeit entweder als vergebliches Aufbäumen gegenüber einem Erfahrungsraum, der aus sich heraus – ohne dass ein Lehrer dezidiert Druck ausüben musste – keine wirklichen Berufsalternativen bot, oder aber als eine raffinierte Finte, durch die die Jungs mit ihrer Motivationsschwäche gefügig gemacht werden sollten. In beiden Lesarten führt ihre Praxis nicht zu einer Stärkung der Eigenständigkeit, sondern ist als Versuch zu deuten, mit einem gewissen Maß an innerer Differenzierung letztlich doch das gewünschte und außer Diskussion stehende Ziel zu erreichen. Dass auch Frau Jebens das Lehrer-Schüler-Verhältnis letztlich in einer strikten Asymmetrie denkt, und sich hierin kaum Unterschiede zu Herrn Bormann oder Herrn Nierhoff feststellen lassen, zeigt sich an der Tatsache, dass auch in ihrer Darstellung der Lehrer stets die Oberhand behält. Das Plädoyer für einen behutsamen Umgang mit den männlichen Nachzüglern ist weniger von der Motivation getragen, jeden Schüler so zu nehmen, wie er ist, als vielmehr von der in langen Jahren gewonnenen Erfahrung, dass die gewünschten Ziele sich einfach besser realisieren lassen, wenn man den Schüler nicht zu schematisch mit bestimmten Vorgaben konfrontiert. Die Ziele selbst jedoch stehen nicht zur Diskussion. Sie sind vorgegeben. Dieses Verständnis deckt sich mit genau jenem Verständnis von Binnendifferenzierung, das für die DDR-Pädagogik insgesamt charakteristisch war. In einem erziehungswissenschaftlichen Beitrag jener Zeit findet sich folgende Definition: »Differenzierung im Unterricht heißt, daß alle Schüler genügend Entwicklungsanreize und Entwicklungsbedingungen haben, daß jeder so gefordert und gefördert wird, wie es zum gleichmäßigen Voranschreiten auf der Grundlage der Lehrpläne […] notwendig ist.« (Zit. nach Schulz 1998, S. 97 f.).
18 In unserer Umfrage kamen wir hinsichtlich der Frage nach einem späteren Musikstudium zu folgendem Ergebnis: Nur zwei Befragte haben nicht Musik studiert (1,8 %); fünf Befragte studierten an anderen Orten als Dresden (4,5 %); 17 Befragte studierten zeitweise in Dresden und mindestens einem anderen Ort (15,2 %); 88 Befragte studierten ausschließlich in Dresden (78,6 %) (n=112).
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Zusammengefasst lässt sich also sagen, dass in allen drei Fällen einerseits ein Bewusstsein für den Wert und die Notwendigkeit eigenständigen Handelns vorhanden ist, dieses Bewusstsein aber keinen Eingang in das Rollenbild findet, dass sich die Befragten auf der Ebene des Imaginären vom Lehrerberuf machen. So sehr sie letztlich darum zu wissen scheinen, dass künstlerische Leistung – und gar die an der Spezialschule ja geforderte Hochleistung – an Eigenständigkeit und Selbstbestimmtheit gekoppelt ist, so wenig zeigen sie doch ein Bewusstsein dafür, dass das Zustandekommen dieser Qualitäten etwas mit der Art und Weise zu tun hat, in der sie als Lehrende ihren Unterricht gestalten. Wenn man vor diesem Hintergrund die Perspektiven unserer drei Schülertypen zusammendenkt, dann lässt sich sagen, dass es sich bei der gefühlten Fremdbestimmung der Typen B und C um etwas handelt, das gerade deshalb wirksam wurde, weil die Vertreter dieser Typen die Ziele des Hauptfachunterrichts zu wenig zu ihrer eigenen Sache zu machen imstande waren und sich dessen Inhalten daher nicht aus freien Stücken annähern konnten. Das Gefühl der Fremdbestimmung wäre dann, pointiert gesprochen, die »Strafe« für ein zu geringes Maß an Selbstbestimmtheit gewesen. Für die drei hier herangezogenen Lehrerinterviews scheint zu gelten, dass – anders als die kommunikativ artikulierten Überzeugungen vermuten lassen – das unausgesprochene Ideal der Hauptfachausbildung keineswegs in der angepassten und gehorsamen Erfüllung von Vorgaben bestanden hat, sondern vielmehr auf einen Schülertyp abzielte, der das, was andernfalls in Form fremdbestimmter Vorgaben eingefordert worden wäre, bereits freiwillig aus sich heraus vollzog. Auf der Ebene des Imaginären war also ein Orientierungsrahmen intendiert, der sich aus freien Stücken – und nicht etwa aus Gehorsam – mit dem Orientierungsrahmen der Lehrenden deckte. Auch hierbei handelt es sich keineswegs um ein Spezifikum der Spezialschulen. Dass von den Schülern die Fähigkeit zu einem selbstbestimmten musikalischen Handeln vorausgesetzt wird und das Fehlen dieser Fähigkeit zu Zurückweisungen führt, die auf Schülerseite dann den Eindruck der Fremdbestimmung erwecken, zeigen die Untersuchungen, die Henry Kingsbury an einem amerikanischen Konservatorium durchführte. In dieser Studie observierte Kingsbury unter anderem die Kammermusikklasse des bedeutenden Pianisten und Schnabel-Schülers Marcus Goldmann (so das von ihm gewählte Pseudonym). Dieser Unterricht erscheint wesentlich durch die große Vitalität, Detailversessenheit und den Enthusiasmus des Lehrers geprägt. Goldmann erweist sich in Kingsburys Darstellung in allen seinen Kommentaren und Hinweisen als ein ausgesprochen anspruchsvoller und nachdenklicher Pädagoge und Musiker, dessen großes Ziel es ist, die Schüler auf versteckte Strukturen und Besonderheiten, sprich: auf den tieferen Sinn der jeweils einstudierten Werke aufmerksam zu machen. Seine Kommentare und Hinweise sind jedoch so gestaltet, dass sie nur dann umgesetzt werden können, wenn die Schüler in irgendeiner Weise selbstständig in der Lage sind, zu »fühlen«, was damit gemeint ist. Wer Goldmanns verbalen Instruktionen hingegen einfach nur sklavisch – im Sinne einer fremdbestimmt festgesetzten Norm – folgt, dem wird unmissverständlich klar gemacht, dass er sich auf der völlig falschen Fährte befindet: »Don’t try to do what I tell to you, try to express what I mean.« Oder: »I told you to play faster, now it’s too fast. That happens with a lot of students. You know what I say more than what I mean.« (Kingsbury 1988, S. 99) Ähnlich verhält es sich auch mit der so genannten »Textgenauigkeit«. Ganz in der Tradition seines Lehrers Arthur Schnabel stehend präsentiert sich Goldmann als
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ein Urtext-Fanatiker, der jede dynamische Bezeichnung und jede Artikulation extrem ernst nimmt. Diese Akkuratesse geschieht jedoch nicht aus philologischem Eifer heraus. Um einen Text genau lesen zu können, muss man nämlich in der Lage sein, selbstständig zu fühlen, was mit der jeweiligen Bezeichnung »eigentlich« gemeint ist. Wer die Anweisungen des Komponisten einfach nur mechanisch umsetzt, »weil sie eben drinstehen«, der hat den Sinn des Komponierten nicht erfasst. Dieses richtige »Gefühl« für das, was in den Noten steht, ist für die Schüler eine unabdingbare Voraussetzung, um die Hinweise von Goldmann überhaupt umsetzen zu können. Am Vorhandensein oder eben Nicht-Vorhandensein dieses Gefühls scheidet sich für Goldmann die Schülerschaft – und diese sich in ihrem Urteil über ihn: Schülern, denen das richtige »feeling« zuerkannt wurde, waren, so Kingsbury, begeistert über den Enthusiasmus, die Genauigkeit, die Selbstlosigkeit und die tiefen Einsichten Goldmanns. Wem diese Anerkennung versagt blieb, fühlte sich ausgegrenzt, nicht respektiert und fremdbestimmt. (Eine interviewte Studentin unterstellt Goldmann gar einen »Killer-Instinkt«, durch den es ihm in jeder Situation gelänge, die Oberhand zu behalten. [Kingsbury 1988, S. 104]). Kingsbury leugnet keinesfalls, dass es erhebliche qualitative Unterschiede in den von ihm beobachteten studentischen Leistungen gab. Sein Punkt ist vielmehr, dass den Studenten, die ein entscheidendes Distinktionsmerkmal (nämlich »feeling« oder »musicality«) in ihrem Spiel nicht zu erkennen gaben, an keiner Stelle wirklich geholfen wurde – im Gegenteil: Sie wurden abgekanzelt und ausgegrenzt, weil sie über einen zentralen Aspekt der »musical performance skills« angeblich nicht in ausreichendem Maße verfügten. Man kann das als eine gnadenlose Praxis der Chancengleichheit bezeichnen (jeder Student wird mit demselben Anspruch konfrontiert) – eine Praxis, die nun aber gerade keine Gleichheit, sondern im Gegenteil eine extreme und gewollte Ungleichheit hervorbringt: Ein dominanter Habitus selektiert, indem er die zu ihm passenden Schüler in besonderer Weise belohnt. An den Spezialschulen wurde diese Ungleichheit insofern institutionell verstärkt, als es für besonders leistungsstarke Schüler spezielle Fördermaßnahmen gab. Eine damals verantwortliche Lehrerin erinnert sich: Also wir haben versucht, besondere Begabungen auch zu fördern und unter »fördern« haben wir verstanden, dass die vielleicht eine zusätzliche Hauptfachstunde kriegen, dass sie zusätzliche Kompositionsstunden bekommen. In der Schule haben wir uns eine Zeit lang sehr bemüht, dass da Erleichterungen geschaffen werden oder individuelle Förderungen. Also ich war immer der Meinung, dass ein Begabter nicht alle Schulstunden durchlaufen muss, dass die Anzahl der Schulstunden nichts mit der Leistung in dem Fach zu tun hat, sondern [ich] hab immer wieder angeregt zu überlegen: Kann man da Möglichkeiten finden, denen einfach mehr freie Zeit zu schaffen.
Dieses Bestreben konnte sich auf eine der wenigen Verfügungen berufen, die ministeriell zu den Spezialschulen erlassen wurden. In einem Grundsatzpapier aus dem Jahre 1975 heißt es: »Für die Entwicklung der förderungswilligsten Studenten und Spezialschüler […] sind unter der Verantwortung der Rektoren individuelle Entwicklungspläne auszuarbeiten, die besondere
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Zu diesen Maßnahmen zählten unter anderem eine »verstärkte Förderung im künstlerischen Hauptfach«, »Delegierung zu internationalen Wettbewerben« sowie die »Bereitstellung wertvoller Musikinstrumente.« Die Kehrseite dieser Selektionspraxis bestand freilich in der Herausbildung eines Schülertyps, der – da sich sein Orientierungsrahmen nicht aus sich heraus mit den Anforderungen des Hauptfachs deckte – den Erwartungen durch Fleiß und Willensstärke Genüge zu leisten versuchte. Dabei prägte er eben jene Züge von Pflichterfüllung aus, die nicht aus der Sache selbst kamen und daher den Anlass für ein Lehrerverhalten boten, das auf Schülerseite wiederum als fremdbestimmend empfunden wurde – und so weiter. Ein Musterbeispiel für diesen Teufelskreis wäre Frau Thalheim, die im Hauptfach – wie zu sehen war – nicht etwa aus Leidenschaft für die Musik und das Instrument, sondern als Reaktion auf die tägliche Kontrolle zum regelmäßigen Üben kam. Am Ende dieses Prozesses steht dann nicht etwa ein begeistertes Üben um der Sache selbst willen, sondern ein fest zementiertes Selbstbild, das immer noch von einer angeborenen Faulheit als einer quasi feststehenden Größe ausgeht. Die mangelnde Begeisterung für das Üben, die Frau Thalheim als Grund für ihre Durchschnittlichkeit angibt, wird von ihr also durch das Mittel des Fleißes bekämpft, das sich nun aber seinerseits als eine Internalisierung eben jener Fremdbestimmung begreifen lässt, die ihr in Form äußerer Übe-Kontrolle entgegentrat und bei ihr die Selbstzuschreibung einer angeborenen Faulheit auslöste, die mit Willensstärke bekämpft werden musste – denn diese sogenannte Faulheit ist ja im Grunde nichts anderes als eine nachträgliche Konzeptualisierung der Tatsache, dass der eigene Orientierungsrahmen nicht zu den Anforderungen, die ihm entgegentraten, passte. Mit anderen Worten: Der Fleiß, den Frau Thalheim ihrer Faulheit entgegensetzte, führte also nicht zu einer Veränderung ihres Orientierungsrahmens, sondern – da er eine internalisierte Form der Fremdbestimmung darstellt – im Gegenteil zu dessen Bestätigung. 3.2.5.4 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen Person und Institution Der Blick auf unsere Typenbildung zeigt weiterhin, dass die Institution Spezialschule bei den jeweiligen Typen in unterschiedlicher Weise hervortritt. Bei Typ A ist deutlich zu sehen, dass der Hauptfachlehrer in erster Linie als Mensch, Musiker und Künstler wahrgenommen wird. Die Tatsache, dass er zugleich ein Vertreter der staatlichen Institution ist, spielt demgegenüber für den Orientierungsrahmen dieses Typs keine besondere Rolle. So wie hier über den Hauptfachunterricht berichtet wird, könnte es sich im Grunde auch um einen Privatunterricht handeln. In wie starkem Maße Vertreter dieses Typs den Hauptfachunterricht als einen Raum außerhalb der staatlichen Institution wahrnehmen, zeigt sich sehr deutlich bei Frau Trenkler, wenn sie sagt: Ich wollte ja den Lehrer haben, den ich möchte. Und nicht den, den die mir vorsetzen, weil das hatte ich ja schon. Bei der Entscheidung für Herrn Ickert handelt es sich also um einen Akt, der in deutlicher Antithese zum Verfahren einer durch die Institution vorgenommenen Einteilung steht. Frau Trenkler sucht sich eine Person, die zu ihr passt und nimmt nicht hin, was die über sie verfügen, wobei die unbe-
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stimmte Pluralbildung den Eindruck einer großen und zusammengehörigen institutionellen Einheit erweckt, von der sie sich dezidiert absetzt. Anders bei den Typen B und C: Hier scheint hinter der Person des Hauptfachlehrers immer die staatliche Institution auf, die das Verhalten des Lehrers autorisiert. Erinnern wir uns an Herrn Innstedt, der direkt im Anschluss an die Charakterisierung seiner Hauptfachlehrerin in den Plural wechselt und zu der Aussage kommt: [Die] müssen irgendwie erkannt haben, [dass ich manuell sehr geschickt bin] und haben das ausgebeutet. Die Vorgehensweise seiner Lehrerin wird also sofort verallgemeinert und als typisches Verhalten der Institution ausgewiesen. Auch bei Frau Groß ist das deutlich zu spüren. Die Tatsache, dass die Dimension des Zwischenmenschlichen im Hauptfach – ganz im Gegensatz zur Situation im Nebenfach Klavier – keine große Rolle spielte, wird von ihr dadurch erklärt, dass es sich eben um HauptfachUnterricht gehandelt hat: [Meine Klavierlehrerinnen] wussten ja: Das ist nicht Hauptfach. Also, ich muss nicht der große Crack werden. Für Frau Groß scheinen mit dem Begriff Hauptfach bestimmte Erwartungshaltungen verbunden zu sein, die allem Anschein nach nicht durch die Person des Hauptfachlehrers definiert werden, sondern eher mit einer generellen Konnotation des Begriffes Hauptfach einhergehen – und diese Konnotation wird, wenn nicht durch die konkreten Lehrer, natürlich vor allem durch die Institution geprägt, die in dem gerade zitierten Satz zwar unauffällig, aber dennoch nachdrücklich in Erscheinung tritt. Mit der Formulierung die wussten ja artikuliert Frau Groß ein implizites Wissen darüber, wie im Rahmen der Institution bestimmte Dinge gewichtet wurden. Und in eben diesem Sinne nimmt sie ihre Hauptfachlehrer im Grunde als einen verlängerten Arm der Institution wahr. Bei Typ C ist die Präsenz der staatlichen Institution im Hauptfachunterricht besonders deutlich zu spüren. Ohne dass es der Lehrer von Herrn Trescher willentlich beabsichtigt hat, wird der Unterricht in diesem Fall doch als ein Schauplatz erlebt, in dem permanent ein institutionell festgelegtes Leistungsziel anwesend ist. Herr Trescher setzt sich – in starkem Gegensatz zu den Vertretern des Typs A – nie allein mit dem Instrument und der Musik auseinander, sondern immer auch mit der Tatsache, dass andere Mitschüler weiter sind und er entsprechend aufzuholen hat. Und auch wenn sein Lehrer davor zurückscheut, die Anforderungen der Institution durch einen entsprechenden Leistungsdruck an ihn weiterzugeben, so ist doch die Tatsache, dass er Herrn Trescher immer nur wegen seines Fleißes lobt, ein beredter Hinweis darauf, dass der institutionell vorgegebene Leistungslevel im Unterricht ständig indirekt thematisiert wurde. Bei Frau Dahlke schließlich konnten wir – wie bereits ausgeführt – feststellen, dass sie dort, wo sie im Hauptfach keinen institutionellen Druck empfindet, ihren Lehrer (Prof. Burkhardt) innerlich nicht mehr der Institution zurechnet. Allerdings muss bei der Frage nach dem Einfluss der Institution auf die unterschiedlichen Orientierungsrahmen noch ein weiterer Aspekt mit bedacht werden: Bei Herrn Leininger, den wir im Typ B verortet haben, liegen die Dinge ja insofern etwas anders, als man nicht unbedingt sagen kann, dass sein Lehrer Ihring hier als Vertreter der Spezialschule wahrgenommen wird. Dennoch scheint sich seine Autorität in hohem Maße aus der Tatsache zu speisen, das er als Vertreter einer anderen Institution in Erscheinung tritt, nämlich der Staatskapelle. Dieser interessante Unterschied führt zu der Frage nach dem institutionellen Selbstverständnis der Lehrenden an der Spezialschule. Diese Frage zielt nicht auf den
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administrativen Status der Schule, sondern fragt nach der Dimension des Imaginären, d.h. nach den Zuschreibungen, mit denen die einzelnen Akteure die Institution kennzeichnen. Während es unter den Verantwortlichen einerseits Personen gab, für die die Spezialschule in erster Linie eine Einrichtung war, mit der sich der Staat um die Förderung besonders leistungsstarker Musiker kümmerte, war sie für andere vor allem ein verlängerter Arm der Dresdner Orchester, vornehmlich der Staatskapelle. Die letztgenannte Ansicht kommt in einem Interview zum Tragen, dass wir mit einem renommierten Kapellmusiker und langjährigen Spezialschullehrer führen konnten: Die Rektoren, ob jetzt an der Hochschule oder an der Spezialschule, hatten nicht so den Stellenwert. Den Stellenwert hatten wir hier in Dresden. […] WIR hatten hier die ganzen Solobläser, die ganzen Konzertmeister und die ganzen besonderen Musiker unserer beiden Spitzenorchester, und die haben den Fachunterricht in unserer Hochschule [gemacht]. Und ich würde meinen, das war an den anderen drei Spezialschulen mehr oder weniger genauso, also das Gewandhaus war in Halle natürlich sehr viel mit dabei, dann gab’s ja die Staatskapelle Weimar und auch in Berlin waren Orchestermusiker mit dabei und die Hauptangestellten waren relativ selten. Und dadurch war aber auch eine gewisse Qualität eigentlich immer irgendwie gefordert. Denn die Leute, die in der Praxis saßen, die sagten: »Also hör mal Du, wenn du das so spielst, dann kannst [Du] in einem guten Orchester gar nicht auftreten. Das muss ganz anders sein« und so weiter. Also die Praxisverbundenheit, ne?
Diese Passage erweckt den Eindruck, die Spezialschule sei im Grunde eine Orchesterschule der beiden Dresdner Orchester gewesen. Alle Aspekte, die sie als staatliche Institution ausmachen, allen voran die Person des Rektors (oder im Falle der Spezialschule: des künstlerischen Leiters), erscheinen demgegenüber sekundär – sie hatten nicht so den Stellenwert. Damit wird eine offene Frontstellung formuliert, die auf Seiten der hier deutlich geringschätzig behandelten hauptamtlichen Angestellten zu entsprechenden Abgrenzungen führte. Eine dieser festangestellten Kolleginnen erinnert sich: Ein nachhaltiger Eindruck war für mich diese Anhimmelung der Schüler und Studenten der Staatskapelle. […] Die Staatskapelle hat da wirklich eine sehr dominante Rolle gespielt. Auch in der Ausbildung und die war’n auch so in sich befangen. Also, es gab eigentlich überhaupt nichts anderes. Sehr eng. […] Ja, und da gab’s auch diese interne Konkurrenz und es gab natürlich diese Trennung zwischen hauptamtlichen Lehrkräften und Orchestermusikern. Also, die Orchestermusiker haben uns schon nicht so sehr fair und auch sehr herablassend behandelt. Also, weil: Das galt alles nicht. Sie können das Unterrichten ja auch noch mit […] und da haben viele darunter gelitten.
Allem Anschein nach war das Feld, in dem die Dresdner Spezialschule angesiedelt war, von einem zwar nicht lauthals ausgetragenen, aber doch latent zu spürenden Kampf zweier Gruppen gekennzeichnet, die jeweils für sich beanspruchten, die Institution zu repräsentieren. Man kann vielleicht von einer Überblendung zweier institutioneller Rahmen sprechen. Diese doppelte Rahmensetzung begünstigte auf Seiten der Schüler des Typs A die Entstehung eines Orientierungsrahmens, in dem die staat-
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liche Institution weitgehend inexistent war.19 Gerade das aber führte paradoxerweise zu einer verstärkten Akzeptanz der staatlichen Institution: Man identifizierte sich nicht unbedingt mit dem Staat20, wohl aber mit seinen Lehrern, die man als institutionelle Repräsentanten der Dresdner Orchesterkultur wahrnahm und entsprechend anhimmelte. Und weil die Gruppe der Orchestermusiker ja keineswegs in offenem Konflikt mit der offiziell-staatlichen Institution stand, konnte auf diese Weise auch eine Akzeptanz der Spezialschule als staatlicher Institution entstehen – und zwar selbst bei jenen Schülern, die derartigen Institutionen von Haus aus eher misstrauisch gegenüberstanden. Erleichtert wurde die Überblendung von staatlicher Institution und Orchesterschule gewiss auch durch die Tatsache, dass entscheidende pädagogische Prinzipien (z.B. die außer Frage stehende Asymmetrie in der Lehrer-Schüler-Beziehung, die Selektionspraxis, aber auch der hohe Stellenwert der Disziplin) für beide Seiten gleichermaßen galten. Pointiert formuliert: Aufgrund seiner Sozialstruktur fügte sich der Typus des Orchestermusikers relativ reibungsfrei in den Kontext der staatlichen Institution ein, selbst wenn er in politischer Hinsicht deutlich distanziert gewesen sein mag. Wir können aus diesen Befunden die These ableiten, dass in Bezug auf den Hauptfachunterricht die staatliche Institution der Spezialschule umso stärker für den jeweiligen Orientierungsrahmen in Erscheinung trat, je geringer das Passungsverhältnis zwischen Schüler und Hauptfachunterricht ausgeprägt war. Das ist insofern erstaunlich, als es ja gerade die Schüler des Typs A waren, die den Maßstab der Ausbildung bildeten. Genau für die Gruppe also, die sich als die »eigentlichen« Adressaten der Institution Spezialschule fühlen konnten, spielte das Moment des Institutionellen im Hauptfachunterricht kaum eine Rolle. Das heißt allerdings nicht, dass es bei Vertretern dieses Typs nicht doch zu einer Identifikation mit der Spezialschule kommen konnte bzw. auch zu einem großen Stolz auf die Tatsache, Spezialschüler gewesen zu sein. Dieser Stolz ist aber entweder eher allgemeiner Natur (und bezieht sich daher nicht auf die unmittelbaren Gegebenheiten des Hauptfachunterrichts) oder er bildet sich über den Umweg der Identifikation mit den Dresdner Orchestern, insbesondere der Staatskapelle. In welch hohem Maße sich bei den Vertretern der Typen B und C der Anspruch der Institution zwischen das Lehrer-Schüler-Verhältnis schiebt, zeigt sich bei unseren Interviews unter anderem auch an der Tatsache, dass gerade hier immer wieder eine Bedürftigkeit nach zwischenmenschlicher Nähe betont wird – sei es, dass Frau Groß die persönlichen Beziehungen zu ihren Lehrerinnen im Nebenfach als positiven Gegenhorizont einführt, dass Frau Thalheim die Tatsache, dass sich ihre erste Spezialschullehrerin im Gegensatz zu allen späteren Lehrern auch privat so’n bisschen gekümmert habe, als entscheidendes Beurteilungskriterium herausstellt oder sei es, dass Herr Innstedt und Frau Dahlke generell ein zu geringes persönliches Eingehen auf die eigenen Bedürfnisse beklagen. Gerade jene Nähe, die eine stärkere Passung zwischen Schüler und Institution begünstigt hätte, wird durch die Anwesenheit der Institution in der Lehrer-Schüler-Beziehung also unterbunden. Außer bei Herrn Leinin19 Bezeichnenderweise tritt bei den Pianisten die Spezialschule als staatliche Institution weitaus stärker in Erscheinung als bei den Schülerinnen und Schülern, die ein Orchesterinstrument spielten. 20 Mehr dazu in Kap. 3.5 über den Einfluss der politischen Dimension an der Spezialschule.
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ger, der eher probeweise eine Rolle aufführt, die nicht unbedingt die seine ist, finden sich bei den Vertretern der Typen B und C keine Hinweise auf eine Identifikation mit der Spezialschule als Orchesterinstitution. Sollte es innerhalb dieser Typen eine Anhimmelung von Kapellmusikern gegeben haben, dann nicht im Sinne einer Identifikation, sondern eher als Bewunderung gegenüber einem Orientierungsrahmen, von dem man genau wusste, dass man selbst ihm nicht entsprach. Die Tatsache, dass die Institution in der scheinbar abgezirkelten Dyade der Lehrer-Schüler-Beziehung anwesend sein kann, zeigt im Übrigen, wie unvollständig diese Dyade erfasst wird, wenn man sie – wie es in der Literatur über den instrumentalen Einzelunterricht durchweg üblich ist – ausschließlich unter dem Gesichtspunkt einer Zweierbeziehung betrachtet.
3.3 D IE ALLGEMEINBILDENDEN F ÄCHER Ok, man hätte sich vielleicht in der Allgemeinbildung noch bessere Lehrer gewünscht. Ich weiß nicht, nach welchen Kriterien die jetzt ausgesucht worden sind. Also, ich sag’s im Vertrauen: Es machte manchmal den Eindruck, als ob das Lehrer sind, die vielleicht an anderen Schulen nicht jetzt so die Karriere gemacht haben, aber für uns sind sie gut genug [gewesen]. (Sebastian Dürer) Also wir hatten hervorragende Lehrer, die uns so zu inspirieren vermochten. Das war teilweise ganz, ganz schön. Muss ich einfach sagen. Ich weiß keinen Versager unter den Lehrern, den ich so einordnen würde. Das war wirklich schon grandios. (Gernot Brauchbach)
Gegensätzlicher könnte eine Einschätzung der Lehrer in den allgemeinbildenden Fächern kaum ausfallen. Lässt sich dieser große Unterschied durch die Unwägbarkeiten der jeweiligen Zuteilung erklären? Hat Herr Braubach im Gegensatz zu Herrn Dürer einfach Glück gehabt, dass er es während seiner Spezialschulzeit mit inspirierenden Lehrern zu tun hatte? Diese Erklärung wäre schon allein deshalb unbefriedigend, weil das Lehrerkollegium in den allgemeinbildenden Fächern an der Dresdner Spezialschule nicht so zahlreich bestückt war, als dass die Vermutung gerechtfertigt wäre, die beiden Gesprächspartner würden sich in ihrem Urteil einfach auf unterschiedliche Personen beziehen – gerade auch angesichts der Tatsache, dass beide Gesprächspartner in ungefähr denselben Jahren Schüler der Spezialschule waren. Aber auch der Umkehrschluss, der den Grund für die diametral entgegengesetzte Bewertung nicht bei den Lehrern, sondern allein bei den jeweiligen Individuen sucht – nach dem Motto: der eine empfindet es so, der andere eben anders – überzeugt nicht. Nicht weil er ganz falsch wäre, sondern weil er all jene strukturellen Regelmäßigkeiten nicht erfasst, in die die Orientierungsrahmen der einzelnen Individuen eingebunden sind – Regelmäßigkeiten, die die Wahrnehmungen und Empfindungen der Subjekte vor jedem intentionalen Zugriff strukturieren. Damit sind wir bereits wieder bei jener vorläufigen Typologie angelangt, die wir im Zusammenhang mit dem Hauptfachunterricht vorgestellt haben. Aus der Gesamtkenntnis unseres Samples heraus scheint es uns kein Zufall zu sein, dass Herr Dürer
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als jemand, den wir in Bezug auf das Hauptfach als einen Vertreter des Typs A kennengelernt haben, die allgemeinbildenden Fächer grundsätzlich anders wahrnimmt und beurteilt als Herr Braubach, den wir im Typ C verortet haben. In diesem Abschnitt wollen wir zeigen, dass an der Spezialschule in der Tat ein systematischer Zusammenhang zwischen der Wahrnehmung des Hauptfachunterrichts und der Wahrnehmung der allgemeinbildenden Fächer bestand. Auch wenn diese beiden Säulen der Spezialschulausbildung in administrativer Hinsicht eher parallel nebeneinander herliefen, so scheinen sie von den Akteuren doch auf eine typenspezifische Art und Weise miteinander verknüpft worden zu sein. Gerade angesichts dieses deutlich greifbaren Zusammenhangs zeigt sich, wie problematisch und unvollständig eine Untersuchung wäre, die sich allein auf die organisatorisch manifesten Tatbestände bezöge – denn sie müsste unweigerlich zu dem Schluss gelangen, dass es sich bei den allgemeinbildenden Fächern und der musikalischen Ausbildung um zwei weitgehend getrennt voneinander operierende Systeme gehandelt hat, die nur in bestimmten Fällen, etwa wenn ein hervorragender Instrumentalist unzureichende schulische Leistungen aufwies, miteinander in Berührung kamen. In den Köpfen der Schüler, die sich in beiden Bereichen entsprechenden Anforderungen ausgesetzt sahen – und das heißt: innerhalb der jeweiligen Orientierungsrahmen – wurden diese beiden Säulen hingegen in Form von Gewichtungen und Relevanz-Setzungen permanent aufeinander bezogen. Indem wir nach regelhaften Zusammenhängen suchen, die als Grund für die extrem unterschiedliche Wahrnehmung der allgemeinbildenden Fächer dienen können, fokussieren wir das, was die einzelnen Typen voneinander trennt. Das heißt, wir konzentrieren uns auf die Distinktionen. Indem wir aber diese Unterschiede wiederum als typisch für den Erfahrungsraum Spezialschule ausweisen, tritt ein diese Distinktionen verbindendes Moment in Erscheinung: ein Moment des Konjunktiven – jene allen Akteuren gemeinsame Dimension des Realen, die im Sinne einer impliziten, für alle geltenden Erfahrungsgrundlage die Schulkultur der Dresdner Spezialschule prägte. Die folgende Darstellung setzt bei den im letzten Kapitel erarbeiteten Typen an, die wir im Fortgang weiter spezifizieren. 3.3.1 Falldarstellungen 3.3.1.1 Typ A (»Fisch im Wasser«) Martin Gundolf Wir Schüler haben uns als Musiker gefühlt. Und wir haben natürlich unsere Späße gehabt mit den Lehrern. Die waren auch manchmal streng, aber die wussten natürlich, was wir alle in der Musik leisten. Und manche waren sehr ehrgeizig, die wollten eben aus uns ’nen besseren Menschen machen. […] Also, wir waren nicht abiturtauglich. Also, das muss man schon so sagen, ja. Wir haben hauptsächlich Musik gemacht, ja. Aber wir sind jetzt nicht irgendwie doofer oder sowas, sondern wir haben eben einen Zehnklassenabschluss. Und wir haben darüber hinaus ein Riesenpensum an Musik gelernt und absolviert. Und das kannst du als Alleinstreiter heute so mit deiner Geige im Privatunterricht nicht leisten. Das schaffst du nicht. Und diese vielen Einflüsse, denen wir musikalisch ausgesetzt waren oder die wir aufgesogen haben wie ein Schwamm. Ich hab das so empfunden, ja. Ich hätte gerne noch mehr gehabt davon. Das hat mich begeistert und die Schule hat man dann natürlich notgedrungenerweise mitgenommen.
148 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE […] Die Lehrer könnt ich noch alle aufzählen, die mussten irgendwie mit der Tatsache umgehen, dass das Musikerkinder sind. Und dass die sozusagen neben der Schule ’nen ganz starken Fokus haben. Das ist jetzt nicht so, dass man die irgendwo hinstupsen muss, sondern das kommt bei denen von alleine zum großen Teil. Natürlich, viele sind offen, aber sie haben ’ne starke Beschäftigung und jetzt damit umzugehen, war für manche nicht so einfach, weil die natürlich sagen »Wir sind Physiklehrer«. Zum Beispiel auch unser geliebter Herr Albers, der hat Mathe und Astronomie und Physik unterrichtet. Der war schon älter, das war so’n Neulehrer. Und der war ein begeisterter Musikfan. Und weil der so begeistert war, hat der uns einfach immer für sein Fach begeistert. Muss man wirklich sagen. Natürlich musste der auch mal streng sein. […] Aber der konnte phänomenal erklären und dann hat er immer ganz viel an die Tafel geschrieben, wo ich mir manchmal dachte: »Oh, so viel schreiben an die Tafel, oh nee, Herr Albers.« Aber das war eben so und der hatte aber wirklich, das merkte man dem an, der lebte wirklich mit der Musik, ja. Wohingegen andere Lehrer lebten überhaupt nicht mit der Musik. Die dachten halt: »Okay, das sind auch Musikerkinder, die sind jetzt vielleicht ein bisschen anders als andere, aber wir machen hier strikt unseren Stiefel. Wir machen Russischunterricht und so wie das eben in den staatlichen Schulen sein muss. Das ist ja ’ne Eliteschule und da muss man das auch ordentlich machen« und so. Das hat sich dann meistens gezeigt, wenn die dann mal irgendwie mit zu den Konzerten gekommen sind oder sich neben der Schule auch für die Schüler interessiert haben. Das hat zwar auch stattgefunden, aber du hast eigentlich gemerkt, dass die mit der Musik nur so halb was am Hut hatten. […] [Eine Sache muss ich noch erzählen:] Also, unsere Klassenleiterin war länger krank und wir brauchten Deutschvertretung. Und da hatten die doch tatsächlich einen aus der Sportschule engagiert. Das war ’n ganz cooler Typ, muss ich wirklich sagen. Also, was der uns alles erzählt hat, der hat überhaupt keinen Deutschunterricht gemacht. […] Der hat uns einfach über die Sportschule erzählt, wie die Schule also völlig anders sein kann. Da wurden ja solche Stars ausgebildet, die hatten dann eben ’nen Sonderstundenplan und machten dann ihren Zehnklassenabschluss in 13 Jahren und so. Auf einmal haben wir das so mitgekriegt, dass ja Schule auch ganz anders laufen kann. Kann und muss, wenn’s unter diesem Leistungsdruck steht, wenn eben dieser Fokus Olympia da ist und die dann nach Montreal oder nach Moskau oder was weiß ich fahren sollen. Diesen Fokus hatten wir ja nicht, aber wir waren ja trotzdem ’ne Spezialschule. Wir mussten ja auch unsere Leistungen bringen für Wettbewerbe. Aber wir hatten nicht diese Flexibilität. Wir hatten nicht diesen Ansatz. Und dieser Lehrer kam und hat gesehen: »Das sind alles ganz interessierte Kinder, die haben ’ne leichte Auffassungsgabe, die sind eigentlich bei der Sache, die muss ich nur begeistern. Denen erzähl ich mal so bissel aus meinem Leben.« Dann hat er nebenbei ein bissel Deutsch gemacht, das weiß ich noch sehr genau. Ich weiß nicht mehr, wie er hieß, aber der hat uns ein halbes Jahr vertretungsweise unterrichtet und das fand ich aber mal gut, dass hier eben jemand mal nicht in dieser Musikblase schwamm. Dass der mal einen anderen Blick reingebracht hat. Das war sehr belebend. Und ansonsten kann ich von den Lehrern eigentlich jetzt niemanden herausheben. Mit meiner Klassenlehrerin hab ich mich dann später immer gefetzt. Ich weiß nicht, was die von mir wollte. Die wollte immer aus mir ’nen besseren Schüler machen und ich hatte keine Lust dazu. Also das war komisch, ja. Die hatte so ihre speziellen Lieblinge und ich wollte gar nicht ihr Liebling sein. Und die war auch so eine: Die ist dann nach Hause gekommen und hat mal in die Kleiderschränke geguckt und sowas. Ja, das hat’s also durchaus noch gegeben. Die wollte mal gucken, was das so für ein Milieu ist, kann man sagen. Und meine Mutter fand das alles ziemlich unmöglich und mit der haben wir uns dann auch ziemlich überworfen, weil die eben unbedingt wollte, dass ich keine schlechten Zensuren schreibe. Und ich war gerade in so ’ner Phase, wo
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ich am Instrument enorm gefordert war und dann kommt die mit solchen blöden Fragen wie: »Was ist denn da los?« Also die hatte einfach einen anderen Fokus auf mich als Schüler. Und nicht nur auf mich, sondern auf alle anderen auch. Die hat nur ihre Fächer gesehen und die Kinder und nicht das ganze musikalische Drumherum. Also das war schon so. Also vielleicht hat sie es gewusst, aber nicht in ihrem Herzen rationalisiert oder umgesetzt. Und das war natürlich anstrengend, wenn du dann solche Lehrer hast, die nur ihren kleinen Ausschnitt sehen in so ’nem Zusammenhang. Also ich finde, das ist schon wichtig, dass die wissen, was das für Schüler sind, dass sie an einer Spezialschule sind. Du kannst natürlich nicht alles entschuldigen, das ist klar. Die müssen auch ihren Unterricht machen. Die hat einen guten Unterricht gemacht übrigens. Das war sehr bildlich, sehr handgreiflich und sie hat in Biologie zum Beispiel viele Versuche gestartet. Also das hat die sehr anschaulich gemacht, muss ich sagen. Im Gegensatz zu anderen Fächern. Manche Lehrer hatten es nicht leicht mit uns, weil die Musiker, die sind natürlich auch selbstbewusst. Also, die wissen, wenn sie da stehen, dann stehen die und müssen spielen. Und dann sagen die natürlich auch ihre Meinung, zum Beispiel: »Das ist aber jetzt gar nichts hier.« Das hat’s auch gegeben.
Bereits in seinem ersten Satz bestätigt Herr Gundolf ein Kriterium, dass wir für den A-Typ als charakteristisch herausgearbeitet haben: Er spricht von »Wir«, aber er meint seinen eigenen Orientierungsrahmen – den Rahmen eines »besonderen« Schülers, der sich zum Musiker berufen fühlte und dessen Berufsentscheidung bereits vor der Spezialschulzeit feststand. Ein Rahmen, der – das hat das vorangegangene Kapitel gezeigt – keineswegs durchgängig an der Spezialschule zu finden war. Diese Perspektive führt ihn nun zu einem ganz spezifischen Blick auf die allgemeinbildenden Fächer. Herr Gundolf bezeichnet sie zwar keineswegs als unwichtig oder uninteressant, aber er bindet sie in ein Bedingungsgefüge ein: Wenn ein Lehrer an der Spezialschule – so der Tenor seiner Argumentation – darum wusste, was [die Schüler] alle in der Musik leisten, dann waren die Schüler im Gegenzug auch bereit, sich für das betreffende Fach zu interessieren. Was damit gemeint ist, zeigt die Beschreibung des Astronomie-Unterrichts. In Herrn Gundolfs Argumentationsgang wird der geliebte Herr Albers zunächst als jemand eingeführt, für den es aufgrund seines Selbstverständnisses als Physik- und Astronomielehrer nicht so einfach war, mit dem starken Musikfokus der Schüler umzugehen. Und auch in seiner Beschreibung des Unterrichts zeichnet Herr Gundolf erst einmal das Bild eines Lehrers, der für sein Fach brennt und dessen Unterricht – darauf zielt wohl die Erwähnung der umfangreichen Tafelanschriebe ab – keine Rücksicht auf die zeitliche und mentale Beanspruchung der Schüler durch die Musik nimmt. Dass Herr Albers aber trotz dieser Kennzeichnungen nicht dem negativen Gegenhorizont jener Lehrer zugerechnet wird, die nur ihre Fächer gesehen haben, sondern als der geliebte Herr Albers firmiert, ist auf seine Musikbegeisterung zurückzuführen, die Herr Gundolf mit Wärme und Emphase herausstellt. Diese Musikbegeisterung bildet für ihn das Entrée, durch das seine Bereitschaft geweckt wurde, sich auf die Inhalte der Astronomie einzulassen. Das von ihm konstruierte Bedingungsgefüge lautet also nicht: Weil Herr Albers für sein Fach brannte und Begeisterung für die Inhalte der Astronomie ausstrahlte, waren wir bereit, uns ebenfalls darauf einzulassen. Es lautet vielmehr: Und der war ein begeisterter Musikfan. Und weil der so begeistert war, hat der uns einfach immer für sein Fach begeistert. Es ist Herrn Albers’ Begeisterung für die Musik – und nicht etwa für die Astronomie –, die von Herrn Gundolf als Grund für seine Motivation für die
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Astronomie angegeben wird. Inwieweit diese Motivation nun zu einem wirklichen Interesse an den Inhalten der Astronomie führte, bleibt bezeichnenderweise unerwähnt. In Herrn Gundolfs Rückschau wird dieses Interesse überdeckt von dem Gefühl, dass seine musikzentrierte Bedürfnislage bei Herrn Albers auf einen Resonanzraum gestoßen ist. Wie verhält sich diese Beschreibung zu der im Folgenden erzählten Episode der Deutsch-Vertretung, die ja in das positive Urteil einmündet, dass hier endlich einmal ein Lehrer nicht in dieser Musikblase schwamm? Ist das nicht ein grundsätzlicher Widerspruch zum Vorangegangenen? Die Frage klärt sich, wenn man sich genauer anschaut, was am Unterricht des Vertretungslehrers hervorgehoben wird. Es sind wieder nicht die fachlichen Inhalte, sondern vor allem die Tatsache, dass hier ein Lehrer so bissel aus [s]einem Leben erzählte. Der Gegenstand dieser Erzählung ist nun aber gerade nicht ein völlig anderes Leben – in dem Sinne etwa, dass die Schüler hier einen faszinierenden Einblick in eine ihnen gänzlich fremde Welt erhalten hätten. Was der Vertretungslehrer erzählt, ist vielmehr etwas, das von Schülern wie Herrn Gundolf nur allzu leicht in die eigene Lebenswirklichkeit übersetzt werden kann. Berichtet er doch von den Ausbildungsgepflogenheiten der Sportschule, die bei besonderen Leistungsträgern unter anderem einen Sonderstundenplan vorsahen, der einen Zehnklassenabschluss in 13 Jahren ermöglichte. Der andere Blick, den dieser Lehrer in den Schulalltag hineingebracht hat, bestand also gerade nicht darin, dass er den Schülern einen Begriff von einem Leben jenseits der Musikblase vermittelte. Er erzählte ihnen vielmehr von Praktiken aus dem Sportbereich, durch die sie bestimmte Defizite in ihrer eigenen Ausbildung wahrnahmen (Wir mussten ja auch unsere Leistungen bringen für Wettbewerbe. Aber wir hatten nicht diese Flexibilität). Die so offenbar gewordenen Defizite laufen nicht etwa auf eine Überwindung der Blase, sondern vielmehr auf ein Plädoyer für eine Ausbildungsstruktur hinaus, in der die allgemeinbildenden Fächer eine noch geringere Rolle spielen. Pointiert formuliert: Der Vertretungslehrer brachte Schüler wie Herrn Gundolf auf Ideen, wie man die Musikblase noch besser vor musikfremden Einflüssen schützen konnte. Dass Herr Gundolf alle Lernsituationen, die nicht auf einer grundsätzlichen Anerkennung seines Selbstverständnisses als Musiker gründen, als tendenziell fremdbestimmt wahrnimmt, zeigt sich vollends an der Beschreibung seiner Klassenlehrerin. Als ausschlaggebender Grund dafür, dass seine Mutter und er sich mit ihr dann auch ziemlich überworfen haben, wird nicht primär die grenzverletzende Kontrolle des heimischen Kleiderschranks angegeben (auch wenn das vermutlich eine nicht unwichtige Rolle gespielt haben dürfte), sondern vielmehr die Tatsache, dass die eben unbedingt wollte, dass ich keine schlechten Zensuren schreibe. Herr Gundolf kritisiert also einen Anspruch, der eigentlich zum Kerninventar eines jeden Lehrers gehört – oder zumindest gehören sollte. Bei ihm löst dieser Anspruch jedoch das Gefühl der Fremdbestimmtheit aus. An diesem Gefühl ändert auch die von ihm freimütig eingeräumte Tatsache nichts, dass diese Lehrerin einen guten Unterricht übrigens gemacht hat. Deutlicher lassen sich die Grenzen des eigenen Orientierungsrahmens kaum abstecken. Ein Lehrer in den allgemeinbildenden Fächern, so lässt sich Herrn Gundolfs Position bündig zusammenfassen, kann sich eigentlich auf den Kopf stellen: Solange er nicht die besonderen Gegebenheiten eines professionell musikalisch ausgerichteten Orientierungsrahmens akzeptiert, hat er keine Chance. Nicht der Schüler, sondern er ist in der Bringschuld. War das Verhältnis zwischen Lehrer
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und Schüler in Bezug auf den Hauptfachunterricht ein hierarchisches, das sich im Falle von Typ A entweder als respektvolles Meister-Lehrling-Verhältnis, als persönlich geprägte Vater-Sohn (Tochter)-Beziehung oder – in einer flacheren Hierarchie – als Partnerschaft zwischen Lehrer und künftigem Kollegen realisierte, so liegt hier eine umgekehrte Asymmetrie vor. Ganz deutlich wird das im letzten Absatz. Hier konstruiert Herr Gundolf einen negativen Gegenhorizont: Den Lehrern, denen es im Unterricht an Anschaulichkeit mangelt, die mithin ihre Schüler nicht zu erreichen vermögen, wird der eigene Orientierungsrahmen als positiver Kontrast gegenüber gestellt. Die Musiker – und hierzu zählt Herr Gundolf auch die noch am Anfang ihrer Ausbildung stehenden Spezialschüler – wissen, wenn sie da stehen, dann stehen die und müssen spielen, d.h. sie verfügen über die Fähigkeit des souveränen Auftretens auch und gerade in Stress-Situationen. An dieser Fähigkeit misst Herr Gundolf die allgemeinbildenden Lehrer. Sie sind weder Vorbilder noch Autoritäten, sondern bestenfalls Bewunderer einer musikalischen Professionalität, die ihnen selber abgeht. Die von Herrn Gundolf gezogenen Grenzen lassen es von vornherein als ausgeschlossen erscheinen, dass der Unterricht in den allgemeinbildenden Fächern zu Bildungserlebnissen führen kann, die dem Schüler völlig neue Welten eröffnen. Das darf nun aber keinesfalls zu dem Schluss verleiten, dass hier ein grundsätzlich statischer, neue Einflüsse strikt meidender Orientierungsrahmen vorliegt. Denn in seinem Umgang mit Musik und den Forderungen, die er an die musikalische Ausbildung stellt, zeigt sich eine nahezu gegenläufige Tendenz: Herr Gundolf präsentiert sich im Interview als ein Schüler, der musikalisch permanent auf der Suche war. Es ging ihm nie nur um die souveräne Beherrschung des Instruments, und auch nicht darum, um jeden Preis den Anforderungen der Spezialschule Genüge zu leisten. Davon zeugt vor allem seine spätere Auseinandersetzung mit dem Hauptfachlehrer während des Studiums, die ihn zum Hochschulwechsel führte. Seine instrumentale Laufbahn wird von einem unablässigen Prozess des Erkundens und Forschens begleitet, so dass er bereits während seiner Spezialschulzeit Einengungen im musikalischen Bereich sensibel wahrnahm: Und es ist toll, wenn man mal was anders macht oder andere Literatur spielt, um dann von diesem Blick wieder zurück auf seinen Kanon zu kommen. Und das war [an der Spezialschule] im Allgemeinen nicht gewünscht. Also, die Neue Wiener Schule, Schönberg und sowas, das waren böhmische Dörfer. Oder alles, was jenseits von Ravel und Debussy war, waren spanische Dörfer. Und Spanien existierte quasi außer dem »Dreispitz« von De Falla nicht auf der musikalischen Landkarte. Das hat mich unheimlich geärgert. Wir durften zwar Neruda-Gedichte lesen, aber Musik von Ginastera durften wir nicht spielen. Das war einfach ’ne amputierte Sache. Das gehört doch zusammen. Die Musik Lateinamerikas existierte quasi nicht und selbst ein paar ausgesuchte Bücher ersetzen das nicht, was da uns vorenthalten wird. Dafür kann jetzt – sagen wir mal – der Einzelne, beispielsweise eine Direktorin, nichts. Das ist nur der Einfluss, was zugelassen wird oder nicht. Da sind dann wirklich größere Dinge, die eben ’ne Rolle spielen.
Doch gerade weil Herr Gundolf in musikalischer Hinsicht permanent in Bildungsprozesse eingebunden war, scheint es ihm nicht möglich gewesen zu sein, den allgemeinbildenden Fächern eine vergleichbare Offenheit entgegenzubringen. Beide Flanken – die fortwährende Suche in der Musik und die Abwehr von allem, was in seinen
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Augen diese Suche behindern könnte – gehören bei ihm zusammen. Sie sind zwei Seiten derselben Medaille. Natalie Kolbe Und an die Schule direkt hab ich überhaupt keine negativen Erinnerungen. Das war also ’ne sehr schöne Schulzeit. Und auch die Prüfung, die hat man so irgendwie mit links gemacht, Zehnklassenabschlussprüfung, weil das sich ja alles so hingezogen hat. Und man hat auch so den Eindruck, dass die Lehrer das jetzt nicht so gnadenlos ernst sehen. Also, man musste sich schon anstrengen, aber es schwebte jetzt kein Damoklesschwert über einem oder sowas. Und an Prüfungsangst kann ich mich jetzt auch nicht so erinnern. Weil sich das ja auch so auf zwei Jahre verteilt hat. […] Interviewerin: Können Sie sich an Schulsituationen erinnern? NK: An manche. Also, zum Beispiel: Chemie fand ich ganz gut. Die Lehrerin, die das gemacht hat, hat irgendwas gehabt, dass man das plötzlich viel besser begriffen hat als vorher. Also jeder Lehrer ist so ’ne eigene Persönlichkeit gewesen. Ach, so viel weiß ich gar nicht. Das Wichtige war ja immer das Hauptfach. Was spielt der andere und was kann man selber spielen?
Die Schule – so kann man diesen kurzen Textausschnitt bündig zusammenfassen – hat nicht gestört. Sie war nicht unangenehm, aber sie besaß auch keine sonderliche Relevanz. Während Frau Kolbe im Hauptfach eigenständige Wege ging und die Freiräume genoss, die ihr von ihrem Lehrer etwa in Bezug auf die Repertoire-Wahl gelassen wurden, entwickelte sie in keinem der allgemeinbildenden Fächer ein über die Anforderungen hinausgehendes Interesse. Und wie im Falle von Herrn Gundolf darf diese Tendenz nicht mit einem generellen Mangel an Bildungswillen verwechselt werden. So lange ein Zusammenhang mit ihrem Selbstverständnis als Musikerin gewahrt blieb, zeigte auch sie eine große Bereitschaft, sich neuen Bildungserfahrungen zu öffnen: In der 10.1 hab ich mich eben mit einer Mitschülerin sehr angefreundet. Und wir haben unser Interesse fürs Schauspiel entdeckt. Aber ganz extrem. Also ich wollte eigentlich dann Schauspielschülerin werden. Ich hatte dann gedacht, also wenn ich jetzt das Studium zu Ende mache und nicht gut abschließe, dann will ich mich auf alle Fälle noch mal bewerben. Das war eine herrliche Zeit. Die war wirklich ganz herrlich. Wir sind in ganz vielen Schauspielen gewesen, Landesbühne, draußen in Radebeul. Sind auch oft mitgefahren, wenn die irgendeine Tour hatten, nach Rathen oder so was. Und wir haben uns auch so persönlich irgendwie angeschlossen. Und wir wollten viel wissen und haben dann auch ganze Monologe auswendig gelernt. Das war total schön. Und wir wollten dann auch den Beruf des Musikschauspielers kreieren, dass es da also eine Verbindung gibt. Gibt’s ja im Prinzip alles. Aber wir dachten, wir erfinden das jetzt neu. Das war, das war wirklich eine sehr gute Zeit. Und da habe ich begriffen, da, da erst habe ich begriffen, dass man eben wirklich was darstellen kann in der Musik.
Wie bei Herrn Gundolf, so hat auch bei Frau Kolbe die intensive Auseinandersetzung mit der Musik und dem Instrument innerhalb dieser Sphäre zu einer Haltung geführt, die von großer Offenheit und Neugier, gepaart mit der Fähigkeit zum eigenständigen Erschließen neuer musikalischer – und, wie man sieht, auch literarischer – Horizonte geprägt war. Symptomatisch ist hierbei die Begeisterung fürs Schauspiel:
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Dass Frau Kolbe mit ihrer Freundin ganze Monologe auswendig lernte, steht in unmittelbarem Zusammenhang mit ihrer Idee, den Beruf des Musikschauspielers [zu] kreieren, die ihrerseits dann mit der Erfahrung verknüpft wird, dass man eben wirklich was darstellen kann in der Musik. Das Interesse fürs Theater ist also kein isoliert literarisches, das etwa durch den Deutschunterricht entzündet worden wäre, sondern steht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Hauptfach. Diese beeindruckende Eigenständigkeit scheint auch bei Frau Kolbe mit einem latenten Widerstand gegenüber allem verknüpft gewesen zu sein, das sich nicht unmittelbar mit diesem Orientierungsrahmen vereinbaren ließ. Zwar nahm sie die allgemeinbildenden Fächer nicht als Ort der Fremdbestimmung wahr, wohl aber als einen Bereich, zu dessen positiver nachträglicher Wahrnehmung vor allem die Tatsache zählt, dass man ihn so irgendwie mit links bewältigen konnte. Frau Kolbe musste die allgemeinbildenden Fächer nicht aktiv abwehren, aber sie sah auch keine Veranlassung, sich näher auf sie einzulassen. Dabei half ihr eine Regel, die in ihren Augen prägend für den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule war: Das Wichtige war ja immer das Hauptfach. Diese Regel wird von ihr im Sinne eines schulintern gültigen impliziten Wissens präsentiert. Frau Kolbe machte sich diese Regel zu eigen, da sie ihrem auf die Musik bezogenen Orientierungsrahmen sehr entgegenkam. Diese Einstellung ist in nahezu identischer Form bei allen Vertretern des A-Typs zu finden. Bei Herrn Schaller wird der allgemeinbildende Unterricht nur dann thematisiert, wenn er als Störfaktor der Hauptfachausbildung in Erscheinung tritt. Davon zeugen insbesondere seine Erinnerungen an das Fach Marxismus-Leninismus, in dem die Schüler in erster Linie gelernt hätten, eine halbe Stunde über nichts zu referieren – eine Fähigkeit, die Herr Schaller auch heute bei Leuten in Führungspositionen wiederfindet, die einem erzählen, das ist ein grüner Tisch und das erzählen die einem solange, bis man das dann glaubt. Ungeachtet dieses Negativbeispiels (positive Erinnerungen gibt es bei ihm nicht), kommt Herr Schaller trotzdem zu dem Gesamturteil, die Schule sei schon okay gewesen – um gleich darauf ein weiteres Negativbeispiel anzufügen: Es gab aber halt Fächer, die mich so was von überhaupt nicht interessiert haben. Wie zum Beispiel Chemie. Ich hab mich irgendwie immer gefragt, wozu ich das brauche. Also, dass ich Musiker werden will, das stand durch das Elternhaus und das ganze Umfeld ja relativ früh fest. Aber ebenso wie in den Fällen von Herrn Gundolf und Frau Kolbe steht dieser offenkundigen Abwehr von allem, was nicht in den musikfokussierten Orientierungsrahmen hineinpasst, eine von großer Selbstständigkeit, Neugier und Faszination geprägte Entdeckerfreude gegenüber, die – um es in den Worten von Herrn Gundolf zu formulieren – wie ein Schwamm alles aufsog, was im Kontext der instrumentalen und musikalischen Ausbildung angesiedelt war. Die Rückschau von Sebastian Dürer ist eingebettet in eine insgesamt begeisterte, stellenweise fast schon schwärmerische Rückerinnerung an die Spezialschulzeit, in die auch die allgemeinbildenden Fächer integriert werden. Er erinnert sich an schöne Fächer: Geografie, Biologie, [ein] bissel Mathe, Physik, Chemie – na, das war nicht unbedingt meins. Die Sprachen waren doch wichtig, obwohl es damals sehr einseitig war, natürlich nur Russisch. Englisch nur im letzten Jahr. Allerdings kommt es in den folgenden Sätzen dann zu einer entschiedenen Relativierung dieser Eindrücke. Wie Herr Gundolf, so bringt auch Herr Dürer seinen professionell-musikalisch aus-
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gerichteten Orientierungsrahmen ins Spiel, durch den die Relevanz der allgemeinbildenden Fächer auf den Status einer zwar notwendigen, aber in letzter Konsequenz eben doch nicht sonderlich wichtigen Grundlage reduziert wird: Und kann schon sein, dass da ein Fach vielleicht auch ein bissel unterbelichtet war und wir da kein gutes Rüstzeug mitbekommen haben. Aber wie gesagt, mir – und sicherlich auch ein paar anderen Leuten – war ja klar: Das brauchen wir nie wieder in diesem Leben und die Grundlage reicht aus. Vor dem Hintergrund dieses begrenzten Stellenwerts kommt es dann zu dem eingangs zitierten Urteil über die Lehrer, die bei Herrn Dürer den Eindruck erweckten, dass sie vielleicht an anderen Schulen nicht jetzt so die Karriere gemacht haben. Es stellt sich die Frage, ob dieses Urteil im Textzusammenhang nicht auch die Funktion besitzt, die mangelnde Relevanz dieser Fächer zu verdeutlichen. Inspirierende und fordernde Lehrer hätten es Herrn Dürer auf jeden Fall schwerer gemacht, seine Fokussierung auf das Instrument und die Musik so zu präsentieren, dass nicht der Eindruck von Scheuklappen gegenüber musikfremden Inhalten entstünde. Frau Trenkler schließlich unterscheidet sich von den anderen Vertretern des A-Typs zwar insofern, als sie eine durchaus fordernde Haltung gegenüber den allgemeinbildenden Fächern an den Tag legt. Allerdings geht es bei ihr nicht so sehr um ein wirkliches Interesse an diesen Fächern, sondern eher um den Wunsch nach einer guten Unterrichtsperformance: Was mich vor allem interessiert hat, war irgendwie … na, ’n guten Unterricht zu erleben. Also, ich wollt mich halt nicht langweilen. Ich wollt nicht in der Schule sitzen und was erleben, was nicht gut ist. Also, es ist jetzt nicht so, dass ich mich extrem für Geschichte oder für irgendwas Spezielles interessiert hätte. So war’s nicht. Aber ich wollte halt … gut unterhalten werden. In diesem Bedürfnis klingt eine Parallele zu Herrn Gundolf an, der den Musikern aufgrund ihrer Vertrautheit mit einem an Perfektionsmaßstäben orientierten Bühnenverhalten eine Anspruchshaltung bescheinigte, die sie in den allgemeinbildenden Fächern eingelöst sehen wollten. Das ändert aber nichts an dem begrenzten Stellenwert dieser Fächer für den eigenen Orientierungsrahmen. Zuzüglich zur Darstellung dieser Fälle sei abschließend noch ein literarisches Beispiel herangezogen: Es ist kaum ein Zufall, dass in Uwe Tellkamps Roman »Der Turm«, in dessen Zentrum die Nische des »Weißen Hirschs« beleuchtet wird – jenes oberhalb von Dresden gelegenen Stadtteils, in dem eine bildungsbürgerlich getönte Bevölkerung inmitten des real existierenden Sozialismus ihren Lebensstil zu bewahren versuchte –, dass in diesem Roman auch die Spezialschule erwähnt wird, denn sie trägt zur Charakterisierung des geschilderten Milieus durchaus bei. Bereits im ersten Kapitel begegnet uns der Cousin des Protagonisten, der Geiger Ezzo, den wir aus dem Gesamtzusammenhang des Romans unschwer als einen Vertreter des »Fisch im Wasser«-Typs identifizieren können: »›Wie geht’s in der Spezi?‹ Ezzo besuchte die Spezialschule für Musik auf der Mendelssohnallee. ›Na, wie immer. Schule ist öde. Bloß Physik macht Spaß, haben wir bei Bräuer. Den müßtet ihr kennen.‹ ›Wieso?‹ ›Doch, klar, Robert, das war der strenge, der vor zwei Jahren bei uns war. Der so’n bißchen wie Onkel Uhu aussieht, von Pittiplatsch und Schnatterinchen.‹
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Ezzo griente. ›Ja der. Ist aber Spitze. Tolle Versuche macht er. Und sonst … Es wird Weihnachten.‹ ›Und Wieniawski?‹ ›Sauschweres Stück. Erinnere mich jetzt bloß nicht daran. Dienstag hab’ ich wieder Hauptfach, muß noch viehisch rabotten.‹« (Tellkamp 2008, S. 50)
Die tendenzielle Spröde, die alle Vertreter des A-Typs den allgemeinbildenden Fächern gegenüber an den Tag legen, lässt sich auf dreifache Weise interpretieren, wobei sich die ersten beiden Interpretationen ziemlich direkt aus den Aussagen unserer Gesprächspartner ergeben. Deutung 1: Die Vertreter des A-Typs bringen für alles, was nicht Musik ist, schlichtweg nur wenig Interesse auf und leisten im Bereich der Allgemeinbildung eher einen Dienst nach Vorschrift ab. Das entspricht in etwa der Sichtweise von Herrn Schaller und Frau Kolbe. Deutung 2: Die Erfahrung eines von Neugier und Selbstbestimmtheit geprägten Interesses für die Musik hat die Vertreter dieses Typs besonders sensibel gemacht für Vermittlungssituationen, in denen von ihnen etwas verlangt wird, was nicht dem eigenem Interesse entspringt. Selbst wenn die Inhalte an sich also fähig wären, bei ihnen ein Interesse zu erwecken und selbst wenn sich vielleicht auch ein gewisses Zeitkontingent finden ließe, um sich mit ihnen verstärkt auseinanderzusetzen, bleibt dennoch ein grundsätzlicher Widerstand gegen den Versuch der Lehrer, aus [ihnen] ’n besseren Menschen zu machen, d.h. von ihnen etwas zu verlangen, was nicht ihrem eigenen Orientierungsrahmen entspricht. Das ist der vorherrschende Tenor vor allem bei Herrn Gundolf. Diese Deutungen spiegeln das kommunikative Wissen der Befragten wider, beziehen sich also auf das, was in den Interviews mehr oder minder direkt geäußert wurde. Sie stellen somit nur die rationalisierbare Oberfläche jenes konjunktiven Erfahrungsraumes dar, der die Orientierungsrahmen mitsamt den damit verbundenen Überzeugungen und Ansichten prägte. Sie vernachlässigen dabei, dass das, was Menschen für »ihre« Position halten, immer auf dem Boden einer gemeinsam geteilten habituellen Übereinstimmung erwächst (vgl. Bohnsack 1995; Bohnsack & Nohl 2001; Bohnsack 2010, S. 62). Erst durch den Kontakt zu Gleichgesinnten, deren Orientierungsrahmen von ähnlichen Relevanzsetzungen geprägt ist, können die eigenen Neigungen zum integralen Bestandteil des eigenen Identitätskonstrukts im Sinne einer kommunikativ vertretbaren Position werden. Der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule bildet demnach eine primordiale (d.h. vorgeordnete) Ebene, auf der erst die Konstitution der eigenen Position erfolgt (vgl. Bohnsack 2010, S. 63), selbst wenn diese Position bereits vor der Spezialschulzeit (etwa durch Familie und den frühen Instrumentalunterricht) schon in eben jene Richtung tendierte, die durch den konjunktiven Erfahrungsraum dann verstärkt wurde. Anders formuliert: Diese beiden Deutungen enthalten nur das, wovon die Befragten überzeugt sind, dass sie es denken. Sie lassen dabei aber außer Acht, dass dieses kommunizierbare Denken selbst das Ergebnis einer kollektiven Prägung ist, die den Befragten keinesfalls bewusst sein muss. Für eine Untersuchung wie der unsrigen, die nach der Genese von Sinnstrukturen fragt, muss der Deutungsansatz also dahingehend erweitert werden, dass der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule als prägende Einflussgröße kommunikativer Sinnstrukturen hervortritt.
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Eine dritte Deutung lautet daher: Die vergleichsweise distanzierte Haltung gegenüber den allgemeinbildenden Fächern mag aus der Sicht der Akteure alleine durch die eigenen Neigungen und Intentionen begründet sein, ist aber durch die unterschwellige Tendenz vieler Mitschüler und Instrumentallehrer an der Spezialschule, die Allgemeinbildung als Belastung für eine professionelle instrumentale Entwicklung zu werten, wesentlich verstärkt worden. Erst diese implizite Gewichtung der Allgemeinbildung durch das Umfeld hat dazu geführt, dass die Vertreter des A-Typs ihre tendenzielle Geringschätzung gegenüber den schulischen Fächern überhaupt als eigene Position erfahren, rationalisieren und zur Grundlage ihres Handelns machen konnten. Hinweise auf die prägende Kraft dieses Umfelds finden sich in den zitierten Textausschnitten mehr als genug. Am auffälligsten bei Frau Kolbe, die ihre Erinnerungsversuche an bestimmte Schulsituationen mit der Bemerkung abbricht, das Wichtige sei ja immer das Hauptfach gewesen. Sie veranschaulicht dieses Statement durch die von ihr anscheinend als spezialschultypisch empfundene Frage Was spielt der andere und was kann man selber spielen? Hier artikuliert sich nicht allein ihr persönlicher Orientierungsrahmen, sondern das von Konkurrenz- und Abgrenzungstendenzen geprägte Umfeld, das von ihr ins Spiel gebracht wird, um die eigene Position zu verstärken. Aber auch in Herrn Gundolfs Aussage, nach der es manche Lehrer […] nicht leicht mit den Spezialschülern hatten, weil die Musiker, die sind natürlich auch selbstbewusst, spiegelt sich das Bewusstsein eines tonangebenden Kollektivs, das dem eigenen Orientierungsrahmen eine sichere Identifikationsfläche bot. Im gleichen Sinne lässt sich die bereits mehrfach erwähnte Tendenz zur Pluralbildung verstehen. Die implizite konjunktive Regel, die die Allgemeinbildung tendenziell als weniger wichtig bis unwichtig einstufte, bestätigt somit nicht nur die eigenen Relevanzen, sondern verleiht ihnen eine äußere Legitimation durch ein im Hintergrund anwesendes Kollektiv. Frau Kolbe hätte sich ja auch mit dem Hinweis begnügen können, dass für sie persönlich das Hauptfach am wichtigsten gewesen sei. Doch sie zitiert stattdessen eine angebliche Mehrheitshaltung, als wolle sie ihrem eigenen Orientierungsrahmen damit noch mehr Durchschlagskraft verleihen. Vollends offensichtlich wird die Gültigkeit dieser impliziten Regel, wenn man die Perspektive der allgemeinbildenden Lehrer hinzuzieht. An ihr wird deutlich, dass das nachvollziehbare Bestreben der Verantwortlichen, an der Spezialschule eine Vereinbarkeit beider Bereiche zu gewährleisten, innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes in ein tendenziell geringschätziges Nicht-für-Vollnehmen des allgemeinbildenden Bereichs übersetzt wurde, in das sich mitunter auch der Vorwurf der schlechten Unterrichtsqualität mischte – ein Vorwurf, der wahrscheinlich weniger etwas über die reale Qualität dieses Unterrichts als vielmehr über den Orientierungsrahmen dessen aussagt, der ihn äußert. Eine ehemalige Lehrerin erinnert sich: Annegret Fehrensen: Wir von der Allgemeinbildung haben uns eigentlich immer so als das fünfte Rad am Wagen gefühlt. Also, wir haben uns damit abgefunden, oder ich hab mich damit abgefunden. Ich hab einfach versucht, meinen Unterricht so lebendig und so gut wie möglich, so gut ich’s kann, zu gestalten. Interviewerin: Worin hat sich das denn geäußert? AF: Na ja, es war halt so ein Nervenkrieg, nicht nur auf ideologischer Ebene, sondern eben auch auf der Ebene: »Ihr seid schlechte Lehrer.«
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Besonders stark scheinen diese Vorwürfe während der Wendezeit artikuliert worden zu sein. Das Gefühl der neu gewonnenen Freiheit dürfte dazu geführt haben, dass das, was zuvor eher unterschwellig angelegt war, nun offen ausgesprochen werden konnte. Hinzu kam die Tatsache, dass die allgemeinbildenden Fächer als Teil des ehemaligen Bereichs der »Volksbildung« natürlich stark mit dem untergegangenen System identifiziert werden konnten – weitaus stärker zumindest als der Hauptfachbereich. Die Tatsache, dass die Volksbildung selbst im geschützten Raum der Spezialschule zumindest teilweise ein Einfallstor für ideologische Bevormundung gebildet hatte – dazu später mehr –, hat in den Augen der hier zitierten Lehrerin nach der Wende die generelle Geringschätzung des allgemeinbildenden Bereichs verstärkt. Sie galt auch Fächern, in denen es eine derartige Bevormundung gar nicht gegeben hatte. Also, diesen Vorwurf, dass wir schlechte Lehrer sind, haben wir gerade in der Wendezeit sehr viel gehört. So im Alltäglichen war das schon ein bisschen belastend. Auch von den Eltern her. Da gab’s zum Beispiel in der ersten Abiturklasse nach der Wende so’n übereifrigen Vater, der dann einen Fragebogen entwickelt hat und da konnten sich dann alle Schüler in der Pubertät mal so richtig auskotzen. Und das wurde dann ziemlich ungefiltert an uns Lehrer herangetragen. »DAS gefällt den Schülern nicht und DAS gefällt den Schülern nicht und es ist langweilig.« […] Mittlerweile haben die Schüler und auch die Hauptfachlehrer – besonders die Hauptfachlehrer – verstanden, dass man den allgemeinbildenden Unterricht nicht mit dem Hauptfachunterricht vergleichen kann. Früher oder in der Wendezeit sind die Schüler mit der Erwartung in den allgemeinbildenden Unterricht gekommen, genau diese gleiche – ich nenn das jetzt Mund-zu-Mund-Beatmung – also diesen ganz direkten Kontakt zwischen Hauptfachlehrer und Schüler, auch im allgemeinbildenden Unterricht zu haben. Das geht aber in ’ner Gruppe nicht. […] Diese Spezifik des allgemeinbildenden Unterrichts ist völlig anders als der Hauptfachunterricht. Deswegen ist eben der Hauptfachlehrer ja der Gott für jeden Instrumentalschüler. Und das muss auch so sein, das ist ganz richtig. Das mussten wir auch erst mal begreifen. Wir waren da natürlich auch eifersüchtig, wir haben gesagt: »Wir zählen gar nichts und die Hauptfachlehrer zählen alles.« Aber das ist halt so. Das ist doch ganz klar.
In der Schlusspassage dieses Zitats zeichnet Frau Fehrensen ein Bild des Hauptfachlehrers, das – wie der vorangegangene Abschnitt gezeigt hat – keineswegs auf alle Spezialschüler zutraf. Ein »Gott« war der Hauptfachlehrer höchstens für den zwar tonangebenden, aber keineswegs alle Schüler repräsentierenden A-Typ. Für die anderen jedoch kaum – und wenn doch, dann keineswegs mit ausschließlich positiven Konnotationen. Hieran kann man deutlich sehen, in welch hohem Maße verallgemeinernde Sätze vom Schlage »Wichtig war nur das Hauptfach« oder »Der Hauptfachlehrer war der Gott«, die das Feld als Ganzes zu charakterisieren beanspruchen, von den Machtverhältnissen in eben diesem Feld geprägt sind. In derartigen Formulierungen wird eine in der Tat existierende und unleugbar dominante Perspektive absolut gesetzt; dass es daneben zahlreiche Orientierungsrahmen gab, die sich eher gezwungenermaßen der vermeintlichen Mehrheitsmeinung fügten oder aber zumindest in irgendeiner Weise sich mit ihr auseinanderzusetzen gezwungen waren, bleibt hingegen im Dunkeln. Im Falle einer allgemeinbildenden Lehrerin wie Frau Fehrensen ist diese Gleichsetzung einer sich als Mehrheit verstehenden Meinung mit dem gesamten Feld insofern besonders bemerkenswert, als es hierdurch zu einer Marginalisierung der eigenen Rolle kommt. Indem Frau Fehrensen ihre Stellung im Schulkon-
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text aus der Perspektive des A-Typs definiert, trägt sie – ohne dies explizit zu wollen – zu dessen Dominanz und ihrer eigenen Inferiorität bei. Man kann sich fragen, was mit einem Orientierungsrahmen wie dem von Frau Kolbe geschehen wäre, wenn er keine derartige Rückendeckung durch eine vermutete Mehrheit bekommen hätte. Diese Frage ist natürlich völlig spekulativ, sieht man einmal von der theoretischen Überlegung ab, dass ein Orientierungsrahmen, der von einer habituellen Übereinstimmung mit einem konjunktiven Erfahrungsraum gestützt wird, diesem zwar ähnlich sein, aber kaum je völlig gleichen kann. Ungeachtet dessen drängt sich diese Frage angesichts unseres Samples geradezu auf: Ist es doch durchaus bemerkenswert, dass wir auf keinen einzigen Fall gestoßen sind, der in Hinblick auf das Hauptfach den Typ A verkörpert und der dennoch zugleich eine große Wissbegierde und ein über das Verlangte hinausgehendes Interesse für Gebiete entwickelt hätte, die nicht unmittelbar an die Musik anschlussfähig sind. Umgekehrt – das wird die Rekonstruktion der beiden anderen Typen zeigen –, stoßen wir überall dort, wo sich Spuren eines derartigen Interesses zeigen, auf einen Orientierungsrahmen, der in Bezug auf das Hauptfach den Typen B und C entspricht. Wer an die Spezialschule mit dem Gefühl kam, ein geborener Musiker zu sein, scheint die dort herrschende Regel so verinnerlicht zu haben, dass er allem, was nicht Musik war, nur noch ein begrenztes Interesse schenkte. Was dem eigenen Orientierungsrahmen im Nachhinein als gewissermaßen »natürliche« Reaktionsform erscheint, ist mithin das Ergebnis einer impliziten kollektiven Prägung. Diese Verknüpfung ist keineswegs so normal und selbstverständlich, wie sie der Perspektive des A-Typs vielleicht erscheinen mag. Hans Günther Bastian hat in seiner Biografiestudie »Jugend am Instrument« eine ganze Reihe von Fällen beleuchtet, in denen hervorragende jugendliche Instrumentalisten durch ausgesprochene Mehrfachbegabungen auffallen. Bastian vertritt die These, dass gerade unter den als »hochbegabt« eingeschätzten Jugendlichen der Typus des »Treibhausvirtuosen« nur eine Minderheit darstellt: »Eine junge Bratschistin gewinnt den Vorlesewettbewerb ihres Landes, ein Trompeter bezeichnet sich als Heinrich-Böll-Fan, ein Posaunist kopiert Dürer-Bilder täuschend ähnlich und gestaltet ganze Hauswände mit dem Farbeimer in der Hand, eine 17jährige Oboistin schreibt Gedichte und gewinnt den Landeswettbewerb, […] ein improvisatorisch hochbegabter Organist publiziert Kurzgeschichten, ein Klarinettist erstellt eine Studie über die Judenverfolgung seiner Heimatstadt und wird mit dem Anne-Frank-Preis der Stadt Amsterdam ausgezeichnet.« (Bastian 1991, S. 139)
Natürlich gilt dieser Befund nicht für alle instrumentalen Spitzenleistungen. Dennoch fällt auf, dass wir in unserer Studie auf keinen einzigen Fall gestoßen sind, bei dem ein Vertreter des A-Typs eine vergleichbar intensive Beschäftigung mit einem nichtmusikalischen Bereich thematisiert hätte – wobei natürlich eingeräumt werden muss, dass es in Bastians Aufzählung durchaus Fälle gibt, die sich mit diesem Typ vereinbaren lassen. Zwischen der erfolgreichen Teilnahme an einem Vorlesewettbewerb und dem Interesse Frau Kolbes fürs Theater besteht möglicherweise kein grundsätzlicher Unterschied: Beide Male kann es sich um eine Lust am Darstellen handeln, die auch bei der Motivation fürs Hauptfach eine wesentliche Rolle spielt. Anders sieht es hingegen mit den Aktivitäten im Bereich der Bildenden Kunst und natürlich vor al-
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lem mit historischen Studien (wie im Falle der Arbeit über die Judenverfolgung) aus. Hier lässt sich eine Faszination für völlig andere Stoffgebiete erkennen, nach der wir unter Schülern des A-Typs an der Spezialschule vergeblich suchten – selbst wenn einige Vertreter dieses Typs in späteren Jahren durchaus eigenständige Interessenschwerpunkte neben der Musik entwickelten. Die Tatsache, dass wir vergleichbare Fälle in unserem A-Typ nicht finden, weist eindringlich auf einen zusätzlichen, über den individuellen Orientierungsrahmen hinausgehenden Einflussfaktor hin: den des konjunktiven Erfahrungsraumes, der anscheinend die Entwicklung von Interessenvielfalt gerade bei dem Typus behinderte, der sich an der Schule wie ein »Fisch im Wasser« fühlte und als deren idealer Adressat galt. Diese Behinderung war nicht so sehr die Folge aktiver Maßnahmen, denn es gab – wie die Analyse des B- und C-Typs zeigen wird – durchaus eine Reihe von Schülern, die im Rahmen ihrer Schulzeit eine derartige Interessenvielfalt zu entwickeln imstande waren. Sie äußerte sich vielmehr in der stillschweigenden Übernahme einer impliziten Regel, die sich aufgrund ihrer Unterschwelligkeit derart mit den individuellen Orientierungsrahmen des A-Typs zu verbinden wusste, dass die betreffenden Akteure sie gar nicht als äußeren Einfluss, sondern vielmehr als »ihre« individuelle Bedürfnislage empfanden. Sie verkörperten diese Regel und trugen damit zu ihrer Geltung bei. Anders formuliert: Sie prägten den konjunktiven Erfahrungsraum, durch den sie selbst geprägt wurden. 3.3.1.2 Typ B (»Schüler«) Die in diesem Typ versammelten Fälle weisen in Bezug auf die Wahrnehmung der allgemeinbildenden Fächer durchaus Differenzen zueinander auf. Dennoch eint fast alle als grundlegende Gemeinsamkeit die Tatsache, dass sie sich die konjunktive Regel, nach der allein das Hauptfach wichtig war, nicht zu eigen machten. Dass Frau Groß als eine Schülerin, die im Laufe ihrer Spezialschulzeit mehr und mehr zu der Überzeugung kam, dass sie keine Vollblutmusikerin sei, den allgemeinbildenden Fächern eine grundsätzlich andere Bedeutung zumaß als die Vertreter des Typs A, ist zunächst nicht weiter überraschend. Olga Groß Ich konnte also auf die Spezialschule. […] Die Schule hat mir nach wie vor keine Probleme bereitet. Im Gegenteil: außer Mathematik, wo ich gelegentlich mal darüber nachdenken musste, habe ich eigentlich nie viel für die Schule getan oder tun müssen. Hingegen Instrument schon. […] Dieser Automatismus, Musik praktisch studieren zu müssen, das erschien mir plötzlich selber nicht mehr ganz so logisch. Denn ich merkte ja, dass ich sehr viele Interessen habe. Manchmal hab ich bedauert, dass ich nicht so’n Genie war wie die Anderen, wo es eben nur die Geige sein musste. Hab mich genauso für Medizin oder für Biologie oder für irgendwas interessiert und bin sicher, ich hätte auf diesem Gebiet auch gute Leistungen erbracht. Ich war der klassische Generalist. Das ist aber ’ne Schwierigkeit in einem System, das erst mal, sozusagen, auch Schranken auferlegt. Also, zu gucken wo finde ich das, was mich glücklich macht? Und diesen Konflikt, den hab ich dann eigentlich schon vor dem Studium gehabt. (..) Das Hauptfach war für mich ein Feld von vielen, die mich interessierten. Also, ich muss das wirklich so sagen: Es gab andere, die mit anderen Begabungsverhältnissen ankamen. Und ich hab mich fürchterlich darüber geärgert: »Mensch, der kann drei und drei in der Schule nicht zusammenzählen, aber spielen tut er wie ein Gott!«
160 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE […] Und dann die Lehrer mit ihren Stärken und Schwächen. Und der eine oder andere hat sich, wie sich später herausstellte, ja sozusagen auch mit dem Teufel verbündet. Aber sie waren alle auf ihre Weise interessante Persönlichkeiten, die jenseits der Konformität oder des Normalen im Schulsystem agiert haben. Und da habe ich auch viele Impulse bekommen. Einfach weil ich merkte: »Mensch, der weiß zu allem Möglichen was. Woher weiß der das, äh, und wie macht der das?« Und: »Das würde mich aber auch interessieren. Da möchte ich auch mehr drüber wissen.« Also da gab’s unausgesprochen auch ein bisschen Vorbildfunktion. Und es gab vor allen Dingen Lehrer, wenn die gesagt haben: »Du hast das gut gemacht«, dann wusste ich, ich hab’s wirklich gut gemacht. […] Also wir waren jetzt nicht fern des Lehrplans. Und das war ja nun nicht alles schlecht, was da eben früher in der DDR passiert ist. Aber die haben an der Spezialschule schon noch eins draufgesetzt, insofern, als dass sie ja auch selektiv mit den Grundlehrmaterialien umgehen konnten. […] Zum Beispiel das Thema Astronomie kam bei uns auch vor, aber der Lehrer hat gesagt: »Ja, das schaffen wir ohnehin nicht. Ich such mir die Dinge raus, die interessant für euch sind.« Und das war dann eben auch wirklich interessant. Der hat … Die haben mit Liebe ihren Beruf ausgeübt. Und sicher auch Spaß gehabt mit uns Kindern, die wir in unserer Gesamtheit vielleicht auch nicht den Durchschnittslevel verkörpert haben. Weil, die Eltern mussten Interesse haben am Themenfeld Musik. Und sie mussten wissen, dass man damit die Welt irgendwo bereichert. Die Kinder mussten halbwegs schlau sein, sonst wären sie aus anderen Gründen von der Schule geflogen.
Frau Groß bindet die Tatsache, dass das Hauptfachinstrument nur ein Feld von vielen war, die [sie] interessierten, in eine Gegensatzbeziehung ein: Sich selbst als klassischer Generalistin stellt sie jene Mitschüler gegenüber, die mit anderen Begabungsverhältnissen ankamen. Der unausgesprochene Umkehrschluss dieser Aussage würde lauten: Für »begabtere« Musiker ist es eigentlich unnormal, wenn sie sich für andere Felder interessieren. Frau Groß bestätigt damit jene für Typ A charakteristische Engführung von einem Selbstkonzept, das sich als »geborenen Musiker« begreift und mit einer tendenziellen Geringschätzung von allem, was nicht Musik ist, einhergeht. Und auch sie erkennt, dass diese Engführung nicht allein ein Merkmal einzelner Orientierungsrahmen, sondern ein Tatbestand ist, der das »System« Spezialschule als Ganzes kennzeichnet – wird doch ihre eigene Vielseitigkeit von ihr als Problem in einem System begriffen, das erst mal auch Schranken auferlegt. Deutlicher kann man kaum bestätigen, dass Frau Kolbes Aussage, nach der an der Spezialschule das Hauptfach am wichtigsten war, eine prägende Grundlage des konjunktiven Erfahrungsraumes darstellte. Im Gegensatz zu Frau Kolbe macht sich Frau Groß diese Gewichtung jedoch nicht zu eigen, sondern betrachtet sie eher von außen – aus der Perspektive einer Schülerin, die eigentlich nicht ganz dazugehört. Nahezu der gesamte Textausschnitt ist von dieser Außenseiter-Perspektive beherrscht. Frau Groß begreift sich, wie bereits im Zusammenhang mit dem Hauptfachunterricht thematisiert, als eine – wenn auch selbstbewusste – Minderheit; in Bezug auf das Hauptfach war sie nicht so’n Genie wie die Anderen. Sprachlich zeigt sich das an der Tatsache, dass sie im Gegensatz zu den Vertretern des A-Typs fast durchweg im Singular bleibt; sie spricht nur von sich. Gleichzeitig mobilisiert dieses Minderheiten-Bewusstsein aber auch ihren Stolz. Unversehens werden die Genies in einen negativen Gegenhorizont eingebunden: Und ich hab mich fürchterlich […] geärgert: »Mensch,
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der kann drei und drei in der Schule nicht zusammenzählen, aber spielen tut er wie ein Gott!« Durch die doppelte Gegenhorizontstruktur (keine Vollblutmusikerin versus Genie wie die Anderen bzw. Generalistin versus Schüler, die drei und drei nicht zusammenzählen können) werden der Hauptfachbereich und die allgemeinbildenden Fächer in der Wahrnehmung von Frau Groß unauflösbar miteinander verklammert. Es sind keine Bereiche, die unabhängig voneinander existieren, sondern konträre Pole, die in einem sich wechselseitig ausschließenden Spannungsverhältnis zueinander stehen. Auch wenn Frau Groß ihren eigenen Orientierungsrahmen im Sinne einer gefühlten Minderheit außerhalb des »Systems« Spezialschule ansiedelt, ist dieser Rahmen doch in entscheidender Weise durch eben dieses System geprägt. Ihr Orientierungsrahmen ist von exakt denselben Gegenhorizonten gekennzeichnet, wie sie auch für den A-Typ charakteristisch sind, nur eben mit umgekehrten Vorzeichen. Die Gegenüberstellung von begabten Vollblutmusikern, die nur Musik im Kopf haben und Generalisten wie sie selbst, deren Vielseitigkeit einen Mangel an Begabung kompensiert, ist gerade kein Indiz für einen Orientierungsrahmen, der außerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes Spezialschule steht, sondern zeigt ganz im Gegenteil, dass dieser Orientierungsrahmen die impliziten Regeln dieses Erfahrungsraumes fest verinnerlicht hat. Der Fall von Frau Groß zeigt eindrucksvoll, dass es sich bei dem, was wir Orientierungsrahmen nennen, um eine »strukturierende Struktur« (Bourdieu) handelt – um eine Instanz also, die sich nicht etwa lediglich als Folge bestimmter Wahrnehmungen und Erfahrungen herausbildet, sondern die bereits vorgängig dasjenige strukturiert, was dem Subjekt dann als Wahrnehmung oder Erfahrung vor Augen tritt – wobei diese vorgängige Strukturierung natürlich ebenfalls die Folge von Erfahrungsprozessen ist. Die gegensätzlich konnotierte, wenngleich im Kern der Sichtweise des A-Typs verwandte Gegenhorizontstruktur führt dazu, dass Frau Groß die allgemeinbildenden Fächer nicht nur anders bewertet, sondern bereits anders wahrnimmt. Das zeigt sich besonders an der Beschreibung der Lehrer. Während Herr Dürer aufgrund seiner Erfahrungen vermutet, es handle sich hier um Personen, die vielleicht an anderen Schulen nicht jetzt so die Karriere gemacht hätten und Frau Trenkler die Ansicht vertritt, es seien nicht die Allerersten von ihrem Fach eingestellt worden, weil man ja gesagt hat: »Na ja, die werden ja sowieso Musiker«, sammelt Frau Groß aufgrund ihrer bereits vorgängig anders strukturierten Einstellung Erfahrungen, die sie zu einem diametral entgegengesetzten Urteil führen: Für sie waren die Lehrer alle auf ihre Weise interessante Persönlichkeiten, die jenseits der Konformität oder des Normalen im Schulsystem agiert haben. Und da habe ich auch viele Impulse bekommen. Einfach weil ich merkte: »Mensch, der weiß zu allem Möglichen was. Woher weiß der das und wie macht der das?« Symptomatisch für diesen anderen Blick auf die Lehrer ist ihre Darstellung des Astronomieunterrichts, der auch ihr – wie Herrn Gundolf – als besonders eindrucksvoll in Erinnerung geblieben ist. Während Herr Gundolf als Grund für seine positive Bewertung jedoch die Tatsache nennt, dass Herr Albers als glühender Musikliebhaber die Schüler dazu brachte, sich als Gegenleistung für ein ihnen ansonsten eher fremdes Fach zu erwärmen, ist es bei Frau Groß vor allem die inhaltliche Strukturierung des Stoffes – Herr Albers suchte sich das raus, was dann eben auch wirklich interessant war –, die sie im Rückblick fasziniert. Und anders als bei Herrn Gundolf,
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bei dem der Unterricht bei Herrn Albers den Status einer positiven Ausnahme besitzt, fungiert er bei Frau Groß als ein Musterbeispiel für das gesamte Kollegium, von dem ausgehend sie dann in den Plural wechselt: Der hat … Die haben mit Liebe ihren Beruf ausgeübt. Und sicher auch Spaß gehabt mit uns Kindern, die wir in unserer Gesamtheit vielleicht auch nicht den Durchschnittslevel verkörpert haben. Udo Innstedt Und was ich ohne die Spezialschule eben in dieser Weise nie kennen gelernt hätte – obwohl ich eigentlich aus einem einfachen, aber kulturell doch schon interessierten Elternhaus komme – das sind die Möglichkeiten, die sich dort eröffnet hatten, auf kulturellem Sektor. Die Lehrer, die dort waren, das waren fantastische Lehrer. Unser Klassenleiter zum Beispiel, dann das Fach Musikkunde und diese ganzen künstlerischen Dinge – da hat sich mir ’ne Welt aufgeschlossen. Ich hab dort angefangen zu lesen, philosophische Literatur und alles Mögliche, was eben aus dieser Ecke kam, was ich nie kennen gelernt hätte in dieser Art. Und da bin ich wahrscheinlich ein andrer Mensch geworden, der ich nie hätte werden können, wenn ich an einer allgemeinbildenden Schule gewesen wäre. Also das ist für mich – und meine Frau sieht das letzten Endes genauso – ein ganz großer Glücksfall gewesen. Und weil auch die Situation an der Spezialschule, das Klima dort … das ist für mich immer noch wie ’ne Wohnstube letzten Endes, na? […] Und wovon ich eben auch heute noch zehre, das ist dieses Fach Musikkunde, was wir dort hatten. Also ich bin dorthin und ich weiß gar nicht, was ich für Musik gehört hab, bevor ich dort hingekommen bin. Na die, die eben zu Hause so lief, aber das waren keine Sinfonien und alles. Aber in den Jahren, wo ich dort war, sind wir durch die ganze Musikgeschichte durch. Das ging los mit Einstimmigkeit, und vor allem: das alles mit Hörbeispielen. Also da wurde vorn fünf, zehn Minuten vorher was gesagt und dann haben wir gelauscht. Und das ist ein Fundus an Wissen, an musikalischen Kenntnissen – ich weiß nicht, ob die das heut noch so kriegen. Und dann hatten wir einen Kunsterzieher, der hat uns vom Künstlerischen her insofern auch bereichert, wir haben dort unheimlich viele Dias gesehen. Wir haben also bei dem Zeichnen, Malen gehabt und so. Und ich weiß nicht, wie oft das gewesen ist, dass der eben Diavorträge gehalten hat, Bilder erklärt. Und da haben wir, sag ich mal, den gesamten Fundus letzten Endes der abendländischen Kunst in Form von Bildern und Malern kennen gelernt, das hat der uns alles erklärt und gezeigt. Das ist ein Reichtum, der mich heute noch fasziniert letzten Endes. Und an ’nen schönen Spruch kann ich mich auch noch erinnern. Der hatte ohnehin so ’ne herrliche Ausdrucksweise. Da hat er – ich weiß gar nicht, von welchem Maler das war, das war so’n Frauenbild, so’n Brustbild praktisch – und da stand er so davor und hat uns begeistert erklärt: »Und auf ihren Busen, da kann man eine ganze Armee aufmarschieren lassen.« Ist eigentlich verrückt, was einem manchmal so im Kopf hängen bleibt.
Wie prägend die Bildungserlebnisse gewesen sind, die hier beschrieben werden, zeigt sich nicht nur an dem, was Herr Innstedt konkret zu berichten weiß, sondern vor allem auch an der Tatsache, dass dieser Ausschnitt an ganz zentraler Stelle des Interviews, nämlich gleich zu Beginn bzw. in der Mitte der Eingangserzählung, steht (während der Hauptfachunterricht erst im hinteren Nachfrageteil des Interviews Erwähnung findet). Im Unterschied zu allen anderen bisher behandelten Fällen geht es Herrn Innstedt nicht nur darum, die allgemeinbildenden Fächer als einen Ort schöner oder vielleicht auch wichtiger Erlebnisse darzustellen. Ihre Bedeutung reicht weit tiefer: Durch sie ist er wahrscheinlich ein andrer Mensch geworden. Auffallend ist,
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dass er diese an Grundsätzlichkeit kaum zu überbietende Aussage dezidiert mit der Spezialschule in Verbindung bringt. Es ist ja keineswegs so, dass ihn seine breiter angelegten Interessen als einen Schüler ausweisen, den es versehentlich dorthin verschlagen hat und der im Grunde eher an eine normale erweiterte Oberschule gehört hätte. Die Verwandlung seines Orientierungsrahmens wäre, davon ist Herr Innstedt überzeugt, an einer allgemeinbildenden Schule so nicht geschehen. Es ist der Lebensraum der Spezialschule, der ihm eine Welt aufgeschlossen hat – und dieser Lebensraum wird für ihn anscheinend nicht primär vom Hauptfach beherrscht, das er ja als in hohem Maße fremdbestimmt erlebte. Herr Innstedt zeichnet das Bild einer von enthusiastischem Kunstinteresse geprägten Atmosphäre, die sich nicht nur auf die Musik, sondern auch auf die bildenden Künste bezog und die ihn sogar zu einer Beschäftigung mit philosophischer Literatur animierte. Insofern ist seine Thematisierung der Allgemeinbildung durchaus selektiv – naturwissenschaftliche Fächer und Fremdsprachen bleiben unerwähnt. Dieser zutiefst bildungsbürgerlichen Idylle werden nicht nur die normalen Schulen gegenübergestellt, sondern auch sein Elternhaus, das er als zwar kulturinteressiert aber letztlich doch einfach kennzeichnet. Die Spezialschule erscheint in seiner Darstellung als eine Art Insel, in der Bildungserfahrungen möglich waren, die es für ihn andernorts nicht gegeben hätte. Diese Insel ist nicht nur von faszinierenden Fächern und Fachinhalten geprägt, sondern vor allem von einem Klima, das Herrn Innstedt nachträglich immer noch wie ’ne Wohnstube erscheint. Die Schule als Schauplatz der zweiten Sozialisation wird also mit einem Vokabular beschrieben, das sehr stark an die erste Sozialisation in der Familie gemahnt. Angesichts der Wohnstuben-Metapher erweist sich der fremdbestimmte Hauptfachbereich lediglich als ein Teilmoment der Spezialschulausbildung, das keineswegs prägend war für Herrn Innstedts Wahrnehmung des Gesamtklimas. In seiner Rückschau überwiegt die Differenz zwischen seinem Leben vor der Spezialschule und dem geschützten, inselhaften Schulalltag. Diese Differenz wird von ihm überdeutlich herausgestellt, während die Gegensätzlichkeit zwischen tiefgreifender Bildungserfahrung in den allgemeinbildenden Fächern und gegängeltem Hauptfachunterricht eher unterschwellig hervortritt. Das Gefühl der Fremdbestimmung im Hauptfach scheint von Herrn Innstedt in Kauf genommen worden zu sein, weil der Rahmen, in dem der Hauptfachunterricht stattfand, von ihm vorbehaltlos akzeptiert wurde. Erst in der Rückschau – ausgelöst vermutlich durch seine späteren Erfahrungen als Musikschullehrer – wird ihm bewusst, dass 80 Prozent aller Leute, die mit ihm in musikalischer Hinsicht umgegangen sind, etwas von ihm wollten, an das er mit seinem damaligen Orientierungsrahmen noch gar nicht anzuschließen in der Lage war. Im Vergleich zu Frau Groß findet bei Herrn Innstedt eine anders geartete Verklammerung zwischen Hauptfach und allgemeinbildenden Fächern statt. Gemeinsam ist beiden Fällen die Tatsache, dass die allgemeinbildenden Fächer dem Hauptfachunterricht antithetisch gegenübergestellt werden. Während diese Antithese aber im Falle von Frau Groß eine aktive Umwertung jenes Codes darstellt, nach dem an der Spezialschule das wichtigste der Hauptfachunterricht war – eine Umwertung, durch die sich Frau Groß durchaus selbstbewusst in eine Minderheitenposition begibt –, behält sie im Falle von Herrn Innstedt nicht das letzte Wort. Wichtiger als der Gegensatz zwischen fremdbestimmtem Hauptfach und autonomer Bildungserfahrung in den allgemeinbildenden Fächern ist für ihn die Erfahrung eines geschützten Lebensraumes, der beide Bereiche umklammert und der auf ihn eine derartige Faszinations-
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kraft ausübte, dass er nachträglich glaubt, durch ihn ein anderer Mensch geworden zu sein. Zwar registriert er die fremdbestimmenden Tendenzen im Hauptfach, aber sie ändern nichts an der grundsätzlichen Faszination für die andere Welt, die die Spezialschule für ihn repräsentiert. Während für Frau Groß die Erfahrungen im Hauptfach im negativen Sinne einen Orientierungspunkt darstellen, durch den ihr bewusst wird, dass sie keine Vollblutmusikerin ist und eigentlich etwas ganz anderes möchte, bleibt der Gegensatz zwischen Allgemeinbildung und Hauptfach im Falle von Herrn Innstedt unbearbeitet. Die Klammer zwischen beiden Bereichen wird in seinem Fall durch die Welt außerhalb der Spezialschule gestiftet, die bei ihm eindeutig als negative Kontrastfolie fungiert. Herr Innstedt bringt das auf den Punkt, wenn er an einer Stelle des Interviews sagt: Ich sage immer so aus Feetz: Wenn ich nicht an die Spezialschule gekommen wäre, wäre ich entweder Zuhälter oder Mafioso oder sowas geworden. Die Kontrastfolie zur Außenwelt ist so groß, dass die den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule prägende tendenzielle Geringschätzung der allgemeinbildenden Fächer unthematisiert bleibt; wenn sie denn für Herrn Innstedt überhaupt existiert hat, dann hat sie eine untergeordnete Rolle gespielt. In seinem Orientierungsrahmen wird die Spezialschule als Ganzes (allgemeinbildende Fächer plus Hauptfach) der sonstigen Umwelt als positiver Gegenhorizont gegenübergestellt. Beide Fälle eint aber unübersehbar die Tatsache, dass sich weder Frau Groß noch Herr Innstedt von vornherein zum Musiker berufen fühlten und sich hinsichtlich ihrer beruflichen Orientierung durchaus Alternativen vorstellen konnten. Der Schluss liegt nahe, dass diese Offenheit zu einer grundsätzlichen Aufgeschlossenheit gegenüber den allgemeinbildenden Fächern führte – einer Aufgeschlossenheit, die nicht lediglich zu einer anderen Bewertung der Allgemeinbildung führte, sondern die sich von vornherein in einer gegenüber dem A-Typ fundamental anderen Wahrnehmungsstruktur äußerte. Die produktive Haltung, die hier den allgemeinbildenden Fächern gegenüber an den Tag gelegt wird, hat anscheinend gerade mit der Tatsache zu tun, dass sich die Vertreter des B-Typs in Bezug auf ihr Hauptfach nicht wie ein Fisch im Wasser fühlten. An den Fall von Frau Groß lässt sich problemlos der Fall von Frau Thalheim anschließen, die sich bereits in den ersten Sätzen, die der Allgemeinbildung gelten, in einen deutlichen Gegensatz zum A-Typ stellt: Mit der Schule war es kein Problem für mich. Ich hab auch nie viel machen müssen. Also deswegen wäre es für mich mit dem Abitur schon nicht so schlecht gewesen. Ich wär vielleicht auch gut was anderes geworden, aber nun ja. Während das Gefühl geringer schulischer Anforderungen bei den Vertretern des A-Typs immer sofort in einen Kontext gerückt wird, der die Dominanz und die Wichtigkeit der Hauptfachausbildung thematisiert – im Sinne von: Gut, dass die Schule so nebensächlich war, da konnten wir uns voll aufs Hauptfach konzentrieren –, argumentiert Frau Thalheim in eine gegensätzliche Richtung: Die Tatsache, dass die Schule für sie kein Problem war, lässt sie sofort an die ihr verschlossen gebliebene Möglichkeit des Abiturs denken – nach dem Motto: Die Schule fiel mir leicht und hätte daher durchaus noch etwas anspruchsvoller sein können. Diese Schlussfolgerung wäre für Vertreter des A-Typs undenkbar! Zu dieser Argumentationsrichtung passt die Tatsache, dass Frau Thalheim, ganz ähnlich wie im Falle von Frau Groß, vor allem fordernde Lehrer in Erinnerung geblieben sind:
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Also unser Favorit ist eigentlich der Herr Clooth gewesen. Der hat sehr wissenschaftlich fundierten Unterricht gemacht, aber da musste man aufpassen: Der hat einen nicht so mitgenommen. Also wenn man da mal den Anschluss verpasst hatte, dann konnte man doch schon mal auf der Strecke bleiben. Dann fällt mir noch der Herr Segemüller ein. Der kam dann in der achten Klasse. Ja, der war jung und zackig, aber ich sage mal, also mir hat’s sehr gefallen, weil ich gesagt hab: »Also wenn ich in die Schule gehe, will ich auch was mitnehmen.«
Ebenfalls dem Fall von Frau Groß vergleichbar ist Frau Thalheims Verhältnis zum Hauptfachbereich. Zwar denkt sie nicht an eine berufliche Umorientierung, aber sie ist überzeugt davon, dass sie auch gut was anderes hätte werden können. Und wie Frau Groß begreift sie sich als jemanden, der eher aus Anstrengung denn aus besonderer Begabung heraus die Anforderungen im Hauptfach bewältigt hat – und auch sie bezieht aus dieser Willensleistung ein Stück ihres Selbstbewusstseins. Natürlich darf die Tatsache einer strukturellen Verklammerung zwischen der Wahrnehmung des Hauptfachs und der Wahrnehmung der allgemeinbildenden Fächer nicht zu dem Schluss verleiten, dass diejenigen Schüler, die wir in Bezug auf das Hauptfach im B-Typ verortet haben, nun automatisch ein großes inhaltliches Interesse an den allgemeinbildenden Fächern an den Tag legten. Allerdings trug die Allgemeinbildung auch bei Schülern, deren schulisches Interesse kaum den Bereich des Geforderten überschritt, zumindest ein Stück weit dazu bei, die Passungsschwierigkeiten im Hauptfach zu kompensieren. Hier waren es allerdings nicht die Inhalte, wohl aber eine grundsätzliche Empfänglichkeit für die Atmosphäre, in der die allgemeinbildenden Fächer an der Spezialschule unterrichtet wurden, die diese Anpassungsleistung ermöglichte. In diese Richtung weist der Fall von Clemens Hauschka. Was Herrn Hauschka vom A-Typ grundsätzlich unterscheidet, ist die Tatsache, dass der allgemeinbildende Bereich für ihn keine bloße Randzone ist, die bestenfalls als angenehm und nicht störend beschrieben wird. Er stellt im Gegenteil einen für ihn zentralen Bereich dar, an dem sich im Rückblick in besonderer Weise das Lernklima der Spezialschule beschreiben lässt. Wie Herr Innstedt, so betont auch er den Aspekt des Familiären: Und das war für uns bemerkenswert, weil es das in anderen Schulen ja nicht so gab: diese Individualität, wie ’ne Familie. Und was auch sehr schön war: Dass wir im Sommer oft in diesem Rhododendronhain dort hinten manchmal Unterricht gehabt haben. Geografie oder irgend so was. Wenn sich das angeboten hat, dass man nicht unbedingt ’ne Schultafel und ’nen Tisch brauchte, da haben wir unsere Stühle mit raus genommen und haben dann dort Unterricht gehabt. War klasse. In diese familiäre Nähe werden auch die Lehrer eingereiht, die sich unglaublich viel Mühe gegeben haben mit uns. […] Also dass die auch unheimlich Rücksicht auf viele Dinge genommen haben und dass die immer nett waren. Also es gab kaum einen, wo man heutzutage sagt: »Also Gott sei Dank, dass es den da nicht mehr gibt.«
Für Herrn Hauschka ist es ebenso wie für Herrn Innstedt die spezifische Atmosphäre gewesen, in dem die allgemeinbildenden Fächer unterrichtet wurden – eine Atmosphäre, die es in anderen Schulen ja nicht so gab. Auch er ist kein verkappter EOSSchüler, der nur durch Zufall an die Spezialschule gekommen ist, sondern jemand, der sich an der Spezialschule grundsätzlich am richtigen Platz fühlte – und dieses Ge-
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fühl der Zugehörigkeit wird, wie bei Herrn Innstedt, nicht durch den Hauptfachbereich gestiftet, in dem Herr Hauschka ja eher eine Außenseiterrolle einnahm, sondern vorrangig durch die allgemeinbildenden Fächer. Sie sind es, die ihm – ganz wie im Fall von Herrn Innstedt – eine Identität als Spezialschüler vermittelten. Grundsätzlich anders gelagert sind hingegen die Erfahrungen von Albert Leininger. Was er über die allgemeinbildenden Fächer erzählt, deckt sich restlos mit jenen Kriterien, die wir in Bezug auf den A-Typ herausgearbeitet haben. Sein Fall ist der einzige in unserem Sample, bei dem die Sichtweise auf den Hauptfachunterricht und die Wahrnehmung der allgemeinbildenden Fächer zu einer Einordnung in unterschiedliche Typen führten: Also, wir waren – wie ich vorhin sagte – als Kinder im Grunde ganz normale Kinder, aber ein bissel haben wir uns immer gedacht, dass wir was Besonderes sind. Und alles, was mit Musik zu tun hatte, das hatte für uns ’ne große Bedeutung und alles andere war so nebenbei. Und deswegen war die Allgemeinbildung – nicht so, dass die jetzt missachtet wurde, wir sind ja hingegangen, wir haben ja unseren Unterricht gemacht und alles – aber sie war jetzt kein Thema für uns. […] Aber wir haben unheimlich viel Spaß gehabt. Aber Vorbilder oder so waren die [Lehrer] allesamt – für mich zumindest – nicht. Also, nee. Nee, nee. Und wenn wir gekonnt hätten, hätten wir die ganze Allgemeinbildung geschlossen und hätten nur Musik gemacht.
Gründe für dieses auffällige Ausscheren aus unserer Typologie lassen sich vermutlich in der im Zusammenhang mit dem Hauptfachbereich bereits thematisierten Faszination Herrn Leiningers für den Orientierungsrahmen des professionellen Praktikers finden, durch die er ja auch dort immer wieder zu Formulierungen gelangte, die sehr stark an Vertreter des Typs A gemahnen. Wir beschrieben Herrn Leininger als eine Persönlichkeit, die diesen Orientierungsrahmen jedoch eher im Sinne einer Rolle übernahm, die er versuchsweise ausprobierte und aus der er in seiner Beschreibung des Hauptfachunterrichts immer wieder ausbrach. Denkt man seine Kennzeichnungen der allgemeinbildenden Fächer hinzu, so verstärkt sich bei ihm das Bild eines Mischtyps, der zwischen der insgesamt trennscharfen Grenze von A- und B-Typ changiert. Wie zu sehen ist, lässt sich auch mit Blick auf die allgemeinbildenden Fächer der Typ B deutlich vom Typ A abgrenzen. Das zeigt sich nicht nur an den inhaltlichen Aussagen unserer Gesprächspartner, sondern auch an der Perspektive, aus der heraus sie diese formulieren. Es ist auffallend, dass bis auf Frau Trenkler alle Vertreter des A-Typs (unter Einschluss von Herrn Leininger, der in Bezug auf die allgemeinbildenden Fächer ja ebenfalls zu diesem Typ gehört) entweder die erste Person Plural oder das unbestimmte Pronomen »man« bevorzugen. Bei den Vertretern des B-Typs dominiert hingegen – mit Ausnahme von Herrn Hauschka, der sich ja eher auf die Atmosphäre des gemeinsamen Lernens bezieht – die Ich-Perspektive. Dieses kleine sprachliche Detail sagt sehr deutlich etwas über den konjunktiven Erfahrungsraum aus: Wer »wir« sagt, nimmt für sich in Anspruch, für eine Allgemeinheit zu sprechen – unabhängig davon, ob es sich dabei um eine wirkliche Mehrheit handelt oder nicht. Die Ich-Perspektive hingegen verweist auf persönliche Bildungsprozesse, die sich entweder, im Falle von Frau Groß, sehr bewusst als konträr zu einer vermuteten
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Mehrheitshaltung verstehen, oder aber, wie bei Herrn Innstedt, die Existenz einer möglicherweise anders denkenden Mehrheit gar nicht zur Kenntnis nehmen. Ein weiterer auffallender Unterschied zwischen den beiden Typen liegt in der Tatsache, dass die Vertreter des B-Typs, die ja alle in irgendeiner Form Bildungserlebnisse im allgemeinbildenden Bereich thematisieren, erstaunlicherweise an keiner Stelle vergleichbare Prozesse in Bezug auf ihr Instrument formulieren. Nicht einer der Gesprächspartner, die wir dem B-Typ zugeordnet haben, thematisierte in Hinblick auf seine Spezialschulzeit eine über den Hauptfachunterricht hinausgehende Beschäftigung mit bestimmten Komponisten, Epochen, Werken oder Interpreten (ganz im Gegensatz also zu Herrn Gundolf, Herrn Schaller oder Herrn Dürer). Und bei keinem finden sich Erlebnisse wie bei Frau Kolbe, die vom Instrument ausgehend ihre Faszination fürs Schauspiel entdeckte. Es hat den Anschein, dass es an der Spezialschule nur ein Entweder-Oder gab. Hinter dieser auffallenden Differenz lässt sich ein Erfahrungsraum erkennen, in dessen impliziter Struktur ein sich auf beide Bereiche gleichermaßen beziehendes Interesse anscheinend nicht vorgesehen war. Und dort, wo dies dennoch der Fall war, scheint es für den Orientierungsrahmen des Betreffenden zu Konflikten gekommen zu sein. Damit wären wir beim Typ C. 3.3.1.3 Typ C (»Fremdling«) Gernot Brauchbach Und [wir] waren auch interessiert an dem, was in der Schule geboten wurde, weil das nun wirklich auch sehr schön angepasst war, teilweise. Also wir hatten hervorragende Lehrer, die uns so zu inspirieren vermochten. Das war teilweise ganz, ganz schön. Muss ich einfach sagen. Ich weiß keinen Versager unter den Lehrern, den ich so einordnen würde. Das war wirklich schon grandios. Wir mussten natürlich auch den vielen Stoff mitschlucken. Aber wir hatten ja doch ein Jahr mehr durch die 10.2. Durch diese elfte Klasse, die uns geschenkt worden war. […] Und wir hatten Persönlichkeiten, die wirklich wunderbar den Horizont erweitert haben. Wo dann auch schon diese Teilhabe am Geistesleben sozusagen sich auftat. Und dieses sich anfangsweise Begreifen als Angehöriger des Geisteslebens, als Musiker eben. Nicht bloß als ein Sportler auf dem Instrument. Das ist schon was ganz Wesentliches. Im Hauptfach dominierte dagegen schon diese – wie kann man sagen? – diese verordnete Professionalität und dieses russische System und dieses Verdummende. Als Musiker wird man ja dann, wenn man irgendwie weiterführende Gedanken äußert, sogleich als Philosoph abgestempelt.
Dass Herr Braubach hier vornehmlich in der ersten Person Plural berichtet, scheint auf den ersten Blick unserer Beobachtung zu widersprechen, nach der diese Perspektive in Bezug auf die allgemeinbildenden Fächer vor allem von den Vertretern des A-Typs eingenommen wird. Schaut man sich aber den Kontext an, in den diese Passage eingebunden ist, so wird man bemerken, dass sich dieses »Wir« gar nicht auf eine reale oder imaginäre Mehrheit bezieht, sondern Teil eines Gegensatzes ist, dessen eine Seite die als dominant empfundene Gruppe der Dresdner Schüler darstellt. Mit »Wir« bezeichnet« Herr Braubach hingegen die Internatsschüler. Die unmittelbar vorangehende Passage lautet: An der Kreuzschule hat es ja auch die sogenannten »Kurrendaner« gegeben, die nicht im Internat waren, weil sie ja aus Dresden kamen. Und in der Spezi hieß das einfach: »die Dresd-
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Gerade die pauschale Zuordnung ist interessant: Auf der einen Seite stehen »die Dresdner«, die als Olympiakämpfer und Könner auf dem Instrument firmieren, auf der anderen Seite die Internatsschüler, denen dieses Merkmal anscheinend abgeht, denn sonst könnte es ja nicht als Unterscheidungskriterium dienen. Die Internatsschüler wiederum werden kollektiv als interessiert an dem, was in der Schule geboten wurde bezeichnet. Dass Herr Braubach mit dieser Gegenüberstellung eine Polarität konstruiert, die letzten Endes darauf hinausläuft, »den Dresdnern« ein geringes Interesse an den allgemeinbildenden Fächern zu attestieren, zeigt sich im weiteren Verlauf der Passage: Während er die Gruppe derer, die sich als beginnende Angehörige des Geisteslebens empfanden, mit Wir bezeichnet und damit weiterhin auf die Internatsschüler bezieht, treten als negativer Gegenhorizont dazu nun die Sportler auf dem Instrument in Erscheinung. Mit dieser Formulierung greift Herr Braubach seine Metapher der Olympiakämpfer wieder auf und schreibt damit eine latente Polarität fort, auf deren negativer Seite sich »die Dresdner« befinden, die damit zu Prototypen des verdummenden russischen Systems werden. Herr Braubach will also sagen: Während Internatsschüler wie ich die allgemeinbildenden Fächer als notwendigen Rahmen begriffen, durch den die Arbeit am Instrument zu mehr als nur einer sportlichen Gymnastik wurde, fügten sich »die Dresdner« bereitwillig in die verordnete Professionalität ein. Dass Herr Braubach mit dieser sicherlich überspitzten Gegenüberstellung nicht nur zwei unterschiedliche Zugangsweisen zum Instrument charakterisiert, sondern zugleich auch auf ein reales Machtverhältnis an der Spezialschule hinweist – wobei er selbst eine Minderheitenposition vertritt – wird deutlich, wenn man seine bereits geschilderten Erfahrungen im Hauptfachunterricht hinzuzieht, an denen ja deutlich wurde, wie wenig anschlussfähig sein damaliger Orientierungsrahmen an die Anforderungen des Hauptfachs war. Hierzu nochmals ein kleiner Textausschnitt: Und ich konnte dieses Virtuosentum nicht ergreifen. Die anderen haben das so mit links … Ich konnte mich eben noch nicht wie ein Künstler verstellen. Ich hab das mit Abscheu irgendwie empfunden, diese Virtuosenmusik. Ich dachte immer: »Das ist doch gar nichts. Das ist doch … Also dieser Paganini-Stil und dieses Vortäuschen von Emotionen: Ach, wie bin ich traurig, schluchz, schluchz, schluchz.«
Herr Braubach fühlt sich im Hauptfach grundsätzlich fehl am Platz. Und anders als im Falle von Frau Groß stellen die allgemeinbildenden Fächer für ihn keinen Ausgangspunkt einer möglichen beruflichen Umorientierung dar. Sie sind in seinen Augen für den Musikerberuf, den er ja zu keinem Zeitpunkt für sich selbst in Frage stellt, essenziell wichtig; und er leidet darunter, dass der geistige Kontext, den sie anbieten, im konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule nicht die ihm gebührende
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Anerkennung findet. Das zeigt sich an der generalisierenden Zusammenfassung: Als Musiker wird man ja dann, wenn man irgendwie weiterführende Gedanken äußert, sogleich als Philosoph abgestempelt. Im Unterschied zu Herrn Innstedt, der die gefühlte Fremdbestimmung im Instrumentalunterricht in Kauf zu nehmen in der Lage war, weil er das Hauptfach in jene bildungsbürgerliche Idylle zu integrieren vermochte, die die Spezialschule für ihn als Ganzes darstellte, verstärkt sein Interesse an den allgemeinbildenden Fächern die Kluft, die ihn von der Ausbildungsphilosophie des Hauptfachbereiches trennt. Eben jene Verbindung zwischen dem Geistesleben und dem Instrument, die ihm angesichts der in den allgemeinbildenden Fächern vermittelten Inhalte aufgeht, wird in seinen Augen im Kontext der Schule nicht gewollt – das Idealbild des Schülers ist vielmehr der Dresdner Olympiakämpfer. Auch im Orientierungsrahmen von Herrn Braubach kommt es also zu einer starken Verknüpfung von Allgemeinbildendem Bereich auf der einen und Hauptfachunterricht auf der anderen Seite. Im Unterschied zu dem, was wir bei den im Typ B versammelten Fällen feststellen konnten, sind seine positiven Erfahrungen mit den allgemeinbildenden Fächern jedoch nicht in der Lage, die eigenen Probleme in der Hauptfachausbildung zu kompensieren. Im Gegenteil: Gerade durch die hier vermittelten Horizonte wird das Gefühl, nicht in den Schulkontext hineinzupassen, verstärkt. Zu einer anderen Form der Nicht-Passung tragen die allgemeinbildenden Fächer im Fall von Hans Trescher bei: Und zur allgemeinbildenden Schule muss ich sagen, dass ich da schon bissel überrascht war. Ich hatte nicht damit gerechnet, aber es war nicht so einfach wie an meiner Schule zu Hause. Also, das war so ’ne Dorfschule sag ich jetzt mal. Und da bin ich so ohne irgendwas zu machen durchgerutscht und hab das alles so nebenbei halt mitgenommen. An der Spezialschule war das jetzt anders. Also, ich hatte auch auf einen Schlag dann, glaub ich, die Hälfte Zweien. Was nicht schlimm war, das hat mich nicht groß belastet. Was ich auch noch in Erinnerung hab: Dass immer, wenn man so auf der Kippe stand, dass es immer die schlechtere Note gab. Und das hab ich als schlecht empfunden. Also auch später – dann wurde es ja immer schlimmer mit meinen Zensuren. Also je länger ich in die Schule ging, desto dümmer bin ich eigentlich geworden, also wenn man jetzt die Zensuren verfolgt. Und, na ja, das hat jetzt nicht unbedingt motiviert, aber die Lehrer dachten immer, dass das gut ist, weil das ein Ansporn ist. Und ich hab aber auch sehr schnell gemerkt, dass es eigentlich auf die Schule nicht so ankommt. Und das haben die Anderen, glaub ich, auch gespürt: Die Schule ist eigentlich nicht so wichtig. Na ja, und so hab ich mich auf jeden Fall auch verhalten.
Drei Aspekte sind es, die an dieser Darstellung Beachtung verdienen: Erstens sind die allgemeinbildenden Fächer – im Gegensatz zu allen anderen bisher diskutierten Fällen – hier weder eine vielleicht lästige, aber im Ganzen doch eher harmlose Angelegenheit (wie bei Typ A) noch ein Ort vielfältiger Bildungsimpulse (wie bei Typ B). Das bezieht sich nicht nur auf die in diesem Bereich erhobenen Leistungsanforderungen, die Herr Trescher als keineswegs gering erlebt, sondern vor allem auch auf ein Lernklima, das durch Negativ-Impulse (im Zweifelsfall die schlechtere Note) zu motivieren versucht. Diese Charakterisierung läuft den Erinnerungen von Typ A und Typ B gleichermaßen zuwider. Durch das Empfinden einer starken Reglementierung kommt es bei Herrn Trescher zu keiner polaren Gegen-
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überstellung von Hauptfach und allgemeinbildenden Fächern, sondern zu einer deutlichen Parallelisierung beider Bereiche. Hier wie dort fühlt er sich fremdbestimmt und sieht sich als Objekt fruchtloser Motivationsversuche – im einen Fall durch einen Hauptfachlehrer, der durch das permanente Loben seines Fleißes wider Willen bei ihm das Gefühl seines instrumentalen Rückstandes verstärkt, im anderen Fall durch allgemeinbildende Lehrer, die davon ausgingen, dass [eine schlechtere Note] gut ist, weil das ein Ansporn ist. Auch bei ihm kommt es, wenngleich aus vollkommen anderen Gründen als bei Herrn Braubach, im allgemeinbildenden Bereich zu keiner Kompensation; in seinem Orientierungsrahmen sieht er sich in beiden Bereichen außerstande, an bestehende Erwartungshaltungen anzuknüpfen. Obgleich er also auch in den allgemeinbildenden Fächern Druck verspürte, machte er sich zweitens in seinem Verhalten dennoch die implizite Regel zu eigen, dass es eigentlich auf die Schule nicht so ankommt. Er orientierte sich also an durch den konjunktiven Erfahrungsraum geprägten Grundsätzen, die allerdings nicht unbedingt die seinen sind. Wenn er sagt, die Anderen hätten glaub ich, auch gespürt: Die Schule ist eigentlich nicht so wichtig. Na ja, und so hab ich mich auf jeden Fall auch verhalten, dann spricht er nicht von den Bedürfnissen seines eigenen Orientierungsrahmens, sondern thematisiert einen Anpassungsprozess. Er übernimmt eine vermeintliche Mehrheitsposition, ohne die Frage zu verfolgen, ob diese Position eigentlich zum eigenen Orientierungsrahmen passt. Während B-Typ-Vertreter wie Frau Groß und Frau Thalheim sich dieser Regel – deren Gültigkeit sie durchaus bestätigen – in unterschiedlichem Maße widersetzen, fügt sich Herr Trescher in sie, weil er nur so für sich Chancen sieht, in diesem System zu überleben. Damit sind ihm freilich eben jene Kompensationsmöglichkeiten verbaut, die Typ B auszeichnen. Drittens werden seine Erinnerungen an die allgemeinbildenden Fächer in eine Gegensatzbeziehung integriert, bei der die Spezialschule antithetisch der Dorfschule gegenübergestellt wird, die Herr Trescher zuvor besucht hatte. Sein Rückblick ist beherrscht von dem Kontrast zwischen dem ländlichen Raum, aus dem er stammt, und der Großstadt Dresden, die ihn ebenso fasziniert wie auch einschüchtert. Charakteristisch ist in diesem Zusammenhang seine Darstellung der räumlichen Gegebenheiten der Spezialschule, die er im Zusammenhang mit seiner Eignungsprüfung erstmalig kennenlernte. Man sieht hier förmlich einen kleinen Jungen vor sich, der mit großen Augen einen ihm fremden Kosmos betritt: Ich fand das faszinierend, so in diesem alten Haus, dort in dieser Villa – und irgendwie war das schon so ’ne andere Welt. Ich weiß nicht, Harry Potter gab’s damals noch nicht, aber so ein bisschen hatte das was davon. Dieses ganze Flair war schon interessant halt. Und diese vielen Straßenbahnen, die einem da so begegnet sind …
Während bei Herrn Innstedt und Herrn Hauschka (beide Vertreter des B-Typs) die Spezialschule als Nische in Erscheinung tritt (vgl. die Wohnstuben-Metapher oder die Erinnerung an den Geografie-Unterricht neben den Rhododendronbüschen), erscheint sie hier in einem doppelten Sinne fremd: Zum einen – hierin der Zaubereischule Hogwarts in den Harry-Potter-Romanen vergleichbar – ist sie ein hermetisch abgeschlossener Ort fremder und faszinierender Erfahrungen, zum anderen ist sie Teil eines pulsierenden Großstadtlebens. Beide Zuschreibungen stehen in deutlichem Ge-
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gensatz zur Welt der ländlichen Dorfschule. Sie weisen auf alles hin, aber nicht auf eine Nische. Auf eine andere Art als bei Herrn Trescher schreiben sich auch in Irene Dahlkes Erinnerungen an die allgemeinbildenden Fächer die Erfahrungen des Hauptfachbereichs fort. Hier wie dort hätte sie sich gewünscht, dass sich die Lehrer ein bisschen persönlicher um jeden einzelnen Schüler Gedanken gemacht hätten. Vielleicht haben sie das auch, vielleicht durften sie’s auch nicht sagen. Das weiß man ja nicht, es wurde ja dann auch vieles zensiert. Die Erfahrung mangelnder menschlicher Zuwendung, die fast wie ein Motto über ihrer ganzen Spezialschulzeit steht, betrifft auch die Allgemeinbildung. Frau Dahlke erlebt die Lehrer keineswegs als Menschen, die Spaß gehabt [haben] mit uns Kindern (Frau Groß) oder die sich unglaublich viel Mühe gegeben haben mit uns und auch unheimlich Rücksicht auf viele Dinge genommen haben (Herr Hauschka). Ebenso wenig ist sie aber auch in der Lage, jenen Lehrern, die – in den Worten Herrn Gundolfs – strikt [ihren] Stiefel machten so wie das eben in den staatlichen Schulen sein muss, das Selbstbewusstsein eines geborenen Musikers gegenüberzustellen, der aufgrund seiner gefühlten Berufung den allgemeinbildenden Fächern mit einer tendenziellen Geringschätzung gegenübertritt. Eben weil sie sich zu Musik und Instrument eher genötigt als berufen sieht, ist sie zunächst einmal durchaus offen und empfänglich für andere Fachgegenstände (die Schule hab ich schon gerne gemacht, gerade so diese naturwissenschaftlichen Sachen), allerdings muss bei ihr die Entwicklung eines Interesses immer an die persönliche Integrität des Lehrenden geknüpft sein. Diese Voraussetzung sieht sie jedoch nur in Einzelfällen erfüllt: Also es gab zum Beispiel einen Lehrer, den hab ich sehr gemocht – das war Biologie, Physik. Da hat man ganz genau gemerkt, der hat seine Position. Der passt sich nur dort an, wo es nötig ist mit diesem ganzen politischen Kram und lässt aber keinen Zweifel dran, dass ihm andere Sachen viel wichtiger sind. Der hat sein Fach wirklich mit Hingabe unterrichtet, das hat Spaß gemacht. Und der hat sich dann wirklich sehr diplomatisch verhalten und raus gezogen, also das war mal ’ne Ausnahme. Aber sonst halt …
Frau Dahlkes Orientierungsrahmen ist nicht in der Lage, die geringe Handlungsfähigkeit, die ihr Verhältnis zur Hauptfachausbildung kennzeichnet, durch ein Interesse an den allgemeinbildenden Fächern zu kompensieren. Gerade weil sie im Hauptfach weit Überdurchschnittliches leistet, scheint es ihr schwer zu fallen, sich von dem an der Schule gewünschten Orientierungsrahmen zu distanzieren. Das ist eine Parallele zu Herrn Trescher, der sich diesen Orientierungsrahmen ebenfalls zu eigen macht – allerdings aus gegensätzlichen Gründen, nämlich um instrumental überhaupt mithalten zu können. Die Erinnerungen von Carla Senff an die allgemeinbildenden Fächer werden von einem nahezu traumatischen Verhältnis zum Fach Mathematik überschattet. Sieht man von diesem beherrschenden Eindruck ab, zeigen sich deutliche Parallelen zu Frau Dahlke und auch Herrn Trescher. In größtmöglichem Gegensatz zu den Vertretern des B-Typs vertritt Frau Senff die Ansicht, dass sich, bis auf wenige Ausnahmen, die meisten Lehrer
172 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE wenig [darum] gekümmert [haben], wie man irgendwie vielleicht noch besser werden könnte. Die waren an der Spezialschule Lehrer, aber man hatte so den Eindruck, die hätten auch woanders Lehrer sein können. Das war eben letztendlich Jacke wie Hose. Es war auch kein Lehrer dabei, wo ich mich erinnern kann, dass der das gut fand, dass wir so viel Musik machen. Nee, stimmt nicht: Einer war dabei … […] Es war für mich nur Stress. Also, mir hat die Schule keinen Spaß gemacht.
Ein weiteres Beispiel dafür, in welch hohem Maße der individuelle Orientierungsrahmen die Wahrnehmung lenkt! Frau Senff formuliert eine vollständig andere Sicht auf die allgemeinbildenden Lehrer – und wie bei Herrn Trescher und Frau Dahlke korreliert diese Sichtweise eng mit ihrer Wahrnehmung des Hauptfachunterrichts. Beide Bereiche werden von ihr als Teil einer Gesamtinstitution begriffen, die dem eigenen Orientierungsrahmen feindlich gegenübertritt. Nimmt man die Fälle des C-Typs zusammen, so zeigt sich, dass – mit Ausnahme von Herrn Braubach – hier insofern ein deutlicher Zusammenhang zwischen Hauptfachausbildung und allgemeinbildenden Fächern besteht, als das Gefühl des Ausgeliefertseins im Hauptfach so stark ist, dass eine Orientierung in Richtung auf andere Interessensgebiete nicht möglich erscheint. Das geringe Enaktierungspotenzial, das diese Fälle in Bezug auf ihren Hauptfachunterricht an den Tag legen, scheint ein Ausweichen in andere Bereiche unmöglich zu machen – denn das würde ja eine aktive Umorientierung bedeuten, deren Realisierung auf exakt jene Handlungsbereitschaft angewiesen wäre, die den Vertretern dieses Typs im Hauptfach gerade nicht möglich ist. Bei Herrn Braubach hingegen ist durchaus Enaktierungspotenzial vorhanden: Er will Musiker werden, versteht darunter aber etwas anderes als der ihn umgebende konjunktiven Erfahrungsraum. Er gerät daher mit diesem Erfahrungsraum in einen für ihn letztlich unlösbaren Konflikt: Sein Orientierungsrahmen lässt ihm keine Möglichkeit, sich mit den an der Schule geltenden Spielregeln wirklich zu versöhnen. 3.3.2 Sinngenetische Typenbildung 3.3.2.1 Inhaltliche Aspekte im Überblick
Leistung & Begabung
Sinngenetische Typologie II (Inhaltsdimension): Allgemeinbildende Fächer Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Gegenüber dem allgemeinbildenden Unterricht besteht nur eine begrenzte Leistungsbereitschaft (zugunsten des Engagements im Hauptfachbereich).
Allgemeinbildende Fächer werden als den eigenen Fähigkeiten entgegenkommend wahrgenommen.
Allgemeinbildende Fächer tragen nicht zur Kompensation der Leistungsproblematik im Hauptfach bei:
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Leistung & Begabung
Typ A: »Fisch im Wasser«
Persönlichkeitsentfaltung & Berufsorientierung
Kein wirkliches Interesse für nicht-musikalische Stoffgebiete bei gleichzeitig hoher Selbstständigkeit in musikalischen Dingen.
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Die schulischen Anforderungen werden insgesamt als leicht eingeschätzt. Konsequenz: a) Orientierung an den Lehrern, die einen fordernden Unterricht geben (Groß, Thalheim) oder b) selbstständiges Aufgreifen von Unterrichtsimpulsen (Innstedt) [Hauschka: keine Aussage].
a) Die Leistungsanforderungen im allgemeinbildenden Bereich werden als nicht gering bzw. über den eigenen Möglichkeiten liegend eingeschätzt (Trescher, Senff) oder b) allgemeinbildende Fächer werden als Ort wahrgenommen, an dem man sich gerne stärker engagiert hätte, wenn es denn im Schulkontext möglich oder gewünscht gewesen wäre (Braubach, Dahlke).
Eigenständiges Interesse an den allgemeinbildenden Fächern (im Gegensatz zur eher impulsarmen »Schüler«-Rolle im Hauptfach):
Das Gefühl einer generellen Fremdbestimmung lässt sich durch die allgemeinbildenden Fächer nicht ausgleichen:
Alles, was die musikalischen Aktivitäten behindern könnte, wird abgewehrt.
a) Interesse an den allgemeinbildenden Fächern wird als Konsequenz geringerer Leistungsfähigkeit im Hauptfach gedeutet und umgekehrt (Groß, ThalEigenständige Forderunheim) oder gen eines allgemeinbildenb) die Schule wird als den Faches werden als Tor in eine andere (bilfremdbestimmt empfundungsbürgerliche) Welt den. bzw. als Ausdruck einer familiär getönten Gegenwelt begriffen, in der prägende Bildungserlebnisse erfahren werden (Innstedt, Hauschka).
a) Allgemeinbildende Fächer können ebenso wenig motivieren wie das Hauptfach (Trescher, Senff) oder b) Interesse für die allgemeinbildenden Fächer wird von den eindimensionalen Anforderungen des Hauptfachs überdeckt (Braubach, Dahlke). Daher ist keine Umorientierung auf andere Interessengebiete möglich, prägende Bildungserlebnisse werden verhindert.
Die Bereitschaft, sich auf fremde Fachgegenstände einzulassen, ist dann vorhanden, wenn ein Bezug zum Hauptfach bzw. zu musikalischen Inhalten erkennbar ist.
Es besteht ein Zusammen- Allgemeinbildende Fächer hang zwischen dem Intezeigen keine beruflichen resse an den allgemeinbil- Alternativen auf. denden Fächern und dem Nicht-Vorhandensein einer Fixierung auf den Musikerberuf.
Wir-Perspektive im Sinne einer selbstbewussten und tonangebenden Mehrheit.
Ich-Perspektive – im Mittelpunkt stehen persönliche Bildungsprozesse:
Ich-Perspektive im Sinne einer sich unterlegen und isoliert fühlenden Minderheit.
174 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Rollenidentität & Beziehungsgefüge
Verinnerlichung und Verkörperung der konjunktiven Regel: »Das Wichtige war immer das Hauptfach!«
a) Verinnerlichung der konjunktiven Regel von der Priorität des Hauptfaches unter umgekehrten Vorzeichen. So entsteht eine Antithese zwischen dem eigenen SelbstverDie Bereitschaft, sich auf ständnis als Generalist und musikfremde Fachgegen- den musikalischen Speziastände einzulassen, ist listen, »die drei und drei dann vorhanden, wenn die nicht zusammenzählen allgemeinbildenden Lehrer können«. Insgesamt eine den musikalischen Aktivi- selbstbewusste Minderheitäten der Schüler Respekt tenperspektive, die fehlenentgegenbringen [Lehrer de musikalische »Begasind in der »Bringbung« durch Leistungswilschuld«]. len und Interesse an der Allgemeinbildung zu kompensieren sucht (Groß, Thalheim) b) »Wohnstuben«Metapher zur Charakterisierung des allgemeinbildenden Unterrichtes.
Ausgeprägte Anspruchshaltung: Die Lehrer müssen vor den auftrittserprobten Spezialschülern ein souveränes Standing beweisen bzw. fähig sein, sie »gut zu unterhalten«. Konsequenz: kritisch-abwehrender Blick auf das Lehrerkollegium des allgemeinbildenden Bereiches.
Typ C: »Fremdling«
Keine Möglichkeit zur Distanzierung von der konjunktiven Regel, wonach allein das Hauptfach wesentlich ist. Gefühl des Ausgeliefertseins.
Es dominiert der Eindruck der Spezialschule als einer Nische, die der sonstigen Umwelt gegenübergestellt wird. So kommt es, dass sich die gefühlte Fremdbestimmung im Hauptfachunterricht nicht zum vorherrschenden Eindruck verdichtet (Innstedt, Hauschka).
Die Spezialschule ist keine Nische. Daran können auch die Erfahrungen im allgemeinbildenden Bereich nichts ändern: a) Lehrer zeigen hier ebenso wenig Zuwendung und Nähe wie im Hauptfachbereich (Senff, Dahlke, Trescher) oder b) Achtung vor den Lehrern des allgemeinbildenden Bereichs verstärkt die Differenz zwischen den eigenen Bedürfnissen und dem Erfahrungsraum Spezialschule (Braubach).
Die allgemeinbildenden Lehrer werden als Persönlichkeiten und Vorbilder wahrgenommen.
Die allgemeinbildenden Lehrer werden als Teil der Institution betrachtet.
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3.3.2.2 Strukturtheoretische Aspekte im Überblick Sinngenetische Typologie II (strukturtheoretische Dimension): Allgemeinbildende Fächer
Ebene des Imaginären
Ebene des Symbolischen
Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Geringe LeistungsbereitLeistungsbereitschaft und schaft in den allgemeinbil- grundlegendes Interesse an denden Fächern. den allgemeinbildenden Fächern dienen der Kompensation der Erlebnisse im Hauptfach.
Interesse an den allgemeinbildenden Fächern kann sich wegen der Belastung durch das Hauptfach nicht entwickeln.
Fixierung auf musikspezi- Keine zwangsläufige Fifische Stoffgebiete – keine xierung auf den Musikerausgeprägten weiteren In- beruf. teressen.
Keine beruflichen Alternativen vorstellbar.
Deutlich ausgeprägtes Bewusstsein, dass in der Marginalisierung der allgemeinbildenden Fächer die »eigentliche« Zielbestimmung der Spezialschule zum Ausdruck kommt.
a) Bewusstsein, dass das eigene Interesse für die allgemeinbildenden Fächer den Zielbestimmungen der Institution entgegensteht, mit denen man sich dennoch zu arrangieren versucht (Groß, Thalheim). b) Die allgemeinbildenden Fächer werden als wesentlicher Teil der »Nische« begriffen (Innstedt, Hauschka).
Spezialschule wird nicht als Nische, sondern als eine Institution begriffen, deren Ausbildungsauftrag keine Rücksicht auf den individuellen Orientierungsrahmen nimmt.
Perspektive der tonangebenden Mehrheit.
Individuelle Perspektive.
Perspektive der ohnmächtigen Minderheit.
3.3.2.3 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen Spezialisierung und Generalisierung Dass die allgemeinbildenden Fächer an einer Spezialschule für Musik in einer Konkurrenzbeziehung zum Hauptfach stehen, erscheint zunächst einmal eine durchaus triviale Feststellung zu sein – schließlich beanspruchen sie ein Zeitkontingent, das einer intensiven Beschäftigung mit der Musik und dem Instrument dann notgedrungen fehlt. Hinter diesem Konflikt – mit dem auf Seiten der Schüler je nach Typ unterschiedlich umgegangen wurde – scheint die Antinomie zwischen Spezialisierung und Generalisierung auf, die im Grunde jede Form schulischen Lernens betrifft und die in den Erziehungswissenschaften auch unter dem Namen der »Arbeitsteilungsantinomie« bekannt ist (vgl. Helsper et al. 2001, S. 54). Damit Bildungsprozesse gelingen, so lautet diese Antinomie, müssen Fachinhalte intensiv verfolgt werden können, wobei genau diese Intensität aber dann ein Spezialistentum hervorbringt, das mit der Idee einer breiten Allgemeinbildung nicht mehr ohne weiteres in Übereinstimmung zu bringen ist. Dieser Konflikt, der sich – wie für Antinomien üblich – niemals grundsätzlich schlichten lässt, war an den Spezialschulen natürlich insofern vorentschieden, als schon allein der Begriff der Spezialschule ja explizit die Ausbildung
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von Spezialisten vorsah. Dennoch stellte sich auch hier die Frage, welche Rolle die Allgemeinbildung in diesem Spezialisierungsprozess einnehmen sollte. Diese Frage knüpft an eine weitere, wesentlich grundsätzlichere, an: Was besagt denn der Begriff der Spezialisierung eigentlich in Hinblick auf eine künstlerische Entwicklung? Ist damit wirklich, wie es die Bezeichnung Spezialschule suggeriert, ein eng definierter Sonderbereich instrumentaler Hochleistung gemeint, den man pauschal der so genannten Allgemeinbildung gegenüberstellen kann? Oder liegt nicht gerade in der intensiven künstlerischen Auseinandersetzung mit dem Instrument ein eigenständiger Weltzugang verkapselt, der von umfassender, alle Lebensbereiche durchdringender Natur ist und sich daher keineswegs im Sinne einer Spezialsparte von den »allgemeinbildenden« Fächern abgrenzen lässt? Weist somit nicht allein schon die Gegenüberstellung von Allgemein- und Spezialbildung auf eine grundsätzlich schiefe Perspektive hin? Bejaht man diese Frage, dann wird man es nicht weiter verwunderlich finden, dass die an den Spezialschulen institutionell vorgesehene Parallelität von »normaler« allgemeinbildender Schule und instrumentaler Spezialisierung ein kaum lösbares Konfliktpotenzial enthielt. Anstatt von einem jegliche Begrenzungen transzendierenden künstlerischen Bildungsprozess auszugehen, der gerade in seiner Versenkung welterschließend orientiert ist, werden durch die polare Gegenüberstellung von Allgemein- und Spezialbildung »Zuständigkeiten« definiert, die keinem der beiden Bereiche letztlich gerecht werden: Weder lassen sich künstlerische Entwicklungsprozesse auf einen abgezirkelten Spezialbereich reduzieren, noch erschöpft sich Allgemeinbildung auf die Gewährleistung einer Mindestqualifikation, die ohne jeden tieferen Zusammenhang zur Spezialbildung steht. Es ergäbe jedoch ein ebenso schiefes Bild, wollte man außer Acht lassen, dass die hier angedeuteten Fragen an den Spezialschulen durchaus diskutiert worden sind und im Falle Dresdens auch zu spezifischen Gestaltungen geführt haben. An unserer Typologie lässt sich allerdings ablesen, dass diesen Gestaltungsversuchen letztlich nur ein begrenzter Erfolg beschieden war. Sie vermochten nicht daran zu rütteln, dass der konjunktive Erfahrungsraum der Schule letztlich auf einen Schülertyp (unseren Typ A) zugeschnitten war, der keine weiterführenden Interessen entwickelte, sondern restlos in seinem Hauptfach aufging und bei dem die Frage, ob und inwieweit er die Gegenstände der Hauptfachausbildung in einen umfassenderen künstlerisch-musikalischen oder allgemein geistigen Kontext zu stellen in der Lage war, ausschließlich seiner persönlichen Initiative überlassen blieb. Wobei Schüler wie etwa Herr Braubach, die die Hauptfachausbildung in einen allgemeinen geistigen Horizont einzuordnen bestrebt waren, in Konflikt mit dem Ausbildungssystem gerieten, das genau auf derartige Querverbindungen nicht ausgelegt war – zumindest nicht bei Schülern wie ihm, deren Hauptfachleistung im Schulkontext als lediglich »durchschnittlich« galt. Dass eine stärkere Verzahnung beider Bereiche nicht gelingen konnte, hat mehrere Ursachen. Zum einen war der für die Allgemeinbildung zuständige Bereich der »Volksbildung« kein neutrales, sondern immer auch ein politisch-ideologisch kontaminiertes Gelände, selbst wenn diese Kontaminierung an der Dresdner Spezialschule vermutlich weniger stark hervortrat als anderswo. Man konnte sich mit ihm also bestenfalls arrangieren. Zum anderen hatte jeder Versuch, der an der herausgehobenen Rolle der primär an instrumentaler Expertise orientierten Hauptfachausbildung zu
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rütteln versuchte, mit der Tatsache zu kämpfen, dass der konjunktive Erfahrungsraum von einer dominanten, Schüler und Lehrer gleichermaßen umspannenden Gruppe beherrscht wurde, die derartigen Versuchen skeptisch bis ablehnend gegenüberstand. Im Folgenden werden wir anhand eines sehr instruktiven Beispiels zunächst erläutern, 1) wie sich das Verhältnis von Hauptfachausbildung und »Volksbildung« aus der Perspektive eines Parteigenossen und Entscheidungsträgers darstellte. Diese Erörterung wird die Gestaltungsspielräume offenlegen, die es für die Spezialschulen in dieser Frage gab. Im Anschluss daran werden wir zeigen, 2) wie und mit welchem Erfolg diese Spielräume speziell in Dresden genutzt worden sind – wobei wir durch unsere Falluntersuchungen bereits wissen, zu welchen symbolischen und imaginären Verkörperungen diese Ebene des Realen auf Seiten der Schüler geführt hat. 1) Wenn oben gesagt wurde, dass das Verhältnis zwischen Hauptfach und »Volksbildung« an den Spezialschulen immer wieder diskutiert wurde, ist damit natürlich kein öffentlich ausgetragener Diskurs gemeint. Allerdings finden sich in den unterschiedlichen Positionen, die etwa in Schriftwechseln mit dem Ministerium für Kultur formuliert wurden, durchaus Spuren einer kontroversen Auseinandersetzung. Auf staatlicher Seite bestand ganz offensichtlich das Dilemma, den Bereich der »Volksbildung« – der ja immer auch als Stütze und Garant des Sozialismus begriffen wurde – einerseits nicht umstandslos den Partikularinteressen der Musiker zu opfern, die im allgemeinbildenden Bereich eine potenzielle Gefährdung auf dem Weg zur instrumentalen Meisterschaft witterten, und andererseits eben diesen Interessen, die ja doch die eigentliche Zielbestimmung der Spezialschulen darstellten, genügend Raum zu geben. Im Zusammenhang mit der bereits erwähnten Veränderung der Stundentafel aus dem Jahr 1973 (vgl. Kapitel 2.4) wurde darauf hingewiesen, dass die Tendenz, an den Spezialschulen die Rolle der Allgemeinbildung gegenüber der Hauptfachausbildung zurückzustellen, Anfang der 1970er Jahre insofern durchaus dem bildungspolitischen Trend entsprach, als die Rolle der allgemeinbildenden Schule zu diesem Zeitpunkt insgesamt verstärkt darauf zugeschnitten wurde, »ihrer Verantwortung für die Vorbereitung eines hochqualifizierten Facharbeiternachwuchses noch besser gerecht [zu] werden« (Margot Honecker 1971, zit. nach Stock 1997, S. 318). Damit waren die Weichen gestellt und eine frühzeitige Spezialisierung nicht nur geduldet, sondern ausdrücklich erwünscht. Diese politische Kurskorrektur ermöglichte es den Spezialschulen, die Rolle der »Volksbildung« im Einklang mit den Rahmenvorgaben soweit zu reduzieren, dass die Belange der Hauptfachausbildung innerhalb gewisser Grenzen unangefochten dominieren konnten. Der Tendenz, im Zweifel gegen die allgemeinbildenden Fächer und für das Hauptfach zu optieren, wurde administrativ durch die Tatsache Vorschub geleistet, dass es immerhin möglich war, den künstlerischen Leiter zum Direktor einer Spezialschule zu ernennen, während der Leiter des allgemeinbildenden Bereichs in diesem Falle lediglich die Stellvertreterposition innehatte. Zudem war – wie das Beispiel Dresden in der Ära von Julianne Erxleben zeigt – die Leitung der Spezialschule nicht zwangsläufig an eine Parteizugehörigkeit gebunden; der fachlichen Seite wurde also im Zweifel – und natürlich innerhalb klar definierter Grenzen – der Vorrang eingeräumt. Dass die tendenzielle Marginalisierung der Allgemeinbildung gerade aus dem Blickwinkel mancher Parteigenossen durchaus auch kritisch gesehen wurde und sich
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keineswegs mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit eines ausreichenden Spezialisten-Nachwuchses besänftigen ließ, zeigt ein Brief des Weimarer Hochschulrektors Diethelm Müller-Nilsson an das Ministerium für Kultur aus dem Jahre 1984 (vgl. Müller-Nilsson 1984). Müller-Nilsson argumentiert in diesem Brief in einer Doppelrolle als Musiker und Parteimitglied. In letztgenannter Funktion begnügt er sich nicht damit, die Spezialschule als eine rein der Berufsorientierung dienende Institution zu begreifen, in der die Allgemeinbildung eine dementsprechend untergeordnete Rolle spielt. Vielmehr besteht er darauf, dass es an den Spezialschulen um die Herausbildung sozialistischer Persönlichkeiten gehen müsse – und diese Aufgabe könne in seinen Augen nicht dem Hauptfach überlassen werden. Als Musiker sieht er sich damit allerdings auf die genannte Antinomie zwischen Generalisierung und Spezialisierung verwiesen, die er durch das von ihm entworfene Ideal einer sozialistisch orientierten Musikerpersönlichkeit aufzulösen versucht. Äußerer Anlass seines umfänglichen Memorandums ist ein vorangegangener Brief des Elternbeirats der Berliner Spezialschule an das Ministerium, in dem eine zu große Beanspruchung der Schüler durch die allgemeinbildenden Fächer beklagt wurde. Müller-Nilsson, der im Schlussabsatz seines Schreibens bekennt, dass ihn dieser Brief »ziemlich gestört« habe, wittert eine Instrumentalisierung der Eltern durch ihre Kinder und spricht sich entschieden gegen alle Tendenzen aus, »Hauptfachleistungen auf Kosten guter Allgemeinbildung […] ›dressieren‹« zu wollen. Gegen diesen negativen Gegenhorizont stellt er das Ziel der Spezialschulausbildung, das in seinen Augen darin besteht, »nicht bloß mehr oder weniger verkappte Handwerker, sondern denkende und fortschrittliche Menschen zu entwickeln, die begreifen oder begriffen haben, wem sie mit ihrer möglichst höchsten Kunst dienen, zu dienen haben.« Als Beispiel dafür, dass die Spezialschulen diesem Ideal bereits zum gegenwärtigen Zeitpunkt erfolgreich entgegenkommen, zählt er eine Reihe von Berliner Spezialschülern auf, »die die Anforderungen der Allgemeinbildung ›mit links‹ und dennoch sehr gut erfüllten und gleichzeitig im Hauptfach bemerkenswerte Leistungen erzielten.« (Ebd.) Von diesen positiven Beispielen ausgehend kommt er zu der provokanten These, wonach »die Angabe, dass Spezialschüler täglich 4-5 Stunden üben müssen, […] jeder wissenschaftlich nachgewiesenen Grundlage [entbehrt]. Man kann sogar sagen, dass ein Spezialschüler, der diesen Übeaufwand benötigt, im eigentlichen Sinne entweder nicht genügend begabt ist oder falsch übt!« (Ebd.) Das Ideal des »denkenden und fortschrittlichen« Musikers führt Müller-Nilsson nun zu einer entschiedenen Absage an eine Sichtweise, die die Zielbestimmung der Spezialschulen vornehmlich in einer Bereitstellung erfolgreicher Wettbewerbskader sieht. Ebenso wenig darf sie sich in seinen Augen allerdings in einer bloßen Berufsorientierung erschöpfen. »Der Brief des Elternbeirats der Berliner Spezialschule erweckt den Eindruck, als hätten die Spezialschulen den Auftrag, eigenständige Solistenleistungen von höchstem internationalem Maßstab herauszustellen. Dies ist nicht die allgemeine Aufgabe unserer Spezialschulen, wenn wir uns auch sehr freuen, wenn im Einzelfall antizipiertes Solistentum (im Sinne des eigentlichen Wesens dieses Begriffs) auf gesunder Grundlage an die Hochschule gelangt. Diese Aussage gilt, wenn auch Aktivitäten z.B. des wissenschaftlichen Zentrums den Anschein zu wecken versuchen, als könnten Leistungsvergleiche auf Spezialschulebene mit dem Ziel, vorzeitig eventuelle Wettbewerbskader auszuwählen, geeignet sein, den Weg zur wirklichen, fundierten
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und ausdauernden internationalen Wettbewerbs- und Karriere-Trophäe verkürzen. Ein Absolvent der Spezialschule muss – das ist das Ziel – einer Auslese in jeder Hinsicht an der Hochschule gerecht werden, vor allem auch in Hinblick auf geistige Ausrüstung, politische Haltung, charakterliche Vorbildwirkung.« (Ebd., Hervorhebung im Original)
Hinsichtlich des Umfangs der Allgemeinbildung besteht, so lässt sich Müller-Nilssons Argumentationsgang bündig zusammenfassen, keinerlei Grund für weitere Kürzungen. Erfolgreiche Absolventen belegen in seinen Augen die Vereinbarung beider Bereiche. Dass es nicht mehr von dieser Sorte gibt, hat seiner Ansicht nach nichts mit einer Überbelastung durch die allgemeinbildenden Fächer zu tun, sondern vielmehr mit der Tatsache, »dass wir uns gegenwärtig in der DDR in einer Phase des ›geschwächten‹ Talente-Reservoires befinden, deren eventuelle Ursachen noch zu ergründen sind.« (Ebd.) Keinesfalls gelten lassen will er den Einwand, dass das Niveau der Spezialschulen den sowjetischen Spezialschulen deshalb unterlegen sei, weil die allgemeinbildenden Fächer ein zu großes Gewicht besitzen. »Denn allzuleicht lassen sich nicht wenige bei uns davon leiten, dass z.B. solistische Leistungen an den Spezialschulen der SU denen bei uns weit überlegen sind. Das ist auch so! Indes beginnen die Spezialschulen in der SU mit Schülern, die sechs Jahre alt werden. Und wir beginnen mit Kindern, die 13 Jahre alt werden. Hier liegt der entscheidende Ansatz, wenn wir auf musikalischem Gebiet zu Erfolgen kommen wollen, die sich etwa einem Vergleich z.B. mit Erfolgen der DDR auf sportlicher Ebene zu stellen gedenken.« (Ebd., Hervorhebung im Original)
Es geht Müller-Nilsson um einen Ausbau sowohl nach unten als auch nach oben: Die Spezialschulen sollen bereits im Vorschulalter die »begabten« Kinder abholen und bis in die Hochschule begleiten. Hochschulfähigkeit ist für ihn aber zugleich an den Begriff der »entwickelten sozialistischen Persönlichkeit« gebunden, der ohne eine entsprechende Allgemeinbildung nicht zu denken ist. Was unter Allgemeinbildung zu verstehen ist, wird von ihm freilich höchst selektiv definiert: »Die Lehrkräfte der Allgemeinbildung einer Spezialschule für Musik sind Pädagogen zu einem vorherbestimmten Zweck, den sie kennen und entsprechend sinnvoll einzuordnen haben. Zwangsläufig werden aufgrund dieser Bestimmung die naturwissenschaftlichen Zielstellungen des Unterrichts nicht selten hinter den geistes- und gesellschaftlichen Disziplinen zurückbleiben. Davon ist das Fach Mathematik allerdings ausgenommen, weil es einen Zwang zur Logik beinhaltet, eine Aufgabe, die unmittelbar eine direkte Beziehung zur Musik herstellt.« (Ebd.)
Dieses Konzept verlangt in seinen Augen – und das ist wohl der zentrale Anlass seines Schreibens –, endlich nach einer klaren Definition des Verhältnisses von »Volksbildung« und instrumentalem Hauptfach. Gleich zu Beginn beklagt Müller-Nilsson, dass der Schultyp der Spezialschule »in zwei Jahrzehnten keine ministeriell verfügte Satzung besitzt. Fragen wie - Selbstständige Schule einerseits und Abteilung der Hochschule andererseits; - Das Verhältnis von künstlerischem und allgemeinbildendem Unterricht; […] und viele, viele andere werden – wohl oder übel – weitgehend subjektiv entschieden.« (Ebd.)
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Mit seinem Hinweis auf die subjektiven Entscheidungen plädiert Müller-Nilsson dafür, eben jene Spielräume einzuschränken, die gerade in Dresden weidlich genutzt worden waren. Pointiert lässt sich sagen, dass die immer wiederkehrende Vokabel der Nische, die vielen unserer Gesprächspartner im Rückblick als eines der hervorstechendsten Merkmale der Dresdner Spezialschule erschien, das exakte Ergebnis dieser undefiniert gebliebenen Spielräume war. Genau diese Nische jedoch musste einem überzeugten Parteigenossen wie Müller-Nilsson ein Dorn im Auge sein. 2) Dass derartig undefinierte Spielräume in einem zentralistischen Ausbildungssystem, in dem auch geringfügige Einzelheiten von ganz oben herab geplant und entschieden wurden, möglich sein konnten, hängt mit der Tatsache zusammen, dass sich die Spezialschule als eigentümliche Zwitterinstitution, die sowohl der instrumentalen Spezialisierung als auch der Allgemeinbildung zu dienen hatte, administrativ schwer zuordnen ließ – was in der Realität dazu führte, dass sie häufig schlicht und einfach vergessen wurde. Wenn die jeweilige Leitung nicht von sich aus aktiv wurde, sondern – wie Julianne Erxleben in Dresden – eher bestrebt war, an dieser Nichtbeachtung möglichst nicht zu rütteln, dann entstanden Spielräume, die es so andernorts nicht gab. Ein ehemaliger allgemeinbildender Lehrer stellte uns diesen Zusammenhang folgendermaßen dar: Dresden ist in mancherlei Hinsicht völlig untypisch gewesen im Vergleich zu den anderen Spezialschulen, vor allen Dingen zu Weimar. Das weiß ich ganz genau. Wir hatten ja einen Kontakt zu Weimar und dort war’s wirklich ganz anders, weil der Schulleiter da war wirklich … […] Der hat jeden Tag Appell antreten lassen. Nee, hier war das, wie gesagt, ganz anders und die Ursachen liegen da eigentlich in Folgendem: Wir gehörten offiziell zur Hochschule. Die Hochschule war unser Arbeitgeber. Mit dem hatten wir unseren Vertrag und der war für uns zuständig. Die Hochschule hatte aber in Fragen politisch-ideologischer Arbeit mit ihren Studenten genug zu tun. So, wir waren dann so irgendwo an der Seite. Wir waren auch weit weg. Die Hochschule war damals in der Blochmannstraße und wir waren hier auf der Mendelssohnallee. Und die hatten sich um ihre Studenten zu kümmern, dass dort alles einigermaßen lief, denn die mussten das ja dann auch weiter melden an das Ministerium für Kultur. Und wir kamen dann, wir kamen da immer so peripher. Wir standen da ganz an der Seite. […] Auf der anderen Seite waren die anderen Schulen ja alle dem Honecker-Ministerium unterstellt – also Margot Honecker war ja die Ministerin – und hier in Dresden gab’s den Rat der Stadt, Abteilung Volksbildung. Die waren für alle Schulen zuständig, Grundschulen, Mittelschulen und erweiterte Oberschulen. Zu denen gehörten wir aber auch nicht. Wir gehörten ja zur Hochschule.
Die letzten beiden Sätze sind zwar historisch eindeutig unrichtig – offizielle Hoheit über den allgemeinbildenden Bereich an der Spezialschule hatte selbstverständlich das Ministerium für Volksbildung –, spiegeln aber zweifellos die Tatsache wider, dass durch die enge Anbindung an die Hochschule und die geringen Schülerzahlen die Aufsichtsfunktion von Seiten dieses Ministeriums eher lax gehandhabt wurde. Die ehemalige Direktorin Julianne Erxleben beschrieb uns in dem Interview, das wir mit ihr führen konnten, anschaulich, auf welche Weise sie die administrativen Freiräume gerade auch in Hinblick auf das Verhältnis zwischen Allgemeinbildung und Hauptfachausbildung nutzte:
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Erxleben: »Ich war damals der Direktor, ich unterstand dem Ministerium für Kultur und damit der Hochschule. Ich nahm am Kü-Wi-Rat und allem teil und die Volksbildung kam erst danach. Ich hatte zwar einen guten Stellvertreter, aber das letzte Wort hatte ich – und das ist heute natürlich anders, genau umgekehrt. Und […] da die Volksbildung nicht gerade sehr aktiv war – die ließen uns in Ruhe –, konnten wir so ein bisschen machen, was wir uns vorgestellt haben. Und da haben wir dann einige Wege gemacht. […] Zum Beispiel haben wir eine Lehrplanänderung eingeführt, die Volksbildung ließ uns ja in Ruhe. Da haben wir dann zwei Stunden Musik, eine Stunde Theorie, eine Stunde Gehörbildung festgesetzt, zwei Stunden Musikgeschichte. […] Und wir haben den Vor- und Nachmittagsunterricht eingeführt, die eine Gruppe hatte also entweder vormittags ihre Schule und nachmittags ihre Übezeit und umgekehrt. Das sind alles Dinge, die man heutzutage nicht mehr machen kann, das muss ich schon so sagen. […] Und dann hatten wir einen Lehrer … wir konnten uns ja damals die Schullehrer selber aussuchen – die Volksbildung ließ uns ja in Ruhe –, der kam von der pädagogischen Hochschule, der hatte Musik und Deutsch studiert und der fing bei uns an. Und der ist voll eingestiegen und hat die ganzen Musizierstunden organisiert. Und die Lehrer von der Volksbildung, die mussten in die Musizierstunden gehen, da war das Haus immer voll. […] Und dann haben wir Ausstellungen im Hause gemacht. Christoph Schwabe [die Lehrkraft für pädagogische Psychologie an der Hochschule] malte ja nebenbei und der hatte Kollegen, die auch malten, und der hat dann immer in der so genannten ›Zwölf‹ – das war der ›Glaspalast‹ – Ausstellungen gemacht und unsere Schüler konnten freiwillig dahin gehen. Das war für die auch interessant, die mussten ja nicht. […] Die Volksbildungsabschlüsse waren natürlich den Vorgaben entsprechend, die mussten schon hart arbeiten, die Schüler. Aber da merkte man auch, was die Lehrer waren, die ein bisschen musisches Empfinden hatten. Wir hatten natürlich auch Lehrer, die waren nur Mathematiker – nichts links und nichts rechts. Die erklärten mir doch glatt: ›Der Sowieso kann nicht an die Hochschule gehen, der hat ’ne Fünf.‹ Ich sage: ›Der muss an die Hochschule, da musst du ihm halt Zusatzunterricht geben.‹ Das konnte man damals alles machen.«
Die von Frau Erxleben beschriebenen Maßnahmen lassen sich allgemein als Versuch beschreiben, den angehenden Musikern Bildungsimpulse zu geben, die sich nicht auf die reine Hauptfachausbildung beschränkten. Diese Impulse erfolgten aus der Zielperspektive eines musikalisch-künstlerisch gebildeten Instrumentalisten heraus. Frau Erxleben suchte dabei allerdings in keiner Weise einen Schulterschluss mit den allgemeinbildenden Fächern. Im Gegenteil: Die »Volksbildung« tritt in ihrer Erinnerung ausschließlich als eine Institution in Erscheinung, die uns in Ruhe gelassen hat und deren Ansprüche im Zweifelsfalle von ihr als künstlerischer Leiterin zurückgewiesen wurden. Zugleich versuchte Frau Erxleben mit ihren vielfältigen Initiativen aber auch, die Tendenzen hin zu einer allzu isoliert auf technisch-instrumentale Probleme fokussierten Hauptfachausbildung zurückzudrängen. Eine verstärkte Musikgeschichte und Musiktheorie sowie die Förderung allgemein künstlerischer Interessen – das alles zielte auf das Idealbild eines gebildeten und künstlerisch vielseitig interessierten Musikers ab, der über die Grenzen des Hauptfachunterrichts zu blicken imstande ist. Allerdings muss hier zwischen der Absicht und der Wirkung derartiger Maßnahmen innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes scharf unterschieden werden. Die Bereitstellung von Angeboten sagt alleine noch nichts darüber aus, wie diese Angebote in der Realität genutzt oder wahrgenommen worden sind. In diesem Zusammenhang ist es interessant, zu erfahren, wie der bereits im vorangegangenen Ab-
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schnitt erwähnte Christoph Schwabe die von Frau Erxleben initiierte Ausstellungsidee wahrgenommen hat. Im Interview erinnert er sich folgendermaßen: Schwabe: »Ich habe an der Spezialschule zunächst einmal auf Bitten von Frau Erxleben eine Reihe von Seminaren gemacht für die Kollegen, wo es also um Themen [wie z.B. die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern und Jugendlichen] ging und das war schwierig. Das war so die Lehrerschaft dort, die das nicht wollten. Also, man kann sagen, 80 Prozent haben sich dort gezwungenermaßen hinbegeben und haben das über sich ergehen lassen. […] Und Frau Erxleben hatte die verdonnert. Ja. Ich glaube, das haben wir zwei oder drei Jahre gemacht und dann haben wir gemerkt: Das hat keinen Sinn. Und das zweite, was ich dann dort begonnen habe: Ich lernte das Haus kennen und sah, dass die dort eine wunderbare Galerie hatten, die eigentlich keine Funktion hatte. Ich habe dort also eine Galerie eingerichtet, damals mit [dem Pianisten] Günter Philipp zusammen, der ja auch malte. Und wir haben dort regelmäßige Ausstellungen veranstaltet und also gehofft, über diese Strecke mit den Schülern in Kontakt zu kommen. Wir haben das auch so aufgebaut und beworben, dass Vernissagen und verschiedene andere Dinge, auch Vorträge dort stattfanden. Über Kunst, also bildende Kunst und über Musik und so weiter. Es war NICHT möglich, die Schüler für das zu gewinnen. Und das war für mich eine ziemliche Enttäuschung, weil ich einfach Kinder anders kannte, nicht? Ich habe in Leipzig Kurrende gehabt, in der Nikolaikirche und Thomaskirche und ich habe also mitgekriegt, wie Kinder interessiert und neugierig sind. Und von Neugierde war bei den Spezialschülern – also durch die Bank – nichts zu sehen. Auch nichts zu spüren. Und wir haben dann diese Veranstaltungen möglichst zeitig gelegt, nach dem Abendbrot 19 Uhr, in der Hoffnung, dass die dann kommen. Es ist niemand gekommen. Und ich sage mal: Die Wärter, die haben sich überhaupt nicht dafür interessiert, die Kinder mal zu ermuntern, das zu machen, nicht? Also es entwickelte sich quasi eine Aktion innerhalb des Hauses, die quasi aber in eine Art Isolation geriet.«
Man kann angesichts unserer Typologie durchaus bezweifeln, ob die von Schwabe sehr entschieden vorgetragene Kennzeichnung der Spezialschüler als uninteressiert wirklich der Realität entsprach – dazu sind wir in unserem Sample auf zu viele Zeugnisse gestoßen, die – wie vor allem der Typ B zeigt – entweder auf eine breite Interessenlage oder aber zumindest – wie bei Typ A verbreitet – auf ein selbstständig betriebenes Suchen in musikalischer Hinsicht schließen lassen. Allerdings zeigt die hier berichtete Episode sehr nachdrücklich, dass derartige Interessen innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes auf keine Resonanz gestoßen sind und daher – selbst wenn sie rein zahlenmäßig gar nicht so selten aufgetreten sein mögen – immer nur Einzelfälle waren. Einzelfälle nicht zwangsläufig im Sinne einer zahlenmäßigen Minderheit, wohl aber in Gestalt »vereinzelter«, also atomisierter Orientierungsrahmen, die nicht durch ein konjunktives Band miteinander verknüpft und daher kollektiv nicht sprachfähig waren. Konkret gesprochen: Wenn niemand zu einer Ausstellung kommt, heißt das nicht unbedingt, dass bei den Schülern kein Interesse vorhanden ist. Es bedeutet aber sehr wohl, dass es eine dominante, sich als Mehrheit gerierende Meinungsführerschaft gibt, die ein derartiges Event für unwichtig erklärt und damit auch diejenigen Schüler von einem Besuch abhält, die sich innerhalb eines anderen Erfahrungsraumes durchaus hätten animieren lassen. Weiterhin lässt Schwabes Bericht den Schluss zu, dass selbst eine tatkräftige und hoch engagierte Schulleiterin wie Frau Erxleben diesen konjunktiven Erfahrungsraum nicht direkt in ihrem Sinne prägen konnte. Die von ihr betriebenen Initiativen
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wurden durch den Erfahrungsraum, den sie zu gestalten versuchten, nicht selten auf eine spezifische Weise ausgehebelt. Das zeigt sich etwa auch an den von ihr und Christoph Schwabe um die Mitte der 1980er Jahre betriebenen Veränderungen bei der Gestaltung der Aufnahmeprüfungen: Erxleben: »Wir hatten einen riesengroßen Tisch. Und da haben wir die Kinder, die sich bewarben, ran gesetzt und die bekamen alle ein Malblatt vor die Nase und Buntstifte. Dann gab’s ein Thema und dann mussten die malen. Jeder malte 5 oder 10 Minuten – das weiß ich nicht mehr so genau – und dann musste das Blatt weitergereicht werden. Und das war hochinteressant, was da rauskam. Da sah man schon ein bissel, wer Neigung hatte, wer Fantasie hatte, wer gar keine Fantasie hatte.«
Diese Malepisode war nur ein kleiner Teil der durchgeführten Änderungen, an denen sich generell das Bestreben zeigt, in eine umfassende Auseinandersetzung mit der jeweiligen Persönlichkeit des Kindes zu treten. Wieder aber scheint es sich nicht so sehr um eine kollektiv vom Lehrkörper gewünschte und vertretene Änderung, als vielmehr um eine Initiative gehandelt zu haben, die von oben (zunächst von Frau Erxleben, später dann von ihrer Nachfolgerin Gudrun Schröter) geplant und durchgesetzt wurde. Schwabe: »Ja und dann haben wir also in dieser Zeit mit den Kindern gespielt. Ich habe mit denen improvisiert, ich habe mit denen gemalt – natürlich immer mit Co-Leiter. Und da ist natürlich was ganz anderes herausgekommen als bei so einer Geigeraufnahmeprüfung an der Spezialschule. – Entschuldigung, wenn ich das sage, es war teilweise zum Kotzen. Es gibt ja also Geigerliteratur, da wird es einem übel. Was die da so angetrimmt gekriegt hatten, nicht? Und dann diese verschüchterten kleinen Gestalten, die großen Augen und ÄNGSTLICH, nicht? Na, das ist doch logisch. Da sitzt da hinten so eine Reihe von Leuten und glotzt, was weiß ich wohin und sagt: ›Na fang mal an!‹ So, und da soll dann so ein Kind da vorn etwas von sich geben, nicht? Ich sage: ›Das könnt ihr doch nicht machen. Was erfahrt ihr denn? Ihr erfahrt allerhöchstens, ob die mutig sind oder nicht. Also über Extraversion oder Introversion erfahrt ihr etwas. Aber vielleicht ist der, der ängstlich ist, ein besonders guter Musiker, nicht? Und das können wir doch nur herauskriegen, wenn wir die Kinder in einer Spielsituation kennenlernen.‹ Ja und das war natürlich toll. Und ich weiß nicht, wie weit oder wie lang die das dann weitergemacht haben. Und das war auch ein Erfolgserlebnis für die Leitung der Spezialschule. Inwieweit da Kollegen, die dort tätig waren, mitgezogen sind, das weiß ich nicht.«
Schwabes Unkenntnis ist darauf zurückzuführen, dass er an der letztendlichen Entscheidung, welche Schüler denn nun genau aufgenommen wurden, gar nicht beteiligt war. »Ich denke«, so resümiert er, »das haben die [Fachgruppen] dann unter sich ausgemacht und wie das im Einzelnen gelaufen ist, das weiß ich nicht.« Die hier beschriebenen Beispiele geben uns einen tiefen Einblick in die Kräfteverhältnisse des Feldes. Augenscheinlich sah sich die Schulleitung zu einer Auseinandersetzung mit zwei Fronten gezwungen: Einerseits mit der »Volksbildung«, deren Ansprüche zugunsten der musikalisch-instrumentalen Ausbildung in Grenzen gehalten werden mussten, zum anderen mit den Lehrkräften des Hauptfachs, die stets aufs Neue dazu zu animieren waren, die persönliche und musikalische Gesamtentwicklung des Schülers nicht aus den Augen zu verlieren. Diese letztgenannte Aufga-
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be kommt besonders gut im Zusammenhang mit der Einführung der so genannten »Informationshefte« zum Ausdruck: Erxleben: »Und dann haben wir Informationshefte eingeführt, ab Klasse 7. Und da sollten die Schüler hineinschreiben – also erst einmal, was sie im Hauptfach gespielt haben. Das war nicht als Kontrolle für die Schüler gedacht, sondern als Kontrolle für die Lehrer. Wir hatten ja Lehrer, die spielten ein ganzes Jahr Tschaikowsky-Konzert; das konnte man dann ein bisschen kontrollieren. Dann wollten wir wissen, was die Schüler gelesen haben und was sie für Konzerte besucht haben. Ganz freiwillig – und die haben wir zum Jahresende eingesammelt und dann angeschaut. Das war eine gute Information.«
Was Frau Erxleben hier beschreibt, entspricht ansatzweise der Idee des Portfolios, die sich ja heute an vielen Schulen, Universitäten und Hochschulen zu einer selbstverständlichen Form des Leistungsnachweises entwickelt hat. Interessant ist diese Episode vor allem wegen des Kommentars, dass diese Hefte in Hinblick auf die Schüler vor allem der Information, in Hinblick auf die Lehrerkollegen im künstlerischen Bereich aber der Kontrolle dienen sollten. Aus dem Kontext des Interviews heraus wird klar, dass sich Frau Erxleben mit dieser Kontrollabsicht nicht so sehr auf die hauptamtlich angestellten Dozenten, als vielmehr auf die Honorarlehrkräfte bezieht. Hier zeigt sich, dass die Schulleitung trotz ihrer Weisungsbefugnis, von der Frau Erxleben tatkräftig Gebrauch machte, keineswegs identisch mit den dominanten Kräften des Feldes war. Während sie im Umgang mit den Lehrkräften der allgemeinbildenden Fächer relativ souverän Entscheidungen fällen konnte, scheinen ihre vielfältigen Verbesserungsvorschläge in Bezug auf die musikalische Ausbildung zwar nicht aktiv, aber doch zumindest latent immer wieder ausgebremst worden zu sein. Hier gab es eine starke Gruppe in der Lehrer- und auch der Schülerschaft, die sich innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes letztlich als dominant erwies. Die Antinomie zwischen Spezialisierung und Generalisierung ist, sofern sie sich im Verhältnis zwischen Hauptfachausbildung und »Volksbildung« äußert, an der Spezialschule eindeutig zugunsten der Spezialisierung entschieden worden. Wenn diese Antinomie jedoch innerhalb der musikalischen Ausbildung selbst in Erscheinung trat, gab es – wie gezeigt – durchaus Tendenzen und Initiativen, die die Gefahr einer einseitigen Spezialisierung im Hauptfach durch eine breite musikalischkünstlerische Allgemeinbildung zu kompensieren versuchten. Eine Reihe unserer Interviewpartner scheint diese Angebote bereitwillig aufgegriffen zu haben. Doch blieb dies vor allem immer der Initiative des Einzelnen überlassen; es waren individuell ergriffene Bildungsgelegenheiten, die eng mit den Ausgangsvoraussetzungen des jeweiligen Orientierungsrahmens zusammenhingen. Der konjunktive Erfahrungsraum selbst scheint hingegen von einer unangefochtenen Dominanz des Hauptfachs beherrscht worden zu sein, was sich gerade für Schüler, die wir im Typ C verortet haben, als Problem erwies: Schüler wie Hans Trescher oder Carla Senff waren nicht imstande, der Mächtigkeit des Hauptfachanspruches etwas entgegen zu setzen. Sie übernahmen die konjunktive Regel, nach der alleine das Hauptfach etwas zählt, nicht, weil sie ihrem Orientierungsrahmen entsprach, sondern um innerhalb des Systems überleben zu können. Der Typ B schließlich, bei dem wir ja häufig ein großes Interesse an weiterführenden, allgemeinbildenden Inhalten antrafen, scheint – und das mutet zunächst gera-
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dezu paradox an – von der Dominanz des Hauptfaches durchaus profitiert zu haben. Denn offenkundig trug die vergleichsweise geringe Bedeutung der allgemeinbildenden Fächer indirekt dazu bei, dass die Schule von vielen Schülern als eine entspannte Angelegenheit erlebt werden konnte. Das wiederum führte zu jener von vielen Gesprächspartnern hervorgehobenen familiär getönten Atmosphäre, die – wie der Fall von Herrn Innstedt zeigt – eine wichtige Grundlage für selbstständig betriebene Bildungsprozesse darstellte. In dieser Atmosphäre konnte es zumindest bei Schülern dieses Typs zu Bildungserlebnissen kommen, die an einer »normalen« POS so sicherlich nicht möglich gewesen wären.
3.4 D AS V ERHÄLTNIS
ZU DEN
M ITSCHÜLERN
Wie es bei Erinnerungen an die Schulzeit kaum anders zu erwarten ist, kamen alle unsere Gesprächspartner im Laufe der Interviews irgendwann einmal auf ihr Verhältnis zu den Mitschülern zu sprechen. Und ebenso war es kaum überraschend, dass das Ausmaß und die Qualität der geschilderten sozialen Interaktionen von Fall zu Fall beträchtlich differierten. Es liegt nahe, derartige Unterschiede zunächst vor allem intrapersonell erklären zu wollen: Wie sich ein Mensch innerhalb einer Gruppe wahrnimmt und verhält, hängt stark mit seinen Persönlichkeitseigenschaften zusammen, die, obgleich sie sich im Kindes- und Jugendalter durchaus verändern können, dennoch mindestens zur Hälfte als vererbbar gelten. Und hinsichtlich der verbleibenden 50 % besteht in der Forschung dahingehend Einigkeit, dass Umweltfaktoren zwar durchaus einen Einfluss auf die individuelle Persönlichkeitsstruktur haben können, dieser Einfluss aber keineswegs so weit reicht, dass er Menschen, die in ein und demselben Kontext aufwachsen (etwa in derselben Familie, aber auch im Rahmen eines gemeinsam geteilten Erfahrungsraumes wie der Spezialschule), in gleicher Weise verändert (vgl. Asendorpf 2015, S. 27). Pointiert formuliert: Umweltfaktoren beeinflussen die Persönlichkeit zwar hinsichtlich individueller Unterschiede, nicht aber in Bezug auf kollektive Ähnlichkeiten. Für eine Studie wie die unsrige, die auf die Freilegung des konjunktiven Erfahrungsraumes Spezialschule abzielt, wäre es also von vornherein ein fragwürdiges – und zudem aussichtsloses – Unterfangen, wenn man Persönlichkeitsfaktoren wie etwa »Intro- bzw. Extraversion« (zurückhaltend vs. gesellig) oder »Verträglichkeit« (kompetitiv-misstrauisch vs. kooperativ-freundlich) durch eine gemeinsam geteilte Schulkultur erklären wollte – am Ende gar noch mit dem Ziel, derartige Faktoren einem bestimmten Typ innerhalb dieser Schulkultur zuordnen zu wollen. So wichtig die Ebene der Persönlichkeitsmerkmale für die Qualität und Intensität sozialer Beziehungen aber zweifellos ist, so erklärt sie doch nicht alles: Wer mit wem warum und wie stark befreundet ist, wer sich ausgeschlossen bzw. allgemein akzeptiert fühlt, ist eben nicht nur eine Frage individueller Dispositionen, sondern hängt ebenso von den impliziten Regeln des konjunktiven Erfahrungsraumes ab, der bestimmte soziale Rollen begünstigt und fördert, andere hingegen aber nicht. Dass jeder Schüler – je nach seiner spezifischen Persönlichkeitsstruktur – unterschiedlich auf diese ungeschriebenen Regeln reagiert, darf nicht dazu führen, die Existenz kollektiver Rahmungen, für die es in unserem Sample eine Fülle von Hinweisen gibt, generell bezweifeln zu wollen. Insofern ist es durchaus sinnvoll, die Frage zu stellen, ob
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und inwieweit sich unsere bislang entwickelte Typologie auch auf die Ebene der sozialen Beziehungen unter den Schülern anwenden lässt. Um es gleich vorwegzunehmen: Die Auswertung unseres Samples lieferte nicht nur starke Hinweise dafür, dass der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule einen beträchtlichen Einfluss auf die sozialen Interaktionen der Schüler untereinander hatte, sondern zeigte auch, dass er in Bezug auf diese Interaktionen unterschiedliche Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen hervorbrachte, die sich in der Tat auf unsere drei Grundtypen zurückführen lassen. Weil sich diese Einflüsse aber auf jede Persönlichkeit unterschiedlich auswirkten, findet sich für jeden Typ nicht ein beherrschendes Unterscheidungskriterium, sondern ein ganzes Bündel unterschiedlicher Merkmale. Diese beschränken sich allerdings jeweils auf den Typ, in dem sie auftauchen und kommen in dieser Form in den jeweils anderen beiden Typen nicht vor. Damit bestätigen sie die Relevanz der bislang gezogenen Typengrenzen und weisen so auf die Validität unserer Typenbildung hin. Unsere Aufgabe bestand jedoch nicht allein darin, diese typenspezifischen Merkmale einfach zu addieren. Vor allem mussten wir die Frage stellen, ob sich nicht auf einer höheren Abstraktionsstufe ein verbindendes Moment zwischen den einzelnen Merkmalen eines Typs erkennen lässt. Auch wenn wir innerhalb eines Typs sehr unterschiedliche und kaum kommensurable individuelle Persönlichkeitsstrukturen antreffen, muss dennoch gefragt werden, ob sich in der Art und Weise, in der die Vertreter dieses Typs über ihr Verhältnis zu den Mitschülern berichten, nicht doch ein gemeinsames Element erkennen lässt. Generell lässt sich sagen, dass die Art und Weise, in der die Vertreter des Typ A von ihren Mitschülerinnen und Mitschülern sprechen, durchgehend in die Thematisierung des musikalischen Lebensraumes der Spezialschule eingebunden ist, der für die Vertreter dieses Typs als zentraler und alles beherrschender Orientierungspunkt fungierte. Für Typ B besitzen die sozialen Interaktionen hingegen einen Eigenwert, der entweder gar nichts mit der musikalischen Zielbestimmung der Institution zu tun hat oder aber immer dann thematisiert wird, wenn es um Leistungsanforderungen geht, vor denen die Gemeinschaft der Schülerinnen und Schüler einen Schutz bildete. Bezogen auf Typ C schließlich vermögen die sozialen Beziehungen der Schüler untereinander die Schwierigkeiten nicht zu kompensieren, die die Institution – vor allem im Hauptfachbereich – an die Vertreter dieses Typs stellte. Sie bilden gegenüber dem als problematisch empfundenen Erfahrungsraum kein Gegengewicht, womit sich hier eine deutliche Parallele zu den Erfahrungen zeigt, die wir im Zusammenhang mit dem Bereich der Allgemeinbildung für diesen Typ beschrieben haben. 3.4.1 Falldarstellungen 3.4.1.1 Typ A (»Fisch im Wasser«) Nur bei Vertretern des A-Typs stoßen wir auf Darstellungen, in denen die Schilderung des Verhältnisses zu den Mitschülern mit dem Erleben einer durch die Musik verbundenen Gemeinschaft weitgehend verschmilzt. Beginnen wir mit Frau Kolbe: Und das fand ich dann eigentlich sehr schön, als ich in der 10.1 dann in die Spezialschule kam. Na ja, weil man eben doch gleich mit Nähergesinnten zusammen war. Das war sehr prägend, weil man dann eben die Freunde kennenlernt, mit denen man dann die weitere Zeit verbringt. Jetzt zum Beispiel ’ne Freundin, die war Sängerin, das fand ich unheimlich interessant. […]
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Dann hatte ich eine Freundin, also eine richtige Busenfreundin bekommen. Die war auch bei meinem Lehrer in der Klasse. Und wenn man dann im gleichen Alter ist und es gibt nur zwei Schüler bei ihm, da wird man entweder Feind oder man wird Freund – und da wird man natürlich Freund. Und da haben wir im Prinzip uns gegenseitig weitergehangelt und das war sehr gut.
Die hier erwähnten sozialen Kontakte sind untrennbar mit dem eigenen Musizieren verbunden: Sowohl die Freude über Nähergesinnte als auch die Freundschaft mit einer Sängerin, deren Tun als interessant bezeichnet wird, kennzeichnen Kontakte, deren Grundlage die eigene Leidenschaft für die Musik bildet. Die Beziehung zur Busenfreundin, mit der sich Frau Kolbe gegenseitig weiterhangelt, bleibt in ihrer Darstellung sogar vollständig an den Hauptfachbereich gekoppelt, dem sie entsprang. Soziale Beziehungen zu Mitschülern sind für Frau Kolbe kein eigenständiger Bereich, sondern ergeben sich aus der eigenen Begeisterung fürs Musizieren. Ein weiteres Beispiel für das In-Eins-Setzen von sozialen Bindungen unter den Schülern und einer durch die Musik gestifteten Gemeinschaft findet sich bei Herrn Leininger, den wir ja als einen Mischtyp charakterisiert hatten, der aber in Bezug auf das Verhältnis zu seinen Mitschülern ganz eindeutig als Vertreter des A-Typs in Erscheinung tritt: Und trotzdem muss man sagen, die Unterschiede [zwischen den Schülern] waren relativ gering, weil wir hatten die Schnittmenge, die gemeinsame Andockstelle – die Musik. Deswegen war auch das Jugendsinfonieorchester zum Beispiel so ’ne ganz wichtige Geschichte. Dass alle dort zusammen eben musiziert haben, weil sie dann alle Unterschiede vergessen, das ist ja eine der Wesenheiten der Musik, dass sie verbindet. Freude schöner … und der Flügel und so. Also, das war wirklich in der Realität so, und dadurch haben sich auch diese Unterschiede, wo sich die Kinder vielleicht in einer anderen Schule geschlagen hätten oder so was – das nivellierte sich etwas, und man hat besser zusammengefunden, glaub ich schon.
Während diese Darstellung recht programmatisch getönt ist – Herr Leininger erzählt nicht, sondern verleiht vor allem seiner Überzeugung Ausdruck, dass der Musik eine gemeinschaftsstiftende Kraft innewohnt –, bindet die Darstellung von Herrn Gundolf eine ganz ähnliche Überzeugung an die konkrete Beschreibung der musikalischen Gemeinschaftsaktivitäten. Als negativer Gegenhorizont fungiert dabei der Begriff der Solistenschmiede, den Herr Gundolf – im Gegensatz zu den von ihm heutzutage wahrgenommenen Tendenzen an derartigen Institutionen – als Kennzeichnung der alten Spezialschule ablehnt. Also die Spezialschule war nicht so – wenn man das jetzt vielleicht im Großen und Ganzen sieht – so ’ne Solistenschmiede. Sondern es wurde sehr großer Wert auf Ensemblespiel gelegt. Wir hatten auch Kammermusikgruppen: Trios, Duos und natürlich Quartett. Es kam dann peu à peu alles mit dazu, Orchester selbstverständlich auch. Wir hatten aber auch Chor, das war großartig, ja. […] Also heutzutage, wenn man dann so durch diese Schule durchgeht, wird das alles oftmals viel solistischer, sehr viel einsamer gemacht. Heute muss man dann wirklich seine Konzerte spielen und man muss seine Connections gründen. Das war alles damals nicht der Fall. Natürlich gab’s diese Wettbewerbsstufen und die hab ich auch alle absolviert – mal mehr, mal weniger erfolgreich. Und das war auch wichtig natürlich. Das ist klar. Und es gab auch
188 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE die Sternchen und es gab auch die Stars, selbstverständlich. Aber ich persönlich hab’s so erlebt, dass es also für mich doch ’ne große Musikfamilie war, die einen dann durch diese ganze Zeit so bissel durchgetragen hat.
Die zentrale Metapher dieser Beschreibung ist die der Musikfamilie. Für Herrn Gundolf sind die institutionell vorgegebenen Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens keine bloßen »Fächer«, denen eine private Welt der zwischenmenschlichen Interaktionen gegenüber gestellt wird. Das gemeinsame Musizieren löst den Gegensatz zwischen offizieller schulischer Veranstaltung und nicht-schulischen Sozialbeziehungen auf. Andere soziale Bereiche, die sich nicht unter den Begriff der Musikfamilie rubrizieren lassen, kommen so gut wie nicht zur Sprache – sie scheinen gegenüber der Ebene der gemeinsam geteilten musikalischen Erfahrungen keine besondere Relevanz für ihn zu besitzen. Das verbindet Herrn Gundolf vor allem auch mit Herrn Schaller, dessen umfangreiche Beschreibung des Spezialschullebens die sozialen Beziehungen innerhalb der Schülerschaft nur ganz sporadisch streift. Natürlich tauchen auch in Herrn Schallers Beschreibung immer wieder die Mitschülerinnen und Mitschüler auf. Aber es geht hier – wie bei Herrn Gundolf – vorrangig um das gemeinsame Musizieren; der Aspekt der sozialen Beziehungen selbst bleibt unthematisiert. Ein Leben neben der Musik scheint es für Herrn Schaller an der Spezialschule nicht gegeben zu haben – und wenn doch, dann hält er es im Rückblick für keiner Erwähnung wert. Das mag mit seiner insgesamt zurückhaltenden Persönlichkeit zu tun haben, steht aber dennoch in deutlichem Gegensatz sowohl zur lebhaften und höchst detaillierten Art und Weise, in der er ansonsten über seine Spezialschulzeit berichtet, als auch zur Anschaulichkeit, in der er die ihn prägenden Mentoren (wie etwa seinen Vater und seine Hauptfachlehrer) beschreibt. Die wenigen Male, die Herr Schaller auf den Kontakt der Schüler untereinander zu sprechen kommt, sind allerdings höchst aufschlussreich, denn sie weisen darauf hin, dass die im Zusammenhang mit dem Hauptfachunterricht diagnostizierte latente Zweiteilung der Schülerschaft sich auch auf den Bereich der sozialen Interaktionen erstreckte: Die Leute, die sich zunächst in der Kinderklasse getroffen haben für den Tonsatzunterricht, das warn im Großen und Ganzen die Dresdner – der Dresdner Anteil derer, die dann später unsere Spezialschulklasse bildeten. Also, da gab es den Norbert Olms, den Klaus Nießner und den Erhard Lampe und so. Also es waren – was weiß ich – sechs, sieben, acht Leute zusammen. Und wir haben uns dann dort wiedergefunden an der Spezialschule und waren natürlich sofort ’ne Clique. Und dann kamen noch die Internatsschüler dazu, und die waren dann natürlich auch ’ne Clique.
An dieser Darstellung fällt auf, dass sich die von Herrn Schaller beschriebene Cliquenbildung nicht so sehr aus den Interaktionen der Schüler untereinander ergab, sondern dass sie als Folge äußerer Umstände erscheint. Für ihn ist es selbstverständlich, dass die Schüler, die sich bereits vor der Spezialschule vom gemeinsamen Tonsatzunterricht her kannten, dann auch an der Spezialschule eine Clique bildeten. Dass eine derartige Gruppenbildung keineswegs so natürlich ist, wie er suggeriert, dürfte jeder Klassenlehrer an einem Gymnasium wissen, der die Gruppenbildung in einer
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neu zusammengestellten fünften Klasse erlebt und dabei feststellt, dass die alten »Seilschaften« von Kindern, die an derselben Grundschule waren, binnen Wochen, wenn nicht gar Tagen zerfallen. Dass es hier nicht zu einem derartigen Zerfall kam, sondern bereits bestehende Beziehungen als Grundlage einer Cliquenbildung dienten, weist eindringlich darauf hin, dass im konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule anscheinend Tendenzen angelegt waren, die das Sozialgefüge innerhalb der Schülerschaft auf eine bestimmte Art vorstrukturierten, ohne dass sich der Einzelne dessen hätte bewusst werden müssen. Oberflächlich betrachtet, scheint sich diese Vorstrukturierung vornehmlich durch die räumliche Trennung zwischen den externen Dresdnern und den Internatsschülern ergeben zu haben. Dennoch ist damit wohl auch eine weitaus grundsätzlichere Differenz verbunden gewesen: Bereits im letzten Abschnitt waren wir im Rahmen der Erinnerungen von Gernot Brauchbach darauf gestoßen, dass Schülern, die von außen kamen, »die Dresdner« als die Olympiakämpfer erschienen. Das war keineswegs nur freundlich-bewundernd gemeint, sondern sollte ein relativ enges Verständnis instrumentaler Hochleistung charakterisieren, das – in den Augen Herrn Braubachs – als dominanter Orientierungsrahmen den schulischen Erfahrungsraum prägte. Wobei nicht außer Acht gelassen werden darf, dass Herrn Braubachs Bild der Dresdner Olympiakämpfer selbstverständlich eine Chiffre darstellt, denn natürlich waren nicht alle Dresdner Schüler diesem Typus zuzurechnen – ebenso wie es sicherlich auch Nicht-Dresdner gab, die ihm eher entsprachen. Anhand der von Herrn Schaller genannten Mitschüler lässt sich zwar nicht erkennen, ob es sich bei seiner Clique auch um derartige Olympiakämpfer gehandelt hat. Allerdings stammen die von ihm erwähnten Schüler durchweg aus vergleichbaren Kontexten – aus bekannten Dresdner Musikerdynastien nämlich, in denen die spätere Berufswahl der Kinder von Anfang an so gut wie vorherbestimmt war. Dass sich diese Schüler natürlich als Clique zusammenfanden, weist auf einen vergleichbaren Orientierungsrahmen hin, der sich nur deshalb als Gruppe formieren konnte, weil der schulische Erfahrungsraum einen entsprechenden Nährboden dafür bot. Ohne die Annahme eines derart vorstrukturierenden Kontextes lässt sich nicht erklären, wieso die Interaktionen innerhalb der Schülerschaft zu keiner größeren Durchmischung der Gruppen führten. Auch wenn Herrn Schallers Erinnerungen an keiner Stelle erkennen lassen, dass er seine Clique als dominant empfand, bedeutet das keineswegs, dass sie von der anderen Clique – den Internatsschülern – nicht doch als dominant wahrgenommen wurde. Wer sich wie ein Fisch im Wasser fühlt, muss nicht unbedingt registrieren, dass es in seinem Revier auch Lebewesen gibt, die keine Fische sind. Deutlicher ausgrenzend sind in diesem Punkt die Erinnerungen von Herrn Leininger. Ungeachtet seiner Schilderung des starken Gemeinschaftserlebnisses beim Orchesterspiel, geben sie unumwunden zu erkennen, dass diese Gemeinschaft auch eine Kehrseite hatte: Ich kann mir nicht vorstellen, dass andere irgendwie ’ne große Bedrückung aus dieser Zeit mitnehmen – mit Ausnahme derer, die vielleicht wirklich große Probleme in ihrem musikalischen Bereich hatten. Weil, wenn Sie nicht mehr zurechtkamen, dann waren Sie auch nicht mehr so sehr viel wert. Ich überspitze das jetzt mal. Da gab’s dann auch die Tendenzen des Mobbings und des Über-den-Anderen-sich-lustig-Machens oder Hinterm-Rücken-Redens und so. Das hat es schon gegeben, aber auch das gehört zu den normalen Verhältnissen.
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Herr Leininger steht vor dem erzählstrategischen Konflikt, einerseits das Bild einer besonnten und heilen Kindheit bzw. Jugend zeichnen, andererseits aber auch die Schattenseiten nicht verschweigen zu wollen. Genau diese Ambivalenz haben wir ja bereits im Rahmen seiner Schilderung des Hauptfachbereichs kennengelernt. Hier an dieser Stelle löst er diese Ambivalenz dadurch auf, dass er Ausgrenzungstendenzen, die durch Probleme im Hauptfach ausgelöst wurden, zwar erwähnt, aber im gleichen Atemzug herunterspielt – nach dem Motto: Natürlich wurde gemobbt, aber das ist doch normal. Indirekt signalisiert er damit freilich, dass das von ihm beschworene Gemeinschaftserlebnis, bei dem alle Unterschiede vergessen wurden, sich nur auf die Schüler bezog, die keine Probleme in ihrem musikalischen Bereich hatten. Dass unabhängig von der musikalischen Leistung aber auch die reine Herkunft eines Mitschülers über die Frage »Integration oder Ausschluss?« entscheiden konnte, zeigt folgende Passage, in der Herr Leininger als waschechter Dresdner einen offensichtlich nicht-passenden und nicht aus Dresden stammenden Mitschüler beschreibt: Ich hatte einen Mitschüler, der Vater war Bergarbeiter und … Das ist ja dieser Dünkel, der eben auch in Kindern da ist, wenn bestimmte Kinder unter sich sind – und sei es mal dieses Phänomen Weißer Hirsch. Dann denkt man: »Ach, na was ist denn das für einer?« Aber, das war eben ein ganz begnadeter musikalischer Mensch. Und der hat sich unheimlich bemüht und war unheimlich fleißig – nur manchmal eben ein bissel fletzig in seinem Auftreten.
Diese Passage verleiht der Dichotomie zwischen den Dresdner Olympiakämpfern und den Nicht-Dresdner Internatsschülern eine weitere Facette. Die Dominanz einer bestimmten Gruppe Dresdner Schüler innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes scheint sich nicht allein aus der Tatsache zu speisen, dass diese Gruppe sich selbst als leistungsstark empfand und aus Elternhäusern stammte, die einen guten Nährboden für diese Leistungsstärke boten. Darüber hinaus scheint die Gemeinsamkeit des Orientierungsrahmens vor allem auch durch einen spezifisch bürgerlichen Lebensstil der Elternhäuser gestiftet worden zu sein, demgegenüber ein proletarischer Bergarbeiter-Sohn, mochte er auch ein begnadeter Musiker sein, eben als ein bissel fletzig wahrgenommen und bewertet werden konnte. Als Chiffre dieses verbindenden Lebensstils nennt Herr Leininger das Phänomen Weißer Hirsch und bezieht sich damit auf den bereits erwähnten Villenvorort, an dem innerhalb einer sich egalitär begreifenden sozialistischen Gesellschaft ein kunst- und musikliebendes Bildungsbürgertum überwintern und gedeihen konnte. Allem Anschein nach muss auch diese Prägung, für die wir hier den Begriff des »bildungsbürgerlichen Lebensstils« wählen, dem dominanten Orientierungsrahmen der Spezialschule zugerechnet werden, war sie doch immerhin so mächtig, dass sie – wie die zitierte Passage zeigt – als Ausgrenzungskriterium dienen konnte. So mächtig, dass ihr Fehlen selbst durch entsprechende musikalische Leistungen nicht vollständig zu kompensieren war. Deutliche Ausgrenzungstendenzen finden sich auch in den Schilderungen von Herrn Dürer: Wie bei Herrn Leininger ist an dessen Darstellung das offenkundige Interesse zu spüren, das Bild einer heilen, von Problemen gänzlich unbelasteten und vor allem normalen Kindheit zu zeichnen. Freilich handelt es sich hier um eine Normalität, die aus dem Bewusstsein heraus konstruiert wird, dass man sich selbst als keineswegs normal, sondern vielmehr als einen besonderen Leistungsträger begreift.
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Es geht Herrn Dürer in der folgenden Passage nicht so sehr um die Darstellung einer »normalen« Schulzeit, als vielmehr darum, seine Fähigkeit zu einem blitzschnellen Wechsel zwischen »normalem« jugendlichem Verhalten und einer besonderen professionellen Leistungsfähigkeit herauszustellen – wobei die sich selbst zugeschriebene Normalität die Funktion hat, indirekt die Besonderheit der eigenen Leistung zu unterstreichen. [Das Verhältnis zu den Mitschülern?] Das war ja ’ne bunt zusammengewürfelte Truppe. So, und nun waren’s nicht nur Dresdner, sondern viele so aus dem Chemnitzer Bereich – da kamen immer die vielen Bläser her. Pianisten und Streicher mehr aus Dresden, und dann so’n bissel ein Mix aus dem sorbischen Bereich: Bautzen, Görlitz bis Hoyerswerda hoch. Das war so der Einzugsrahmen. Und da war natürlich dann auch Grüppchenbildung. Und die Blechbläser und die Holzbläser – das waren so robuste Jungs, und die haben dann natürlich auch nebenbei Fußball gespielt. Das war nicht unbedingt meins. Da gab’s jetzt nicht unbedingt so die dicken Freundschaften, aber lustig war’s allemal bei uns. Und vielleicht waren wir Dresdner Kinder enger verbunden. […] Da war mal ’ne Jugendherberge und wir haben dort die erste Zigarette geraucht und den ersten Schnaps getrunken und so. Eigentlich – das wird immer auch so in eine besondere Ecke gestellt, aber was wir abseits von dem Musikalischen gemacht haben, war so schnurz-normal wie bei anderen auch. Natürlich ist man dann abends irgendwie ins Konzert noch gegangen, aber vorher hat man genau den Mist gemacht und ferngesehen und sich über irgendwelche Dinge unterhalten, ne? Und Leute, die eben durch die Eltern so’n bissel zu behütet waren, gab’s ja auch. Die wurden dann auch in unsrer Truppe nicht so gemocht, weil sie auch nie da waren. Die sah man in der Schule und dann sind die nach Hause und wurden nicht mehr gesehen. Weil wir wussten: Die werden halt eingesperrt, um ihre Leistung zu erbringen. Aber bei uns, das war alles locker irgendwie. […] Aber dann wieder: Sofort Schalter um, jetzt kommt’s wieder drauf an – Unterricht, Üben, Leistung erbringen und so. Also da hatte ich das Gefühl, das tut mir gut, also das ist ’ne gesunde Mischung. Da kann man trotzdem Kind oder Jugendlicher sein, ne? […] Am Schluss [der Schulzeit] gab’s irgendwie ’ne nette Feier und dann wusste man ja auch: Der kommt mit mir zum Studium und der andere verlässt uns, weil es also wirklich nicht ausreicht und so.
Zunächst bestätigt Herr Dürer die bereits von Herrn Schaller thematisierte Grüppchenbildung, die sich eben nicht aus den Interaktionen der Schüler untereinander ergab, sondern durch die jeweiligen Herkunftsorte vordefiniert war – wobei dem jeweiligen Einzugsbereich bestimmte typische Merkmale zugeschrieben werden: den robusten Blech- und Holzbläsern aus dem Chemnitzer Bereich werden die Pianisten und Streicher aus Dresden gegenübergestellt, die vielleicht enger verbunden waren. Innerhalb dieser Dresdner Gruppe wird aber jetzt nochmals differenziert: Herr Dürer unterscheidet zwischen jenen Mitschülern, die zu Hause halt eingesperrt [wurden], um ihre Leistung zu erbringen und seiner eigenen Gruppe, bei der alles locker [war] irgendwie. Was aber wohl nicht zu dem Schluss verleiten darf, innerhalb dieser lockeren Gruppe habe die instrumentale Leistungsfähigkeit keine Rolle gespielt. Darauf lässt nämlich der letzte Satz der hier zitierten Passage schließen: Wenn Herr Dürer über jene Mitschüler spricht, bei denen man wusste, der […] verlässt uns, weil es also wirklich nicht ausreicht, dann spricht er aus der Warte eines Schülers, der sich die Leistungserwartungen der Schule rundherum zu eigen gemacht hat und ein kollektiv geteiltes Urteil fällt. In seiner Betonung des Lockeren bzw. Normalen, das er
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sich und seiner Dresdner Gruppe zuschreibt, tritt ein doppeltes Selbstbewusstsein zutage – nämlich sowohl das Bewusstsein einer hohen Leistungsfähigkeit als auch der Stolz darüber, diese Leistungen ohne dezidierten Druck von außen und bei größtmöglicher sonstiger Normalität erbracht zu haben. Es ist die lässige Haltung eines sich mit seinem schulischen Umfeld gänzlich im Einklang fühlenden Schülers, die auch Bourdieu und Passeron im Sinne hatten, als sie bei ihrer Untersuchung des französischen Schulsystems zwischen jenen Schülern unterschieden, die aufgrund ihrer guten Passung in der Lage sind, sich mit einer gewissen Leichtigkeit und Übermütigkeit innerhalb des schulischen Erfahrungsraumes bewegen zu können und jenen weniger Begünstigten, die sich weitaus stärker an den schulischen Regeln orientieren müssen, indem sie etwa einen überhöhten Einsatz zeigen, um – wie Herr Dürer es ausdrückt – ihre Leistung erbringen zu können. Schüler wie er können hingegen »ohne großes Risiko jene Distanz zur Schau stellen, die größere Sicherheit voraussetzt« (Bourdieu & Passeron 1971, S. 34); sie können sich kleine Unbotmäßigkeiten – mit anderen Worten: eine demonstrative Normalität – leisten, weil sie instinktiv wissen, dass ihr als besonders empfundener Orientierungsrahmen vollständig zu den Erwartungshaltungen der Schule passt. Dass die Dresdner Schüler wohl insgesamt eine Vorzugsstellung besaßen, geht auch aus den Erinnerungen der Schulleiterin Juliane Erxleben hervor. Hier zeigt sich ein weiteres Mal, dass die Schulleitung ungeachtet ihrer großen Weisungsbefugnis die impliziten Hierarchien innerhalb des schulischen Erfahrungsraumes keineswegs nach Belieben verändern konnte: »Die Dresdner hatten die Verwöhnplätze: Die Mama besorgte alles, und wenn sie vorspielen mussten, dann fehlten sie halt einen Tag. Da kamen von den Eltern dann die Entschuldigungen. Das ging bei den Internatsschülern natürlich nicht.« Dass Frau Erxleben auch hier nicht so sehr pauschal an alle Dresdner Schüler denkt, sondern einen bestimmten Orientierungsrahmen im Kopf hat, der sich aber eben vornehmlich aus Dresdner Schülern rekrutierte, geht aus der Tatsache hervor, dass sie im gleichen Interviewkontext auf jene Kinder zu sprechen kommt, deren Väter Mitglieder der Staatskapelle waren: Erxleben: »Es gab auch Dinge, die schwierig waren. Wir hatten zum Beispiel Klassen, wo viele Staatskapellenkinder drin waren. Die Kapelle hatte Westgeld. Und da hatten wir Schüler, denen passte unser Essen nicht und die gingen eben zum Schillerplatz in die so genannte Broiler-Bar essen. Also solche Sachen hatten wir auch. Da beschwerten sich dann die [anderen] Eltern, dass so etwas möglich ist. Und das waren manchmal ganz schöne Auseinandersetzungen.«
Nimmt man die hier zitierten Äußerungen zusammen, dann kristallisiert sich bezüglich des Verhältnisses der Schüler untereinander ein dominanter Orientierungsrahmen heraus, der nicht allein vom Bewusstsein einer mit den äußeren Anforderungen im Einklang stehenden Leistungsfähigkeit, sondern zugleich von einem bestimmten bürgerlichen Lebensstil geprägt ist – einem Lebensstil, der in dieser Ausprägung anscheinend vor allem den Dresdner Kindern vorbehalten blieb. Bereits vor Uwe Tellkamps Turm-Roman hat der Soziologe Karl-Siegbert Rehberg diese bürgerlichen Restbestände mit dem Begriff des »Dresdner Refugiumsbürgertums« zu charakterisieren versucht: »In den Rückzugswelten privater Zirkel, Musikkreise, Diskussionssalons oder ›Kränzchen‹, in einigen Bereichen der halboffiziellen Kunstszene und im
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Umfeld von Theatern gab es […] Chancen für eine ins Private geflüchtete ›Bürgerlichkeit‹.« (Rehberg 2008, S. 92) Diese Bürgerlichkeit war in Rehbergs Augen zwar nicht mehr »tonangebend, jedoch nicht gänzlich einflusslos.« (Ebd.) Diese These wird durch unsere Untersuchung eindrucksvoll bestätigt. Der dominante Orientierungsrahmen an der Dresdner Spezialschule war durch und durch vom Lebensstil dieses Refugiumsbürgertums geprägt und bot Platz sowohl für Kinder aus kirchlichen Kreisen, aus Musikerfamilien wie auch aus jenen bildungsbürgerlichen Familien, für die Herr Leininger die Chiffre Weißer Hirsch wählte. Diese sozialen Kontexte waren nicht bloß geduldet, sondern verfügten innerhalb der Schule – so lange politische Dinge unberührt blieben – über beträchtlichen Einfluss. Die Dominanz dieses Orientierungsrahmens speiste sich nicht aus offen kommunizierbaren Kriterien – offiziell wurden natürlich keinerlei Unterschiede zwischen Dresdnern und NichtDresdnern gemacht –, sondern war Teil eines konjunktiven Wissens, über das – wie zu sehen ist – bereits auch die Schüler verfügten. Um zu diesem dominanten Orientierungsrahmen gehören zu können, musste nicht allein ein ausgeprägtes Bewusstsein der eigenen instrumentalen Leistungsfähigkeit vorhanden sein; ebenso wichtig war anscheinend ein spezifisch Dresdner »Stallgeruch«. Dies wird exemplarisch an Herrn Leininger sichtbar, dessen Erinnerungen an den Hauptfachunterricht zwar eher für eine Einordnung in den B-Typ sprachen, der aber ansonsten mit dem Bewusstsein eines »Fisches im Wasser« zu agieren vermochte. Umgekehrt verdeutlichen die Erinnerungen von Christiane Trenkler, dass sich eine Schülerin, die zwar in Bezug auf das Hauptfach das Gefühl hatte, an der Spezialschule absolut richtig am Platz zu sein, dennoch fremd und nicht dazu gehörig fühlen konnte – weil sie eben nicht aus Dresden stammte: Also, ich hatte schon meine Leute, mit denen ich mich gut verstanden habe. Aber so richtig … Das war nicht so einfach. Ich hab mich schon sehr fremd gefühlt. Doch. Mich sehr fremd gefühlt. Also, ich kann mich erinnern […], die Einzige, mit der ich eigentlich richtig Quatsch machen konnte, ist die Veronika Berndt gewesen. […] Die kam ja auch nicht aus Dresden, ja? Die war auch anders unterwegs. Und sehr frech und so. Also für damalige Verhältnisse. Heute würde man ja sagen: »Ach, wenn alle Kinder so lieb wären.« In der Klasse hab ich mich nicht unbedingt so wohlgefühlt. Und ich glaube, zu den ersten Klassentreffen bin ich gar nicht hingegangen. Das hat sich dann so mit der Zeit erst alles relativiert. Und ich glaub, seit zehn Jahren geh ich gerne zum Klassentreffen.
Frau Trenklers Gefühl der Fremdheit mag auch daher rühren, dass sie als Streicherin in ständigem und unmittelbarem Kontakt zu den Dresdner Schülern stand. Ohne hierzu eine belastbare und quantifizierbare Aussage treffen zu können – das überstiege die Möglichkeiten unseres qualitativen Forschungsansatzes – sei doch immerhin darauf hingewiesen, dass in Bezug auf die an der Spezialschule zentralen Instrumente Klavier, Geige und Cello die von uns dem A-Typ zugerechneten Befragten unseres Samples allesamt Dresdner sind – mit Ausnahme von Frau Trenkler. Im B-Typ finden wir hingegen eine Durchmischung von Dresdnern und Nicht-Dresdnern, während Typ C von den Nicht-Dresdnern dominiert wird. Diese Verteilung mag Zufall sein. Dennoch gibt es – wie gesehen – durchaus Hinweise, die darauf hindeuten, dass der imaginäre Adressat der Dresdner Spezialschule eben nicht nur ein leistungsstarker und vielversprechender Musiker war, sondern zugleich eine Person, die über ei-
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nen familiären Hintergrund verfügte, der in Dresden sicher häufiger anzutreffen war als im Umland. Wie wir im Zusammenhang mit der soziogenetischen Typenbildung noch genauer sehen werden, spielte dieser familiäre Hintergrund natürlich auch seinerseits eine Rolle für das Zustandekommen der entsprechenden instrumentalen Leistung und für die Fokussierung auf eine berufliche Laufbahn als Musiker. Diese spezifische Herkunft wurde nicht nur geduldet, sondern konnte sich innerhalb des schulischen Erfahrungsraumes als dominanter Orientierungsrahmen durchsetzen – was sich eben auch daran zeigt, dass sie eine wichtige Rolle bei der Gruppenbildung der Schüler gespielt hat. Der schulintern präferierte Orientierungsrahmen wurde somit auch durch die Schülerschaft selbst abgebildet, die als ein eigenständiger Akteur begriffen werden muss, der die spezifische Schulkultur der Dresdner Spezialschule maßgeblich mitprägte. 3.4.1.2 Typ B (»Schüler«) Wenn die Vertreter des B-Typs von ihrem jeweiligen Verhältnis zu den Mitschülern sprechen, dann sind ihre Darstellungen mitunter kaum von entsprechenden Passagen des A-Typs zu unterscheiden. Auf den ersten Blick scheint es keinen wesentlichen Unterschied zwischen den folgenden Erinnerungen von Clemens Hauschka und den oben geschilderten von Sebastian Dürer zu geben: Alles das, was mit der Schule zu tun hat – Sport, das hat für uns ja auch ’ne große Rolle gespielt. Gemeinsame Ausflüge, so was. Also da erinnere ich mich eigentlich auch sehr gerne daran, das hat immer Spaß gemacht. Was die Anderen da erzählt haben, dass wir dann in die Jugendherberge gefahren sind, so mit der ganzen Schule. Das sind herrliche Erlebnisse, an die man sich heute auch noch gerne erinnert. Ich weiß nicht, ob’s das heute überhaupt noch gibt. In der Mendelssohnallee gab es ’nen Hartplatz. Das war wie so ’ne Art Fußballfelder aufgebaut dort. Das war natürlich toll, in der Hofpause oder wann auch immer, dass man dann einfach Fußball gespielt hat. Tischtennisplatten gab’s – also das, was sehr viele Schulen, Allgemeinschulen, gar nicht hatten. Oder die durften dort nicht drauf. Bei uns war das ja so herrlich integriert. Das war schön.
Auch hier wird mit einem fast schwärmerischen Duktus an die Gemeinschaftserlebnisse der Schulzeit zurückgedacht. Während Herr Dürer aber – wie gesehen – bei aller Verherrlichung des schnurz-normalen Schülerlebens an keiner Stelle aus den Augen verliert, dass diese Normalität eigentlich als Gütesiegel seiner Besonderheit verstanden werden muss (weniger Besondere mussten weggesperrt [werden], um ihre Leistung zu erbringen) und insofern in engem Bezug zum Hauptfachbereich steht, wird sie von Herrn Hauschka als eigenständiger Bereich thematisiert. Ein Bezug zum Hauptfach wird von ihm sogar explizit verneint. Im Anschluss an die zitierte Passage heißt es: Ich hab mich jetzt als Schüler nicht ausgegrenzt gefühlt, das hab ich nicht so empfunden. Aber wenn’s ums Hauptfach ging, ok. Also, das Fachliche. Dort hab ich immer das Gefühl gehabt, na ja, da sind die anderen doch alle viel besser als du. Für die Vertreter des A-Typs wäre es undenkbar, die eigenen musikalischen Aktivitäten als das Fachliche zu bezeichnen und ihnen einen eigenständigen Bereich der Sozialbeziehungen unter den Mitschülern entgegenzustellen. Im Falle von Herrn Hauschka bildeten seine sportlichen Interessen hingegen einen eigenständigen An-
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knüpfungspunkt, der Beziehungen über jene Grenzen hinaus zu stiften vermochte, die durch den Dominanzanspruch des A-Typs gezogen wurden. Er reihte sich nicht in die von Herrn Schaller als natürlich gekennzeichnete, in Wahrheit aber innerschulisch vorstrukturierte Cliquenbildung ein, sondern legte ein Verhalten an den Tag, das sehr genau zwischen schulischen Anforderungen und nicht-schulischem Freizeitverhalten zu unterscheiden in der Lage war. In gewisser Weise komplettiert die Art und Weise, in der Herr Hauschka mit seinen Mitschülern in Beziehung trat, jenen Orientierungsrahmen, den wir im Zusammenhang mit dem Hauptfachbereich als »schülerhaft« bezeichnet haben: Gerade weil er die instrumentalen Anforderungen als einen durch die Institution vorgegebenen Leistungsanspruch begriff, war er auf der anderen Seite dazu fähig, seine Beziehung zu den Mitschülern als einen vom Fachlichen befreiten Raum sozialer Interaktionen zu begreifen, wobei diese Interaktionen allem Anschein nach auch dazu beitrugen, das Gefühl des Nicht-Genügens im Hauptfachbereich zu kompensieren. Obgleich er selbst ebenfalls Dresdner ist, scheint die im Zusammenhang mit dem A-Typ beobachtete Grenzziehung für Herrn Hauschka keine Rolle gespielt zu haben. Dasselbe gilt auch für Herrn Innstedt: Also es gibt so schöne Sachen, die mir dann einfallen. […] Auf der Mendelssohnallee war hinterm Haus damals noch ’ne Wiese. Und als unsre Klasse dann da war, da war das in ’nem halben Jahr Erde. Fußball. Nee, also unsre Klasse – da wurde gebattlet, was das Zeug hält. Das war in der Freizeit. Und ich bin ja Dresdner, ich bin auch nachmittags öfter mal dort gewesen. Das sind also wunderbare Erfahrungen, ich habe zwar zu Hause gewohnt, aber ich war sehr oft dort in der Spezialschule. Weil’s einfach schön war. Das war eben diese Atmosphäre. Ich glaub, wir hatten monatlich oder zweimonatlich – ich weiß es nicht mehr genau – jedenfalls ziemlich häufig sonnabends Tanzabende. Ja, das heißt, die Mädels haben sich hübsch gemacht und wir haben auch … Das war ja noch ’ne Zeit, wo die Jungen öfter mal auch ’nen Anzug an hatten. Und da ist in der Viere getanzt worden und die Musik – das haben die Schüler selber gemacht, die haben dann zum Tanz aufgespielt. Diese gängigen Titel, die damals so in Mode waren. Und dann kann ich mich auch erinnern: Fasching wurde immer groß gefeiert in der Mendelssohnallee. Im Herbst ging das schon los. Da haben wir ein Vorbereitungskomitee gegründet, sind hoch in den Turm und haben dort monatliche Sitzungen gemacht und das vorbereitet. Und die Lehrer haben auch ganz toll mitgemacht. Also das sind Dinge, die ich eigentlich nicht missen möchte.
Hier zeigt sich eine deutliche Parallele zu jener Wahrnehmungsstruktur, die wir im Zusammenhang mit dem allgemeinbildenden Bereich thematisiert haben. Herr Innstedt begreift die Spezialschule nicht so sehr als einen Nährboden für seine künstlerische Entwicklung, sondern als einen Lebensraum, der ihm – gemessen an seiner Herkunft – faszinierende Erfahrungsmöglichkeiten bot und der anscheinend das Gefühl der Fremdbestimmung im Hauptfach aufzuwiegen imstande war. Gerade weil dieser Lebensraum so ganz anders war als Herrn Innstedts Herkunft, wurde er als Ganzes wahrgenommen – Unterscheidungen wie die zwischen Dresdnern und NichtDresdnern, aber auch zwischen fremdbestimmten und nicht fremdbestimmten Bereichen, werden erst an hinterer Stelle im Interview thematisiert.
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Sehr stark wird hingegen die Trennung zwischen Dresdner und Nicht-Dresdner Schülern von Frau Groß wahrgenommen, wobei sie selbst allerdings weder besonders unter ihr leidet, noch Versuche einer Überbrückung unternimmt: Die Internatler bildeten eine Gruppe für sich. Das waren ja die Kinder, die aus irgendwelchen anderen Städten kamen. Und es gab, glaub ich, in meiner Klasse vier oder fünf Dresdnerinnen und Dresdner, die einfach ein anderes privates Umfeld hatten. Und diese Welten waren nicht deckungsgleich. Und da gab’s dann auch wenig Schnittmengen – außer, dass man in der Schule war. […] Freunde hatte ich schon, aber außerhalb der Schule. An der Stelle bin ich ein komischer Typ. Ich habe wenige Freunde oder Leute gehabt. Ich hab immer gern mit Erwachsenen irgendwo da Beziehungen gehabt. Ich hab geübt, ich habe rasend viel gelesen und war eigentlich immer mit einem Buch in der Hand anzutreffen. Meine Eltern haben sehr viel mit mir unternommen. Also wann immer sie Zeit hatten, dann ging’s raus. Obwohl ich aus Dresden, also aus der Stadt komme, bin ich sozusagen halb auf dem Dorf aufgewachsen, weil es ein kleines Wochenendrefugium für meine Eltern in der Oberlausitz gab. Mit den Kindern dort habe ich weitaus mehr gespielt als mit meinen Klassenkameraden. Also, da gab’s verschiedene Welten. Hab ich aber jetzt nicht als störend oder so empfunden.
Bildet im Falle von Herrn Innstedt und Herrn Hauschka die Gemeinschaft der Mitschüler einen Rahmen, der auf eher allgemeine Weise einen Ausgleich zum Hauptfachbereich bietet, so besitzt er für Frau Thalheim deutlich die Funktion einer Notgemeinschaft. Die Freundschaft hilft, mit dem Druck umzugehen: Ich kann mich noch erinnern, dass ich und meine Freundin Kerstin …, die ist ja ein Jahr älter als ich … Wir sind dann zusammen zum Unterricht gegangen, und ich weiß genau: Zuerst hat unser Lehrer mich zur Schnecke gemacht, dann hab ich auf dem Sofa gesessen, und dann hat er sie zur Schnecke gemacht. Ich weiß nicht mehr, ob wir das bewusst gemacht haben, um uns ein bissel ’ne stärkere Position zu erarbeiten.
Hier fungiert die Freundschaft als eine Art Überlebensfaktor, der die Position der Schülerinnen gegenüber dem Hauptfachlehrer stärken soll. Die gemeinsam erlebte und durchlittene Bewährungssituation im Rahmen des als stark fremdbestimmt und destruktiv empfundenen Hauptfachunterrichtes verbindet. Außerhalb dieser nahen Beziehung erlebt Frau Thalheim das Verhältnis zu den Mitschülern vornehmlich unter dem Aspekt der Konkurrenz, von der sie sich selbst allerdings in gewisser Weise ausnimmt: Wissen Sie, wenn Sie in so ’nem Pool sind und alle machen Musik, dann ist man irgendwo so ’ne Gemeinschaft und – was nicht immer gesund [ist], sag ich mal – das gab’s da schon auch ein bisschen, dass der eine halt sagt: »Was? Das spielst du erst? Ich spiele schon das.« […] Also ich denke mal, dass das heute auch noch so ist, nach allem, was man so hört. Den einen kann so was beflügeln und für den anderen kann’s natürlich auch ein bisschen in die andere Richtung gehen. Aber ich hab das eigentlich … Ich bin da eigentlich ein sonniges Gemüt gewesen.
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Ungeachtet dieser kompetitiven Grundsituation finden sich bei Frau Thalheim jedoch immer wieder auch Hinweise auf schöne Gemeinschaftserlebnisse – sogar in musikalischer Hinsicht. Auffallend ist aber, dass diese Gemeinschaftserlebnisse ausschließlich in einem freiwilligen Raum stattfinden; sie beziehen sich nicht – wie bei Herrn Gundolf – auf die »offiziellen« Gruppenveranstaltungen wie Chor oder Kammermusik: Wir hatten ja Tanzstunde, das war mit den Kruzianern zusammen. Und dann hatten wir unsere Schwärme und dann sind wir natürlich auch in die Kreuzchoraufführungen gegangen. Und dann haben wir uns Klavierauszüge geholt und dann wurde ein Mädchen verdonnert – die konnte damals schon gut Blatt spielen – und wir haben dann die Chöre gesungen. Nee, das war eigentlich sehr schön.
Die Vertreter des B-Typs finden, fasst man ihre Aussagen zusammen, Mittel und Wege, um sich nicht von den durch die Dominanz des A-Typs vorgegebenen Machtverhältnissen beherrschen zu lassen. Die sozialen Kontakte zu den Mitschülern besitzen bei ihnen einen Eigenwert, der entweder gar nicht an die musikalische Ausbildung gekoppelt ist oder aber den Charakter einer Schutzgemeinschaft trägt, durch die sich die Fremdbestimmung im Hauptfach besser ertragen lässt. Ihr Verhältnis zu den Mitschülern ist – sieht man einmal von der bekennenden Einzelgängerin Olga Groß ab – von eben jener Offenheit gekennzeichnet, die auch ihr Verhältnis zu den allgemeinbildenden Fächern prägt. 3.4.1.3 Typ C (»Fremdling«) Für sich genommen mögen einige Berichte von Vertretern des C-Typs nicht unbedingt eine Einordnung unter die Rubrik des »Fremdlings« nahelegen. Zwar finden sich hier durchaus Berichte von Einsamkeit und geringen sozialen Kontakten; daneben gibt es aber eine Reihe von Passagen, die ein durchaus freundliches Licht auf das Verhältnis zu den Mitschülern werfen. Durch den Vergleich mit entsprechenden Passagen aus den Darstellungen des A- und B-Typs zeigen sich aber gerade bei scheinbar harmlosen Schilderungen bezeichnende Unterschiede. Beginnen wir mit Frau Senff: Also, mit den anderen Kindern hatte ich keine Schwierigkeiten. Ich hatte nur mit meinem Mathematiklehrer Schwierigkeiten. Das war ja dann auch Gott sei Dank vorbei, als ich dann gewechselt hab. Aber mit der – was man immer denkt – Rivalität oder sowas, da hatte ich keine Probleme. Sowas, wie auf der Dorfschule, sowas gab’s da nicht. Es war ja klar. Es spielen ja nun alle ein Instrument. Und die haben alle das Gleiche gemacht. Und im Internat war man wahrscheinlich irgendwie dann doch ’ne Gemeinschaft. Daran kann ich mich zwar auch nicht jetzt so richtig mehr erinnern, was wir da jetzt und ob wir da irgendwelchen Blödsinn gemacht haben oder sowas. Das weiß ich nicht mehr. […] Wir hatten ja so’n strengen Ablauf, dass es da wenig Möglichkeiten gab, irgendwo auszubrechen. Also, es gab ja immer … Wir hatten ja nie Freizeit. Also, ich glaube nicht, dass ich Freizeit hatte. Weil – wir hatten immer irgendeinen Plan, wo wir hinmussten. Und wenn’s Üben war. Von daher gab’s keine freigewählte Zeitbenutzung. Also das war nicht. Und deswegen hab ich später auch noch mal was anderes gemacht, weil dann doch das Leben sozusagen fremdbestimmt eigentlich stattgefunden hat.
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Zunächst scheint hier alles weitgehend unproblematisch zu sein: Keine Schwierigkeiten mit Rivalität, und im Internat irgendwie doch ’ne Gemeinschaft. Schaut man sich aber genauer an, worin diese Gemeinschaft bestand, fällt einem zunächst der wiederholte Hinweis auf fehlende Erinnerungen auf. Im Gegensatz zu anderen Bereichen ihrer Schulzeit – man denke an ihre Mathematikprobleme –, über die sie anschaulich zu berichten weiß, sieht sich Frau Senff in Bezug auf soziale Aktivitäten außer Stande, konkret zu werden. Sie weiß nicht, was wir da jetzt und ob wir da irgendwelchen Blödsinn gemacht haben, und kommt hiervon ausgehend sofort auf die fehlende Freizeit zu sprechen, die – so muss man diese Passage wohl deuten – im Grunde keinen Raum für erfüllte soziale Interaktionen ließ. Vergleicht man diesen Textausschnitt mit jenen fast schwärmerischen Kennzeichnungen, mit denen Herr Dürer oder Herr Innstedt von gemeinsamen Aktivitäten sprachen, so drängt sich der Eindruck auf, dass das permanente Gefühl der Fremdbestimmung bei Frau Senff dazu führte, ihr Verhältnis zu ihren Mitschülern nicht als eigenständigen Bereich wahrnehmen zu können. Dass sie dennoch zu dem Urteil kommt, es habe doch ’ne Gemeinschaft unter den Schülern gegeben, erschließt sich aus dem Kontext: Im Vergleich zu dem, was Frau Senff zuvor an ihrer Dorfschule erleben musste, erscheint die Spezialschule nämlich als ein relativ homogener Ort, der sie vor größeren Spannungen bewahrte: An der Dorfschule gab’s ganz, ganz große Probleme, weil ich ein Instrument spielte und weil ich aus der Stadt komme und so weiter. Also, mich haben die Kinder dort bespuckt. Das war nicht so lustig. Gegenüber diesen Spannungen erscheint die Spezialschule als ein vergleichsweise befriedetes Terrain, wobei dieser Friede für sie allerdings eher in der bloßen Abwesenheit von tieferen Konflikten bestanden zu haben scheint. Frau Senff schildert kein positives Gemeinschaftserlebnis und spricht auch nicht von engen Freundschaften, sondern beschreibt einen Lebensraum, der von einem strengen Ablauf gekennzeichnet ist und in dem es wenig Möglichkeiten gab, irgendwo auszubrechen. Die etwas verhalten angedeutete Gemeinschaft wird in dieser Darstellung also nicht durch entsprechende Aktivitäten der Schüler hergestellt – an derlei Aktivitäten hat Frau Senff eben bezeichnenderweise keinerlei Erinnerungen mehr –, sondern erscheint als Konsequenz einer von außen hergestellten Homogenisierung (alle spielen ein Instrument) sowie eines strikt durchgeplanten Tagesablaufs, der das Aufkommen von eigenständigen Gemeinschaftsaktivitäten regelrecht verhinderte. Die Gemeinschaft der Schüler fungiert hier also nicht – wie bei Typ B – als eine eigenständige Kraft, die einem ansonsten als fremdbestimmt wahrgenommenen Schulalltag Paroli zu bieten imstande ist, sondern wird geradezu als Folge dieser Fremdbestimmung präsentiert. Interessanterweise scheint sich Frau Senff dieses von ihr konstruierten Zusammenhanges von Gemeinschaft und Fremdbestimmung gar nicht bewusst zu sein. Das deutet darauf hin, dass sie die ungeschriebenen Regeln des konjunktiven Erfahrungsraumes derart fest verinnerlicht hat, dass sie außerstande ist, diese explizit zu benennen. Besonders deutlich wird diese Verinnerlichung im Zusammenhang mit ihrer Charakterisierung des Konkurrenzverhaltens unter den Schülern: Also an eine Hierarchie unter den Schülern im Hauptfach kann ich mich nicht erinnern. Also innerhalb meiner Hauptfachklasse jetzt so unmittelbar nicht. Weil – da gab’s welche, die waren so gut, das war für mich so unerreichbar. Das war sowieso außen vor. Die fanden aber auch
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alle so gut. Also, von daher: Da wurde gar nicht weiter drüber geredet. Selbst, wenn der mal nicht so gut gespielt hat, war das immer noch toll.
Nahezu im selben Atemzug wird hier eine interne, durch die instrumentale Leistung gestiftete Hierarchie unter den Schülern bestritten und bejaht. Frau Senff leugnet die Existenz einer derartigen Hierarchie, weil diese anscheinend so offensichtlich war, dass da gar nicht weiter drüber geredet wurde. Zugleich gibt das geschilderte Gefühl der Unerreichbarkeit deutlich zu erkennen, dass diese Hierarchie keineswegs so spurlos an ihr vorüber gegangen ist, wie sie selbst mutmaßt. Die jenseits aller Diskussion stehenden und als außen vor charakterisierten Leistungen einiger Mitschüler führten bei ihr zwar nicht zu Eifersucht und Konkurrenzgebaren, aber allem Anschein nach zu einer hinnehmenden Resignation. Frau Senff schildert sich indirekt als jemanden, der sich an der Spezialschule mit dem Gefühl der eigenen Unzulänglichkeit arrangiert hat. Dieses Gefühl scheint so stark gewesen zu sein, dass es sich nicht durch Freundschaften und Gemeinschaftserlebnisse kompensieren ließ. Frau Senff beschreibt einen Erfahrungsraum, der in jeder Hinsicht fest gefügt war und jedem Schüler – sie selbst eingeschlossen – seinen Platz vorgab. Gerade im Vergleich zum ATyp fällt auf, dass ihr jede Lässigkeit und Souveränität fehlt, mit der sich die Vertreter jenes Typs innerhalb des schulischen Erfahrungsraums zu bewegen wussten. Um in diesen Erfahrungsraum hineinzupassen, musste sie sich allem Anschein nach buchstabengetreu an dessen Anforderungen orientieren. Anders formuliert: Um der Institution nicht ausgeliefert zu sein, sah sich Frau Senff gezwungen, deren Regeln weitgehend zu internalisieren. Alle Möglichkeiten, diesen Anforderungen etwas entgegenzusetzen (Interesse für andere Dinge, Freundschaften), scheinen nicht vorhanden gewesen zu sein. Eine ganz ähnliche Tendenz findet sich in den Erinnerungen von Herrn Trescher. Die Mitschüler treten bei ihm in zweierlei Zusammenhängen in Erscheinung: einmal als unerreichbare Konkurrenz, zum anderen als Internatsgemeinschaft, die sich mit den äußeren Gegebenheiten – und hier insbesondere der räumlichen Enge und dem damit verbundenen permanenten Aufeinandersitzen – arrangieren musste. Von Cliquen, Vertrauten oder gar Freunden ist bei ihm nie die Rede: Es gab ein gutes Miteinander unter den Schülern. Da gab’s auch Konflikte, aber das hab ich jetzt schon als okay oder gut in Erinnerung. Aber man konnte sich auch nicht aus dem Weg gehen mal. Oder man wollte auch mal seine Ruhe haben. Also, man hatte ja schon wenig Freizeit. Und wenn dann natürlich noch einer gefiedelt oder Klavier gespielt hat in seinem Raum, wo man auch gewohnt hat – weil einfach viel zu wenig Räume waren – war’s natürlich nicht so optimal. Also, das hat man schon da auch gespürt, dass das nicht so toll ist. Aber das war eben so, das hat man eben dann so hingenommen und musste dann damit halt klar kommen. Es ging auch irgendwie. Aber so richtig gut war’s eigentlich nicht. Interviewerin: Und mit den Mitschülern war das dann stressfrei, oder …? HT: Was heißt stressfrei? Also, man hat das jetzt nicht unbedingt auf die Schüler bezogen. Also so war das nicht, dass man sich jetzt gegenseitig dort drangsaliert hätte, weil man sich im Wege war. So war das eigentlich nicht. Aber ja: Man hat das schon, denk ich, schon jeder bissel empfunden, dass es da sehr eng alles ist und nicht optimal. Oder so simple Dinge, dass die Heizung nicht ging. Im Winter! Also, es war wirklich permanent kalt – in bestimmten Räumen mehr, in anderen weniger. Was weiß ich: So 14, 15 Grad, wenn es draußen kalt war. Mehr war
200 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE da nicht. [Die] Heizung war eben alt und eine neue gab’s nicht. Also, es waren so einfach auch Bedingungen, mit denen man halt dann so leben musste, ne? Es ging irgendwie, aber na ja.
Die an den Anfang dieser Passage gestellte Diagnose eines guten Miteinanders führt Herrn Trescher nicht zur Schilderung eines harmonischen, von Gemeinschaftsgeist beherrschten Lebensraumes, sondern zur Schilderung der großen räumlichen Enge im Internat. Dafür, dass die räumlichen Verhältnisse problematisch waren, haben die Schüler – so sein Tenor – eigentlich gut miteinander gelebt. Wobei auffällt, dass dieses Miteinander vor allem negativ bestimmt wird: Also so war das nicht, dass man sich jetzt gegenseitig dort drangsaliert hätte. Der Fokus seiner Beschreibung liegt nicht auf den sozialen Interaktionen der Schüler untereinander, sondern in der Schilderung der äußeren Rahmenbedingungen, denen sich die Internatsschüler ausgesetzt sahen und zu denen sie sich als Gruppe in irgendeiner Form verhalten mussten. Das von ihm beschriebene Wir-Gefühl ist also in doppelter Hinsicht begrenzt: Einmal entzündet es sich nicht am Zusammenleben an sich – so wie es sich etwa aus den Erinnerungen von Herrn Dürer oder Herrn Hauschka erschließen lässt –, zum anderen ist mit ihm immer eher die Abwesenheit von Konflikten als die gemeinschaftsstiftende Kraft der Gruppe gemeint. Sobald Herr Trescher diesen äußeren Bezugspunkt des Internatslebens verlässt und auf andere Aspekte des Spezialschullebens zu sprechen kommt, verflüchtigt sich die Diagnose des guten Miteinanders zugunsten des immer wiederkehrenden Insistierens auf der Tatsache, dass die Anderen viel weiter waren als er selbst: Ich denke, es war mir schon klar, was da läuft. Also dass ich jetzt schlechter war als die Anderen, das wusste ich ja. Darunter hab ich schon ein Stück auch gelitten, also gelitten bissel unter dem Aufholdruck. Das wusste ich sehr genau. Oder das war mir sehr bewusst. Dieses Gefühl des Aufholdrucks scheint so übermächtig gewesen zu sein, dass es nicht – wie etwa im Falle von Herrn Hauschka – durch andere Formen der Gemeinschaftsaktivitäten wie z.B. Sport kompensiert werden konnte. Es führte dazu, dass Herr Trescher sich als alleinstehenden Einzelnen wahrnahm, dem die Gesamtheit aller anderen Schüler gegenüberstand. Diese Selbstkonzeptualisierung als Fremdling macht es ihm unmöglich, in Cliquen zu denken – ja, überhaupt schon zur Wahrnehmung einer bestimmten Cliquenstruktur (z.B. Internatler vs. Dresdner) scheint er nicht in der Lage zu sein. Der offenkundige Minderheitenstatus ist bei ihm so ausgeprägt, dass ihm ein Blick für das Sozialgefüge innerhalb der Schülerschaft nicht möglich ist. Es gibt nur ihn und die Anderen. Ein ganz ähnlicher Zusammenhang wird in Frau Dahlkes Äußerungen hergestellt, die – wie im Kontext des Hauptfachbereiches zu sehen war – nach außen hin zwar mustergültig dem Typus einer »passenden« Schülerin entsprach, diese Passung allerdings nur gegen innere Widerstände aufrecht erhalten konnte. Ihr Grundgefühl, nicht aus freien Stücken zum Instrument und an die Spezialschule gekommen zu sein, führte auch bei ihr dazu, dass sie sich selbst als Fremdling an der Spezialschule wahrnahm. Das äußert sich nicht nur in Bezug zum Hauptfachkomplex, sondern gerade auch in ihrem Verhältnis zu den Mitschülern. Frau Dahlke kommt immer wieder darauf zu sprechen, dass sie sich mehr gegenseitige Zuwendung und stärkere Freundschaften gewünscht hätte. Dabei scheint sie sich gerade durch ihren Status einer nach außen hin besonders leistungsstarken Schülerin behindert gefühlt zu haben:
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Die Wettbewerbsvorbereitung […] hab ich auch wirklich schlecht verkraftet, weil ich da eben in dem letzten halben Jahr auch von den Anderen isoliert war. Ich hab auch die Abschlussveranstaltung, wo sich alle noch mal getroffen, was zusammen gemacht haben – das hab ich alles nicht mitgemacht wegen diesem Wettbewerb. Ich weiß auch nicht, was genau stattgefunden hat, aber mit Sicherheit war da noch mal ein Landheimaufenthalt oder so was. Und das hat mich schon, also das hat … Im Nachhinein finde ich, da fehlt ein Stück Leben.
Ganz wie bei Herrn Trescher – wenngleich unter umgekehrten Vorzeichen – gibt es hier nur sie und die Anderen. Frau Dahlke leidet unter genau jenen individuellen Förderplänen, die die Spezialschule für ihre besonders leistungsstarken Schüler bereithielt und die gemeinhin immer wieder als besonders positives Merkmal der Spezialschulen gewürdigt werden. Im Gegensatz zu Herrn Schaller, der – wie im Zusammenhang mit dem Hauptfach zu sehen war – die von der Schule zur Verfügung gestellten Möglichkeiten einer intensiven Wettbewerbsvorbereitung problemlos mit seinem Orientierungsrahmen verbinden konnte, erlebte Frau Dahlke diese Förderung vornehmlich als einen Zwang, durch den sie um ein Stück Leben gebracht wurde. In ihrer Wahrnehmung dominiert das Gefühl der Entfernung von ihren Mitschülern und als dessen Folge eine durchgehende Sehnsucht nach verbindlicheren Kontakten, die aber das Bewusstsein der Einsamkeit überhaupt erst richtig hervortreibt. Während bei Frau Dahlke und Herrn Trescher der Status als Fremdling durch die Erfahrung von Einsamkeit geschürt wird, ist es bei Herrn Braubach ganz im Gegenteil das Erlebnis einer besonderen Freundschaft, die ihm seine Stellung als Außenseiter innerhalb des schulischen Erfahrungsraumes erst richtig zu Bewusstsein bringt: Mir war damals noch nicht klar, dass es nicht nur immer auf die allerbrillanteste Technik ankommt, sondern dass man irgendwann später auch mal gefragt werden wird: »Was spricht sich eigentlich aus in deinem Spiel?« Und da hab ich lange im Trüben gefischt und war nicht getröstet. Ich hatte zwei Freunde. Das waren einfach Exoten, weil die sich nicht so reinstürzten in dieses Musikalische und nur noch Beethoven und Brahms gelten lassen. Die hatten eben auch ausgesprochenes Interesse an Geschichte und Philosophie und an Religiösem oder Angrenzendem oder Unaussprechlichem. Und nicht bloß die Skalen eines Geigers, die er täglich abzumarschieren hatte auf seinem Griffbrett. Und die Konzerte, die man dann eben gefälligst zu vergöttern hat. Und die Solisten, die man in einem fort als Idole sah. Da war einfach ein ganz anderes Interesse. Und in deren Nest bin ich irgendwie gefallen. Und es passte auch zu mir. Aber trotzdem musste ich wieder meinen eigenen Weg gehen, weil beide nämlich auch eigentlich Revoluzzer waren, was die Musikkultur betraf. Also die hätten mich zum anderen Stern geführt. Ich war eben trotzdem weiter dann fleißig.
Durch die Freundschaft mit den beiden Revoluzzern wird Herrn Braubach der deutliche Gegensatz zwischen ihm und jenen Spezialschülern bewusst, die täglich ihre Skalen auf dem Griffbrett abmarschieren. Anders als bei Frau Dahlke und Herrn Trescher eröffnet ihm diese Freundschaft einen kritischen Blick auf den von den Dresdner Olympiakämpfern dominierten schulischen Erfahrungsraum. Allerdings schreckt Herr Braubach davor zurück, diese Außenseiterposition in eine Totalopposition abgleiten zu lassen:
202 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Aber, das war schon auch so, dass eben immer diese beiden Wege auch zur Auswahl standen, seit ich dann diese Freunde hatte in der Spezialschule. Die sich auch anschickten irgendwie das hinzuschmeißen. Der eine hat’s dann wirklich gemacht und der andere, der musste dann auch den Beruf aufgeben, obwohl er’s nicht wollte. Also, es hat sich bewahrheitet, dass ich meinen Weg alleine irgendwie gehen musste. Ich musste meine Probleme dann eben selber lösen.
Der Weg, den Herr Braubach beschreitet, ist einsam. Die Freundschaft mit den zwei Exoten öffnet ihm zwar den Blick für den als eng und begrenzt wahrgenommenen Erfahrungsraum, führt aber nicht zum Bruch mit ihm. Anders als die entschlossenen B-Typ-Vertreter Frau Thalheim und Frau Groß begreift er sein Dabeibleiben nicht als Herausforderung, an der er persönlich wachsen kann. Es dominiert eine innere Distanz zum Schulbetrieb, die nicht durch einen Selbstappell an das eigene Leistungsvermögen zu kompensieren ist. Im Gegensatz zu Frau Senff, Herrn Trescher und Frau Dahlke, die sich wider Willen mit der Rolle des Fremdlings arrangieren müssen, übernimmt er diese Rolle jedoch sehr bewusst. Er weiß, dass er nicht richtig dazugehört, bleibt aber trotzdem. Seine Fremdheit ist selbstgewählt. Wie eingangs bereits angedeutet, findet sich nur im Orientierungsrahmen des A-Typs eine Verschmelzung im Erleben von musikalischen Aktivitäten und sozialen Interaktionen mit den Mitschülern. Freundschaften sind hier fast durchweg MusikerFreundschaften. Wo dies nicht der Fall ist (wie bei Herrn Dürer), wird dennoch deutlich, dass die scheinbar musikfreien und »normalen« Beziehungen zu den Mitschülern durchweg auf das eigene Musizieren bezogen bleiben – dient ihm die Existenz derartiger Beziehungen doch als Beleg für die eigene Besonderheit. Die Möglichkeit solcher Musiker-Freundschaften scheint dabei zumindest teilweise auch mit der Zugehörigkeit zu bestimmten Cliquen verbunden gewesen zu sein, die nun aber – wie zu sehen war – nicht aus den freien Interaktionen der Schüler untereinander erwuchsen, sondern einer dem Erfahrungsraum Spezialschule impliziten Vorstrukturierung folgten. Diese Vorstrukturierung führte dazu, dass sich eine Gruppe leistungsstarker und häufig aus Dresden stammender Instrumentalisten als tonangebende und dominante Kraft innerhalb der Schülerschaft formieren konnte. Schülerinnen wie Frau Trenkler mussten trotz guter Leistungen die Erfahrung machen, nicht ganz dazuzugehören. Die starke Dominanz dieser Gruppe erzeugte, ohne dass die Beteiligten dies aktiv hätten betreiben müssen, Ausgrenzungen, die insbesondere die Vertreter des C-Typs zu spüren bekamen. Auffallend ist dabei, dass – mit Ausnahme von Herrn Braubach – die »Fremdlinge« diese Ausgrenzung gar nicht mit einer bestimmten Gruppe in Verbindung bringen, sondern pauschal von den Anderen sprechen. Als »Fremdlinge« sind sie weder in der Lage, zu erkennen, dass andere auch einsam sind, geschweige denn befähigt, sich mit diesen Anderen zu einer Gruppe zusammenzutun. Über genau diese Fähigkeit verfügt jedoch der B-Typ. Da sich die Vertreter dieses Typs nicht primär über die Musik definieren und auch andere Interessensgebiete kennen, können sie ungeachtet der beschriebenen Vorstrukturierung Freundschaften bilden und pflegen – Freundschaften, die nicht primär aus dem gemeinsamen Musizieren erwachsen. Und wenn sich die berichteten Gemeinschaftserlebnisse – wie im Falle von Frau Thalheim – auf musikalische Aktivitäten beziehen, dann sind es interessanterweise informelle, aus dem Moment heraus entstehende Musiziersituationen, die thematisiert werden. Gerade hieran zeigt sich, wie treffend die Charakterisierung
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dieses Typs als »Schüler« ist: Obgleich sie sich mit den Inhalten der Ausbildung weitgehend identifizieren, bewahren die Vertreter dieses Typs dennoch eine gewisse Distanz zu den schulischen Inhalten. Die musikalisch-instrumentale Ausbildung wird von ihnen – wie im Zusammenhang mit dem Hauptfach festzustellen war – vornehmlich im Sinne eines Schulfachs begriffen, dessen Inhalte zwar durchaus der eigenen Motivationslage entsprechen, die für die Beteiligten aber dennoch ein Moment des Fremdbestimmten enthalten. Die instrumentalen Anforderungen sind im Grunde ein Schulstoff, der sich von den vorgegebenen Inhalten eines andern Faches (und sei es ein Lieblingsfach) nicht grundsätzlich unterscheidet. Als Antwort auf diese Fremdbestimmung finden entweder – wie im Falle von Frau Thalheim – explizite Solidarisierungen statt oder es kommt zu spontanen Gruppenbildungen, die jenseits der vorstrukturierten Grenzen erfolgen und sich häufig auf Gemeinschaftsaktivitäten wie Fußballspielen, gemeinsame Landheimaufenthalte, spontane Musiziersituationen etc. beziehen. Man kann das natürlich auch ins Negative wenden: Der Typ B hat anscheinend keine Möglichkeit, jene Verschmelzung von musikalischer Aktivität und Freundschaft zu erfahren, die den A-Typ auszeichnet. Dies wiederum passt zu der im Zusammenhang mit dem Hauptfachunterricht getroffenen Feststellung, dass es bei diesen Schülern so gut wie nie zu einer eigenständigen Thematisierung musikalischer Inhalte kommt. 3.4.2 Sinngenetische Typenbildung Ausgehend von dieser Beschreibung können wir nun unsere Typenbildung weiter komplettieren. Die Analyse unseres Samples hat ergeben, dass sich – von wenigen Ausnahmen abgesehen – auch das Sozialgefüge innerhalb der Schülerschaft vollständig in unsere bisherige Typologie einfügen lässt. Das weist eindringlich darauf hin, dass sich das Passungsverhältnis des Einzelnen zum schulischen Erfahrungsraum nicht durch ein alleinstehendes Merkmal wie etwa instrumentale Leistungsfähigkeit definieren lässt. So wichtig dieser Aspekt zweifellos ist, scheint er doch mit einer ganzen Reihe anderer Faktoren verknüpft gewesen zu sein – mit Faktoren, die auf den ersten Blick erst einmal gar nichts mit der musikalischen Ausbildung im engeren Sinne zu tun haben. Um zum Hauptfachbereich passen zu können, mussten zugleich andere Faktoren wie das Verhältnis zu den allgemeinbildenden Fächern oder zu den Mitschülern eine bestimmte qualitative Ausprägung besitzen. An der Spezialschule ging es also letztlich um mehr und um anderes als nur um die Herausbildung instrumentaler Exzellenz: Auf der konjunktiv-impliziten Ebene scheint die wesentliche Aufgabe vor allem in der Förderung eines bestimmten Musikertypus bestanden zu haben. Wer diesem Typus nicht entsprach, stieß schnell an Grenzen, die sich vor allem indirekt zeigten: Beim B-Typ kam es zu einer Verinnerlichung der eigenen Durchschnittlichkeit. Hierdurch nahmen die musikalischen Ausbildungsinhalte den Charakter eines Schulstoffs an, den man – so gut es eben ging – zu erfüllen versuchte. Als Konsequenz dieses schülerhaften Verhaltens erwuchs aber zugleich eine Öffnung für alles, was diesen Erfahrungsraum sonst noch prägte: andere Wissensgebiete und gemeinschaftliche Aktivitäten. Die Entwicklung einer eigenständigen, mit den jeweiligen individuellen Voraussetzungen im Einklang stehenden Musikerbiografie war für diesen Schülertyp jedoch in diesem Rahmen nicht möglich. Bei Typ C zeigen
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sich die Grenzen der Passung in der Vergeblichkeit, in der versucht wird, den eigenen, als anders empfundenen Orientierungsrahmen mit dem implizit gewünschten Typus in Verbindung zu bringen. Das Scheitern dieses Versuchs erzeugte und verstärkte eine innere Fremdheit, die sich auch auf die Beziehungen zu den Mitschülern erstreckte. 3.4.2.1 Inhaltliche Aspekte im Überblick
Rollenidentität & Beziehungsgefüge
Persönlichkeitsentfaltung & Berufsorientierung
Leistung & Begabung
Sinngenetische Typologie III (Inhaltsdimension): Verhältnis zu den Mitschülern Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Leistung und Begabung sind dominierende Faktoren, die auch das Zusammenleben und das Verhalten gegenüber den Mitschülern bestimmen.
Leistung und Begabung spielen bei der Wahl der Freunde und den gemeinschaftlichen Aktivitäten keine Rolle. Es besteht eine deutliche Trennung zwischen schulischen Leistungsanforderungen und »privaten« (auch gemeinsamen musikalischen) Aktivitäten.
Das Gefühl, den Anforderungen nicht zu genügen, führt auch zu sozialer Vereinsamung.
Das Verhältnis zu den Mitschülern wird vollständig in die eigene musikalische Biografie integriert.
Das Verhältnis zu den Mitschülern existiert außerhalb der musikalischen Fokussierung der Ausbildung.
Das Verhältnis zu den Mitschülern ist distanziert und belastet durch das Bewusstsein der eigenen Fremdheit.
Freundschaften manifestieren sich als Beziehungen, die unmittelbar mit dem Selbstverständnis als Musiker und Künstler verbunden sind.
Freundschaften und gemeinschaftliche Erlebnisse werden als eigenständiger Wert begriffen und gelebt.
Intensive, bereichernde Freundschaften kommen nicht zustande oder untermauern den Außenseiterstatus (Braubach).
Selbstverständliche Einordnung in Cliquen, die den dominanten Orientierungsrahmen verkörpern (Ausnahme: Trenkler, die von außen kommt und im Sozialgefüge der Schülerschaft nicht heimisch wird).
Die durch den dominanten Orientierungsrahmen vorstrukturierten Gruppenbildungen werden durch eigene Aktivitäten teilweise aufgelöst.
Der eigenen Rolle als »Fremdling« stehen pauschal alle anderen Schüler gegenüber (Tendenz zum Einzelgänger).
Tendenz zur Ausgrenzung anderer Orientierungsrahmen (Schaller, Gundolf: ignorierend; Dürer, Leininger: distinktiv).
Es besteht eine grundsätzliche Offenheit gegenüber spontanen und übergreifenden Gruppenbildungen. Sie umfasst die ganze Schüler- bzw. Klassengemeinschaft.
Keine bzw. nur »exotische« (Rand-) Gruppenbildung. Damit sind kompensierende Solidarisierungen der Schüler untereinander kaum möglich.
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3.4.2.2 Strukturtheoretische Aspekte im Überblick
Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Ebene desSymbolischen
Sozialbeziehungen werden vollständig in die eigene Musikerbiografie integriert.
Freundschaften und Zugehörigkeiten werden nicht primär über die Musik definiert.
Distanz gegenüber den »Anderen« (eingeschränkte Zugehörigkeit und Beziehungslosigkeit).
Ebene des Imaginären
Sinngenetische Typologie III (strukturtheoretische Dimension): Verhältnis zu den Mitschülern
Spezialschule als BegegSpezialschule als Rahmen Spezialschule als Ort der nungsstätte und Lebensort für vielfältige FreundEinsamkeit und der Entfür Angehörige der Musik- schaften und Beziehungen. fremdung. familie.
3.4.2.3 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen Gleichheit und Ungleichheit Aus den Berichten der Befragten zeichnet sich ein schulischer Erfahrungsraum ab, dessen implizite Regeln auch die Interaktionen innerhalb der Schülerschaft deutlich mitbestimmten. Nähe und Distanz, Macht und Ohnmacht waren nicht das Ergebnis zufälliger zwischenmenschlicher Konstellationen, sondern ergaben sich aus den ungeschriebenen Gesetzmäßigkeiten der Schulkultur, die von den Schülerinnen und Schülern ihrerseits maßgeblich mitgeprägt wurde. Mitgeprägt natürlich weniger im Sinne eines kommunikativ zugänglichen Entscheidungsspielraumes, sondern vor allem in Form eines vorstrukturierenden konjunktiven Wissens, an dem sich die Interaktionen der Schüler orientierten. In diesem konjunktiven Wissen scheint eine Antinomie auf, die wir in anderer Form bereits im Zusammenhang mit dem Hauptfachbereich kennengelernt haben: Die Antinomie zwischen Gleichheit und Ungleichheit. Jede schulische Institution, unabhängig von ihrer Zielsetzung und dem sie umgebenden politischen System, ist dadurch gekennzeichnet, dass die Gruppe der Schüler zunächst unter der Maßgabe absoluter Gleichheit angesehen wird (vgl. Luhmann 2002, S. 127 f.). Wie unterschiedlich die Ausgangsvoraussetzungen des Einzelnen auch sein mögen: Der von der Schule verfügte Stoffplan und die Prüfungsanforderungen werden doch als verbindlich für alle angesehen. Erst in einem zweiten Schritt – wenn sich nämlich zeigt, dass es Schüler gibt, die beispielsweise bei Prüfungen erfolgreicher abschneiden als andere – werden Unterschiede in dem Sinne gemacht, dass »besondere« Schüler besondere Förderung erfahren. Pointiert formuliert: Die von jeder Schule erzeugten Ungleichheiten bedürfen zunächst der Annahme einer prinzipiellen Gleichheit, denn sonst könnte man diese Ungleichheiten gar nicht erkennen. Es ist wie in der Leichtathletik: Um festzustellen, wer der beste Sprinter ist, müssen alle 100 Meter laufen. Allerdings ist zu bedenken, dass die den Schülern zugeschriebene Gleichheit Personen gilt, die aufgrund ihrer völlig unterschiedlichen Sozialisationsbedingungen erst einmal als absolut Ungleiche an die Schule kommen. Schulische Institutionen negie-
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ren diese Ungleichheit, setzen das Gleichheitsprinzip durch, um auf dieser Basis dann erneute Ungleichheiten zu erzeugen. Die Luhmann’sche Systemtheorie bezeichnet diesen Wiedereintritt des zuvor Ausgeschlossenen mit dem Begriff des »Re-Entry«. Niklas Luhmann sah in diesem Vorrecht schulischer Institutionen, Ungleichheiten auf der Basis einer zuvor angenommenen Gleichheit – die ihrerseits sozialisationsbedingte Ungleichheiten negiert – mittels Selektion definieren zu können, ein generelles Merkmal für das, was er die »Ausdifferenzierung des Erziehungssystems« nannte: »Das Erziehungssystem behandelt also Ungleiches als gleich, um die daraus entstehenden Ungleichheiten sich selbst zurechnen und mit den Mitteln seiner Selektionsverfahren markieren zu können. Das entspricht den Postulaten des Gleichheitsprinzips, die sich im 18. Jahrhundert durchgesetzt haben und auch für andere Funktionssysteme fordern, dass keine Ungleichheit als durch die Natur gegeben hingenommen werden darf, sondern in allen Fällen auf die Teilnahme an Funktionssystemen zurückzuführen ist, also auf diese beschränkt bleibt und folglich als temporär und als kontingent, also als korrigierbar zu gelten hat.« (Ebd.)
Zu den Mitteln, mit denen Schule das Gleichheitsprinzip durchzusetzen bestrebt ist, zählt nicht allein der Umstand, dass alle Schüler mit exakt denselben Mindestanforderungen konfrontiert werden, sondern ebenso auch die Tatsache, dass kein Schüler etwa aufgrund privilegierter Herkunft Sonderrechte beanspruchen kann. Dieser Gleichheitsimperativ regelt – was zumeist weniger beachtet wird – auch das Verhältnis der Schüler untereinander. Auch wenn Schüler unter sich sehr schnell Unterschiede erzeugen, indem sie sich selber als »gut« oder »schlecht«, als »Streber« oder »Kamerad« attribuieren, so konstruieren sie derartige Differenzen doch vor dem Hintergrund der Tatsache, dass sie sich selbst erst einmal die identische Rolle und damit eben eine prinzipielle Gleichheit zuschreiben. Als Schüler sitzen alle im selben Boot. Erst unter der Voraussetzung, dass der Abstand jedes Einzelnen zum schulischen System – zu den Lehrern, den Leistungsanforderungen etc. – als exakt gleich groß angenommen wird, können Schüler registrieren, dass einige von ihnen besser, angepasster, lässiger oder verkrampfter sind als andere. Wobei sie – wie in aller Regel auch die Lehrer – diese Unterschiede nicht der Institution zuschreiben, sondern dem Charakter bzw. der Persönlichkeit ihrer Mitschüler. Anders als es Luhmann für die Eigenlogik der schulischen Institution geltend machte, behandeln sie damit Unterschiede als »durch die Natur gegeben« (ebd.). Bourdieu hätte hier ein zentrales Verschleierungsprinzip erkannt: Die Akteure einer Schule neigen dazu, die durch die Institution vorgenommenen Ungleichheiten als naturhaft hinzunehmen, wo sie doch offenkundig zunächst einmal durch die Setzung eines für alle geltenden und von allen mitgestalteten Orientierungsrahmens erzeugt werden. Unterschiede, die sich nicht auf die Natur (in Form eines statischen Persönlichkeitsbegriffs) zurückführen lassen, werden hingegen misstrauisch beäugt. Ihnen haftet etwas Illegitimes an – etwas, das die durch die identische Rolle gestiftete Gleichheit mit quasi unlauteren Mitteln unterläuft. Ein Musterbeispiel hierfür ist Herr Dürer, der sich einerseits als besonders begabt darstellt (legitime, angeblich durch die Natur gestiftete Ungleichheit) und der andererseits kritisch registriert, dass manche seiner Mitschüler zu Hause weggesperrt wurden, um ihre Leistung zu erbringen. Hinter dieser Formulierung steckt der unausgesprochene Vorwurf, dass bei diesen
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Mitschülern mit künstlichen – und das heißt letztlich: mit illegitimen – Mitteln versucht wurde, die legitime natürliche Ungleichheit zu beeinflussen. Diese ist in seinen Augen dadurch definiert, dass die mit ihr verbundene erhöhte Leistungsfähigkeit gerade nicht das Ergebnis eines besonderen Arbeitsverhaltens ist. Deshalb ist ja die Betonung des schnurz-normalen Schülerlebens für seine Argumentation von so großer Wichtigkeit. Diese Normalität, hinter der ja im Grunde nichts anderes als eine Beschwörung von Gleichheit steckt, ist eine notwendige Voraussetzung, um sich selbst als ungleich (= besonders) darstellen zu können. Die Analyse der Interviews zeigt nun aber, dass sich der Gleichheitsimperativ, den Herr Dürer zur Darstellung seiner Besonderheit benötigt, in einem schulischen Erfahrungsraum realisierte, in dem es keineswegs gleiche Chancen für alle gab. Zwar war es auf der Ebene des kommunikativen, d.h. sprachlich zugänglichen Wissens eine ausgemachte Sache, dass bei entsprechender Begabung und entsprechendem Fleiß jeder Schüler jener besonderen Passung teilhaftig werden konnte, die die Vertreter des A-Typs erfuhren. Auf der Ebene des konjunktiven Wissens haben wir freilich sehen können, dass diese besondere Passung nicht nur an eine objektiv messbare Leistungsfähigkeit, sondern zugleich an einen bestimmten dominanten Orientierungsrahmen gekoppelt war, in den auch Aspekte der Herkunft und des familiären Lebensstils hineinspielten. Die Dominanz dieses Orientierungsrahmens war nicht das Ergebnis eines offiziellen, kommunikativ formulierbaren schulischen Selbstbildes. Im Gegenteil zeigt das Interview mit Frau Erxleben, dass die Schulleitung durchaus bestrebt war, etwa die Sonderrechte der Dresdner Verwöhnplätze nicht Überhand nehmen zu lassen. Ein wichtiger Träger dieser Ungleichheit war die Schülerschaft selbst, die aus sich selbst heraus die Dominanz eines bestimmten Orientierungsrahmens erzeugte. Dieser Orientierungsrahmen regelte, was anerkannt war und was nicht. Das grübelnde Forschen und Suchen eines Gernot Brauchbach passte dort nicht herein und erzeugte bei diesem ein Gefühl der Fremdheit. Natürlich lässt sich diese Fremdheit auch durch den schlichten Hinweis erklären, dass Herr Braubach leistungsmäßig einfach nicht mit den Dresdner Olympiakämpfern mithalten konnte. Aber um diese Leistungsdifferenz zu einem Unterscheidungskriterium im Sinne von »passend« und »weniger passend« werden zu lassen, bedurfte es eben jenes dominanten Orientierungsrahmens, der regelte, welche Form von Leistungsfähigkeit Anerkennung fand und welche nicht. Herrn Braubachs Suche nach dem, was sich eigentlich in seinem Spiel ausspricht sowie seine Abneigung gegen diesen PaganiniStil und dieses Vortäuschen von Emotionen entsprach in seinen Augen nicht dem dominanten Orientierungsrahmen seiner Mitschüler und führte zu seiner Außenseiterstellung. Der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule war also schon bevor durch offizielle Operationen wie Prüfungen, Wettbewerbe etc. Unterschiede erzeugt wurden von einem hierarchischen Gefälle gekennzeichnet. Der Gleichheitsimperativ realisierte sich auf einem äußerst ungleichen Boden, der keineswegs allein als Konsequenz unterschiedlicher biografischer Voraussetzungen zustande kam. Die Unterschiede der primären familiären Sozialisation bildeten lediglich eine Vorprägung, die im sozialen Gefüge der Schule verstärkt und ausgebaut wurde, was sich etwa – wie beschrieben – an bestimmten Cliquenbildungen zeigt, die nicht den zufälligen Interaktionen einzelner Individuen entsprangen, sondern Konsequenz impliziter konjunktiver Regeln waren. Mit anderen Worten: Während das kommunikativ zugängliche
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Wissen der Akteure vom Grundsatz strikter Gleichheit ausging, auf dessen Basis dann Unterschiede erzeugt wurden, offenbart sich im konjunktiven und impliziten Wissen das Bewusstsein einer vorgängig vorhandenen umfassenden Ungleichheit.
3.5 P OLITISCHE E INFLÜSSE AN DER S PEZIALSCHULE UND IHRE AUSWIRKUNGEN AUF DIE O RIENTIERUNGSRAHMEN Als unsere Forschungsgruppe im März 2014 erstmals im Rahmen eines Kolloquiums der Sächsischen Akademie der Wissenschaften in Leipzig über das Spezialschulprojekt referierte, wurden in der anschließenden Diskussion kritische Stimmen laut. Insbesondere wurde uns vorgehalten, dass wir die Dimension des Politischen in unseren Ausführungen weitgehend unbeachtet gelassen hatten. Die Personen, die diesen Vorwurf artikulierten, waren – wie sich im Nachgespräch herausstellte – ehemalige Schülerinnen und Schüler der Spezialschulen in Weimar und Halle, deren Erinnerungen in hohem Maße von Drangsalierungen und politisch motivierten Repressalien durchsetzt waren. Insbesondere die Schüler aus Weimar erinnerten sich an ständige Appelle und politisch motivierte Willkür-Entscheidungen durch die Schulleitung. Dass es sich bei diesen Berichten um mehr als versprengte Zufallserinnerungen Einzelner handelte, zeigt ein Blick in die Überblicksdarstellung von Reinhard Schau. »Die Weimarer ›Spezialschule für Musik‹ dürfte die einzige Einrichtung in der DDR gewesen sein, an der Schüler und Lehrer an jedem Schultag zum Fahnenappell anzutreten hatten.« (Schau 2010, S. 162) […] Der Schulleiter führt sein Institut als exakter Planer. In rotes Kunstleder eingebundene Arbeitspläne geben jeder Lehrkraft Schuljahr für Schuljahr Orientierung, welche Ziele zu verfolgen und zu erreichen sind. […] Nach Personal- und Funktionsverzeichnis […] benennt der planende Verfasser den ersten Arbeitsschwerpunkt: ›Zur Verbesserung der staatsbürgerlichen Erziehung‹, unterscheidet exakt zwischen ›Befähigung der Lehrer‹ und ›Zur staatsbürgerlichen Erziehung der Schüler‹ und untergliedert noch ›im unterrichtlichen‹ und ›außerunterrichtlichen Bereich‹.« (Ebd., S. 135 f.)
Den acht Seiten zur ›Staatsbürgerlichen Erziehung‹ folgen knappe zwei ›Zur Verbesserung der fachlichen Ausbildung‹. Sie listen Selbstverständlichkeiten auf: »Der Übungsplan ist sorgfältig auszuarbeiten.« (Ebd., S. 136) [Der Arbeitsplan] »für das Schuljahr 1978/79 umfasst […] 116 Seiten.« (Ebd., S. 137) Die Kritik dieser Weimarer Absolventen veranlasste uns dazu, unser Material noch einmal kritisch zu sichten. Konnte es sein, dass wir bei unserer Rekonstruktion des konjunktiven Erfahrungsraumes ein derart entscheidendes Gegenstandsgebiet schlichtweg übersehen hatten? Zunächst schien vieles unser Vorgehen zu rechtfertigen: In der Tat spielten politische Aspekte in den Erinnerungen unserer Interviewpartner durchweg eine marginale Rolle. Allerdings mussten wir einräumen, dass wir auch nicht systematisch danach gefragt hatten. Zwar hatten wir in einer Reihe von Fällen – nämlich immer dort, wo es sich ergab – das Thema des Politischen zu vertiefen versucht. Wo die Befragten aber nicht von sich aus darauf zu sprechen kamen, hatten wir in aller Regel auf entsprechende Gesprächslenkungen verzichtet, so dass
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unser Material in dieser Hinsicht keinen systematischen Vergleich zulässt. Diese Ausblendung war kein bloßes Versäumnis, sondern hing eng mit unserem Erkenntnisinteresse zusammen: Bei der Rekonstruktion eines konjunktiven Erfahrungsraumes dürfen die thematischen Schwerpunkte schließlich nicht von den Forschern vorgegeben werden. Das Maß aller Dinge müssen die Relevanz-Setzungen der Befragten selbst sein – und die schienen in unserem Fall den politischen Aspekten eindeutig eine untergeordnete Rolle zuzuweisen. Natürlich hätten wir im exmanenten Nachfrageteil die Möglichkeit gehabt, uns nach Aspekten zu erkundigen, die zuvor nicht thematisiert worden waren. Allerdings hatte unser Erstkontakt mit dem Feld, der aus informellen Vorgesprächen und der Fragebogen-Aktion bestand, keinerlei Veranlassung geboten, diesen Themenbereich allzu sehr in den Vordergrund zu stellen. Dennoch stellte sich natürlich gerade in methodischer Hinsicht die Frage, ob die NichtErwähnung eines Themas wirklich dessen Irrelevanz für den konjunktiven Erfahrungsraum belegt. Kann es nicht sein, dass die Befragten einen Gegenstand, der für sie selbst möglicherweise heikel ist, bewusst aussparen und so zu einer Verzerrung beitragen? Diese Frage führte uns dazu, dass wir die Äußerungen unserer Gesprächspartner zu den politischen Aspekten des Spezialschullebens noch einmal mit besonderer Aufmerksamkeit lasen. Was sich zunächst zeigte, war eine über die Typengrenzen hinweg bestehende Einigkeit darüber, dass die Dresdner Spezialschule eine »Nische« war, in der politische Fragen weitgehend ausgeblendet werden konnten. Einige Beispiele: Martin Gundolf: Die Frau Erxleben hat im Grunde genommen für uns so ’ne Käseglocke aufgebaut. Also, sie hat eigentlich die Kunst dort bewahrt, um uns vor den ganzen politischen Wirren des normalen DDR-Alltags so ein bisschen zu bewahren. Im Gegensatz zur Kreuzschule. Der Kreuzschuldirektor hat extrem Einfluss genommen auf diese Kreuzklassen. Der wollte genau wissen, was das für Kinder sind. Die sind ja dann auch schon in den Westen gefahren. Da wollten sie wissen, welche Überzeugung die Kinder haben, welches Radio sie hören, wie arm und reich und was das für Kinder sind. So war das bei uns nicht. Also man muss wirklich sagen, die Frau Erxleben hat da aus der Schule, die künstlerisch orientiert war, ’ne richtige Kunstschule gemacht. Christiane Trenkler: Die Ausbildung hier an der Schule war viel, viel besser als in Berlin. Also, ich bin im Nachgang sehr froh, dass alles so gelaufen ist. Interviewerin: Woran würden Sie das festmachen? CT: Ich würde es festmachen an der allgemeinen künstlerischen Atmosphäre. An den Nebenfächern: Tonsatz, Gehörbildung, Klavier. Diese ganzen Sachen, die wirklich wichtig sind, waren hier an der Schule wichtig. Wurden als wichtig erachtet. Und wurden auch von den Lehrkräften sorgfältig bedient. Was in Berlin alles irgendwie nicht so war. I: Da ging’s dann hauptsächlich ums Hauptfach? CT: In Berlin ging’s nur ums Hauptfach. Und da ging’s natürlich um die Linientreue. Da war so viel marxistischer Unterricht, der hier natürlich auch war, der hier aber bei weitem nicht diese Bedeutung hatte. Und wahrscheinlich von den übergeordneten Organen auch nicht so abgefragt wurde wie in Berlin. I.: Also, Sie hatten den Eindruck, dass das in Berlin irgendwie beobachtet wurde?
210 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE CT: Natürlich. Es wurde überall beobachtet. Es wurde auch in Dresden beobachtet. Aber nicht in dem starken Maße. Ich glaube, wenn man hier an der Schule als Lehrkraft angestellt war, hatte man wesentlich mehr Freiheit als in Berlin. Und diese Dresdner Art, die ja bis heute da ist – also, dass man sich für die Prozesse Zeit lässt, dass man sorgfältig und nicht so unter Zeitdruck arbeitet, dass man Räume lässt – das ist ja bis zum heutigen Tage in der Arbeitsweise eigentlich auffällig. Das ist natürlich für ’ne künstlerische Entwicklung im frühen Alter auf jeden Fall zuträglich. Albert Leininger: Sie haben ja überall in der DDR dieses starke gesellschaftliche Reinregieren gehabt – mit Pionierleitern und FDJ und Zeug und so. Auch die Lehrer, die mussten mitmachen. Da gab’s zum Beispiel das Parteilehrjahr – ich hab bis heute nie verstanden, was das eigentlich gewesen ist. Das konnte man aber ausblenden und an der Spezialschule wurde das besonders geschickt ausgeblendet. Also diese ganz grobe politische Ausrichtung und Steuerung, die war bissel ausgeblendet. Sie haben immer irgendwie das Gefühl gehabt, hier gibt es nicht diese Politik und nicht dieses rote Gewürsche, was anderswo herrscht. Also, ich will sogar so weit gehen, Ihnen sagen, dass diese Unterschiede – und da muss ich nun wieder ein großes Lob für Dresden sagen – wenn Sie nach Leipzig an die Hochschule gegangen sind, da wehte ein anderer Wind. Das hing auch sicher mit den Personen zusammen, die so’n Institut leiten und mit dem Geist, der in ’ner Stadt wohnt. Und wir haben – ich sage das wirklich so – wir haben das zum Teil ausgeblendet. Claudia Thalheim: Im Großen und Ganzen war die Schule schon eine Nische, muss man sagen. Also für Leute, die jetzt nicht die Parteikarriere machen wollten oder so. Das ist … Na ja, »geschützter Raum« wäre vielleicht ein bissel zu viel gesagt, aber so bisschen in die Richtung ging’s schon. Und nicht nur für die Schüler, sondern auch für die Lehrer. Hans Trescher: Und im Vergleich zu anderen Spezialschulen – was man so gehört hat – Weimar oder Berlin, war Dresden glaub ich so ein bissel ’ne Oase, wo man mit irgendwelchem (…) kommunistischem Kram dann … Ich meine: Klar, was so dran war, war dran, Staatsbürgerkunde in der Schule … Aber es hielt sich sehr in Grenzen. Und ich könnte mir vorstellen, dass vielleicht Frau Erxleben oder so – eben so die Direktoren –, dass die da einfach bissel mehr Weitsicht hatten und da in dieser Hinsicht so’n bissel den Ball flach gehalten haben.
Bevor man vorschnell Einigkeit feststellt und die Sache damit für erledigt hält, sollte man sich einschränkend zwei Dinge bewusst machen: Einmal handelt es sich bei diesen Äußerungen ausnahmslos um das, was in der Textsortentheorie Fritz Schützes als »Argumentation« bezeichnet wird (vgl. Küsters 2009, S. 78). Die Befragten erzählen nicht, sondern verleihen ihrer Überzeugung Ausdruck. Damit unterliegen all diese Textstellen der Gefahr, dass in ihnen eine nachträgliche Bewertung formuliert wird, die ja immer auch – ohne dass dies den Beteiligten bewusst sein müsste – eine Umbewertung sein kann. Denn Überzeugungen bilden ja nie nur das ab, worauf sie sich beziehen, sondern sind notwendigerweise vom Interesse des Sprechers getragen, dass der Sachverhalt, den er darstellt, so und nicht anders gewesen ist. Sie werden aber gerade deshalb immer auch von Werthaltungen gespeist, die über den Gegenstand, an dem sie sich entzünden, hinausgehen. Das konjunktive Wissen hingegen, nach dem wir suchen, zielt ja genau auf die unfreiwillig mitschwingenden Teile der Äußerungen ab; es bezeichnet ein Wissen, von dem, wie wir im Methodenkapitel
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ausgeführt haben, die Beteiligten oftmals selbst nicht wissen, dass sie es überhaupt besitzen und dass sie deswegen auch kaum beeinflussen können. Genau dieses konjunktive Wissen ist aber umso schwerer zu greifen, je bewusster die Beteiligten im Sinne von Argumentationen formulieren. Zweitens – und das hängt eng mit dem gerade Gesagten zusammen –, muss darauf hingewiesen werden, dass zumindest zwei der hier zusammengetragenen Äußerungen von Befragten stammen, die während ihrer Spezialschulzeit politische Funktionen ausübten. Die Möglichkeit, dass in den artikulierten Überzeugungen mehr oder minder unbewusst ein Filter eingebaut ist, der bestimmte Aspekte schlichtweg ausblendet, sollte immerhin im Auge behalten werden. Ungeachtet dieser beiden wichtigen Einschränkungen tendieren wir doch dazu, den hier zusammengetragenen Äußerungen einige Relevanz zuzuerkennen. Denn zum einen ist zu bedenken, dass die Einschätzungen sich auf alle drei Typen verteilen. Auch ein Schüler wie etwa Hans Trescher – dessen nachträglich kritische Einstellung gegenüber der Spezialschule keinen Grund erkennen lässt, hier etwas schönreden zu wollen – findet mit Blick auf die politische Dimension immerhin die Metapher der Oase, die ihm in Hinblick auf andere Dimensionen sicher nicht über die Lippen gekommen wäre. Zum anderen darf nicht übersehen werden, dass viele der Befragten ihre generelle Einschätzung mit einander ähnelnden Gründen unterfüttern: Die Hinweise auf den besonderen Führungsstil von Frau Erxleben erfolgen zu unabhängig voneinander, als dass man sie als nachträgliche Bemäntelung kleinreden darf. Gerade der häufige Hinweis auf die Ära Erxleben macht aber hellhörig für Berichte, die vor dieser Zeit, also aus den Jahren 1965–1973, stammen. Vergleicht man diese Berichte mit jenen Interviews, die sich auf die spätere Zeit beziehen, so kann man die Feststellung treffen, dass Metaphern wie etwa Nische, Oase oder Käseglocke ausschließlich von Schülern verwendet wurden, deren Schulzeit zumindest zum Teil in die Jahre nach 1973 fiel. Bei älteren Schülern finden sich hingegen deutlich andere Akzentuierungen. Stärker als in den Themenbereichen »Hauptfach«, »Allgemeinbildung« und »Mitschüler« ist es also notwendig, bei der Auseinandersetzung mit dem Thema »Politik an der Spezialschule« die Möglichkeit zeitgeschichtlicher Veränderungen zu berücksichtigen. Im Folgenden werden wir uns daher zunächst mit einigen Äußerungen aus der Frühzeit der Spezialschule beschäftigen und dann vergleichend Erinnerungen aus späterer Zeit hinzuziehen. Auch hier ist allerdings zu bedenken, dass es uns nicht um eine »objektive« Darstellung der Sachverhalte im Sinne historischer Forschung geht. Unser leitendes Erkenntnisinteresse gilt der Frage, wie die jeweiligen Orientierungsrahmen das Thema Politik verarbeitet haben, in welchem Verhältnis diese Verarbeitungen zu unserer Typologie stehen und welche Rückschlüsse auf den konjunktiven Erfahrungsraum sich daraus ziehen lassen. Wie wir sehen werden, hängt der Umgang mit diesem Themenfeld eng mit der Art und Weise zusammen, in der die einzelnen Schüler die Spezialschule insgesamt wahrgenommen haben. Wir sind auf dieses Bild der Schule, das in unserer strukturtheoretischen Typologie mit der Dimension des Imaginären zusammenfällt, in den vorangegangenen Abschnitten bereits immer wieder eingegangen. Die Auseinandersetzung mit dem Aspekt des Politischen macht es notwendig und möglich, diese Gesamtsicht noch etwas genauer zu fassen, um damit dann zum Abschluss unserer sinngenetischen Rekonstruktion zu kommen.
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3.5.1 Falldarstellungen Beginnen wir nun mit zwei Darstellungen aus der Frühzeit der Spezialschule. Gleich zu Beginn des Interviews, noch in der Eingangserzählung, erinnert sich Herr Schaller sehr detailliert an einige Vorkommnisse: In der Diele in der Mendelssohnallee, gleich, wenn man reinkommt, musste man wirklich so wie auf ’nem Appellplatz im Karree antreten. Richtig militärisch quasi. Und da wurden dann auch Schüler belobigt oder getadelt – je nachdem, was vorgefallen war. Und das war eben im Prinzip auch immer etwas für die sogenannten Dresdner, also etwas, wo dann Quatsch gemacht wurde. Und das war so’n bisschen – für die Führung sozusagen – ein Unsicherheitsfaktor. Man vermutete, dass dann eben schnell mal ’ne Opposition entsteht oder irgendwie oppositionelle Gedanken zumindest entstehen oder dass es aus dem Ruder läuft. Und da kam dann irgendwann mal die Weisung – und zwar fand das genau mit dem Jahrgang zwei Jahre über uns statt –, da wurde dann das Abitur abgeschafft. […] Ich erinnere mich an ein Vorkommnis: Und zwar, wir hatten auch so ’ne Art Mensa im Keller unten damals. Und da hing in einem Seitenraum damals noch das Konterfei von Walther Ulbricht an der Wand. Wie das eben so üblich war. So. Und die Dresdner … Da gab’s eben in der Pause immer so diese Schulmilch. Und ich weiß nicht, ob Sie sich erinnern: Die Milchflaschen, das waren früher Glasflaschen mit ’nem Pappdeckel darauf. Und so, da haben wir so’n Viertel Liter Milch getrunken und irgendwann – keiner weiß, wer’s war – irgendwann hingen dann mal auf dem Ulbricht-Bild, auf der Brille zwei Milchdeckel und auf dem Parteiabzeichen auch noch einer. Und dann war die Pause zu Ende, alle haben’s vergessen, alle sind wieder in die Klassenzimmer hoch und das Ding hing dort still vor sich hin. Und irgendwann kam da mal ein Lehrer vorbei und hat das gesehen. Und da wurde der ganze Schulbetrieb gestoppt. Wurde alles runter in die Diele befohlen, und dann ging die Frau Gerstenberg dort auf und ab und ließ uns so lange stehen, bis sich derjenige gemeldet hat. Und es hat sich keiner gemeldet. Bis auf den heutigen Tag weiß niemand, wer das war. Es war also hochnotpeinlich und es war eben wirklich ein Politikum. Aber es ist niemandem was passiert, es ist keiner von der Schule geflogen.
Auf die Frage, wie Herr Schaller diese Anekdote erzählt und welche Rückschlüsse sich daraus in Bezug auf seinen Orientierungsrahmen ableiten lassen, werden wir noch zu sprechen kommen. Zunächst muss jedoch darauf hingewiesen werden, dass das, was er zu berichten weiß, in den Erinnerungen späterer Jahrgänge nicht mehr auftaucht. Ein Appellstehen in der Diele der Mendelssohnallee hat es nach der Ära Gerstenberg anscheinend nicht mehr in der Intensität der Anfangsjahre gegeben. Anders, als wir es aus späteren Berichten kennen, thematisiert Herr Schaller auch eine ideologische Vereinnahmung im Bereich der Musikgeschichte: Aber an der Spezialschule wurde Politik wirklich großgeschrieben. Das hat sich eben leider auch im Musikgeschichtsunterricht gezeigt. Da wurden wirklich die Tatsachen verdreht, beziehungsweise so ideologisiert und instrumentalisiert, dass zum Beispiel – was weiß ich – Martin Luther zum Beispiel kein Reformator war, sondern ein Arbeiterführer. Ja? Oder dass Beethoven eigentlich nur fürs Proletariat komponiert hat und solche Nummern. Das wurde also richtig so zu Recht gebogen, um die Ecke gebogen, wie es in die Ideologie gepasst hat. Das war bissel … na ja, da haben wir gelacht drüber. Also wir haben’s erst mal zur Kenntnis genom-
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men, sag ich mal so. Und irgendwo haben wir’s dann … Ich meine, wenn Sie alte DDR-Schallplatten, wenn sie mal die Einführungsvorträge zu den Stücken auf den Hüllen lesen, das ist ja genauso. Thomas Müntzer und Martin Luther, das waren die Arbeiterführer im Mittelalter, und Bach … Also wir haben auch zum Beispiel gelernt, dass die bedeutendsten Werke, die Bach je geschrieben hat, die weltlichen Kantaten waren. Alles andere – na ja gut, das waren so Fingerübungen, so Matthäus-Passion oder irgendwie so. Das war eigentlich … Das hat er machen müssen, weil es Auftragswerke waren.
Es muss offen bleiben, ob sich an dem, was Herr Schaller hier beschreibt, in späteren Jahren grundsätzlich etwas geändert hat. Ebenso ist aber auch zu fragen, ob mit seiner inhaltlichen Zielrichtung nicht sowieso eine gewisse Überpointierung einhergeht. Immerhin ist auffällig, dass Herr Innstedt, der zur selben Zeit wie Herr Schaller an der Spezialschule war, über das Fach Musikkunde gänzlich anders spricht: Und wovon ich eben auch heute noch zehre, das ist dieses Fach Musikkunde, was wir dort hatten. Also ich bin dorthin und ich weiß gar nicht, was ich für Musik gehört hab, bevor ich dort hingekommen bin. Na die, die eben zu Hause so lief, aber das waren keine Sinfonien und alles. Aber in den Jahren, wo ich dort war, sind wir durch die ganze Musikgeschichte durch. Das ging los mit Einstimmigkeit, und vor allem: Das alles mit Hörbeispielen. Also da wurde vorn fünf, zehn Minuten vorher was gesagt und dann haben wir gelauscht. Und das ist ein Fundus an Wissen, an musikalischen Kenntnissen – ich weiß nicht, ob die das heut noch so kriegen.
Die Differenzen in der Einschätzung hängen augenscheinlich mit dem grundverschiedenen Orientierungsrahmen der beiden Protagonisten zusammen. Während Herr Innstedt die Spezialschule als einen Ort tiefgreifender und umfassender Bildungserlebnisse wahrnimmt, spricht Herr Schaller aus der Perspektive eines Schülers, der aus professionellen musikalischen Verhältnissen kommt und dessen musikalischkünstlerische Prägung sich zwar auch an der Spezialschule, aber doch ebenso sehr außerhalb davon herausbildete. Das führt bei ihm zu einer deutlichen Distanz gegenüber allen Aspekten, bei denen die Spezialschule als staatliche Institution hervortritt. Dieser negative Gegenhorizont trägt – wie alle Horizontbildungen – natürlich die Gefahr einer gewissen Pauschalisierung in sich, die im Übrigen durch die Argumentation selbst abgebildet wird: Es geht Herrn Schaller weniger um die Kennzeichnung eines speziellen Unterrichtsfaches, als vielmehr um die Darstellung eines DDR-typischen Umgangs mit Musikgeschichte, der sich in seinen Augen eben auch an der Spezialschule bemerkbar machte. Daher auch sein plötzlicher Schwenk zu den Schallplattentexten. Der Musikkunde-Unterricht wird auf diese Weise zum festen Bestandteil eines ideologischen Gesamtkomplexes. Betrachtet man die Passage als ganze, so fällt überdies auf, dass die Beschreibung des Musikgeschichtsunterrichts vor allem die Funktion eines Belegbeispiels besitzt, mit dessen Hilfe die Eingangsthese, wonach an der Spezialschule Politik wirklich großgeschrieben wurde, exemplifiziert werden soll. An dieser These ist für Herrn Schaller nicht zu rütteln – sein Orientierungsrahmen ist von der Überzeugung durchdrungen, dass die »offizielle« Spezialschule ein ideologisch hochgradig kontaminiertes Gelände war (während sich – wie gesehen – die »eigentliche« Spezialschule für ihn im Hauptfachbereich realisierte, der vollständig im Dienste musikalisch-künstlerischer Interessen stand).
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Herrn Schallers Überzeugung lässt sich auf zweifache Weise interpretieren – und es ist durchaus wahrscheinlich, dass beide Interpretationen gleichermaßen zutreffen. Einmal kann und muss man sie als Beleg dafür nehmen, dass in der Frühzeit der Spezialschule der Aspekt des Politischen in der Tat eine deutlich andere Rolle spielte, als dies später der Fall war. Zum anderen wäre aber hervorzuheben, dass sich hier ein ganz spezifischer Orientierungsrahmen artikuliert, der, da er der Spezialschule als staatlicher Institution mit deutlicher Distanz begegnet, nicht unbedingt bereit ist, die Aspekte, die mit dieser staatlich-offiziellen Dimension zu tun haben, differenzierter zu betrachten. In dieser zweiten Lesart sagt das Beschriebene vor allem etwas über Herrn Schaller selbst aus. Damit sind wir bei der Frage angelangt, wie Herr Schaller erzählt und beschreibt. Was verrät uns die Art und Weise seiner Darstellung über seinen Orientierungsrahmen und – damit verbunden – über sein konjunktives Wissen? Angesichts dessen, was wir im Zusammenhang mit dem Themenkomplex »Verhältnis zu den Mitschülern« herausgearbeitet haben, sticht zunächst ins Auge, dass sowohl in der Beschreibung des Appell-Stehens als auch in der Anekdote mit den Milchglasdeckeln wieder einmal die Gruppe der Dresdner Schüler thematisiert wird. Das quasi militärische Exerzieren im Karree war eben im Prinzip auch immer etwas für die sogenannten Dresdner, also etwas, wo dann Quatsch gemacht wurde. Und bevor er mit der Beschreibung der eigentlichen Milchdeckel-Anekdote anhebt, startet er einen nicht zu Ende geführten Satz mit den Worten: Und die Dresdner … – so, als wolle er von vornherein klar stellen, dass ein derartig subversiver Akt keinesfalls von auswärtigen Internatsschülern ersonnen hätte werden können. Vor diesem Hintergrund muss auch die kollektive erste Person Plural gesehen werden, die Herr Schaller bei seiner Darstellung der Anekdote verwendet. Diesem »Wir« steht die Schulleitung gegenüber, die bezeichnenderweise lediglich als die Führung bezeichnet wird. Diese abstrakte Formulierung lässt offen, ob damit Frau Gerstenberg als damalige Direktorin oder nicht doch vielleicht höhere Entscheidungsorgane gemeint sind. Und gerade durch diese Abstraktion wird die offizielle Seite der Institution vollständig dem staatlichen System zugeschlagen, dem dann das kollektive »Wir« der Dresdner Schüler gegenüber gestellt wird. Natürlich geht es Herrn Schaller nicht darum, die Dresdner Gruppe gegenüber der Schulleitung als ebenbürtigen Machtfaktor herauszuheben. Dennoch ist offenkundig, dass seine Darstellung aus der dominanten Position einer Gruppe heraus erfolgt, die – wie die vergangenen Abschnitte gezeigt haben – ja insofern durchaus einen gewissen Einfluss besaß, als in ihr gerade jene Schüler versammelt waren, die durch ihre Leistungsfähigkeit und Sozialisation besonders gut zur Schule passten und damit deren eigentlichen Adressaten darstellten. Herr Schaller scheint durchaus um diese Dominanz zu wissen, denn er konstruiert nichts weniger als einen Kausalzusammenhang zwischen den Dresdner Schülern, die beim Appell Quatsch machten, und dem Wegfall des Abiturs: Man vermutete, dass dann eben schnell mal ’ne Opposition entsteht oder irgendwie oppositionelle Gedanken zumindest entstehen oder dass es aus dem Ruder läuft. Und da kam dann irgendwann mal die Weisung – und zwar fand das genau mit dem Jahrgang zwei Jahre über uns statt –, da wurde dann das Abitur abgeschafft. Natürlich ist dieser Zusammenhang historisch unhaltbar (vgl. Kapitel 2.4). Dennoch zeigt sich gerade an dieser schiefen Konstruktion, in welch hohem Maß Herr Schaller die eigene Gruppe doch als Gegengewicht zur offiziellen
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Seite der Institution empfand. Der von den Dresdner Schülern veranstaltete Quatsch erscheint in seiner Darstellung als eine echte Bedrohung, die die Führung dann durch den Entzug von Bildungsprivilegien beantwortete. Dass die Stärke seiner Gruppe etwas mit der besonders guten Passung zu jenem imaginären Bild zu tun hat, das die dominanten Kräfte des Feldes (Schulleitung, Teile der Lehrerschaft) von ihrer Schule hatten, ist ihm dabei nicht bewusst. Eine weitere Erzählung aus dieser Frühzeit stammt von Frau Thalheim. Während Herr Schaller als Teil einer dominanten Schülergruppe von den schulischen Entscheidungsträgern in einer denkbar unpersönlichen Art und Weise spricht, berichtet sie als allererstes von einer persönlichen Begegnung mit der Schulleiterin. Politik spielt hierbei noch keine Rolle: Der Wechsel [zur Spezialschule] ist mir erst mal ein bisschen schwer gefallen, muss ich sagen. Ich hatte wahnsinniges Heimweh, also ein halbes Jahr bestimmt. […] Und da hat mich damals – also das hat mich so beeindruckt, dass ich das auch heute noch ganz genau weiß – die Frau Gerstenberg – das war damals die Direktorin – zu sich in ihr Büro bestellt. Da war ich erst mal …, weil … Das war ja ’ne totale Respektsperson. Und die hat mir dann aber mal so aus ihrem Leben erzählt, also vom Krieg und was die Leute damals so empfunden haben. Und das sollte ich doch dann mal vergleichen mit dem, wie’s mir so geht, und dass es so schlimm eigentlich nicht ist. Na ja, das empfindet man eben ganz individuell, sag ich mal.
Eine derartige Erzählung wäre bei Herrn Schaller wohl nicht vorstellbar, der keinen Zweifel daran aufkommen lässt, dass er als externer Dresdner Schüler die offizielle Seite der Schule – und damit auch die Person der Schulleiterin – bestenfalls als ein lästiges Übel der ansonsten so überaus positiv gesehenen Ausbildung in Kauf nahm. Als Internatsschülerin muss sich Frau Thalheim intensiver mit der Schulleitung auseinandersetzen. Weitaus stärker als Herr Schaller ist sie gezwungen, sich auf die expliziten Hierarchien einzulassen und sich einen eigenständigen Weg durch den schulischen Erfahrungsraum zu bahnen. Sie verfügt nicht von vornherein über eine Gruppe im Rücken, in der sie sich aufgehoben weiß, und begreift sich auch nicht als Leistungsträgerin, die sich innerhalb bestimmter Grenzen ein latent widerständiges Verhalten erlauben kann. Im weiteren Verlauf des Gesprächs gibt sie zu erkennen, dass sie sich zunächst einmal durchaus offen auf schulische Freizeitangebote eingelassen hat – und zwar auch, wenn diese Angebote in politischer Hinsicht eine deutliche Nähe zum Staat bedeuteten. CT: Sagt Ihnen Oktoberclub was? Das war diese Singeklubbewegung.21 Und da hatte der Herr Müller damals – sehn Sie, wieder ein Name der mir einfällt – der hatte den gegründet. Und da haben so’n paar Leute halt mitgesungen und das hat mir eigentlich ganz … 21 Die Singeklubbewegung in der DDR geht auf den kanadischen Folksänger Perry Friedman zurück. Die von ihm entwickelte Idee eines freien, an der amerikanischen Folk-Musik orientierten Singens fasste um 1964 auch in der DDR Fuß. Zwei Jahre später wurde, unterstützt vom Jugendradio DT64 und der FDJ-Bezirksleitung Berlin, ein erster so genannter »Hootenanny«-Klub in Berlin gegründet, der jedem offen stand. Nachdem die SEDFührung Anfang 1967 eine Kampagne gegen Anglizismen gestartet hatte, wurde der Klub 1967 in »Oktoberclub« umbenannt. Friedmans Hootenanny-Bewegung firmierte seit dieser
216 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Interviewerin: An der Schule? CT: In der Schule, genau. Ich fand, das hat mir Spaß gemacht, das war jetzt nicht irgendwie aus einer politischen Überzeugung heraus oder so.
Gerade angesichts dieser kaum vorhandenen Berührungsängste ist es interessant, auf welche Weise Frau Thalheim im weiteren Interviewverlauf dann von einer kollektiven Gehorsamsverweigerung ihrer Schulklasse erzählt. Die folgende Episode hat sich während ihrer letzten Jahre an der Spezialschule zugetragen: Natürlich mussten wir Maidemonstrationen machen. Wir mussten dann, als wir älter waren, bei diesen sogenannten Hans-Beimler-Wettkämpfen mitmachen – ich weiß nicht, ob Ihnen das noch was sagt. Und da weiß ich noch: Das war entweder im letzten oder im vorletzten Jahr, da hatten wir so’n Landheimaufenthalt – die komplette Schule – und diese Hans-Beimler-Wettkämpfe waren da integriert. Und da mussten wir Handgranatenweitwurf machen und haben also, aber durch die Bank weg – ich weiß gar nicht mehr, ob wir uns das abgesprochen hatten –, wir hatten alle das so ein bisschen sabotiert. Und ich könnte mir vorstellen, in einer anderen Schule hätte es da unheimliche Konsequenzen gegeben. Ich weiß gar nicht mehr, was passiert ist, aber jedenfalls: Viel nicht. Ich mein, die haben das dann natürlich irgendwann gemerkt, dass wir das so passiv … so’n bisschen sabotiert haben. Interviewerin: Die ganze Klasse? CT: Ja. I: Aber Sie können sich nicht konkret erinnern, was es da für Reaktionen gab? CT: Nee, ich denke wir mussten es dann schon wiederholen. Also ich sag mal, die haben das … Also Handgranatenweitwurf und Schießen, das kann sowieso nicht jeder. Das wussten wir ja auch. Und ich als Brillenträgerin sowieso. Und da konnte man’s wahrscheinlich nicht so genau zuordnen, wer nun jetzt bewusst was nicht macht oder wirklich nicht kann, aber irgendwann haben sie’s dann doch mitgekriegt. Aber ich kann Ihnen nicht mehr sagen, was passiert ist – also auf jeden Fall keine schlimmen Konsequenzen.
Frau Thalheim denkt keine Sekunde daran, diese Begebenheit im Sinne eines bewusst geplanten Widerstandsaktes zu erzählen. Stattdessen begnügt sie sich mit der Bemerkung, sie wisse gar nicht mehr, ob wir uns das abgesprochen hatten –, wir hatten alle das so ein bisschen sabotiert. Anders als in der Geschichte von Herrn Schaller, an der beispielhaft die Unbotmäßigkeit der leistungsstarken Dresdner Schülergruppe demonstriert werden soll, gibt es hier keinen Hinweis auf eine geplante Aktion. Vielmehr scheint es einen sich langsam herausbildenden kollektiven Entschluss gegeben zu haben, dessen genauer Urheber – wenn es ihn überhaupt gegeben hat – im Dunkeln bleibt, und der für Frau Thalheim auch nicht von besonderem Interesse ist. Das ist weder die Erzählweise einer Schülerin, die einer gleichermaßen systemkritischen wie auch selbstbewussten Clique angehört, noch die einer tendenzielZeit unter dem Namen »FDJ-Singebewegung« und wurde als Modellfall sozialistischer Kulturpolitik gefördert und vereinnahmt. Die Mitglieder des Oktoberklubs waren »hundertprozentig rot, überzeugt, ehrlich« (Reinhold Andert). Der Klub hatte in den Anfangsjahren eine große Resonanz unter DDR-loyalen Jugendlichen, für Oppositionelle galten dessen Mitglieder jedoch als »Kaisergeburtstagssänger« (Wolf Biermann) (vgl. hierzu Andert 1996).
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len Außenseiterin, die von den Aktivitäten der Anderen in einer Weise berichtet, als ginge sie das alles nichts an. Es ist die Position einer typischen Vertreterin des B-Typs, zu dessen Kennzeichen wir ja die Tatsache gezählt haben, dass die in ihm versammelten Schüler bestrebt sind, die vorstrukturierten Gruppenbildungen durch gemeinsame Aktivitäten aufzulösen (vgl. Kapitel 3.4). Wie es für den B-Typ insgesamt charakteristisch ist, spricht Frau Thalheim aus der Perspektive einer Schülerin, die sich als selbstverständlichen Teil ihrer Klassengemeinschaft begreift; die Existenz präformierter Gruppenbildungen wird von ihr nicht thematisiert. Angesichts dieser beiden Fälle aus der Frühzeit der Spezialschule wird einerseits deutlich, dass die von späteren Schülerjahrgängen immer wieder beschworene weitgehende Absenz des Politischen für die ersten Schülergenerationen so noch nicht unbedingt zutraf – wenngleich hervorzuheben ist, dass sowohl die Schilderungen von Herrn Schaller als auch die von Frau Thalheim darauf hinauslaufen, dass die beschriebenen Vorfälle folgenlos blieben: Weder die Verschönerung des UlbrichtBildes noch die kollektive Verweigerung beim Handgranatenweitwurf führte zu ernsteren Konsequenzen. Andererseits zeigt sich aber auch, dass die Art und Weise, wie die Schülerinnen und Schüler die Dimension des Politischen erfahren haben, an ihren jeweiligen Orientierungsrahmen gekoppelt ist. In den Interviews späterer Schülerjahrgänge wird Politisches nur am Rande gestreift. Es ist von Bibeln die Rede, die bei der Spindkontrolle im Internat gefunden wurden sowie von einigen wenigen scharf-roten Lehrern im allgemeinbildenden Bereich. Ernsthaftere Konsequenzen werden jedoch auch hier so gut wie nie erwähnt – am stärksten vielleicht noch in den Erzählungen von Carla Senff und Hans Trescher, die uns zugleich als Beispiel dafür dienen, wie einige Vertreter des C-Typs (»Fremdling«) mit der Dimension des Politischen umgegangen sind. Es ist sehr aufschlussreich, die selbstbewusste Darstellung Herrn Schallers mit den Erinnerungen von Carla Senff zu vergleichen, die als Angehörige des Typs C ja eben nicht über jene selbstverständliche Einbindung in eine dominante Gruppe verfügte, auf die Herr Schaller zurückgreifen konnte: Politisch ist doch schon Einiges gelaufen an der Spezialschule. Da waren ja viele Menschen, die Pfarrerskinder waren, und die haben zum Teil irgendwelche Konzerte nicht mitspielen wollen in FDJ-Kleidung. Selbst, wenn sie FDJ-Mitglied waren, wollten sie zum Teil nicht in FDJKleidung spielen. Nun gab’s also innige Debatten. Die durften dann beim Fahnenappell nicht teilnehmen. Wir hatten irgendwie, glaub ich, relativ häufig Fahnenappell. Da durften die nicht teilnehmen. Und ich hab damals gedacht: »Na, ist doch schön, wenn die … Können sie länger schlafen.« Für mich war das jetzt politisch nicht vordergründig irgendwie ’ne Aktion. Aber es wurde halt darüber gesprochen. Und das wurde auch von den Lehrern erzählt: »Der Soundso, der konnte jetzt beim Konzert nicht mitspielen, weil er sich geweigert hat, in FDJ-Kleidung aufzutreten. Und der wird beim Fahnenappell nicht anwesend sein dürfen und der wird auch nicht spielen dürfen.«
Frau Senff beschreibt von außen – wie jemand, der eigentlich nicht richtig dazugehört. Ihre eigene Rolle bezüglich der Frage, ob man ein Konzert in FDJ-Kleidung spielen soll oder nicht, wird nicht thematisiert. Das hängt wohl vor allem damit zusammen, dass sie derlei unbotmäßiges Verhalten mit einer bestimmten Gruppe in Verbindung bringt, zu der sie selbst nicht gehört: den Pfarrerskindern. Der Wider-
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stand, den einige Mitschüler in dieser Frage an den Tag legten, erscheint in ihrer Darstellung als das Resultat einer bestimmten kirchlichen Sozialisation, die ihre eigene Biografie – obschon sie durchaus von kirchlichen Bezügen geprägt ist – nun einmal nicht aufweist. Die Entscheidung, kein FDJ-Hemd tragen zu wollen, wird damit nicht so sehr als eine Gewissensentscheidung autonomer Individuen präsentiert, sondern scheint sich für Frau Senff quasi automatisch aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Milieu zu ergeben. Auf der Ebene des konjunktiven Wissens zeichnet sie damit das Bild einer Schülerschaft, die sich gemäß ihrer unterschiedlichen Herkunftsbedingungen in klar umrissene Gruppen unterteilt. Eine Durchmischung dieser Gruppen scheint es für sie kaum gegeben zu haben. Widerständiges Verhalten, so die unterschwellige Botschaft ihrer Darstellung, war die Aufgabe der Pfarrerskinder. Für den, der nicht zu dieser Gruppe gehörte, stellte sich die Frage nicht. Ähnlich wie es bei ihrem Verhältnis zu den Mitschülern zu beobachten war, beschreibt Frau Senff eine implizite, auf klaren Differenzsetzungen beruhende Strukturierung der Schülerschaft, die sie fest internalisiert hat. Es scheint ihr selbstverständlich zu sein, dass bestimmte Gewissensentscheidungen nur von entsprechend sozialisierten Schülern getroffen werden konnten. Der doch immerhin naheliegende Gedanke, die eigene Position damit in Beziehung zu setzen, steht nicht einmal als Frage im Raum. Gerade deshalb gibt es in ihrer Darstellung auch kein kollektives »Wir«. Während Herr Schaller die eigene Gruppe für das Ganze nimmt (und damit jene bereits im Zusammenhang mit dem Hauptfach zu beobachtende Tendenz bestätigt, die Existenz anderer Orientierungsrahmen auszuklammern), spricht Frau Senff aus der Perspektive einer Beobachterin am Rande, die das Treiben einer bestimmten Gruppe betrachtet. Ganz ähnliches lässt sich bei Herrn Trescher beobachten: Mein Korrepetitor war ein Schüler – ich weiß nicht, wie alt der war. Die Eltern waren Psychologen und der war auch in der Kirche sehr engagiert und hatte auch so »Schwerter zu Pflugscharen« und ein Kreuz umhängen. Also der ist immer mal angeeckt. Ganz super Typ eigentlich, auch sehr menschlich, ’n dufter Typ so. Aber bei Diskussionen hatte der eben kein Blatt vor den Mund genommen, das war der eben so von zu Hause gewohnt. Und der ist da immer mal angeeckt und irgendwann ist er dann wegen ’ner disziplinarischen Sache auch aus dem Internat geflogen. Also nicht von der Schule, aber aus dem Internat. Auf jeden Fall haben wir das erzählt im Hauptfachunterricht und mein Lehrer hat sofort gesagt: »Na, warum sagt ihr das nicht gleich?« – ist rausgegangen, ist zur Direktorin und hat sich dort versucht, für den einzusetzen. […] Der hat dann trotzdem schon mal bissel Ärger gekriegt, aber der hat auch bissel provoziert. Wo dann auch so ein Lehrer in Zugzwang war vielleicht, ne? Dass er dann irgendwas machen muss.22 Aber es war nicht … Ich würde sagen, die haben nicht danach gesucht oder 22 Es ist interessant, wie diese Episode aus der Perspektive der Schulleiterin erzählt wird: »Wir hatten Kinder aus dem Vogtland, das waren immer die, die hinterm Walde herkamen. Also Vogtland, Erzgebirge. Und bei einem von denen haben sie in den Unterlagen Hakenkreuze entdeckt. Da gab’s natürlich ein großes Trara. Und dann hat sich rausgestellt, dass das gar nicht der Junge war, sondern ein Pianist aus der gleichen Klasse. So, und dann war natürlich ein großes Theater. Der musste dann das Internat verlassen und in die externe Ausbildung bis zum Studium und dann durfte er wieder studieren.«
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haben uns da nicht sinnlos jetzt mit so was … Da war auch das ganze Umfeld, es waren ja viele aus christlichen Elternhäusern. Wir hatten mal einen Geiger, der kam so aus ziemlich roten Verhältnissen, der hatte es gar nicht leicht. Ja, der war eigentlich eher dort bissel isoliert. Oder der hatte da zumindest immer ein bissel Feuer gekriegt. Interviewerin: Das äußerte sich wie? HT: Ach, na bei irgendwelchen Diskussionen, wenn dann mal irgendwas war, irgendwas vom Westen und so. Aber da war der eigentlich so bissel isoliert, weil alle irgendwie nicht so staatstreu dachten.
Abgesehen von der Tatsache, dass hier einer der wenigen Berichte aus unserem Material vorliegt, in dem ein Schüler wegen politischer Meinungsäußerungen ein bissel Ärger gekriegt hat, springt auch hier ins Auge, dass letztlich doch kein einschneidendes Exempel statuiert worden zu sein scheint. Ebenso wird deutlich, dass alle Bestrafungsversuche innerhalb eines Erfahrungsraums erfolgten, in dem eine latent kritische Einstellung zum Staat durchaus kein Minderheitenphänomen war. Dass ein Hauptfachlehrer sofort zur Direktorin läuft, um die Konsequenzen eines politischen Fehlverhaltens rückgängig zu machen, verrät nicht nur etwas über die Einstellung des betreffenden Kollegen – eines Mitglieds der Staatskapelle –, sondern auch etwas über die internen Machtverhältnisse. Anscheinend verfügten die an der Spezialschule lehrenden Orchestermusiker hausintern über eine ausreichend große Reputation und – daraus folgend – über genügend Selbstbewusstsein, um derart intervenierend eingreifen zu können. Dass innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums eine zu starke Nähe zur SED eher zu kollektiver Ablehnung führte, bringt Herrn Treschers Erwähnung des Geigers aus roten Verhältnissen zum Ausdruck. Diese Beschreibung deckt sich vollständig mit einer Schilderung Frau Thalheims: Wir hatten eine Mitschülerin, die war ein bisschen außen vor. Sie war auch ein bisschen korpulenter und sie kam aus ’ner Familie, die sehr politisch geprägt war. Ich glaube, das hatte uns bissel abgeschreckt. […] Also ich war nicht mit ihr im Zimmer, deswegen kann ich das jetzt auch nicht so konkret sagen. Ich denk, die Anderen haben sich schon auch bemüht sie anzunehmen, aber so das tolle Verhältnis war’s nie. Interviewerin: Es war also eher schlecht, wenn man sozusagen als parteinah oder staatsnah … CT: Auf jeden Fall. Interviewerin: … in den Verdacht geriet? CT: Also zumindest unter den Schülern denke ich doch. Weil wir halt viele waren, die eben nicht so linientreu waren. Also ich mein, für mich muss ich sagen: Mir war’s relativ Wurscht. Ich hab so im Prinzip im Groben das gemacht, was man von mir erwartet hat. Man wurde ja von zu Hause quasi doppelzüngig erzogen. Das ist einfach so, ne?
Eine Ausgrenzung von Personen mit Bindung an die SED scheint es nicht nur unter den Schülern, sondern auch bei den Lehrern im musikalischen Ausbildungsbereich gegeben zu haben – zumindest aus der Perspektive der Ausgegrenzten. Eine ehemalige Lehrerin erinnert sich: Also, mein Verhältnis zu den Kollegen hat sehr viel mit mir zu tun, weil ich natürlich … Ich war ’ne Frau und ich war auch noch Mitglied der Partei. Und das ist nicht der leichtere Weg gewesen, weil ich in dem Kontext hier in der Minderheit war. Und ich hatte dazu ’ne ehrliche
220 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Haltung. Also ich hab das, glaub ich, nie zur Schau gestellt, aber ich hab damit schon was verbunden.
Zurück zu Herrn Trescher: Vergleicht man seine Erzählung über den Klavierbegleiter mit der Darstellungsweise von Frau Senff, so fallen frappierende Übereinstimmungen ins Auge. Auch er bindet systemkritisches Verhalten an eine bestimmte Sozialisation: Sein Korrepetitor hat eben kein Blatt vorn Mund genommen, weil der das eben so von zu Hause gewohnt war. Wem diese familiäre Gewöhnung fehlte, von dem war – so darf man den Gedankengang wohl zu Ende denken – die Artikulation der eigenen Meinung in dieser Weise nicht zu erwarten. Hinzu kommt, dass diese freie Meinungsäußerung an sich schon äußerst ambivalent betrachtet wird. Neigt Herr Trescher in seiner Gesamtcharakterisierung dazu, den fraglichen Mitschüler gerade auch wegen seiner offenen Sprache als einen menschlich duften Typ zu charakterisieren, so lässt er doch gleichzeitig eine gewisse Distanz, wenn nicht gar Kritik an dessen Verhalten erkennen: Der hat dann trotzdem schon mal bissel Ärger gekriegt, aber der hat auch bissel provoziert. Wo dann auch so’n Lehrer in Zugzwang war vielleicht, ne? Dass er dann irgendwas machen muss. Im Grunde – so lässt sich diese Beschreibung zusammenfassen – trägt der Mitschüler eine gewisse Mitschuld an der disziplinarischen Maßregelung. Wer provoziert, muss sich nicht wundern, wenn er auch einmal aneckt. Die Lehrer, die diese Maßregelung anscheinend durchsetzten, werden in Schutz genommen. Bei derartig offensichtlichem Fehlverhalten mussten sie Herrn Trescher zufolge einfach reagieren, wobei es ihm wichtig ist, dass es sich hier wirklich um eine Re-Aktion handelte. Aktiv wurde in seinen Augen an der Spezialschule eher nicht nach unbotmäßigem Verhalten gesucht. Wie bei Frau Senff, so scheint sich auch bei ihm die Frage nach der eigenen Position nicht zu stellen. Auch er nimmt eine eher passive Beobachterposition ein, die wir bei den Vertretern der anderen beiden Typen so nicht finden. Bleiben wir noch etwas beim Typ des »Fremdlings«: Für ihn ist noch eine andere Verhaltensweise kennzeichnend, die ebenfalls in den beiden anderen Typen so nicht auftaucht. Ausschließlich hier wird nämlich der Gedanke zur Sprache gebracht, dass der Einfluss der Politik an der Spezialschule keinesfalls nur dort zu suchen war, wo es um manifeste politische Tatbestände ging. Auch das musikalische Ausbildungssystem als solches – so die Botschaften von Frau Dahlke und Herrn Braubach – war mit dem politischen System eng verwoben. Frau Dahlkes Resümee der Hauptfachausbildung bestand ja – wie bereits gesehen – in der Klage darüber, dass es bei der Ausbildung letztlich nicht um individuelle Förderung und Entfaltung, sondern um einen Dienst am Staat ging: Erstens ging es natürlich um Leistungen für den Staat, das war halt … Ich hab an der Spezialschule nie das Gefühl gehabt, es geht jetzt hier um mich oder um meine Wünsche, sondern das wurde eben festgelegt, was jetzt dran ist. Und wenn’s Wettbewerbe gab, dann war das nicht irgendwie um den Leuten da einen Gefallen zu tun, die da spielen, sondern eben »für unsere DDR« und so weiter und man hatte da schon zu funktionieren. […] Die Spezialschule war jetzt wirklich nicht bloß irgend so’n Zuchtbetrieb. Das kann man nicht sagen. Ich denke nur, dass eben wirklich auch dieser ganze Protokollzwang und politisch abliefern müssen und dies und das – dass das manches einfach verhindert hat, was vielleicht hätte stattfinden können.
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Interviewerin: Und haben Sie das in irgendeiner Form gespürt, dass diese Vorgaben so stark bestimmend waren? Also hat sich das in irgendeiner Form auf den Unterricht ausgewirkt jetzt, sind die Lehrer zum Beispiel reglementiert worden? ID: Ob die Lehrer reglementiert wurden, das kann ich nicht sagen. Ich hab bloß auch so Listen gefunden von meiner Lehrerin und ich hab da kein gutes Gefühl dabei. Die hat schon das Jahr vorher festgelegt, was zu dem Wettbewerb gespielt wird. […] Ich weiß nicht, ob sie das festgelegt hat oder ob die da untereinander auch ihre Absprachen getroffen haben. Das hätte anders sein können, finde ich.
Während es für Herrn Schaller als Vertreter des »Fisch-im-Wasser«-Typs im Grunde zwei Spezialschulen gibt – die offizielle Institution, die von ihm mit großer Distanz gesehen wird, und die »eigentliche« des Hauptfachunterrichts – so ist der Typ des »Fremdlings« zu dieser Differenzierung nicht in der Lage: Für ihn spielt die offizielle Institution gerade auch in die scheinbar unpolitischen Bereiche des Hauptfachunterrichts hinein, der für ihn im Grunde nichts weiter als ein verlängerter Arm des Staates ist. Ganz deutlich wird das bei Herrn Braubach, der ganz dezidiert die instrumentale Ausbildungsphilosophie der Spezialschule als nur scheinbar unpolitisches Teilglied des Systems betrachtet: Das lief schon alles nach dem russischen Prinzip, das ist ja klar. Das ganze Politische gehört ja eigentlich auch dazu. Das ganze Lehrsystem war ja doch das sowjetische – mehr oder weniger – was da zu uns rüber schwappte. Zwar verdünnt in den stärksten Giften, denn dort ging’s ja viel mehr zur Sache, in Moskau und Leningrad. Die Leute sind dort ja echt an den Rand geführt worden teilweise. Aber es war auch an der Spezialschule eben so, dass doch permanent Wettbewerb betrieben wurde und nicht Findung der Persönlichkeit. Eine sozialistische Schülerpersönlichkeit ist keine, die ein Individuum sein darf und sich deswegen auch verschieden positionieren darf. Sondern sie ist … Eigentlich würde ich sagen: Eine, die mit im Strom schwimmt und fließt. Und eben gehorcht. Ich glaube, es gab diese sozialistische Schülerpersönlichkeit. Aber das war eben nicht genügend. Weil man sich nicht eingestand, dass – jenseits von dem Wettbewerbsprinzip – noch sehr viel anderes zu sagen wäre zum Leben eines Jugendlichen und so. Das hab ich sehr vermisst und hab mich dann auch eben sehr einsam gefühlt. Und aber auch meine Lehrerin hat sich damit genauso einsam gefühlt.
Es kann bei einer sinngenetischen Rekonstruktion nicht darum gehen, die Meinung eines Befragten zu bewerten: Weder soll Herrn Braubachs These, nach der an der Spezialschule eine Schülerpersönlichkeit favorisiert wurde, die mit im Strom schwimmt […] und gehorcht, an dieser Stelle bestritten werden, noch ist sie aber umstandslos für bare Münze zu nehmen. Vielmehr gilt es – um mit Karl Mannheim zu sprechen – die »Seinsverbundenheit« seines Denkens herauszuarbeiten. Das heißt konkret: Aus dem Orientierungsrahmen des »Fremdlings« heraus betrachtet, ist es zwar einerseits hochgradig plausibel, wenn Herr Braubach, dessen drängendes Fragen und Suchen an der Spezialschule ohne Resonanz geblieben ist, die Ansicht vertritt, dass der imaginäre Adressat der Spezialschule die angepasste und gehorsame sozialistische Schülerpersönlichkeit war. Diese Perspektive ist jedoch andererseits ebenso wenig absolut zu setzen wie irgendeine andere. Unsere bisherige Analyse hat ergeben, dass die Kennzeichnung des Mit-dem-Strom-Schwimmens und Gehorchens für den »Fisch-im-Wasser«-Typ – jenen Typ also mit dem reibungsfreiesten Pas-
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sungsverhältnis – eher nicht zutrifft. Die Erinnerungen Herrn Schallers, Herrn Dürers, Herrn Gundolfs, Frau Trenklers und Frau Kolbes lassen keineswegs auf angepasste Persönlichkeitsstrukturen schließen, die nach Herrn Braubachs These eigentlich ein entscheidendes Kennzeichen für eine besonders gute Passung sein müssten. Sie geben vielmehr deutlich zu erkennen, dass die A-Typ-Vertreter bereits während ihrer Schulzeit ziemlich genau wussten, was sie wollten, und diese Ziele auch gegen Schwierigkeiten durchzusetzen in der Lage waren. Im Zusammenhang mit der »Antinomie zwischen Autonomie und Heteronomie« hatten wir bereits festgestellt, dass das Ideal der Hauptfachausbildung »gerade nicht in der angepassten und gehorsamen Erfüllung von Vorgaben bestanden hat, sondern vielmehr auf einen Schülertyp abzielte, der das, was andernfalls in Form fremdbestimmter Vorgaben eingefordert worden wäre, bereits freiwillig aus sich heraus vollzog. Intendiert war also ein Orientierungsrahmen, der sich aus freien Stücken – und nicht etwa aus Gehorsam – mit dem Orientierungsrahmen der Schule deckte.« Misst man Herrn Braubachs Urteil an diesem Gedanken, dann wird plausibel, dass er – dessen Orientierungsrahmen augenscheinlich nicht jene mustergültige Passung eines Herrn Schaller aufwies – die von Seiten der Schule erhobenen Forderungen als eine offenkundige Fremdbestimmung wahrnahm, die ihm eine Haltung widerstandsloser Anpassung abverlangte, zu der er sich jedoch nicht in der Lage fühlte. Ebenso verständlich ist dann aber auch, dass bei einem »Fisch im Wasser« wie Herrn Schaller von einem derartigen Anpassungsdruck an keiner Stelle die Rede ist. Denn dazu bestand aus dessen Sicht ja überhaupt kein Anlass, da die Zielbestimmungen der »eigentlichen« Spezialschule vollständig mit seinen Intentionen und Bedürfnissen konform gingen, während die »offizielle« Seite der Schule als lästige Begleiterscheinung in Kauf genommen wurde. Gerade wegen seiner besonders guten Passung konnte Herr Schaller das Selbstverständnis eines in musikalischer Hinsicht selbstständig denkenden und dennoch innerhalb eines bestimmten Rahmens systemkritisch eingestellten Schülers entwickeln. Martin Gundolf hat diesen Zusammenhang sehr pointiert formuliert. Sieht man einmal davon ab, dass er im folgenden Zitat den umgangssprachlichen Begriff des Talents verwendet, so fokussiert sein Gedankengang doch ziemlich präzise den Zusammenhang zwischen der gewünschten hohen Leistungsfähigkeit und einem gewissen Maß an Unangepasstheit. Natürlich wollten die an der Spezialschule dann auch die Talente haben. Du kannst ja nicht ’ne Spezialschule haben, die keine Talente hat, sondern nur gefügige Schüler, die alles brav abliefern. Das geht natürlich nicht. Das wussten die auch. Und daher hat sich das Politische im Allgemeinen in Grenzen gehalten, muss ich sagen. Selbst diese FDJ-Lehrjahre und so ’ne politischen Bildungen, die wir dann alle hatten. Klar, im Staatsbürgerkundeunterricht, das war schon ’ne ganz rote Ziege, also die war auch überzeugt. Das konnt ich ja noch verstehen, aber die wollte schon aus uns kleine Kommunisten machen, ja. Aber sonst …
Diese Beurteilung zeugt von einem ähnlichen Selbstbewusstsein, wie es sich auch aus Herrn Schallers Distanz gegenüber dem offiziellen Schulbetrieb ablesen lässt. Beide betrachten sich nicht nur als die eigentlichen Leistungsträger der Schule, sondern scheinen auch darum zu wissen, dass die schulischen Entscheidungsträger auf Leute wie sie im Grunde angewiesen waren. Der Gedanke einer Kontaminierung des Hauptfachunterrichts durch das politische System, wie wir ihn bei Frau Dahlke und
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Herrn Braubach feststellen konnten, ist für sie – und mit ihnen für den gesamten A-Typ – nicht vorstellbar. Da dieser Typ die »eigentliche« Institution ja ausschließlich vom Hauptfachbereich her denkt und in Bezug auf diesen Aspekt eine enge Passung zum eigenen Orientierungsrahmen feststellt, wäre der Gedanke, in eben diesem Bereich den verlängerten Arm des staatlichen Systems sehen zu wollen, für ihn wohl nur schwer anzunehmen. Dadurch, dass sie den Hauptfachbereich als im Grunde frei von allen fachfremden Einflüssen denken, sind die Vertreter dieses Typs in der Lage, die »eigentliche« Spezialschule als eine gewissermaßen zeitenthobene Institution begreifen zu können, der gegenüber die politische Dimension lediglich den Charakter einer zeitgeschichtlich bedingten und kontingenten Störung trägt, die den Kern der Ausbildung nicht betrifft. Allerdings zeigen die Erinnerungen Herrn Gundolfs, dass eine selbstbewusste Distanzierung von der »offiziellen« Spezialschule nur innerhalb bestimmter Grenzen möglich war. Sobald es um dezidiert politische Fragen ging, war man selbstverständlich auch als Spezialschüler – so der Tenor seiner Erinnerungen – nicht davon befreit, immer wieder seine eigenen Meinungen zurückzuhalten. Allerdings erscheint diese Notwendigkeit einer permanenten Selbstzensur bei ihm weniger als Kennzeichen der Spezialschule, sondern vielmehr als ein Phänomen, das für die gesamte DDR typisch war: Da hab ich halt diese Aufnahmeprüfung gemacht. Die bestand ja damals aus zwei Teilen und ich weiß noch genau: Da musste man also zuerst vorspielen für den künstlerischen Teil, da sitzt man dann halt vor den ganzen Lehrern. Aber dann muss man noch ein Gespräch führen für den pädagogischen Teil. Und die meisten Diskussionen gab’s also um diesen pädagogischen Teil, weil wir natürlich da aus der Kirche kamen und alle aus meiner Familie sagten dann schon: »Au ja, da ist in der Kommission einer dabei und da musst du ganz genau aufpassen, was du da sagst. Also das wird politisch.« Also ich kann mich noch dran besinnen, das war ein riesen Aufruhr in der Familie – nicht, weil ich da vielleicht vorgespielt hab, sondern dass du da ja nichts Falsches erzählst. Bei so Fragen wie: »Also, bist du bei den Pionieren? Und was haben deine Eltern für ’ne Überzeugung? Was gucken die für ’n Fernsehen?« All so ’ne Geschichten. Die haben einen da wirklich ausgehorcht, ganz schlicht und einfach. Und diese Fragetortur, die war dann letzten Endes nicht so schlimm, aber die musste man eigentlich unbeschadet überstehen, ohne dass man sozusagen zu viel von sich preisgibt. Also man musste sich dort wirklich so geben, wie sie es haben wollten. Also wir hatten von Fällen gehört, die tatsächlich deswegen die Aufnahmeprüfung nicht bestanden haben, weil die dort gesagt haben: »Ich bin christlich« oder: »Ich hab die und die Überzeugung« oder haben sich also erlaubt, ’ne eigene Meinung zu bilden. Das war damals so. […] War damals ziemlich schmerzhaft, muss ich wirklich sagen, weil dort zum ersten Mal nach Gesinnung und nach Doppelzüngigkeit gefragt wurde – also dann auch nachhaltig. Wo ich am Anfang nicht viel damit anfangen konnte, wo man dann aber später natürlich aktiv reingewachsen ist. Also die gesamte Doppelzüngigkeit in der DDR war ja ’n großes Handicap. Aber hier sollte sozusagen die Karriere nicht gestört werden, sondern eben gefördert. Und da war ich zum ersten Mal wirklich so [ein] bisschen … Also, schaff ich das?
Aus der Gesamtkenntnis unseres Samples ist vorab anzumerken, dass die von Herrn Gundolf mitgeteilte und auf Hörensagen beruhende Einschätzung, nach der manche Bewerberinnen und Bewerber die Aufnahmeprüfung wegen des Hinweises auf ihren
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christlichen Glauben nicht bestanden hätten, von anderen Befragten deutlich anders eingeschätzt wird. Eine Schülerin, die es zunächst an der Berliner Spezialschule versucht hatte, differenzierte deutlich zwischen den Berliner Gepflogenheiten und einer demgegenüber weitaus laxeren Haltung in Dresden: Ziemlich bald stellte sich heraus, dass für ’ne berufliche Laufbahn die Ausbildung an der Musikschule nicht ausgereicht hat. Und dann stand eben die Frage nach ’ner Spezialschule im Raum. Für uns naheliegend wäre eigentlich Berlin gewesen. Die Leiterin dort war allerdings so fair, meinen Eltern zu sagen, dass ich nicht vorspielen muss, weil schon so viele an der Schule waren, die kirchlichen Hintergrund hatten. Das heißt, die Berliner Schule war natürlich sehr reglementiert und beschnitten hinsichtlich des Klientels, was sie aufnehmen konnten und überhaupt. Und so bin ich dann nach Dresden gekommen. […] Also Dresden war ja so’n bisschen ab vom Schuss auch. Also, die hatten diese strengen Auflagen nicht.
Betrachtet man sich Herrn Gundolfs Erzählung von seiner Aufnahmeprüfung genauer, so sieht man, dass die erwähnte Doppelzüngigkeit von ihm nicht als besondere Eigenschaft der Spezialschule, sondern als generelles Kennzeichen der DDR begriffen wird, dem man sich als Schüler nirgendwo entziehen konnte. Diese Diagnose führt auch bei ihm zu einer Konkurrenzbeziehung zwischen »offizieller« und »eigentlicher« Institution. Gerade weil die »eigentliche« Spezialschule seinem persönlichen Orientierungsrahmen so optimal entgegenkam, sah sich Herr Gundolf genötigt, bei politischen Themen die eigenen Überzeugungen zu verbergen. Die Nische der »eigentlichen« Spezialschule, innerhalb derer er seinen Orientierungsrahmen zur Entfaltung bringen konnte, verlangte als Eintrittspreis ein gewisses Maß an Opportunität. Anders als beim C-Typ wird diese Tendenz zur Selbstverleugnung hier jedoch nicht auf die Institution an sich, sondern nur auf deren offiziell-administrativen Teil bezogen – und selbst in Bezug auf diesen Teil werden kaum konkrete Akteure genannt. Im Gegenteil: Wie eingangs zu sehen war, wird es der Direktorin, Frau Erxleben, hoch angerechnet, dass sie eine Käseglocke aufzubauen verstanden hatte. Es ist das im Hintergrund wirkende System an sich, das seinen Preis fordert und dem sich niemand entziehen kann, auch nicht die Schulleitung. Das erklärt auch, wieso sich bei Herrn Gundolf – und mit ihm auch bei anderen Vertretern des A-Typs – die stärksten Plädoyers dafür finden, das Spezialschulsystem auch heute noch flächendeckend zu verbreiten. Die Grundidee der Spezialschulausbildung ist für den »Fisch im Wasser« unbeschadet aller unliebsamen politischen Einflüsse zeitlos gültig und richtig. Wenn man diesen Gedanken im Blick behält, dann wird man die innerhalb des A-Typs in durchaus beträchtlichem Maß auftretenden Unterschiede in der Erfahrung bzw. Bewertung der politischen Dimension kaum als Differenzen begreifen können, die einen maximalen Kontrast formulieren und damit die Notwendigkeit einer unterschiedlichen Typen-Zuordnung nahelegen. Da der »Fisch im Wasser« den Kern der Spezialschulausbildung als von der Politik unberührt sieht, handelt es sich hier lediglich um minimale Kontraste. Es gibt höchstens einen graduellen, nicht aber einen grundlegenden Unterschied zwischen Herrn Schallers und Herrn Gundolfs impliziter Trennung von eigentlicher und offizieller Spezialschule und der im folgenden Zitat abzulesenden Tendenz von Herrn Dürer, die Spezialschule generell als einen von der Politik gänzlich abgeschirmten Bereich zu präsentieren. In allen Fällen erscheint die Schule als eine Institution, die die Möglichkeit einer vollständigen Versenkung ins
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Hauptfach und damit den perfekten Rahmen für die Entfaltung des eigenen Orientierungsrahmens bot: Und ich muss wirklich sagen: Die ersten Jahre, also angefangen bei mir durch die Unterstützung meiner Eltern und durch den tollen Unterricht bei Frau N. in der Musikschule und dann durch diese wirklich geführte Ausbildung und behütete Ausbildung an der Spezialschule – das war so ein Rüstzeug für alles, was danach gekommen ist. Das man immer sagen kann: Das war das Idealste, was man sich eigentlich nur vorstellen kann für solch einen Beruf. Und ich wurde ja dann in der Bundesrepublik Deutschland oft gefragt – und immer mit vorgefertigten Meinungen – so nach dem Motto: »Ach Gott, was hattet ihr’s schwer« und so. Und dann sage ich immer gleich: »Stopp! Meine Kindheit war super, meine Ausbildung war super. Was wollt ihr jetzt wissen? Hört erst mal zu, was ich euch erzähle und sagt mir nicht einen Satz, den ihr nur bestätigt haben wollt.« Und dann sitzen alle plötzlich mit offenen Mündern da und müssen ihr ganzes Bild über die DDR zurechtrücken oder einsehen, dass es auch ’ne andere Seite gab. Ohne jetzt die DDR zu verherrlichen oder so, aber in Bezug auf diese Ausbildung und auf das Behütetsein im Kleinen und im Bescheidenen konnte ich mir nichts Besseres vorstellen. Dass es dann auch im Laufe des Studiums irgendwie mal Momente gab, wo man auch mit Dingen konfrontiert wurde, oder Dinge gehört hat, die einem nicht so gefallen haben, okay. Aber das war ja nicht für jeden DDR Bürger zutreffend. Und sozusagen hülle ich über diese ganze Zeit vor dem Studium und speziell auch über die Spezialschule eigentlich ein Tuch, was völlig positiv und hell ist.
Das entscheidende Motiv dieser Passage ist das Behütetsein, das durch die Begriffe des Kleinen und Bescheidenen näher spezifiziert wird. Die Spezialschule erscheint in den Erinnerungen Herrn Dürers als Fortsetzung einer heilen Kindheit, die durch ein liebevolles Verhältnis zu den Eltern und einen glücklichen ersten Instrumentalunterricht geprägt ist. Alle Erfahrungen, die diese heile Welt beschädigen könnten, werden erst auf einen späteren Zeitpunkt datiert: auf die Zeit des Studiums und vor allem dann auf die Zeit nach der Wende, in der Herr Dürer die Erfahrung machen muss, dass sein an der Spezialschule erworbenes musikalisch-instrumentales Können für eine freiberufliche Solo-Karriere allein nicht ausreicht. Einen entscheidenden Aspekt hat er dort nicht gelernt – nämlich die Fähigkeit, sich zu vermarkten. Aus rückwärtiger Perspektive beschreibt er die Spezialschule als einen weltabgewandten und umfriedeten Bereich, der von zwischenmenschlicher Nähe, wenn nicht gar Intimität geprägt war und gerade deshalb das ideale Rüstzeug für die Laufbahn eines Profimusikers bot. Interessanterweise verschmilzt in Herrn Dürers Rückschau diese Kennzeichnung der Spezialschule mit dem Bild, das er von seiner Heimatstadt Dresden entwirft: Ich weiß nicht, ob es vielleicht ein Makel ist. Ich hätte vielleicht, um noch eine – in Anführungsstrichen – »größere« Karriere machen zu können, die Stadt doch verlassen müssen. Denn Dresden ist letztlich klein, konservativ und die Welt rauscht manchmal doch ein bisschen hier dran vorbei. Aber das war dann eine bewusste Entscheidung: Dann lieber kleinere Brötchen backen, auf Chancen auch mal warten. Rückwirkend hab ich auch nie um Dinge buhlen müssen, sie kamen wirklich alle zu mir.
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So wie die Spezialschule ein Behütetsein im Kleinen und im Bescheidenen gewährleistet, so erscheint auch Dresden als ein umfriedeter Ort, an dem die Welt vorbeirauscht, als ein Ort der trotz oder gerade wegen seines Konservativismus von jenen Zumutungen frei ist, denen man sich Herrn Dürer zufolge aussetzen muss, um eine – in Anführungsstrichen – »größere« Karriere machen zu können. Eben diese Verschränkung zwischen dem Schutzraum, den die Spezialschule bot, und der Stadt Dresden, findet sich auch bei Herrn Leininger, dessen Gesamtbild der Spezialschule vornehmlich aus der Perspektive des A-Typs heraus erfolgt. Sowohl der Mikrokosmos der Schule als auch die ihn umgebende Stadt werden von ihm als Nischen gesehen, die mit den sonstigen Lebensverhältnissen im real existierenden Sozialismus kaum etwas zu tun haben. Seine implizite Konstruktion erinnert ein bisschen an eine »Puppe in der Puppe«: Die Spezialschule bildet eine Nische gegenüber der Situation an normalen Dresdner Schulen, Dresden wiederum bildet eine Nische zur gesamten sonstigen DDR. Und beide Nischen verdanken schließlich ihre Existenz der Tatsache, dass die Kultur in der DDR insgesamt eine Nische darstellte: Sie haben immer irgendwie das Gefühl gehabt, [hier an der Spezialschule] gibt es nicht diese Politik und nicht dieses rote Gewürsche, was anderswo herrscht. Also, ich will sogar so weit gehen, Ihnen sagen, dass diese Unterschiede – und da muss ich nun wieder ein großes Lob für Dresden sagen – wenn Sie nach Leipzig an die Hochschule gegangen sind, da wehte ein anderer Wind. Das hing auch sicher mit den Personen zusammen, die so’n Institut leiten und mit dem Geist, der in ’ner Stadt wohnt. Und wir haben – ich sage das wirklich so – wir haben das zum Teil ausgeblendet. Die Kultur in der DDR war sowieso eine Nische. Ein Kämmerchen, ein Schatzkämmerchen und die Realität ist auch an der Kultur immer bissel vorbeigegangen. Und das betrifft also diejenigen, die die Freiheiten oder diese Besonderheiten, diese Nischeneigenschaften nutzen konnten, aber auch die, die der Meinung waren – wie ich eben zum Beispiel ’ne lange Zeit – dass das alles, das ganze Land so ist. Also, ich glaube, mein großer Denkfehler ist immer gewesen: Ich habe gedacht, so, wie zum Beispiel unsere Schulzeit war oder wie meine Kindheit, mein Elternhaus war, so ist eigentlich das ganze Land – im Grunde in Ordnung. Vielleicht ist mal dort ein bissel was kaputt und mal da gibt’s keine Tomaten, aber ansonsten ist eigentlich die Welt in Ordnung.
In Bezug auf den B-Typ weisen unsere Daten die größten Lücken auf. Hier ist es kaum möglich, einigermaßen verlässlich eine spezifische Umgangsweise mit der Dimension des Politischen zu rekonstruieren. Allerdings können wir aufgrund unserer Kenntnis der Typen A und C und all jenem, was wir bislang über den B-Typ wissen, zumindest angeben, welche Möglichkeiten diesem Typ nicht zur Verfügung standen, um mit dieser Dimension umzugehen. Die unter diesem Typ befassten Schülerinnen und Schüler besaßen zu Beginn ihrer Spezialschulzeit noch kein geschlossenes musikalisches Selbstkonzept. Musik war ihnen zwar wichtig, bildete aber (noch) keinen Lebensinhalt in dem Sinne, dass sie ein Zentrum gewesen wäre, auf das sich alle sonstigen Lebensvollzüge (z.B. Interesse für andere Wissensgebiete, soziale Kontakte) gleichsam selbstverständlich bezogen hätten. Dass sich beim A-Typ ein derartiges Selbstkonzept herausbilden konnte, hängt – wie wir in der soziogenetischen Interpretation noch genauer sehen werden – in hohem Maße mit den familiären Kontexten zusammen, die bereits in vielerlei
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Hinsicht jene stark musikbezogene Fokussierung aufwiesen, die ein wichtiges Kennzeichen für die Passung an der Spezialschule darstellte. A-Typ-Vertreter konnten also – pointiert gesprochen – relativ problemlos von der einen Nische in die andere überwechseln. In ihren Rückblicken wird die »heile Kindheit« als ein zusammenhängender Bogen beschrieben, der von der primären Sozialisation in der Familie bis zum Ende der Spezialschulzeit reicht. Gerade deswegen konnte im Orientierungsrahmen dieses Typs eine Differenz zwischen »eigentlicher« und »offizieller« Spezialschule entstehen – eine Konstruktion, in der alles, was den Nischencharakter der heilen Welt in Frage gestellt hätte, dem »offiziellen« Teil zugeschlagen wurde. Dieser Teil wurde als lästiges Übel in Kauf genommen, er war gleichsam die bittere Pille, die man schlucken musste, um in den Genuss der vollendeten Passung zu kommen. Eine derartige Konstruktion ist dem Typ des »Schülers« verwehrt. Zwar stellt auch für ihn die Spezialschule eine Nische dar, doch dieser Nischencharakter besitzt eine andere Qualität. Da seine Vertreter zu Beginn der Schulzeit (noch) nicht mit dem gleichsam selbstverständlich die eigene Existenz definierenden Kompass einer Musikeridentität ausgestattet waren, erschien ihnen die Spezialschule weniger als ein Ort, der perfekt zum eigenen Orientierungsrahmen passte, denn vielmehr als eine Möglichkeit, anderen Alternativen, die eine deutlich schlechtere Passung geboten hätten, zu entfliehen. Es ist kennzeichnend für den B-Typ, dass die Entscheidung zur Spezialschule nicht aus einem Interessensgleichklang von Schüler und Elternhaus heraus erwuchs, sondern von unseren Gesprächspartnern häufig als eine Art strategischer Entschluss präsentiert wurde, bei dem die Eltern oftmals eigene, nicht unbedingt musikbezogene Interessen verfolgten. Dass die B-Typ-Vertreter bei der Beschreibung ihres Weges an die Spezialschule fast ausnahmslos auf derart strategische Argumente zu sprechen kommen, hängt zweifellos damit zusammen, dass sie von keinem familiär gewachsenen Musiker-Selbstkonzept berichten können, für das die Option Spezialschule gleichsam alternativlos war. Eben weil noch kein in sich gefestigtes Selbstkonzept vorlag, spielten die Eltern, deren Position beim A-Typ mit dem eigenen Orientierungsrahmen ja bis zur Unkenntlichkeit verschmolz, einen eigenständigen Part. Einige Beispiele: Frau Thalheim: Und dann stand halt die Frage im Raum: Machen wir das mit der Spezialschule oder nicht? Und jetzt kommt dazu: Ich hätte mit meinem Hintergrund niemals die Chance gehabt, ein Abitur zu machen. So, und da haben meine Eltern dann damals den Entschluss gefasst, dass ich da auf die Spezialschule kam. Eigentlich erst mal nur wegen des Abiturs – das schien damals [zweite Hälfte der 1960er Jahre] noch möglich – weniger wegen der künstlerischen Laufbahn, so haben das meine Eltern gesehen. Ich ein bisschen anders, aber gut. Wir haben das also dann in die Wege geleitet. Frau Groß: Und für meine Eltern war’s eine Lebensentscheidung, zu gucken, ob man mit der Musik zu ’nem höheren Bildungsweg kommt. Weil, zu der Zeit, als ich in die Schule kam, gab es ein sehr stark stalinistisch geprägtes Bildungssystem. Und da beide Eltern ein »I« im Klassenbuch hatten, hätte ich trotz sozusagen bester schulischer Leistungen sehr strampeln müssen, um zu ’nem Studium zu kommen. Und wir kannten dann die Geigenlehrerin, die empfahl dann, es vielleicht in der Spezialschule zu versuchen. Zu gucken, ob man die Aufnahmeprüfung besteht, um damit eigentlich – wie soll ich sagen – einen Weg zu gehen, der in jedem Falle zu ei-
228 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE nem Studium führt – es sei denn, man erwiese sich irgendwo, sozusagen, als generell unfähig. War ich nicht. War ein pfiffiges Kerlchen.
Und auch bei Herrn Innstedt machen sich nicht-musikalische Motive bemerkbar, die in seinem Falle zwar keine politischen Aspekte beleuchten, aber dennoch vermuten lassen, dass auch hier ein strategisches Abwägen am häuslichen Familientisch stattgefunden hat: Und in der Zeit bis zur Spezialschule war ich ja auf ’ner sogenannten allgemeinbildenden Schule, und dort waren meine Leistungen und mein Verhalten und mein Betragen und alles also … Ich will nicht sagen, dass ich ein Problemkind gewesen bin, aber es war disziplinmäßig schon ziemlich heftig. […] Und ich glaub, [ich hab auch geübt], weil meine Mutter da hinterher war. Und ich glaube, vor der Spezialschule bin ich nachmittags dann, wie man das früher so gemacht hat, um den Block gezogen. Ich hatte ja auch ’nen Roller und bin auch mit dem Roller in die Musikschule gefahren und mit dem Roller durch die Gegend. Und es gab auch Keilereien dann unterwegs, wenn man mal einen getroffen hat, den man nicht mochte. Also heute würde man sagen, wie so ’ne Gang oder so.
Bei Herrn Hauschka schließlich ergibt sich der Entschluss zur Spezialschule als eine auf Seiten der Eltern nicht ohne Konflikt zustande gekommene Entscheidung, an der er selbst keinerlei Anteil zu haben scheint: Und ich muss natürlich auch sagen: Ich hab auch in einem Umfeld gelebt … Mein Vater war politisch sehr stark engagiert, was natürlich logischerweise (…) versucht wurde auf die Kinder zu übertragen. Und er hat sich eigentlich erst vor ein paar Jahren auch da geoutet und gesagt: »Ich wollte eigentlich nie, dass du Musiker wirst. (..) Ich wollte immer, dass du eher zum Militär gehst oder ’nen anderen Beruf hast.« Also für ihn war das suspekt. Da gab’s [einen Konflikt] also zwischen meiner Mutter, die das unbedingt wollte, dass nun das Vermächtnis von ihrem eigenen Vater sich erfüllt und meinem Vater, der da sagte: »Also muss eigentlich nicht sein.« Und so. Also, man merkt das ja nicht als Kind, dass man da irgendwie zwischen den Fronten steht, ne? Oder zumindest bewusst kriegt man das nicht mit. So ’ne Dinge, die da im Hintergrund ablaufen.
Das Nicht-Vorhandensein einer Fixierung aufs Musikalische führt dazu, dass die Spezialschule von den B-Typ-Vertretern nicht so sehr als eine Erweiterung oder Verlängerung des familiären Lebensraums wahrgenommen wird. Dadurch entfällt die Möglichkeit einer inneren Differenzierung zwischen »eigentlicher« und »offizieller« Schule. Die Spezialschule erscheint als eine einzige, in sich zusammenhängende Institution, in die alle möglichen Aspekte – und natürlich auch politische – mit hineinspielen. Ebenso ausgeschlossen sind beim Typ »Schüler« aber auch die Darstellungsmöglichkeiten einiger C-Typ-Vertreter, die sich als tendenzielle Außenseiter konzeptualisieren, denen die Institution als ein die musikalische und politische Dimension gleichermaßen umspannender Gesamtkomplex feindlich gegenübertritt und ihnen dabei kaum Handlungsmöglichkeiten lässt. Dem B-Typ stehen also in Hinblick auf die Institution Spezialschule keine profilierten Gegenhorizonte zur Verfügung, in die er die politische Dimension innerlich einordnen könnte. Weder besitzt er – wie der A-Typ – den uneingeschränkt positiven Horizont einer die eigene Entwicklung
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mustergültig fördernden Nische, der als negativer Gegenhorizont »die Institution« gegenübersteht. Noch ist die Spezialschule für ihn – wie im Falle des C-Typs – ein Ort dezidierter Nicht-Passung, durch die er die Rolle eines tendenziell am Rande stehenden Beobachters erhält. Die Vertreter des B-Typs nehmen die Spezialschule eher als einen Gesamtkomplex wahr, der für sie positiv-passende, aber auch negativbedrängende Erfahrungen zugleich bereithält. Im Unterschied zum C-Typ sind sie der Institution gegenüber nicht lediglich ausgeliefert, sondern verfügen durchaus über Handlungsoptionen, durch die sie in die Lage versetzt werden, eine ihnen gemäße Form der Passung herzustellen. Vielleicht ist das auch der Grund dafür, dass die Erwähnung des Politischen beim Typ des »Schülers« eher zufällig erfolgt – nämlich immer dann, wenn die Erzählsituation es gerade hergibt. Und wenn dies nicht eintritt, dann bleibt dieser Aspekt unerwähnt. Während die A-Typ-Vertreter aufgrund ihrer grundsätzlichen Differenzierung zwischen »eigentlich« und »offiziell« quasi von sich aus immer wieder auf die von ihnen gezogene Differenzlinie zu sprechen kommen (wobei sie natürlich immer auch die negativen Aspekte jenseits dieser Linie beleuchten müssen), existiert hier keine derartig eindeutige Unterscheidung. Die Akteure berichten von ihrem persönlichen Weg innerhalb des schulischen Erfahrungsraumes. Dieser Raum lässt sich nicht prinzipiell in positive und negative Gegenhorizonte unterteilen (wie beim A-Typ), stellt aber ebenso wenig insgesamt einen negativen Gegenhorizont dar (wie beim C-Typ). 3.5.2 Sinngenetische Typenbildung Im Gegensatz zu den bisher behandelten Abschnitten ist es uns in Hinblick auf die Dimension des Politischen nicht möglich, eine vollständige Typologie zu entwerfen. Immerhin reicht unser Datenmaterial aber aus, um Aussagen zu den Typen A und C zu treffen. 3.5.2.1 Inhaltliche Aspekte im Überblick Sinngenetische Typologie IV (Inhaltsdimension): Politische Einflüsse
Leistung & Begabung
Typ A: »Fisch im Wasser«
Leistung und Begabung werden als zentrale Erwartungshaltungen auf Seiten der Schule wahrgenommen. Die Schule erscheint als eine Institution, die sich nach Kräften bemüht, den Einfluss der Politik so zu reduzieren, dass sich Leistung und Begabung ungestört entfalten können. Die eigene Leistungsfähigkeit ermöglicht ggf. das Hinwegsetzen über politisch motivierte Ansprüche der Schule bzw. des Staates.
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
Leistung und Begabung werden als zentrale Erwartungshaltungen auf Seiten der Schule wahrgenommen. Die Schule erscheint als eine Institution, die sich primär einem Leistungsauftrag verpflichtet sieht und demgemäß alles auszublenden versucht, was dem im Wege stehen könnte. Einige Vertreter dieses Typs interpretieren diesen unbedingten Leistungsauftrag aber zugleich als Ausdruck des politischen Systems (Braubach, Dahlke).
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Rollenidentität & Beziehungsgefüge
Persönlichkeitsentfaltung & Berufsorientierung
Typ A: »Fisch im Wasser«
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
a) Implizite Unterscheidung zwischen der »eigentlichen« Spezialschule, die eine als perfekt empfundene Einheit von Persönlichkeitsentfaltung und Berufsorientierung gewährleistet, und der »offiziellen«, die im Dienste des Systems steht und dementsprechend meist negativ gesehen und abgelehnt wird. Selbstverständliche politisch oppositionelle Einstellung (Schaller, Gundolf) b) Angesichts der als perfekt empfundenen Einheit von Persönlichkeitsentfaltung und Berufsorientierung wird die politische Dimension vollständig/weitgehend ausgeblendet oder marginalisiert (Dürer, Trenkler, Leininger).
Spezialschule erscheint als staatliche Institution, die ihren Ausbildungsauftrag in allen Aspekten ohne Rücksicht auf widerstrebende Orientierungsrahmen durchsetzt. Die Folge ist eine deutliche Passivität im Hinblick auf eine politische Positionierung (Anpassungsdruck).
Innere Einbindung in eine als dominant empfundene Gruppe, die der politischen Einflussnahme kritisch bis ablehnend gegenübersteht. Darstellung der Schülerschaft aus einer Wir-Perspektive. Die Existenz anderer Orientierungsrahmen wird ausgeblendet.
Etablierung einer Beobachterperspektive, die politisch motivierte Maßregelungen aus der Perspektive eines Außenstehenden wahrnimmt.
3.5.2.2 Strukturtheoretische Aspekte im Überblick Sinngenetische Typologie IV (strukturtheoretische Dimension): Politische Einflüsse
Ebene des Imaginären
Ebene des Symbolischen
Typ A: »Fisch im Wasser«
Alles was dem »eigentlichen« musikalischen Ausbildungsauftrag der Schule im Wege steht, wird abqualifiziert. Wahrnehmung der eigenen Haltung als dominierende Perspektive auch im Hinblick auf die politische Dimension.
Spezialschule erscheint als vom politischen System weitgehend abgekoppelte Nische, in der sich die heile Welt der Kindheit fortsetzt
Typ B: »Schüler«
Typ C: »Fremdling«
a) Identifikation mit dem Bemühen der Schule, den Einfluss des Politischen zugunsten von Leistungserwartungen begrenzt zu halten, obgleich der eigene Orientierungsrahmen diesen Leistungserwartungen nicht gerecht werden zu können glaubt (Trescher). b) Leistungserwartungen als Ausdruck des politischen Systems begriffen (Braubach, Dahlke). Spezialschule erscheint als in expliziter Hinsicht zwar unpolitische, hinsichtlich ihrer Leistungserwartungen aber dennoch systemnahe Institution.
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3.5.2.3 Die Dimension des Realen – Antinomie zwischen autonomer Fachlogik und politisch-gesellschaftlichen Interessen Wenn man von Niklas Luhmanns differenzierungstheoretischem Diktum ausgeht, wonach moderne Gesellschaften als Ensemble funktional differenzierter Teilsysteme aufzufassen sind (vgl. Luhmann 1984, S. 643 f.), liegt die Folgerung nahe, dass die DDR keine moderne Gesellschaft war. Aufgrund des Allmachtanspruchs der SED, der sich ja nicht nur auf die Bereiche Politik und Wirtschaft, sondern ebenso auf Wissenschaft, Kunst, Sport, Medien, Justiz und Bildung bezog, war es ausgeschlossen, dass die einzelnen Teilbereiche allein ihrer jeweiligen Systemlogik gehorchten und mit den anderen Bereichen lediglich in einer – wie es bei Luhmann heißt – »strukturellen Kopplung« standen. Weil es im Kern immer und überall darum ging, »Westdeutschland auf allen Gebieten zu überflügeln« (Walther Ulbricht), war es nur logisch, wenn sich die von dieser Losung angetriebene sozialistische Gesellschaftspolitik in jedem einzelnen dieser Teilsysteme nachdrücklich zu Wort meldete. Gerade deshalb wirft der in unseren Interviews so häufig gefallene Begriff der »Nische« ein schwieriges theoretisches Problem auf, provoziert er doch die Frage, wieso sich ausgerechnet an einer Spezialschule, d.h. an einer Institution, die doch eigentlich in besonderer Form mit staatlichen Interessen und Zielsetzungen verbunden sein sollte, ein derartiger Nischencharakter realisieren konnte. Um diese Frage zu klären, ist der Vergleich mit einem Bereich sinnvoll, in dem die staatlichen Interessen noch ungleich direkter und deutlicher hervortraten als in der Musik: dem Sport. Spätestens seit dem so genannten »Leistungssportbeschluss« des Politbüros des Zentralkomitees der SED aus dem Jahre 1969 war es eine ausgemachte Sache, dass sich in Erfolgen bei Olympischen Spielen und Weltmeisterschaften die Leistungsfähigkeit der sozialistischen Gesellschaft in besonderer Form dokumentierte. Erfolgreiche Leistungssportler galten als »Diplomaten im Trainingsanzug« (Adam et al. 2015, S. 105), nicht ihr individueller persönlicher Erfolg zählte, sondern der Dienst, den sie mit diesem Erfolg ihrem Land erwiesen. Ungeachtet dieser nicht zu übersehenden Aufladung des Leistungssports mit politischen Zielsetzungen, die sich gegen die Lumann’sche Vorstellung ausdifferenzierter, nebeneinander existierender Teilsysteme zu sperren scheint, argumentieren aktuelle Studien zum Leistungssport in der DDR dennoch auf systemtheoretischer Grundlage (vgl. Borggrefe et al. 2009; Adam et al. 2015, S. 114). Dabei wird das Verhältnis zwischen Sport und Politik als Verhältnis zweier gesellschaftlicher Teilsysteme charakterisiert, die jeweils einem spezifischen binären Code folgen, der den Kern dessen darstellt, was das jeweilige Teilsystem ausmacht und von anderen Teilsystemen unterscheidet: Im Sport wäre das die Codierung »Sieg/Niederlage«, in der Politik hingegen die Codierung »übergeordnet/untergeordnet« (vgl. Roth 2014, S. 116). Dieser Ansatz lässt sich von der Maßgabe leiten, dass es sich beim Teilsystem Sport zunächst einmal um etwas ganz und gar Eigenständiges und damit wesensmäßig Unpolitisches handelt: Die strikte Ausrichtung auf den Code »Sieg/Niederlage« folgt, so die Argumentation, einzig den Eigengesetzmäßigkeiten des SportSystems, in deren Angesicht es zunächst keinerlei Rolle spielt, ob der siegreiche Sportler nun politisch korrekt denkt oder nicht. Der maßregelnde Eingriff der Politik – in Form etwa einer rigiden Überprüfung der Sportlerinnen und Sportler auf Linientreue und Zuverlässigkeit – wird dann zwangsläufig als Fremdkörper definiert, der von außen in die Eigenlogik des Sportsystems eindringt. Der politische Code »über-
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geordnet/untergeordnet« kann und muss zwar vom Teilsystem des Sports so übersetzt werden, dass ein paralleles Existieren beider Systeme möglich ist; allerdings beeinflusst dieser gegenseitige Abstimmungsprozess, den Luhmann eben als »strukturelle Kopplung« bezeichnet, nie die grundsätzlich eigenständige Codierung der Teilsysteme. Gegen diesen zunächst durchaus plausibel erscheinenden Ansatz lassen sich drei Argumente geltend machen. 1) Möglicherweise war die Codierung »Sieg/Niederlage«, die aus systemtheoretischer Perspektive ja die Eigenlogik des Sportsystems charakterisieren soll, in der DDR gar nicht so vollständig selbstbezüglich, wie es vielleicht scheinen mag. Denn schließlich – das zeigt sich paradigmatisch an der zitierten Ulbricht-Forderung nach der Überflügelung Westdeutschlands – war auch die Eigenlogik des politischen Systems durch und durch kompetitiv geprägt. Die nicht zufällig aus dem sportlichen Bereich stammende Metapher vom »Wettlauf der Systeme« zeigt, dass es im Kern des politischen Selbstverständnisses immer und überall um den »Sieg« des Sozialismus und die »Niederlage« des Kapitalismus ging. Deshalb war ein sportlicher Sieg immer auch automatisch ein Sieg des politischen Systems. Und weil es in letzter Konsequenz nicht um den siegenden Sportler, sondern um die sich in diesem Sieg manifestierende Überlegenheit des Systems ging, war es auf der anderen Seite nur naheliegend, wenn ausbleibender Erfolg mit einer strikt gehandhabten Praxis der so genannten »Ausdelegierung« einherging.23 Was nicht zum Sieg des Systems beitrug, verdiente keine Förderung mehr. »Sieg« und »Niederlage« waren also nicht ausschließlich der spezifische binäre Code des Sportsystems, sondern bildeten vielmehr eine Schnittmenge zwischen Sport und Politik, auf deren Grundlage der scheinbar strikt selbstbezüglich operierende Sport zu einer Teilfunktion des politischen Systems werden konnte. Natürlich lässt sich aus systemtheoretischer Sicht einwenden, dass es unter rein sportlichen Aspekten keine Relevanz besaß, ob ein Sprinter nun überzeugter Kommunist war oder nicht – für seinen Wettkampfsieg war die politische Einstellung irrelevant. Insofern liegt in dem, was hier als Schnittmenge bezeichnet wird, systemtheoretisch betrachtet nichts weiter als eine »strukturelle Kopplung« vor, die die Selbstständigkeit der Teilsysteme unberührt lässt. Für das Teilsystem Sport ist es, so die systemtheoretische Argumentation, eben doch ein systemfremder Eingriff, wenn – wie es in der DDR der Fall war –»politisch unerwünschte Entwicklungen bei Sportlern und in deren Umfeld zu einer frühzeitigen Beendigung der spitzensportlichen Förderung führten.« (Adam et al. 2015, S. 133) 23 Ein Beispiel aus einem Zeitzeugenbericht, bei dem ein zunächst vielversprechender Radsportler über seine Ausdelegierung berichtet: »Das war eigentlich ganz fürchterlich. Ich hatte irgendwie in der neunten Klasse im Frühling gemerkt, das läuft wieder[…]. Jedenfalls trainierten wir noch fleißig für die DDR-Meisterschaft. [Dann], das weiß ich noch ganz genau, da hab ich mein Rad verladen, wurden Reifenschoner um die Räder gemacht, schön eine Decke drüber, auf den LKW gestellt und gestreichelt – tschüss bis morgen. Dann runter vom LKW und dann sagt der [Trainer], ›du kommst heute Abend um 19 Uhr mal mit deinen Eltern hoch. Hier zum Club. Naja, gut, bin ich hoch, da saßen dann drei Typen und haben gesagt, ›das haste alles nicht geschafft und ja, jetzt ist Schluss‹. Ich fragte dann, ›und mein Fahrrad‹? Die dann, ›kannst du oben [am Club] lassen, nehmen wir als Ersatzrad‹. Von dort an brauchte ich nicht mehr am Training teilzunehmen und war raus. Von einer Minute zur anderen.« (Adam et al. 2015, S. 131 f.)
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2) Hier allerdings ist ein zweites Argument gegen den systemtheoretischen Ansatz ins Spiel zu bringen: Aus der Perspektive des politischen Systems – die vielleicht eine ideologische war, die aber dennoch unstrittig »reale« Auswirkungen hatte – konnte ein Sieg im Wettkampf auch unter rein sportlichen Aspekten nie etwas völlig Unpolitisches sein. Schließlich wurde durch ihn ja die Überlegenheit eines Förder- und Trainingssystems zum Ausdruck gebracht, das seinerseits als ein Hinweis für die Leistungsfähigkeit des gesellschaftlichen Systems im Ganzen begriffen wurde. Der Sieg eines einzelnen Sportlers stellte immer nur die Spitze eines Eisbergs dar, dessen untere Schicht aus einem komplexen zentralistischen System der Sportförderung bestand, in dem sich, sofern die Spitzensportler erfolgreich waren, der fortschrittliche Stand der sozialistischen Gesellschaft widerspiegelte. Daher schien es – immer noch aus der Sicht des politischen Systems heraus argumentiert – nur naheliegend, wenn innerhalb dieser Förderung dann auch auf politische Linientreue geachtet wurde. Wäre das nicht der Fall gewesen, so hätte ja die Gefahr bestanden, dass einzelne Sportler das staatliche System zugunsten eigener Zwecke »missbraucht« und sich damit »systemschädigend« verhalten hätten: Ihr Verhalten wäre als Verrat an dem durch die Arbeitskraft aller Werktätigen möglich gewordenen Fördersystem interpretiert worden, ohne das sie ihre Spitzenleistung gar nicht hätten erbringen können. Aus dieser Perspektive war die Rolle des rein an der Sache arbeitenden, unpolitischen Sportlers oder Trainers schlechterdings nicht denkbar. Die fachbezogene Tätigkeit wurde in einem mehr als nur metaphorischen Sinne immer auch als politisch begriffen. Dazu passt, dass diejenigen Sportler, die es einmal in das staatliche Fördersystem geschafft hatten und sich dort bewährten, nur unter großen Schwierigkeiten freiwillig wieder aussteigen konnten (vgl. ebd., S. 134). 3) Und drittens wird vernachlässigt, dass eben diese durchgängige Kontaminierung mit politischen Zielsetzungen auch die Art und Weise, in der Leistungssport betrieben wurde, beeinflusste. Selbst innerhalb der so genannten Eigengesetzlichkeit des Sports schlug sich also der Einfluss des politischen Systems nieder. Das lässt sich beispielsweise am Begriff der »Hyperinklusion« illustrieren, der zwar aus der Systemtheorie stammt, aber dennoch sehr wohl auch geeignet ist, deren Grenzen aufzuzeigen (vgl. Göbel & Schmidt 1998). Hyperinklusion bezeichnet ein Phänomen, bei dem die Akteure eines Systems dazu angetrieben werden, »stets mehr in die eigene Entwicklung zu investieren, als ihnen eigentlich möglich [ist].« (Ebd., S. 119) Diesem Phänomen wird man kaum gerecht, wenn man es aus rein sportlicher Perspektive beschreibt – manifestiert sich in ihm doch vor allem das politische System mit seinem auf dem Alles-oder-Nichts-Prinzip basierenden Machtanspruch. Das Problem des systemtheoretischen Ansatzes in Hinblick auf eine Beschreibung der DDR-Gesellschaft besteht also zusammengefasst darin, dass er die Sphäre des Politischen als ein Teilsystem unter anderen begreift. Da ein funktionaler Primat eines Teilsystems gegenüber anderen ausdrücklich ausgeschlossen ist, muss der Einfluss der Politik auf den Sport als Einbruch einer fremden Systemlogik in das grundsätzlich autonom gedachte Feld des Sports angenommen werden, was – wie dargelegt – zum einen ignoriert, dass die sportspezifische Codierung »Sieg/Niederlage« auch ein Kennzeichen des politischen Systems war, was fernerhin unbeachtet lässt, dass der sportliche Sieg nur als Folge sportpolitischer Maßnahmen möglich war, die als unmittelbarer Hinweis auf die Überlegenheit des politischen Systems gedeutet werden konnten und was schließlich ausblendet, dass es selbst innerhalb der sport-
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spezifischen Systemlogik zu Verhaltensweisen kam, in denen sich die Eigenlogik des politischen Systems direkt äußerte. Der Rückgriff auf eine systemtheoretische Argumentation ist, so fragwürdig er in Hinblick auf den Leistungssport in der DDR sein mag, an dieser Stelle dennoch nicht überflüssig. Denn was im Sport schlechterdings ausgeschlossen war – die Entwicklung von Nischen, in denen der Primat der Politik eine weitgehend untergeordnete Rolle spielte – scheint ja doch, wie unsere Studie zeigt, in einem Kontext wie der Dresdner Spezialschule durchaus existiert zu haben. Es stellt sich also die Frage, ob die Umgangsweise mit der Dimension des Politischen an der Dresdner Spezialschule nicht doch ein Hinweis dafür ist, dass es auch in der DDR gesellschaftliche Teilsysteme gab, die sich unter bestimmten Umständen weitgehend auf ihren spezifischen Code24 konzentrieren konnten und nur beim Überschreiten einer bestimmten Grenze mit dem Machtanspruch des politischen Systems in Berührung kamen. Es geht – bündig formuliert – um die Frage, welche Gestaltungsspielräume die Antinomie zwischen autonomer Fachlogik und politisch-gesellschaftlichen Interessen, die unabhängig vom jeweiligen Gesellschaftssystem für jede Form schulischer Bildung relevant ist, an der Dresdner Spezialschule besaß. Unsere Interviews haben gezeigt, welch wichtige Rolle die Gruppe der Orchestermusiker bzw. der so genannten »Praktiker« – in Abgrenzung zu den hauptamtlich lehrenden »Nur-Pädagogen« – bei der Ausbildung an der Dresdner Spezialschule spielte. Hier ist nochmals an den von Herrn Leininger beschriebenen Herrn Ihring zu denken, an das Interview, das wir mit Herrn Bormann führten, aber auch an Prof. Burkhardt, der im Interview von Frau Dahlke ja als eine Instanz sui generis dargestellt und von ihr innerlich gar nicht der Spezialschule zugerechnet wird. Diese Lehrergruppe stellte nicht nur rein zahlenmäßig einen wichtigen Faktor dar, sondern war zugleich durch einen Orientierungsrahmen geprägt, der nicht den vom Staat bestellten Pädagogen, sondern den erfolgreichen Praktiker als eigentlichen Träger der Ausbildung begriff und der aus dieser Perspektive heraus die Möglichkeit besaß, sich von der staatlichen Institution Spezialschule innerlich abzugrenzen. Um es noch einmal mit Herrn Bormann zu formulieren: Die Rektoren, ob jetzt an der Hochschule oder an der Spezialschule, hatten nicht so den Stellenwert. Den Stellenwert hatten wir hier in Dresden. […] WIR hatten hier die ganzen Solobläser, die ganzen Konzertmeister und die ganzen besonderen Musiker unserer beiden Spitzenorchester, und die haben den Fachunterricht in unserer Hochschule [gemacht].
Auch wenn diese Sichtweise sicher nicht der »offiziellen« entsprach, so ist doch allein schon die Tatsache, dass ein Orientierungsrahmen überhaupt ein derartiges Selbstverständnis entwickeln konnte, ein beredter Hinweis auf einen Erfahrungsraum, innerhalb dessen es anscheinend möglich war, ein derartiges Selbstverständnis auszuprägen. 24 Über die Frage, welcher Code für eine professionelle klassische Musikausbildung anzunehmen wäre, schweigen sich systemtheoretische Studien allerdings bislang aus. Roths Vorschlag, für den Bereich der Kunst generell die Codierung »Innovation/Imitation« zu verwenden, ist für eine Beschreibung instrumentalen Lernens sicher nur bedingt geeignet (vgl. Roth 2014, S. 38; Adam 2015, S. 116).
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Dieser Orientierungsrahmen, der von jenen Lehrkräften, die nicht in diesem Sinne aus der Praxis kamen, als durchaus problematisch empfunden wurde, weist darauf hin, dass – anders als im Sport – die Ausbildung des professionellen musikalischen Nachwuchses nicht allein innerhalb eines eigenständigen und geschlossenen staatlichen Systems der Musikförderung stattfand, sondern zumindest teilweise an Vertreter aus der Musikpraxis delegiert wurde, die innerlich nur mit einem Bein innerhalb des Ausbildungssystems standen. Zur anderen Hälfte präsentierten sie sich als selbstbewusste Vertreter ihres Berufsstandes, die ihre Ausbildungstätigkeit im Sinne eines Meister-Lehrling-Verhältnisses gesehen wissen wollten, wobei der Lehrling im besten Falle der künftige Kollege war. Dieses Verständnis ist keineswegs anti-institutionell – schließlich stellen Orchester ebenfalls Institutionen dar, die von ihren Mitgliedern repräsentiert werden. Diese Institutionen wurden zumal in Dresden jedoch von einem Orientierungsrahmen beherrscht, der sich nicht primär auf den Staat bezog: Das Selbstverständnis eines Dresdner Kapellmusikers speiste sich nicht aus den Grundsätzen der DDR-Kulturpolitik, sondern vielmehr aus einer 450jährigen Tradition und dem von Richard Wagner geprägten Bild der »Wunderharfe«. Eben deshalb hat es im Zuge der Wende wohl auch keinerlei nennenswerte Veränderungen hinnehmen müssen. Dieser den Staat weitgehend ignorierende Orientierungsrahmen bot Orchesterpraktikern wie Herrn Bormann sogar die Möglichkeit, die Perspektive der »offiziellen« Spezialschule als negativen Gegenhorizont zu etablieren. Möglich wurde dieses Selbstverständnis natürlich nur deswegen, weil es in Dresden ein besonderes bürgerliches Resonanzfeld gab, das der klassischen Hochkultur und insbesondere der diese Kultur verkörpernden Staatskapelle genau jenen Nimbus zuschrieb, den die Kapellmusiker dann für sich auch in Anspruch nahmen. Für die Vertreter dieses Bürgertums war die Musikausbildung an der Spezialschule also immer auch Teil der eigenen kulturellen Identität – einer Identität, die, wie Uwe Tellkamp in seinem Roman »Der Turm« gezeigt hat, oftmals mit einer Ausblendung der gesellschaftlichen Realität einherging: »Im Grunde, dachte Meno, interessiert [sein Schwager] Niklas sich nur für Musik und für historische Aufnahmen dieser Musik. Je toter, desto besser! Und so sind sie hier oben alle, am liebsten würden sie im Alten Dresden leben, dieser fein-barocken Puppenstube und pseudoitalienischen Zuckerbäckerei, sie seufzen ›Frauenkirche‹ und ›Taschenberg-Palais‹ und ›Hach, die Semperoper!‹, […] sie sagen nie ›die Nazis‹, sondern ›die Tiefflieger‹ […] und ›wer das Weinen verlernt hat, der lernt es wieder beim Untergang Dresdens‹, und dann schlug Meno vor Unmut mit der Faust gegen einen Baum.« (Tellkamp 2008, S. 347)
Für Schüler, die aus Musikerfamilien bzw. aus kulturbewussten Elternhäusern mit bildungsbürgerlichem Lebensstil kamen, war es möglich, in ihrem Orientierungsrahmen die sekundäre schulische Sozialisation an der Spezialschule unmittelbar an die erfahrene primäre familiäre Sozialisation zu binden. Die Spezialschule stand bei ihnen für eine kulturelle Orientierung, die sich in hohem Maße mit den Orientierungen der Familien, denen sie entstammten, deckte. Diese Schüler vermochten daher zu differenzieren zwischen der Spezialschule als einer von Vertretern der Dresdner Kultur dominierten Lehrstätte – zu denen sie sich entweder selbst schon zählten (Herr Schaller, Herr Gundolf, Herr Dürer, Frau Kolbe) oder mit denen sie sich doch zumindest innerlich verbunden fühlten (Herr Leininger) – und der Spezialschule als
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staatlicher Institution: Herr Schaller und Herr Gundolf distanzieren sich von allem, was mit den strukturellen und auch politischen Dimensionen der Schule zu tun hat – was sie aber nicht daran hindert, sich dennoch grundsätzlich mit der Schule zu identifizieren und das Spezialschulmodell auch heute als ideale Form früher professioneller Ausbildung hochzuhalten. Durch die Möglichkeit, die Spezialschule als Ausdruck einer spezifisch Dresdner Kultur zu begreifen, konnten diese Schüler die Spezialschule als Nische wahrnehmen: als einen Raum, in dem die Verfügungsgewalt des politischen Apparates nicht mit gleicher Unerbittlichkeit zu spüren war wie an anderen Schulen. Und da dieser Orientierungsrahmen mit einer gewissen Dominanz auftreten konnte, vermochte er die Realität des konjunktiven Erfahrungsraumes so zu beeinflussen, dass selbst von außen kommende Schüler wie Herr Trescher, die diesen Orientierungsrahmen nicht teilten und die Schule insgesamt gewiss nicht als Nische empfanden, in Bezug auf die politische Dimension dennoch den Begriff der Oase verwenden konnten. Diese Möglichkeit, die Spezialschule nicht als staatliche Ausbildungsstätte, sondern als Ort wahrzunehmen, in dem sich ein Stück »Dresdner Kultur« verkörperte, ist aber nicht der einzige Grund, der die Nische ermöglichte. Zu ihrer Realisierung bedurfte sie der in Kapitel 3.3.2.3 (S. 175 ff.) thematisierten strukturellen Leerstellen, die der Staat den Spezialschulen ließ und die in dieser Form für das Sportsystem undenkbar gewesen wären. Spielräume, die zuließen, dass ein Nicht-Parteimitglied wie Frau Erxleben die Schule lange Jahre leiten konnte, und die das Verhältnis von Musikausbildung und Volksbildung in einer Weise undefiniert ließen, dass für Verantwortliche, die dies wollten, Handlungsoptionen entstanden, durch die sich unerwünschte politische Einflüsse bis zu einem gewissen Grad fernhalten ließen. Ein Weiteres kommt hinzu: In den Äußerungen von Herrn Braubach und Frau Dahlke war festzustellen, dass Schüler, die sich selbst eher als Außenstehende begriffen, eine Parallele zwischen dem politischen System und der Art und Weise, wie am Instrument ausgebildet wurde, zogen. Das entspricht in etwa dem, was hier auch in Bezug auf den Sport herausgearbeitet wurde: Die scheinbar rein sachbezogene Arbeit am Gegenstand mag von manchen Akteuren als unpolitisch und intrinsisch empfunden worden sein. Dennoch war sie in vielerlei Hinsicht von einem pädagogischen Selbstverständnis getragen, das sich auch in anderen Bereichen der DDR beobachten ließ. Die engmaschigen Leistungskontrollen gehören hier ebenso dazu wie die Orientierung an einem vordefinierten Lehrplan, der für alle Schüler gleichermaßen galt und innere Differenzierung nur in ganz beschränktem Umfang gelten ließ. Auch die Selbstverständlichkeit, mit der vorausgesetzt wurde, dass die Spezialschüler später allesamt professionelle Musiker werden, ist hier zu nennen. Die Interviews mit Herrn Bormann und Herrn Nierhoff zeigen nun aber, dass diese pädagogischen Ideale auch von den Praktikern, die sich als Vertreter der »eigentlichen« Spezialschule begriffen, geteilt wurden. Es sei hier nochmals ein Interviewausschnitt mit Herrn Bormann wiedergegeben und direkt mit einem Ausschnitt aus einem Aufsatz zur spitzensportlichen Begabungsförderung in der DDR verglichen. Das sich in beiden Passagen äußernde Selbstverständnis ist von frappierender Ähnlichkeit: Es ging im Prinzip darum, dass die ganzen Lehrer, die damals hervorragende Solisten, Konzertmeister der Kapelle und der Philharmonie waren, und sich die Mühe gaben … Das war natürlich auch immer noch ’ne Mühe. Man war viel mehr gebunden, wenn man an der Spezial-
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schule unterrichtet hat und dieses durchschnittlich vier bis fünf Jahre … Und nach den fünf Jahren dann sagt der Herr Schüler: ›Ach na ja, das ist doch nichts Richtiges für mich. Och nee, ich will doch lieber Mediziner werden.‹ Also, DAS gab es früher NICHT. […] [Nach einem Jahr sah man:] Oh, der eine wird gut, prima. Zweites Jahr: Der wird besser, alles logisch, alles klar. Der wird ein Student bei uns. Aber bei dem, nee, das wird nichts, da müssen wir uns leider trennen. Da mussten die wieder in ihre Heimatschulen zurück. Die Arbeitskraft des Lehrers war natürlich weg, aber alle anderen, die gut waren, kamen automatisch auch zum Studium. »Erfolgreiche Sportler, die […] nicht mehr willens waren, die Belastungen des kräftezehrenden Trainings auf sich zu nehmen, konnten nicht ohne weiteres ihre Karriere beenden. Sie erwarteten Repressalien und eine Aufrechnung der bisher investierten Mittel seitens der Sportfunktionäre. […] Eine ehemalige Ruderin erinnert sich: ›Im Leistungssportsystem der DDR durfte, glaube ich, niemand von alleine aufhören. Es ›wurde aufgehört‹. Das gab es nicht, dass einer gesagt hat, ›ich will das nicht mehr‹. […] Schon gar nicht bis zur zehnten Klasse oder bis zum Abitur. Da wurde nach irgendwelchen Tests entschieden, ›reicht nicht‹. Raus und Ende.‹ (Adam et al. 2015, S. 134)
Pointiert lässt sich also sagen, dass sich der Orientierungsrahmen eines erfolgreichen Orchestermusikers hinsichtlich seines Leistungs- und Motivationsverständnisses nicht grundsätzlich von demjenigen eines Repräsentanten der staatlichen Spitzensportförderung unterschied. In beiden Fällen findet ein Plädoyer für eine Praxis der Hyperinklusion statt, in der eine restlose Identifikation mit dem Gegenstand gefordert wird – unabhängig von den biografischen Folgekosten, die das für den Einzelnen mit sich bringen mag. Auch wenn Herr Bormann an keiner Stelle des Interviews Sympathien mit dem hinter der Spezialschule stehenden staatlichen Bildungssystem zu erkennen gibt, argumentiert er doch ganz in dessen Sinne. Ein Hinweis dafür, dass man sich nicht mit dem politischen System identifizieren musste, um in bestimmter Hinsicht dennoch systemkonform zu argumentieren. Gerade dieser Zusammenhang zeigt nun aber, dass auch für die Dresdner Spezialschule der systemtheoretische Gedanke eines allein der eigenen Systemlogik gehorchenden sachorientierten Arbeitens kein stimmiges Deutungsmodell ist. Wenn man im Sinne der Systemtheorie die Sphäre des Politischen lediglich als autonomes Funktionssystem begreift, dann wird der Gedanke unmöglich, dass das politische Selbstverständnis eines Staates den internen Charakter der Teilsysteme beeinflusst. Der Gedanke also, dass sich in der DDR die fachinterne Logik der Instrumentalausbildung auf eine DDR-spezifische Weise entfaltete. Diese Beeinflussung eines Teilsystems durch ein übergreifendes, die Gesamtgesellschaft charakterisierendes pädagogisches Selbstverständnis macht es daher nötig, ein Metasystem anzunehmen, das den Rahmen für die einzelnen Teilsysteme vorgibt. Im Gegensatz zur Systemtheorie, die von einem strikten Nebeneinander einzelner Teilsysteme ausgeht, hat Pierre Bourdieu die Funktionsweise eines derart schwer greifbaren Einflusses theoretisch eindringlich reflektiert. In seinen nachgelassenen Vorlesungen, die er von 1989–1991 am Collège de France »Über den Staat« hielt, ging es ihm darum zu zeigen, auf welche Weise die Instanz des Staates zur Produktion übergreifender und aufeinander abgestimmter Wahrnehmungsperspektiven führt. Der Staat wird von Bourdieu nicht als eine konkret greifbare administrative Einheit
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oder als Ort dezidiert »politischen« Handelns begriffen. Er ist vielmehr ein »Produzent von Klassifikationsprinzipien […], das heißt von strukturierenden Strukturen, die sich auf alle Dinge der Welt anwenden lassen, insbesondere auf die sozialen Dinge.« (Bourdieu 2014, S. 293) Der Staat fungiert damit als eine Meta-Einheit, die alle Lebensbereiche durchdringt und sich auch in den alltäglichsten Kommunikationen der Menschen dingfest machen lässt. Er reguliert die einzelnen Lebensbereiche – Bourdieu nennt sie »Felder« –, und zwar nicht so sehr durch faktische administrative Eingriffe, als vielmehr durch seine Fähigkeit, eine soziale Wirklichkeit zu schaffen, die die Menschen als schlechthin gegeben annehmen. Gerade wenn Akteuren ihre Verhaltensweise als die natürlichste Sache der Welt vorkommt, ist das ein Zeichen dafür, dass sie bestimmte Wahrnehmungsweisen so inkorporiert haben, dass ihnen Alternativen schlechterdings nicht mehr in den Sinn kommen. Dass ihre Verhaltensweisen alles andere als »natürlich« sind, zeigt sich immer dann, wenn die scheinbar als gegeben hingenommenen Wahrnehmungsweisen innerhalb der Felder in Frage gestellt werden. Es kann dann zu Kämpfen kommen, in denen diese zur Disposition stehen. Die mit unserer Studie unternommene Rekonstruktion eines konjunktiven Erfahrungsraumes ist – aus dieser Perspektive betrachtet – nichts anderes als eine Rekonstruktion von Kämpfen: Indem wir herausarbeiten, wie ein und dieselbe soziale Wirklichkeit von unterschiedlichen Akteuren unterschiedlich wahrgenommen wurde, indem wir Gründe anzugeben versuchen, mit denen sich diese Unterschiedlichkeit erklären lässt, und indem wir zu zeigen versuchen, aufgrund welcher Faktoren sich ein bestimmter Orientierungsrahmen als gültiges Wahrnehmungsmuster durchsetzen konnte, zeichnen wir einen Prozess meist stillschweigend vollzogener Auseinandersetzungen nach, an dessen Ende ein Set von Spielregeln stand, die innerhalb dieses Erfahrungsraumes von den Akteuren als »gültig« empfunden wurden. In diesem Set spielt der Aspekt des Politischen keine herausgehobene Rolle. Dennoch wäre es unzutreffend, den Erfahrungsraum der Spezialschule generell als politikfreien Raum zu charakterisieren. Trotz der Käseglocke, die dazu führte, dass in Dresden eine richtige Kunstschule entstehen konnte, war die Ausbildung doch von einem Orientierungsrahmen geprägt, der sich auch auf anderen Feldern der DDRGesellschaft geltend machte und auch dort wirksam war, wo sich die Akteure auf unpolitischem, rein fachbezogenem Terrain wähnten. Nur weil die an der Spezialschule praktizierte Ausbildung anschlussfähig an das Ausbildungsverständnis der DDRGesellschaft war, konnten die Spielräume überhaupt ausgeschöpft werden, die es gestatteten, den Einfluss des explizit Politischen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Die Antinomie zwischen autonomer Fachlogik und politisch-gesellschaftlichen Interessen wurde damit allerdings nicht ausgehebelt. Sie manifestierte sich jedoch nicht im Aufeinandertreffen unterschiedlicher gesellschaftlicher Teilsysteme, sondern äußerte sich in einem spezifischen Ausbildungsverständnis, das auch von jenen Akteuren geteilt und mitgetragen wurde, die dem politischen System eher kritisch gegenüberstanden.
4. Teil: Feldzugänge (III) Soziogenetische Typenbildung
Mit den sinngenetischen Typen des »Fisches im Wasser«, des »Schülers« und des »Fremdlings« haben wir im vorangegangenen Teil die drei zentralen, den Erfahrungsraum Spezialschule kennzeichnenden Orientierungsrahmen der Spezialschüler herausgearbeitet. Wir konnten zeigen, dass mit jedem dieser Typen spezifische Wahrnehmungs- und Handlungsmuster verbunden waren, die sich auf die unterschiedlichsten Aspekte des Spezialschullebens erstreckten und somit als eine fundierende und »primordiale« (d.h. aller Wahrnehmung vorausgehende) Struktur begriffen werden müssen. Hiervon ausgehend ließ sich rückwirkend auf den Erfahrungsraum schließen, der eben genau diese (und nicht etwa andere) Typen hervorgebracht hat. Nicht beantwortet wurde durch diese sinngenetische Typologie die Frage, aufgrund welcher Faktoren der eine Schüler nun zu einem »Fisch im Wasser«, ein anderer hingegen zum »Fremdling« wurde. Diese Frage führt in den Bereich der Soziogenese, der im Folgenden erörtert wird. Hier werden wir nun, wie im Methodenkapitel ausgeführt, unsere sinngenetische Typenbildung für einen Moment beiseitelegen und unser Sample nach bestimmten Aspekten neu ordnen. Während es in den Sozialwissenschaften üblich ist, diesen Prozess der soziogenetischen Typenbildung anhand von Aspekten wie Geschlecht, Generation, Herkunft etc. zu bestimmen, schien es uns geboten, die zur Anwendung gelangenden Aspekte nicht allein an soziologischen, sondern ebenso an musikpädagogischen Gesichtspunkten zu orientieren. Auf der Basis grundlegender Erkenntnisse der musikalischen Biografieforschung konnten wir vier Themenbereiche identifizieren, die uns aussichtsreiche Kandidaten zur Beantwortung der »Warum«-Frage zu sein schienen. Es waren dies: 1. 2. 3. 4.
Die Berufe der Eltern Elternhaus (familiärer Lebensstil) Instrumentalunterricht vor der Spezialschule Instrument
Wir haben unser Sample in Hinblick auf jeden dieser Aspekte jeweils neu gruppiert. So sind insgesamt vier soziogenetische Typologien entstanden, die wir nun jeweils mit unseren drei sinngenetischen Typen in Beziehung setzen konnten. Aus dieser Gegenüberstellung ließ sich dann erschließen, welche Faktoren in welchem Maße am Zustandekommen des jeweiligen sinngenetischen Typs beteiligt waren.
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In einem abschließenden Arbeitsgang wurde dann die weitere biografische Entwicklung unserer Gesprächspartner untersucht. Ausgehend von der Prämisse, dass der Erfahrungsraum einer Schule sich dem Forscher nur dann vollständig erschließt, wenn man berücksichtigt, welche Prägekraft von ihm auf die Zukunft der Schülerinnen und Schüler ausgegangen ist, stellten wir die Frage, ob und inwieweit aus der Zugehörigkeit zu einem bestimmten sinngenetischen Typ Konsequenzen für die weitere Biografie erwuchsen. Es ging, bündig formuliert, um die Frage, in welchem Ausmaß die sinngenetischen Typen, die den Erfahrungsraum Spezialschule prägten, auch im späteren Leben der Befragten noch Geltung besaßen. Analog zu den soziogenetischen Typen erstellten wir in diesem Zusammenhang eine prozessanalytische Typologie, die wir mit der ursprünglichen sinngenetischen Typenbildung in Beziehung setzten.
4.1 D ER E INFLUSS
DER
E LTERNHÄUSER
Dass25 die Familie einen zentralen Einflussfaktor für das Zustandekommen erfolgreicher Musikerkarrieren darstellt, gehört zu den Gemeinplätzen musikpädagogischer Forschung. Ihr Rolle kann nach übereinstimmender Meinung kaum groß genug gedacht werden. Bereits kurz nach der Geburt werden entscheidende Weichen gestellt: Ob Kinder von Beginn an Musik in emotional bedeutsamen Kontexten erleben (vgl. Papousek 1996; Stadler-Elmer 2009, S. 154), ob sie durch gemeinsames Singen frühzeitig zu ihrer Singstimme finden (vgl. Seeliger 2007, S. 107; Papousek 1997, S. 542) oder ob sie gar andere Menschen regelmäßig beim aktiven Musizieren beobachten können, wird in hohem Maße durch den familiären Kontext geprägt. Ob dann im Schul- oder Vorschulalter mit dem Instrumentalunterricht begonnen wird, ist eine Entscheidung, die zwar im besten Fall mit dem Kind, aber so gut wie nie ohne die Eltern getroffen wird. Und ob das Instrumentalspiel schließlich vom Kind als wichtig und erfüllend erlebt wird, hängt nicht allein von der Wahl des Instrumentes ab (an der die Eltern ebenfalls in aller Regel beteiligt sind) und auch nicht nur von der Person des (häufig von den Eltern ausgesuchten) ersten Lehrers, sondern vor allem auch davon, ob und inwieweit das kindliche Üben und Musizieren ins häusliche Familienleben integriert wird. Auch dies ist vor allem Sache der Eltern: Sie müssen dafür Sorge tragen, dass täglich geübt wird, sie müssen den Übeprozess aufgeschlossen und empathisch begleiten, sie müssen bei Durststrecken motivieren und sie müssen vor allem der Musik insgesamt eine wichtige Rolle im alltäglichen Miteinander zubilligen (vgl. Manturzewska 1995; Olbertz 2010). Angesichts dieser Befunde ist in diesem Abschnitt zu prüfen, ob und inwieweit dieser Faktor für die Art und Weise, in der die unterschiedlichen Orientierungsrahmen den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule erlebt haben, eine Rolle spielt. Darüber hinaus stellt sich die Frage, welche Bedeutung dem Elternhaus der Schülerinnen und Schüler von Seiten der Lehrenden und der Schulleitung zuerkannt wurde. Die erste dieser beiden Fragen gliedern wir wiederum in zwei Teilaspekte: Zunächst interessiert uns schlichtweg, welche Berufe die Eltern unserer Interviewpartner hatten. Vor diesem Hintergrund fragen wir dann, welche inneren Bedingungen in 25 Der erste Absatz folgt im Wesentlichen den Ausführungen von Lessing 2014, S. 117.
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den Familien einer intensiven Auseinandersetzung mit dem Instrument und der Musik förderlich oder eher hinderlich waren. Wir fragen also, welche Rolle das Klima im Elternhaus für das Zustandekommen des späteren schulischen Orientierungsrahmens darstellte. Während diese zweite Frage als explizites oder implizites Wissen unserer Gesprächspartner aus den Interviewtexten rekonstruiert werden muss und insofern eine hermeneutische Textarbeit erfordert, geht es bei der ersten zunächst um eine statistische Auflistung der relevanten Herkunftsdaten. 4.1.1 Elternberufe In diesem Abschnitt werden wir aufgrund unmittelbar abfragbarer Daten zunächst die soziale Zusammensetzung der Schülerschaft insgesamt erörtern, um dann zu prüfen, welche konkrete Zusammensetzung unser Sample aufweist. Die Ergebnisse werden wir dann mit der sinngenetischen Typologie in Verbindung bringen. Einleitend seien zunächst die wichtigsten Ergebnisse unserer Umfrage unter ehemaligen Spezialschulabsolventen kurz dokumentiert. Auf die Frage nach den Berufen der Eltern zeigte sich, dass nur in 8 % der Fälle kein Elternteil einen Beruf aufwies, der einer intensiven instrumentalen Beschäftigung der Kinder traditionell aufgeschlossen gegenübersteht (n=112). Umgekehrt verteilten sich die Fälle, bei denen mindestens ein Elternteil einer musikaffinen Berufsgruppe angehörte, folgendermaßen: • • • • •
Musiker/Musikpädagogen: 34,8 % Kirche/Kirchenmusik: 9,8 % Arzt/medizinisches Personal: 10,7 % Wissenschaft/Ingenieurwesen: 26,8 % Kunst/Kultur (ohne Musik): 4,6 %
Zu diesem Befund kommt ein weiteres aufschlussreiches Indiz hinzu: Insgesamt 12 Befragte (10,7 %) gaben als Beruf der Mutter »Hausfrau« an. Angesichts des in der DDR sowohl offiziell verkündeten als auch in der Realität weitgehend umgesetzten Ideals der berufstätigen Mutter findet sich unter den befragten ehemaligen Spezialschülern also ein bemerkenswert hoher Prozentsatz an Müttern, die sich zentral an Haushalt und Familie orientierten und damit über die notwendigen zeitlichen Ressourcen verfügten, die für eine intensive Begleitung der kindlichen Instrumentalausbildung notwendig ist. Dass mit dieser im Vergleich zur DDR-Gesellschaftsstruktur äußerst untypischen Zusammensetzung zugleich eine starke familiäre Orientierung in Richtung Musik verbunden war, geht aus folgenden Zahlen hervor: Nur vier der 112 Befragten gaben an, dass die Musik keine Rolle in ihrem Familienalltag einnahm (=3,6 %); bei der Hälfte (50,9 %) ist in der Familie regelmäßig gemeinsam musiziert worden. 71 Personen (=63,4 %) berichten von regelmäßigen Konzertbesuchen mit der Familie; diese Zahl ist vor dem Hintergrund der Tatsache, dass insgesamt nur 10 % der DDR-Bevölkerung regelmäßig Kultureinrichtungen wie Theater und Museen besuchten (vgl.
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Diewald & Solga 1995, S. 298)26, außergewöhnlich hoch und verweist ebenfalls darauf, dass sich die Spezialschüler hinsichtlich ihrer Sozialstruktur deutlich vom sonstigen gesellschaftlichen Umfeld unterschieden. Welche Elternberufe tauchen nun konkret innerhalb unseres Samples auf? Bei der Zuordnung zu einem bestimmten soziogenetischen Typ konzentrierten wir uns immer auf die Frage, ob mindestens ein Elternteil in einer bestimmten Berufsgruppe tätig war. Wir sprechen also beispielsweise von einem Musikerhaushalt, auch wenn nur einer der beiden Eltern über eine professionelle Musikausbildung verfügte. Ebenso reicht es für die Zuordnung zu einem kirchlichen Hintergrund aus, wenn nur einer der beiden in diesem Feld beruflich tätig war. Bei der Unterteilung einzelner Berufsgruppen folgten wir nicht den Kategorien, mittels derer in der Forschung die Sozialstruktur der DDR-Bevölkerung beschrieben wird (vgl. ebd.), da sich mit ihnen die Besonderheiten der Spezialschulzusammensetzung nicht angemessen wiedergeben lässt. Vielmehr orientierten wir uns an den Unterteilungen, die im Erfahrungsraum der Spezialschule selbst vorgenommen wurden. Und hier geht aus den Äußerungen der Interviewpartner hervor, dass es im Wesentlichen drei Berufsgruppen gab, die in den Köpfen der Akteure zur Kennzeichnung des Erfahrungsraumes relevant waren. Die Gruppe der Musikerkinder, die Gruppe der Kinder mit kirchlichem Hintergrund sowie schließlich die Gruppe der »proletarischen« Kinder – die letztgenannte Gruppe wird von unseren Gesprächspartnern vor allem deshalb immer wieder erwähnt, weil Kinder mit proletarischem Hintergrund einerseits eine recht seltene Ausnahme waren, andererseits aber auch dringend gesucht wurden, da sie der Selbstlegitimation der staatlichen Bildungspolitik dienten. Ausgehend von dieser Unterteilung entwickelten wir vier Typen zur Kennzeichnung der Elternberufe. Diese Typologie bildet insofern durchaus ein qualitatives Gefälle ab, als man bei Musiker- oder Kirchenkindern vermuten kann, dass die Musik in der Familie einen höheren Stellenwert einnahm als dies bei Kindern aus proletarischem Milieu der Fall war. Wenn die beiden Eltern in unterschiedlichen Berufsgruppen tätig waren, entschied immer die musikaffinere Gruppe über die Zuordnung. Der Beruf des Kantors, der ja sowohl in die Kategorie »professioneller Musiker« als auch in den Bereich »Kirche« fällt, wurde von uns zur Gruppe der Musiker gezählt: • •
• • •
Ba: Mindestens ein Elternteil weist eine professionelle Musikausbildung auf (insgesamt 6x) Bb: Eltern sind keine Musiker, aber mindestens ein Elternteil ist innerhalb der Kirche tätig (1x). Ba und Bb zusammen: 50 % Bc: Eltern zählen weder zu Ba noch zu Bb, mindestens ein Elternteil ist Akademiker (4x): 28,5 % Bd: Eltern zählen weder zu Ba, Bb noch zu Bc, mindestens ein Elternteil ist Handwerker oder Teil der »sozialistischen Dienstklasse« (2x): 14,3 % Be: beide Eltern Arbeiter (1x): 7,2 %
26 Zum speziellen Aspekt der Konzertbesuche finden sich in der Studie von Diewald & Solga 1995, die den Stand des Jahres 1989 dokumentiert, keine Angaben.
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Vergleichen wir die prozentuale Verteilung unseres Samples mit dem Ergebnis unserer Umfrage, so zeigt sich, dass die Typen Ba und Bb, die wir wegen der recht häufigen Dopplungen hier zusammenfassen27, mit zusammengenommen 50 % überrepräsentiert sind (Musiker- und Kirchenkinder ergeben in unserer Fragebogen-Stichprobe zusammen einen Anteil von knapp 35 %). Die Gruppe der Akademiker, die in der Stichprobe mit 42 % zu Buche fiel, macht im Sample 28 % aus. Die Gruppen Bd und Be sind mit Fallzahlen von 1 bzw. 2 zu klein, um einen Vergleich auch nur annähernd sinnvoll erscheinen zu lassen. Was in unserem Sample vollständig fehlt, ist die kleine Gruppe jener Kinder, deren Eltern in einem nicht-musikalischen künstlerischen Bereich tätig waren. Insgesamt lässt der Vergleich zwischen unserem Sample und dem Ergebnis der Stichprobe Grund für die Annahme, dass die soziale Zusammensetzung des Samples im Großen und Ganzen die realen Verhältnisse recht gut widerspiegelt. Ohne dass der Faktor »Elternberufe« bei unserer Suche nach Probanden eine gezielte Rolle gespielt hätte, wird das Sample diesem Aspekt doch weitgehend gerecht. Weit interessanter als die Frage nach geringfügigen Differenzen zwischen Stichprobe und Sample ist allerdings die Frage, in welchem Verhältnis die Elternberufe zu unserer sinngenetischen Typologie stehen. Hier ergibt sich folgendes Bild: Sinngenetischer Typ Fallnummer Soz. Typ Beruf der Eltern (B) Ba: Bb: Bc: Bd: Be:
A »Fisch im Wasser« 1
2
3
4
5
Ba Ba Ba Ba Ba
A/B Mischtyp 6 Bc
B »Schüler« 7
8
9
C »Fremdling« 10 11 12 13 14
Bc Bc Bd Bd Bb Ba Bc Be
Mindestens ein Elternteil weist eine professionelle Musikausbildung auf. Eltern sind keine Musiker, aber mindestens ein Elternteil ist innerhalb der Kirche tätig. Eltern zählen weder zu Ba noch zu Bb, mindestens ein Elternteil ist Akademiker. Eltern zählen weder zu Ba, Bb noch zu Bc, mindestens ein Elternteil ist Handwerker oder Teil der »sozialistischen Dienstklasse«. Beide Eltern sind Arbeiter.
Die Grenze zwischen dem sinngenetischen Typ A (»Fisch im Wasser«) und dem Typ B (»Schüler«) könnte schärfer nicht gezogen werden: Die Frage nach der Zugehörigkeit zum »Fisch im Wasser« scheint zumindest in unserem Sample in hohem Maße an die Frage gebunden gewesen zu sein, ob ein Elternteil über eine professionelle Ausbildung als Musiker verfügt hat. Die Grenze zwischen Typ B und C ist hingegen weit weniger deutlich; sieht man einmal von der Frage ab, ob ein proletarischer Hintergrund hier mehr als nur zufälligerweise mit der Zugehörigkeit zum Typ des »Fremdlings« einhergeht, so ist das Bild zu buntgefächert, als dass sich ein Zusammenhang zwischen Elternberuf und sinngenetischem Typ ziehen ließe. Allerdings ist die bloße numerische Korrelation im Rahmen einer qualitativen Studie sowieso nicht sonderlich aussagekräftig. Weit entscheidender als die berechtigte Frage, ob sich nicht auch Kinder aus nicht professionell-musikalischen Verhält27 In vier Fällen liegt auf Elternseite sowohl ein professionell-musikalischer als auch ein kirchlicher Hintergrund vor.
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nissen im Typ »Fisch im Wasser« wiederfinden konnten, ist die Frage, auf welche Weise das Familienleben, das ja zumindest teilweise durch die Elternberufe charakterisiert wurde (bzw. das umgekehrt auf einen elterlichen Orientierungsrahmen verweist, dem dann bestimmte Berufsgruppen stärker entsprechen als andere) den Orientierungsrahmen der späteren Schüler hinsichtlich der Beschäftigung mit Musik geprägt hat. Mit dieser Frage befinden wir uns wieder im Terrain qualitativer Forschung. 4.1.2 Der Einfluss des Elternhauses auf die Genese des Orientierungsrahmens – Familie in der DDR Diese Frage muss vor dem Hintergrund jener eigentümlich ambivalenten Stellung diskutiert werden, die die Institution Familie in der DDR besaß. Zum einen stellte sie gerade in der Honecker-Ära einen Bereich dar, der sich erheblicher staatlicher Unterstützung sicher sein konnte.28 Zum anderen repräsentierte die Familie aber auch ein Terrain, das schon allein in struktureller Hinsicht in erheblicher Konkurrenz zum staatlichen Ideal einer möglichst breiten Vergesellschaftung des Individuums stand. Darauf weist etwa die Tatsache hin, dass sich in der DDR »Ehe und Familie mehr oder weniger alle Aufgabenbereiche mit anderen Institutionen teilten. Durch das dichte Netz staatlicher Kindereinrichtungen war die DDR-Familie von Sozialisationsaufgaben teilweise entlastet. Wegen der umfassenderen Einbindung der Menschen in die Kinder-, Jugend-, Arbeits-, Haus- und Nachbarschaftskollektive spielte sie auch für die Freizeitgestaltung des Einzelnen nicht die Rolle wie in der alten Bundesrepublik.« (Scheller 2004; vgl. auch Scheller 2003)
Welche Folgen mit dieser Vergesellschaftung ursprünglich familiärer Aufgaben verbunden waren, wird in der DDR-Forschung unterschiedlich beurteilt: Auf der einen Seite steht die von Jutta Gysi vertretene These, wonach die im Vergleich zur alten Bundesrepublik stärkere staatliche Durchdringung des privaten Lebensbereichs in der DDR zu wachsender Distanzierung von den politischen Werten und schließlich zu einem Rückzug ins Private geführt habe (vgl. Gysi 1990). In diesem Sinne sei die Familie eine stark emotionalisierte »Gegenwelt zur Gesellschaft« geworden (ebd.). Eine exakt gegenläufige These wird hingegen von Norbert Schneider vertreten, der davon ausgeht, dass die Familie »nicht der abgeschottete und durchprivatisierte Lebensbereich [war], in dem sich die Menschen individuell entfalten konnten, nicht der Rückzugsraum, mit hoch emotionalisierten Beziehungen, und nicht die […] Gegenwelt zur Gesellschaft, sondern eine von strukturellen Rahmenbedingungen und staatlichen Einflussversuchen in erheblichem Umfang durchdrungene und nicht selten von ihren Mitgliedern instrumentalisierte Lebenssphäre« (Schneider 1994).
28 In erster Linie ist hier das Bemühen zu nennen, Frauen eine Vereinbarung von Familie und Beruf zu ermöglichen. Die so genannte »Gleichstellungspolitik« führte zu einem massiven Ausbau der Krippen- und Kindergartenplätzen. Ebenso gab es einen voll bezahlten Schwangerschaftsurlaub.
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Die Familie hätte zunehmend den Charakter einer »Versorgungs- und Erledigungsgemeinschaft« (ebd.) angenommen, in der emotionale Aspekte eine weit geringere Bedeutung gespielt hätten als im Westen. Eine vermittelnde Position, die aufgrund ihrer argumentativen Schlüssigkeit ein gehöriges Maß an Triftigkeit besitzt, wird von Gitta Scheller eingenommen, die als Fazit des von Ulf Herlyn geleiteten DFG-Projekts »Die Wende als Individualisierungsschub« zu folgendem Ergebnis gelangt: »Es lässt sich festhalten, dass [im wiedervereinigten Deutschland] auf Grund der Funktionserweiterung des privaten Lebensbereichs sowie der gleichzeitigen Entsolidarisierung und Rationalisierung des Arbeitslebens das Bedürfnis nach emotionalem Rückhalt in Ehe und Familie an Bedeutung gewonnen hat. Partnerbezogener und familialer Zusammenhalt sind wichtiger geworden. Unterstützt wird dieser Prozess durch erheblich verbesserte Wohnbedingungen – durch die Schaffung der räumlichen Voraussetzungen für die Entfaltung von Gefühlen und Intimität. Im Ganzen zeichnet sich also in den ostdeutschen Bundesländern ein Trend ab, dem zufolge Partnerschaft und Familie stärker als vor der Wende Quelle emotionaler Bedürfnisbefriedigung sind. Gleichzeitig gibt es Hinweise darauf, dass zwischenmenschliche Beziehungen in den ostdeutschen Bundesländern nach wie vor sachlicher betrachtet werden als in den alten. Ein Indiz dafür ist, dass insbesondere ein Teil der Frauen eine Überfrachtung der Elternrolle nach westdeutschem Vorbild ablehnt. Sie sind nicht bereit, den eigenen Handlungsspielraum vollständig zu Gunsten des Kindes einzuschränken. Ostdeutsche Frauen wollen nicht restlos in der Familie aufgehen, ihre Unabhängigkeit ist ihnen wichtig. Sie grenzen sich deutlicher als westdeutsche von der traditionellen Mutterrolle ab. Die stärkere Konzentration auf das Kind oder die Kinder geht nicht unbedingt mit dem Anspruch einher, die Betreuung und Erziehung allein übernehmen zu wollen und den Kindern so große Freiräume zuzugestehen, dass die eigene Autonomie eingeschränkt wird.« (Scheller 2004)
Gerade in Hinblick auf das unterschiedliche Rollenverständnis zwischen ost- und westdeutschen Frauen und Müttern deckt sich Schellers Resümee von der Sache her mit jenen idealisierenden Kennzeichnungen, die im DDR-Standardwerk »Die Frau in der Deutschen Demokratischen Republik« entfaltet wurden. Dort heißt es: »Es zeigt sich […], daß der aus der beruflichen Tätigkeit herrührende reichere Schatz an Wissen und Erfahrung, aber auch die mit ihr einhergehende ökonomische Unabhängigkeit, die Stellung der Frau in der Familie festigen. In der Regel sind berufstätige Frauen geistig anspruchsvollere Ehepartnerinnen und fähigere Erzieherinnen ihrer Kinder. So bestätigt das Leben vieltausendfach die Erkenntnis, daß die Persönlichkeit der Frau, die in ihr schlummernden Fähigkeiten und schöpferischen Talente nur dann zur vollen Blüte gelangen können, wenn sie nicht nur auf Haushalt und Familie orientiert und allein den Belangen des Mannes und der Kinder untergeordnet bleiben. Erst die schöpferische, gesellschaftlich nützliche Arbeit in einer von Ausbeutung freien Gesellschaft, die damit einhergehende soziale und ökonomische Unabhängigkeit, die Verbindung einer sinnvollen beruflichen Tätigkeit mit der Mutterschaft geben der Frau die Möglichkeit, ›dem Mann als wahrhaft Freie und Gleiche‹ gegenüberzutreten, zur ›Herrin ihrer Geschicke‹ zu werden, wie August Bebel es vorausgesehen hat.« (Allendorf et al. 1978, S. 61)
Vor dem Hintergrund der von Gitta Scheller als DDR-typisch genannten Stichpunkte – geringere Bedeutung der Familie als Ort emotionaler Bedürfnisbefriedigung, stär-
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kere Distanzierung gegenüber der traditionellen Mutterrolle, Delegierung von Erziehungsaufgaben an außerfamiliäre Institutionen – ist nun eine Studie der polnischen Musikpsychologin Maria Manturzewska aus dem Jahre 1995 von Interesse, die zu zeigen versucht, in welchen Dimensionen sich der Einfluss der Familie auf die Entwicklung herausragender Musikerinnen und Musiker bemerkbar macht. Im ersten Teil ihrer Untersuchung unterzog die Autorin insgesamt 18 Biografien bedeutender europäischer Musiker der vergangenen 200 Jahre einer qualitativen Inhaltsanalyse und arbeitete dabei folgende Charakteristika heraus: 1. »Die sozial-emotionale Reife der Eltern: - relativ stabil, traditioneller Stil von Familienleben - positive, angenommene Identifikation mit den Geschlechterrollen - ein Elternteil ist älter als 30, wenn der zukünftige Musiker geboren wird 2. Die Familie ist eine sichere, warme, emotional ausgeglichene Einheit 3. Ein hohes Maß von Selbstkontrolle und sozialer und beruflicher Verantwortlichkeit 4. Respekt für förmliche, ästhetische und moralische Aspekte des Lebens 5. Eher aufgaben- als zielorientierte Tätigkeit der Eltern 6. Kindzentrierte Haltung der Eltern mit hohem Gewicht auf die Ausbildung des Kindes 7. Bewusste Organisation und Kanalisation von Interessen, Zeit und Aktivitäten des Kindes mit dem Fokus auf produktive, aufgabenorientierte Aktivität und Leistung 8. Sorgfältige Auswahl von Freunden und Spielkameraden – Planung von Urlauben 9. Wenigstens eine Person in der Familie glaubt an das Potenzial des zukünftigen Musikers und ermutigt ihn in all seinen musikalischen Unternehmungen und Leistungen: - teilt die musikalischen Erfahrungen - identifiziert sich mit dem musikalischen Erfolg des Kindes - drückt liebevolle Sorge um und Unterstützung für die musikalische Entwicklung aus 10. Musik ist ein natürlicher Wert im Familienleben: Spaß, Hobby, große Liebe; der Schwerpunkt liegt nicht auf einer musikalischen Karriere, sondern auf Spaß an der Sache 11. Wenn die Musikalität des Kindes bemerkt wird, gibt es Anerkennung und lobende Verstärkung selbst kleiner Erfolge 12. Sorgfältige Auswahl von Lehrern und Wachsamkeit über die musikalische Entwicklung und den Lernprozeß; Kosten und Mühen werden nicht gescheut, wenn Unterstützung nötig scheint 13. Bewußtes und aktives Arrangieren einer unterstützenden und verständnisvollen Umgebung für das Kind: - das Organisieren von Konzerten zu Hause oder im Kindergarten - das Finden von angemessenen Bedingungen und Zielen und Ideen, die eine positive emotionale Atmosphäre für die musikalische Betätigung schaffen, und die Akzeptanz des kindlichen Musizierens 14. Nahe, persönliche Kontakte zu professionellen Musikern und Musiklehrern 15. Einladung des Kindes zu familiären musikalischen Aktivitäten (Chor, Ensemble, Konzertbesuch) 16. Ausgeprägte sängerische oder instrumentale Fertigkeiten eines Elternteils 17. Persönlichkeitsmerkmale von Eltern oder Familienmitgliedern – ähnlich dem GaltonSyndrom hervorragender Persönlichkeiten
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18. Inadäquat verwirklichte musikalische oder allgemeine Fähigkeiten bei einem oder beiden Elternteilen; irgendeine Art sozialer oder wirtschaftlicher Diskriminierung; nicht vollständig umgesetztes elterliches Potential oder zufriedenstellendes erreichtes Sozialprestige.« (Manturzewska 1995, S. 15 f.)
Es ist leicht zu sehen, dass ein nicht unbeträchtlicher Teil dieser Merkmale kaum jener Tendenz entspricht, die Scheller als charakteristisch für die Familienstruktur der DDR herausgearbeitet hat. Man kann davon ausgehen, dass die von Manturzewska genannten Kriterien nicht nur generell auf eine Minderheit von Familien abzielen (auch in Westdeutschland waren sie mit Sicherheit nicht die Regel), sondern Punkte benennen, die geradezu im direkten Gegensatz zu jenem Rollenverständnis stehen, das in der DDR insbesondere von der Mutter entworfen wurde. Eine stark kindzentrierte Haltung, aus der heraus die musikalische Ausbildung der Kinder zur »eigenen« Sache erklärt wird, reibt sich mit dem Widerstreben ostdeutscher Mütter, »den eigenen Handlungsspielraum vollständig zu Gunsten des Kindes einzuschränken« (Scheller 2004). Ebenso untypisch erscheint das in Punkt 1 genannte Merkmal, wonach mindestens ein Elternteil zum Zeitpunkt der Geburt älter als 30 ist: Frühe Eheschließungen waren in der DDR nicht nur verbreitet, sondern staatlicherseits ausdrücklich erwünscht.29 Und wenn der Befund zutrifft, wonach es in DDR-Familien eine Tendenz zur »Versachlichung« der innerfamiliären Beziehungen gegeben hat, müsste man davon ausgehen, dass das von Manturzewska genannte Kriterium der Familie als »warmer« und »emotional ausgeglichener« Einheit nicht nur – wie überall – keine Regel darstellte, sondern geradezu einer gesellschaftlichen Tendenz zuwiderlief. Es wäre dann zu folgern, dass die Zielgruppe der Spezialschulausbildung von vornherein auf eine strukturelle Minderheit abzielte – auf Familien also, in denen grundsätzlich andere Vorstellungen von Erziehung und Elternrolle herrschten als in der übrigen Gesellschaft. Dass sich derartige Familien gerade in Milieus fanden, die dem staatlichen System distanziert gegenüberstanden, wiese dann auf ein Abhängigkeitsverhältnis hin, dass staatlicherseits sicher nicht gewollt, dem aber weder argumentativ noch faktisch zu begegnen war. Aber greifen wir nicht vor. Immerhin ist zu bedenken, dass sich Manturzewskas Untersuchung auf die letzten 200 Jahre bezieht, mithin auf jenen Zeitraum, in der der Siegeszug der bürgerlichen Kleinfamilie seinen Lauf nahm. Ob jenseits der ganz auf die Bedürfnisse des Kindes zugeschnittenen Kernfamilie noch andere Modelle denkbar sind, die die kindliche Entwicklung in Richtung einer erfolgreichen professionellen Musikerlaufbahn vergleichbar zu begünstigen vermögen, geht aus ihr nicht hervor, da derartige Modelle in ihrem Sample nicht berücksichtigt werden. So wäre es ja immerhin denkbar, dass die Tendenz der sozialistischen Länder, so genannte »Talente« in den Bereichen Sport und Musik möglichst frühzeitig zu entdecken und in entsprechende staatliche Förderprogramme einzubinden, ein Stück weit die Aufgaben der bürgerlichen Kernfamilie übernehmen könnte. Dass die Rolle der Familie bei der musikalischen Entwicklung des Kindes durchaus auch auf andere Institutionen über29 So wurde 1972 ein zinsloser Ehekredit von 5000 M (später 7000 M) für Paare, die jünger als 26 Jahre waren, gewährt (wobei sich der zurückzuzahlende Betrag mit jedem Kind verringerte).
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tragbar ist, zeigt aktuell das Beispiel von »El Sistema« in Venezuela, das freilich in Hinblick auf diesen Punkt noch eingehender untersucht werden müsste. Gerade angesichts der im letzten Abschnitt herausgearbeiteten und insgesamt doch recht kompakten Einheitlichkeit der Elternhäuser an der Spezialschule stellt sich hier nun vor allem aber die Frage nach Differenzen innerhalb dieser gesamtgesellschaftlich gesehen homogenen Elternschaft. Denn es ist ja keineswegs so, dass Faktoren wie Elternberufe oder Häufigkeit des familiären Musizierens gleichsam automatisch über die Passung eines Schülers entscheiden; dazu ist die Trennlinie zwischen den sinngenetischen Typen B und C hinsichtlich der Elternberufe zu diffus. Um die Dimensionen zu bestimmen, in denen sich der Einfluss des Elternhauses auf die Zuordnung zu unseren sinngenetischen Typen bemerkbar macht, müssen wir uns vor allem jenen Aspekten zuwenden, die von unseren Gesprächspartnern selbst verbalisiert werden – sei es als explizit-kommunikatives oder als implizites Wissen. Im Gegensatz zu unserer Darstellungsweise im vorangegangenen Teil werden wir im Folgenden von einer Beschreibung von Einzelfällen absehen. Eine Fokussierung auf individuelle Biografien, die selbstverständlich die Grundlage unserer Forschungsarbeit gebildet hat, hätte die Anonymität unserer Gesprächspartner zwangsläufig beschädigt: In dem alles in allem überschaubaren Kosmos der Spezialschule wäre kaum zu verhindern gewesen, dass die Verbindung von Elternberufen, Geschwisterzahl etc. und konkretem Fall zu einer Identifizierbarkeit unserer Gesprächspartner führt. Wir setzen in unserer Darstellung daher bei jenem Teil des Forschungsprozesses an, der eigentlich erst an dessen Ende stand: Bei der soziogenetischen Typologie des Einflussfaktors Familie. Diese Typologie wird dann in einem zweiten Schritt sowohl mit der soziogenetischen Kategorie »Berufe« wie auch mit der sinngenetischen Typologie konfrontiert. Sowohl an den Gemeinsamkeiten als auch an den Differenzen zwischen den Typologien lässt sich dann die Rolle des Einflussfaktors Familie genauer bestimmen. In einem letzten Schritt werden wir dann zeigen, auf welche Weise mit diesem Faktor aus der Perspektive der Lehrenden und der Schulleitung umgegangen wurde. 4.1.3 Falldarstellungen Typ Ea+ Bereits ante portas sei erwähnt, was der Leser sonst sehr schnell selbst registrieren würde: dass es nämlich eine restlose Übereinstimmung zwischen diesem Typ Ea+ und dem sinngenetischen Typ A (»Fisch im Wasser«) gibt. Dieser Typ ist durch ein außergewöhnlich hohes Engagement eines Elternteils geprägt, das die musikalische Entwicklung des Kindes mit beträchtlichem Aufwand bis zur Spezialschule und zum Teil auch noch darüber hinaus begleitet. Die Intensität des gemeinsamen Übens wird einerseits durch die Tatsache ermöglicht, dass dieses Elternteil selbst eine überdurchschnittliche musikalische Expertise besitzt, was sich in unserem Sample durchweg in einer abgeschlossenen professionellen Musikausbildung dokumentiert. Zugleich besteht aber auch ein besonderes emotionales Band zwischen ihm und dem Kind. Dieses Band ist in der Mehrzahl der Fälle dadurch gekennzeichnet, dass das Kind von Seiten dieses Elternteils eine gewisse Vorzugsstellung innerhalb der Geschwisterschar erfährt. Das wird von unseren Gesprächspartnern allerdings nicht unbedingt di-
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rekt ausgesprochen. Mitunter existiert nicht einmal ein kommunikativ zugängliches Wissen um diese Tatsache; gleichwohl zeigen Äußerungen wie die folgende, dass diese Vorzugsstellung zum definitiven Bestandteil des eigenen Orientierungsrahmens gehört. Nachdem einer unserer Gesprächspartner fast 90 Minuten von sich und seiner eng mit der Person des Vaters verknüpften instrumentalen Entwicklung gesprochen hatte, wurde er nach der musikalischen Entwicklung seines um einige Jahre jüngeren Bruder gefragt, dessen Existenz zu Beginn des Gesprächs beiläufig im Nebensatz erwähnt wurde, und gab zur Antwort: Mein Bruder? Gott, wie ist denn das gelaufen? Der war Privatschüler, ja, meine Eltern haben den als Privatschüler zu Herrn Creutz gegeben. Während der Schulzeit. Und dann ist er an die Hochschule. Wie war denn das? Der hat glaub ich so’n Vorstudienjahr machen müssen.
Während in Bezug auf die eigene Entwicklung im gesamten Interview durchgängig und häufig die Formulierung mein Vater benutzt wird, spricht der Gesprächspartner hier plötzlich erst- und einmalig von meine[n] Eltern – die Beziehung zum Vater erscheint damit als eine Art Exklusivrecht, an dem der Bruder keinerlei Anteil hat. Was umso stärker ins Gewicht fällt, als der Bruder dasselbe Instrument erlernt hat und ebenfalls professioneller Musiker geworden ist. Dennoch hat es keine gemeinsam erlebte instrumentale Entwicklung unter den beiden Brüdern gegeben. Der musikalische Lebensweg des Bruders muss mühsam erinnert werden. An den vielfältigen und facettenreichen Details, mit denen der Befragte die Rolle seines Vaters in der instrumentalen Biografie schildert, hat der Bruder keinerlei Anteil. Ebenfalls eher unterschwellig äußert sich die besondere Rolle unter den Geschwistern in der folgenden Erinnerung einer Gesprächspartnerin: Wir sind eine sehr christliche Familie. Also bei den Pionieren waren wir kaum, FDJ glaube ich irgendwann später dann mal. Aber sonst wurde das also ganz, ganz streng gehandhabt, so dass es für uns völlig klar war, dass keiner Abitur machen konnte. Selbst also bei alles Einsen auf dem Zeugnis, war kein Abitur möglich. […] Und da gab’s für uns eigentlich auch nur die Frage, entweder man wird Krankenschwester oder man studiert Musik, also. Und da sind meine beiden anderen Schwestern Krankenschwester geworden und ich hab eben halt in der Musik meine Welt gefunden.
Dass hier keine schlichte Alternative zwischen zwei gleichwertigen Wegen genannt wird, zeigt der Kontext des Interviews. Die Befragte erzählt von ihrer Mutter, die mit ihr intensiv und viel – weit mehr als mit ihren Schwestern – geübt hat. Dieses gemeinsame Üben verlief keineswegs immer unproblematisch und führt die Gesprächspartnerin zu der lakonischen Feststellung, ihre Schwestern, die immer nur eine begrenzte Mindestzeit am Instrument verbringen mussten, hätten es diesbezüglich leichter gehabt. Gleichwohl scheint dieses gemeinsame Üben mit all seinen Höhen und Tiefen dennoch eine besonders intensive Beziehung zwischen Mutter und Tochter ermöglicht zu haben, die die Schwestern so nicht teilen konnten. Und auch in den ersten Jahren [an der Spezialschule] ist meine Mutter immer mit zum Hauptfach gekommen. Das war schon ein sehr inniges Verhältnis zwischen uns, ist jetzt immer noch. Weil man irgendwie doch gemerkt hat, dass sie sich eben ganz da auf mich eingestellt hat. Und
250 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE schon wenn man jede Woche einmal dann nach Dresden fährt zusammen und hinterher dann noch zum Bäcker geht und einen Sandtaler bekommt. Das ist wirklich ’ne schöne Zeit gewesen. Und dann die Prüfungen, die waren ja dann in der Mendelssohnallee. Da sind wir dann hinterher nach der Prüfung, wenn das alles vorbei war, noch zum Schillerplatz und haben ein Stück Torte gegessen. Was sonst nie war. Also das war ja auch eine Besonderheit, wenn man überhaupt ’ne Mutter für sich hatte. Bei drei Kindern ist das ja eigentlich sonst gar nicht.
In anderen Fällen wird die Abgrenzung zu anderen Geschwistern hingegen weit deutlicher thematisiert: Also: meine Eltern haben mir eine sehr schöne Kindheit (…) bereitet, gemeinsam mit meinem […] älteren Bruder, der komischerweise künstlerisch gar nix so richtig von den Genen mitbekommen hat. Aber er war so mehr der Techniker und nüchterner Part in unsrer Familie … und wie gesagt: schöne Kindheit, sehr zeitig wurde mein musikalisches Talent entdeckt. Vornehmlich von meiner Mutter, mein Vater war ja sehr viel unterwegs, durch die vielen Tourneen im Lande und meine Mutter war zu Hause. Dadurch, dass sie selbst Gesangsunterricht hatte, stand also ein Instrument zu Hause, ich habe das benutzt wie ein Spielzeug.
Obgleich hier eine scheinbar neutrale Rollenzuweisung erfolgt, bei der der Bruder den Part des Technikers erhält, ist damit dennoch eine deutliche Wertung verbunden. Denn das eigene »Talent« sichert dem Befragten einen exklusiven Zugang zur geliebten Mutter. Signifikantester Ausdruck dieser Präferenz ist das schlechte Gewissen, das er gegenüber seinem Bruder entwickelt: Ich hatte immer nur das Gefühl, ich darf mich nicht zu sehr jetzt als was besonderes sehen, was natürlich auch bisschen schwer war, wenn alle von außen sagen: »Och wie toll bist du!« und »Was bist du talentiert!«, weil ich immer Angst hatte, ich tu damit meinem Bruder weh. Weil der eben nicht so künstlerisch begabt war.
Umgekehrt besitzt im Falle des Typs Ea+ das Elternteil, das die instrumentale Entwicklung des Kindes zu seiner eigenen Sache macht, auch für das Kind eine dominante Stellung; das jeweils andere Elternteil nimmt demgegenüber eine deutlich untergeordnete Position ein. Bleibt im ersten der soeben beschriebenen Fälle die Mutter praktisch unerwähnt, ist es im zweiten und dritten Fall der Vater. Die besondere Intensität des frühen Übens wird in unserem Sample also durch einen Dreiklang von professioneller elterlicher Expertise, besonderer elterlicher Konzentration auf das betreffende Kind und umgekehrt durch dessen Fokussierung auf dieses Elternteil erreicht. Der Vergleich mit den anderen Fällen des Samples wird zeigen, dass für ein ideales Passungsverhältnis an der Spezialschule keiner dieser drei Faktoren vernachlässigbar ist: hier scheint sowohl eine entsprechende elterliche Expertise als auch eine starke und auf Gegenseitigkeit beruhende Bindung an ein Elternteil notwendig zu sein – eine Bindung, die zwar nicht zwangsläufig, aber durchaus häufig mit einem gefühlten Ausschluss der Geschwister einhergeht. Kind und Elternteil bilden in Hinsicht auf das Instrument eine gegenseitig aufeinander bezogene emotionale Einheit. Diese Einheit ist nicht nur der ausschlaggebende Grund für die Bereitschaft des Kindes, sich intensiv auf das Üben einzulassen, sondern fungiert auch als Motivator,
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sich überhaupt mit einem Instrument zu beschäftigen. Fast immer, wenn der Wunsch nach dem Erlernen eines Instruments thematisiert wird, taucht in den Berichten der Vertreter dieses Typs die elterliche Bezugsperson auf. Ganz deutlich im folgenden Fall, in dem das Vorbild des Vaters, eines Kirchenmusikers, zwar nicht direkt zum Erlernen des späteren Hauptfachinstruments führt, aber dennoch die entscheidende Weichenstellung für die Bereitschaft darstellt, sich intensiv auf die Musik einzulassen: Ich hab während meiner Kindheit und Jugend immer neben der Orgel gestanden. Das war auch so’n Punkt, da fühlte ich mich irgendwie in so einem großen Orgelklang in so ’ner Kirche mit hineingenommen. Also da steht man dann an so ’ner Orgel beispielsweise und zieht die Register oder blättert um und lernt die Noten lesen und das ist dann manchmal gar nicht so einfach in so ’ner Bach-Fuge oder so ’ner Reger-Fantasie. Dass war schon hoch anspruchsvoll, aber ich bin mit so’m Orgelgetöse oder -rausch wirklich groß geworden und das hat mich wie so’n Sog gezogen, muss man wirklich sagen. […] Und, wie gesagt, dass ich bei meinem Vater neben der Orgel groß geworden bin, das war eher so meine Sehnsucht, ja. Dass ich eben bei meinem Vater sein kann und der sitzt ja da viele Stunden an seiner Orgel und das war für mich auch spannend. Erst mal die Orgelwerke haben mich sehr interessiert und die Orgel als Klang war vielleicht so’n Vorläufer heute zu meiner Beschäftigung im Orchester. Kann man schon so sagen.
Vergleichbares gilt für alle weiteren Fälle dieses Typs. Zwei weitere Beispiele: 1) Und mein Vater war Orchestermusiker, der hat natürlich zwangsweise auch zu Hause viel geübt und sich auf Dienste vorbereitet et cetera, und das hat er meist in den Abendstunden gemacht, wenn die kleinen Kinder schlafen sollten. Und irgendwo war dann eine gewisse Neugier, weil ja kleine Kinder immer möglichst lange aufbleiben wollen und denken, sie verpassen was. ’Ne Neugier, was er da macht, wie er das macht et cetera und ich erinnere mich noch genau, dass ich irgendwann mal an sein Instrument ran wollte und das einfach mal ausprobieren wollte, wie das so funktioniert und so weiter und so fort. 2) Also ich habe mit fünf Jahren Geige angefangen. Das war auch so irgendwie mein Wunsch, obwohl ich’s nicht gekannt habe. Meine Mutter zeigte mir mal ’ne Geige und da dachte ich mir, das ist gut.
Nur in einem Fall dieses Typs scheint die Entscheidung zum Instrument gegen den erklärten Willen der elterlichen Bezugsperson erfolgt zu sein. Wir haben von klein auf natürlich gesungen, Blockflöte gespielt, das war so das ganz Normale. Dass man auch mindestens einmal in der Woche natürlich in der Kirche sang. Da fängt das ja schon an, dass man die Musik als ganz natürlich empfindet. Und hab dann mit Blockflötespielen angefangen, als ich fünf Jahre alt war. Und hatte dann den Wunsch, unbedingt Geige zu spielen. Was mir meine Mutter versucht hat auszureden, weil Geige – also, hat sie selber mal versucht und fand das sehr schwer und wollte das eben nicht. Wo dann klar war, dass ich natürlich, selbstverständlich unbedingt Geige spielen werde.
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Diese Tendenz, sich gegenüber dem mütterlichen Wunsch durchzusetzen, führt allerdings – und das ist der Grund dafür, dass wir auch diesen letztgenannten Fall zum Ea+-Typ rechnen – nicht dazu, dass die Mutter, eine Kirchenmusikerin, als entscheidende Bezugsperson des kindlichen Übens ausfällt. Trotz temperamentvoller Auseinandersetzungen bilden Mutter und Tochter ein gutes Team, was auch damit zusammenhängt, dass auf Seiten der Tochter von Anfang an keinerlei Zweifel bestehen, dass sie Musikerin werden wollte. Die Fraglosigkeit und Selbstverständlichkeit dieses Wunsches dokumentiert sich besonders direkt in folgender Äußerung eines anderen Gesprächspartners: Ich hab schon zu meiner Schuleinführung gesagt: ich will Musiker werden. Die anderen also Kosmonaut, Treckerfahrer, ich weiß nicht, was die alle werden wollten. Und bei mir stand das fest, und das war nicht eintrainiert, das war nicht von meinen Eltern »Sag das, damit das besonders klingt!« oder so. Das war meine Überzeugung. […] Also irgendwas muss da ja unbewusst in meinem Inneren schon gefestigt gewesen sein. Und dass ich dann darüber nie mehr nachgedacht habe […].
Obgleich dieser Gesprächspartner die Eigenständigkeit seiner Entscheidung betont, ist nicht zu vernachlässigen, dass der selbstständig geäußerte Wunsch aus dem harmonischen Verhältnis zur elterlichen Bezugsperson – in seinem Fall der Mutter – erwuchs, die das kindliche Üben mit einer – wie es der Befragte an anderer Stelle formuliert – guten Mixtur begleitete: Mit einer Liebe zum Kind, aber auch genau wissen worauf’s ankommt. Gerade an diesem Zusammenhang zeigt sich, wie problematisch es ist, wenn man – in der Terminologie der älteren Motivationspsychologie – derartige Berufsentscheidungen als »intrinsisch motiviert« bezeichnet und einer von äußeren Einflüssen gesteuerten »extrinsischen« Motivation gegenüberstellt. Weit treffender ist es, wenn man im Sinne der von Deci und Ryan ausgearbeiteten Selbstbestimmungs-Theorie in einem derartigen Wunsch die drei zentralen Grundbedürfnisse (»basic needs«) nach Autonomie, Kompetenz und zwischenmenschlicher Bezogenheit erkennt (Deci & Ryan 1993): Der hier geäußerte Berufswunsch lässt neben dem Aspekt der Eigenständigkeit (Autonomie), den der Befragte als alleinige Motivationsquelle angibt, zugleich auch das Bedürfnis nach einer engen Verbundenheit zur Mutter erkennen (Bezogenheit), und ist zweifelsohne durch das Erleben des eigenen Könnens (Kompetenz) grundiert. Und auch bei allen weiteren Vertretern des Ea+-Typs lässt sich in dem frühzeitig geäußerten Berufswunsch der Wunsch nach einer Erfüllung dieser drei Grundbedürfnisse erkennen. Das auf gegenseitiger Verbundenheit beruhende starke elterliche Engagement führt dazu, dass die Entscheidung zum Spezialschulbesuch vom Kind als eine gemeinsame empfunden wird. Ebenso endet dieses Engagement nicht mit dem Eintritt in die Spezialschule. Die elterliche Bezugsperson bleibt in einer positiv stimulierenden Weise im Hintergrund immer anwesend und hilft dem Kind bei der Bewältigung des neuen Schulkontextes. In einigen Fällen ist sie bis ins Studium hinein – nun als ebenbürtiger Berater – präsent. Ein Gesprächspartner, dessen Bezugsperson die Mutter war, prägte in diesem Zusammenhang die schöne Metapher von den LöwinnenMüttern:
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Und der treibendere Keil war natürlich die Mutter, mein Vater war eben viel unterwegs und vielleicht auch zu lieb und die Mutter war mehr die, die das Ganze organisiert hat, die aufgepasst hat und die kontaktiert hat mit den Lehrern und so. Wir ham jetzt och bei dem letzten Konzert in der Spezialschule festgestellt – wir Alten –, was wir eigentlich alle für tolle Löwinnen-Mütter hatten. Die sich also eingesetzt haben mit voller Brust und hätten wir die nicht gehabt, da wäre manches auch anders gelaufen.
Durch den starken elterlichen Einsatz empfinden die Vertreter des Ea+-Typs das Lehrer-Eltern-Schüler-Dreieck als ausbalanciert. Das ist natürlich nur deshalb möglich, weil es zuvor im Eltern-Kind-Verhältnis eine große Einigkeit gab. Wo diese Einigkeit fehlt, konnte, wie zu sehen sein wird, das elterliche Engagement im Schulkontext von den Betroffenen durchaus auch negativ empfunden werden. Insgesamt ist festzustellen, dass durch das familiäre Umfeld des Ea+-Typs bereits vor der Spezialschule entscheidende Faktoren angelegt sind, die ein gutes Funktionieren im Spezialschulkontext ermöglichen. Sowohl hinsichtlich der grundsätzlichen Entscheidung zum Musikerberuf als auch in Bezug auf die Fraglosigkeit des Übens bestehen aufgrund der engen Verbundenheit zur elterlichen Bezugsperson keinerlei innere Zweifel. Dadurch ist von Anfang an eine grundlegende Akzeptanz der Spezialschulausbildung gegeben. Typ EaWelch immense Rolle die Eintracht zwischen dem Kind und dem dessen musikalische Entwicklung fördernden Elternteil für die frühzeitige Ausbildung des Berufswunsches und die Bereitschaft zum täglichen Üben spielt, zeigt sich an den Fällen, in denen zwar alle anderen der genannten Faktoren – überdurchschnittliche Konzentration eines Elternteils auf die musikalische Ausbildung, Vorhandensein professionellmusikalischer Expertise, musikgeprägtes Umfeld – vorhanden sind, aber eben diese Eintracht fehlt. Dadurch wird die selbstverständliche Ausrichtung auf die Ziele der Spezialschulausbildung noch vor Beginn der Schulzeit erschwert, was die Passung zum konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule dann erheblich beeinträchtigt. Diese Fälle fassen wir im Folgenden im Typ Ea- zusammen. Bin schon sehr geborgen gewesen. Aber musste mich frühzeitig orientieren, weil ich auch merkte, dass die Geborgenheit nicht so ganz bis ins Herz rein reicht. Durch den rauen Alltag. Aber ich konnte mit allen Fragen zu meinen Eltern gehen. Aber hätte wahrscheinlich nicht immer die Antworten bekommen, die ich gebraucht hätte. […] Also, es begann mit Blockflöte und dann kam die Geige und später Klavier dazu. Aber frühzeitig schon die Einsicht, es könnte noch etwas anderes geben. Aber indem man sich sehr mit Musik beschäftigt, mit individualisierter Musik, wird man ja auch schon aus dem Kindsein herausgerissen oder erhöht daraus. Und hat eben dann dieses früher oder später vielleicht doch geliebte oder gehasste Lebensgebiet einfach bei sich. Und, das würde ich auch so von mir berichten. […] Also, wir waren vier Kinder. Mein Vater ist Pfarrer gewesen in einem Dorf. Und da ist die Musik ja ohnehin gegenwärtig. Und dann durfte ich als kleiner Bub schon die Glocken läuten. Zwar elektrisch, aber trotzdem mit Verantwortung. An und ausstellen und zu ’ner bestimmten Zeit wieder an und aus stellen. Und das ist aber auch was Musikalisches. Und dann die Orgelmusik, die ich hörte. Aber, ich hab ja nie Orgelunterricht genommen. Und dann kam ich in die Schule. […] Meine Mutter spielte Geige. Und unter ihrer Regie übte ich dann auch. Und hatte da auch allerhand
254 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE zu leiden, weil ich eben nicht wollte oder nicht wollen konnte. Also, das war irgendwie wahrscheinlich so ein gegenseitiges Sich-was-Wichtiges-Nehmen. Ich nahm ihr den Triumph, dass es mit mir vorwärts geht. Und sie nahm mir die Selbstverständlichkeit, eigene Wege zu gehen.
Diese sehr reflektierte Beschreibung mit hohen Argumentationsanteilen thematisiert eine tiefgehende Ambivalenz, die ihren sinnfälligsten Ausdruck in der Bezeichnung der Musik als geliebtes oder gehasstes Lebensgebiet findet. Die prägende frühe Erfahrung von Musik, die gleichsam selbstverständlich den familiären Mikrokosmos durchdringt, wird konfrontiert durch die nicht minder elementare Erfahrung, dass diese Geborgenheit Risse aufweist. Sie reicht nicht so ganz bis ins Herz rein. Diese Ambivalenz verhindert das Zustandekommen einer fraglosen und einträchtigen Mutter-Kind-Dyade beim Üben. Damit fehlt zugleich auch die Ausrichtung auf ein in Hinblick auf die Musik dominantes Elternteil. Mit weitreichenden Folgen: Trotz einer generellen Orientierung zur Musik kommt es zu einem weniger stringenten Üben, was zur Folge hat, dass sich eine gleichsam selbstverständliche frühe Berufsentscheidung nicht herausbilden kann. Das wiederum bedingt eine deutlich geringere Passung zum konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule als in den Fällen des Typ Ea+. Und diese Diskrepanz wird während der Schulzeit nicht gelöst, sondern bildet die Ausgangslage für weitere innere Konflikte. Führt die fehlende Eintracht in der Mutter-Kind-Dyade hier zu einem weniger intensiven Übeverhalten als dies bei den Fällen des Ea+-Typs zu beobachten ist, so liegt im folgenden Fall trotz der unverkennbar beeinträchtigten Eltern-Kind-Beziehung keine geringere Übeintensität als bei den Ea+-Typ-Vertretern vor. Gerade die scheinbar intakte Oberfläche erweist sich für die Befragte aber als Problem, das sie die gesamte Spezialschulzeit über begleiten wird. Wie sieht diese Oberfläche aus? Wie beim Typ Ea+ gibt es in diesem Falle ein dominierendes Elternteil – die Mutter –, das die instrumentale Entwicklung mit weit überdurchschnittlichem Einsatz begleitet. Ferner liegt ebenfalls ein im weitesten Sinne professioneller elterlicher Kontext vor. Und schließlich macht sich die Aktivität der Mutter bis weit in die Spezialschulzeit hinein bemerkbar. Wie beim Typ Ea+ trägt das überdurchschnittliche elterliche Engagement maßgeblich zu einem hohen Leistungslevel bei. Doch dieser hohe Level allein gewährt noch keine Passung, zu der ja immer zwei Seiten – der schulische Erfahrungsraum und der Orientierungsrahmen des jeweils Betroffenen – gehören. Der große Unterschied zum Typ Ea+ besteht in der Tatsache, dass die Befragte die Rolle des Vorzeigemädels (dieser Begriff wird von ihr explizit ins Spiel gebracht) nur gegen innere Widerstände internalisiert. Während dort ein Gleichklang zwischen elterlichen und kindlichen Interessen vorliegt, ist hier durchweg ein Gefühl der Fremdbestimmtheit zu spüren. Die Befragte lässt sich vor allem deshalb auf das tägliche intensive Üben ein, weil sie die Erfahrung macht, dass die Stimmung im Verhältnis zur Mutter getrübt wird, sobald sie sich bockig zeigt. Ich hab halt sehr viel jeden Tag mit meiner Mutter zusammen geübt. Und glaube, es gab da auch also von ihrer Seite Probleme, weil ich zum Teil – aber ich denke, das ist wie bei jedem Kind – keine Lust hatte und ein bisschen bockig war. Und so hab ich schon damals gemerkt: wenn ich das jetzt erfülle, ist es gut [mit meiner Mutter] und wenn nicht, ist es gar nicht gut.
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Eine tragfähige Motivation zum Instrument kann sich somit nicht aufbauen. Das führt dazu, dass die Befragte unter der ihr immer wieder zugesprochenen »Begabung« letztlich leidet. Es entsteht das Gefühl, aufgrund des ihr von vielen Seiten zugesprochenen »Talents« etwas tun zu müssen, was sie im Grunde nicht wirklich möchte. Die Mutter verfolgt hierbei durchaus eigene Interessen. Das ist zwar auch bei einigen Ea+-Typ-Vertretern der Fall, tritt dort aber nicht als Problem hervor, weil diese Eigeninteressen beim jeweiligen Kind auf keine inneren Widerstände stoßen. Die Konflikte hingegen, von denen hier berichtet wird, enthüllen, dass es der Mutter nicht primär darum ging, ihrer Tochter einen selbstbestimmten Zugang zur Musik zu eröffnen. Vielmehr wollte sie um jeden Preis einen möglichst hohen Leistungslevel bei ihr erreichen. Am deutlichsten zeigt sich das an der Tatsache, dass alle Situationen, in denen die Tochter eigene Wege beim Üben gehen wollte, von der Mutter unterbunden wurden: Ja, und dann weiß ich nur noch, ich hab mal irgendwann dann durchgesetzt, dass ich was alleine üben möchte. Und das hat mir Spaß gemacht und da bin ich dann auch irgendwie innerlich aufgetaut. Und das war aber dann leider in der Qualität nicht so gut, wie wenn wir’s zusammen geübt haben, und dann hab ich sofort ’nen Dämpfer gekriegt: »Na siehste, es ist doch besser, wenn ich mit dir übe.« Und das war ein bisschen schade, weil so hab ich eigentlich nie das Gefühl gehabt, dass es jetzt absolut das ist, was ich will.
Ein wichtiger Grund für die Initiative der Mutter scheint in ihrer problematischen Beziehung zu ihrem Partner liegen. Der Gedanke liegt nahe, dass das intensive gemeinsame Üben zumindest teilweise auch dem Zweck diente, mit der Tochter zusammen einen großen gemeinsamen Lebensbereich zu installieren, an dem der Vater keinen Anteil haben konnte. Dieses problematische Verhältnis pflanzt sich an der Spezialschule fort: In den ersten Jahren erlebt die Befragte statt eines ausbalancierten Eltern-Lehrer-SchülerDreiecks eine Allianz zwischen Mutter und Lehrerin, an der sie keinen Anteil hat. Zwar kann sie auch hier die Rolle der begabten Tochter weiterhin aufrecht erhalten, doch es ist offenkundig, dass sie an dieser Rolle leidet. Das führt zu einer großen Diskrepanz zwischen Innen- und Außenperspektive: Während nach außen hin ein perfektes Passungsverhältnis vorzuliegen scheint, leidet die Befragte innerlich genau an diesem Schein. An ihrem Fall bewährt sich damit die These Dieter Nittels, dass »schulischer Erfolg an ein verstecktes Leiden gekoppelt sein kann, wenn dieser durch eine Überanpassung an das schulische Leistungsprinzip erarbeitet ist und damit eine Verarmung des außerschulischen Lebens, verhinderte Verselbstständigungsschritte und eine starke Selbstkonditionierung einhergehen.« (Nittel 1992, S. 319 f.; vgl. auch Kramer 2002, S. 32) Mit dem Ea+-Typ eint den Typ Ea- die Tatsache, dass an der Spezialschule die zentralen Koordinaten der Eltern-Kind-Konstellation bruchlos fortgeschrieben werden. Im Falle des a+-Typs führt das zu einer Übertragung der kindlichen heilen Welt auf den Schulkontext. Bei Typ Ea- pflanzt sich allerdings die »unheile« Problematik des familiären Kontextes während der Schullaufbahn fort. Bei den Typen Ea+ und Ea- besteht ferner von Seiten der Eltern eine ganz klare und eindeutige Fokussierung auf die Musik und eine professionelle Musikausbil-
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dung, was allerdings – wie zu sehen ist – zu diametral entgegengesetzten Folgen führt. In Anlehnung an die Terminologie der Marburger Forschungsgruppe »Familiale Bildungsstrategien als Mehrgenerationenprojekt« (Brake & Kunze 2004) lässt sich sagen, dass in allen der bislang beschriebenen Elternhäuser eine »Transformation zum Identischen« vorliegt: »Transmission bedeutet so viel wie ›Übermittlung‹ oder ›Weitergabe‹. Die Formulierung ›Transformation zum Identischen‹ deutet an, dass es sich hier um Elternhäuser handelt, die ihren Kindern vor allem jene musikalischen Erfahrungen weitergeben wollen, die sie selber gemacht haben. Es sind hiermit also Eltern gemeint, denen das professionelle Milieu, das sie ihren Kindern als positiven Horizont zu eröffnen suchen, nicht fremd ist. In diesen Familien spielt Musik eine unangefochtene Rolle, sie trägt wesentlich zur Familienatmosphäre bei. In Anlehnung an eine Typologie aus der Intelligenzforschung (vgl. Plomin et al. 1977) lässt sich sagen, dass die Kinder aus diesen Elternhäusern von Anfang an sowohl in einer passiven wie auch in einer evokativen Interaktion zwischen Anlage und Umwelt stehen. ›Passiv‹ ist diese Interaktion, weil die Kinder hier ohne eigenes Zutun von Musik bzw. musizierenden Menschen umgeben sind, eine Überformung des Anlagepotenzials also gleichsam automatisch geschieht. Der Ausdruck ›evokativ‹ besagt, dass die Eltern selbst auf das Anlagepotenzial der Kinder achten und dieses gezielt verstärken.« (Lessing 2014, S. 122 f.; vgl. auch Lessing 2016b, S. 134).
Typ Eb+ Eine grundsätzlich andere familiale Bildungsstrategie liegt hingegen vor, wenn die kulturellen Werte, die von den Eltern an die Kinder weitergegeben werden, nicht notwendig auf eigenen Erfahrungen der Eltern beruhen. Es handelt sich vielmehr um eine generelle Wertschätzung kultureller bzw. musikalischer Aktivität, ohne dass damit zwangsläufig eine Fokussierung auf den Musikerberuf bzw. die eigene professionelle Biografie verbunden wäre. Die Marburger Forschungsgruppe spricht in diesem Fall von einer »Transformation zum Äquivalenten« (vgl. ebd., S. 125 f.). Im Rahmen dieser familialen Bildungsstrategie erscheint der Besuch einer Spezialschule nicht als Konsequenz, die gleichsam zwangsläufig aus dem familiären Lebensstil resultiert. Für die Kinder aus diesen Elternhäusern wären – sowohl für ihren eigenen Orientierungsrahmen als auch von Seiten der Eltern – berufliche Alternativen vorstellbar gewesen. Es ist daher mehr als nur naheliegend, wenn zur generellen Aufgeschlossenheit gegenüber der Musik immer auch ein nicht-musikalisches Motiv auf Seiten der Eltern hinzutritt, das die letztendliche Entscheidung zum Spezialschulbesuch beeinflusst. Wie wir im Kapitel 3.5 bereits sehen konnten, hängen diese außermusikalischen Motive häufig mit den politischen Rahmenbedingungen zusammen. Der Wunsch der Eltern, den Kindern auf jeden Fall ein Studium zu ermöglichen, lässt den Spezialschulbesuch als einen Weg erscheinen, der sonst womöglich gar nicht in Erwägung gezogen worden wäre. Wir fassen im Folgenden die Elternhäuser im Typ Eb+ zusammen, in denen • ein grundsätzliches kulturell-musikalisches Interesse vorliegt, • die dem Kind vielfältige Unterstützung beim Erlernen des Instruments zuteilwerden lassen, • die Spezialschulausbildung aber unabhängig von den musikalischen Ausbildungsinhalten vor allem als eine Alternative erscheint, durch die sich die
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Probleme einer »normalen« Schulkarriere im Rahmen einer allgemeinbildenden Schule umgehen lassen Aussagekräftiger als diese positiven Charakterisierungen sind jedoch die Bestimmungen, die sich aus dem unmittelbaren Vergleich zum Typ Ea+ ergeben. Aus diesem Vergleich wird deutlich, was die Elternhäuser des Typs Eb+ nicht sind: Wies beim Typ Ea+ der erste Kontakt zum Instrument zwei Komponenten auf (Faszination für das Instrument sowie Verbindung zur elterlichen Bezugsperson), so enthält diese Begegnung im Falle von Eb+ ein Moment des Zufälligen. Ebenso ist unverkennbar, dass den Eltern die Musik zwar wichtig ist, aber längst nicht in jener Intensität, wie das bei den Typen Ea+ und Ea- zu beobachten war. Des Weiteren gibt es hier kein dominantes Elternteil, das das Üben des Kindes zum Teil der eigenen Biografie macht. Und schließlich ist auch von einer herausgehobenen Stellung unter den Geschwistern in der Regel wenig bis nichts zu spüren. Folgendes Beispiel kann als besonders charakteristisch für diesen Typ gelten: Also es stand ein Klavier da, das war festes Möbel und da durfte auch jeder ran und meine Schwester hat Klavier gespielt; die ist viel älter gewesen. Mein Vater hat früher im Posaunenchor, inner Kirche halt mitgespielt und ist auch im Chor gewesen und hat viel gesungen. Meine Mutter, die hat also gerne Musik gehört und hat sich immer gefreut, wenn ich geübt habe, war aber selber nicht aktiv. Interviewerin: Können Sie sich erinnern an Ihre ersten eigenen musikalischen Erlebnisse? Gibt’s da Geschichten? Also, ich hab, da bin ich noch nicht in die Schule gegangen, gerne improvisiert. Und zwar hatte mein Vater ein’ älteren Kollegen, der kam uns öfter mal besuchen und der hat dann gesagt: »Mach doch mal Gewitter!« und »Mach mal DAS!« und das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Das ging dann ein bisschen verloren, weil ich dann, als ich so meinen ersten Klavierunterricht hatte, auch immer mal improvisiert hab und nicht das gespielt habe, was in den Noten stand und da hat mir das erst mal meine Lehrerin kategorisch verboten.
Im folgenden Fall gibt es zwar durchaus eine elterliche Bezugsperson (den Vater), die den Anstoß für die Wahl des Instruments gibt und die auch das gemeinsame Üben in die Hand nimmt. Anders als im Falle des Typs Ea+ scheint das Instrument selbst aber keine sonderliche Begeisterung ausgelöst zu haben. Oder anders formuliert: die gegenseitige Überblendung von zwischenmenschlicher Verbundenheit und musikalischer Faszination bleibt aus. Hinzu kommt, dass Vater und Tochter beim Üben nicht zu jenem aufeinander abgestimmten Team zusammenfinden, dass die Fälle des Typs Ea+ auszeichnet: Meine Mama spielte Klavier, hat später im Chor gesungen. Mein Papa Violine. […]Für ihn war es ’ne lebenslange Liebe. Für mich gab es auch praktisch zweimal den Anlauf, ’n Instrument zu lernen. Einmal mit sechs: Geige – ja klar, da hat man noch keinen eigenen Willen, also nach dem Papa. Ich musste es dann aus gesundheitlichen Gründen abbrechen. Und bin dann mit zehn eigentlich erneut an die Geige herangekommen. […] Interviewerin: Hätte es denn auch ein anderes Instrument sein können? Nie drüber nachgedacht. Also, das ist ja ’ne Zeit, wo die Kinder auch viel von ihren Eltern aufnehmen. Das war eben jetzt die Geige. […] Also es wird sicherlich Kinder geben, die da ir-
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Dass die Entscheidung zum Spezialschulbesuch bei den Eltern dieses Typs immer auch aus strategischen, häufig politisch motivierten Gründen erfolgt, bringt die Erzählung folgender Schulkarriere gut zum Ausdruck: Und dann bin ich in die Schule gekommen. […] Und irgendwann wollte meine Mutter mich von dieser Schule weg haben, weil sie sich dort aus politischen Gründen mit der Schulleiterin sehr angelegt hatte und große Probleme hatte. Meine Eltern wollten also gerne, dass ich aus dieser Schule, wo diese Frau Direktorin war, wegkommen sollte, und dann hatten sie als ersten Vorschlag »Da kannste doch zum Beispiel auf die Russischschule gehen.« Und da wurde ich aber abgelehnt, obwohl meine Schulzeugnisse im Grunde immer sehr gut waren. Aber es wurde eben abgelehnt. Das war auch [wegen] dieser Quote der Arbeiterkinder, die ja in bestimmte Bereiche kommen mussten. Aber weil meine Eltern sehr viele Bekannte hatten aus den Orchestern, kam es, dass einer von denen immer gesagt hat: »Na, dann lasst doch den Jungen Musik machen.«
Gerade weil weder auf Seiten der Eltern noch bei den Kindern eine stabile Identifikation mit der Perspektive des Musikerberufs besteht, erscheint der Spezialschulbesuch beim Typ Eb+ immer nur als eine Alternative unter anderen. Und weil das Interesse der Eltern an der inhaltlichen Dimension sich nicht mit demjenigen vergleichen lässt, das wir beim Typ Ea+ beobachten konnten, treten sie auch während der Schulzeit nicht unmittelbar als Akteure in Erscheinung, die in Bezug auf den Hauptfachbereich für die Interessen ihrer Kinder kämpfen. Ihre Unterstützung ist eher allgemeiner Natur, indem sie etwa bei Krisen zum Durchhalten ermuntern. Typ EbAllerdings besteht zwischen Typ Eb+ und Typ Ea+ insofern eine deutliche Übereinstimmung, als Eltern und Kind trotz der fehlenden Eintracht beim gemeinsamen Üben letztlich doch an einem Strang ziehen. In der Negativ-Variante des Typs Eb+, die in unserem Sample genau einmal vorkommt, ist diese innere Gemeinsamkeit hingegen nicht gegeben. Wie im Falle von Ea- besteht hier eine grundlegende Uneinigkeit zwischen Kind und Eltern, die sich als belastend für die gesamte weitere Spezialschulzeit auswirkt. Wir bezeichnen diesen Fall im Folgenden als Eb-. Dieser Fall ist insofern interessant, als er hier aus der Perspektive eines Geschwisterteils beschrieben wird, das, anders als der Bruder, offenkundig kein eigenes Interesse am Erlernen eines Instruments an den Tag legt. Mein Bruder und ich haben eigentlich Musik studiert, weil meine Mutter das selber gerne gewollt hätte. […] Also, meine Mutter hat mit uns auch geübt. Mit beiden. Also, sowohl mit mir als auch mit meinem Bruder. Mein Bruder gehörte auch zu den wenigen Menschen, die Geige spielen wollten. Der hat mit vier Jahren gesagt: »Ich möchte Geige spielen. Ich möchte Geiger
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werden.« […] Der hat sich auch alleine hingestellt und alleine geübt. […] Ich hab das, glaub ich, sehr selten gemacht. […] Ich wollte auch nicht. Ich hab mir mein Instrument nicht ausgesucht. Also, überhaupt nicht. Ich hätte mir gar kein Instrument ausgesucht. Ich wollte ursprünglich mal tanzen. Und war da sehr ehrgeizig. Hab also in irgend so ’ner Ballettschule getanzt bis zum achten Lebensjahr. Und hab mit vier auch angefangen. Aber die haben ja dann gleich geguckt, ob das ein Beruf werden kann, haben mich gemessen und dann gesagt: »Die wird zu groß.« Weil, die haben ja die Jahrgänge dann immer schon bestimmt für die jeweiligen Theater. Gerade beim Tanz war das sehr extrem. […] Und daraufhin haben sie dann gesagt zu meinen Eltern: »Die ist aber musikalisch und die könnte doch ’n Instrument spielen, damit sie wenigstens was zu tun hat.« Ja, und da haben meine Eltern mir schon so kleines bisschen die Wahl gelassen. Die haben gesagt: »Na, was willst du denn spielen?« Und ich wollte gar nichts spielen. Und da habe ich gesagt, glaube ich: »Ich will Harfe spielen.« Da gab’s aber in meinem Dorf aber weder ’ne Harfenlehrerin, geschweige denn ’ne Harfe. Das fiel also aus. Und weil das Instrument von meinem Großvater irgendwie da rum stand, wurde mir das irgendwann in die Hand gedrückt. »Guck mal, das kannst du auch spielen.« Und ich fand’s ziemlich schrecklich. Aber sie haben mich dann da angemeldet an der Musikschule. Und die Lehrerin hat halt beschlossen, dass ich begabt bin […].
Sowohl die Kontaktaufnahme zum Instrument als auch das weitere Üben erfolgt rein passiv. Das Kind erlebt sich als weitgehend übergangen und ungehört; auch an der Entscheidung für die Spezialschule hat es keinerlei Anteil; sie erfolgt, wie bei den Vertretern des Typs Eb+, nicht primär aus musikalischen Gründen, sondern ist vor allem der Außenseiterstellung geschuldet, die die Familie mit ihrem insgesamt eher städtisch-bürgerlichen Lebensstil im dörflichen Kontext einnimmt. Die Aussicht auf einen Internatsplatz an der Spezialschule erscheint den Eltern als einzige Möglichkeit, das Kind aus dem schwierigen Lebensumfeld herauszulösen. Das mangelnde Eingehen auf die kindlichen Bedürfnisse setzt sich im Laufe der Spezialschulzeit dann bruchlos fort. Während die Kinder des Typs Eb+ in problematischen Situationen Unterstützung bei ihren Eltern finden und sich für sie damit Horizonte eröffnen, die es ihnen ermöglichen, die Schulzeit im Nachhinein als sinnhaft und bereichernd zu konzeptualisieren, bleibt die Gesprächspartnerin hier alleine auf sich gestellt. Die Lehrerin an der Spezialschule hatt ich vierzehn Jahre. Also, das ist nun schon heftig lange. Und da kann ich mich erinnern: Bei der hab ich am Anfang ein paar Mal geheult. Das weiß ich noch. […] Weil sie so viel Druck ausgeübt hat. Klarer Fall. Weil ich den Anforderungen nicht entsprochen hab. Das kann sowohl daran gelegen haben, dass ich noch nicht wusste, wie man übt, geschweige denn mich das richtig interessiert hätte. Und dass ich von der ganzen Situation überfordert gewesen bin. […] Aber es war klar, dass ich weiter spiele. Und das wurde auch nie thematisiert. Also, meine Eltern haben nicht ein einziges Mal zu mir gesagt: »Du kannst es auch sein lassen.« Nie. Die waren auch so beschäftigt mit sich und ihrer Arbeit.
Typ Ec Besteht zwischen den Elternhäusern des Typs Eb und der Spezialschule immerhin dahingehend eine Passung, als in ihnen ein bürgerlicher, bisweilen auch kleinbürgerlicher Lebensstil gepflegt wird, der sich als unmittelbar anschlussfähig an den schulischen Erfahrungsraum erweist, so existiert in dem Fall, den wir im Folgenden als Typ Ec bezeichnen, ein deutlicher Unterschied zwischen dem familiären Lebensstil
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und dem die Schule dominierenden Milieu. Es handelt sich hier um den Fall eines Schülers aus proletarischen Verhältnissen, in dessen Elternhaus es zwar durchaus musikalische Aktivitäten gab (die Mutter spielte Akkordeon, der Großvater Mandoline), in dem die Option einer Spezialschulausbildung allerdings in keiner Weise vorhanden war. Der Stein des Anstoßes kam hier nicht aus der Familie, sondern von Seiten der Musikschule, die über das System der Fachberater in einem ständigen Austausch mit der Spezialschule bzw. der Hochschule stand. Der Fall einer »Transmission von außen« (vgl. Lessing 2014, S. 127 ff.): An eine Situation kann ich mich erinnern, da musste ich da mal was vorspielen. Also die Spezialschullehrer, die sind dann an die Musikschulen gegangen und haben dann vielleicht auch mal telefoniert: »Habt ihr jemanden?« Und ich denk mal, so lief das. […] Ich hatte ein gutes Elternhaus, meine Eltern waren sehr gerecht und hatten auch schon den Mut, uns zu erziehen, sag ich jetzt mal. Und das war auch ok. Eigentlich, aber interessant war, dass bei so ’ner wichtigen Entscheidung plötzlich ich gefragt wurde. Das hab ich auch noch so in Erinnerung, dass mich das auch so bissel überrascht hat, es war ’ne besondere Situation für mich, glaub ich. Dass ich da jetzt so einbezogen wurde. […] Mir war natürlich schon irgendwo bewusst, das ist hier ’ne wichtige Entscheidung. Ich geh jetzt in ’ne fremde Stadt, ins Internat auf so ’ne Schule. Und da hab ich [bei meinen Eltern] schon bissel so die Hilflosigkeit gespürt, ne?
Diese Hilflosigkeit der Eltern führt dazu, dass, ähnlich wie im Falle von Typ Eb-, das Kind an der Spezialschule auf sich gestellt bleibt, was sein Enaktierungspotenzial erheblich einschränkt. Also meine Eltern, die konnten mir nicht helfen. Also wir haben drüber gesprochen natürlich, aber es war dann irgendwie … ja, die haben mich irgendwie unterstützt, wo sie konnten, aber sie konnten eigentlich nicht.
4.1.4 Diskussion Der Vergleich zwischen der soziogenetischen Typologie zum Aspekt Elternhaus mit unserer sinngenetischen Typologie ergibt folgendes Bild: Sinngenetischer Typ Fallnummer
A »Fisch im Wasser« 1
2
3
4
5
A/B Mischtyp 6
B »Schüler« 7
8
9
C »Fremdling« 10 11 12 13 14
Soz. Typ Beruf der Eltern (B)
Ba Ba Ba Ba Ba
Bc
Bc Bc Bd Bd Bb Ba Bc Be
Soz. Typ Elternhaus (E)
Ea+ Ea+ Ea+ Ea+ Ea+
Eb+
Eb+ Eb+ Eb+ Eb+ Ea- Ea- Eb- Ec
Ea+: Überdurchschnittliche Konzentration eines Elternteils auf die musikalische Ausbildung, Vorhandensein professionell-musikalischer Expertise, musikgeprägtes Umfeld, Eintracht zwischen Elternteil und späterem Spezialschüler in Bezug auf das gemeinsame Üben. Ea-: Wie Ea+, allerdings fehlt die innere Eintracht beim gemeinsamen Üben.
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Eb+: Es besteht ein grundsätzliches, aber nicht überdurchschnittlich hohes kulturell-musikalisches Interesse der Elternhäuser; vielfältige elterliche Unterstützung beim Erlernen des Instruments; Spezialschulausbildung erscheint als Alternative, durch die sich die Probleme einer »normalen« Schulkarriere im Rahmen einer allgemeinbildenden Schule umgehen lassen; es gibt kein dominantes Elternteil, das das Üben des Kindes zum Teil der eigenen Biografie macht; die Entscheidung für die Spezialschule erfolgt im Konsens von Eltern und Kind. Eb-: Wie Eb+; allerdings gibt es kaum Unterstützung beim Erlernen des Instruments; die elterliche Entscheidung für die Spezialschule erfolgt über den Kopf des Kindes hinweg. Ec: Deutliche Diskrepanz zwischen dem familiären Lebensstil und dem dominierenden Milieu der Spezialschule; die Entscheidung für die Spezialschule wird von außen an die Familie herangetragen und kann von den Eltern nicht kompetent begleitet werden.
Mit großer Deutlichkeit zeigt sich, in welch hohem Ausmaß die Passung zum Erfahrungsraum der Spezialschule durch die Konstellationen des Elternhauses vorgeprägt ist. Zwischen dem soziogenetischen Typ Ea+ und dem sinngenetischen Typ A (»Fisch im Wasser«) scheint ebenso ein unmittelbarer Zusammenhang zu bestehen wie für das Verhältnis von Eb+ und dem Typ B (»Schüler«). Nicht minder sinnfällig ist, dass sich im sinngenetischen Typ C (»Fremdling«) die defizienten Ausprägungen der Typen Ea und Eb sowie der ebenfalls stark defizitär geprägte Typ Ec finden. Wir sehen damit, dass die bloße Berufsgruppe der Eltern nur in Bezug auf die Zugehörigkeit zum Typ A (»Fisch im Wasser«) relevant ist – aber selbst dort ist es von gleicher Wichtigkeit, dass es neben der professionellen elterlichen Expertise auch zu einer positiv empfundenen Gestaltung des Eltern-Kind-Verhältnisses kam. Wo dieses Verhältnis negativ empfunden wurde, konnte es selbst bei professionell-musikalischer Ausbildung eines Elternteils zur Herausbildung eines Orientierungsrahmens vom Typ C (»Fremdling«) kommen (vgl. Fall 12). Die Grenze zwischen den sinngenetischen Typen B und C wird hingegen nicht so sehr über die Berufe der Eltern definiert (dies trifft lediglich für den Fall 14 zu), sondern hauptsächlich durch die Frage entschieden, ob es zu einer positiven oder negativen Ausgestaltung des Eltern-KindVerhältnisses hinsichtlich der Beschäftigung mit dem Instrument kam. Was besagt diese hohe Übereinstimmung zwischen sozio- und sinngenetischer Typologie für unsere Frage nach dem konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule? Zunächst ist darauf hinzuweisen, was diese Übereinstimmung nicht bedeutet: Sie lässt sich keineswegs als Beleg für die These nehmen, dass eine erfolgreiche professionelle Musikerlaufbahn zwangsläufig an das Vorhandensein jener Qualitäten geknüpft ist, die der soziogenetische Typ Ea+ aufweist. Zwar decken sich viele der diesen Typ charakterisierenden Merkmale mit den Befunden in Manturzewskas Studie. Dennoch zielt unsere Typologie nicht auf die grundsätzliche Frage nach Bedingungsfaktoren für das Entstehen musikalisch-instrumentaler Expertise, sondern fokussiert ausschließlich die Passung zum konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule. Obgleich beide Fragestellungen in einem engen Verhältnis zueinander stehen, sind sie doch keineswegs identisch. Um das an einem Beispiel zu verdeutlichen: Ob für eine erfolgreiche professionelle Musikerlaufbahn (etwa als Orchestermusiker) wirklich in jedem Falle eine Fixierung des Berufsziels bereits vor dem 12. Lebensjahr notwendig ist, kann sicher durchaus kontrovers diskutiert werden. Hingegen steht fest, dass eine derart frühe
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Festlegung für eine gute Passung zum Erfahrungsraum der Spezialschule anscheinend notwendig war. Um dort ein »Fisch im Wasser« sein zu können, musste ein Schüler bereits vor dem Schuleintritt diese entscheidende Frage restlos für sich geklärt haben. Der schulische Erfahrungsraum zielte nicht auf eine Begleitung der Schülerinnen und Schüler in einer zentralen Lebensphase ab, um ihnen am Ende dieser Phase dann die selbstbestimmte Entscheidung zu ermöglichen, ob der eingeschlagene Weg zu ihrem Lebensentwurf passte oder nicht passte, sondern rechnete damit, dass diese Entscheidung bereits im Vorfeld mehr oder minder feststand. Ein Schüler, der aufgrund seines Elternhauses diese Entscheidung noch nicht mit der Sicherheit des Typs Ea+ hatte treffen können, konnte hinsichtlich seines Passungsverhältnisses anscheinend nur noch einen Orientierungsrahmen der sinngenetischen Typen B und C ausbilden. Interessanterweise handelt es sich beim Typ Eb+ (bzw., was in diesem Falle dasselbe ist, beim sinngenetischen Typ B) fast ausnahmslos um Fälle, bei denen während ihrer Schulzeit durchaus berufliche Alternativen vorstellbar waren; bei allen anderen Typen findet sich diese Aussage so gut wie nicht – auch nicht beim sinngenetischen Typ C (bzw. den diesem Typ vorbehaltenen soziogenetischen Ausprägungen Ea-, Eb- und Ec): Die problematische Ausgangslage durch das Elternhaus führte hier nicht zur Ausbildung einer Interessenlage, die so vielfältig war, dass eine berufliche Alternative immerhin denkbar gewesen wäre, sondern zu einem Festhalten an der im konjunktiven Erfahrungsraum vorgezeichneten Ausrichtung auf die Musikerlaufbahn. Die große Übereinstimmung zwischen dem soziogenetischen Elternhaustyp und unserer sinngenetischen Typologie weist nicht nur darauf hin, dass innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraums insgeheim mit einer bestimmten Prägung durch das Elternhaus gerechnet wurde, sondern auch, dass es kaum möglich war, seinen Orientierungsrahmen im Laufe der Schulzeit grundlegend zu verändern. Die Tatsache, dass es in unserem Sample keinen (!) Fall gibt, auf den die Idealbedingungen vom Typ des Elternhauses Ea+ nicht zutreffen und der sich dennoch im Laufe seiner Schulzeit zu einem sinngenetischen Typ A (»Fisch im Wasser«) entwickelt hätte, weist ein weiteres Mal darauf hin, dass die durch das Elternhaus gegebenen Ungleichheiten (vgl. Kapitel 3.4.2.3, S. 205 ff.) durch den schulischen Erfahrungsraum zwar umformuliert, aber keineswegs verflüssigt wurden. Die von der Schule unter Rückgriff auf einen gleichsam naturwüchsigen Begabungsbegriff erzeugten Ungleichheiten übersetzten die Ausgangslage im Elternhaus in eine gleichsam »objektive« Hierarchie, die von allen Sozialisationsbedingungen gereinigt schien, aber in Wahrheit die durch diese Bedingungen erzeugten Ungleichheiten fortschrieb. Die These von einem unveränderten Weiterbestehen der familiär bedingten Ausgangslage im Schulkontext darf nicht an der Tatsache vorbeigehen, dass es an der Spezialschule unbestreitbar Anstrengungen gab, mit den Elternhäusern einen möglichst engen Kontakt zu pflegen, um auf diese Weise dafür Sorge zu tragen, dass Kindern, die im Schulkontext Schwierigkeiten zu erkennen gaben, auch vom Elternhaus her entsprechende Unterstützung erfuhren. Das geschah häufig im direkten Gespräch und unterschied sich in vielerlei Hinsicht von der Praxis an den allgemeinbildenden Schulen der DDR, die – so die These von Gerhard Barkleit (2008) – insgesamt von einem erheblichen Widerspruch zwischen dem staatlich definierten Anspruch, der Elternmitwirkung als »vorwärtstreibendes Element realer Demokratie« begriff (Ichenhäuser 1981), und einer Wirklichkeit gekennzeichnet war, in der die El-
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ternvertretungen politisch instrumentalisiert und die Bedürfnisse der Eltern häufig restlos übergangen wurden. Als Beispiel seien die so genannten Klassentage erwähnt, von denen uns die Schulleiterin, Frau Erxleben, berichtete: »Jede Klasse hatte einmal im Jahr einen Klassentag. Da war früh Elterntag, von zehn bis Mittag. Am Nachmittag musste die Klasse dann vor den Eltern spielen. Das war natürlich für die Eltern interessant, für uns auch. Da kamen dann die Eltern noch mit jeder Menge Wünschen.« Ebenso war es selbstverständlich, dass Eltern – ganz ähnlich wie es sich heute an Waldorfschulen und anderen freien Schule beobachten lässt – regelmäßig zu Elterneinsätzen hinzugezogen wurden, was neben den praktischen, der Mangelwirtschaft geschuldeten Erfordernissen, immer auch der Kontaktpflege zwischen Eltern und Schule zugutekam: »Wir hatten ja keine Reinigungskräfte. Wer machte das? Die Eltern und die Kollegen. Oder im Park hatten wir Garteneinsätze, die gingen Sonnabend und Sonntag entweder vormittags oder nachmittags. Da wurde dann eine große Kanne Tee gekocht und die Leute waren da.« Zu dieser von Seiten der Schule betriebenen Kontaktpflege gehört auch die Praxis der Elternbesuche durch die allgemeinbildenden Lehrer: »Einmal im Vierteljahr«, so Frau Erxleben, »mussten die Volksbildungslehrer Elterngespräche führen. Zu den Eltern gehen. Nach Hause. Ich hab das nicht böswillig kontrolliert, aber es klappte.« Sofern die Schulleiterin in Elterngespräche einbezogen war, wurde versucht, die Schülerinnen und Schüler in diese Kommunikation einzubeziehen: »Wenn ich Elterngespräche hatte, hab ich nach der 10.1 immer nach einer gewissen Zeit die Schüler dazu genommen. Also erst mal mit den Eltern allein, und dann zusammen.« Und schließlich wurde von der Schulleitung erwartet, dass auch die Hauptfachlehrer in engem Austausch mit den Eltern standen. »Ich hab immer gesagt: Der Hauptfachlehrer ist das dritte Bein in der Familie.« Insgesamt tritt die Elternschaft im gesamten Interview mit Frau Erxleben als eine recht fordernde Gruppe in Erscheinung. Sie wird vor allem immer dann thematisiert, wenn es um überzogene Ansprüche geht, die von Seiten der Schule nach besten Kräften im Zaume gehalten werden mussten. Eine deutliche Distanz gegenüber jenen Eltern, die ihre Kinder um jeden Preis zu Solisten machen wollten, ist dabei unüberhörbar: Erxleben: »Die Kinder mussten ja, ehe sie zur Eignungsprüfung kamen, eine Bewerbung schreiben. Im Grunde genommen ist das bei Vielen ferngesteuert von den Eltern gewesen. Die wollten natürlich alle Solist werden. Und das ist für meine Begriffe ein großer Fehler. Die Kinder wurden dann hochgehievt, die Eltern waren da immer hinterher, und am Ende hatte der Hauptfachlehrer ihnen sogar ’ne 1 gegeben, aber die Jury stellte dann fest, das ist nur ’ne 3–4.«
Die Tatsache, dass Frau Erxleben nahezu ausschließlich jene Gruppen von Eltern thematisiert, die bei Margit Varró, der Ahnherrin moderner Instrumentalpädagogik, unter die Rubrik der »ehrgeizigen«, »unzufriedenen und ungeduldigen« und »ewig für die Gesundheit ihrer Sprößlinge besorgten« eingeordnet werden (Varró 1958, S. 272–274), ist nicht weiter überraschend – wie überall sind es auch an der Spezialschule natürlich die aktiven und gelegentlich gewiss auch überaktiven Eltern gewesen, die den Charakter der Elternschaft maßgeblich prägten, während die nicht so aktiven demgegenüber weit weniger in den Fokus traten. Allem Anschein nach gab es
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an der Spezialschule in der Tat eine beträchtliche Zahl von Löwinnen-Müttern, deren Ansprüche von der Schulleitung eher abgewehrt werden mussten. Dass die Dominanz dieser Gruppe auf Seiten der schulischen Verantwortungsträger zu einer gewissen Wahrnehmungsverzerrung führen kann, liegt auf der Hand. So wie der Charakter einer Schulklasse oder einer Instrumentalgruppe sich für den unerfahrenen Lehrer häufig über die sich lauthals am Unterrichtsgeschehen beteiligenden Schüler definiert wird, während die anderen zunächst kaum wahrgenommen werden, so kann auch in einem Schulkontext, der durch eine gewisse Anzahl an hochaktiven und fordernden Eltern geprägt ist, leicht die Gefahr entstehen, diesen Teils fürs Ganze zu nehmen. Mehr noch: Diese verzerrte Wahrnehmung kann dann unter Umständen auch dazu führen, dass Schüler und Elternhäuser, bei denen es echte und ernste Probleme gibt, ins Hintertreffen geraten. Bezeichnenderweise konnte sich Frau Erxleben nicht mehr daran erinnern, ob es während ihrer Amtszeit Schüler gegeben hat, die aus instrumentalen Leistungsgründen die Schule verlassen mussten. Derartige Fälle gab es durchaus, wenngleich in recht kleiner Anzahl. Es ist interessant, auf welch unterschiedliche Weise die Betroffenen die Kommunikation zwischen Schule und Elternhaus rückblickend charakterisieren:30 Und ich erinnere mich noch, dass die Lehrerin immer so mit mir geschimpft hat oder irgendwie so Druck ausgeübt hat und damit konnte ich irgendwie nicht umgehen und das hat mich auch total blockiert schon. Also das war nicht gut und da wurden meine Eltern dann auch mehrmals zum Gespräch gebeten und es wurde ihnen nahegelegt, dass ich die Schule wieder verlasse, so quasi irgendwie. Das war natürlich alles überhaupt nicht schön. Dass die da zum Gespräch waren, das wusste ich natürlich, aber was die dort genau gesagt und besprochen haben, das weiß ich nicht. Also am Ende war das dann wie meine freie Entscheidung, dass ich dann wieder zurückgegangen bin. Ich weiß auch nicht, ob meine Eltern [in dem Gespräch] mal angesprochen haben, vielleicht den Lehrer zu wechseln oder irgendwie. Ich denk mal, sie haben das wahrscheinlich eher nicht gemacht, es wurde ihnen aber auch nicht angeboten. Also so wurde auch nicht geguckt, dass man … es war einfach die Leistung und die war nicht so und ähm ja.
Eine andere Schülerin, die im Gegensatz zum eben zitierten Beispiel zwar an der Spezialschule ihren Abschluss gemacht hat, sich aber dennoch am unteren Ende der Leistungsskala bewegte, berichtet Ähnliches: Also meine Lehrerin hat auf alle Fälle zu viel Druck gemacht. Und die hat auch nie nach meiner Situation, also was ich zuhause für’n Stress hab, gefragt. Also, das wäre ja auch mal so ’ne Variante von ’nem Lehrer, dass er mitkriegt, was er da eigentlich für’n Kind sitzen hat. [Ein Kind], das dreimal die Klasse gewechselt hat, die Eltern keine Zeit und so weiter. Das stand überhaupt nicht [zur Debatte]. Das hat sie absolut ausgeblendet. Also, da hat sie mich nicht ein einziges Mal gefragt, soweit ich das weiß. Und die hat auch NIE irgendwie meinen Eltern so’n Feedback gegeben. Ob ich mich nun eigentlich positiv oder negativ entwickel oder überhaupt entwickel.
30 Der im Folgenden zitierte Fall stammt nicht aus der Zeit, in der Frau Erxleben Direktorin war, und ist auch nicht Teil unseres Samples.
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Natürlich kann und muss man die Frage stellen, welche Möglichkeiten denn überhaupt zur Verfügung gestanden hätten, das Verhältnis zu den Eltern in derartigen Problemfällen anders zu gestalten. In der Tat ist der Handlungsspielraum wohl eher klein gewesen. In Kontexten, in denen Leistungsziele unverrückbar vorgegeben sind, können die schulischen Verantwortungsträger kaum anders, als auf die Verbindlichkeit dieser Ziele zu bestehen, was automatisch zu einem Machtgefälle zwischen Schule und Eltern führt. Wenn die Gruppe der Eltern von den Lehrern und der Schulleitung dann auch noch aufgrund der erwähnten Wahrnehmungsverzerrung insgesamt als eine eher fordernde wahrgenommen wird, kann es schnell passieren, dass ein gleichberechtigt gedachtes Gespräch in eine Asymmetrie abgleitet, die keine andere Alternative kennt als die Empfehlung, die Schule zu verlassen. Dass in dem ersten der hier erwähnten Fälle die Möglichkeit eines Lehrerwechsels undiskutiert blieb, deutet auf einen Schulterschluss der schulischen Institution gegenüber den Eltern hin: Diese Möglichkeit zu erörtern, hätte bedeutet, dass die Schule den Eltern gegenüber eventuell eigene Probleme bzw. Unzulänglichkeiten eingeräumt hätte; das scheint jedoch nicht vorgesehen gewesen zu sein. Was nicht heißt, dass die Eltern an der Spezialschule nicht dennoch massiven Druck hätten ausüben können, um eventuell auch einen Lehrerwechsel zu erreichen. Nur waren das eben in aller Regel die Löwinnen-Mütter, mithin die Eltern gerade jener Schüler vom Typ Ea+, die sich aufgrund der perfekten Passung ihrer Kinder zum schulischen Erfahrungsraum ein derart dominierendes Verhalten »leisten« konnten. Man könnte zugespitzt vielleicht sagen, dass das selbstbewusste Verhalten der »passenden« Elternhäuser auf Seiten der schulischen Verantwortungsträger eine grundsätzliche Reserve gegenüber Elternansprüchen erzeugte, was dann den Kontakt gerade in jenen Fällen erschwerte, in denen eine offene Auseinandersetzung mit den Problemen eines Schülers nötig gewesen wäre, wobei diese Offenheit auch das Eingeständnis eigener Unzulänglichkeiten impliziert hätte. Wir können also auch in Hinblick auf die Elternarbeit die im Zusammenhang mit der sinngenetischen Typologie entwickelte These bestätigt sehen, dass die Schule als Institution für die Betroffenen umso stärker in Erscheinung trat, je geringer das Passungsverhältnis zwischen Elternhaus und Schule ausgeprägt war.
4.2 I NSTRUMENTALUNTERRICHT
VOR DER
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In einer viel beachteten Studie haben Davidson et al. (1995/96) untersucht, auf welche Weise Instrumentalisten rückblickend ihren ersten Unterricht wahrnehmen. Dabei sind sie auf eine interessante Relation gestoßen: »Die Instrumentalisten mit den besten Leistungen nahmen ihren ersten Lehrer als unterhaltsam, freundlich und als guten Musiker wahr, während die Kinder der Gruppe mit den schlechtesten Leistungen ihren ersten Lehrer als unfreundlich und schlechten Spieler wahrnahmen. Während diese Verbindungen von Lehrereigenschaften sich bei den schwächsten Instrumentalisten mit zunehmendem Alter nicht veränderte[n], begannen die besseren Instrumentalisten auch zwischen persönlichen Eigenschaften des Lehrers (z.B. freundlich, ermutigend) und seiner fachlichen Qualifikation zu unterscheiden. Mit zunehmendem Alter und Eigenmotivation wird für die Gruppe der guten oder sehr guten Instrumentalisten die fachliche Qualifikation das wich-
266 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE tigste. Die Kinder, die mit dem Unterricht aufgehört hatten, machten diese Unterscheidung nicht. Wenn der Lehrer freundlich war, dann blieb er für diese Kinder zugleich auch der fachlich gute Lehrer.« (Gembris 2009, S. 196)
Es geht hier wohlgemerkt um Wahrnehmungen und nicht um reale Prädikate. Nicht ob der erste Lehrer fachlich wirklich kompetent war, steht zur Debatte, sondern ob er vom Kind als kompetent empfunden wurde. Dass diese Wahrnehmung von Kompetenz in hohem Maße von der Wahrnehmung zwischenmenschlicher Gesichtspunkte abhängt (und umgekehrt), stellt einen zweifellos unerwarteten Befund dar, der auch im Rahmen unserer Untersuchung Beachtung verdient. Ausgehend von den Ergebnissen der hier zitierten Studie fragen wir, welche Rolle der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule für die spätere Passung unserer Gesprächspartner zum schulischen Erfahrungsraum einnahm. Dabei konzentrieren wir uns nicht allein auf die fachlichen Kompetenzen, die im Rahmen dieses Unterrichts erworben wurden – Kompetenzen, deren Stärke sich an der Frage dingfest machen lässt, ob der jeweilige Gesprächspartner zur Zeit seines Schuleintritts eine Lücke zwischen dem an der Spezialschule verlangten Niveau und seinem bisherigen instrumentalen Leistungsvermögen wahrnahm oder nicht. Ebenso wichtig erscheint uns die Frage, welche »Bedeutsamkeit« dieser frühe Unterricht für ihn besaß (mehr zu diesem Begriff gleich im Anschluss), wobei uns bewusst ist, dass sich diese Frage kaum gänzlich unabhängig von den umrahmenden Bedingungen des Elternhauses beantworten lässt. Dennoch versuchen wir die Wahrnehmung des frühen Instrumentalunterrichts zunächst, soweit es unser Material gestattet, unabhängig von diesem Aspekt zu analysieren, um die daraus abgeleitete soziogenetische Typologie dann in einem zweiten Schritt mit unseren Ergebnissen zum soziogenetischen Einfluss der Elternhäuser in Bezug zu setzen. Dass der frühe Instrumentalunterricht neben seiner pragmatischen Rolle als »Zubringer« bestimmter fachlicher Kompetenzen einen entscheidenden Einfluss auf den Prozess der Identitätsbildung besitzt und dass im Rahmen dieser Identitätsbildung auch die persönliche Beziehung zum Lehrenden eine gewichtige Rolle spielt, lässt sich unabhängig von konkreten empirischen Befunden auch sozialisationstheoretisch begründen. Im Rahmen ihrer berühmten wissenssoziologischen Arbeit zur »gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit« stellten Peter L. Berger und Thomas Luckmann unter anderem die Frage, auf welche Weise sich ein Individuum das gesellschaftlich institutionalisierte, gleichsam objektiv vorgegebene Wissen subjektiv aneignet. Die Grundlage dieses Prozesses bildet für die Autoren die primäre Sozialisation in der Familie, in der das Kind Normen, Rollenbilder, Sprache etc. erlernt. Die Eltern, die dem Kind in einer Vis-à-vis-Position gegenüberstehen, nehmen hierbei zunächst die Rolle eines »signifikanten Anderen« ein, dessen Handeln als bedeutungsvoll und damit sinngenerierend erlebt wird. Existiert in diesem Stadium für das Kind nur eine einzige Wirklichkeit, so findet es sich mit Beginn der sekundären Sozialisation, deren Beginn in der Regel durch den Schuleintritt markiert wird, in eine Situation gestellt, in der es plötzlich unterschiedliche Wirklichkeiten gibt und in der es mehrere Rollen einzunehmen hat. In dieser Situation ist es von entscheidender Bedeutung, ob und inwieweit die primäre, im Kreise der Familie entstandene Wirklichkeitserfahrung transformiert wird. Damit dieser Transformationsprozess gelingen kann, bedarf es Menschen, die einerseits diese neue erweiterte Wirklichkeit repräsen-
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tieren, die aber andererseits noch jene unmittelbare Identifikation gestatten, die im Rahmen der primären Sozialisation durch die Eltern ermöglicht wurde. Diese Menschen müssen dem Kind die Welt »plausibel« machen: »Die wichtigste gesellschaftliche Bedingung ist das Vorhandensein einer überzeugenden Plausibilitätsstruktur, das heißt also einer gesellschaftlichen Grundlage, die das ›Laboratorium‹ für die Transformation sein kann. Diese Plausibilitätsstruktur muss dem Individuum durch signifikante Andere vermittelt werden, mit denen es zu einer tiefen Identifikation kommen muss. Ohne diese Identifikation ist keine radikale Transformation der subjektiven Wirklichkeit – einschließlich natürlich der Identität – möglich. Unausweichlich müssen die Kindheitserlebnisse der Gefühlsabhängigkeit von signifikanten Anderen noch einmal nachvollzogen werden. Die signifikanten Anderen sind die Führer in die neue Wirklichkeit. In den Rollen, die sie als Vis-àvis des Menschen spielen […], repräsentieren sie die Plausibilitätsstruktur und vermitteln sie die neue Welt. Diese Welt hat nun ihren kognitiven und affektiven Blickpunkt in der neuen Plausibilitätsstruktur.« (Berger & Luckmann 1970, S. 168)
Die »signifikanten Anderen«, von denen die Autoren hier sprechen, übernehmen somit eine Brückenfunktion. Stehen sie einerseits noch in der Wirklichkeit der primären familiären Sozialisation und fungieren damit als Personen, die dem Kind gefühlsmäßig eine unmittelbare Identifikation erlauben, so weisen sie andererseits auf den sozialen Raum außerhalb dieser Keimzelle hin; sie sind immer auch Repräsentanten der neuen Wirklichkeit, d.h. der Welt draußen. Interessanterweise fungiert bei Berger und Luckmann gerade die Musikerausbildung als ein Musterbeispiel, an dem sich die Wichtigkeit dieses tiefen Identifikationsprozesses mit einem signifikanten Anderen außerhalb des familiären Kontextes demonstrieren lässt: »Jemand, der zum Beispiel ein guter Musiker werden will, muss sich in sein Fach bis zu einem Maß versenken, wie es für jemanden, der Ingenieur werden will, ganz überflüssig ist. Technische Ausbildung kann durch formale, höchst rationale, gefühlsneutrale Prozesse vermittelt und erworben werden. Bei Musik dagegen muss man sich viel eher mit einem Lehrmeister identifizieren und in die Wirklichkeit der Musik versenken.« (Ebd., S. 155)
Selbst wenn wir dahingestellt sein lassen, ob nicht auch naturwissenschaftliche Fächer bis zu einem gewissen Grad ebenfalls auf derart affektive Identifikationsprozesse angewiesen sind, können wir mit Berger und Luckmann doch immerhin feststellen, dass ein Instrumentallehrer zumindest für jene Schüler, die die Musik später zu ihrem Lebensinhalt machen, Eigenschaften besitzen muss, die sowohl über seine fachliche Kompetenz als auch über sein generelles Orientierungsvermögen an den Schülerbedürfnissen hinausgehen. Unsere Gesprächspartnerin Natalie Kolbe hat das folgendermaßen formuliert: [Er muss immer auch eine] Vaterfigur oder so ’ne Elternteilfigur [sein], was für sie bedeutet, dass man ihn achtet, ehrt, aber auch irgendwo in gewisser Weise, na, ich weiß, klingt vielleicht blöd, liebhat. Es liegt vor diesem Hintergrund also nahe, nicht allein zu fragen, ob der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule in fachdidaktischer Hinsicht professionell war und ob es zu einem soliden Aufbau der technisch-musikalischen Grundlagen kam. Ebenso entscheidend ist es, zu untersuchen, ob und inwieweit er den Anlass für eine derart tiefe Identifikation mit dem Lehrer und, damit verbunden, auch dem Gegen-
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stand bot, um dann zu prüfen, welche Rolle diese doppelte Identifikation für die spätere Passung unserer Gesprächspartner zum konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule spielte. Wir fragen, mit anderen Worten, nach der Bedeutsamkeit, die der frühe Instrumentalunterricht für die späteren Spezialschüler besaß. Dabei gehen wir im Anschluss an Stefan Orgass davon aus, dass der Prozess der Bedeutungszuweisung immer auf einer thematischen Bedeutungs- und einer nichtthematischen Bedeutsamkeitsebene erfolgt. Während sich der thematische Bedeutungsbegriff auf jene Sinngehalte bezieht, die gesellschaftlich vorgeprägt sind und subjektiv angeeignet werden (also z.B. eine methodisch explizierbare Disposition am Instrument oder ein »professionelles« Übeverhalten), geht es bei dem Begriff der Bedeutsamkeit um die situationskonstituierenden Faktoren, in denen diese Bedeutung kontextualisiert wird (vgl. Seel 1997, S. 117; Orgass 2011). Bedeutsamkeit bezeichnet also die Relevanz, die bestimmte Bedeutungen für ein Individuum besitzen; diese Relevanz wird immer auch durch den situativen Kontext gestiftet, in dem diese Bedeutungen emergieren. Ohne die bedeutsame Situation, in der sich Bedeutungen herausbilden, ließen diese sich als solche gar nicht erkennen. Die Bedeutsamkeit fungiert als eine Art Marker, durch den der nicht-thematische Hintergrund der Bedeutung so aufgeladen wird, dass die thematischen Bedeutungen als solche wiedererkannt und situationsübergreifend verwendet werden können. Entscheidend dabei ist, dass die Fähigkeit, einen Situationskontext als bedeutsam zu erleben, nicht nur etwas mit den in dieser Situation erfahrenen Bedeutungen zu tun hat, sondern ihrerseits das Ergebnis eines Aneignungsprozesses darstellt. Konkret gesprochen: Dass ein Instrumentalschüler sein aktuelles Üben subjektiv als bereichernd und sinnstiftend erfahren kann, hat nicht nur etwas mit den dabei mobilisierten Tätigkeiten (Bedeutungen) zu tun (etwa seinen körperlichen und emotionalen Empfindungen beim Spiel, dem Erleben des Kreislaufes von Sich-Zuhören und Voraushören sowie der Wahrnehmung von Kompetenz und Selbstwirksamkeit), sondern gründet auch darin, dass der Übeakt selbst zuvor immer wieder als bereichernd erlebt wurde. Pointiert formuliert: Der nicht-thematische bedeutsame Situationskontext muss in der Lage sein, selber thematisch werden zu können und dabei die Form einer Bedeutung annehmen: Man übt nicht nur wegen der beim Üben erfahrenen Bedeutungen, sondern weil die Situation, in der diese Bedeutungen erfahren werden, als bedeutsam erlebt wird und in diesem Zuge selbst eine Bedeutung erhält. Somit trägt die Erfahrung von Bedeutsamkeit wesentlich zur Entstehung habitueller Dispositionen im Sinne Bourdieus bei. Sie wird durch vielfältige bedeutsame Erlebnisse strukturiert und verdichtet sich in diesem Zuge zu einem Habitus (bzw. Orientierungsrahmen), der nun seinerseits die Wahrnehmung und das daraus resultierende Handeln strukturiert. Kommunikationstheoretisch formuliert: »Bedeutungen erzeugen […] Bedeutungen in prinzipiell unendlicher Weise.« (Lenke, Lutz & Sprenger 1995, S. 109; vgl. Weber-Krüger 2014, S. 93) Die soziogenetische Kategorie des »Instrumentalunterrichts vor der Spezialschule« wird von uns im Folgenden daher immer hinsichtlich zweier Aspekte analysiert: Sie gilt einerseits der Frage, ob und inwieweit der betreffende Schüler seine technisch-musikalischen Fähigkeiten an der Spezialschule vom Niveau her als anschlussfähig erlebte. Zugleich interessiert uns, welche Bedeutsamkeitserfahrungen für ihn mit dem zuvor genossenen Unterricht einher gingen. Wie im Falle des Elternhauses ergaben sich aus unserem Material drei grundsätzlich unterschiedliche Typen, die wir hier zunächst vorstellen und dann sowohl mit
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unserer sinngenetischen Typologie als auch mit der soziogenetischen Typologie »Elternhaus« vergleichen werden. 4.2.1 Falldarstellungen Typ Ua Der erste Typ – wir bezeichnen ihn im Folgenden als Ua, wobei das U für »(Instrumental-)Unterricht vor der Spezialschule« steht – ist dadurch gekennzeichnet, dass er den Instrumentalunterricht vor der Spezialschule als eine gleichermaßen fachlich kompetente wie auch bedeutsame Brücke erlebt, die einerseits unmittelbar an die bestehende Dyade von Kind und dominantem Elternteil anknüpft und andererseits bruchlos zur Spezialschule hinführt. Folgende Passage stellt diesen Typ gewissermaßen in Reinkultur dar: Und dann bin ich schon mit vier Jahren zu einer Aufnahmeprüfung in die Bezirksmusikschule und wurde dort, ein Jahr später, also mit fünf, im Prinzip wie als Vorschulkind, Schüler von meiner hochverehrten Frau Scheydt. Super Frau. Das ganze Leben lang allein geblieben und das Leben nur der Kunst gewidmet, und der haben wir alles zu verdanken. Erst mal. Und wie gesagt, mit vier habe ich ja angefangen, zu Hause ein bissel rumzuexperimentieren und nachdem dann die Aufnahmeprüfung vorbei war, hab ich gesagt, das sagt mir meine Mutter bis heute: »Du hast dich ganz gerade hingestellt und hast gesagt: ›Ich will eine Lehrerin haben!‹« So. Und dann wurde das die Frau Scheydt. Die sich äußerlich, von meinem Gefühl, seitdem nicht mehr verändert hat. Ist jetzt 85 und damals war sie eigentlich ’ne junge Frau. Das ist jetzt als Kompliment gemeint. Die sah damals aus wie heute. Klein, ein liebes, gütiges Gesicht. Kein modischen Schnickschnack und … Das ist ganz verrückt, so wie sie heute ist, seh ich sie im Prinzip auch damals. Und mit einer Güte und Gelassenheit und Liebe zu dem Schüler, aber auch mit einer Strenge, die wir aber nie als unangenehm empfunden haben. Dabei stand sie ja vielleicht auch unter Druck, wie geht sie mit so ’nem Talent um? […] Und also ich denke mal, die hat das perfekt gemacht. Und [sie war in der Lage], an einem Punkt auch zu sagen: »Und jetzt kann ich dich nicht mehr weiter führen, jetzt reicht das von mir nicht mehr aus.« Sie hätte ja sagen können, das ist mein Superschüler und jetzt quetsch ich den aus bis zum Studium. [Stattdessen] hat die Frau gesagt: »Und jetzt muss du weg von mir.« Also hallo? Chapeau! Und dann eben nicht irgendjemand, sondern: der Beste.
In welch hohem Maße die zutiefst verehrte Lehrerin an die innerfamiliäre Konstellation zwischen dem Kind und der Mutter als dominierendem Elternteil anknüpfte, wird deutlich, wenn man die Art und Weise, in der Frau Scheydt hier geschildert wird, mit jenem Bild vergleicht, dass der Befragte von seiner Mutter entwirft: Von der Sache her war meine Mutter ähnlich wie Frau Scheydt. Mit einer Liebe zum Kind, aber auch genau wissen, worauf’s ankommt, also ’ne Strenge und Disziplin an den Tag legen, damit das also irgendwie gut durchläuft. Ohne sich an dieser Stelle in tiefenpsychologischen Deutungen zu verlieren, springt doch ins Auge, dass die äußere Beschreibung Frau Scheydts von Kennzeichnungen geprägt ist, die man in einem fast schon archetypischen Sinne als mütterlich bezeichnen kann. Indem der Interviewpartner das zeitlose Aussehen von Frau Scheydt, ihr liebes, gütiges Gesicht sowie ihren Verzicht auf modischen Schnickschnack herausstellt, zeichnet er das Bild einer umfangenden, zeitenthobenen und
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von jeder Vergänglichkeit befreiten Weiblichkeit. Dazu passt auch der Hinweis, dass Frau Scheydt das ganze Leben lang allein geblieben [ist] und das Leben nur der Kunst gewidmet hat. Hier wird, ohne dass dies dem Gesprächspartner bewusst sein müsste, der Topos von Weltentsagung und gleichzeitiger Verbindung mit dem Göttlichen aufgegriffen. Frau Scheydt erscheint damit als fast so etwas wie eine Priesterin oder Urmutter, die sich mit dem Göttlichen verbunden hat und im Gegenzug jeder menschlich-sexuellen Verbindung entsagt. Aber selbst wenn diese Deutung zu weit gehen mag, so lässt sich doch immerhin sagen, dass Frau Scheydt, obgleich sie in ihrer Funktion als Instrumentallehrerin an einer Bezirksmusikschule außerhalb des familiären Mikrokosmos steht, vom Gesprächspartner doch ganz selbstverständlich als Teil des intimen familiären Raumes dargestellt wird. Dass das Kind die Rolle der Instrumentallehrerin als Fortschreibung seines Verhältnisses zur Mutter begreift, geht auch aus seinem expliziten Wunsch nach einer Lehrerin hervor. Ein männlicher Kollege hätte diese Funktion vermutlich kaum in dieser Form übernehmen können. Indem der Gesprächspartner rückblickend an Frau Scheydt entscheidende Charakteristika wahrnimmt, die auch sein Bild von der Mutter prägen, wird die Lehrerin zum Musterbeispiel einer signifikanten Anderen, zur Führerin in eine neue Welt außerhalb der Familie. Diese Rolle wird verstärkt durch die Tatsache, dass die geliebte Mutter die starke Identifikation mit der Lehrerin ihrerseits wohlwollend unterstützt, was sich an der Tatsache zeigt, dass der explizite Wunsch nach einer Lehrerin Eingang in ihren Anekdotenschatz gefunden hat. Damit liegt hier also ein perfekt ausbalanciertes Lehrer-Schüler-Eltern-Dreieck vor. Dass Frau Scheydt in der Biografie des Befragten eine Brückenfunktion übernimmt, zeigt sich auch an deren anderem Ende: Sie holt das Kind nicht nur in seinem familiären Raum ab, sondern führt es auch zielsicher in den Erfahrungsraum der Spezialschule hinein, der – so liest sich die Schilderung – anscheinend genau dort beginnt, wo ihre Fähigkeiten enden. In ihrer Rolle als passgenaues Bindeglied kann sie nun aber genau jene Grundlagenarbeit leisten, auf der alles andere aufbaut: Aber bei Frau Scheydt hatte ich auch das schon immer, dass man das nicht nur technisiert, sondern auch über kindgemäße Erzählungen oder Vergleiche oder Gefühlsregungen [die Aufmerksamkeit lenkt]. Was spürst du jetzt? Oder: ist das jetzt hell, ist das warm oder irgendwas? […] Und das ist ja das was bis heute nach jedem Konzert immer als DAS Ereignis [dargestellt wird], abgesehen von diesem technischen Gerüst, was natürlich da sein muss: meine Spielkultur, dass die eben so besonders ist. Die ist eben auch schon durch Frau Scheydt so präzise ausgebildet und sensibilisiert worden.
Typ Ua' Wir sind innerhalb unseres Samples nur auf einen weiteren Fall gestoßen, bei dem sich diese Brückenfunktion in ähnlich deutlicher Form erkennen lässt (in der Tabelle Fall 1). In drei anderen Fällen hingegen war festzustellen, dass der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule zwar in durchaus ähnlichem Sinne eine Brücke darstellte, die sich allerdings vor allem auf den Aspekt der Bedeutsamkeit und nur bedingt auf das Fachliche bezog. Diese Fälle subsummieren wir unter den Typ Ua'. Also es war ziemlich klar, dass ich die Musik eigentlich gerne mache und dann hab ich einen sehr geduldigen Lehrer am Anfang bekommen, in der zweiten Klasse, an der Musikschule da-
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mals. Und meine Eltern haben mir das dann mal später erzählt, da gab’s also solche komischen Auswahlverfahren zu DDR-Zeiten. Das war eben damals so, wer in die Musikschule wollte, musste delegiert werden. Also und da gehörte natürlich auch der allgemeine Klassendurchschnitt, Zeugnis etc. Leistung oder wie verhält sich der Schüler in der Schule. Und da war ich ursprünglich NICHT vorgesehen dafür. Ja. Und also der Lehrer, der hat sich dann gewundert, dass das also irgendwie mit der Anmeldung nicht klappte und da musste mein Vater damals noch in die Schule laufen extra und hat gesehen, dass er jetzt den Termin dieser Anmeldung in der Schule irgendwie äh übersehen oder verpasst hatte und musste dann tatsächlich bei der Direktorin dort vorstellig werden und sagte »Mein Junge kriegt einen Platz, selbstverständlich, und das werden Sie mir nicht nehmen. Das ist so ein hoch musikalischer Junge.« […] Also das Instrument nahm dann viel mehr Raum in meinem Leben ein als die Schule. Und ich hatte natürlich auch einfach durch meinen Lehrer, den ich damals in der Musikschule hatte … das war so’n ganz geduldiger Mann und der hat mich immer gelobt und da fand ich mich eigentlich ganz toll und der hat jetzt eher wenig kritisiert. An der Spezialschule war es sehr viel, sehr viel strenger natürlich. Ne, da kriegte ich dann also ’n Lehrer aus der Staatskapelle, mit dem ich lange Zeit gearbeitet habe. Acht Jahre lang waren wir zusammen. Das ist ’ne lange Zeit, aber das war schon erst mal ’n anderer Wind, der da wehte, ja. Und der hat mich dann auch mit in seine Konzerte mitgenommen und natürlich in die Sinfoniekonzerte und in die Oper. Also da hat sich dann schlagartig mein ganzer Fokus enorm erweitert. Das hat mich natürlich sehr begeistert, ja.
Obgleich auch hier eine gute Verbindung von Instrumentallehrer und Elternteil vorzuliegen scheint – immerhin nahm der künftige Lehrer von sich aus Kontakt zu den Eltern auf, als er merkte, dass es Schwierigkeiten bei der Anmeldung gab – und obgleich auch hier der Eindruck einer warmherzigen Lehrer-Schüler-Dyade entsteht, die immerhin dazu führt, dass das Instrument viel mehr Raum im Leben des Schülers einnahm als die Schule, scheint der Unterricht doch nicht jene zielgenaue Hinführung an das Spezialschulniveau besessen zu haben, die unser erstes Beispiel auszeichnete. An der Spezialschule wird ein anderer Wind wahrgenommen, der sich allerdings nicht in einer Krise äußert, sondern als Herausforderung empfunden wird, zumal der Spezialschullehrer durch die von ihm ausgehenden Initiativen (Mitnahme zu Konzerten) seinerseits zu einem signifikanten Anderen wird, der den Gesprächspartner in die neue Welt einführt und begleitet. Eine vergleichbare Dominanz der Bedeutsamkeit vor dem rein Fachlichen findet sich auch im folgenden Fall: Mein erster Lehrer hat immer gesagt: »Tu nicht so’n Problem machen.« Das war also einer aus dem Stadttheater in der Kreisstadt. Und der war auch wunderbar. Herrlich. Das war so’n proletarischer Musiker. So’n ehrlicher vom Stadttheater. Ganz gelbe Finger vom Rauchen. Weiß ich noch. Und war aber mir auch zugetan und hat so gelächelt. Ich hab nichts bewusst gemacht. Es ging alles. [Und dann bin ich zu einer Lehrerin gekommen], da hab ich fast alles verschlafen. […] Und, weiß nicht, ob die gemerkt hat, dass ich nicht geübt hab. Ich glaub, einmal in der Woche hab ich da ein bisschen geübt, aber das war auch genau richtig. Und mit der konnte ich mich auch unterhalten. Und die hat das einfach lächelnd zur Kenntnis genommen. Wir wurden doch genügend geschnickt. Da musste nicht der Instrumentallehrer einem noch beibringen, was nun Druck ist. Irgendwann hat sie mich wahrscheinlich gefragt: »Also, mein Lieber, was’n los?« Und da hab ich dann wahrscheinlich gesagt: »Ja, dann geh ich eben auf die Spezi.« Weil ich eben doch Geiger werden will. Ich denke, das hab ich auch eben in Trance
272 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE gesagt. […] Als Kind wird man ja viele Dinge nicht gefragt, aber das wird sie mich schon gefragt haben. Na, ob sie nun mit meiner Mutter gesprochen hat, weiß ich nicht. Ja, also das war die zweite Lehrerin.
Der erste Unterricht scheint mit einer prägenden Bedeutsamkeitserfahrung verbunden gewesen zu sein. Die liebevolle Kennzeichnung des ehrlichen, proletarischen Geigers vom Stadttheater weist auf ein enges persönliches Verhältnis hin, das einer frühen Ausprägung des Berufswunsches sicher förderlich war. Gleichzeitig lässt der wiederholte Hinweis auf die Trance bzw. das Nicht-Bewusste die Vermutung zu, dass die starke Bindung an den ersten Lehrer noch nicht mit der Ausprägung eines an professionellen Maßstäben orientierten Arbeitsverhaltens einherging. Zwar führte der Kontakt zum Lehrer dazu, dass alles ging, aber dieses Können scheint weder sonderlich stabil gewesen zu sein, noch zu einem habitualisierten professionellen Üben geführt zu haben. Die große Diskrepanz zwischen der hohen Bedeutsamkeit und dem geringen Maß an investierter Übezeit bei der zweiten Lehrerin führt dazu, dass der Befragte an die Spezialschule zwar eine Eindeutigkeit in Hinblick auf seine beruflichen Zukunftsvorstellungen mitbringt, diese Eindeutigkeit allerdings durch sein tatsächliches Können nicht gedeckt wird. Auch im folgenden Fall bezieht sich die Brückenbildung des frühen Instrumentalunterrichts kaum aufs Fachliche; die Kompetenz der ersten Lehrerin wird von der Gesprächspartnerin explizit als begrenzt gekennzeichnet. Die Dimension der Bedeutsamkeit, die sie ebenfalls explizit für ihr damaliges Erleben in Anspruch nimmt, lässt sich hier allerdings kaum an dem verifizieren, was über die reale Unterrichtssituation ausgesagt wird: Meine Lehrerin war auch so ’ne sehr schillernde Persönlichkeit. Fachlich natürlich irgendwie begrenzt. Aber sehr mit Leidenschaft unterwegs. Also, meine Mutter berichtet heute noch manchmal, dass ich ihr oftmals sehr leidgetan habe. Weil die Frau sehr reglementiert hat und sehr aufbrausend war und auch nicht immer konsequent war. Also, das heißt, sie war sehr sprunghaft, aber in der pädagogischen Linie nicht unbedingt sehr kompetent. So würde man aus heutiger Sicht sagen. Deswegen meint meine Mutter manchmal, ich hätte ihr leidgetan. Was ich überhaupt nicht so empfunden habe, weil ich wollte’s halt. Interviewerin: Also, für Sie war’s okay? Für mich war’s tatsächlich wirklich okay. Ich hab schon gemerkt, dass die Frau irgendwie speziell unterwegs war. Das schon. Aber ich hab das so genommen, weil … Also, sie hat mir manchmal sogar ’n bisschen leidgetan, weil sie hat sich ja immer aufgerieben und so. Sie war ja immer fix und fertig wegen jedem.
In diesem Falle bringt die Gesprächspartnerin die Dimension der Bedeutsamkeit von sich aus mit (ich wollte’s halt), auch wenn der Unterricht selbst wenig zu dieser Bedeutsamkeit beigetragen haben scheint. Woher die Relevanz kam, die sie dem Instrument zumaß, lässt sich aus dem Interviewtext nicht wirklich rekonstruieren. Immerhin ist aber auffällig, dass die Aussage, die Lehrerin sei mit Leidenschaft unterwegs gewesen, eine deutliche Parallele zur Beschreibung der Mutter aufweist, die als ziemlich temperamentvoll bezeichnet wird (wenn irgendwas nicht lief, dann war was los). Allem Anschein nach hat die hohe Emotionalität in der Elternteil-Kind-
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Dyade eine gewisse Vorbereitung geliefert, durch die die Sprunghaftigkeit der Lehrerin innerlich eingeordnet und verarbeitet werden konnte. In einem weiteren Fall dieses Typs liegen die Dinge insofern anders, als der Befragte aufgrund seiner Eigenschaft als Bläser (die mit einen altersmäßig späteren Beginn im Hauptfach verknüpft ist) vor der Aufnahmeprüfung an der Spezialschule nur ein paar wenige Stunden in seinem eigentlichen Hauptfach unterrichtet wird, wobei dieser Unterricht bereits gezielt in Hinblick auf diese Aufnahmeprüfung erfolgt. Der zuvor empfangene Klavierunterricht ergab sich aufgrund seiner großen Empfänglichkeit für die Musik, die von den Eltern gezielt aufgegriffen und verstärkt wurde. Über diesen Unterricht wird kaum etwas Genaueres ausgesagt. Eine derartige instrumentale Biografie wäre bei einem Streichinstrument oder beim Klavier nicht denkbar – ein Umstand, der uns im Rahmen der soziogenetischen Kategorie »Instrument« noch genauer beschäftigen wird. In Bezug auf die Kategorie des Instrumentalunterrichts vor der Spezialschule lässt sich an dieser Stelle aber sagen, dass eine hohe Bedeutsamkeit vorliegt, die zunächst noch in keiner Weise fachlich gedeckt war. Typ Ub Eine ganz andere Situation liegt hingegen vor, wenn der Instrumentalunterricht zwar eine fachliche Brücke baut, aber grundsätzlich als fremdbestimmend erlebt wird und insofern nur eine geringe Bedeutsamkeit für das Kind aufweist. Innerhalb unseres Samples sind es sechs Fälle, auf die diese Charakterisierung zutrifft. Wir fassen sie im Folgenden als Typ Ub. Also, ich hab, da bin ich noch nicht in die Schule gegangen, gerne improvisiert. Und zwar hatte mein Vater ein’ älteren Kollegen, der kam uns öfter mal besuchen und der hat dann gesagt: »Mach doch mal Gewitter!« und »Mach mal DAS!« und das hat mir wahnsinnig Spaß gemacht. Das ging dann ein bisschen verloren, weil ich dann, als ich so meinen ersten Klavierunterricht hatte, auch immer mal improvisiert hab und nicht das gespielt habe, was in den Noten stand und da hat mir das erst mal meine Lehrerin kategorisch verboten. […] Und wir hatten am Ort eine Musikschule, meine Mutter hat mich dann dort angemeldet und da sind wir dann einmal die Woche dahin gepilgert. Ich hatte eine sehr strenge Klavierlehrerin, es war eine Offizierswitwe. Ja, und ich muss sagen, ich bin auch durchaus manchmal mit ziemlichem Herzklopfen dahingegangen, weil ich also noch nie so die fleißige Überin gewesen bin. […] [Meine Lehrerin] war sehr konsequent. Also ich muss erst mal sagen, es war ein sehr guter Unterricht und ich bin ihr im Nachhinein auch sehr dankbar, weil da also jetzt aus meiner eigenen pädagogischen Sicht … es gibt ja Leute, die, wenn ich die so übernehme, denke ich »Oh Gott. Das kann eigentlich nicht sein.« Und das war bei ihr also wirklich nicht. Da stimmte praktisch alles, sie hat mir schon auch gezeigt, also: »Du musst das jetzt üben, WEIL.« Oder auch musikalische Sachen, das hab ich bloß damals einfach nicht verstanden. [… ] Ich weiß noch, dass ich angefangen [habe] mit dieser Gerstenbergklavierschule31. Das ging ein halbes Jahr nur um Violinschlüssel und mein Problem war dann, als der Bassschlüssel kam, war das also DAS fundamentale Problem. Da hab ich mich ganz schwer damit getan. Ja, sie hat dann schon auch …, also sie hat mich ausgeschimpft richtiggehend. Also so, 31 Gemeint ist vermutlich die in der DDR und gerade in Dresden häufig verwendete Klavierschule von Erika und Christa Holzweißig.
274 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE wie man das heute jetzt vielleicht macht, erst mal loben und dann … Nee, sie hat das gefordert und da hat sie auch keine Abstriche gemacht. Und, wie gesagt, im Prinzip war’s ja auch richtig so.
Hier liegt wieder einmal ein Fall vor, bei dem sorgfältig zwischen der aktuellen Erzählperspektive und der erzählten Situation unterschieden werden muss. Neigt die Gesprächspartnerin im Rückblick dazu, die dargestellten Verhaltensweisen der Lehrerin zu legitimieren und als im Prinzip richtig auszuweisen, so lässt die Darstellung selbst kaum Zweifel darüber aufkommen, dass der Unterricht als im hohen Maße fremdbestimmend und wenig bedeutsam erfahren wurde. Die Gesprächspartnerin bekennt offen, dass sie den Spaß durch das kategorische Improvisationsverbot erst mal verloren habe. Zugleich erwähnt sie das Herzklopfen vor jeder Stunde und führt es auf die Tatsache zurück, sie sei nie so die fleißige Überin gewesen. Die Möglichkeit, dass diese statische Selbstzuschreibung etwas mit der geringen Bedeutsamkeit zu tun hat, die sie aus dem Unterricht schöpft, erwähnt sie nicht, denn damit würde ihr die spätere Legitimation dieses Unterrichts unmöglich gemacht. Trotz ihrer argumentativ vertretenen Überzeugung, dass in diesem Unterricht praktisch alles gestimmt habe, streut die Befragte eine Reihe von Hinweisen ein, die dieses spätere Urteil mehr als fragwürdig erscheinen lassen. Neben der Schilderung ihres Kampfes mit dem BassSchlüssel, für den die Lehrerin kein anderes Rezept als »Ausschimpfen« parat gehabt zu haben scheint, ist hier natürlich vor allem die Aussage bemerkenswert, die Lehrerin habe ihr musikalische Sachen gezeigt, die sie bloß damals einfach nicht verstanden habe. Auch wenn die Befragte sich hier selber die Schuld zu geben scheint, bleibt auf der faktischen Ebene festzuhalten, dass die musikalischen Erklärungsversuche der Lehrerin bei der Schülerin schlichtweg nicht anzudocken vermochten. So erscheint der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule zwar fachlich als zielführend – immerhin hat die Kompromisslosigkeit der Lehrerin zu einem Niveau geführt, das für die Aufnahmeprüfung an der Spezialschule problemlos ausreichte –, zugleich aber auch als fremdbestimmt und wenig bedeutsam. Diese geringe Bedeutsamkeit ist auch in einem Fall wie dem Folgenden festzustellen, in dem zwar durchaus positive zwischenmenschliche Aspekte thematisiert werden; allerdings führen sie nicht dazu, dass eine Brücke zum eigentlichen Gegenstand gebaut wird: Dann bin ich mit sechs Jahren zu einem Lehrer gekommen, der war auch Geigen- und Klavierlehrer, glaub ich auch damals Lehrer meiner Mutter, weiß ich aber nicht genau. Sehr netter Mann. Bin gerne hingegangen. Aber wie ich mich so erinnere, hab ich eigentlich weniger gemocht, was ich gespielt habe, sondern mehr wie der war. Und dass der dann eben auch beim Abschied dann immer irgendwelche Späßchen gemacht hat und so, da hab ich mich immer drauf gefreut. Ja und ich hab halt sehr viel jeden Tag mit meiner Mutter zusammen geübt.
Die Späßchen des Lehrers, die bezeichnenderweise wie ein Ritual immer am Ende der Stunde stattfanden und sich insofern kaum mit dem eigentlichen Unterricht verbunden zu haben scheinen, berühren nicht die Sache selbst. Die eigentlichen Inhalte des Unterrichts bleiben blass – vor sie schiebt sich sofort die Erinnerung an das gemeinsame Üben mit der Mutter sowie die im Interviewverlauf stets aufs Neue thematisierte Tatsache, dass die Befragte sich zu ihrem Instrument im Grunde nicht wirk-
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lich hingezogen fühlte. In Verbindung mit der häuslichen Übeintensität scheint die Arbeit im Unterricht allerdings in rein instrumentaler Hinsicht dazu geführt haben, dass die Aufnahmeprüfung an der Spezialschule spielend bewältigt wurde. Die Brücke in die Spezialschule bezieht sich somit zwar aufs Fachliche, aber nicht auf die Dimension der Bedeutsamkeit – und daran wird sich während der Spezialschulzeit für die Befragte auch nicht grundsätzlich etwas ändern. Ebenfalls eine rein fachliche Brücke wird in dem folgenden Beispiel, mit dem wir die Darstellung dieses Typs abschließen, geschildert. Auch hier wird im Unterricht ein bestimmtes instrumentales Niveau hergestellt, ohne dass die Inhalte für den Befragten in irgendeiner Form Bedeutsamkeit erlangen. An diesem Beispiel – wie auch an den beiden Vorangegangenen – kann man sehen, dass ohne die Dimension der nicht-thematischen Bedeutsamkeit auch die Ausprägung thematischer Bedeutungen erschwert wird. In einem als wenig bedeutsam erlebten Unterricht sind die Befragten kaum in der Lage, anzugeben, was sie dort eigentlich gelernt haben. Es existieren so gut wie keine konkreten Erinnerungen. Im Unterschied zum vorangegangenen Beispiel ist es im Folgenden nicht die elterliche Bezugsperson, die den eigentlichen Motor des Übens darstellt, sondern der Lehrer, der als Vertreter der Musikschule ein Eigeninteresse mitbringt, seine leistungsmäßig guten Schüler an die Spezialschule zu bringen. Ich bin auch einer von denen gewesen, für die war das immer ’ne ganz normale Sache, man ist eben zu seinem Unterricht gegangen. Ich hab kein großes Leid erfahren in dem Instrumentalunterricht, wahrscheinlich hab ich mein Ding gemacht. [Meine Mutter] hat sich in den ersten Jahren natürlich auch um mich gekümmert und hat versucht, das auch zu regulieren, dann später, nach zwei, drei Jahren aber nicht mehr. Da hätte sie ja sowieso nicht mehr viel dazu beitragen können. […] Und das war angenehm. Ich hatte auch nie Prüfungsstress oder so was, das hab ich eigentlich gar nicht so bewusst wahrgenommen, dass da jetzt ’ne Prüfung war. Ich hab dann eben gespielt wie immer und dann hieß es: »Ja, hast ’ne Eins gekriegt.« Schön. Interviewerin: Und dann gab’s da diese Entscheidung zur Spezialschule, wie lief das? Das ist einfach auch so ’ne Sache gewesen, die man selber gar nicht begriffen hat, warum geh ich jetzt dort hin? Also mir hat das niemand gesagt, da wurde nur gesagt: »Na ja, du bist gut, du kannst das machen.« […] Natürlich waren die Musikschulen auch dazu angehalten, gute Schüler eben auch an die Spezialschule zu delegieren und das was ja auch für die Lehrer, also vom Renommee her sicherlich was ganz wichtiges. Dass die gesagt haben, »Na also, wir haben wieder einen. Den da. Rüber.« Aber das hat mich auch nicht sonderlich beeindruckt.
An dieser Beschreibung fallen die vielen Negativ-Formulierungen auf. Der Befragte sagt nicht, dass ihm der Unterricht gut gefallen hätte, sondern formuliert umgekehrt: Er hat kein großes Leid erfahren – so als sei schon die Abwesenheit von Leid ein hinreichender Motivationsgrund für ihn. Positive Bestimmungen fehlen jedoch völlig; es dominiert das Bild eines »normalen« Unterrichts, der irgendwie zum Leben dazugehörte, aber ansonsten keine sonderliche Relevanz besaß. Die durch den Lehrer vorangetriebene Entscheidung zur Spezialschule knüpft nicht an Bedeutsamkeitserfahrungen an, sondern erfolgt ohne Rückbindung an den Schüler, der in dieser wichtigen Entscheidungsphase gar nicht begriffen hat, warum geh ich jetzt dorthin.
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Typ Uc In zwei Fällen lässt der Bericht der Befragten weder in fachlicher Hinsicht noch in Blick auf die Bedeutsamkeit erkennen, dass der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule eine Brücke gebildet hat. Wir bezeichnen ihn als Typ Uc. Charakteristisch für beide Fälle ist die Tatsache, dass die Erinnerung an diese Zeit förmlich ausgewischt ist. [Meine Lehrerin] muss ein ziemlicher Drachen gewesen sein. Ich hab die jetzt in ’nem anderen Zusammenhang vor ’nem Jahr mal an ’ner Musikschule erlebt. Und so, wie ich sie da erlebt hab, hab ich mit Sicherheit große Angst vor der Frau gehabt als kleines Kind. Das war ein ziemlicher Drachen wahrscheinlich. Interviewerin: Aber Sie wissen das gar nicht mehr? Ich weiß es nicht mehr. Ich weiß absolut nicht mehr, was dort gelaufen ist. Die ersten zwei Jahre, die ich da Unterricht hatte. Die hat mich ganz bestimmt ganz hart unterrichtet. Mit richtig, richtig Stress.
Auch wenn die Befragte den Stress, den empfunden zu haben sie behauptet, nicht durch konkrete Erinnerungen verifizieren kann – sie schließt von einer aktuellen Erfahrung auf das damalige Erleben – so weist doch allein die Tatsache ihres NichtWissens auf eine ganz geringe Bedeutsamkeit hin. Dass überdies auch in fachlicher Hinsicht kaum ein spezialschultaugliches Fundament geschaffen wurde, zeigt sich an der Tatsache, dass ihr zu Beginn der Spezialschulzeit deutlich das Gefühl vermittelt wird, den Anforderungen trotz bestandener Aufnahmeprüfung nicht zu entsprechen. Exakt dasselbe gilt für den anderen Fall, den wir unter Uc subsummieren. 4.2.2 Diskussion Wir können mit den Ergebnissen dieser Falldiskussion nun die im letzten Abschnitt begonnene Tabelle um die soziogenetische Kategorie »Instrumentalunterricht vor der Spezialschule« erweitern und sowohl mit den soziogenetischen Kategorien als auch mit unserer sinngenetischen Typologie in Beziehung setzen. Sinngenetischer Typ Fallnummer
A »Fisch im Wasser« 1
2
3
4
5
B »Schüler«
A/B Mischtyp 6
7
8
9
C »Fremdling« 10 11 12 13 14
Soz. Typ Beruf der Eltern (B)
Ba Ba Ba Ba Ba
Bc
Bc Bc Bd Bd Bb Ba Bc Be
Soz. Typ Elternhaus (E)
Ea+ Ea+ Ea+ Ea+ Ea+
Eb+
Eb+ Eb+ Eb+ Eb+ Ea- Ea- Eb- Ec
Soz. Typ Unterricht vor Spezialschule (U)
Ua Ua Ua' Ua' Ub
Ua'
Ub Ub Ub Ub Ua' Ub Uc Uc
Ua:
Der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule baut eine fachliche und für das Kind bedeutsame Brücke zur Spezialschule. Ua': Der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule baut eine für das Kind bedeutsame, aber nur bedingt fachliche Brücke.
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Ub:
Uc:
Der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule wird als fremdbestimmend erlebt. Er baut eine fachliche Brücke zur Spezialschule, besitzt aber nur eine geringe Bedeutsamkeit für das Kind. Der Instrumentalunterricht vor der Spezialschule baut weder in fachlicher Hinsicht noch in Bezug auf seine Bedeutsamkeit für das Kind eine Brücke zur Spezialschule.
Auch in der soziogenetischen Kategorie »Instrumentalunterricht vor der Spezialschule« scheinen die Grenzziehungen unserer sinngenetischen Typologie durch. Beim »Fisch im Wasser« dominiert der Typ Ua, beim Typ »Schüler« hingegen der Typ Ub. Fälle des Typs Uc korrespondieren ausschließlich mit dem Typ »Fremdling«. Auffallend ist, dass der »Fisch im Wasser« bis auf eine Ausnahme (Fall Nr. 5) ausschließlich aus Fällen besteht, in denen dem frühen Instrumentalunterricht eine hohe Bedeutsamkeit zuerkannt wurde. Dieses Kriterium scheint als Kriterium für eine Passung an der Spezialschule noch wichtiger gewesen zu sein als eine als absolut anschlussfähig erlebte fachliche Kompetenz. Sofern ein gewisser fachlicher Level nicht unterschritten wurde, konnte die Erfahrung, dass an der Spezialschule in fachlicher Hinsicht plötzlich ein anderer Wind wehte, beim Vorliegen hoher Bedeutsamkeit anscheinend gut kompensiert werden. Umgekehrt war das schwieriger: Für den, der in fachlicher Hinsicht einen Gleichklang zwischen seinem Leistungsstand und dem geforderten Spezialschulniveau wahrnahm, aber keine durch den vorangegangenen Unterricht gestiftete Bedeutsamkeitserfahrung mitbrachte, war es im Grunde nicht möglich, sich an der Spezialschule als »Fisch im Wasser« zu empfinden oder zu einem solchen zu entwickeln. Wobei berücksichtigt werden muss, dass die Selbstbewertung der fachlichen Kompetenz bei unseren Gesprächspartnern ja immer bereits vor dem Hintergrund des jeweiligen sinngenetischen Orientierungsrahmens erfolgt, der ja den Rahmen, aus dem heraus gesprochen wird, darstellt: Wer sich selbst als »Schüler« konzeptualisierte, konnte anscheinend trotz eines vergleichsweise geringeren Leistungsniveaus durchaus das Gefühl haben, richtig am Platz zu sein, denn mit dieser Rolle war ja gleichzeitig die Bereitschaft verknüpft, sich selbst als Durchschnitt, Mittelmaß oder eben Fußvolk zu definieren. Die fachliche Passung ist also nicht an ein objektiv feststehendes Leistungskriterium gebunden, sondern drückt aus, ob und inwieweit der Gesprächspartner seinen Orientierungsrahmen als anschlussfähig erlebte. Und der Orientierungsrahmen des »Schülers« ist nun einmal geprägt von einem unterschwelligen Einverstanden-Sein mit dem eigenen als defizitär empfundenen Status. Dieser Status scheint gerade beim Typ »Schüler« wesentlich mit dem Bewusstsein einhergegangen zu sein, für die vergleichsweise geringere Bedeutsamkeit gegenüber der Musik und dem Instrument im Grunde selbst die Verantwortung zu tragen. Der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule setzte also Bedeutsamkeitserfahrungen voraus, war aber bei deren Nicht-Vorhandensein außerstande, diese nachträglich noch zu stiften, was durch die Tatsache unterstützt wurde, dass der Orientierungsrahmen der betreffenden Akteure das Ermöglichen derartiger Erfahrungen selbst gar nicht für die Aufgabe der Schule hielt. Angesichts dieser ins Auge springenden Tendenz ist es nun ebenso interessant wie notwendig, sich die beiden »Ausreißer« in unserem Sample genauer zu betrachten (Fälle Nr. 5 und 11): Wie zu sehen ist, baut die Zugehörigkeit zum »Fisch im Wasser« in Fall Nr. 5 nicht auf Bedeutsamkeitserfahrungen im frühen Instrumentalunterricht auf (hier findet sich stattdessen der Typ Ub). Umgekehrt findet sich im
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Typ »Fremdling« ein Fall mit hoher Bedeutsamkeitserfahrung (Ua'). Wie lassen sich diese beiden Fälle erklären? Ein Lösungsansatz findet sich, wenn man in beiden Fällen die Kategorie »Elternhaus« mit hinzuzieht. In Fall Nr. 5 scheint die geringe Bedeutsamkeit des Instrumentalunterrichts durch eine enge und von beiden Seiten gewollte Elternteil-Kind-Dyade beim Üben kompensiert worden zu sein (Ea+). Hier hat also die Elternbeziehung für eine Bedeutsamkeitserfahrung am Instrument gesorgt, die die diesbezüglich fehlenden Erfahrungen im Instrumentalunterricht ausgleichen konnte, was an der Spezialschule dann die Herausbildung eines Orientierungsrahmens vom Typ »Fisch im Wasser« möglich machte. Wo hingegen Elternhäuser vom Typ Eb+ vorliegen (starkes kulturell-musikalisches Interesse, aber keine professionelle Expertise; genereller Förderungswille, aber keine ausgeprägte Elternteil-Kind-Dyade beim Üben), scheinen diese eine fehlende Bedeutsamkeitserfahrung im Instrumentalunterricht nicht kompensiert haben zu können; diese Fälle prägten an der Spezialschule vornehmlich den Typ »Schüler« aus. Im Fall Nr. 11, der trotz vorangegangener Bedeutsamkeitserfahrung (Ua') an der Spezialschule zum sinngenetischen Typ »Fremdling« wurde, scheint ebenfalls der Charakter des Elternhauses den Ausschlag gegeben zu haben. Das beeinträchtigte Verhältnis zur elterlichen Bezugsperson beim Üben vermochte das Erleben von Bedeutsamkeit im Instrumentalunterricht nicht aufzugreifen, sondern führte dazu, dass eine durchaus vorhandene hohe Motivation sich nicht mit einer entsprechend hohen Bereitschaft zum täglichen Üben paarte – was dann an der Spezialschule das Empfinden eines deutlich geringeren Leistungsstandes zur Folge hatte, das in einem starken Gegensatz zur hohen Bedeutsamkeit stand, die der Gesprächspartner weiterhin der Musik und dem Instrument zukommen ließ. Anders als bei jenen beiden Fällen im Typ »Fisch im Wasser«, bei denen der Instrumentalunterricht zwar ebenfalls fachlich nicht direkt auf das Spezialschulniveau hinzielte, scheint die Diskrepanz zwischen der empfundenen Leistung und der Bedeutsamkeit hier so groß gewesen zu sein, dass sie nicht überbrückt werden konnte, was dann notgedrungen zur Ausprägung eines Orientierungsrahmens vom Typ »Fremdling« führte. Mit der Verbindung von großer Bedeutsamkeit und vergleichsweise niedrigem Leistungslevel konnte der Erfahrungsraum der Spezialschule anscheinend nicht umgehen. Ein Grund dafür mag in der im Kapitel 3.2.5.2 (S. 124 ff.) erläuterten didaktischen Zentralformel von der »einheitlichen technischen und künstlerischen Entwicklung« und der gleichzeitig erhobenen Forderung nach einem weitgehend gleichmäßigen Fortschreiten in einem ausschließlich spieltechnisch definierten Stoffplan liegen. Das Zusammenspiel beider Faktoren führte zu einer Situation, bei der Schüler, die dem Instrument eine große Bedeutsamkeit zuteilwerden ließen und daher vermutlich einen gewissen Ausdrucks- und Gestaltungswillen mitbrachten, die aber nur über vergleichsweise gering entwickelte spieltechnische Fähigkeiten verfügten, automatisch ins Hintertreffen gerieten: Wenn sich ein Spieler aufgrund der in den Lehrplänen explizit niedergeschriebenen und implizit in den Köpfen der Lehrenden verankerten Leistungsanforderungen hauptsächlich mit spieltechnischen Anforderungen auseinandersetzen musste, die zu bewältigen ihm Mühe bereiteten, dann hatte er kaum die Möglichkeit, seine gestalterischen Ambitionen wirklich zur Geltung kommen zu lassen. Sein Gestaltungswille glich einem ungedeckten Scheck, der nicht adäquat eingelöst werden konnte.
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Die erstaunlich große Übereinstimmung zwischen sinngenetischem Typus und den bislang herausgearbeiteten soziogenetischen Kategorien macht einerseits deutlich, dass der Erfahrungsraum der Spezialschule relativ wenig Anlässe für eine grundsätzliche Transformation des jeweiligen Orientierungsrahmens bot. Die habituellen Grundkoordinaten, die ein Schüler an die Schule mitbrachte, wurden dort weitgehend unverändert fortgeschrieben. In unserem Sample gibt es keinen Fall, in dem es während der Schulzeit zu einer wirklichen Umstrukturierung des mitgebrachten Orientierungsrahmens gekommen wäre. Die starke Fokussierung des konjunktiven Erfahrungsraumes auf den Orientierungsrahmen »Fisch im Wasser« wirkte als eine Resonanzfläche, die alles positiv verstärkte, was diesem Typ entsprach. Wo sie hingegen auf Nichtidentisches stieß, verstärkte sie das Gefühl des mehr oder minder stark ausgeprägten Nicht-Passens, das sich auf jeweils unterschiedliche Art fest mit dem jeweiligen Orientierungsrahmen verband – so fest, dass – wie im Falle des sinngenetischen Typs »Schüler« – den Betreffenden das Defizitäre ihres Status, das sie selbst beschreiben, mitunter gar nicht bewusst wurde. Was, wie bereits festgestellt, vor allem auch damit zu tun hat, dass dieser Typ unter dem Gesichtspunkt des späteren Berufslebens in der DDR ja gebraucht wurde und insofern trotz eingeschränkter Passung dann eben doch wieder passte. Es stellt sich vor diesem Hintergrund die Frage, ob die künstlerisch-instrumentale Entwicklung des sinngenetischen Typs »Schüler« (und teilweise auch des Typs »Fremdling«) wirklich auf den Erfahrungsraum Spezialschule angewiesen war oder ob nicht ein Kontext außerhalb davon (z.B. im Rahmen einer Musikschule) dem Gleichklang von künstlerischer und technischer Entwicklung möglicherweise förderlicher gewesen wäre. Diese Frage ist heikel – schließlich kann nicht übersehen werden, dass ein Großteil der Befragten auch innerhalb der Typen B und C ein starkes Identifikationsverhältnis zur Spezialschule aufweist, das zu übergehen schlichtweg unlauter wäre. Auch darf nicht außer Acht gelassen werden, dass der besondere schulische Erfahrungsraum der Spezialschule natürlich trotz alledem auch für diese beiden Typen Entfaltungsmöglichkeiten bot, die es außerhalb davon so nicht gab. Was diese Frage aber dennoch legitim erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass, bezogen auf einen längerfristigen Zeitraum, die Leistungsunterschiede zwischen Spezialschülern und jenen Nicht-Spezialschülern, die nach Abschluss ihrer normalen Schullaufbahn an einer EOS dennoch Musik studierten, nicht sonderlich stark ausgeprägt waren. Legt man die Punktzahlen zugrunde, die bei Studierenden von Orchesterinstrumenten nach Abschluss des Studiums über die Eingruppierung in ein Orchester entschieden, so stellt man für die Jahre 1983 bis 1985 fest, dass die durchschnittliche Punktzahl der Spezialschüler nur unwesentlich über dem Ergebnis der Nicht-Spezialschüler lag:
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Abbildung 3: Orchestereinstufung bei Spezialschülern und Nicht-Spezialschülern
Quelle: Görlich 1986, S. 35
Selbst an die besonders herausragenden Orchester der Gruppe S (etwa der Staatskapelle Dresden, der Staatskapelle Berlin oder dem Gewandhausorchester Leipzig) konnte man also auch als Nicht-Spezialschüler gelangen. Im Jahr 1983 übertraf diese Gruppe sogar die Schüler mit Spezialschulausbildung. Damit wird der Wert der Spezialschulausbildung natürlich in keiner Weise hinfällig. Dass der »Fisch im Wasser« an den Spezialschulen besondere Förderungsmöglichkeiten erfuhr, die ihm in einer wichtigen Phase seiner Entwicklung Möglichkeiten eröffnete, die außerhalb des Spezialschulkontextes schlechterdings nicht denkbar gewesen wären, steht außer Frage. Bei den anderen beiden Typen kann jedoch gefragt werden, ob sich die instrumentalen Biografien in einem Kontext außerhalb der Spezialschule wirklich deutlich anders entwickeln hätten können. Die 1986 entstandene Dresdner Diplomarbeit von Stefan Görlich, der wir die obenstehende Tabelle entnehmen, erklärt die relativ geringe Differenz zwischen den Studienabschlüssen von Spezialschülern und Nicht-Spezialschülern durch Rekurs auf einen statischen Begabungsbegriff: »Beobachtet man die in einem bestimmten Leistungsniveau kontinuierlich verlaufenden Entwicklungswege von vielen Spezialschülern, so liegt die Vermutung nahe, daß schon in den An-
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lagen die Grenzen der Begabung weitgehend bestimmt sind. Für diese Vermutung sprechen auch die Tatsachen, daß Studenten ohne Spezialschulausbildung, die am Studienbeginn weit hinter dem Leistungsniveau der Studenten mit Spezialschulausbildung lagen, in relativ kurzer Zeit ihren Stand auf dem Hauptfachinstrument angleichen und häufig sogar gegenüber Spezialschülern, bei gleichen Studienbedingungen, verbessern konnten.« (Görlich 1986, S. 30 f.)
Weit schlüssiger als dieser Rückgriff auf einen derart eindimensionalen Begabungsbegriff ist der Gedanke, dass die Zahl der Schüler, die aufgrund der bisher erörterten soziogenetischen Kategorien über eine besonders gute Passung verfügten, recht begrenzt und vermutlich auch nur schwer weiter ausbaufähig war. Was von Görlich – und mit ihm wohl von den allermeisten Akteuren an der Spezialschule – als »begabt« bezeichnet wurde, waren immer auch und vor allem Schüler und Schülerinnen, deren Eltern vermutlich der Berufsgruppe Ba, deren familiärer Umgang dem Typ Ea+ und deren früher Instrumentalunterricht dem Typ Ua entsprach. Auch wenn man davon ausgeht, dass die Schüler ein unterschiedliches Begabungspotenzial mitbrachten, das wesentlich über Erfolg oder Misserfolg entschied, so kann man nicht an der Tatsache vorbeisehen, dass dieses Potenzial sich unter bestimmten äußeren Bedingungen entfalten musste, auf die der Einzelne – und mag er auch noch so begabt gewesen sein – schlechterdings keinen Einfluss hatte. Bedeutsamkeitserfahrungen in Bezug auf Musik und Instrument und – damit verbunden – die Bereitschaft zu intensivem Üben im Sinne einer »deliberate practice« mögen bei Vorliegen eines bestimmten Begabungspotenzials vielleicht eher auftreten als in anderen Fällen (vgl. Ericsson & Roring 2007). Dennoch können sich beide Aspekte nur realisieren, wenn ein intensives gemeinsames Üben mit einem Elternteil auf der Grundlage gegenseitiger Verbundenheit stattgefunden hat und wenn der Instrumentallehrer zu dieser Elternteil-KindDyade dazu passt. Diese Bedingungen sind kontingent. Ob sie zutreffen, hat weder etwas mit der zugrundeliegenden Begabung noch mit der Intensität zu tun, mit der sich ein musikalisches Ausbildungssystem um so genannte »Talente« bemüht.
4.3 I NSTRUMENT Im bisherigen Verlauf der Untersuchung haben wir, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unerwähnt gelassen, welche Instrumente unsere Gesprächspartner spielten. Das geschah vor allem mit dem Ziel, deren Anonymität zu wahren. Diese Aussparung ist natürlich inhaltlich problematisch, denn schließlich besitzen die Unterschiede zwischen den einzelnen Instrumenten nicht allein eine innermusikalische Dimension, sondern beziehen sich ebenso auch auf die jeweiligen Lern- und Herangehensweisen und haben damit unmittelbar Relevanz für die Ausprägung des jeweiligen Orientierungsrahmens. Zwischen dem Klavier, das, sobald es um eine professionelle Laufbahn geht, einen sehr frühen Beginn, extensive Übezeiten und eine hohe Konzentration auf das Alleine-Üben impliziert und der Oboe, die häufig erst mit 10 oder 11 Jahren begonnen wird, kein allzu ausgedehntes Üben gestattet und den Spieler von Anfang an nahezu automatisch in gemeinschaftliche Musiziersituationen einbindet, bestehen derart eklatante Unterschiede, so dass wahrscheinlich nicht zu viel behauptet wird, wenn man sagt, dass jedes Instrument eine eigene, inkommensurable Lernkultur ausprägt. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Berufe, auf die die einzel-
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nen Instrumente im Rahmen einer professionellen Ausbildung hinführen, so große Unterschiede aufweisen, dass damit zwangsläufig auch unterschiedliche Ausbildungsgepflogenheiten impliziert sind. Das betrifft nicht nur den naheliegenden Unterschied zwischen dem Klavier, das neben der Solistenrolle vor allem auf eine pädagogische Tätigkeit zielt, und dem ganzen Rest, sondern bezieht sich durchaus auch auf Differenzen innerhalb der Orchesterinstrumente. Es ist keineswegs dasselbe, ob ein Musikstudium auf eine Rolle als Bläser im Orchester hinzielt oder die Möglichkeit einer Position als Tuttistreicher umfasst. Allerdings ist in Hinblick auf diese berufspraktische Perspektive durchaus die Frage zu stellen, ob und inwieweit die an einer Ausbildungsinstitution gepflegte instrumentale Lernkultur diese spätere Tätigkeit auch wirklich im Blick hat, oder ob es hier mitunter nicht zu einer Kluft zwischen Ausbildung und späterem Beruf kommt, die dann allerdings ihrerseits auf den Charakter der Ausbildung einwirkt. Um es wiederum am Klavier zu verdeutlichen: Auch heute noch konzentriert sich eine professionelle pianistische Ausbildung von den Inhalten her vornehmlich auf eine solistische Tätigkeit, deren berufspraktische Relevanz in aller Regel völlig imaginär bleibt, während »realistischere« Alternativen – etwa im Bereich der Kammermusik (um vom Profil des Klavierpädagogen gar nicht zu sprechen) – mit weit geringerer Intensität bedacht werden. Nun will es allerdings scheinen, dass diese Ausblendung des späteren Berufsziels keineswegs ganz spurlos an der internen Fachkultur vorbeigeht. Es lässt sich fragen, ob nicht das Illusionäre des anvisierten Berufsziels bei vielen Studierenden notgedrungen zu einem eigentümlichen »Als ob« des Rollenverhaltens führt: Man sieht sich mit einem solistischen Habitus konfrontiert, den man außerhalb des Ausbildungskontextes schlechterdings nicht leben kann, was innerhalb dieses Kontextes dann dazu führt, dass die eigene Rolle gewissermaßen immer in Anführungsstrichen steht. Damit dringt die Berufsrealität, die ausgeblendet werden soll, unfreiwillig dennoch wieder in den Ausbildungskontext ein; sie zeigt sich an der Uneigentlichkeit und damit auch Isoliertheit der ausbildungsintern verlangten Rolle. Das wäre ein Musterbeispiel für das Luhmann’sche »Re-Entry«: für den Wiedereintritt des Ausgeschlossenen (in diesem Falle der Berufsrealität) in das ausschließende System (vgl. Luhmann 1997, S. 19). Mit diesen letzten Gedanken sind wir allerdings schon weit über das Ziel hinausgeschossen. Mehr noch: wir sind der Versuchung erlegen, die instrumentale Lernkultur der Spezialschule aus unserer heutigen Sicht heraus beschreiben zu wollen. Das könnte allerdings ein verhängnisvoller Fehlschluss sein. Vielleicht waren die Bedingungen in der DDR ja andere; vielleicht stellte sich die Differenz zwischen dem späteren Berufsleben und dem ausbildungsintern gepflegten Berufsbild hier in einer Weise dar, die sich durchaus von unserer heutigen Sichtweise unterscheidet. Daher versuchen wir auch in diesem Abschnitt, die jeweiligen instrumentalen Lernkulturen nicht generell abzuhandeln, sondern direkt aus unserem Material abzuleiten. Damit kommen wir dann automatisch zu der Frage, die in einer soziogenetischen Untersuchung natürlich im Zentrum steht, nämlich ob und inwieweit die jeweils spezifische instrumentale Lernkultur einen Einfluss auf unsere sinngenetische Typologie erkennen lässt. Wir gehen bei unserer Untersuchung in drei Schritten vor. Zunächst versuchen wir, anhand des uns vorliegenden Materials die instrumentale Lernkultur jener Instrumentalfächer zu beschreiben, die in unserem Sample vorkommen: Klavier, Violine, Violoncello, Holzbläser. Um das Spektrum zu vervollständigen, ziehen wir noch
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ein weiteres Interview hinzu, das wir mit einem Blechbläser geführt haben. Auf dieser Basis fragen wir dann, wie sich der Orientierungsrahmen unser Gesprächspartner zu dieser instrumentenbezogenen Ausbildungskultur verhalten hat. Die daraus entwickelte Typologie setzen wir dann abschließend mit der sinngenetischen sowie anderen soziogenetische Kategorien in Beziehung. 4.3.1 Instrumentale Lernkulturen 4.3.1.1 Violine Drei Äußerungen verschiedener Gesprächspartner umreißen auf jeweils unterschiedliche Art und Weise ein zentrales Charakteristikum der Geigenausbildung an der Spezialschule: 1) Also, dass ich Musiker werden will, das stand irgendwie durch das Elternhaus und das ganze Umfeld relativ früh fest. Auch dass ich Geige spielen will, stand fest. Aber in welcher Form jetzt, da hatten wir [uns] keine Gedanken darüber gemacht. Es wurde ja zum Beispiel auch suggeriert, dass es das Studienfach, oder den Ausbildungsweg eines Solisten gab. Das heißt, das wurde einem immer erzählt, wenn man auf Wettbewerbe fuhr, ja, und wenn das hier alles vorbei ist, dann wirst du Solist. Das heißt Solist im Sinne von David Oistrach, um die Welt fahren und mit Orchestern spielen oder Duo-Abende geben mit Klavier oder so. Agentur und los. Und irgendwo kam dann mal die Erkenntnis, in der DDR gibt’s den Beruf eigentlich gar nicht so richtig. Es gibt ’n paar Ausnahmen, die heißen Annerose Schmidt, Peter Rösel, aber das sind Pianisten. Das heißt, die sind Alleinkämpfer, die haben mit dem Orchester nichts am Hut, die können auch kilometerlang alleine Musik spielen. 2) [Der Unterricht meines Lehrers] war […] ein Unterricht, der zu der damaligen Zeit gar nicht mal so angesagt war. Also, das war eigentlich ’n ganz ruhiger Arbeiter, der sehr auf den Beruf bezogen unterrichtet hat. Und nicht auf irgendwelche spektakulären Abschlüsse oder so. 3) [Ich hatte einen Freund, dessen Vater Orchestergeiger war.] Der sagte: »Ihr könnt euer Konzert da rauf und runter spielen, so viel ihr wollt. Das braucht ihr später nie im Beruf.« Mit anderen Worten: Ihr müsst euch in musikalischer [Hinsicht] allgemein orientieren. Ihr braucht Rhythmusgefühl. Ihr müsst auch SCHÖN spielen. Ihr müsst ’ne Übersicht haben. Ihr müsst Noten lesen können und nichts Eingetrichtertes meistbietend verkaufen. Und das war sozusagen der erste Horizont, also das erste Licht, das in diese Richtung ging. Das mir dann schon ein bisschen hineinschien in meine Malaise sozusagen. Und vielleicht hat das mir auch geholfen, noch durchzuhalten bis zum Ende der Spezi.
Alle drei Ausschnitte weisen auf jeweils unterschiedliche Art auf eine deutliche Diskrepanz zwischen einer vornehmlich solistisch geprägten Ausbildungskultur im Fach Violine und den Anforderungen des späteren Berufslebens hin. Handelt es sich beim ersten Beispiel um eine nachträglich gewonnene Erkenntnis, so erzählt der Gesprächspartner des dritten Beispiels eine Begebenheit, die sich während seiner Spezialschulzeit zugetragen hat und die damit auf eine frühe Erlebnisschicht abzielt. Das zweite Beispiel weist zwar darauf hin, dass es durchaus Lehrer gab, die sehr auf den Beruf bezogen unterrichtet haben, doch es wird sogleich klar gemacht, dass es sich hier um etwas durchaus Untypisches gehandelt hat: Der Unterricht des betreffenden
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Kollegen war zu der damaligen Zeit gar nicht so angesagt. Charakteristischer für den geigerischen Erfahrungsraum der Spezialschule scheint für den Gesprächspartner vielmehr das Bestreben nach spektakulären Abschlüssen gewesen zu sein. Der in allen drei Beispielen auf jeweils eigene Art beschriebene Widerspruch zwischen solistischer Ausbildung und einer späteren Berufsrealität im Orchester ist zunächst einmal nicht besonders erstaunlich, sondern beschreibt eine Praxis, die zumindest in Europa, Nordamerika, Russland und Fernost auch heute noch weitgehend üblich ist (dass das venezuelanische »El Sistema« den Spieß umdreht und die gesamte Ausbildung, bei aller Konzentration auf die individuelle Expertise, um den zentralen Orientierungspunkt des Ensemblespiels herum gruppiert, ist nach wie vor eine, wenngleich bemerkenswerte, Ausnahme). Dennoch sollte diese Diagnose nicht voreilig das Etikett der Praxisferne heraufbeschwören. Schließlich lässt sich geltend machen, dass auch der Eintritt in ein Orchester in beiden Teilen Deutschlands auch heute noch primär über solistische Leistungen bestimmt wird. Eine solistisch geprägte Ausbildung ist also nach wie vor eine berufspraktische Notwendigkeit. Zudem gab es unter den Lehrenden an der Spezialschule einen großen Teil an Orchestermusikern, für die der Spagat zwischen solistisch geprägten Inhalten und späterer Berufspraxis anscheinend kein besonderes Problem bedeutete. Der Vorwurf, an der Praxis vorbei zu unterrichten, scheint in Hinblick auf die Spezialschule vor allem deshalb zu kurz zu greifen, weil es hier, wie wir bereits feststellen konnten, neben der Ausrichtung auf solistische Inhalte auf Seiten der Schüler eine ausgeprägte Bewunderung für die Orchestermusiker der Staatskapelle gab. Ein Gesprächspartner verglich deren schulinterne Popularität mit dem Verhalten jugendlicher Fußballfans, die auf ihrem T-Shirt den Namen und die Spielernummer ihres Idols tragen. Der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule orientierte sich im Falle der Geige also gleichermaßen an einer solistischen Ausbildungskultur, in der Wettbewerbe eine große Rolle spielten, und an dem Ideal des erfolgreichen Geigers in der Staatskapelle. Diese doppelte Orientierung scheint nicht als Widerspruch empfunden worden zu sein. Allerdings führte sie auch nicht zu einem gleichzeitigen Anwachsen der Bedeutung des Ensemblespiels. Ein anderer Geiger berichtete uns, dass er während seiner gesamten Spezialschulzeit nicht ein einziges Mal Orchester gespielt habe: Was mir aus der heutigen Sicht auch sehr gefehlt hat, war die Selektion, was das Ensemblespiel betrifft. […] Das hab ich sehr vermisst, dass also zum Beispiel die Streicher zusammen spielen. Ich weiß gar nicht, wer das gemacht hat, jedenfalls da waren viele meiner Klassenkameraden drin, ich kam aber nicht rein.
Es sei dahin gestellt, ob hier wirklich ein strukturelles Defizit vorliegt, oder ob es sich nicht doch eher um einen Einzelfall gehandelt hat. Unabhängig davon weist diese Äußerung aber dennoch auf die vergleichsweise geringe Relevanz der Ensemblefächer in der Wahrnehmung des Befragten hin (dass von Seiten der Schulleitung dagegen durchaus immer wieder Initiativen gestartet wurden, die Bedeutung gerade der Ensemblefächer, insbesondere der Kammermusik, stärker zu gewichten, steht auf einem anderen Blatt). Überdies darf die Bewunderung für die Kapellmusiker nicht als Indiz dafür genommen werden, dass der Orientierungsrahmen der Geigenschüler primär vom Blick auf die spätere Berufsrealität geprägt war. Im Gegenteil ist auffäl-
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lig, dass für nahezu alle Befragten (und nicht nur für die Geiger) die Frage der eigenen beruflichen Zukunft einen vergleichsweise nebensächlichen Aspekt darstellte. Das hängt natürlich stark mit der Arbeitsplatzgarantie zusammen, die eine Musikausbildung in der DDR zu einer völlig anderen Sache machte, als sie es heute ist. Und wohl auch mit dem jugendlichen Alter der Schüler, das für die praktischen Erfordernisse des Berufslebens wahrscheinlich deutlich weniger aufnahmebereit war als dies etwa im jungen Erwachsenenalter (etwa gegen Ende des Studiums) der Fall ist. Trotz grundsätzlicher und uneingeschränkter Bewunderung für die Kapellmusiker konnte sich der Orientierungsrahmen eines Geigers also dennoch vornehmlich auf die solistischen Ausbildungsinhalte fokussieren und die Frage der eigenen beruflichen Zukunft im Orchester im Konjunktiv stehen lassen. Eine von uns befragte Geigerin formulierte das so: Man spielt[e] seine Solosachen und [wollte] das verwirklichen, was man dann gerade selber denkt und da war das mit dem Orchester gar nicht so sehr ein großes Denken. Charakteristisch für die Geige ist fernerhin – und das trifft vermutlich überall auf der Welt zu – die Notwendigkeit eines zeitigen Beginns. Wer nicht in ganz jungen Jahren, am besten noch im Vorschulalter, mit dem Unterricht begonnen hatte, war an der Spezialschule im Nachteil; in unserem Material zeigt sich das an einem Geiger, der erst mit ca. 10 Jahren zum Instrument gekommen war und den dadurch bedingten Rückstand während seiner gesamten Schulzeit im Grunde nicht ausgleichen konnte – was nicht heißen soll, dass ein solcher Ausgleich prinzipiell unmöglich wäre. Allerdings scheint die stark kompetitive Grundsituation bei den Geigern die Möglichkeit eines derartigen Ausgleichs beträchtlich erschwert zu haben: Schon in der 6. bzw. 7. Klasse gab es ausgeprägte Rangfolgen unter den Schülern, die den jeweiligen Orientierungsrahmen entscheidend beeinflussten. Und gerade diese frühe Prägung des Orientierungsrahmens führte dann zu dessen Verfestigung. Das Gefühl, im Rückstand zu sein, wurde für die Schüler mit spätem Beginn zu einer prägenden Erfahrung, die sie die ganze Schulzeit über begleitete. Die Möglichkeit, die früh einsetzende Differenzierung zwischen Spitze und Mittelmaß auszuhebeln und eine Entwicklung in Richtung Spitze zu vollziehen, scheint bei den Geigern an der Spezialschule nicht existiert zu haben. 4.3.1.2 Cello Die Besonderheiten der Geigenausbildung werden noch deutlicher, wenn man sie mit der folgenden Äußerung eines Cellisten vergleicht. Diese Passage ist vor allem deshalb aufschlussreich, weil sie gar nicht direkt auf die Celloausbildung eingeht, sondern eine Gesamtwahrnehmung des schulischen Musiklebens zum Ausdruck bringt. Und diese Wahrnehmung scheint bei einem Cellisten deutlich anders ausgeprägt gewesen zu sein als bei einem Geiger: Und es gab auch die Sternchen und es gab auch die Stars, selbstverständlich, […] aber die waren nicht so wichtig. Also die standen nicht so alleine da. Es war nicht der alleinige Fokus. Also wenn man da mal bei ’nem Wettbewerb irgendwie war und man hat mal den ersten Preis gemacht oder den zweiten oder irgendeinen Preis, da kam man wieder nach Hause und dann ging der Alltag wieder weiter. Und nächsten Tag saßen die eben wieder in der Streichergruppe oder im Orchester und haben da ihre zweite Geige gespielt. Also so war das und das wird heute natürlich so nicht mehr gemacht, aber das hat eben was mit wirklicher Breitenbasis zu tun
286 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE für Musiker, denn es werden nicht alle Solisten. Und diejenigen, die die Chance dazu gehabt hätten, die sind auch nicht alle Solisten geworden. Also die landen irgendwann alle im Orchester.
Es scheint bezeichnend zu sein, dass bei den vielen von uns interviewten Geigern eine derartige Sichtweise nicht einmal auch nur ansatzweise in vergleichbarer Form auftaucht. Während dort immer wieder die solistische Ausrichtung der Ausbildung thematisiert wird, und – wie das zweite Zitat zeigt – eine Fokussierung auf spektakuläre Abschlüsse den mehrheitlichen Orientierungsrahmen prägte, äußert sich hier eine gegenteilige Perspektive, in der eine Orientierung an Stars und Sternchen zur Randerscheinung erklärt wird: Die waren nicht so wichtig. Von seinem Gesamtduktus her ist der Orientierungsrahmen dieses Gesprächspartners deutlich weniger kompetitiv geprägt, als das bei den Geigern der Fall ist. Dazu passt, dass unser cellistischer Gesprächspartner an vielen Stellen des Interviews immer wieder auf das Ensemblespiel, sei es Orchester, Kammermusik oder Chor, zu sprechen kommt. Dass dieser deutlich unterschiedliche Orientierungsrahmen etwas mit dem Instrument zu tun hat, ist natürlich kaum mehr als eine Vermutung, die sich nicht direkt aus dem Material ableiten lässt. Allerdings passt diese Passage durchaus zu anderen Äußerungen. So wies eine von uns interviewte hauptamtlich angestellte Celloprofessorin mehrfach darauf hin, dass Cellisten sehr häufig später mit ihrem Instrument begannen als Geiger: Und bei den Cellisten war’s an den Musikschulen nicht üblich, dass die schon im Vorschulalter angefangen haben. […] Und ein noch späterer Anfang war immer noch möglich. Also wie jetzt mit der Kinderklasse so zeitig beginnen, war nicht üblich. Die Gesprächspartnerin berichtet dann von Spezialschülern, die erst in der 5. oder 6., ja sogar erst in der 8. Klasse mit dem Cellospiel begonnen hätten. Aufgrund der breiten musikalischen Vorbildung am Klavier sei es dann bei allen zu einer ganz schnellen Entwicklung gekommen. Die Möglichkeit dieses späteren Beginns hatte natürlich immense Auswirkungen auf die Prägung des Orientierungsrahmens. Denn sie führte dazu, dass es bei der Aufnahmeprüfung weit weniger als bei den Geigern um den Nachweis eines feststehenden spieltechnischen Niveaus ging; ein Spieler, der sich erst in den Anfangsgründen des Instruments bewegte, musste nicht automatisch das Gefühl haben, dass »alle anderen« viel weiter als er waren. Das instrumentale Selbstbild stand somit bei Schuleintritt viel weniger fest, sondern konnte sich im Laufe der Schulzeit allmählich herausbilden. Möglicherweise führte diese langsamere Entwicklung zu einem Orientierungsrahmen, der nicht primär auf die eigene solistische Leistung fixiert war, sondern sich ebenso offen für die Bereiche des Ensemblespiels zeigen konnte, was dann dazu führte, das die Stars und Sternchen als weniger relevant wahrgenommen wurden. Während der Orientierungsrahmen der oben erwähnten Geigerin von einer Horizontstruktur geprägt ist, deren negative Seite die spektakulären Abschlüsse darstellen, die aus ihrer Sicht die vorherrschende Tendenz an der Spezialschule widerspiegelten, erscheinen derartige Abschlüsse bei dem zitierten Cellisten eher als Ausnahme. Gerade das Beispiel des Cellos zeigt, wie notwendig es ist, die instrumentalen Lernkulturen nicht generell abzuhandeln, sondern aus dem historischen Kontext unseres Materials heraus zu erschließen. Denn es ist unübersehbar, dass das Cello in den vergangenen 25 Jahren eine Entwicklung vollzogen hat, die kaum mehr Unter-
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schiede zu den Geigern erkennen lässt. Bei den Siegern im Landes- und Bundeswettbewerb »Jugend musiziert« findet sich mittlerweile ein instrumentales Niveau, das ohne einen sehr frühen Beginn kaum denkbar wäre. Gegenüber dieser Metamorphose zu einem hochgezüchteten, der Geige vergleichbaren Soloinstrument erscheint die instrumentale Lernkultur des Cellos an der Spezialschule noch eher vom Habitus des Bass- und Ensembleinstruments bestimmt gewesen zu sein, das zwar auch solistisch eingesetzt wurde (und hier auch zu Spitzenleistungen führte), aber darin nicht seinen alleinigen Fokus hatte. 4.3.1.3 Bläser Die Lernkultur bei den Holzbläsern weist in sich ähnliche Unterschiede auf, wie sie im Verhältnis zwischen Geige und Cello zu beobachten waren. Während das Interview, das wir mit einer Querflötistin führten32, erkennen lässt, dass bereits zum Zeitpunkt des Schuleintritts eine deutlich entwickelte instrumentale Expertise erwartet wurde, liegen die Dinge im Falle eines Oboisten deutlich anders. Hier ist es erst ganz kurz vor der Aufnahmeprüfung zum ersten regulären Unterricht gekommen. Dementsprechend vollzog sich diese Prüfung dann auf einem spieltechnisch äußerst niedrigen Level: Die Oboe ist so’n Instrument, bei der man wegen der Druckverhältnisse, die dann beim Blasen entstehen, nicht zu zeitig beginnen soll. So dass [ich] also passend um die fünfte Klasse rum [begonnen habe]. […] Und dann war das insofern mit dieser Zulassung […] ein großes Abenteuer, weil ich habe ja vorher nicht Oboe gespielt, sondern vielleicht ein viertel Jahr oder so privat ein paar Stunden gehabt. Und konnte also ’ne Tonleiter hoch und runter und so’n ganz einfaches Stück aus siebeneinhalb Tönen bestehend spielen. Und dann weiß ich noch, der Mann, der uns, mich dann auch später in Kammermusik unterrichten sollte, der Herr Professor Paul, der war damals ganz empört, was das sollte, mit fünf Tönen sich hier vorzustellen. Der hat das eben anders gesehen, ich sag’s mal vornehm. Und die anderen Leute haben aber natürlich gesagt, »[sowas können Sie] nicht von ’nem Oboisten [erwarten], der KANN nicht, wenn der dreizehn oder zehn oder elf Jahre alt ist. Wo soll der das denn herkönnen?«
Ähnlich wie beim Cello kommt es in diesem Interview zu einer lebhaften Darstellung der kammermusikalischen Aktivitäten. Der Befragte berichtet von seinen vielfältigen Auftritten und Muggen mit einem Bläserquartett und von der prägenden Erfahrung des Jugendsinfonieorchesters. Wie bei kaum einem anderen Gesprächspartner wer-
32 Dieses Interview haben wir nicht in unser Sample aufgenommen, da der Rückblick auf die Spezialschulzeit von der Ausreise in den Westen zum Zeitpunkt der 10. Klasse überlagert wird, so dass sich in die Erinnerungen ständig der Vergleich zwischen der Situation in Ost und West schiebt. Angesichts dieser prägenden Erfahrung, die die gesamte Schilderung der Lebensgeschichte durchzieht, ist es kaum möglich, den Orientierungsrahmen der Schülerin während ihrer Schulzeit zu rekonstruieren. Die wenigen Passagen, in denen eine Rekonstruktion möglich erscheint, lassen auf eine Einordnung in den sinngenetischen Mischtyp zwischen A und B schließen.
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den in diesem Interview die Auftrittsmöglichkeiten eines Spezialschülers außerhalb des schulischen Erfahrungsraums thematisiert: Also, wer ein bisschen gut war und jetzt nicht kämpfen musste mit allem, hat dann schon Muggen gemacht. Das wurde ja direkt auch offiziell vermittelt. Über die Hochschule ging das zum Teil, dass eben die Anfragen kamen. Und wir waren aber auch kreativ. Also, ich war insbesondere auch so, wo ich dann dachte »wenn das einmal geklappt hat mit ’ner Weihnachtsfeier für Rentner, dann müssen wir einfach wieder mal hingehen!« Und da gibt’s ja dieses Altersheim, Elsa-Fenske-Heim. Dort ham wir dann immer gespielt, Weihnachten. Und die alten Leute waren glücklich und wir ham, was weiß ich, zehn Mark jeder gekriegt.
Es ist unübersehbar, dass die verallgemeinernde Formulierung Wer ein bisschen gut war ganz aus dem engen Fokus des Holzbläsers heraus erfolgt. Wie wir insbesondere in Bezug auf das Klavier feststellen werden, reichte es in anderen Instrumentalfächern keineswegs aus, ein bisschen gut zu sein, um regelmäßig Muggen außerhalb der Schule zu spielen. Dass dieser Aspekt große Auswirkungen nicht nur auf die musikalische Entwicklung, sondern vor allem auch für das Verhältnis zu den Mitschülern und somit für die eigene Stellung innerhalb des konjunktiven Erfahrungsraumes mit sich bringt, liegt auf der Hand. Wie für die Oboe, so gilt auch für die Blechbläser33: ein früher Beginn bildete keine so zwingende Voraussetzung für einen erfolgreichen Abschluss an der Spezialschule wie dies etwa bei der Geige und beim Klavier der Fall war. Charakteristisch ist hier die Tatsache, dass die körperlichen Veränderungen während der Pubertät unmittelbare Konsequenzen für die Eignung zum Instrument besitzen: Schüler, die als Trompeter begonnen hatten, mussten, wenn etwa ihre Lippen zu groß wurden, auf Instrumente wie Posaune oder Tuba umgeleitet werden. Sie waren damit praktisch Neuanfänger, die allerdings einen deutlichen Vorlauf durch das zuvor erlernte Instrument besaßen; in dieser Form gab es das wohl sonst nur bei den Bratschisten und – wie zu sehen war – ab und an bei Cellisten. Aufgrund der nicht steuerbaren körperlichen Entwicklungen war der Verlauf einer instrumentalen Laufbahn bei den Blechbläsern also kaum absehbar, was dazu führte, dass selbst diejenigen Lehrenden, die von ihrem Orientierungsrahmen her eher mit einem statischen Begabungskonzept operierten, Entwicklungen schwer prognostizieren konnten. Das war bei den Streichern anders, wo die Lehrenden allem Anschein nach viel früher dazu neigten, Leistungsunterschiede als Begabungsunterschiede zu interpretieren. In den Prüfungsprotokollen der Blechbläser finden sich häufiger als bei anderen Instrumenten Formulierungen wie: »Die Entwicklung bleibt abzuwarten.« Allerdings wurde auch hier erwartet, dass sich diese Entwicklungen in einem bestimmten Zeitfenster vollziehen: in den Protokollen sind wir auf einen Trompeter gestoßen, der nach zwei weniger erfolgreichen Jahresprüfungen auf die Posaune umgeleitet wurde und nach einem anfänglichen Vertrauensvorschuss dort dann Jahr für Jahr negativer beurteilt wurde, bis ihm schlussendlich nahegelegt wurde, vorzeitig die Spezialschule zu verlassen. Bei 33 Das Interview, das wir mit einem Blechbläser geführt haben, hat keinen Eingang in unser Sample gefunden, da es kaum einen Erkenntnisgewinn in Hinblick auf unsere sinngenetische Typenbildung enthält. Es ist eines jener Interviews, an denen sich die Sättigung unseres Samples feststellen ließ.
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denjenigen Schülern, die sich günstig entwickelten, prägte sich dann aber häufig ein Lehrer-Schüler-Verhältnis aus, das an die Beziehung zwischen Handwerksmeister und Lehrling erinnert. Gute Bläser konnten in späteren Jahren als Substitut zusammen mit ihrem Lehrer in einem der Dresdner Orchester spielen und wurden auf diese Weise Schritt für Schritt in die Berufsrealität des Orchestermusikers eingeführt, wobei diese Realität dann auch einen wichtigen Gegenstand im Hauptfachunterricht darstellte, der sehr früh von der Arbeit an Orchesterstellen geprägt war. Das Modell der Orchesterschule wurde in diesem Bereich vielleicht am deutlichsten realisiert. Anders als bei den Streichern oder Pianisten rekrutierten sich die Holz- und Blechbläser stärker aus den ländlichen Regionen, insbesondere dem Erzgebirge und dem Vogtland, was dazu führte, dass der Gegensatz zwischen Dresdnern und NichtDresdnern hier deutlich geringer ausgeprägt war und sich das Gefühl, einem dominierenden Orientierungsrahmen nicht anzugehören, somit seltener einstellte. Vielleicht ist es diese Kombination von einem nicht zwangsläufig erforderlichen frühen Beginn und der tendenziellen Unabhängigkeit von einem dominanten Orientierungsrahmen, die den bereits mehrfach erwähnten Christoph Schwabe zu folgender gewiss zugespitzter Feststellung veranlasste: Schwabe: »Also es heißt ja immer so in Musikerkreisen: Na, die Bläser, das sind die dümmsten, die einfältigsten, was ich ÜBERHAUPT nicht bestätigen konnte. Ich würde sogar etwas pauschalisiert sagen, die Bläser sind die gesündesten. Und zwar aus dem schlichten und einfachen Grunde, weil die nicht von frühester Kindheit an dressiert werden konnten und dressiert wurden. Und das ist, denke ich, dieses Geigersyndrom. Dass die relativ früh, ich kann es nicht anders nennen, Dressurschäden hatten. Und das habe ich dann auch in den Seminaren gemerkt. Das war immer interessant, wenn man über bestimmte Dinge ins Gespräch kommen wollte: Das war am schwierigsten bei den Geigern. Da gab es entweder Leute, so die genialen, die das ganze Ding bestimmten und dann egoman daherredeten, wo schon klar war: Das wird dann ein kleiner Oistrach und so was, die traten auch schon so auf. Und dann so diese kleinen Flämmchen, wo man nicht wusste: ›Bist du nun ein Männchen oder ein Weibchen?‹ Und das fand ich bei den Bläsern weniger. […] Und die Pianisten [waren] die allerschlimmsten.«
4.3.1.4 Klavier Schwabe begründet seinen Eindruck von den Pianisten mit dem Hinweis auf deren ausgedehnte Übezeiten: Schwabe: »Ja, ist doch klar, nicht? Ich bekam ja dann so häufig – meistens, wenn das Kind schon total in den Brunnen gefallen war – mal von einem Dozenten zu hören: ›Gucken Sie sich den mal an, der kann nicht mehr, der ist krank.‹ Und wenn ich mich dann mit Leuten – das waren häufig Pianisten – unterhalten habe und dann so eine Frage stelle: ›Wann sind Sie denn das letzte Mal spazieren gegangen? Was war denn das letzte Buch, was Sie gelesen haben?‹ Das war für die Leute eine Provokation! Sie haben weder Zeit zum Spazierengehen, noch Zeit zum Buchlesen, sie müssen doch ÜBEN. Und dann bleibt keine andere Zeit für anderes.«
Auch wenn man in Rechnung stellt, dass Schwabe bewusst provokativ formuliert und die von ihm diagnostizierte Tendenz sicher nicht auf alle Pianisten zutraf, so lässt sich anhand unseres Samples doch feststellen, dass die ausgedehnten Übezeiten bei fast allen Pianisten in irgendeiner Form thematisiert wurden. Der schiere Umfang des
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erwarteten Übens verstärkte bei jenen Schülern, die nicht zum sinngenetischen Typ des »Fisches im Wasser« zählten und somit nicht bereits aus sich heraus über den Antrieb verfügten, sich täglich viele Stunden lang mit ihrem Instrument auseinanderzusetzen, das Gefühl der Fremdbestimmtheit. Mit diesem Gefühl wurde unterschiedlich umgegangen: es konnte die Selbstbilder einer gleichsam angeborenen und nicht veränderbaren Faulheit bzw. einer mangelnden Begabung hervorrufen und darüber hinaus zum Erleben starker Einsamkeit führen. Verstärkt wurde diese Tendenz durch die vergleichsweise geringe Bedeutung, die der Kammermusik zuerkannt wurde. Eine Pianistin erinnert sich: Wir haben leider nicht viel Kammermusik gemacht. Wir haben vielleicht im Internat mal ein bisschen vierhändig gespielt, aber nur für uns. Also ich kann mich nicht erinnern, dass ich richtig jetzt auch gezielt und auch gefördert Kammermusik gemacht hätte. Das fand ich eigentlich schade. Das war eher glaub ich Eigeninitiative, mal so zusammen sich Noten zu holen und irgendwie mal so, was weiß ich, Schubert-Sinfonien vierhändig rumzuklimpern.
Dieser hier geäußerte Eindruck wird von anderen Gesprächspartnern bestätigt. Gemeinschaftliches Musizieren scheint für die Pianisten ein Thema gewesen zu sein, das, wenn überhaupt, vor allem im Freizeitbereich stattfand und dort dann häufig mit dem Gestus des wilden Drauflos-Musizierens verbunden war. Wir hatten ja Tanzstunde und das war mit den Kruzianern zusammen. Und dann hatten wir unsere Schwärme und sind natürlich auch in die Kreuzchoraufführungen gegangen und dann haben wir uns die Klavierauszüge geholt [und] haben die Chöre gegrölt. Nee, das war eigentlich sehr schön.
Die Konzentration auf eine solistische Ausbildung scheint paradoxerweise gerade bei jenen Schülern besonders ausschließlich gewesen zu sein, die von ihrem Orientierungsrahmen her dem schulischerseits gewünschten solistischen Habitus gerade nicht entsprachen und die sich daher häufiger in den sinngenetischen Typen des »Schülers« und des »Fremdlings« finden. Während ein pianistischer »Fisch im Wasser« immerhin die Möglichkeit hatte, auch außerhalb der Spezialschule in solistischer oder kammermusikalischer Form aufzutreten, blieben diese Schüler an die einsame Beschäftigung mit ihrem Instrument gefesselt und wurden kaum dazu animiert, diese Fesseln abzustreifen. Die von dem erwähnten Oboisten so selbstverständlich genutzten Auftrittsmöglichkeiten im Ensemble blieben dieser Gruppe weitgehend verwehrt. Auf die Frage nach Muggen und Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens antwortete eine Pianistin: [Das gab’s] weniger. Also ich weiß, wir haben Schulkonzerte bestreiten müssen. Da weiß ich auch, dass ich eine Mitschülerin damals, die hat Fagott geblasen, begleitet hab, aber sonst? Nee, also Muggen in dem Sinne … – also ich sag mal wir, für uns, das Fußvolk, gab’s das nicht. Wie bei der Geige führte die lange Vorlaufzeit, die beim Klavier vorausgesetzt wurde, dazu, dass es bereits bei Schuleintritt große Leistungsdifferenzen gab, was bei denjenigen, die sich zum Durchschnitt zählten, das Gefühl einer prinzipiellen Uneinholbarkeit begünstigte und das Bewusstsein prinzipiell nicht überwindbarer Typengrenzen verstärkte. Allerdings gab es hier einen entscheidenden Unterschied: Während es für Geiger rein zahlenmäßig in der DDR eine durchaus beträchtliche
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Zahl an guten bis sehr guten beruflichen Positionen im Orchester gab und sich daher ein gutes, mit sich selbst in Einklang stehendes instrumentales Selbstbild in unproblematischer Weise auf eine spätere Berufstätigkeit beziehen konnte, ließ sich das Berufsbild des Pianisten in nur sehr wenigen Fällen mit jener solistischen Tätigkeit in Verbindung bringen, die die Ausbildung so selbstverständlich prägte. Das hatte bei den Pianisten zur Folge, dass der Typ »Fisch im Wasser« nur von jenem kleinen Teil der Schülerschaft ausgefüllt werden konnte, dessen Orientierungsrahmen im Einklang mit dieser Solistenrolle stand – während es bei der Geige durchaus »Fische im Wasser« gab, bei denen bereits während ihrer Schulzeit Klarheit über ihre spätere Rolle als Tuttist bestand. Die größere Exklusivität des Typs »Fisch im Wasser« führte bei den Pianisten dazu, dass sich Vertreter dieses Typs stärker als Ausnahmetalente fühlen und dementsprechend von den »Normalen« abgrenzen konnten, während ein geigender »Fisch« sich eher dem Glauben hinzugeben in der Lage war, auch in rein quantitativer Hinsicht der »eigentliche« Adressat der Spezialschulausbildung zu sein. Umgekehrt hatten dadurch die klavierspielenden »Schüler« vielleicht eher die Möglichkeit, ihre gefühlte Position im Mittelfeld als die auch von Seiten der Schule erwartete Regel zu konzeptualisieren und die wenigen »Fische« als – wie ein Gesprächspartner es ausdrückte – ganz andere Musiker, d.h. als Ausnahme, wahrzunehmen. Bei den Wenigen jedoch, deren Orientierungsrahmen mit dem Habitus des pianistischen Solisten übereinstimmte, gab es – ganz anders als heute – durchaus die Chance, diesen Habitus außerhalb von Schule und Hochschule auch leben zu können. Wer ein sehr guter Pianist war und über einschlägige Wettbewerbserfolge verfügte, konnte durchaus damit rechnen, über die zentrale Künstleragentur der DDR regelmäßig mit Konzerten versorgt zu werden. Für eine sehr kleine Gruppe ausgewählter Künstler hielt das zentralistisch gesteuerte Konzertwesen der DDR den Beruf des Klaviersolisten bereit. Wer das Glück hatte, sich zu dieser Gruppe zählen zu können, musste nach der Wende die schmerzvolle Erfahrung machen, dass dieses Versorgungssystem nicht mehr funktionierte und eine berufliche Existenz als Klaviersolist ohne die Fähigkeit zur Selbstvermarktung schlechterdings nicht mehr zu denken war – was insbesondere diejenigen zu spüren bekamen, die nicht das Glück hatten (oder auch nicht den Wunsch dazu verspürten), in den sicheren Hafen einer professoralen Stellung auf Lebenszeit an einer Hochschule einzumünden: Einerseits ist es natürlich wunderbar, wenn alles für dich gemacht wird. Die Berliner Zentralagentur hätte mich bestückt mit Konzerten, ich hätte irgendwas von der Gage immer abgeben müssen, und dann wäre das so’n Selbstläufer gewesen. Und ich hätte mich voll auf meine Überei und Proberei konzentrieren können. […] Aber das war für mich damals zu DDR-Zeiten noch nicht zwingend, weil ich mich immer noch ganz in der Ausbildung befand. Und meine ganze Kraft, meine ganze Konzentration lag rein auf der musikalischen Seite. Und da hab ich wirklich nicht im Traum dran gedacht, dass ich mich mal irgendwann mit ganz andern Dingen so stark beschäftigen muss. […] Mein erstes Bewerbungsschreiben, an eine Agentur oder an ein Konzert, was hab ich mich gequält! Wie hab ich über Wochen nach den richtigen Sätzen gesucht. Und dann andre … – jeder Weststudent hat einfach geschrieben, was Sache ist, abgeschickt und dann das Konzert bekommen. […] Die haben dort jeden Pups reingeschrieben! Bei Wettbewerben zum Beispiel, beim großen Bach-Wettbewerb in Leipzig: die aus dem Westen kamen, hatten eine ganze Seite Biografie, bap-bap-bap, was die alles gemacht haben oder so,
292 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE mit einem Selbstwertgefühl … Wir dagegen waren ja ausgewählt, was konnten wir reinschreiben? Die Russen, was stand bei denen? Geboren in, ausgebildet bei, Schluss. Und dann ham se gewonnen. Bei denen war’s ja noch extremer als bei uns. Und ich hatte dann auch mal ’ne Phase, wo ich dann dachte: ich bin auch kein junges Talent mehr und geh nicht als Dreißigjähriger mit Achtzehnjährigen in den Kampf um irgendwelche Sachen. Dann muss es irgendwie anders gehen. Und, wie gesagt, jeder x-beliebige Weststudent konnte ja schon eine Demo-CD herstellen. Konnten wir ja nicht, ne? Es gab weder die Möglichkeit noch die Gelegenheit.
4.3.2 Falldarstellungen Wie zu sehen ist, sind mit den einzelnen Instrumenten derart unterschiedliche Herangehensweisen und Erwartungshorizonte verbunden, dass die Vermutung eines Einflusses des jeweiligen Instruments auf die Ausprägung des Orientierungsrahmens nicht abwegig ist. Gemeinsam ist allen Instrumenten die Tatsache, dass sich der Hauptfachunterricht an der Spezialschule mehr oder minder ausschließlich auf die Entwicklung individueller solistischer Expertise konzentrierte. Allerdings unterscheiden sich die einzelnen Instrumente hinsichtlich der Frage, in welchem Umfang sie daneben noch andere Erfahrungsmöglichkeiten mit dem Instrument zuließen. Zudem war trotz der solistisch orientierten Ausbildung nicht mit jedem Instrument eine Orientierung am Berufsbild des Solisten – sei diese nun realistisch oder nicht – verbunden. Wir werden daher im Folgenden zu prüfen haben, wie sich diese unterschiedlichen Fachkulturen auf die sinngenetische Orientierung unserer Gesprächspartner auswirkten. Es geht, bündig formuliert, um die Frage, welche Rolle das jeweilige Instrument bei dieser Orientierung spielte. Bei der Darstellung der einzelnen Typen werden wir zunächst das jeweilige Verhältnis der Gesprächspartner zum solistischen Ausbildungsprofil feststellen und dann fragen, ob und inwieweit dieses Verhältnis etwas mit dem Instrument zu tun hat, wobei wir uns hierbei auf die Kriterien des vergangenen Abschnitts beziehen. Insgesamt lassen sich aus unserem Material drei unterschiedliche Typen ableiten, die in einigen Fällen noch durch Untertypen spezifiziert werden. Typen Ia+ und IaDieser Typ umfasst jene Schülerinnen und Schüler, deren Orientierungsrahmen dem vorgegebenen solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts weitgehend entsprach und die dieses Profil zumindest nach außen hin fraglos akzeptierten. Diese grundsätzliche Passung wurde von Seiten der Schule mit speziellen Fördermaßnahmen belohnt. Diesen Schülern wurde geholfen, den erwarteten solistischen Habitus auch wirklich umzusetzen und in ihr Leben zu integrieren. Die Begeisterung und unbedingte Parteinahme, die die Schüler dieses Typs auch heute noch der Spezialschule als Institution gegenüber an den Tag legen, hängt sicher zu einem großen Teil damit zusammen, dass diese Institution Erlebnisse wie etwa das folgende ermöglichte: Das war im neunten Schuljahr, da gab’s in Dresden diese Schulkonzerte. Da war also der ganze Kulturpalast bis auf den letzten Platz besetzt und da wurden Schulkonzerte abgehalten. Da durfte ich als Spezialschüler das erste Mal mit der Philharmonie spielen, in dem Riesensaal. Also, ich kannte den Saal als Zuhörer, aber da jetzt vor zweieinhalbtausend Leuten zu spielen, das ging einem schon auch irgendwo … Und später habe ich dann noch mal dort gespielt, zum
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gleichen Anlass. Das sind natürlich Erlebnisse, die vergisst man nicht. Das hat unheimlich Spaß gemacht und man hat unglaublich gelernt dabei.
Möglichkeiten wie diese trugen dazu bei, dass der betreffende Geiger die im Hauptfach erwartete Solistenrolle mit seinem Orientierungsrahmen verschmelzen konnte. Es handelt sich hier ganz augenscheinlich um eine Spielart des so genannten »Matthäus-Prinzips« (»Wer hat, dem wird gegeben«), durch das eine einmal bestehende Passung eben weil sie passt belohnt wird, wodurch sich der Abstand zu denjenigen, die weniger passen, zwangsläufig weiter vergrößert. Für denjenigen, der in den Genuss derartiger Fördermaßnahmen kam, ist das natürlich kein Problem – und sollte es auch nicht sein. Wohl kann allerdings gefragt werden, was das für die weniger passenden Schüler bedeutet. Gab es für sie Möglichkeiten, eigene positive Formen des Orientierungsrahmens auszuprägen oder wurden sie permanent auf das »Defizit« ihrer eingeschränkten Passung verwiesen? Dass an der Spezialschule wohl vor allem letzteres der Fall war, zeigt sich neben vielem anderen vor allem an der Tatsache, dass die besonders passenden Schüler im Schulkontext eine Vorbildstellung einnahmen, an denen sich die anderen orientieren sollten. Und zwar nicht nur auf der Ebene des konjunktiven Wissens, sondern ganz explizit. So gab es im Gebäude der Mendelssohnallee eine Tafel mit der Überschrift »Unsere Besten«, auf der die aktuellen Erfolge der »Aushängeschilder« aufgelistet wurden. Zu einem Problem können derartige Gepflogenheiten in dem Moment werden, in dem es für diejenigen, die nicht zu dieser Gruppe dazugehören, weder die Chance gibt, durch eigene Aktivität dorthin vorzustoßen, noch Kompensationsmöglichkeiten vorliegen, durch die sich der Abstand anderweitig ausgleichen lässt. Wie der amerikanische Soziologe (und Cellist) Richard Sennett (2004, S. 49–54) festgestellt hat, geht mit dem Fehlen derartiger Möglichkeiten sowohl eine Neigung zu mangelnder Selbstachtung als auch zu fehlendem Respekt einher – eine Tendenz, die sich durch unser Sample durchaus bestätigen lässt. Wo mit einem Maß gemessen wird, wird automatisch eine Gruppe von Ausgeschlossenen produziert, die das ihnen auferlegte Defizit in irgendeiner Form in ihren Orientierungsrahmen integrieren muss. Es ist wohl kein Zufall, dass sich unser Typ Ia+ aus zwei Geigern und einem Pianisten rekrutiert, denn hier gab es eine besonders stark solistisch orientierte Hauptfachausbildung; auch waren in diesen Fächern aufgrund des großen zeitlichen Vorlaufs die Leistungsdifferenzen bereits zu Beginn der Schulzeit sehr deutlich ausgeprägt, was – wie gesehen – im eher auf Verstärkung denn auf Veränderung ausgerichteten schulischen Erfahrungsraum zu einer Zementierung der Typgrenzen führte. Von diesem Typ Ia+ unterscheidet sich der Typ Ia- lediglich dadurch, dass zwischen der nach außen hin sichtbaren erfolgreichen Orientierung am solistischen Ausbildungsprofil und dem inneren Erleben dieser Orientierung eine Lücke klafft. Obgleich dieser Typ für andere als Musterbeispiel einer gelungenen Passung fungiert, ist er innerlich nicht eins mit dieser Rolle. Und dann bin ich zu dieser Musikbiennale gekommen. Da gab’s ein schönes Konzert, weiß ich noch, und da gab’s irgendeinen Preis, da hab ich dann noch ein Metronom gekriegt dann noch. Dann wurde das auch im Fernsehen übertragen und das war mir dann schon wieder unangenehm, denn da gab’s dann auch so Fotos, das gut erzogene Töchterchen sitzt am Klavier mit
294 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE der großen Haarschleife und so. Und ich wollte da nicht so rumgezeigt werden, das hat mir dann nicht so richtig gefallen, aber war halt so.
Dass sich die Gesprächspartnerin mit der vorgezeichneten Rolle im Grunde nicht identifiziert, sondern in erster Linie von außen an sie herangetragene Erwartungen zu erfüllen versucht, zieht sich wie ein roter Faden durch ihre gesamte Beschreibung der Spezialschulzeit. Es ist interessant, dass diese Orientierung gerade im Zusammenhang mit dem Klavier auftaucht. Denn hier gab es nicht nur – wie bereits erwähnt – eine unangefochtene Dominanz der solistischen Ausbildung; darüber hinaus standen auch gesellschaftlich verankerte Klischees bereit, die diese Ausrichtung von außen sanktionierten. Das von der Gesprächspartnerin selber ins Spiel gebrachte Bild vom gut erzogenen Töchterchen mit der großen Haarschleife am Klavier knüpft an den bürgerlichen Archetyp der höheren Tochter an, der allem Anschein nach auch in einer sich als egalitär verstehenden sozialistischen Gesellschaft eine beträchtliche Wirkungsmacht besaß. Die Gesprächspartnerin stört sich an diesem Klischee, ist aber nicht in der Lage, ihm etwas entgegenzusetzen – wohl vor allem auch deshalb, weil der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule für die Rolle des wohlerzogenen und zugleich leistungsstarken Mädchens am Klavier in hohem Maße empfänglich war. Gerade der Erfolg, der ihr mit dem Ausagieren dieser Rolle beschieden war, scheint dafür verantwortlich gewesen zu sein, dass die Gesprächspartnerin keine Möglichkeit fand, die damit einhergehende Orientierung grundsätzlich in Frage zu stellen. Typen Ib+ und IbTyp Ib+ umfasst jene Gesprächspartner, die dem solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts zwar entsprachen, deren Orientierungsrahmen sich aber mehr auf das gemeinsame Musizieren richtete und daher alle Gelegenheiten nutzte, die der Erfahrungsraum in dieser Hinsicht bot. Zu diesem Typ zählt der oben erwähnte Holzbläser, der im Interview immer wieder auf die gemeinschaftlichen Musiziererlebnisse im Bläserquartett und auf die verbindende Kraft des Jugendsinfonieorchesters zu sprechen kommt. Ebenso rechnen wir hier aber auch jene ebenfalls erwähnte Geigerin dazu, die sich bereits während ihrer Schulzeit innerlich sehr stark mit dem Orientierungsrahmen des Tuttisten im Orchester identifizierte und in ihrem Hauptfachunterricht einen Lehrer hatte, dem sie nachträglich eine sehr starke Berufsbezogenheit zuschreibt. Besonders deutlich wird die Ausrichtung auf gemeinsame Musiziererlebnisse in den folgenden Erinnerungen eines Cellisten. Rein quantitativ nimmt die Schilderung dieser Erlebnisse im Interview einen Raum ein, der mit den Hauptfacherinnerungen vergleichbar ist. Wir hatten auch Kammermusikgruppen, Trios, Duos und natürlich Quartett. Es kam dann peu à peu alles mit dazu. Orchester selbstverständlich auch. Wir hatten aber auch Chor, das war großartig, ja. In den höheren Klassen haben wir dann einen sehr guten Chorleiter gehabt. Wir haben ganz schnell gelernt und dann hatte der ’ne Reihe von zehn Sopranen, die haben alle das hohe C gesungen. Also das war für die überhaupt keine Schwierigkeit. Da hat der natürlich mit uns äh sogar die Matthäus-Passion eingeübt und Bach-Motetten. Und Brahms-Motetten und sowas. Also ganz schwieriges Zeug auch. Wir Jungs haben das von der Stimmenlage her noch
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gar nicht so ausgefüllt, aber der [Chorleiter hat das] einfach gemacht, weil wir die die Werke gut fanden und weil wir das auch schon verstanden haben. Ja, das war zum Beispiel auch so ’ne Erweiterung.
Es ist auffallend, dass sich bei den unter diesem Typ befassten Gesprächspartnern kein einziger Pianist findet. Obgleich natürlich auch die Pianisten am Chor teilnahmen, bleiben die damit verbundenen Erlebnisse bei ihnen unerwähnt. Der Orientierungsrahmen kreist hier derart ausschließlich um die im Hauptfach verlangten solistischen Anforderungen, so dass es für Erinnerungen an die von der Schule bereitgestellten Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens schlechterdings keinen Raum zu geben scheint – selbst wenn es derartige Möglichkeiten gegeben hat. Und wenn dieser Aspekt thematisiert wird, dann bezieht er sich vor allem auf informelle Aktivitäten, die im Freizeitbereich stattfanden. Diesen Typ, der sein Bedürfnis nach gemeinsamem Musizieren nicht in offiziellen Lehrangeboten (wie Kammermusik) erfüllt sieht, sondern mit Situationen des spontanen Drauflos-Musizierens in Verbindung bringt, bezeichnen wir als Typ Ib-. Dass dieser Typ ausschließlich bei Pianisten auftritt, scheint damit zusammenzuhängen, dass der von Seiten der Schule vorgegebene Orientierungsrahmen in diesem Fach besonders ausschließlich solistisch geprägt war und Alternativen nur im Freizeitbereich zuließ. Typen Ic+ und IcWährend Typ Ia das solistische Profil des Hauptfachs – sei es freiwillig oder fremdbestimmt – in seinen Orientierungsrahmen integriert und Typ Ib seinen Fokus dagegen eher auf die gemeinsamen musikalischen Aktivitäten neben dem Hauptfach lenkt, gibt es eine große Gruppe von Schülerinnen und Schülern, die zwar – wie Typ Ia – die solistische Orientierung des Hauptfachs für sich übernimmt, ohne die damit verbundene Rolle aber innerlich ganz auszufüllen; eine Kompensation dieser Rollendiskrepanz durch eine Konzentration auf die Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens ist, anders als dies bei Typ Ib der Fall ist, nicht zu erkennen. Wir differenzieren innerhalb dieser Gruppe nochmals zwischen den Spielern, die vor allem deshalb keine musikalischen Alternativen zum solistisch orientierten Hauptfachbereich suchen, weil ihre Interessenlage während ihrer Spezialschulzeit sowieso nicht derart stark auf die Musik ausgerichtet war, als dass andere Formen des Musizierens von ihnen gezielt gesucht worden wären (Ic+), und jenen Schülern, die wegen des von ihnen empfundenen Leistungsrückstandes so sehr auf das Hauptfach und dessen Anforderungen fokussiert waren, dass eine Hinwendung auf Ensembleaktivitäten schlechterdings außerhalb ihres Wahrnehmungsbereiches lag (Ic-). In diesem Typ Ic gibt es naturgemäß keine wesentlichen instrumentenspezifischen Unterschiede: Wenn, im Falle von Ic+, das Interesse für das Hauptfach den eigenen Orientierungsrahmen sowieso nur bedingt prägt, spielt es keine nennenswerte Rolle, um welches Instrument es sich handelt. Und die Tatsache, dass im Falle von Ic- ein empfundener Leistungsrückstand die Entwicklung alternativer Aktivitäten, die diesen Rückstand anderweitig kompensieren hätten können, schlichtweg unmöglich gemacht hat, ist ein Kennzeichen, das für alle Instrumentengattungen an der Spezialschule galt. Allerdings scheint es sich bei der Violine besonders häufig gezeigt zu haben. Das lässt sich auch an den Ergebnissen unseres Fragebogens ablesen. Auf die Frage »Hatten sie jemals Sorge, den Anforderungen im Hauptfach nicht zu genü-
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gen?«, antworteten insgesamt 33 % der Befragten mit »häufig« oder »immer« (n=112); bei den Geigern (n=36) waren es hingegen 47,2 %! Interessanterweise, und auf den ersten Blick nicht ganz in unsere Argumentation passend, liegt der einschlägige Wert bei den Pianisten (n=21) deutlich niedriger als der Durchschnittswert; hier waren es nur 19 %, bei denen diese Sorge häufig oder immer ausgeprägt war. Erklärbar ist dieser auffallend niedrige Wert bei den Pianisten allerdings, wenn wir bedenken, was wir oben als spezifisches Kennzeichen der Klavierausbildung herausgearbeitet haben: Da beim Klavier der sinngenetische Typ des »Fisches im Wasser« einen echten Ausnahmestatus implizierte, gab es hier auch von Seiten der Schule anscheinend eine stärkere Orientierung am Typ des »Schülers« – nicht die kaum erreichbaren Leistungen des »Fisches im Wasser«, sondern das demgegenüber tendenziell defizitäre Profil des sinngenetischen B-Typs war der Orientierungspunkt der Ausbildung. Gerade weil die vollständige Passung zum konjunktiven Erfahrungsraum im Klavier eine seltene Erscheinung war, konnte sich das Bewusstsein etablieren, dass auch eine eingeschränkte Passung im Hauptfach »noch gut genug« war. Dadurch wurde es den »durchschnittlichen« Schülern leichter gemacht, ihre Leistungen als kompatibel zu den gefühlten Anforderungen des konjunktiven Erfahrungsraums zu empfinden. Das Gefühl, diesen Anforderungen nicht entsprochen zu haben, scheint sich dann folgerichtig vergleichsweise seltener eingestellt zu haben. Pointiert ließe sich sagen, dass gerade die einseitige Orientierung an einem nur den Wenigsten erreichbaren solistischen Ausbildungsprofil im Falle des Klaviers zur Herausbildung eines Typs geführt hat, der an seiner Rolle als »Durchschnitt« sein Genügen fand. Ein eindrückliches Beispiel dafür, auf welche Weise das Bestreben nach Exzellenz vor allem einen sich als durchschnittlich empfindenden Orientierungsrahmen hervorbringt. 4.3.3 Diskussion Wir können nun die soziogenetische Typologie zur Dimension des Instruments mit unseren sinngenetischen Typen in Verbindung setzen: Sinngenetischer Typ Fallnummer
A »Fisch im Wasser« 1
2
3
4
5
A/B Mischtyp 6
B »Schüler« 7
8
9
C »Fremdling« 10 11 12 13 14
Soz. Typ Beruf der Eltern (B)
Ba Ba Ba Ba Ba
Bc
Bc Bc Bd Bd Bb Ba Bc Be
Soz. Typ Elternhaus (E)
Ea+ Ea+ Ea+ Ea+ Ea+
Eb+
Eb+ Eb+ Eb+ Eb+ Ea- Ea- Eb- Ec
Soz. Typ Unterricht vor Spezial- Ua Ua Ua' Ua' Ub schule (U)
Ua'
Ub Ub Ub Ub Ua' Ub Uc Uc
Soz. Typ Instrument (I)
Hb Ib+
Kl Vl Kl Vl Vl Kl Vc Vl Ib- Ic+ Ib- Ic+ Ic- Ia- Ic- Ic-
Vl Kl Vc Vl Vl Ia+ Ia+ Ib+ Ib+ Ia+
(Vl=Violine, Kl=Klavier, Vc= Violoncello, Hb=Holzbläser, hier Oboe)
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Ia+: Ia-: Ib+:
Ib-:
Ic+:
Ic-:
Orientierungsrahmen entspricht dem vorgegebenen solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts. Zwischen der nach außen hin sichtbaren erfolgreichen Orientierung am solistischen Ausbildungsprofil und dem inneren Erleben dieser Orientierung klafft eine Lücke. Dem solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts wird zwar entsprochen, der Orientierungsrahmen richtet sich aber mehr auf das gemeinsame Musizieren und nutzt alle Gelegenheiten, die der Erfahrungsraum in dieser Hinsicht bietet. Dem solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts wird eher widerwillig entsprochen, der Orientierungsrahmen richtet sich mehr auf das gemeinsame Musizieren. Dieses Bedürfnis wird aber nicht durch offizielle Lehrangeboten (wie Kammermusik) befriedigt, sondern ist eher an Situationen des spontanen Drauflos-Musizierens gekoppelt, die sich abseits des eigentlichen Schulbetriebs ereignen. Dem solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts wird nur widerwillig entsprochen; wegen einer grundsätzlich anderen (nicht musikbezogenen) Interessenslage werden aber keine musikalischen Alternativen gesucht. Dem solistischen Ausbildungsprofil des Hauptfachunterrichts wird nur widerwillig entsprochen; wegen eines deutlich empfundenen Leistungsrückstandes im Hauptfach rücken andere gemeinschaftliche musikalische Aktivitäten nicht in den Fokus.
Die Gegenüberstellung zeigt insgesamt drei besonders auffällige Aspekte: 1) Um zum Typ des »Fisches im Wasser« zu gehören, war eine einseitige Ausrichtung auf die solistischen Inhalte der Ausbildung nicht zwangsläufig notwendig. Eine Orientierung in Richtung des Typs Ib+ scheint es aber nur bei den Streichern (insbesondere den Cellisten) und möglicherweise auch bei den Bläsern, nicht aber bei den Pianisten gegeben zu haben. 2) Unter der Orientierung Ic-, die mit dem sinngenetischen Typ des »Fremdlings« einherzugehen scheint, findet sich in unserem Sample kein Pianist, was dafür spricht, dass in diesem Fach gerade wegen seiner unangefochten solistisch dominierten, und daher nur auf die Wenigsten passenden Ausbildungskultur notgedrungen eine stärkere Orientierung am Durchschnitt vorherrschte, was dann als Nebeneffekt dazu führte, dass das Gefühl, leistungsmäßig nicht mithalten zu können, weniger stark als in anderen Fächern (vor allem der Geige) ausgeprägt war. 3) Der Vergleich mit dem soziogenetischen Typ »Unterricht vor der Spezialschule« zeigt, dass eine Orientierung, die sich auf die von der Spezialschule genutzten Möglichkeiten gemeinsamen Musizierens richtete (Ib+), mit einer ausgeprägten instrumentalen Bedeutsamkeitserfahrung vor der Spezialschule einhergeht. Wer diese vorgängige Bedeutsamkeitserfahrung nicht hatte, scheint die von der Schule bereitgestellten Möglichkeiten – von denen der mehrfach zitierte Cellist (Ib+) begeistert spricht – nicht wahrgenommen zu haben. Da der soziogenetische Typ Ub auf diese Dimension des Musizierens nicht eingestellt war, konnte er die existierenden Angebote nicht nur nicht wirklich nutzen, sondern scheint sie regelrecht übersehen zu haben. Wenn man im Sinne der ökologischen Kognitionstheorie von James J Gibson davon ausgeht, dass die menschliche Wahrnehmungsstruktur in hohem Maße davon geprägt ist, inwieweit sie in der Lage ist, in ihrer Umwelt Aufforderungen (Affordanzen) wahrzunehmen (vgl. Gibson 1982), die ihr ein passgenaues Operieren ermöglichen, so kann man vielleicht sagen, dass die Gesprächspartner vom Typ Ub schlechterdings nicht in der Lage waren, derartige Angebote zu erkennen. Und das weist
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wiederum darauf hin, dass der konjunktive Erfahrungsraum der Spezialschule kaum dazu geeignet war, bestehende Orientierungen im Sinne einer Habitustransformation wirklich zu verändern.
4.4 P ROZESSANALYTISCHE T YPENBILDUNG – B ERUFLICHE S ITUATION HEUTE Wir schließen unsere Falluntersuchungen mit einer Frage ab, die kein Gegenstand soziogenetischer Annäherung mehr ist. Wir wollen nämlich wissen, ob und in welcher Form sich der an der Spezialschule herausgebildete sinngenetische Orientierungsrahmen unserer Gesprächspartner im Laufe ihrer Biografie verändert hat. Diese Frage ist natürlich vor allem deshalb keine genuin soziogenetische, weil der Begriff der Soziogenese auf die Entstehungsbedingungen des sinngenetischen Orientierungsrahmens abzielt und nicht auf dessen weitere Entwicklung. »Elternberufe«, »Familienstil«, »Instrumentalunterricht vor der Spezialschule« und »Instrument« sind Kategorien, mit denen sich der Geltungsbereich der sinngenetischen Typologie präzisieren lässt; sie zeigen die Mehrdimensionalität an, innerhalb derer sich die impliziten Regeln des konjunktiven Erfahrungsraumes herauskristallisierten. Die weitere Entwicklung des jeweiligen Orientierungsrahmens ist dagegen bestenfalls eine Folge, gewiss aber keine Entstehungsbedingung dieses Rahmens. Was uns dazu veranlasst hat, diese Frage an dieser Stelle aufzunehmen und mit der sinn- bzw. soziogenetischen Typenbildung in Bezug zu setzen, ist die theoretische Überlegung, dass Schule – wie jede Form der Erziehung – immer auf die Zukunft abzielt. Was eine Schulkultur ist, lässt sich daher nicht allein auf die Rekonstruktion eines in der Vergangenheit liegenden Erfahrungsraumes reduzieren, sondern muss jene Dimension reflektieren, die letztlich die zentrale Bestimmung jeder schulischen Bildung darstellt: die Erschließung und Ermöglichung von Zukunft. Gerade deshalb haben wir uns auch gescheut, unsere Gesprächspartner – wie es in der historischen Forschung üblich ist – als »Zeitzeugen« zu bezeichnen, denn dieser Begriff wird von der Annahme einer mehr oder minder abgeschlossenen Vergangenheit getragen, die im Gespräch nachträglich »bezeugt« wird. Stattdessen fragen wir, ob und inwieweit der an der Spezialschule herausgebildete sinngenetische Orientierungsrahmen in irgendeiner Form auch im gegenwärtigen Leben und somit auch in der aktuellen Interviewsituation erkennbar ist. Wir ergänzen damit den soziogenetischen Blickwinkel um eine prozessanalytische Betrachtung, bei der wir mittels komparativer Analyse die uns vorliegenden Orientierungsrahmen in Hinblick auf Aspekte wie Tradierung, Wandlung oder Transformation untersuchen (vgl. hierzu von Rosenberg 2014, S. 168). Es geht bei dieser Untersuchung nicht so sehr um die Frage, ob und welche Wandlungen bzw. Transformationen die Interviewten generell in ihrem Leben vollzogen haben. Vielmehr versuchen wir jene Spuren zu rekonstruieren, die der im Elternhaus gebildete und dann an der Spezialschule verstärkte musikbezogene Habitus in der weiteren Biografie hinterlassen hat. Dass wir diese Frage überhaupt so stellen können, hängt mit unserem spezifischen Forschungsgegenstand zusammen, der sich in dieser Hinsicht deutlich vom Gegenstand jener erziehungswissenschaftlichen
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Längsschnittstudien unterscheidet, die ebenfalls den Einfluss familiärer und schulischer Prägungen für das weitere Leben der Interviewten untersuchen. Müssen diese Studien von der Tatsache ausgehen, dass sich die Schulzeit von späteren Lebensphasen (Studium, Berufsfindung, Beruf) in struktureller und inhaltlicher Hinsicht zunächst einmal kategorial unterscheidet, so ist in Hinblick auf die Spezialschulausbildung festzustellen, dass hier bereits während der Schulzeit ein ganz spezifischer professioneller Orientierungsrahmen eingeübt und gefestigt wurde, der von seinem Anspruch her auf eine unmittelbare Berufsfähigkeit und damit auf die Etablierung von Wahrnehmungs- und Handlungsstrukturen abzielte, die zumindest idealiter für das ganze weitere Berufsleben Relevanz beanspruchten. In Hinblick auf die berufliche Zukunft der Schüler wurde an der Spezialschule davon ausgegangen, dass der gewünschte Orientierungsrahmen der Schüler ohne nennenswerte Wandlungsprozesse für die gesamte spätere Berufstätigkeit Gültigkeit besitzen sollte. Gerade deswegen scheint es unerlässlich, die Frage zu stellen, ob und inwieweit dieser Anspruch in der Biografie der Befragten dann auch eingelöst wurde. Die Möglichkeit eines weitgehend unveränderten Weiterbestehens des in der Schule gebildeten Orientierungsrahmens ist nicht ohne die gegenteilige Frage zu diskutieren, nämlich aufgrund welcher Gesetzmäßigkeiten sich ein Wandel oder gar eine Transformation des Orientierungsrahmens theoretisch erklären lässt. Mit dieser Frage, die bislang u.a. von Florian von Rosenberg, Hans-Christoph Koller und RolfTorsten Kramer theoretisch und empirisch reflektiert wurde (vgl. von Rosenberg 2011; 2014; Koller & Wulftange 2014; Kramer et al. 2013), berühren wir eine Diskussion, die im Zusammenhang mit dem Habitusbegriff Bourdieus (der ja die wesentliche Grundlage der Orientierungsrahmenkonzeption darstellt) immer wieder erörtert worden ist. Generell herrscht in der Fachdiskussion Übereinstimmung bezüglich der Einschätzung, dass Bourdieu selbst diese Möglichkeit zwar nicht verneint, ihr aber keinen systematischen Platz in seiner Forschung eingeräumt hat. Das hängt u.a. damit zusammen, dass es ihm generell weniger um die konkreten Entstehungsbedingungen des Habitus und damit zwangsläufig auch nicht um dessen mögliche Entwicklung im Rahmen einer individuellen Biografie ging. Statt einer soziogenetischen Herleitung des Habitus steht im Zentrum seines Forschungsansatzes eine »kausalgenetische« Korrelation, die einen Zusammenhang zwischen der Position eines Menschen im sozialen Raum und seiner habituellen Wahrnehmungsweise postuliert (vgl. Bohnsack 2013). Wie diese Wahrnehmungsweise konkret entsteht, wird dabei ebenso wenig expliziert wie die Frage nach einer möglichen Veränderbarkeit. Allerdings gibt Bourdieu gerade durch seine Bestimmung des Habitus als einem »praktischen Sinn«, dessen Struktur sich unbewusst an die Bedingungen des ihn umgebenden Feldes anpasst, einen indirekten Hinweis auf eine mögliche Wandlungs- oder gar Transformationsfähigkeit. Was, wenn sich die Bedingungen eines Feldes im Laufe einer geschichtlichen Entwicklung plötzlich so verändern, dass der Habitus, der ursprünglich perfekt auf die Spielregeln des Feldes abgestimmt zu sein schien, sich nun in einer Situation wiederfindet, in der er plötzlich nicht mehr zu der Umgebung, die ihn ursprünglich geprägt hat, passt? Bourdieu selbst hat diese Situation der NichtPassung mit einem Hinweis auf die literarische Figur des Don Quichotte thematisiert. So wie dieser nach der übermäßigen Lektüre von Ritterromanen überall in seiner Umgebung Anzeichen eines Rittertums erblickt, das doch in Wahrheit gar nicht mehr existiert, so kann sich auch der Habitus in einer Situation wiederfinden, in der sich
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die Feldbedingungen, aus denen er hervorgegangen ist, so gewandelt haben, dass eine gleichsam natürliche Passung nicht mehr gegeben ist (vgl. Bourdieu 1993, S. 116; Kramer 2012, S. 54). Gerade die Tatsache, dass der Habitus als eine strukturierende Struktur sich stets aufs Neue zu reproduzieren sucht, gerade seine fundamentale Trägheit lässt damit aber die theoretische Möglichkeit einer Wandlung oder gar einer Transformation zu. Denn wenn die Passung zum jeweiligen Feld als eigentlicher Motor der Habitusprägung fungiert, dann müssten geänderte Feldbedingungen mit einer gewissen Verzögerung auch zu einer habituellen Veränderung führen können. Nicht ein subjektivistisch-individuell motivierter Bildungsprozess, dessen Möglichkeit in einem grundsätzlichen Widerspruch zur Bourdieu’schen Habituskonzeption steht, sondern gerade die sich aus der Trägheit des Habitus ergebende Beharrungstendenz wäre damit die eigentliche Grundlage von Entwicklungsprozessen. In eben diesem Sinne sieht Markus Rieger-Ladich in dem Zwang, »auf die sich stetig verändernden Felder reagieren zu müssen«, zugleich die Notwendigkeit angelegt, »dass sich auch der Habitus – wenngleich in einer anderen zeitlichen Dimension – fortwährend transformiert.« (Rieger-Ladich 2005, S. 291; von Rosenberg, S. 81) Dass diese hier angedeutete Möglichkeit einer Habituswandlung keine bloße theoretische Überlegung darstellt, sondern gerade für unseren Untersuchungsgegenstand eine beträchtliche Relevanz besitzt, wird offenkundig, sobald man bedenkt, dass die Zukunft, auf die die Spezialschule ihre Schülerinnen und Schüler vorbereitete, sich mit der Wende plötzlich in einem gänzlich anderen Licht darstellte. Die scheinbar stabilen Feldbedingungen, in die das Ausbildungssystem zu DDR-Zeiten eingebunden war, verloren mit der Wiedervereinigung ihre Selbstverständlichkeit. In welchem Maße diese grundsätzliche Verschiebung der Feld-Koordinaten den Orientierungsrahmen unserer Gesprächspartner im weiteren Verlauf ihrer Biografie beeinflusste, lässt sich innerhalb unseres Samples in vielfältiger Form nachverfolgen. Im Anschluss an diese hier kurz skizzierten Bourdieu’schen Überlegungen hat Florian von Rosenberg noch zwei weitere Möglichkeiten angedeutet, mit denen sich eine Veränderung des Habitus, sei es als Wandlung, sei es als Transformation, theoretisch erklären lässt (vgl. von Rosenberg 2011, S. 76 ff.). Neben der gerade erwähnten fortwährenden Verschiebung der Relation zwischen Habitus und Feld nennt er die Aspekte der »Mehrdimensionalität« und der »Iterabilität«. 1) Mehrdimensionalität: Die in unserer Studie entfalteten soziogenetischen Kategorien zeigen, dass sich der an der Spezialschule geprägte sinngenetische Orientierungsrahmen aus unterschiedlichen Teil-Orientierungen zusammensetzte, die sich keineswegs widerspruchsfrei zueinander verhalten müssen. Ein Schüler wurde ja nicht allein durch die Schulkultur der Spezialschule geprägt, sondern stammte aus einem bestimmten Milieu, war in einen spezifischen Familienstil eingebunden, besaß ein einschlägiges, durch den vorangegangenen Instrumentalunterricht herausgebildetes Selbstverständnis als Musiker und war Teil einer instrumentenspezifischen Lernkultur, die sich von den Lernkulturen anderer Instrumente durchaus unterschied. Jede dieser Dimensionen besitzt eine »Eigenlogik«, weshalb, so von Rosenberg (2011, S. 79), »innerhalb eines mehrdimensionalen Praxisgefüges immer wieder differente, potenziell widerstreitende Logiken der Praxis angelegt sind.« Exemplarisch sei dies noch einmal anhand des Parameters »Instrument« verdeutlicht«: Ein Blick auf unsere soziogenetische Tabelle zeigt, dass sich die Fälle 1 und 2 restlos gleichen – bis auf die Orientierungen, die durch die unterschiedlichen Lernkulturen in der Violine und
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dem Klavier definiert wurden. Das Einzelkämpferinstrument Klavier scheint eine eher exklusive, auf Abgrenzung bedachte Ausprägung des Typs »Fisch im Wasser« begünstigt zu haben. Begreift man aber in diesem Sinne den Orientierungsrahmen als ein mehrdimensionales, hybrides Gebilde, so besteht die theoretische Möglichkeit, dass die Parameter, aus denen er sich zusammensetzt, unter bestimmten äußeren Bedingungen auch in Widerstreit zueinander geraten können und damit zu Veränderungen führen: »Ein mehrdimensional strukturiertes Habituskonzept [bietet] durch Differenzpotenziale Möglichkeiten zur Habitustransformation, insofern in der Differenz immer auch die Möglichkeiten einer Wandlung angelegt sind.« (Ebd.) Genau das werden wir anhand des Falles 2 gleich zeigen. 2) Iterabilität: Wenn man im Anschluss an Markus Rieger-Ladich den Habitus nicht als determinierendes oder gar fatalistisches, sondern im Gegenteil als ein einer permanenten Dynamik unterworfenes Prinzip versteht (vgl. Rieger-Ladich 2005), dann lässt sich hiervon ausgehend eine Brücke zu der von Jaques Derrida entwickelten Denkfigur der différance ziehen: Danach wäre das, was wir wahrnehmen, wenn wir einen Habitus wahrnehmen, nie die reale Präsenz dieses Habitus selbst, sondern immer nur dessen Wiederaufführung. Eine Wiederaufführung ist aber dadurch gekennzeichnet, dass sie sich immer in Details vom ursprünglichen Entwurf unterscheidet. Durch die zeitliche Differenz (die Derrida mit dem Neologismus der différance bezeichnet), die zwischen dem ursprünglichen Habitus und seiner jeweiligen Wiederaufführung liegt, kann es zu andersartigen Wiederholungen und damit auch zu Veränderungen des ursprünglichen Entwurfs kommen. Von Rosenberg beruft sich hierbei zugleich auch auf Judith Butler, die unter Rückgriff auf Derrida an Bourdieu kritisierte, dass er »das Merkmal der Iterabilität nicht berücksichtigt und deshalb die Temporalität oder Logik der Performativität« aus seinen Überlegungen ausgeschlossen habe (vgl. von Rosenberg 2011, S. 80; Butler 1998, S. 213). Auch dieses Merkmal werden wir in der exemplarischen Diskussion des Falles 2 beobachten können. Es wird sich zeigen, dass es durch den Aspekt der Wiederholung – hier: den Zwang zu einer ständigen Wiederaufführung des Orientierungsrahmens, also dem ständigen Sich-Beweisen-Müssen als freiberuflicher Solist – im Laufe des Lebens zu einer deutlichen Veränderung dieses Orientierungsrahmens kommt. 4.4.1 Fall 2 als Musterbeispiel einer Prozessanalyse Wie wir unserer sinn- und soziogenetischen Tabelle entnehmen können, repräsentierte der Fall 2 an der Spezialschule ganz eindeutig den Typ »Fisch im Wasser«. Mit der Wiedervereinigung veränderten sich für den Gesprächspartner jedoch die Rahmenbedingungen, innerhalb derer er seine nunmehr freiberufliche Tätigkeit ausübte, dramatisch. Plötzlich sah er sich in eine Situation gestellt, in der er selbstständig für die Organisation seiner Konzerte verantwortlich war und Strategien der Selbstvermarktung entwickeln musste, was ihm vorher vollständig fremd gewesen war. Da er aber dennoch den an der Spezialschule erworbenen solistischen Orientierungsrahmen nicht in Frage zu stellen bereit war, kam es mit der Reproduktion dieses Orientierungsrahmens unter geänderten Bedingungen zum zunehmenden Empfinden einer Kluft zwischen diesem Rahmen und dem ihn umgebenden Feld. Diese Kluft äußert sich im Interview in einer zwar immer wieder zugedeckten, aber doch unübersehbaren Unzufriedenheit mit seinen gegenwärtigen Existenzbedingungen als freiberufli-
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cher Musiker. Diese Unzufriedenheit bezieht sich nicht nur auf die von ihm als wesensfremd empfundene Notwendigkeit der Selbstvermarktung, sondern paart sich mit einer generellen Trauer darüber, dass die musikalischen Werte, für die er brennt, vom Publikum nicht mehr ohne weiteres geteilt werden: Ich kann diesen Musikerberuf heutzutage nicht mehr empfehlen. Und ich bewundere die jungen Leute mit ihrem Enthusiasmus und mit dem Noch-nicht-Wissen, was auf sie zukommen könnte. Ich will ihnen auch nicht die Freude nehmen, aber … Und ich weiß auch nicht, was in zwanzig, dreißig Jahren passiert, ob es noch mal eine Renaissance gibt für all diese Dinge, ob auch das Publikum, was ja uralt ist, was ja mit uns veraltet, wo ich immer denke: irgendwann gibt’s die ja nicht mehr, also ich sehe in unseren Konzerten keine jungen Leute, nicht mal die Studenten kommen hin. Was machen wir denn falsch? So alt sind wir doch noch nicht. Und irgendwas muss doch die Musik noch aussagen, was auch junge Leute anspricht, ne? Also, die Leute sterben aus und was ist dann? Kommt der große Knall oder ist das eine Kunstform, die überhaupt nichts mehr mit diesem Leben zu tun hat? Die sich ja in ganz andre Richtung konzentriert, medial überfrachtet und so. […] Hat das überhaupt noch einen Sinn, das weiter zu machen? Also für mich stellt sich die Frage nur mit Weitblick für die nächste Generation. Ich versuche nur, ganz egoistisch mein Leben jetzt noch so angenehm wie möglich zu gestalten, dass ich mich wirklich nicht verleugnen muss, dass ich die (…) Dinge, die man mir mitgeteilt hat, im Studium, in der Spezialschule und vorher durch meine Eltern, dass die irgendwie noch relativ sauber bis zum Ende durchkommen. Dann nach mir die Sintflut, ne?
Diese Passage mutet stellenweise wie ein Epilog an. Der Gesprächspartner, obgleich erst mittleren Alters, hält Rückschau und lässt dabei kaum Impulse erkennen, die sich auf eine aktive Gestaltung von Zukunft beziehen. Charakteristisch für seinen gegenwärtigen Orientierungsrahmen ist die Errichtung einer Differenz zwischen seiner beruflichen Existenz als Musiker, die er relativ sauber bis zum Ende führen möchte, und seinem Privatleben, das er ganz egoistisch noch so angenehm wie möglich zu gestalten versucht. War der Orientierungsrahmen des »Fisches im Wasser« an der Spezialschule dadurch gekennzeichnet, dass zwischen diesen beiden Bereichen gerade kein Gegensatz bestand und auch die Ebene der privaten Beziehungen auf das Engste mit der Existenz als Musiker verwoben war, so eröffnet sich nun eine Kluft zwischen Beruf und Freizeit, wobei der Freizeitbereich gerade dadurch charakterisiert ist, dass in ihm das Berufliche komplett ausgeblendet wird: Und dann wohnste in so ’nem Haus und hast auch mit dem Garten zu tun, und da fehlt dir [die Musik] auch nicht. Da brauch ich jetzt nicht noch Gedudel zum Rasenmähen oder so. Da reicht’s mir, wenn ich die Vögel höre oder die Flugzeuge starten, auch mal andre Geräusche. Lesen tu ich wenig, ich guck viel fern, auch viel Mist, das geb ich zu. Dann bin ich viel am Computer beschäftigt und wenn ich raus gehe und wenn ich im Urlaub bin oder mal ’nen Tag frei hab oder ein Wochenende: das macht mir Spaß, so kleine Sachen zu organisieren. Wo man auch so verschiedene Sachen hat, also ein schönes Essen, was Schönes zum Angucken, ’ne schöne Landschaft, ’n schönes Schloss oder irgendwas so. Und da komm ich lieber von so ’nem Tag zurück, als hätt ich mich jetzt hier wieder noch mit Musik beschäftigt. […] Man kann über Musik so viel reden. Jeder empfindet das anders und jeder nimmt das anders auf, jeder hört das anders und das ist sowieso schon so’n Haifischbecken, du wirst manchmal in Kritiken da zerrissen, wo du gar nicht weißt, was hast du den Leuten nur ange-
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tan? Einer verreißt dich. Und der hat dann auch noch das Recht und die Zeitung, das zu setzen. Und über die Jahre denkst du dann: Was sein muss, muss sein, aber nicht noch mehr. Und andre Leute, die können nicht genug davon kriegen. Hab ich auch Kollegen. Die hören nicht auf, von früh bis abends von Musik zu erzählen, Musik zu konsumieren, nach ihrem Dienst noch irgendwo hin zu gehen, ihre Kinder da auszubilden, mit denen dann nicht [etwa] in den Urlaub zu fahren, sondern noch in ein Orchesterlager. Ich würde die Krise kriegen. Aber das muss jeder für sich entscheiden. Die können das und denen tut das auch nicht weh und die wollen das und die brauchen das. Alles wunderbar. Aber ich habe es gehabt und will nicht mehr. Und da hat im Prinzip auch mal ein Tag zwei Seiten und das find ich wunderbar. Und die schönsten Reisen sind die, wo ich keine Noten mitnehmen muss. Das ist wirklich schön so.
Dieser neue Orientierungsrahmen hängt zumindest mittelbar mit der Dimension des Instruments zusammen. Wäre der Gesprächspartner etwa als Geiger in ein Orchester eingetreten, so würde sich seine gegenwärtige Situation für ihn vermutlich deutlich anders darstellen. Zwar wäre auch dort eine Kluft zwischen Beruf und Privatleben denkbar. Doch sie hätte nicht dieselbe Radikalität: Denn als Solist kann es sich der Gesprächspartner im Grunde nicht erlauben, sein künstlerisches Tun im Sinne eines bloßen Berufes zu betreiben: Deutlich stärker als bei einem Orchestermusiker wird von ihm erwartet, dass sein Künstlertum seine gesamte Existenz umgreift; die von ihm vollzogene Trennung zwischen Beruf und Privatleben steht in einem Konflikt mit dem Erwartungshorizont, der sich an einen Solisten richtet. Hier ist es im Laufe der Biografie dazu gekommen, dass die Dimension des Instruments ein Eigengewicht entwickelte, denn als Pianist gibt es für den Gesprächspartner keine wirklichen Alternativen zum Orientierungsrahmen des konzertierenden Musikers, der ihm mit zunehmendem Alter anscheinend immer weniger als eine Bestimmung denn vielmehr als eine Last erscheint (die Möglichkeit des Unterrichtens schließt er kategorisch für sich aus). Die erwähnte Mehrdimensionalität hat in seinem Falle also dazu geführt, dass sich der an der Spezialschule noch weitgehend mit Fall 1 (Geige) deckende Orientierungsrahmen plötzlich in eine ganz neue Richtung entwickelt. Das lässt sich im Interview besonders signifikant an der Tatsache ablesen, dass der Gesprächspartner den Orientierungsrahmen der Orchestermusiker nun ganz explizit zum negativen Gegenhorizont erhebt. Insbesondere die Musiker der Staatskapelle erscheinen ihm als satte Leute, die gar nicht wissen, worauf es eigentlich ankommt. Weißte? Ich verkauf hier meine Haut bei jedem Konzert und die können sich dort … die reißen den Mund auf und können sich dort …, also wie ’ne Schulklasse …, weißte? Im Verbund ist man babababa (imitiert Gespräch) und so, aber wenn du die einzeln raus nehmen würdest: so klein mit Hut, ne? Und die wollen mir manchmal auch erklären, wie’s Leben ist, und dann sag ich mir: »Lebt mein Leben, dann wisst ihr, was es bedeutet.« Freiberuflich. Um jedes Konzert zu kämpfen, da wird nicht alles hier vorgelutscht und dann fahrt ihr schön in der Welt rum, ne? Und seid hier die Größten. Und so. Hat alles so seine zwei Seiten.
Und schließlich lässt sich neben der geänderten Relation zwischen Feld und Habitus und der Mehrdimensionalität auch das Kriterium der Iterabilität in diesem Interview erkennen. Durch den Zwang, seinen Orientierungsrahmen als Konzertpianist mit jedem Konzert aufs Neue beweisen (= wiederholen) zu müssen, kommt es zu dessen Veränderung: Am künstlerischen Tun, das zuvor das unbefragte Zentrum seines Le-
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bens gebildet hatte, werden zunehmend die Schattenseiten wahrgenommen. Die ständige »Wiederaufführung« des Orientierungsrahmens führt beim Gesprächspartner zu einer gewissen Müdigkeit, aus der eine Sehnsucht nach Neuem erwächst, die freilich nicht so konsequent beschritten würde, dass der bislang dominierende Orientierungsrahmen nun kategorisch in Frage gestellt würde. Der neue Orientierungsrahmen des Gesprächspartners lässt sich in zweifacher – und durchaus gegenläufiger! – Hinsicht als Folge eines mit der Wende einher gegangenen gesellschaftlichen Individualisierungsschubes interpretieren: Zum einen verrät er eine tiefsitzende Unzufriedenheit mit einer gesellschaftlichen Situation, in der der freiberufliche Künstler gänzlich auf sich gestellt ist und es keine Strukturen mehr gibt, die ihm quasi automatisch Konzertmöglichkeiten und das entsprechende Publikum sichern. Der Gesprächspartner beantwortet sein Leiden an einer sich zunehmend individualistisch ausdifferenzierenden Gesellschaft aber nun gerade dadurch, dass er von einer anderen Spielart der Individualisierung Gebrauch macht, indem er nämlich seine Privatsphäre zum Ort seiner persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten erhebt. Zusammengenommen führen beide Tendenzen bei ihm zu einer strikten Dichotomie zwischen Beruf und Privatsphäre, mithin zu einer Wandlung seines Orientierungsrahmens von einem »Fisch im Wasser« hin zu einem Nebeneinander zweier unterschiedlicher Lebensformen, zwischen denen hin- und hergesprungen wird. Der Orientierungsrahmen der Spezialschule wird weder weiterentwickelt noch abgestreift, aber er bezieht sich nur noch auf einen Teilbereich. Und eben, weil er nicht mehr das Ganze umfasst, verändert er sich: Er stellt nunmehr keinen Ort der Berufung, sondern eher einen der Existenzsicherung dienenden Beruf dar. Weil er nicht mehr selbstverständlich die gesamte Existenz umgreift, verlagert er sich von seiner quasi unangefochtenen Mittelpunktposition an die Peripherie. Aus dieser Perspektive heraus wird die Ausbildungszeit an der Spezialschule zu einem untergegangenen Vineta verklärt – in ihr manifestiert sich eine versunkene Welt, die als ein positiver Gegenhorizont affirmativ heraufbeschworen wird und an der sich das Defizitäre der aktuellen Situation erweist. An dieser Stelle sei ein kurzer Exkurs eingeschaltet, der an die im Methodenkapitel angerissene Frage nach der Verlässlichkeit der in narrativ-biografischen Interviews mitgeteilten Erfahrungen anknüpft. Gerade an der hier vorliegenden Horizontstruktur lässt sich gut zeigen, dass der des Öfteren erhobene Einwand zu kurz greift, nach dem sich in dem rückwärtigen Bezug auf lebensgeschichtliche Ereignisse gar nicht die Erlebnisaufschichtung der jeweils fokussierten Vergangenheit, sondern vor allem die aktuelle Lebenssituation des Erzählers manifestiert, in deren Licht nun die jeweils berichtete lebensgeschichtliche Situation präsentiert wird. Zunächst lässt sich sagen, dass der aktuelle Standpunkt, von dem aus der Gesprächspartner über seine Spezialschulzeit und sein späteres Leben berichtet, nicht nur – was unbezweifelbar ist – den Charakter der Vergangenheit, über die er spricht, entscheidend mitprägt, sondern seinerseits ebenso durch eben diese Vergangenheit geformt wurde. Hätte der Gesprächspartner an der Spezialschule keinen Orientierungsrahmen ausprägen können, der es ihm erlaubte, ganz im künstlerischen Tun aufzugehen und sich keinerlei Gedanken über die Organisation von Konzerten und die Erschließung neuer Publikumsschichten zu machen, hätte er kaum jenen Bruch artikulieren können, von dem er im Zusammenhang mit den Ereignissen nach der Wende so anschaulich zu erzählen weiß. Gerade aus dem innertextlich zweifelsfrei zu erschließenden Empfinden ei-
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nes Bruchs lässt sich folgern, dass die in der Vergangenheit liegende andere Seite dieses Bruchs ebenfalls Relevanz beanspruchen kann, denn sonst hätte der Gesprächspartner den Bruch als solchen weder empfinden noch artikulieren können. Man kann aber noch einen Schritt weitergehen und sagen, dass erst durch die Erfahrung, in einem gesellschaftlichen System zu leben, in dem sich der freiberufliche Künstler plötzlich um Konzerte und Selbstvermarktung kümmern muss, ein entscheidendes Merkmal der untergegangenen Ausbildungskultur samt der ihr zugeordneten Berufspraxis überhaupt sichtbar werden konnte. Ohne das Erleben des Gegenteils wäre dieses Merkmal wahrscheinlich gar nicht artikulierbar gewesen – ein wichtiger Hinweis dafür, dass gerade der spätere Rückblick Erfahrungsdimensionen freizulegen imstande ist, die in der damaligen Situation noch verborgen waren. Gabriele Rosenthal verdeutlicht diesen Zusammenhang, indem sie hypothetisch einen an Multipler Sklerose erkrankten Patienten konstruiert, der sich im Rückblick daran erinnert, dass ihm einmal eine Kaffeetasse hingefallen ist: »Vor der Diagnose wäre dies eine simple Ungeschicklichkeit gewesen, die in einer Lebenserzählung wohl nicht vorgekommen wäre. Nach der Diagnosestellung wird die nachträgliche Deutung darin erste, damals noch nicht erkannte Hinweise auf den Krankheitsbeginn feststellen; nun wird das Ereignis in der Lebenserzählung vielleicht eine Schlüsselsituation sein.« (Küsters 2009, S. 34) Von Rosenthal folgert daraus: »Erzählungen eigengelebter Erfahrungen verweisen also sowohl auf das heutige Leben mit dieser Vergangenheit als auch auf das damalige Erleben.« (Von Rosenthal 2002, S. 137; vgl. auch Küsters 2009, S. 35) Ein Weiteres kommt hinzu: Die Tatsache, dass sich aus der Analyse der aktuellen Interviewsituation jene argumentativen Motive des Sprechers erschließen lassen, aus denen heraus er seinen Gegensatz zwischen einst und jetzt konstruiert, stellt ein wichtiges Werkzeug dar, mit dessen Hilfe sich aufdecken lässt, an welchen Stellen der Rückgriff auf die Vergangenheit durch aktuelle Interessen möglicherweise auch verzerrt wird. Gerade dadurch dass dem Erzähler in einem narrativen Interview die Möglichkeit gegeben wird, seine heutige Perspektive zu artikulieren, hat der Forscher einen Referenzpunkt an der Hand, von dem ausgehend er mögliche Widersprüche zwischen dieser aktuellen Situation und dem Erzählten dingfest machen kann. Ließe sich der modus operandi der aktuellen Argumentation nicht rekonstruieren, wäre für den Forscher eine kritische Distanz zu den vom Gesprächspartner vorgenommenen Konstruktionen kaum möglich. Das lässt sich am vorliegenden Fall gut beobachten. Hier ist nämlich deutlich zu sehen, dass die im Nachhinein verklärten beruflichen Perspektiven, die dem Interviewten in der DDR angeblich möglich gewesen wären, sich für ihn selbst in der damaligen Situation als nicht ganz so fraglos darstellten, wie sie ihm durch den argumentativen Selbstzwang zur Kontrastbildung zwischen früherer DDR und heutiger Bundesrepublik in den argumentativen Teilen des Interviews erscheinen. Über den Abschluss seines Studiums an der Dresdner Hochschule weiß er folgendes zu berichten: Also man hatte manchmal in einer Woche zwei, drei Stunden Marxismus-Leninismus […]. Und das hat man manchmal nicht so ganz begriffen, aber es musste ja alles sein, es gab aber ’ne Zeit, da hab ich mich so nur auf meine musikalische Ausbildung konzentriert und hab den schulischen Ablauf ’n bissel hinten angestellt. Sprich: ich hab einfach geschwänzt. Und das machst du dann mal ’n paar Wochen und dann gibt’s natürlich Konsequenzen. Und das hab ich och
306 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE verstanden. Und die waren damals ziemlich rigoros und haben gesagt, also wir müssen leider jetzt eine Entscheidung treffen, du hast das so und so gemacht, wir müssen dich leider jetzt wie – in Anführungszeichen – exmatrikulieren, aus Disziplinargründen. Es war grade die Zeit der Prüfungen für das damals sogenannte fünfte Studienjahr, Solistenjahr. […] Und das wollte ich natürlich erreichen, und es war gar keine Frage, dass ich das erreicht hätte, aber zu dem Zeitpunkt hab ich also durch diesen Quatsch mit ähm bissel Schwänzerei von schulischen Fächern mir das ’n bissel verbaut, wurde also für ein Jahr im Prinzip wie auf Eis gelegt. Da gab’s also bissel Reibereien, weil ich das nicht ganz so verstanden hab, dass sie mich als, nu ja, großes Talent jetzt so bestrafen, da hätte man ja bissel kulanter sein können und so. Deswegen war ich also nicht in dem Fahrwasser fünftes Studienjahr, sondern ganz normal ein VierjahresStudienabgänger mit Pädagogenabschluss. Und ich musste mich da um eine Stelle bemühen an einer x-beliebigen Musikschule […], aber dann war die Wende da. Und somit wurden die Karten ja völlig neu gemischt. Aber kurz vor der Wende, wo ich also nicht im Studium war, gab es noch mal das Problem mit der Armee, was für mich sehr dramatisch war. Ich hatte schon die Einberufung im Kasten, ich hatte nur noch zwei Wochen, um irgendwie mich zu wehren und bin da wirklich ganz alleine und ganz ängstlich nach Berlin in das Verteidigungsministerium und hab dort auf den Tisch geklopft und habe gesagt: »Wenn Sie einen der besten Pianisten der DDR jetzt zur Armee schicken, dann müssen Sie auch die Verantwortung [tragen], wenn irgendwas passiert. Und wenn Sie das mit ihrem Gewissen ausmachen können« – so. Also da habe ich all mein’ Mut zusammen genommen, weil ich hatte keinerlei Unterstützung von der Hochschule und das ist ein Punkt, oder ein sehr wichtiger Punkt, den ich der Hochschule bis heute übel nehme. Dass sie in dem Fall nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft haben, um mich da rauszuholen, ne?
Bezeichnenderweise findet diese Episode keinen Eingang in die im späteren Interviewverlauf entwickelten Argumentationsfiguren, in denen die DDR-Ausbildung in toto zum positiven Gegenhorizont der heutigen Situation erhoben wird. Streng genommen passt sie überhaupt nicht ins Bild, das der Gesprächspartner nachträglich vermitteln möchte. Dass er sie überhaupt erwähnt, ist ein schönes Beispiel für die von Kallmeyer und Schütze postulierten »Zugzwänge«, in die sich ein Sprecher im Rahmen einer unvorbereiteten Stegreiferzählung verstricken kann. Und zwar handelt es sich hier um den sogenannten »Detaillierungszwang«, bei dem der Erzähler durch die ihm abverlangte Stegreifsituation dazu getrieben wird, »sich an die tatsächliche Abfolge der von ihm erlebten Ereignisse zu halten und […] von der Schilderung des Ereignisses A zur Schilderung des Ereignisses B überzugehen.« (Kallmeyer & Schütze 1977, S. 188) Im spontanen Erzählfluss kann die Lebensgeschichte, so Kallmeyer und Schütze, nicht willkürlich verändert werden. Da keine Zeit für eine vorgängige Konstruktion bleibt, ist der Erzähler gezwungen, sich an die Ereignisfolgen, so wie er sie früher erlebt hat, zu halten. Insofern können Kallmeyer und Schütze sagen, dass im Modus der spontanen Stegreiferzählung die zurückliegenden Ereignisse zwar nicht unbedingt so dargestellt werden, wie sie »wirklich« waren, wohl aber, dass in ihm ein Zugang zu einer frühen »Erfahrungsaufschichtung« gebahnt wird. (vgl. Schütze 1987, S. 237; Küsters 2009, S. 22) Um die hier wiedergegebene Episode als Ausdruck eines erzählerischen Zugzwanges zu verstehen, muss man jedoch wissen, was der Gesprächspartner auf der argumentativ-kommunikativen Ebene zum Ausdruck bringen möchte. Erst wenn sich – so wie in diesem Beispiel – zeigen lässt, dass die von ihm kommunikativ intendier-
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te Aussage (Kontrast zwischen DDR-Ausbildung und heutigem Musikleben) nicht reibungsfrei aus dem Erzählten hervorgeht, lassen sich einschlägige Passagen als Ausdruck eines erzählbedingten Detaillierungszwanges lesen. Und mit dieser Kenntnis lässt sich dann eine Veränderung des Orientierungsrahmens aufdecken, die nicht einfach umstandslos den Selbstkonstruktionen des Gesprächspartners aufsitzt. Im vorliegenden Fall lässt sich sagen, dass es nicht ausschließlich der politische Systemwechsel war, der zu einer Erschütterung des Orientierungsrahmens geführt hat. Vielmehr scheint sich in dieser Erschütterung die Erfahrung zu spiegeln, dass der Orientierungsrahmen des »Fisches im Wasser« bereits in der DDR von dem Moment an brüchig wurde, in dem die Sicherheit gewährende Nische des konjunktiven Erfahrungsraumes Spezialschule verlassen wurde. Was im Erzählten unterschwellig zum Ausdruck kommt, ist die schockhafte Erkenntnis des Erwachsenwerdens, ausgelöst durch den Kontakt zu einer Umwelt, die nicht mehr quasi automatisch auf die eigenen Bedürfnisse und Wünsche zugeschnitten ist. Diese Erkenntnis, die den an der Spezialschule herausgebildeten Orientierungsrahmen bereits vor der Wende nachdrücklich gefährdete, wird in der späteren Argumentation dann zwar am Ost-WestGegensatz festgemacht. Dennoch zeigt der Gesamtzusammenhang des Interviews deutlich, dass dieser Gegensatz eher die nachträgliche Rationalisierung einer tiefergehenden und im Grunde unpolitischen Erfahrung ist. Die Erfahrung des Herausgerissen-Werdens aus der umfriedeten SpezialschulNische wird durch den mit der Wende einhergehenden Individualisierungsschub verstärkt und führt, wie zu sehen ist, bei unserem Gesprächspartner zu einer Wandlung seines Habitus/Orientierungsrahmens. Von Wandlung sprechen wir, wenn es – wie im vorliegenden Fall – »zur Transformation einer Habitusdimension und damit […] zu einer Transformation eines Selbst- und Weltverhältnisses kommt.« (Von Rosenberg 2014, S. 169) Durch die Verlagerung des ursprünglichen Orientierungsrahmens vom Zentrum an die Peripherie verwandelt sich eine zentrale Dimension des »Fisches im Wasser«: Die nahezu restlose Überblendung von musikalischen und nichtmusikalischen Sozialbeziehungen, die – wie im Abschnitt über das Verhältnis zu den Mitschülern zu sehen war – den Orientierungsrahmen des »Fisches im Wasser« maßgeblich prägte, weicht nun einem Lebenskonzept, in dem innerhalb der Privatsphäre nahezu alles zurückgewiesen wird, was auch nur entfernt mit der eigenen musikalischen Profession zusammenhängen könnte; diese Profession wird damit zu einem »normalen« Beruf, der »nach Feierabend« ausgeblendet wird (der Gesprächspartner streut in diesem Zusammenhang mehrmals den Hinweis ein, dass alles zwei Seiten habe). Innerhalb des Berufes gelten die impliziten Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster des »Fisches im Wasser« aber gleichwohl weiter. Dieser Orientierungsrahmen wird also nicht gänzlich abgestreift, sondern verändert sich lediglich in einer Dimension. Im Unterschied zur »Habituswandlung« kommt es bei einer »Habitustransformation« nicht lediglich zur Transformation einer einzigen Habitusdimension, sondern vielmehr zu einer »Transformation einer grundlegenden Relation von unterschiedlichen Habitusdimensionen.« (Ebd.) Davon kann im vorliegenden Fall keine Rede sein: Zwar hat der Gesprächspartner eine neue Praxis (Pflege des Freizeitbereichs) für sich entdeckt, in deren Licht der Orientierungsrahmen des konzertierenden Pianisten stellenweise Züge eines negativen Gegenhorizontes erhält. Im Wesentlichen jedoch bleibt dieser alte Orientierungsrahmen unverändert. Anders läge der Fall,
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wenn die neu entdeckte Freizeit-Praxis zu einem derart veränderten Selbstverhältnis geführt hätte, dass davon auch der alte Orientierungsrahmen des Klaviersolisten tangiert würde. Wenn also die neu entdeckten Handlungsmöglichkeiten einen Einfluss auf die Art und Weise, in der der Beruf ausgeübt wird, besäßen. In diesem Falle käme es nicht nur zur Herausbildung von neuen Gegenhorizonten, sondern zugleich auch zur Entwicklung eines Enaktierungspotenzials, mit dessen Hilfe die neue Horizontstruktur nicht lediglich hingenommen, sondern aktiv gestaltet würde. Indem wir an dieser Stelle die Begriffe der »Gegenhorizonte« sowie des »Enaktierungspotenzials« für eine Unterscheidung zwischen »Habituswandlung« und »Habitustransformation« fruchtbar machen, folgen wir einem Vorschlag, den Kramer et al. (2013, S. 212) jüngst gemacht haben, um die Differenz zwischen Wandlungen und Transformationen in analytischer Hinsicht handhabbar zu machen. Da sich, so die Argumentation der Autoren, in der dokumentarischen Methode durch die Ermittlung von (Gegen-)horizonten und Enaktierungspotenzialen der Orientierungsrahmen eines Gesprächspartners ermitteln lässt, liegt es nahe, die Veränderungen dieses Rahmens ebenfalls mithilfe dieser Begriffe zu bestimmen. Da unsere Studie auf der dokumentarischen Methode fußt, ist es mehr als naheliegend, diesen Vorschlag aufzugreifen. Auf der Basis dieser beiden Begriffe unterscheiden Kramer und Kollegen vier unterschiedliche Typen einer Habitusentwicklung (vgl. ebd., S. 212 f.). Diese Typen bezeichnen nicht allein unterschiedliche Qualitäten, sondern geben zugleich in quantitativer Hinsicht die Stärke der Wandlung an. Das, was bei von Rosenberg (2011) als »Habitustransformation« bezeichnet wird, erscheint hier als Typ 4. • • • •
Typ 1: Stabilität auf allen Ebenen – dynamische Reproduktion des Bildungshabitus Typ 2: leichte Wandlung durch Änderung der Enaktierungspotenziale Typ 3: Mittlerer Wandel durch Verschiebung in den Gegenhorizonten Typ 4: Starker Wandel durch die Änderung der grundlegenden Haltung – Habituswandel als Mehrebenentransformation (Verschiebung der Gegenhorizonte sowie Ausprägung von Enaktierungspotenzialen)
Der in diesem Abschnitt exemplarisch vorgestellte Fall 2 entspräche nach dieser Typologie dem Typ 3, denn es lässt sich zwar eine Verschiebung in den Gegenhorizonten, nicht aber eine Änderung der Enaktierungspotenziale feststellen. Im Folgenden werden wir die verbleibenden Fälle in diese Typologie einordnen und unsere Entscheidungen anhand ausgewählter Belegstellen zu verdeutlichen suchen. 4.4.2 Falldarstellungen Typ Pa: Dynamische Reproduktion des ursprünglichen Orientierungsrahmens (Fälle 1, 3, 4, 5, 7, 12, 13, 14) Ein Blick auf unser Sample zeigt, dass sich bei rund der Hälfte der Befragten vielleicht geringfügige Veränderungen zwischen dem an der Spezialschule herausgebildeten Orientierungsrahmen und der aktuellen Interviewsituation, auf keinen Fall aber eine grundsätzliche Wandlung oder gar Transformation erkennen lässt. Die Gesprächspartner präsentieren ihre musikalische Bildungsvergangenheit als eine weit-
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gehend bruchlose Einheit, in der es zwar (mitunter durchaus beträchtliche) Zuwächse an Erfahrung gibt, die aber am vorherrschenden Eindruck der Kontinuität nichts ändern. Es handelt sich hierbei vor allem um Fälle, die bereits während der Spezialschulzeit eine große innere Stabilität aufwiesen. Von einem stabilen Orientierungsrahmen an der Spezialschule sprechen wir an dieser Stelle, wenn sich auf Seiten der Befragten eindeutige Selbstzuschreibungen in Bezug auf die Passung oder NichtPassung zu den von außen vorgegebenen Ausbildungsinhalten erkennen lassen. Die anderen Fälle sind weniger stabil – was hier nicht mit psychischer Unsicherheit gleichgesetzt werden darf, sondern schlicht und einfach bedeutet, dass sich die betreffenden Gesprächspartner während ihrer Schulzeit auf der Suche befanden und gleichzeitig über so viel Enaktierungspotenzial verfügten, dass sie sich nicht vorschnell den von Seiten der Schule gewünschten Orientierungsrahmen zu eigen machten. Allerdings zeigt der gerade ausgiebig diskutierte Fall 2, dass diese Stabilität vielleicht ein notwendiges, keinesfalls aber ein hinreichendes Kriterium für eine Reproduktion des Orientierungsrahmens darstellt: Denn stabil war der Orientierungsrahmen von Fall 2 während der Spezialschulzeit ja ebenfalls; dennoch kam es zu einem mittleren Wandel. Um sich als ein kontinuierlicher durchzuhalten, scheint der an der Spezialschule gebildete Orientierungsrahmen im späteren Leben auf Feldbedingungen angewiesen gewesen zu sein, die ihrerseits so stabil gefügt waren, dass es keine Notwendigkeit zu einer Wandlung oder Transformation gab. Das ist natürlich vor allem bei den Orchestermusikern der Fall. Wer an der Spezialschule über ein stabiles Passungsverhältnis verfügte und im Anschluss daran in ein seinem musikalischen Selbstbild adäquates Orchester kam, hatte vielleicht zunächst Umstellungsschwierigkeiten. Diese waren allerdings keineswegs so stark, dass sie den bestehenden Orientierungsrahmen grundlegend in Zweifel gezogen hätten. Exemplarisch sei das an Fall 1 verdeutlicht: Und dann habe ich festgestellt, ich hatte also vorher, wie gesagt, noch nie in einem Orchester [gesessen], ich hab immer nur vorne davor gestanden, als Solist, dann kam plötzlich nicht nur Oper, sondern eben auch der Opernbetrieb, das heißt also, die Action oben auf der Bühne, das ist ganz hübsch, aber dann eben auch mal nach einem Taktstock spielen müssen. Nicht immer selber aktiv zu sein und vorzugeben, wo man lang will, musikalisch, sondern sozusagen als klitzekleines Teilchen eines riesengroßen Getriebes da mitzumachen, da sein Glück zu finden und das toll zu finden und trotzdem gut zu spielen und aber trotzdem abhängig zu sein von der Taktstockspitze. […] Und das hat mir niemand beigebracht, das hab ich nie gelernt.
Diese Umstellung markiert einen Erfahrungszuwachs innerhalb des bestehenden sinngenetischen Orientierungsrahmens. Es wäre grundfalsch, diesen Rahmen als ein statisches Gebilde zu begreifen, im Gegenteil: Der Typ des »Fisches im Wasser« ist ja gerade so strukturiert, dass er ein permanentes Dazulernen und Sich-Weiter-Entwickeln in musikalischer Hinsicht nicht nur duldet, sondern geradezu evoziert. Das Selbstbild des »geborenen« Musikers ist, sofern es nicht wie in Fall 2 von anderen Erfahrungen gekreuzt wird, an die ständige Bereitschaft gekoppelt, sich auf einen prinzipiell unabschließbaren Prozess musikalischer Bildung einzulassen. Gerade der stabile Rahmen ermöglicht innerhalb seiner Grenzen eine permanente Dynamik – ja,
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es scheinen die Grenzen selbst zu sein, die aufgrund ihrer Sicherheit gewährenden Stabilität die Bereitschaft zum ständigen Dazulernen überhaupt erst hervorrufen. Die dynamische Reproduktion des Orientierungsrahmens führt viele Vertreter des Typs Pa dazu, die Spezialschule als ein auch noch heute gültiges und empfehlenswertes Modell zu favorisieren. Während für Fall 2 die Schulzeit mehr und mehr eine Chiffre für eine untergegangene Welt darstellt, die im Rückblick wehmütig beschworen wird, erscheint sie hier als ein auch aktuell gültiges Vorbild. Bei aller Kritik, die viele Vertreter dieses Typs an der Nachfolgeinstitution der Dresdner Spezialschule, dem heutigen Landesgymnasium für Musik, üben, dominiert doch die Überzeugung, dass der Ausbildungstyp an sich auch in der gegenwärtigen Bildungslandschaft Aktualität besitzt. So richtete der Gesprächspartner im Fall 1 folgenden Appell an unser Forscherteam: Also, wenn Sie irgendwas erreichen wollen mit [Ihrer Studie], dann dass [Sie] die Form der Spezialschule vielleicht deutschlandweit irgendwie propagieren können, dass es wieder ins Leben gerufen, beziehungsweise neu gemacht wird. […] Das ist ja jetzt auch so, dass sich hier in Dresden zumindest das Landesgymnasium immer weiter von der Hochschule entfernt. Das ist eigentlich schade und eigentlich auch nicht im Sinne des Erfinders. Also ich finde, [das Landesgymnasium] sollte schon der Hochschule zuarbeiten, irgendwo. Dass man [später] wirklich mal [Leute] aus der Region auf der Bühne oder in der Oper sitzen hat. Und nicht [irgendwelche] Hochleistungen aus Amerika, China. Mir nützen Leute nüscht, die sich bei Bach so was von langweilen. Und beim Säbeltanz von Chatschaturjan springen die aus dem Anzug.
Anders als im Fall 2 führt die Kritik an heutigen Verhältnissen hier zu keinem inneren Rückzug. Während der Gesprächspartner dort die Sinnfrage nach der Zukunft der klassischen Musikkultur stellt, ist hier von einem dringenden Handlungsbedarf die Rede. Wenn man verhindern möchte, dass die Orchester der Zukunft von Hochleistungen aus Amerika, China dominiert werden, von Musikern mithin, die sich bei Bach so was von langweilen, dann ist man – so der Tenor des Gesprächspartners – auf einen schulischen Ausbildungstyp angewiesen, der den Schülern bereits in frühester Jugend etwas von der Relevanz der eigenen Tradition vermittelt. Ohne seine eigene Person in irgendeiner Form besonders hervorheben zu wollen, begreift der Gesprächspartner seine eigene Biografie doch als eine Art Vorbild, das für die nach wie vor gültige Gelungenheit des alten Spezialschulmodells einsteht. Eine ähnliche Reproduktion des alten Orientierungsrahmens finden wir auch in den Fällen 3, 4 und 5. Ausnahmslos handelt es sich hier um Orchestermusiker des Typs »Fisch im Wasser«. Wir finden sie aber durchaus auch innerhalb der anderen beiden sinngenetischen Typen. Dort wird allerdings nicht die vollendete Passung des »Fisches im Wasser« reproduziert, sondern die »passende Nicht-Passung« des Typs »Schüler« sowie die Nicht-Passung des Typs »Fremdling«. Bei Fall 7 handelt es sich um eine jener Schülerinnen und Schüler, die an der Spezialschule zwar einen deutlichen Abstand zum Typ »Fisch im Wasser« empfanden, die aber gerade diesen Abstand als Herausforderung für das eigene Arbeits- und Leistungsverhalten begriffen. Trotz eingeschränkter Passung kommt es hier zu einer uneingeschränkten Identifikation mit der eigenen Bildungsbiografie. Das zeigt sich vor allem in jenen zum Teil bereits zitierten Passagen des Interviews, in denen die
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Gesprächspartnerin das Verhalten ihrer damaligen Lehrerinnen als positiven Gegenhorizont zum(angeblichen) Verhalten heutiger Pädagogen präsentiert. Ich bin [meiner Lehrerin] im Nachhinein auch sehr dankbar, weil da also jetzt aus meiner eigenen pädagogischen Sicht … es gibt ja Leute, die, wenn ich die so übernehme, denke ich »Oh Gott. Das kann eigentlich nicht sein.« Und das war bei ihr also wirklich nicht. [Mit dem Bass-Schlüssel] hab ich mich ganz schwer getan. Ja, [meine Lehrerin] hat dann schon auch …, also sie hat mich ausgeschimpft richtiggehend. Also so, wie man das heute jetzt vielleicht macht, erst mal loben und dann … Nee, sie hat das gefordert und da hat sie auch keine Abstriche gemacht. Und, wie gesagt, im Prinzip war’s ja auch richtig so.
Als Klavierpädagogin hat die Gesprächspartnerin die pädagogischen Prinzipien ihrer eigenen Ausbildung heute fest verinnerlicht. Das ist ihr wahrscheinlich vor allem deshalb möglich, weil sie nicht an einer »normalen« Musikschule arbeitet, sondern an einem Gymnasium mit besonderem musikalischem Profil in Festanstellung für den Klavierunterricht verantwortlich ist. Auch hier liegen – wie im Falle der Orchestermusiker – stabile äußere Rahmenbedingungen vor, die das unveränderte Fortbestehen des damaligen Orientierungsrahmens begünstigen. Allerdings ist nicht zu übersehen, dass die negativen Erfahrungen, die in den hier wiedergegebenen Episoden ja unübersehbar hervortreten und die zu einem von Willensstärke dominierten Orientierungsrahmen nahezu zwangsläufig dazugehören (sonst müsste diese Willensstärke ja gar nicht mobilisiert werden!), mit zunehmendem Alter bei ihr verblassen. Die Gesprächspartnerin ist sich dessen durchaus bewusst, was sich an folgender Reflexion erkennen lässt: Eine Vorspielsituation ist so ’ne Situation, mit der man einfach umgehen können [muss]. Und ich denke auch, je eher man das lernt, umso besser ist es. Und wenn man jetzt das Gefühl hat, das geht gar nicht, ich denk mal, dann sollte man’s wirklich lassen. Also dann muss man irgendwas finden, wo man geschützter ist … Ich bin ja dann in die Pädagogik gegangen […], wobei natürlich es da auch Situationen gibt, wo man dann, wenn man jetzt seine Schüler vorspielen lassen muss … Ich kann ja nicht bis ins Letzte hinein den Schüler beeinflussen und was er dann dort auf dem Podium macht, da kannste ja nicht mehr eingreifen. Also ich denke mal, das ist natürlich auch ’ne Haltung, die mit der Erfahrung, auch mit dem Alter kommt. Also ich denk mal, ich kann das jetzt sehr gelassen sehen, konnte ich vielleicht vor 20 Jahren auch nicht.
Was die Gesprächspartnerin heute zu größerer Gelassenheit führt, wird nicht durch das Entstehen neuer Gegenhorizonte ausgelöst und lässt sich auch nicht auf ein neu mobilisiertes Enaktierungspotenzial zurückführen. Es ist eher wie ein nachträgliches Akzeptieren der durch den ursprünglichen Orientierungsrahmen gesetzten Grenzen. Diese Akzeptanz ließ sich zwar auch schon in den die Spezialschulzeit betreffenden Erzählungen beobachten, war dort aber noch stark an innere Kämpfe gebunden, die durch die Propagierung von innerer Willensstärke ins Positive gewendet werden mussten. Mit zunehmendem Alter tritt dieser Kampf-Aspekt zurück. Was sich nun zeigt, ist allerdings keine Wandlung des alten Orientierungsrahmens, sondern – im Gegenteil – dessen nachträgliche Sanktionierung. Die Gesprächspartnerin präsentiert sich als jemand, der gerade in jenen Aspekten, in denen er dem gewünschten Orien-
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tierungsrahmen nicht voll entsprach, dessen Gültigkeit anerkennt: Obgleich sie anscheinend – wie quasi im Nebensatz deutlich wird – Probleme mit dem Stress der Podiumssituation hatte, wendet sie diese Tatsache nicht gegen das Ausbildungssystem (Und ich denke auch, je eher man das lernt, umso besser ist es). Dass sie es, wie sie indirekt eingesteht, anscheinend nicht in ausreichendem Maße gelernt hat, schreibt sie sich selbst zu und ändert für sie nichts an der grundsätzlichen Richtigkeit des Ausbildungsansatzes. Ihr Nicht-Passen führt nicht zu einer Veränderung des Orientierungsrahmens, sondern fungiert gerade umgekehrt zu einer verstärkten Identifikation mit ihm. Eine weitgehend unveränderte Reproduktion des alten Orientierungsrahmens finden wir auch innerhalb des sinngenetischen Typs »Fremdling«, und zwar in den Fällen 12, 13 und 14. Der Orientierungsrahmen von Fall 14, den wir hier exemplarisch vorstellen, war an der Spezialschule von dem Bewusstsein getragen, dass »alle anderen« viel weiter und besser waren als er selbst. In seinem unablässigen Üben sprach sich der Wunsch des Gesprächspartners aus, die empfundene Lücke aufzuholen. Obgleich der Gesprächspartner nach Spezialschule und Studium auf seine eigene Initiative hin noch weiterhin Unterricht genommen und heute seinen Weg in ein Orchester gefunden hat, schreiben sich in der Beschreibung seiner gegenwärtigen Situation die Gegenhorizonte der Vergangenheit unverändert fort. Auf die Frage, ob er heute noch gerne übt, antwortet er nach einigen Nachfragen: Doch, na ja, ich muss üben, ich mach’s auch, also jaja, doch, klar. Mhm. Ob ihm sein Tun Spaß und Befriedigung bereitet, ist aus der Antwort nicht zu erkennen; dieser Aspekt scheint ihm weniger wichtig zu sein als das Bedürfnis, immer das ab[zu]rufen, was möglich ist. Es steht also nicht so sehr die Befriedigung oder gar das Glücksempfinden des Musizierens im Vordergrund als vielmehr ein selbstgesetzter Anspruch, dem er zu genügen sucht. Daran hat sich seit der Spezialschule anscheinend nichts geändert: Statt von emotionaler Beglückung spricht er im Interviewverlauf immer eher von der Faszination, die er empfunden hat, wenn er in seinen Augen begabtere Musiker hörte. Stets habe er dann das Bedürfnis gehabt, viel zu üben, um diesen Level auch zu erreichen. Das Glücksgefühl des Musizierens wird bei ihm also immer vom Empfinden eines Leistungsunterschiedes begleitet. Seine Motivation scheint bei ihm bis heute immer in einen Leistungskontext (besser–schlechter) eingebettet zu sein. Der Gesprächspartner bewundert Kollegen in schlechteren Orchestern. Hier sitzen seiner Ansicht nach auch heute noch Leute auf Solostellen, die eigentlich die Mittel nicht haben und es trotzdem machen. Er empfindet das als krass und denkt, dass die Leistung, die diese Kollegen erbringen, eigentlich viel höher [ist] als die von Leuten, die es können und die dann eben auch die Rückmeldung kriegen und immer gelobt werden und »ah toll wieder«. Wenn er die Fähigkeit hätte, ein Buch zu schreiben, würde es ihn reizen, der Frage nachzugehen, was Menschen dazu antreibt, sich immer wieder viel abzuverlangen, auch wenn objektiv das Handwerkszeug dazu nicht vorhanden sei. In gewisser Weise thematisiert er damit seine persönliche Situation. Interessant an seiner Frage nach der Motivation, dem Warum des Musizierens, ist vor allem die Tatsache, dass er sie überhaupt stellt und als rätselhaft empfindet. Die naheliegende Erklärung, dass es die pure Lust am Musizieren ist, die hinter diesem Antrieb steht, wird von ihm nicht einmal ansatzweise in Erwägung gezogen. Erscheint sie ihm zu selbstverständlich, als dass er sie eigens betonen müsste? Dagegen spricht die Tatsache, dass er auch in Hinblick auf seine eigene musikalische Laufbahn nicht
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ein einziges Mal auf die Faszination zu sprechen kommt, die die Musik unabhängig von Leistungskontexten bei ihm auslöst. Alles weist darauf hin, dass er zwar Mittel und Wege gefunden hat, mit seinen von ihm als geringer eingestuften Fähigkeiten umzugehen, dass aber wesentliche Konstanten seines an der Spezialschule vermittelten Selbstbildes seinen beruflichen Alltag noch heute unverändert prägen. Betrachtet man unser Sample insgesamt, so zeigt sich, dass eine Reproduktion des musikbezogenen Orientierungsrahmens vor allem an dessen Rändern zu beobachten ist. Dass der Typ des »Fisches im Wasser« bei hinreichend stabilen beruflichen Bedingungen sich immer wieder selbst zu reproduzieren sucht, erscheint dabei nicht weiter überraschend. Warum ein vergleichbares Reproduktionsmuster jedoch durchaus gehäuft auch beim Typ des »Fremdlings« auftaucht, bedarf jedoch der Erklärung. Möglicherweise wird die Tendenz zur Reproduktion in diesen Fällen durch das Zusammenspiel von einem eher gering ausgeprägten Enaktierungspotenzial und relativ sicheren beruflichen Rahmenbedingungen ausgelöst – Rahmenbedingungen, von denen – wie etwa bei einer Tuttistelle im Orchester – weder ein zur Entwicklung einladender noch ein bedrohlich erscheinender Veränderungsdruck ausgeht. Wir werden uns mit diesem Deutungsansatz in der abschließenden Diskussion noch einmal beschäftigen. Typ Pb: Leichter Wandel durch Änderung der Enaktierungspotenziale (Fälle 8, 10) Wie im gerade diskutierten Fall 14 entschließt sich auch der Gesprächspartner im Fall 10 nach dem Studium dazu, weiterhin Unterricht bei einem Orchestermusiker zu nehmen. Bei ihm führt dieser Schritt aber nicht zur Reproduktion des bestehenden Orientierungsrahmens; vielmehr kommt es zu einem Wandlungsprozess: Und das war so der Moment, wo dann eine Kollegin von mir, ’ne Geigerin auch, gesagt hat, »Du, ich such mir jetzt einen Lehrer, ich will noch ’n bissel weiter kommen und so.« Ich sage: »Weißte was? Frag doch mal, ob der mich auch mitnehmen würde.« Und so bin ich dann dazu gekommen. Dass das so intensiv wird, hätte ich damals auch noch nicht erwartet. Aber der hat das wirklich auch drauf gehabt und ich hab ja auch gemerkt, was fehlt, wenn man nicht Musik machen kann. Also was das doch irgendwo auch für eine Berufung ist, das ist mir eigentlich erst viel später klar geworden. Vielleicht ist es auch so, dass man dann sagt: »Du bist jetzt einfach hier, du hast nie was anderes gemacht, du identifizierst dich jetzt anders mit dieser Sache.« Und dann kriegt man sich natürlich auch anders rein. So ist es in meinem Falle gewesen, also schon in der Zeit als dann so Bühnennachweis, Staatsexamen kam, wo man dann gesagt hat: »Also jetzt, das hat sich gelohnt, jetzt biste eigentlich dabei.« Und trotzdem ist es dann eigentlich im Orchester selber aus mir eigentlich erst ein Orchestermusiker geworden.
Während das Weiterführen des Unterrichts vom Gesprächspartner im Fall 14 vorrangig aus der Motivation heraus geschieht, den empfundenen Rückstand aufzuholen, trägt die selbstständig getroffene Entscheidung zur Weiterbildung hier jetzt zu einer deutlichen inneren Umorientierung bei. Verfügte der Gesprächspartner während seiner Spezialschulzeit noch über keine ausgeprägte Beziehung zur Musik und zum Instrument, so registriert er im Anschluss an seine Ausbildung, dass es doch irgendwo auch […] eine Berufung ist. Während der Hauptfachbereich bei ihm zuvor – im Gegensatz zu anderen Freizeitbetätigungen – mit einem eher geringen Enaktierungspo-
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tenzial verbunden war, registriert er nun plötzlich positiv, welche Selbstwirksamkeitserfahrungen und Handlungsmöglichkeiten er aus dem Musizieren schöpfen kann. Das neue Enaktierungspotenzial zeigt sich besonders an der Formulierung, es sei selber aus [ihm] ein Orchestermusiker geworden. Diese Tendenz setzt sich im weiteren Berufsleben dann fort. Über die aktuellen Anforderungen des Orchesterdienstes hinausgehend beginnt sich der Gesprächspartner verstärkt für den Bereich der Alten Musik zu interessieren und bildet sich hier auf eigene Initiative hin fort. Als Fazit seines beruflichen Werdegangs kommt er resümierend zu dem Schluss, er sei im Biologischen wahrscheinlich Frühentwickler, vom Instrument hingegen eher der Spätentwickler gewesen. Er wendet diese Diagnose sofort ins Positive, indem er feststellt, dass er durch diese späte Entwicklung jetzt vielleicht noch nicht so diese Verschleißerscheinungen habe, die mancher Kollege hat, der schon 30, 35 Jahre im Beruf ist. Er genieße es immer noch und würde nie sagen, er gehe jetzt zum Dienst. In diesem Fall lässt sich sagen, dass der Orientierungsrahmen des Gesprächspartners im Anschluss an die Ausbildungszeit plötzlich Züge des »Fisches im Wasser« anzunehmen beginnt. Anders als in Fall 14 führt die selbstständig betriebene Weiterbildung zu einer Erhöhung seines musikbezogenen Enaktierungspotenzials und damit zu einem Zuwachs in genau jener Dimension, die im sinngenetischen Typ des »Schülers« eher durch mangelnde Eigenaktivität gekennzeichnet war. Mit dieser Entwicklung geht jedoch keine grundsätzlich neue Horizontstruktur einher. Eher lässt sich sagen, das der Gesprächspartner nun zu einer Sache explizit »Ja« sagt, zu der er vorher keinesfalls »Nein« gesagt hat. Es handelt sich vielleicht um eine Umfärbung, nicht aber um eine Neujustierung der bisherigen Horizontstruktur. Auf eine ganz andere Weise kommt es auch bei der Gesprächspartnerin im Fall 8 zu einer Wandlung aufgrund eines geänderten Enaktierungspotenzials. Die bereits während der Spezialschulzeit festzustellende Nicht-Identifikation mit ihrem Hauptfachinstrument und das auffallend starke Interesse für die allgemeinbildenden Fächer pflanzen sich im Anschluss an ihre Ausbildungszeit fort und führen dazu, dass sie mit dem Musikerberuf bricht und nach beruflichen Alternativen Ausschau hält. Obgleich ihr neues Arbeitsfeld in keiner Weise an die Inhalte der Spezialschule anknüpft, empfindet sie aber dennoch eine Kontinuität zwischen ihrer Ausbildung und den neuen beruflichen Herausforderungen: Und [ich war] eigentlich gerüstet durch die Erfahrung der Spezialschule. Erstens, dass man was weiß, und zum Anderen aber, dass man das Arbeiten gelernt hat. Das konnte ich, glaube ich, auch gut aufgreifen. War immer vorne dran. Bezüglich ihrer Horizontstruktur kommt es durch die berufliche Umorientierung zu keinem grundsätzlichen Wandel. Die Wahrnehmung der Gesprächspartnerin wird auch heute noch von der Überzeugung geprägt, dass sie keine geborene Musikerin ist und ihre eigentlichen Interessen woanders liegen; zugleich konstruiert sie durch die Betonung ihrer Belastungsfähigkeit (man hat [an der Spezialschule] das Arbeiten gelernt) einen inneren Zusammenhang zwischen der Spezialschulzeit und den späteren beruflichen Herausforderungen. Ihre Entscheidung zum Berufswechsel ist nicht durch eine plötzliche Neubewertung ihres bisherigen Lebensmittelpunktes, der Musik, ausgelöst, sondern eher durch eine Mobilisierung ihres Enaktierungspotenzials. Diese Mobilisierung hilft ihr dabei, etwas zu realisieren, was latent bereits ihre Wahrnehmungsstruktur an der Spezialschule dominiert hatte.
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Typ Pc: Mittlerer Wandel durch Verschiebung in den Gegenhorizonten (Fall 2) Diesen Typ haben wir im Zusammenhang mit dem ausgiebig diskutierten Fall 2 bereits kennengelernt. In unserem Sample findet sich kein weiterer Fall hierzu. Typ Pd: Starker Wandel durch die Änderung der grundlegenden Haltung: Änderung des Enaktierungspotenzials und Verschiebung in den Gegenhorizonten (Fälle 6, 9 und 11) Hingegen gibt es insgesamt drei Fälle, bei denen man von einem starken Wandel sprechen kann (Fälle 6, 9 und 11), bei denen es also sowohl zu einer Veränderung der Gegenhorizonte als auch zu einer damit einhergehenden Mobilisierung des Enaktierungspotenzials kommt. Der Gesprächspartner in Fall 9 offenbart unterschwellig eine grundsätzlich neue Sicht auf die Spezialschulausbildung und den damit verbundenen Orientierungsrahmen. Diese Sicht wird hauptsächlich durch seine aktuelle berufliche Tätigkeit als Lehrer an einer »normalen« Musikschule ausgelöst. Ähnlich wie im Fall 2 lässt sich dieser Wandel an den zahlreichen erzählstrategischen Konflikten ablesen, in die sich der Interviewpartner im Laufe des Interviews verstrickt. Die unterschwelligen und nicht intendierten Zugzwänge können als Indiz dafür genommen werden, dass hier ein wirklicher Wandel vorliegt. Gerade weil der Gesprächspartner auf der kommunikativen Ebene etwas ganz anderes zum Ausdruck bringen möchte, lassen sich die inneren Spannungen zwischen den einzelnen Textsegmenten als Ausdruck einer echten inneren Entwicklung lesen – einer Entwicklung, die nicht lediglich kommunikativ behauptet wird, sondern sich an den beim Erzählen entstehenden Widersprüchen oder Spannungsfeldern dingfest machen lässt. Will der Gesprächspartner auf der kommunikativ-argumentativen Ebene ganz augenscheinlich ein Loblied der alten Spezialschulausbildung singen, so verstrickt er sich, sobald er diese Ausbildung en dètail beschreibt, immer wieder in die Zugzwänge des Erzählens. Am auffälligsten treten diese Zugzwänge bei seiner Beschreibung des ihm heute in hohem Maße als fremdbestimmt erscheinenden Hauptfachunterrichts hervor. Was er hier erzählt, passt nur bedingt zu seiner erzählerischen Absicht, die gleich zu Beginn des Interviews in der Bemerkung zum Tragen kommt, die Spezialschule sei der größte Glücksfall in seinem Leben gewesen. In seinen Erzählungen und Beschreibungen des Klavierunterrichts kommt es dann unübersehbar zu einem so genannten »Gestaltschließungszwang« (vgl. Kallmeyer & Schütze 1977, S. 162; Küsters 2009, S. 27). Einmal auf den Klavierunterricht an der Spezialschule angesprochen, muss der Gesprächspartner die zunächst nur angerissenen Kennzeichnungen so abschließen, dass sie für den Interviewer nachvollziehbar werden. Das geht nur durch entsprechende Verdeutlichungen, die nun aber keineswegs reibungsfrei zur Behauptung des Glücksfalls passen. Dass er rückblickend den Unterricht an der Spezialschule als fremdbestimmt und seiner damaligen inneren Situation unangemessen empfindet, ist für ihn aber nur artikulierbar, weil er nun über einen Orientierungsrahmen verfügt, der eine grundsätzlich andere Horizontstruktur besitzt. Dieser neue Orientierungsrahmen ist in hohem Maße durch seine Unterrichtstätigkeit an der Musikschule geprägt worden: [Wenn ein Lehrer den Schüler nimmt], um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, dann fällt eben ’ne große Menge durchs Rost. [Natürlich ist es schön], wenn man sagt: »Ach, der hat gute Schü-
316 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE ler!« Ja, aber wenn man mal guckt, wie viele gute Schüler, wie viel Schüler auf dem Weg verendet sind. Also wenn ein Pädagoge nur nach ’nem bestimmten Raster unterrichtet, weil er sich eben keinen andern Weg vorstellen kann, dann ist das […] nur für die möglich, die eben in dieses Raster passen. Und jeder, der nicht reinpasst, hat keine Chance. Und heutzutage an der Musikschule [gibt’s] diesen Musikschüler, wie ich ihn ja in der DDR auch kennengelernt hab, einfach nicht mehr. Na? Die Kinder gehen donnerstags zum Tennis, dann gehen sie mittwochs reiten und dann werden se in der Schule so geknechtet. Ich hab jetzt ’ner großen Schülerin, der hab ich einfach gezeigt, wie sie sich am Klavier entspannen kann, mit Klängen, wie sie ihren Frust in die Kiste stecken kann. Und da hab ich eben gelernt – wahrscheinlich ist das auch eine Kompensation meiner eigenen Erlebnisse: Wenn man sich eben nicht selber wohl fühlt und man Druck kriegt oder so … Ich sag mir immer: Das muss auch ohne Druck gehen, das kann auch durch Lust, durch Neugier gehen. Und wenn man durch Lust und Neugier, wenn sich das anfängt dort zu entwickeln, dann macht man sich selber Druck. Und das ist ’ne ganz andere Sache, wenn das intrinsisch ist, als wenn man das von außen ständig um die Ohren gehauen kriegt. Na ja, und das ist auch so ’ne Sache, die für mich ein Beleg dafür ist, dass eben dieser äußere Druck unterm Strich nicht aufgeht.
Der Lernprozess, von dem der Gesprächspartner hier berichtet, wird von ihm als eine Kompensation [s]einer eigenen Erlebnisse bezeichnet – und diese Erlebnisse fungieren hier ganz eindeutig als negativer Gegenhorizont zu seiner heutigen Sichtweise. Während die Gesprächspartnerin in Fall 7 an den pädagogischen Maximen ihrer eigenen Ausbildungszeit festhält und diesen Prinzipien etwas polemisch die heutige Pädagogik gegenüberstellt, in der angeblich immer zuerst gelobt werden muss, hat hier ein Lern- und Entwicklungsprozess stattgefunden, aus dem heraus die alte Ausbildung in einem neuen Licht betrachtet wird. Dieser Perspektivenwechsel geht – und deshalb sprechen wir hier von einem starken Wandel im Sinne einer Habitustransformation – zugleich mit einer Mobilisierung des Enaktierungspotenzials einher. Die neue Horizontstruktur verbindet sich bei diesem Gesprächspartner nämlich mit dem Bewusstsein und dem Stolz darüber, dass er sich im Laufe der Jahre selbstständig neue Kompetenzen angeeignet hat, durch die er plötzlich am Klavier Dinge vermag, die ihm während seiner Spezialschulzeit verschlossen geblieben waren: Man muss in seinem Inneren ein richtiger Künstler sein. Und ich kann das aufm Klavier, also heut würd ich das machen. Also, ich sag immer: wenn ich noch mal auf die Welt kommen würde, würde ich Klavierspieler. Weil ich jetzt weiß, wie das geht. Einen sehr komplexen Transformationsprozess durchläuft auch der Fall 11. Dieser Fall unterschied sich bereits an der Spezialschule von den anderen Fällen des Typs »Fremdling« dadurch, dass sich hier zum Gefühl des Nicht-Passens immer wieder eine Haltung des Aufbegehrens und In-Frage-Stellens hinzugesellte. Ungeachtet der hohen Bedeutsamkeit, die er bereits vor der Spezialschule mit der Musik und dem Instrument verband, musste sich der Gesprächspartner immer wieder mit der Tatsache auseinandersetzen, dass im konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule Prioritäten (z.B. in Hinblick auf spieltechnische Perfektion) galten, denen er kaum entsprach. Das permanente Wechselspiel zwischen einer inneren Haltung, die an die eigene Berufung zum Musizieren glaubt und die hohe Ansprüche an die Authentizität des musikalischen Ausdrucks stellt, und äußeren Leistungsmaßstäben, die in seinen Augen zu dieser Haltung nicht zu passen scheinen, setzt sich auch nach der Spezialschulzeit fort. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch die weitere Ausbil-
S OZIOGENETISCHE TYPENBILDUNG | 317
dungsbiografie. Charakteristisch für den Verlauf des Studiums und der sich daran anschließenden beruflichen Orientierungsphase ist der permanente Konflikt zwischen den Ansprüchen, die von außen an den Gesprächspartner gestellt werden – Ansprüche, die ihn vorübergehend zum Abbruch seiner Musikerlaufbahn veranlassen –, und seiner Bereitschaft, es doch immer wieder mit der Musik zu versuchen. Der Gesprächspartner erzählt eine Geschichte des Sich-Durchkämpfens und der unablässigen Suche; dass er über ein besonders ausgeprägtes Enaktierungspotenzial verfügt, ist unübersehbar. Diese Suche erfolgt aber nicht orientierungslos, sondern scheint zumindest im Rückblick immer von der Ahnung einer stimmigen und erfüllten Musikerexistenz begleitet gewesen zu sein. Seine Schilderung der zahlreichen Umwege, Neuanfänge und krisenhaften Zuspitzungen liest sich wie ein unablässiger Häutungsprozess, an dessen Ende dann das Bewusstsein steht, dieses Ziel aus eigener Kraft schlussendlich erreicht zu haben. Man könnte vielleicht sagen, dass der Gesprächspartner seine Lebensgeschichte ganz bewusst im Stile eines Bildungsromans präsentiert, in dem der Protagonist durch den Kontakt mit einer ihm in vielerlei Hinsicht bedrängenden Umwelt allmählich zu seiner eigentlichen Bestimmung findet. Die hohen Reflexionsanteile dieses Interviews lassen kaum Raum für erzählerische Zugzwänge, anhand derer wir in anderen Biografien die Objektivität der Wandlungsprozesse dingfest machen können. Was in seinem Fall den von ihm argumentativ in Anspruch genommenen Wandlungsprozess verifiziert, ist zunächst einmal ganz schlicht und einfach die Tatsache, dass der Gesprächspartner, obgleich er an der Spezialschule immer mit dem Gefühl des Rückstandes gegenüber seinen Kommilitonen zu kämpfen hatte, heute Mitglied eines renommierten Orchesters ist. Wer an der Spezialschule das Gefühl hatte, nicht mithalten zu können und dennoch seinen Weg in ein bedeutendes Orchester gefunden hat, muss sich leistungsmäßig in einer Weise entwickelt haben, dass der Schluss auf einen damit verbundenen Wandel der inneren Haltung zumindest plausibel erscheint. Wie im Fall 10 haben hier nach der eigentlichen Ausbildungszeit noch entscheidende Lernprozesse stattfinden können – Lernprozesse, durch die der Gesprächspartner die Blockaden, die ihn an der Spezialschule im Griff hielten, augenscheinlich hinter sich lassen konnte. Anders als in den Fällen 10 und 14 führt diese Entwicklung aber nicht zu einer nachträglichen Bestätigung der durch die Spezialschule vermittelten Horizonte. Im Gegenteil: Je mehr der Gesprächspartner mit der Rolle des Künstlers und Musikers zusammenwächst, umso kritischer sieht er die Spezialschulausbildung: In der DDR hat es ja wirklich dieses Punktesystem gegeben. Dass man als Musikstudierender für Punkte spielte. Das ist doch eigentlich eine Ungeheuerlichkeit. Und ich glaub, es ist heute noch so. Das ist doch krank, finde ich. Man könnte vielleicht Prädikate verteilen. Aber Punkte, die machen das ja noch perfider sozusagen. Also, wenn ich sag: »Der hat 25.« […] Und nachher im Beruf geht’s ganz anders. Da geht’s danach, wie ich die Menschen vielleicht auch über meine Schwächen hinwegtäuschen kann und dadurch ’n größerer Künstler bin. Dass Menuhin im Alter teilweise auch gar nicht mehr so gut spielte. Und trotzdem die Menschen begeisterte. Das ist doch wichtiger. Und hätte der dann 18 Punkte gehabt? Oder 13? Also, und da sagt man: »Na, das ist dann der Lebenslauf des Älteren, Reifen. Aber wir wollen den Kindern helfen, dass sie sich richtig einschätzen.« Wird man wahrscheinlich sagen. Aber das ist genau so Quatsch. Das sag ich eben.
318 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE
Indem der Gesprächspartner die Formulierung Wird man wahrscheinlich sagen mit seiner eigenen Gegenposition (Das sag ich eben) auch in stilistischer Hinsicht kontrapunktiert, begreift er die an der Spezialschule praktizierte Benotungspraxis als einen explizit negativen Gegenhorizont zu seiner heutigen Position. Anders als Fall 10, der in seiner weiteren Biografie zunehmend den Orientierungsrahmen des »Fisches im Wasser« übernimmt, geht seine neue Position über die an der Spezialschule geltenden Orientierungen deutlich hinaus. Das von ihm nunmehr ausgeprägte Künstlertum erweist sich als nicht mehr anschlussfähig zu den sinngenetischen Typen der Spezialschule. Die starke Wandlung bezieht sich also sowohl auf die Herausbildung einer neuen Horizontstruktur als auch auf ein starkes Enaktierungspotenzial, dass die Genese dieser Horizonte ermöglicht. Sie gewinnt an Glaubwürdigkeit durch die Tatsache, dass der Gesprächspartner zwar in inhaltlicher Hinsicht eine äußerst scharfe Differenz zwischen seiner heutigen Position und den impliziten Regeln des schulischen Erfahrungsraumes konstruiert. Diese Differenz bezieht sich aber nicht auf konkrete Personen. Im Gegenteil, er spricht von seinen Lehrern an der Spezialschule durchweg im Ton großer Hochachtung. Gerade das aber bestätigt seinen inneren Wandlungsprozess. Würde der Gesprächspartner diese Differenz auch ins Persönliche ziehen, wäre es ja immerhin denkbar, dass ihn die Erfahrungen der Spezialschulzeit nach wie vor bedrängen und er sich von ihnen in toto distanzieren muss, um mit ihnen innerlich umgehen zu können. Eine wirkliche Wandlung wäre daraus dann nicht abzuleiten. Die Trennung zwischen einer Kritik am System und hoher Wertschätzung für die Lehrenden lässt aber auf tiefergehende innere Verarbeitungsprozesse schließen. Die Vergangenheit wird nicht einfach negiert, sondern in einem differenzierten Licht betrachtet. 4.4.3 Diskussion Wir können auf der Grundlage der hier vorgenommenen Fallvergleiche unsere soziogenetische Tabelle nun um eine prozessanalytische Typologie ergänzen: Sinngenetischer Typ Fallnummer
A »Fisch im Wasser« 1
2
3
4
5
B »Schüler«
A/B Mischtyp 6
7
8
9
C »Fremdling« 10 11 12 13 14
Soz. Typ Beruf der Eltern (B)
Ba Ba Ba Ba Ba
Bc
Bc Bc Bd Bd Bb Ba Bc Be
Soz. Typ Elternhaus (E)
Ea+ Ea+ Ea+ Ea+ Ea+
Eb+
Eb+ Eb+ Eb+ Eb+ Ea- Ea- Eb- Ec
Soz. Typ Unterricht vor Spezial- Ua Ua Ua' Ua' Ub schule (U)
Ua'
Ub Ub Ub Ub Ua' Ub Uc Uc
Soz. Typ Instrument (I)
Vl Kl Vc Vl Vl Ia+ Ia+ Ib+ Ib+ Ia+
Hb Ib+
Kl Vl Kl Vl Vl Kl Vc Vl Ib- Ic+ Ib- Ic+ Ic- Ia- Ic- Ic-
Prozessanalytische Typenbildung (P)
Pa Pc Pa Pa Pa
Pd
Pa Pb Pd Pb Pd Pa Pb Pa
S OZIOGENETISCHE TYPENBILDUNG | 319
Pa: Pb: Pc: Pd:
Dynamische Reproduktion des ursprünglichen Orientierungsrahmens. Leichter Wandel durch Änderung der Enaktierungspotenziale. Mittlerer Wandel durch Verschiebung in den Gegenhorizonten. Starker Wandel durch die Änderung der grundlegenden Haltung: Änderung des Enaktierungspotenzials und Verschiebung in den Gegenhorizonten.
Das Übergewicht des Typs Pa scheint sich, wie bereits angedeutet, vor allem aus dem Zusammenspiel eines bereits zur Spezialschulzeit stabilen Orientierungsrahmens und einer gesicherten heutigen beruflichen Situation zu ergeben. Von einer gesicherten beruflichen Situation wollen wir im Folgenden sprechen, wenn sich bei den Befragten zum einen eine materielle Sicherheit erkennen lässt, die sich etwa in einer Festanstellung äußert, wenn aber zum anderen auch Arbeitsbedingungen vorliegen, die keinerlei äußere Veranlassung für einen Konflikt mit dem bestehenden Orientierungsrahmen erkennen lassen. Beide Kriterien sind natürlich in besonderer Weise beim Beruf des Orchestermusikers gegeben. Gerade dieses Berufsfeld scheint durch den gesellschaftlichen Umbruch der Wendezeit kaum nennenswerten Veränderungen ausgesetzt gewesen zu sein. Sofern die Gesprächspartner das Glück hatten, in einem Orchester zu spielen, das nicht aufgelöst wurde, bewegten sie sich in einem inhaltlich ganz auf Kontinuität ausgerichteten Rahmen. Es dürfte kaum einen zweiten Beruf gegeben haben, der die Erschütterungen der Wende ähnlich unbeschadet überstanden hat! Ungeachtet der mitunter starken psychischen Belastungen, denen eine exponierte Stellung in einem leistungsstarken Orchester unbestritten unterliegen kann, scheint dieses Berufsfeld eine Tradierung des an der Spezialschule gebildeten Rahmens erheblich unterstützt zu haben – was nicht weiter verwundert, da es ja selber in hohem Maße bereits die Schulkultur der Spezialschule geprägt hatte. Eine ähnliche Kontinuität finden wir dort, wo die Befragten sich nach der Wende in pädagogischen Kontexten – sei es an einem Musikgymnasium, sei es an einer Musikhochschule – bewegten (Fälle 7 und 12), in Kontexten also, die, sofern sie mit Festanstellungen verbunden sind, sowohl materielle Sicherheit versprechen als auch auf eine Schülerschaft zugeschnitten sind, die hinsichtlich ihrer Leistungsfokussierung Parallelen zur Schülerschaft der Spezialschule aufweisen. Wo nur einer dieser Faktoren nicht vorhanden ist, kommt es zu Wandlungen unterschiedlich starken Ausmaßes und unterschiedlicher Richtung (mit der Ausnahme des Falles 13, den wir gleich noch diskutieren werden.) Diese Fälle erscheinen in der folgenden Tabelle fettgedruckt. Es sei nochmals darauf hingewiesen, dass der Begriff der Stabilität, der hier als Kriterium zur Beschreibung des Orientierungsrahmens während der Spezialschule verwendet wird, keine im landläufigen Sinne psychische Qualität bezeichnet. Die Fälle 12 und 14 etwa sind während der Spezialschulzeit sicher kein Musterbeispiel psychischer Stabilität gewesen; gleichwohl wurde der Orientierungsrahmen des »Fremdlings« hier vorbehaltlos akzeptiert und erweist sich gerade in dieser Akzeptanz als stabil.
320 | ERFAHRUNGSRAUM SPEZIALSCHULE Fall Stabiler Oriennr. tierungsrahmen während der Spezialschulzeit?
Heutige berufliche Situation: Materielle Sicherheit (z.B. durch Festanstellung)?
Heutige berufliche Situation: ProzessIst die Tätigkeit anschlussfähig an analytiden Orientierungsrahmen der Spe- scher Typ zialschule (Orchester/Solist/ Unterrichtstätigkeit mit vornehmlich leistungsstarken Schülern)?
1
ja
ja
ja
Pa
2
ja
nur bedingt
ja
Pc
3
ja
ja
ja
Pa
4
ja
ja
ja
Pa
5
ja
ja
ja
Pa
6
nur bedingt
nur bedingt
nein
Pd
7
ja
ja
ja
Pa
8
nur bedingt
ja
nein
Pb
9
nur bedingt
ja
nein
Pb
10
nur bedingt
ja
ja
Pb
11
nein
ja
ja
Pd
12
ja
ja
ja
Pa
13
ja
nur bedingt
nein
Dennoch Pa!
14
ja
ja
ja
Pa
Nur im Fall 2 hat ein stabiler Rahmen während der Spezialschulzeit dennoch einen Wandel ausgelöst: Dieser Wandel wurde, wie wir gesehen haben, u.a. durch die veränderten Rahmenbedingungen notwendig, die nach der Wende mit dem Beruf des freiberuflichen Klaviersolisten verbunden waren. Der Fall 13 fällt in umgekehrter Hinsicht aus der Reihe: Nur hier hat eine kaum gesicherte heutige berufliche Situation keinen Wandel ausgelöst, sondern zu einer Fortschreibung des stabil ausgeprägten Orientierungsrahmens der Spezialschulzeit geführt – eines Orientierungsrahmens, der sich ohne Widerstand mit dem als fremdbestimmt empfundenen schulischen Erfahrungsraum arrangierte und der durchweg vom Bewusstsein, instrumental kaum mithalten zu können, geprägt war. Dass sich dieser Rahmen in der weiteren Biografie weiter reproduzierte, lässt sich vielleicht am sinnfälligsten mit dem Begriff der »Verlaufskurve des Erleidens« erklären, den Fritz Schütze (1995) als eine Grundlagenkategorie in die interpretative Soziologie eingebracht hat. In Schützes Augen ist der soziale und biografische Prozess der Verlaufskurve »durch Erfahrungen immer schmerzhafter und auswegloser werdenden Erleidens gekennzeichnet; die Betroffenen vermögen nicht mehr aktiv zu handeln, sondern sie sind durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen.« (Ebd., S. 126) Im vorliegenden Fall liegt sicherlich eine eher gemäßigte Form der Verlaufskurve vor; inwieweit die Gesprächspartnerin ihre aktuelle Lebenssituation als schmerzhaft empfindet, lässt sich aus dem Kontext des Interviews nicht erschließen.
S OZIOGENETISCHE TYPENBILDUNG | 321
Dennoch ist unübersehbar, dass sie ihrer auch heute noch unverändert nachwirkenden Überzeugung, wonach sie nicht aus freien Stücken zu ihrer jetzigen beruflichen Situation gekommen ist und ihre »eigentlichen« Bedürfnisse nie ausleben oder verwirklichen konnte, nichts entgegenzusetzen weiß. Sie erscheint »sich selbst gegenüber fremd« (ebd.) und schickt sich in die äußerlich vorgegebenen Zwänge, die sie wie ein nicht zu veränderndes Fatum hinnimmt. Dadurch kommt es zu einer weitgehend unveränderten Reproduktion des Orientierungsrahmens, obgleich ansonsten viele äußere Faktoren vorhanden sind, die eine Wandlung auslösen könnten. Es ist deutlich zu sehen, dass sich die meisten Wandlungen innerhalb des sinngenetischen Typs »Schüler« ereignen (Fälle 6, 8–10). Anscheinend hat die prinzipielle Offenheit für andere Gegenstandsbereiche, die ja die positive Kehrseite der Tendenz war, die musikalischen Inhalte im Sinne eines normalen schulischen Lerngegenstandes zu betrachten, sowie die Tendenz, Sozialbeziehungen auch abseits der Musik zu pflegen, im weiteren Leben der Befragten fortgewirkt und sich begünstigend auf die Wandlungsbereitschaft ausgewirkt. Der Orientierungsrahmen dieser Gesprächspartner war an der Spezialschule – wie es für den Status eines Schülers ja vielleicht insgesamt charakteristisch ist – noch nicht fertig, sondern zumindest unterschwellig mit dem Modus des Suchens verknüpft. Das unterscheidet ihn von den Orientierungsrahmen der anderen Schüler, der als Rahmen stabil war, auch wenn sich innerhalb dieses Rahmens möglicherweise Veränderungen und Entwicklungen ereigneten. Was sagt diese Massierung von Wandlungen innerhalb dieses sinngenetischen Typs über die Schulkultur der Spezialschule aus? Oder umgekehrt: Welche Rückschlüsse lassen sich aus der weitgehenden Stabilität der Randbereiche auf diese Schulkultur ziehen? Die vorliegenden Befunde zeigen, in welch hohem Maße die Spezialschulausbildung auf ein Funktionieren innerhalb bestimmter, fest umrissener Berufe ausgerichtet war. Sie produzierte innerschulisch einen Orientierungsrahmen, der sich seinerseits an einem bestimmten beruflichen Habitus orientierte. Ob dieser Orientierungsrahmen aus freien Stücken übernommen (»Fisch im Wasser«) oder nur durch mehr oder minder direkten Zwang internalisiert wurde, spielte dabei keine Rolle. Wo sich die Gesprächspartner in ihrem späteren Berufsleben in Kontexten bewegten, die dem vorgeprägten Orientierungsrahmen entsprachen, konnte sich dieser unverändert reproduzieren. Wo das spätere berufliche Umfeld hingegen nicht mehr reibungslos zum vorgeprägten Umfeld passte, führte das bei jenen Schülern, die den von der Schule vorgegebenen Orientierungsrahmen mit einiger Stabilität ausprägten, zu einer inneren Orientierungslosigkeit – sei es, dass, wie im Fall 2, der Beruf des konzertierenden Solisten als nicht mehr anschlussfähig an die heutigen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen erlebt wird, sei es, dass, wie im Fall 13, die Berufstätigkeit sich in eine Verlaufskurve des Erleidens einfügt. In beiden Fällen ist ein sehr gering entwickeltes Enaktierungspotenzial festzustellen, das den Betreffenden einen als positiv empfundenen Wandel erschwert. Ein derartig positiver innerer Wandel tritt nur bei jenen Schülern auf, deren Orientierungsrahmen an der Spezialschule noch nicht festgefügt war. Das ist vor allem innerhalb des sinngenetischen Typs »Schüler« der Fall. Wir haben diesen Typ bislang vorwiegend unter dem Gesichtspunkt der Kompensation betrachtet und ihn in diesem Sinne für Schüler verwendet, die ihre nur eingeschränkte Passung im zentralen Hauptfachbereich anderweitig ausglichen und damit indirekt doch wieder zu einer
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Passung kamen. Vor dem Hintergrund der späteren beruflichen Entwicklung tritt jetzt aber die Tatsache in den Vordergrund, dass das Herstellen dieser »nicht-passenden Passung« ein höchst aktiver Prozess ist, der ein hohes Enaktierungspotenzial voraussetzt. Dass dieses Enaktierungspotenzial an der Spezialschule freigesetzt werden konnte, beruht auf Faktoren, die die Betreffenden von sich aus mitbrachten; die Schule selbst hatte keinen Anteil daran. Ein Blick in unsere soziogenetische Tabelle zeigt, dass bei diesen Schülern der Elternhaustyp Eb+ dominiert, der dadurch geprägt war, dass • • •
ein grundsätzliches kulturell-musikalisches Interesse vorlag, dem Kind vielfältige Unterstützung beim Erlernen des Instruments zuteilwurde, die Spezialschulausbildung aber unabhängig von den im engeren Sinne musikalischen Ausbildungsinhalten vor allem als eine Alternative erschien, durch die sich die Probleme einer »normalen« Schulkarriere im Rahmen einer allgemeinbildenden Schule umgehen ließen.
Unter den Fällen, die innerschulisch ein derartiges Enaktierungspotenzial ausbildeten, verfügt nur der Fall 11 nicht über ein derartiges Elternhaus. Interessanterweise ist er auch der einzige Fall innerhalb der hier thematisierten Gruppe, den wir nicht im sinngenetischen Typ des »Schülers«, sondern in dem des »Fremdlings« verortet haben. Sein starkes Enaktierungspotenzial war nicht in der Lage, eine Passung zum Rahmen der Spezialschule herzustellen, sondern ist Ausdruck einer generellen und tiefgreifenden Orientierungssuche, die über die Spezialschulzeit im engeren Sinne weit hinausging. Die hier beschriebene Mischung aus starker elterlicher Unterstützung und einer sich nur teilweise auf die Musik selbst beziehenden inneren Motivation scheint an der Spezialschule eine grundsätzliche Handlungsbereitschaft ausgelöst zu haben: Die nur eingeschränkte Passung wurde durch Eigenaktivität passend gemacht. Wo diese positive elterliche Unterstützung fehlte – wie etwa in den Fällen 12–14 –, kam es eher zu einem widerstandslosen Hinnehmen: die Nicht-Passung wurde zum stabilen Orientierungsrahmen. Nicht die Schulkultur selbst, sondern das elterliche Umfeld entschied also darüber, ob sich ein Enaktierungspotenzial entfalten konnte oder nicht. Die Schule selbst half nicht beim Erlernen des von ihr favorisierten Orientierungsrahmens, sondern setzte ihn voraus – was zum großen Teil sicher damit zusammenhängt, dass dieser Orientierungsrahmen schlicht und einfach durch ein bestimmtes Berufsbild geprägt war, das durch die Ausbildung reproduziert werden sollte. In diesem Sinne war die Spezialschule vornehmlich eine Berufsschule. Das Enaktierungspotenzial, das die zum Typ »Schüler« gehörenden Gesprächspartner mitbrachten, half ihnen allem Anschein auch später dabei, ihr Leben aktiv in die Hand zu nehmen – sei es, dass sie sich durch Eigenaktivität in den Typ »Fisch im Wasser« verwandelten (Fall 10), sei es, dass sie bereit waren, sich völlig neuen beruflichen Anforderungen zu stellen (Fälle 6 und 8), sei es schließlich, dass sie ihre eigenen Vorstellungen von einer Künstlerpersönlichkeit auszuprägen versuchten (Fall 11). Dieses Enaktierungspotenzial wurde aber nicht durch die Schulkultur der Spezialschule, sondern eher gegen sie realisiert. Die Schulkultur selbst versuchte einen bestimmten beruflichen Habitus durchzusetzen, ohne Rücksicht darauf zu neh-
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men, ob die Orientierungsrahmen der Schüler dazu in der Lage waren oder nicht. In den Fällen des Typs »Fisch im Wasser« führte das kaum zu Problemen. In den Fällen 12–14 war das jedoch mit durchaus beträchtlichen biografischen Folgekosten verbunden. Dass die Schulkultur der Spezialschule die Reproduktion eines bestimmten beruflichen Habitus in vielen Fällen erfolgreich umsetzen konnte, hängt natürlich vornehmlich damit zusammen, dass das gesellschaftliche Umfeld so beschaffen war, dass es den meisten Schülern möglich war, einen Beruf zu ergreifen, in dem dieser Habitus tatsächlich ausgeprägt war. Pointiert gesprochen: Die Spezialschule passte in die Berufslandschaft. Das gilt nicht nur für die Jahre bis zur Wende, sondern auch noch darüber hinaus. Ein großer Teil der Spezialschüler konnte auch nach der Wende in Kontexten arbeiten, die den innerhalb der Schule eingeübten Orientierungsrahmen ausprägten. Der Blick auf unser Sample zeigt aber eindringlich, welche Probleme entstehen können, wenn mit einem bestimmten beruflichen Habitus an der Spezialschule zwar gerechnet wird, das Berufsleben sich allerdings so verändert, dass die Möglichkeit, diesen Habitus wirklich zu leben, nicht mehr automatisch gewährleistet werden kann. Hierin liegt eine der großen Herausforderungen, vor denen die Nachfolgeinstitutionen der ehemaligen Spezialschulen heute stehen. Es muss um die Schaffung von Erfahrungsräumen gehen, die, anders als früher, den Schülerinnen und Schülern bei der Entstehung und Entwicklung ihres Enaktierungspotenzials aktiv zur Seite stehen. Das kann aber nur gelingen, wenn diese Erfahrungsräume selbst eine hinreichende Offenheit aufweisen und nicht auf einen eng definierten beruflichen Habitus zugeschnitten sind. Ernsthaft praktiziert, würde sich diese Offenheit gerade auch auf diejenigen Schülerinnen und Schüler beziehen müssen, deren Orientierungsrahmen im Elternhaus auf die Reproduktion des früheren »Fisches im Wasser« zugeschnitten ist. Gerade in diesen Fällen wäre eine allzu frühzeitige innere Festlegung auf einen bestimmten beruflichen Habitus zu vermeiden – was nur geht, wenn die Schule selbst diesen Habitus nicht, ebenso wenig wie irgend einen anderen, zu dem von ihr gewünschten Orientierungsrahmen erhebt.
5. Teil: Auf der Suche nach der Schulkultur (II) Resümee – Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse
Der Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule war in hohem Maße identitätsstiftend. Beim Großteil der ehemaligen Schülerinnen und Schüler sind die Erinnerungen an ihre Schulzeit bis heute von einer weitgehend uneingeschränkten Akzeptanz des Ausbildungssystems getragen. Bei denjenigen, deren Orientierungsrahmen besonders gut zu diesem Erfahrungsraum passte, verwundert das nicht. Wer von Lehrern, Mitschülern und Eltern als vielversprechender Instrumentalist anerkannt wurde und diese Anerkennung in seinen Orientierungsrahmen zu integrieren vermochte, konnte an der Spezialschule einen Einklang von persönlichen und schulischen Zielen erleben, der ihm kaum in anderen Kontexten – und ganz gewiss nicht in westdeutschen! – je zuteil geworden wäre. Weniger selbstverständlich ist hingegen die Tatsache, dass auch bei einer Reihe von Befragten, deren von uns herausgearbeiteter Orientierungsrahmen zu den schulischen Erwartungen nicht vollständig passte, in den Interviews eine bis zur Begeisterung reichende Zustimmung zum damaligen Ausbildungssystem hervortritt – und dies ungeachtet der Tatsache, dass gerade in Bezug auf das instrumentale Hauptfach gleichzeitig immer wieder der Aspekt einer den eigenen Zielen und Interessen zuwiderlaufenden Fremdbestimmung thematisiert wird. Dieser auffällige Widerspruch manifestiert sich in einer komplexen Struktur ineinander verschalteter Gegenhorizonte: Gemessen an der staatlichen Einflussnahme, die viele Spezialschüler (bzw. deren Elternhäuser) an einer »normalen« polytechnischen Oberschule erwarten zu müssen glaubten, scheint die Dresdner Spezialschule von vielen als ein Erfahrungsraum wahrgenommen worden zu sein, dessen fremdbestimmende Tendenzen im Vergleich dazu als weit weniger gravierend erlebt wurden, da sie ihnen nicht primär in Form staatlicher Willkür, sondern in Gestalt immanent musikalischer, durch Lehrer und Mitschüler repräsentierter, Anforderungen gegenüber traten. Damit war der Staat aber nicht mehr nur jene autoritäre Instanz, die mit uneingeschränkter Verfügungsmacht die individuellen Bildungskarrieren lenkte; er war für viele Schüler und Lehrer vielmehr zugleich auch der Garant eines Freiraums, der vor dieser Verfügungsmacht ein Stück weit schützte. Er gewährleistete, pointiert gesprochen, die Nische, innerhalb derer man sich vor ihm in Sicherheit bringen konnte. Das führt bei den sinngenetischen Schülertypen »Fisch im Wasser« und »Schüler« zu einer doppelten Codierung des schulischen Erfahrungsraumes. Gemessen an dem Bild, das die Betroffenen vom allgemeinbildenden Schulsystem der DDR
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zeichnen, war die Dresdner Spezialschule nicht nur ein staatliches Instrument zur Findung und Förderung eines leistungsstarken Nachwuchses, sondern zugleich auch ein Hort, der vor allzu weitgehender staatlicher Reglementierung schützte. Obwohl Teil des Systems stand er doch außerhalb. Besonders deutlich wird das bei den Schülerinnen und Schülern vom Typ »Fisch im Wasser«, die dazu neigen, zwischen einer negativ konnotierten Spezialschule als staatlicher Institution und einem »eigentlichen«, aus der Gemeinschaft gleichgesonnener Musiker bestehenden Erfahrungsraum zu unterscheiden, innerhalb dessen die Verfügungsgewalt des Staates keine entscheidende Rolle spielte. Diese Vorstellung von der Spezialschule als einer weitgehend politikfreien Nische, die eine ungehinderte Entfaltung der eigenen musikalischen Interessen gewährleistete, fungiert bei vielen Gesprächspartnern nicht nur als positiver Gegenhorizont zum sonstigen DDR-Bildungssystem, sondern zugleich auch als Kontrastfolie zur heutigen Situation. Im Vergleich mit den aktuellen Rahmenbedingungen professioneller Nachwuchsausbildung wird die Spezialschule von den »Fischen im Wasser« noch heute als eine heile Welt wahrgenommen, in der eine von Zukunftssorgen weitgehend unberührte Versenkung in die Musik möglich war. In diesem Zuge passiert es nicht selten, dass die Ermöglichung einer derartigen Nische zur Aufgabe auch heutiger Bildungspolitik beschworen und in diesem Zuge das DDRSystem als Ganzes zum Vorbild erklärt wird. Die Nische, die sich ja eher gegen die staatliche Einflussnahme als im Einklang mit ihr realisierte, wird also zu einem Qualitätsmerkmal des DDR- Ausbildungssystems erklärt – und dies, obwohl die Befragten oftmals im selben Atemzug betonen, dass sie dem staatlichen Zugriff eher abgetrotzt werden musste. Dass auch die Befragten des Typs »Schüler«, die ja in einem keineswegs optimalen Passungsverhältnis zur Schule standen, die Schule als Nische wahrnahmen, hängt damit zusammen, dass der schulische Erfahrungsraum für sie die Möglichkeit einer »passenden Nicht-Passung« bot. Obgleich sie die Ziele und Anforderungen des Hauptfachs nicht vollständig in ihren eigenen Orientierungsrahmen integrieren konnten und obgleich ihnen in diesem zentralen Ausbildungsbereich immer wieder das Gefühl einer tendenziellen Inferiorität vermittelt wurde, hatten sie das Gefühl, dennoch dazuzugehören. Das hängt natürlich vor allem mit der Bestimmung der Spezialschulen als Zubringer des Arbeitsmarktes zusammen. Obgleich sich das schulische Anspruchsniveau an den Erwartungen der A-Orchester bzw. an solistischen Standards orientierte, war es – ganz anders als im DDR-Leistungssport – kein Ausschlusskriterium, wenn die eigene Leistung dieses Niveau nicht erreichte. Sofern ein Mindestlevel nicht unterschritten wurde, waren auch die »Durchschnittlichen« eine legitime Zielgruppe, denn ohne sie wäre der Nachwuchsbedarf in den Profiorchestern und Musikschulen nicht zu befriedigen gewesen. Allerdings hatte diese Anerkennung eines »professionellen Durchschnitts« einen Preis: Sie beförderte Orientierungsrahmen vom Typ »Schüler«, für die der instrumentale Hauptfachunterricht tendenziell den Charakter eines gewöhnlichen Schulfaches annahm. Dieser Orientierungsrahmen nahm die instrumentalen und musikalischen Anforderungen des Hauptfachs nicht so sehr als Herausforderungen wahr, die sie aus ihrer aktiven musikalischen Auseinandersetzung heraus an sich selbst stellten, sondern primär als Erwartungen, die von außen formuliert wurden. Im Gegensatz zum Typ »Fisch im Wasser« wurden diese Anforderungen nicht vollständig in den eigenen Orientierungsrahmen integriert. Daraus resultierte das Gefühl der Fremdbestimmung, das nun auf eine Weise kompen-
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siert wurde, für die wir den Begriff des »Schülerhaften« gefunden haben. Das hervorstechendste Merkmal dieser Kompensation bestand in einer Selbstkonzeptualisierung als »Durchschnitt«: Angehörige dieses Typs maßen sich selbst weniger an den immanenten, naturgemäß nach oben hin offenen Anforderungen der Musik, sondern orientierten sich eher an den Erwartungen, die die Schule an sie stellte – im vollen Bewusstsein, dass diese Erwartungen von ihnen nur eingeschränkt erfüllt werden konnten. Indem sie die Kluft zwischen von außen gestellter Anforderung und dem gefühlten eigenen Leistungsvermögen innerlich akzeptierten, erschien es ihnen als quasi »natürlich« und legitim, dass der Hauptfachunterricht sie nicht innerlich erfüllte, sondern als eine autoritäre Instanz in Erscheinung trat, die von ihnen Dinge verlangte, die sie nur begrenzt einlösen konnten. Sie waren im Grunde damit einverstanden, dass der eigentliche Adressat dieses Unterrichts ein Schüler vom Schlage des ihnen unerreichbar scheinenden Typs »Fisch im Wasser« war. Indikator dieses Einverständnisses waren Selbstbilder, die noch heute von der Überzeugung getragen sind, dass man eben nur »Durchschnitt«, einfach »zu faul« oder »kein geborener Musiker« ist. Diese Selbstbilder, und daher der Begriff der »passenden Nicht-Passung«, hinderte sie aber nicht daran, sich an der Schule dennoch richtig am Platze zu fühlen – so wie es für Schüler an einer allgemeinbildenden Schule nicht unbedingt ein Problem sein muss, wenn sie nur durchschnittliche Leistungen zeigen. Sofern sie das Gefühl haben, dass dieses Durchschnittsniveau trotz der mit ihm verbundenen Defizite von der Schule und dem Elternhaus akzeptiert wird, sofern mit der Erfüllung eines geforderten Durchschnittslevels ein Eintritt ins Berufsleben grundsätzlich möglich ist und sofern sie sozial integriert sind, können sie sich im Einklang mit dem Erfahrungsraum fühlen, selbst wenn sie parallel dazu registrieren, dass der Unterricht eigentlich an ein anderes Leistungsniveau adressiert ist. Unser Begriff der passenden Nicht-Passung bezeichnet also einen Orientierungsrahmen, der sich im Hauptfachunterricht als nicht ganz richtig am Platz empfand, aber dieses Deplatziert-Sein innerlich akzeptierte; dieses Einverständnis war möglich, weil er zugleich von der Gewissheit gekennzeichnet war, auch in der eingeschränkten Passung dennoch zum schulischen Erfahrungsraum zu gehören. Mit dieser Akzeptanz ging allerdings – und das ist ein durchaus hoher Preis – das Bewusstsein einher, im Gegensatz zu den »Fischen im Wasser« als Musiker nur begrenzt handlungsfähig zu sein. Trotz einer grundsätzlichen Liebe zum Instrument und zur Musik sprechen fast alle Vertreter des Typs »Schüler« in den Interviews so gut wie nie als Personen, bei denen die Musik den entscheidenden Teil ihrer Identität darstellt, sondern argumentieren auch heute noch aus der Rolle des Spezialschülers heraus – als Menschen also, die sich aufgrund der Regeln des Erfahrungsraumes eine Zeitlang intensiv mit Musik beschäftigen mussten. Thematisiert wird immer die von außen auferlegte Pflicht zum Üben und zur Leistung, so gut wie nie allerdings die inneren Antriebe zum Musizieren. Es ist das vielleicht auffälligste Kennzeichen des Erfahrungsraums Spezialschule, dass die im Rahmen der allgemeinbildenden Schule häufig anzutreffende Selbstkonzeptualisierung als Durchschnitt hier auch für den Bereich des künstlerischen Lernens Geltung besitzen konnte. Die Spezialschule brachte, bündig formuliert, einen Schülertyp hervor, der auf dem Level einer professionellen Expertenleistung agierte, ohne dabei innerlich eine wirkliche Identität als Musikerpersönlichkeit auszubilden.
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Dieser Befund ist in musikpsychologischer Hinsicht von übergeordnetem Interesse. Denn es zählt zu den ehernen Gewissheiten der Expertiseforschung, dass sich ein musikalischer Expertenstatus nur über eine mindestens zehn Jahre dauernde deliberate practice erreichen lässt, die ihrerseits nur durch ein hohes Maß an intrinsischer Motivation aufrecht erhalten werden kann (vgl. Jabusch & Altenmüller 2014, S. 68 f.). Mit dem Begriff der intrinsischen Motivation wird dabei immer ein ausschließlich um der Sache selbst willen erfolgendes Üben bezeichnet. Der sinngenetische Typ »Schüler«, wie er sich im Erfahrungsraum der Spezialschule herausgebildet hat, zeigt nun, dass sich ein musikalischer Expertenstatus durchaus auch auf anderem Wege erreichen lässt. Folgt man der Selbstbestimmungstheorie von Edward Deci und Richard Ryan (1993), so ist die Motivationsstruktur dieses Typs eher durch eine »introjizierte« und eben nicht durch eine integriert-intrinsische Regulation gekennzeichnet. Dies sei kurz erläutert: Im Unterschied zu anderen Motivationstheorien fokussieren Deci und Ryan nicht nur den Stärkegrad einer Motivation, sondern thematisieren zugleich auch das Maß an Autonomie, aus der heraus eine Handlung erfolgt. Sie tragen damit der Tatsache Rechnung, dass es Handlungen gibt, die zwar einerseits durch ein hohes Maß an Motivation gekennzeichnet sein, aber dennoch fremdbestimmt erfolgen können. Äußere Regulationsmechanismen wie Strafe oder Belohnung vermögen durchaus ein hochmotiviertes Verhalten auszulösen, sind aber nur durch ein sehr geringes Maß an Autonomie gekennzeichnet. Für die Motivation des Typs »Schüler« scheint es nun charakteristisch zu sein, dass diese äußeren Regulationen, die an der Spezialschule etwa in Gestalt festgelegter Übepläne und eines engmaschigen Prüfungssystems in Erscheinung traten, ein Stück weit in den eigenen Orientierungsrahmen hineingenommen wurden – und zwar in der Form, dass sich die Vertreter dieses Typs tendenziell mit diesen externen Druckmitteln identifizierten. Hier fand eine »Introjektion«, nicht aber eine »Integration« statt, von der Deci und Ryan erst sprechen würden, wenn eine Handlung völlig freiwillig ausgeführt wird und das Handlungsziel vollkommen in das Selbstgefühl integriert ist. Eine derartige Integration findet sich bei den Schülern des Typs »Fisch im Wasser«, nicht hingegen bei den anderen beiden Typen. Man denke etwa an Frau Thalheim, die sich selbst rückblickend als faul bezeichnet und es der Spezialschule hoch anrechnet, diese als quasi angeboren dargestellte Haltung durch stete Übekontrolle verändert zu haben. Was sich hier äußert, ist keineswegs eine »intrinsische« Motivation, die sich für Deci und Ryan erst auf der Stufe vollständiger Autonomie und Integration ereignet. Frau Thalheim hat sich nicht von einer »faulen« Schülerin, die zum Üben gezwungen werden musste, zu einer sich selbst um der Musik willen motivierenden Instrumentalistin entwickelt, sondern hat lediglich ein inneres Einverständnis mit diesen äußeren Zwängen hergestellt: Es zählt für sie zur »Erfolgsgeschichte« der Spezialschule, dass hier auf ein regelmäßiges Üben geachtet wurde. Indem sie sich diesen Zwängen fügte, konnte sie zwar die Genugtuung erleben, die Spezialschule mit all ihren Anforderungen »geschafft« zu haben. Keineswegs aber führte dieses Einvernehmen zu einer echten intrinsischen Motivation. Mit der Reduktion des Hauptfachs auf ein gewöhnliches Schulfach, dessen Anforderungen man zwar zu erfüllen, sich inhaltlich aber zugleich ein Stück vom Leibe zu halten versucht, geht beim Typ »Schüler« eine prinzipielle Offenheit gegenüber anderen Bereichen des Spezialschullebens einher – sei es, dass sie ein über das normale Maß hinausgehendes Interesse an den allgemeinbildenden Fächern an den Tag
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legen, sei es, dass gemeinsame soziale Aktivtäten mit den Mitschülern bei ihnen eine besondere Rolle spielen. Es ist nicht leicht zu entscheiden, in welchem Verhältnis die Wahrnehmung eines verschulten Hauptfachs und die Offenheit gegenüber außermusikalischen Inhalten stehen. Wurde mit einem eigenständigen Interesse für außermusikalische Bereiche die Fremdbestimmung im Hauptfach kompensiert? Oder war, umgekehrt, die Bereitschaft, sich intensiv auf andere Bereiche einzulassen, der Grund dafür, sich nicht so ausschließlich auf die Musik zu konzentrieren, wie es im Hauptfachunterricht erwartet wurde? Fest steht auf jeden Fall – das zeigten unsere soziogenetischen Untersuchungen – dass die Vertreter des Typs »Schüler« zum Zeitpunkt des Schuleintritts noch nicht ausschließlich auf die Musik fixiert waren, in dem Sinne, dass diese als unbefragter Lebensmittelpunkt den Kern des Orientierungsrahmens ausgemacht hätte. Und ebenso steht fest, dass der schulische Erfahrungsraum eine derartige Fixierung erwartete und diejenigen zurückwies, die diese Fixierung nicht aus sich heraus erbrachten – wobei die Zurückweisung nicht zwangsläufig in einem Ausschluss aus dem Erfahrungsraum, sondern vor allem in der Forderung bestand, den Orientierungsrahmen der »Fische im Wasser« anzunehmen. Da diese Forderung keine Rücksicht auf den aktuellen Orientierungsrahmen nahm, wurde sie von den Betroffenen als eine Fremdbestimmung wahrgenommen, die, weil sie nicht das Grundbedürfnis nach Autonomie befriedigte, eben jene Weiterentwicklung zu einer integriert-intrinsischen Motivation verhinderte, die den inhaltlichen Kern der Forderung ausmachte. Die Forderung, sich in Richtung intrinsischer Motivation zu verändern, verhinderte das Entstehen intrinsischer Motivation. Es ist auffallend, dass wir bei unserer Untersuchung auf keinen Absolventen getroffen sind, aus dessen Erzählungen sich innerhalb der Schulzeit ein Wandlungsprozess rekonstruieren lässt, bei dem sich ein bloßes Interesse für die Musik und das Instrument in eine intrinsische Leidenschaft umformte. Daraus ist keineswegs der übergeordnete Befund abzuleiten, dass in »echten« Musikerbiografien – wie wir sie im Typ »Fisch im Wasser« beobachten können – zwangsläufig zu einem sehr frühen Zeitpunkt eine innere Entscheidung für eine professionelle Laufbahn getroffen sein muss. Wohl aber, und das zeigt den Einfluss der Institution als eigenständigem Faktor, können wir feststellen, dass der besondere Erfahrungsraum Spezialschule mit einer derartigen Entscheidung im Grunde rechnete, sie zur impliziten Voraussetzung einer vollständigen Passung machte und sie dort, wo sie noch nicht ausgeprägt war, einforderte, ohne sich dabei allerdings auch nur einen Schritt auf die Bedürfnislagen der noch nicht passenden Orientierungsrahmen einzulassen. Denjenigen, die nicht passten, wurden zwar vielfältige Mittel angeboten, die die Kluft zu einer vollständigen Passung hätten verringern können, allen voran ausreichende Übegelegenheiten und ein methodisch durchdachter, in der Regel sicherlich äußerst kompetenter Unterricht. Aber alle diese Mittel hätten, um eine entsprechende Wandlung zu ermöglichen, eine grundsätzliche und vorgängige Anerkennung jenes Orientierungsrahmens bedurft, den die Schülerinnen und Schüler von zu Hause mitbrachten. Und genau darüber, über die Anerkennung differenter Orientierungsrahmen, verfügte der Erfahrungsraum der Spezialschule in keiner Weise. Wem keine Kompensationsmöglichkeiten zur Verfügung standen, der wurde zum »Fremdling«. Das Gefühl der Fremdbestimmung fand hier keinen Ausgleich in der Entwicklung anderer Interessen oder in sozialen Aktivitäten mit Anderen. Nach außen hin unterschied sich dieser Typ keineswegs grundlegend von den anderen bei-
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den. Im Lichte der Selbstbestimmungstheorie von Deci und Ryan wäre festzustellen, dass den »Fremdlingen« eine Entwicklung dieser Motivationsstruktur hin zu größerer Autonomie vor allem deshalb unmöglich war, weil von den drei zentralen, die motivationale Entwicklung vorantreibenden menschlichen Grundbedürfnissen (basic needs) – den Bedürfnissen nach Kompetenz, Autonomie und zwischenmenschlicher Bezogenheit (relatedness) – vor allem die beiden letztgenannten unerfüllt blieben. Um zu innerer Autonomie – und damit zu intrinsischer Motivation – zu gelangen, muss ein Mensch bereits in seiner aktuellen Praxis die Erfahrung von Autonomie, d.h. von einem selbstbestimmten, im Einklang mit sich selbst erfolgenden Handeln erleben können. Und er muss die Erfahrung machen, dass dieses autonome Handeln auf eine Resonanz bei Anderen (Lehrer, Mitschüler) trifft. Wo diese Bezogenheit auf Interaktionspartner fehlt, ist eine Weiterentwicklung nicht möglich und das Handeln verbleibt auf einem niedrigeren Autonomiegrad. Und das heißt nicht, dass er auf diesem Grad nicht dennoch viel übt und möglicherweise auch – dies zeigte der Fall von Frau Dahlke – herausragende Leistungen erbringt. Dass der Erfahrungsraum der Spezialschule kaum Wandlungsprozesse auslöste, hängt auch damit zusammen, dass der Weg zu einer Musikerpersönlichkeit mit Hilfe einer fein gestuften Fachmethodik sowie einem ganzen Katalog detaillierter Fördermaßnahmen quasi vorgezeichnet war. Die Ausbildung setzte nicht bei der Persönlichkeit des individuellen Schülers an, sondern trat als ein komplexes und zweifellos sehr durchdachtes Entwicklungsprogramm in Erscheinung, in das sich die Orientierungsrahmen zu fügen hatten. Wer diesen Weg erfolgreich durchlief – und das waren nicht wenige –, konnte als lebendiger Beweis für die Funktionstüchtigkeit der Ausbildung gelten. Tat er sich mit den vorgegebenen Rahmungen hingegen schwer, so wurde dies nicht als Problem des Ausbildungssystems gesehen, sondern den Betroffenen selbst in die Schuhe geschoben. Diese unterschiedlichen Zuschreibungen hatten ihre Ursache nicht allein im Selbstverständnis eines zentralistischen und von oben herab organisierten Bildungssystems, das in jedem erfolgreichen Schüler einen Beweis für seine eigene Leistungsfähigkeit sieht, sondern erhielt eine wichtige Rückendeckung durch die Art und Weise, in der in der DDR generell über Begabung gesprochen und nachgedacht wurde. Die Analyse einschlägiger erziehungswissenschaftlicher Begabungsdefinitionen bringt vier Aspekte zum Vorschein, die nicht nur für den wissenschaftlichen Diskurs, sondern auch für das Selbstverständnis von Begabungsförderung im Allgemeinen und darüber hinaus auch für den konjunktiven Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule von Bedeutung war (vgl. Hilgendorf 1984, Anlage 7, S. 100 f.): 1. Begabung war in der DDR eng mit dem Leistungsbegriff verbunden und durch ihn definiert; sie erschien nicht so sehr als ein Potenzial, sondern manifestierte sich in einer guten Leistung. 2. Prädispositionen (etwa genetischer Art) wurden nicht geleugnet, aber insgesamt eher zurückhaltend beurteilt. 3. In das Konstrukt »Begabung« flossen auch Sekundärtugenden (Fleiß, Ausdauer etc.) ein, ohne die sich Leistungen nicht realisieren lassen.
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4. Die hauptsächliche Aufmerksamkeit galt der Entwickelbarkeit der Anlagen (in Gestalt möglichst optimaler Förderbedingungen), die als entscheidende Voraussetzung für das Zustandekommen von Leistung gewertet wurde. Begabt war, wessen Leistung sich im Sinne der Förderbedingungen entwickelte. Dieser Begabungsbegriff weist mit der Betonung der Entwickelbarkeit von Anlagen durchaus Übereinstimmungen mit etwa zeitgleich im Westen entstandenen Konzeptionen – etwa der musikalischen Begabungstheorie von Edwin E. Gordon (1986) – auf. In seiner Konzentration auf das Resultat – die Leistung – und der Einbeziehung auch flankierender Fähigkeiten (Sekundärtugenden) unterscheidet er sich allerdings deutlich von Gordons Konzeption, die strikt zwischen Begabung (aptitude) und Leistung (achievement) unterscheidet und die Möglichkeit einer Ermittlung von Begabung auf der Grundlage einer dargebotenen Leistung vehement bestreitet. Mit der Fokussierung auf Leistung als »Beweis« für Begabung war in der Pädagogik der DDR zugleich auch die Vorstellung einer weitgehend objektiven Messbarkeit von Leistung verbunden: Wenn die Leistung der genaue Indikator für Begabung ist, dann – so der naheliegende Gedanke – muss sie sich auch in irgendeiner Form quantifizieren lassen, denn sonst könnte sie über die sie ermöglichende Begabung keine gültige Auskunft erteilen. Daraus folgten dann sowohl die Forderung nach einer unablässigen Benotung von Leistungen wie auch das Vertrauen in die Objektivität dieses Verfahrens. In diesem Sinne formulierte der ehemalige Rektor der Berliner Hochschule für Musik »Hanns Eisler«, Erhard Ragwitz, im Jahre 1975: »Sind die Fragen der Beurteilung der Talente bereits bei der Durchführung der Eignungs- und Aufnahmeprüfung von großer Bedeutung, so spielen sie im Prozeß der Ausbildung und Erziehung an der Spezialschule für Musik im Verlauf von maximal 6 Ausbildungsjahren eine noch größere Rolle. […] Seit Juni 1974 ist es uns gelungen, diese Fragen anhand der Jahres- bzw. Halbjahreszensuren in der Schulleitung, in den Fachrichtungsleitungen sowie im Pädagogischen Rat regelmäßig und mit größerer Gründlichkeit zu stellen […].« (Ragwitz 1975, S. 37)
Dem Vertrauen in die Messbarkeit und Objektivität der Leistungsbeurteilung korrespondierte der Glaube an die Planbarkeit von Leistungen. Die von uns diskutierten Begabungsdefinitionen betonen nahezu durchgängig die Entwickelbarkeit der angeborenen Anlage. Obwohl dieser Aspekt auch von der heutigen Forschung – sofern sie noch mit dem Begabungsbegriff arbeitet – geteilt wird, gibt es dabei jedoch einen bezeichnenden Unterschied: Aus dem Blickwinkel heutiger Entwicklungs- bzw. Begabungspsychologie stellen die äußeren Faktoren, die die Entwicklung von Begabung beeinflussen, eine ungemein komplexe Größe dar, in die die vielfältigsten Bereiche hineinspielen. Familiäre Milieus, Mutter-Kind-Bindung, pränatale Einflüsse und früheste musikalische Erfahrungen werden bei der Entwicklung eines angehenden Musikers ebenso berücksichtigt wie der Einfluss von Peergroups, die Beziehung zu Lehrern, der Verlauf der instrumentalen Übebiografie, das Interesse für andere Fachgebiete oder schlicht und einfach dem Zufall unterworfene musikalische Schlüsselerlebnisse. Diese Vielzahl der Einflüsse lässt sich mit dem Gedanken einer direkten Steuerbarkeit oder gar Planbarkeit von Leistungen schlechterdings nicht vereinbaren. Zu den Besonderheiten sozialistischer Bildungssysteme, auf die sich die von uns untersuchten erziehungswissenschaftlichen Begabungsdefinitionen – getreu des
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Marx’schen Grundsatzes einer Einheit von Theorie und Praxis – ja bezogen, gehörte hingegen die Überzeugung, dass sich die Lernbedingungen durch direktive zentralistische Eingriffe in hohem Maße modellieren lassen. Betrachtet man die offiziellen Verfügungen zu den Spezialschulen, so ist man überrascht, auf welch eine detaillierte Ebene sich die Verlautbarungen der höchsten Instanzen (Ministerium für Kultur) mitunter begaben. Dahinter steht ein großes Vertrauen in die Planbarkeit und Herstellbarkeit idealer Bildungswelten. Als Beispiel diene hier eine Verfügung aus dem Jahre 1975, in der besondere Fördermaßnahmen für besonders vielversprechende Schüler festgelegt wurden. »(1) Für die Entwicklung der förderungswürdigsten Studenten und Spezialschüler einschließlich externer Schüler der Hochschulen zu Spitzenkräften sind unter den [sic] Verantwortung der Rektoren individuelle Entwicklungspläne auszuarbeiten, die besondere Förderungsmaßnahmen zu größtmöglichen Entfaltung der künstlerischen Fähigkeiten und zu allseitigen Persönlichkeitsentwicklung enthalten. (2) Diese Förderungsmaßnahmen können u.a. sein: − Aufnahme in einer Meisterklasse, Gewährung eines Zusatzstudiums; − Delegierung zum Auslandsstudium; − Delegierung zu speziellen Kursen und Seminaren, Hospitation bei deutenden Künstlern und Pädagogen; − Verstärkte Ausbildung im künstlerischen Hauptfach; − Individuelle Förderungsmaßnahmen in wissenschaftlichen Disziplinen sowie Maßnahmen zur allseitigen Persönlichkeitsentwicklung; − Systematische Einführung in das Konzertleben einschließlich Rundfunk-, Schallplattenaufnahmen usw.; − Vermittlung von Kompositionsaufträgen mit entsprechenden Aufführungsmöglichkeiten an junge Komponisten; − Delegierung zu internationalen Wettbewerben; − Bereitstellung wertvoller Musikinstrumente; − Gewährung von Sonder- und Förderungsstipendien sowie Festlegung weiterer Maßnahmen zu Verbesserung der Studienbedingungen.« (Ministerium für Kultur 1975)
Die Idee einer zentralistisch gesteuerten Planbarkeit von Lernumgebungen äußert sich auch in dem Tatbestand, dass der Aspekt des Elternhauses und der dort angesiedelten frühesten musikalischen Prägungen in der Musikpädagogik der DDR kaum thematisiert wurde. Denn eben hier hätte man höchst unterschiedliche und der Planbarkeit entzogene familiäre Kontexte berücksichtigen müssen. Man wäre gezwungen gewesen, eine Vielfalt von Milieus zu akzeptieren, die es offiziell ja gerade nicht geben sollte. Das musikalische Bildungssystem strebte zwar eine möglichst frühe und flächendeckende Förderung der Gesamtbevölkerung an. Dass diese Förderung aber von manchen Familien, die über das entsprechende »kulturelle Kapital« (Bourdieu) verfügten, besser genutzt werden konnte als von anderen, wurde nicht offen thematisiert – und wenn, dann nur in der gebetsmühlenartig wiederholten Aufforderung, dass sich die Spezialschulen doch bitte stärker um Proletarierkinder bemühen sollten, was in der Praxis dann durch trickreiche Verbrämungen häufig ausgehebelt wurde. Die
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Nichtbeachtung der vielfältigen Herkunftsdifferenzen reduzierte die Komplexität der auf die Begabung einwirkenden Einflussfaktoren. Da die Umwelt eines angehenden Musikers als weitgehend planbar angesehen wurde, waren die Institutionen, die aus diesen Plänen hervorgingen, in gewisser Weise dazu »verurteilt«, ihr eigenes Tun als erfolgreich begreifen zu müssen. Eine wirklich selbstkritische Evaluation der eigenen Praxis hätte nicht nur die bestehenden Planungen, sondern die Idee von Planbarkeit selbst in Frage stellen müssen. Die Selbstreflexion folgte, wenn sie denn stattfand, immer eher dem Motto: Es ist schon alles gut, muss aber noch besser werden. Noch einmal Erhard Ragwitz (1975, S. 40): »Nehmen Sie, liebe Konferenzteilnehmer, abschließend auch diese Aufzählung als eine Bestätigung für die prinzipielle Richtigkeit und Wichtigkeit unseres Ausbildungsweges in Vorbereitung auf das Hochschulstudium, der mit der auch weiterhin ständig zu verbessernden Talentfindung beginnt und dessen weitere Erfolge durch eine exakte, regelmäßige und umfassende Beurteilung der Talente maßgeblich bestimmt, gelenkt und gefördert werden können.«
Wenn die Institutionen aus staatlicher Sicht (und, wie viele unserer Lehrerinterviews zeigen, auch aus der Perspektive der dort lehrenden Personen) aber eine weitgehend ideale und nur im Detail verbesserungsfähige »Umwelt« darstellten, erhebt sich die Frage, welchen Aspekten es dann zuzuschreiben ist, wenn ein Schüler möglicherweise die geforderten und erwarteten Leistungen nicht erbrachte. Da es an der Umwelt nicht liegen konnte (sie wurde ja, gewissermaßen per definitionem, als die beste aller denkbaren Welten begriffen), dann blieb eigentlich nur noch der Anlagefaktor übrig. Damit wurde paradoxerweise eben das der staatlichen Lenk- und Planbarkeit entzogene stabile und überdauernde Persönlichkeitsmerkmal »begabt« (oder eben »unbegabt«) zu einem entscheidenden Selektionskriterium. Eine verschlungene Situation: Die für die DDR-Pädagogik charakteristische Fokussierung auf den Umweltaspekt begünstigte zunächst die Vorstellung einer weitgehenden Modellierbarkeit der jeweiligen Lernumgebung und damit die Idee einer zumindest tendenziellen Veränderbarkeit der individuellen Dispositionen. Das setzte die staatliche Bildungspolitik und die aus ihr hervorgehenden Institutionen jedoch unter einen beträchtlichen Erfolgsdruck: Es wäre ein Eingeständnis in das Versagen des Systems, wenn die Idee einer zentralistisch gesteuerten Modellierbarkeit von Lernumgebungen nicht in optimalen Strukturen – und, daraus folgend, in herausragenden Leistungen – ihren Niederschlag gefunden hätte. Der daraus resultierende Zwang, die eigenen Strukturen als weitgehend erfolgreich begreifen zu müssen, bürdete die »Schuld« für Versagen oder Erfolg damit durchaus folgerichtig dem einzelnen Schüler – oder besser: seiner Anlage – auf. Der Anlagefaktor erhielt damit unfreiwillig eine Bedeutung, die ihm ideologisch eigentlich gar nicht zukommen sollte. Aus dieser Perspektive überrascht es nicht, wenn die Schülerinnen und Schüler, die nicht zu den »Fischen im Wasser« zählten, die von ihnen selbst akzeptierte Zuschreibung als »Durchschnitt« nicht als inneren Impuls zu einem autonom erfolgenden Wandlungsprozess begriffen, der sie in die Richtung einer integriert-intrinsischen Motivation hätte führen sollen, sondern als eine Forderung wahrnahmen, die implizit die Diagnose eines statischen, nicht veränderbaren Defizits enthielt. Anstatt eines Vertrauensvorschusses (»Auch Du kannst das erreichen!«) scheint mit der Forderung nach Veränderung zumeist die Unveränderbarkeit des aktuellen Orientie-
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rungsrahmens mitgeliefert worden zu sein (»Weil Du nur durchschnittlich begabt bist, musst Du besonders viel arbeiten!«). Statische Orientierungsrahmen finden sich auffallend häufig aber auch bei den »Fischen im Wasser«. Die Zuschreibung und Internalisierung der Rolle des »geborenen Musikers« haben hier in sehr frühen Jahren eine Identität begründet, die zwar auf der einen Seite von musikalischer Neugier und dem Wunsch nach immer weiter fortschreitender musikalisch-instrumentaler Verfeinerung gekennzeichnet war. Damit einher ging allerdings eine durchaus selbstbewusste Geringschätzung von allem, was sich nicht unmittelbar in den eigenen Orientierungsrahmen integrieren ließ. Das zeigte besonders unsere Analyse des Verhältnisses zu den allgemeinbildenden Fächern, das bei den »Fischen« sehr häufig vom Gestus der Abwehr gekennzeichnet ist. Bei diesem Gestus lässt sich nicht übersehen, dass er der Niederschlag einer impliziten Regel war, die den konjunktiven Erfahrungsraum der Spezialschule maßgeblich prägte. Diese Regel, die in hohem Maße auch das Verhältnis der Schülerinnen und Schüler untereinander beeinflusste, konnte zwar durchaus auf den Orientierungsrahmen einwirken, die die »Fische« von zu Hause mitbrachten – allerdings eher im Sinne einer Verengung: durch sie wurde eine mögliche Offenheit für nicht-musikalische Interessensgebiete erschwert. Der Erfahrungsraum führte bei den »Fischen« zu einer Fokussierung aufs Musikalische, indem er Alternativen dazu als Abweichung von einer implizit geltenden Regel kennzeichnete. Der in unserer prozessanalytischen Untersuchung herausgearbeitete Befund, wonach der rekonstruierte Orientierungsrahmen nur in wenigen Fällen im späteren Leben eine grundlegende Wandlung oder gar Transformation erfuhr, bestätigt eindrücklich die erziehungswissenschaftliche Erkenntnis, wonach schulische Erfahrungen in hohem Maße prägend für die weitere Biografie sind (vgl. Nittel 1992). Allerdings kommt im Falle der Spezialschulen ein weiteres Moment hinzu: Stabil konnten die während der Schulzeit gebildeten Orientierungsrahmen nur deshalb bleiben, weil das Berufsleben, auf das die Spezialschulen vorbereiteten, die dort gebildeten Orientierungsrahmen weitgehend fortschrieb. Man kann es auch umgekehrt formulieren und sagen, dass die Schulkultur der Spezialschule in hohem Maße kompatibel zu den Bedürfnissen der beruflichen Wirklichkeit war. Wo diese Bedürfnisse unverändert blieben – und das war trotz der Wende vor allem in den Orchestern und den Musikhochschulen der Fall – gab es für die Befragten anscheinend wenige Gründe, den bestehenden Orientierungsrahmen zu transformieren. Wo allerdings das Berufsleben plötzlich von Spielregeln beherrscht war, die von den Regeln des konjunktiven Erfahrungsraums abwichen, funktionierten die bestehenden Orientierungen nicht mehr, sondern verlangten nach einer Neujustierung, die – das zeigte unsere exemplarische Auseinandersetzung mit dem »Fall 2« – sich vor allem deshalb als schwierig erwies, weil sie eine Überwindung jenes statischen Selbstbildes verlangt hätte, das die Schulkultur der Spezialschule kennzeichnete und das gerade in seiner Statik ein Hemmschuh für tiefgreifende Transformationsprozesse darstellte. Wendet man den für unsere Untersuchung zentralen Begriff der »Passung« nicht nur auf den einzelnen Orientierungsrahmen an, der den impliziten Regeln des Erfahrungsraums mehr oder weniger entsprach, sondern auch auf den Erfahrungsraum selbst, so lässt sich sagen, dass der Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule mitsamt seiner spezifischen Schulkultur zum Berufsleben, auf das er hinführte, seinerseits in einem guten Passungsverhältnis stand. Die Kompatibilität zwischen schuli-
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schem Erfahrungsraum und beruflicher Realität schlägt sich auch in der Tatsache nieder, dass an der Dresdner Spezialschule die Ausbildungsarbeit zu einem großen Teil von Musikern aus den Dresdner Orchestern geleistet wurde. Anders als im Leistungssport der DDR, der bis in seine letzten Winkel straff zentralistisch organisiert war, waren die Orchester, obgleich sie nominell ja ebenfalls staatliche Institutionen waren, immer auch Räume, in denen eine eigene implizite Hierarchie galt – die Hierarchie der Musiker, die abseits politischer Rangfolgen streng regelte, wer in ihr oben und wer unten war. Die maßgeblichen Akteure in dieser Hierarchie besaßen, sobald es ums Fachliche ging, ein beträchtliches Selbstbewusstsein, das von staatlicher Seite aus nicht in Frage gestellt wurde. Ein Musiker der Staatskapelle galt etwas und besaß innerhalb seines eigenen fachlichen Bereichs durchaus auch eine gewisse Macht. Und da der Staat in Hinblick auf die Musik – im Sport wäre das wohl undenkbar gewesen – den Typ des unpolitischen Fachmanns nicht nur duldete, sondern ihn zuweilen sogar auch mit Leitungsaufgaben betraute, konnte dieser Typ auch in der Ausbildung an Spezialschulen und Hochschulen eine beträchtliche Wirkungskraft entfalten. Dass es hier kaum Rollenkonflikte gab – in dem Sinne, dass es für einen systemkritisch eingestellten Orchestermusiker vielleicht ein Problem gewesen wäre, an einer staatlichen Ausbildungsinstitution zu arbeiten – hängt nicht nur damit zusammen, dass diese Ausbildungsarbeit als im Kern nicht politisch begriffen wurde, sondern auch damit, dass die Grundregeln des Erfahrungsraumes Spezialschule hochgradig kompatibel zu den Orientierungsrahmen der Orchestermusiker war. Das Passungsideal des »Fisches im Wasser«, das eine hohe instrumentale Leistungsfähigkeit und eine intrinsisch-integrierte Motivation zum Üben mit einer gleichzeitigen Indifferenz gegenüber allem, was nicht Musik war, verband, war nicht nur dem Erfahrungsraum Spezialschule eingeschrieben, sondern deckte sich auch mit den Erwartungen, die die Orchestermusiker an »ihresgleichen« stellten. Und dass die nicht passenden Orientierungsrahmen an der Spezialschule zur Veränderung angehalten wurden, ohne sie als differente Rahmen wirklich anzuerkennen, ist eine Praxis, die nicht nur für die »offizielle« DDR-Pädagogik kennzeichnend ist, sondern durchaus auch mit dem Selbstverständnis vieler Orchestermusiker übereinstimmte. Diese Parallelität weist darauf hin, dass entscheidende Komponenten des pädagogischen Selbstverständnisses sich zwar einerseits auf systemimmanente theoretische Grundüberzeugungen, wie etwa den Gedanken einer Planbarkeit von Leistungen und Entwicklungen zurückführen ließen, andererseits aber auch von Personenkreisen (wie etwa den Orchestermusikern) geteilt wurden, die ihr eigenes Tun häufig dezidiert als nicht politisch begriffen. Allem Anschein nach gab es in der DDR ein spezifisches pädagogisches Selbstverständnis, das über den Bereich des Politischen weit hinausging und auch von Menschen geteilt wurde, die sich selbst als systemkritisch einstuften. Umgekehrt ließe sich – im Sinne des Bourdieu’schen Staats- und Institutionenbegriffes (vgl. Kapitel 3.5.2.3, S. 231 ff.) – auch sagen, dass gerade die stillschweigende Übernahme pädagogischer Maximen ein Hinweis dafür ist, dass auch das scheinbar unpolitische Agieren im Bereich musikalischer Nachwuchsförderung im Kern eben doch politisch war. Dieser Zusammenhang wurde von einigen der von uns befragten ehemaligen Schülerinnen und Schüler selbst thematisiert. Interessanterweise handelte es sich hier ausschließlich um Vertreter des Typs »Fremdling«, deren Außenseiterstatus sie anscheinend hellhörig für die politischen Implikationen machte, die mit diesen Maximen verbunden waren.
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Diese Unabhängigkeit von im engeren Sinne politischen Maßgaben ist auch der Grund, warum sich entscheidende Punkte im Umgang mit Leistung und Begabung nach der Wende fortschrieben und warum auch Personen, die sich in unseren Interviews der DDR im Ganzen gegenüber als sehr kritisch zu erkennen gaben, das ehemalige Ausbildungssystem dennoch rückhaltlos bejahten. In Dresden ist dieser Zusammenhang möglicherweise besonders ausgeprägt gewesen. Denn hier wurde – anders als etwa in Weimar und Berlin – ein wesentlicher Teil der Ausbildungsarbeit von Personen geleistet, die sich primär nicht als Funktionäre des staatlichen Ausbildungssystems, sondern als Mitglieder alt-ehrwürdiger Orchester, insbesondere der Staatskapelle, verstanden. Dieses Selbstverständnis konnte auf der Bewunderung aufbauen, die weite Teile des Dresdner »Refugiumsbürgertums« (vgl. Karl Siegbert Rehberg 2008) »ihren« beiden Klangkörpern entgegenbrachte – eine Bewunderung, die – wiederum gänzlich anders als im Leistungssport – gerade nicht einem Stolz auf den Staat entsprang, der diese Klangkörper ermöglichte, sondern Niederschlag eines Verständnisses war, das die klassische Musikkultur geradezu als Gegenentwurf zur Alltagswelt des real existierenden Sozialismus begriff. Die Dominanz der Orchestermusiker führte an der Dresdner Spezialschule zu der fast schon absurden Situation, dass Impulse, die eine Wandlung differenter Orientierungsrahmen begünstigten – Plädoyers für ein verstärktes Eingehen auf die jeweiligen Schülerpersönlichkeiten, Förderung breiterer Interessen im künstlerischen Bereich sowie ein Kampf für die Ermöglichung des Abiturs – ausgerechnet von den künstlerischen Leiterinnen ausgingen, von Personen also, von denen eine besonders starke Identifikation mit dem staatlichen System zu erwarten gewesen wäre. Allerdings zeigten unsere Untersuchungen, dass die Rolle des künstlerischen Leiters, obschon sie durchaus mit Weisungsbefugnissen ausgestattet war, die Schulkultur nicht beliebig verändern konnte. Die impliziten Regeln des Erfahrungsraumes erwiesen sich häufig als so stark, dass Änderungsimpulse nur begrenzt aufgegriffen wurden. Gegenüber den Beharrungskräften des Erfahrungsraumes hatten die künstlerischen Leiterinnen oftmals einen schweren Stand. Zu Beginn unserer Studie haben wir die Frage gestellt, ob und inwieweit sich die impliziten Regeln des konjunktiven Erfahrungsraumes der Dresdner Spezialschule auf unsere aktuelle Situation bzw. auf andere Institutionen übertragen lassen. Wir sind einer vorschnellen Beantwortung dieser Frage zunächst ausgewichen und haben dafür plädiert, sie zunächst einmal als Frage ernst zu nehmen, da sie sich – so unsere Argumentation – nicht vorgängig, also nicht ohne eine genaue Kenntnis des diesem Erfahrungsraum zugrunde liegenden Bedingungsgefüges beantworten lasse. Jetzt, zum Abschluss unserer Untersuchung, können wir auf sie nochmals zurückkommen. Die Kompatibilität zwischen dem pädagogischen Selbstverständnis der staatlichen Institution und dem Orientierungsrahmen der diese Institution maßgeblich prägenden Gruppe der Orchestermusiker weist darauf hin, dass eine Argumentation, die den Erfahrungsraum der Dresdner Spezialschule umstandslos einer untergegangenen Welt zurechnet, die für die Gegenwart keinerlei Bedeutung mehr besitzt, deutlich zu kurz greift. Auch die erstaunliche biografische Stabilität, die viele der an der Spezialschule herausgebildeten Orientierungsrahmen auszeichnen, weist eindringlich darauf hin, dass diese Orientierungsrahmen in vielen Bereichen des heutigen Berufslebens noch immer »funktionieren« und insofern eine Gültigkeit besitzen, die über den Horizont der DDR-Geschichte deutlich hinausgeht. Und schließlich zeigt der Vergleich mit der
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bereits zitierten Studie von Henry Kingsbury zum Innenleben musikalischer Ausbildungsinstitutionen, dass bestimmte Eigenarten des Dresdner Erfahrungsraums, allen voran eine Praxis, die das Vermögen zu musikalisch-künstlerischer Autonomie auf eine Weise einforderte, die von denjenigen, die über diese Autonomie nicht von sich aus verfügen, als äußerst heteronom wahrgenommen wurde (vgl. Kingsbury 1988, S. 103–106), ein generelles Kennzeichen von Institutionen zu sein scheint, deren Selbstverständnis auf einem an eine integriert-intrinsische Motivation gekoppelten Leistungsbegriff gründet. Wenn es hingegen ein Merkmal gibt, dass für den Erfahrungsraum der DDRSpezialschulen, nicht aber für heutige Institutionen kennzeichnend ist, dann ist dies vermutlich die innere Struktur des sinngenetischen Typs »Schüler«. Ein Orientierungsrahmen, der sich im Sinne dieses Typs im Hauptfach einer deutlichen Fremdbestimmung ausgesetzt sieht, die nun aber gerade nicht zu einem inneren Bruch mit dem sie auslösenden Erfahrungsraum führt, ist von Faktoren abhängig, die zumindest für die im heutigen Deutschland sozialisierten Jugendlichen so nicht mehr gelten. Ein derartiger Orientierungsrahmen muss, damit er funktionieren kann, innerlich über keine nennenswerten Alternativen zur Spezialschule verfügen, er benötigt gleichzeitig die Gewissheit, dass auch eine eingeschränkte Passung dennoch seinen Eintritt ins professionelle Berufsleben ermöglicht und er muss in der Lage sein, innerlich zu akzeptieren, dass das Anspruchsniveau des Hauptfachunterrichts nicht auf ihn zugeschnitten ist. Während der Typ »Fremdling«, der zumindest teilweise von einem verzweifelten – und letztlich erfolglosen – Kampf um Anerkennung in diesem Erfahrungsraum gekennzeichnet war, durchaus auch heute noch immer wieder zu beobachten ist, dürfte es für den Typ »Schüler«, der zwar ebenfalls keine Passung, dafür aber eine grundsätzliche Offenheit gegenüber anderen Bereichen an den Tag legt, keine Gründe geben, warum er sich intensiv mit einem Gegenstand beschäftigen soll, der ihn nicht im Sinne einer integriert-intrinsischen Motivation erfüllt. Wenn heutige Lehrende am Landesgymnasium, denen die Praktiken der alten Spezialschule noch vertraut sind, diagnostizieren, dass viele Schülerinnen und Schüler heute im Vergleich zu früher deutlich weniger üben, dann hat diese vermutlich zutreffende Beobachtung nicht nur damit zu tun, dass sich heutige Schüler schwerer »motivieren« lassen. Eher weist es darauf hin, dass die sich im Typ »Schüler« manifestierende Alternative eines »Dranbleibens« trotz einer nur eingeschränkten und eher fremdbestimmten Motivation heute nicht mehr greift. Interessanterweise, gleichsam als empirische Bestätigung dieser Vermutung, hat unsere prozessanalytische Rekonstruktion gezeigt, dass die allermeisten Transformationen bzw. Wandlungen des an der Spezialschule entwickelten Orientierungsrahmens innerhalb des »Schüler«-Typs zu verzeichnen gewesen sind. Ein beredter Hinweis dafür, dass eine nur eingeschränkt entwickelte Motivation während der Ausbildungszeit vielleicht respektable Leistungen hervorbringt, aber zu keiner Dauerhaftigkeit im Sinne einer integriert-intrinsischen Motivation führt. Wenn es aber die Aufgabe von Schule ist – sei sie nun »normal« allgemeinbildend oder eine Spezialschule –, nicht nur ein passables Abschlussniveau zu garantieren, sondern den Schülerinnen und Schülern die Möglichkeit zu geben, ihre weitere Biografie autonom und kompetent zu gestalten, dann müsste ihr an dieser Dauerhaftigkeit gelegen sein. Und wenn Musizieren eine Praxisform ist, zu deren zentralen Kennzeichen gehört, dass sie nicht nur in der aktuellen Situation zu Glücksmomenten führt, sondern – wie Ulrich Mahlert postuliert (vgl. Mahlert 2011,
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S. 255 ff.) – in der Lage ist, dauerhaft zu einem geglückten Leben beizutragen, dann muss auch die Schulkultur einer der professionellen Nachwuchsförderung orientierten Ausbildungsinstitution an der Ermöglichung eines derartigen Lebensglücks interessiert sein.
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Jan Erhorn, Jürgen Schwier, Petra Hampel Bewegung und Gesundheit in der Kita Analysen und Konzepte für die Praxis August 2016, 248 S., kart., 19,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3485-3 E-Book: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3485-7
Juliette Wedl, Annette Bartsch (Hg.) Teaching Gender? Zum reflektierten Umgang mit Geschlecht im Schulunterricht und in der Lehramtsausbildung 2015, 564 S., kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2822-7 E-Book: 34,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2822-1
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Pädagogik Tobias Leonhard, Christine Schlickum (Hg.) Wie Lehrer_innen und Schüler_innen im Unterricht miteinander umgehen Wiederentdeckungen jenseits von Bildungsstandards und Kompetenzorientierung 2014, 208 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-2909-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-2909-9
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Inga Eremjan Transkulturelle Kunstvermittlung Zum Bildungsgehalt ästhetisch-künstlerischer Praxen Juni 2016, 448 S., kart., 29,99 € (DE), ISBN 978-3-8376-3519-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3519-9
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