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German Pages [341] Year 2017
Management – Ethik – Organisation
Band 4
Herausgegeben vom Evangelische Bank-Institut für Ethisches Management
Roland Schöttler
Die Innovationsparadoxie der Sozialwirtschaft Rekonstruktion eines multirationalen Innovationsprozesses in einem diakonischen Unternehmen
Mit 10 Abbildungen
V& R unipress
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet þber http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-1477 ISBN 978-3-7370-0746-7 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhÐltlich unter: www.v-r.de Dieses Forschungsprojekt wurde durch die freundliche Unterstþtzung der Hewlett-Packard GmbH ermçglicht. 2017, V& R unipress GmbH, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Gçttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich gesch þtzt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen FÐllen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Titelbild: Roland Schçttler
Meinen wunderbaren Töchtern Lilia und Greta
»Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis.« – Paul Tillich
Inhalt
Vorwort von Hanns-Stephan Haas . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abbildungs- und Tabellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1 Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1 Die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen . . . . . . . . 1.2 Die Fragestellung und ihre praktische und wissenschaftliche Relevanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3 Der Aufbau der Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2 Multirationalität in den Kontexten, Konzeptionen und Konzepten sozialunternehmerischer Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 Kontexte der Umwelt: Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovationsprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1.1 Innovation zwischen Sozialsystem und Sozialpolitik . . . . 2.1.2 Innovation zwischen Theologie und Ökonomie . . . . . . . 2.1.3 Innovation zwischen Mensch und Technik . . . . . . . . . 2.2 Konzeptionen der Theorie: Innovationsbegriffe im sozialunternehmerischen Umfeld . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1 Der Innovationsbegriff in theologischer Perspektive . . . . 2.2.2 Der Innovationsbegriff zwischen sozialen und technisch-ökonomischen Engführungen . . . . . . . . . . . 2.2.3 Der Innovationsbegriff in post-industrieller Konzeption . . 2.3 Konzepte der Praxis: Befähiger, Barrieren und Modelle sozialunternehmerischer Innovation . . . . . . . . . . . . . . . . 2.3.1 Innovationsbefähiger : Was ermöglicht sozialunternehmerische Innovation? . . . . . . . . . . . . .
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40 41 47 57
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Inhalt
2.3.2 Innovationsbarrieren: Was verhindert sozialunternehmerische Innovation? . . . . . . . . . . . . . . 2.3.3 Innovationsmodelle: Wie kann sozialunternehmerische Innovation gefördert werden? . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4 Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.1 Zusammenfassung: Topologie des Diskurses zur Innovation in Sozialunternehmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.4.2 Reflektion: Thesen zur Multirationalität in sozialunternehmerischen Innovationsprozessen . . . . . . . 2.4.3 Forschungslücke und Forschungsfrage . . . . . . . . . . . . .
89 97 112 113 121 125
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4 Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen als Gegenstand empirischer Forschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Forschung als Beobachtung der Praxis . . . . . . . . . . . . . 4.1.1 Beobachtung zweiter Ordnung . . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Systemische Organisationsforschung . . . . . . . . . . . 4.2 Forschungsgegenstand . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Beobachtungsleitender Bezugsrahmen . . . . . . . . . . 4.2.2 Analyseeinheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Forschungsmethodologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Explorative Einzelfallstudie . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 Datengenerierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.1 Einzelinterviews . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2.2 Teilnehmende Beobachtung . . . . . . . . . . . . 4.3.2.3 Dokumentenanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3 Datenauswertung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.1 Offene Codierung . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.3.2 Konzepte erster und zweiter Ordnung . . . . . .
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159 159 160 161 163 164 165 167 167 169 170 172 173 173 174 175
3 Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung 3.1 Entität oder Konstruktion? . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2 Beobachtung und Kommunikation . . . . . . . . . . . . . . 3.2.1 Beobachtung als epistemologische Grundoperation . . 3.2.2 Kommunikation als Letztelement sozialer Systeme . . 3.3 Organisation und Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Organisation als soziales System . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Umwelt der Organisation . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4 Multirationalität und Innovation . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Multirationalität in Umwelt und Organisation . . . . . 3.4.2 Innovation aus systemischer Perspektive . . . . . . .
9
Inhalt
4.3.3.3 Prozessanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.4 Gütekriterien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.4 Forschungsverlauf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.5 Forschungspartner : Die AG Assistive Technologien in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel . . . . . . . . . . . .
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176 178 184
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5 Entfaltung der Innovationsparadoxie eines diakonischen Unternehmens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Selbstbeobachtung: Zwischen Vermeidung und Konflikt . . . . . . 5.1.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstbeobachtung . . . . . 5.1.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstbeobachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.1 Muster : Nicht-Wahrnehmung führt zu Nicht-Bearbeitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.2 Muster : Irritationen in der Umwelt können nicht länger ignoriert werden . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.3 Muster : Entscheidungen der Führung tragen Verunsicherung in die Organisation . . . . . . . . . . 5.1.2.4 Muster : Erste Reaktionen sind von Ängsten geprägt . 5.1.2.5 Muster : Konflikte zwischen Werten und Codes unterschiedlicher Rationalitäten . . . . . . . . . . . . 5.1.2.6 Muster : Ökonomische Dominanz wird wahrgenommen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1.2.7 Muster : Ursachen für fehlende Innovationsfähigkeit wird außerhalb der Organisation verortet . . . . . . . 5.1.2.8 Muster : Unterschiedliche Arbeitsweisen der Innovationspartner finden anfangs schwer zusammen 5.1.2.9 Muster : Fehlende Sprachfähigkeit erzeugt Missverständnisse und Barrieren . . . . . . . . . . . . 5.1.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Selbstbeschreibung: Zwischen Reflektion und Transformation . . . 5.2.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstbeschreibung . . . . . 5.2.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstbeschreibung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.1 Muster : Durch offenen Diskurs wird Vertrauen aufgebaut . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.2 Muster : Einzelpersonen übernehmen Öffnungs- und Brückenfunktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.3 Muster : Schaffung von Kommunikationsräumen ermöglicht Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.4 Muster : Schaffung von Innovationsräumen . . . . . .
191 192 192 193 193 196 198 202 205 210 213 216 220 222 224 224 226 226 229 232 236
10 5.2.2.5 Muster : Praxisnähe fördert Akzeptanz von Innovationen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.6 Muster : Schaffung von Lern- und Erfahrungsräumen ermöglicht Annäherung . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.2.7 Muster : Gegenseitige Sprachfähigkeit wird aufgebaut . 5.2.2.8 Muster : Externe Experten bringen Kompetenzen und Komplexität ein . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Selbstorganisation: Zwischen Kooperation und Integration . . . . 5.3.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstorganisation . . . . . . 5.3.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.1 Muster : Soziale Professionen bringen eigene Kompetenzen und Werte konstruktiv in den Innovationsprozess ein . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.2 Muster : Sprachfähigkeit ermöglicht interdisziplinären Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.3 Muster : Gegenseitiges Lernen und neues Wissen entwickeln sich auf der Grenze zwischen den Disziplinen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.4 Muster : Neue Ideen werden im Zusammenspiel mehrerer Professionen entwickelt . . . . . . . . . . . 5.3.2.5 Muster : Mitarbeitende beginnen, sich mit den Innovationsprojekten zu identifizieren . . . . . . . . . 5.3.2.6 Muster : Innovationen werden in multiplen Nutzendimensionen gedacht . . . . . . . . . . . . . . 5.3.2.7 Muster : Organisationale Strukturen für Innovation werden diskutiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3.3 Zwischenfazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Schlussfolgerungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.1 Innovation braucht ausreichend Irritationen, angemessene Unsicherheit und bindende Entscheidungen . . . . . . . . . 5.4.2 Die Resonanzfähigkeit hängt oft an einzelnen Personen . . . 5.4.3 Die Diskursfähigkeit braucht Orte in der Organisation, das Vertrauen in die Führung und die Offenheit der Beteiligten . 5.4.4 Die Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Sinngemeinschaften in den Innovationsprozess entsteht im ›Zwischenraum‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4.5 Innovationen brauchen das Wissen einer für die Organisation relevanten Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . .
Inhalt
239 242 245 247 251 253 253 254
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261 264 266 268 273 276 278 279 280 281
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11
Inhalt
5.4.6 Nicht-integrierte aber relevante Rationalitäten manifestieren sich im Innovationsprozess als Barrieren . . . . . . . . . . . 5.4.7 Innovationsfähigkeit entwickelt sich in latenten Prozessen, weniger über manifeste Strukturen . . . . . . . . . . . . . . 5.4.8 Zur nachhaltigen Stabilisierung der Innovationsfähigkeit erscheinen manifeste Strukturen sinnvoll . . . . . . . . . . . 5.4.9 Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
284 285 286 287
6 Ertrag für Theorie und Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1 Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft . . . . . . . 6.1.1 Beitrag zu einer Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.2 Beitrag zu einer Systematisierung sozialunternehmerischer Innovationsmodelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.1.3 Beitrag zu einem Verständnis der Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovation . . . . . . . . . . . . . . 6.2 Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis . . . . . . . . . . . 6.2.1 Innovation und Innovationsfähigkeit als strategische Aufgaben begreifen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.2 Die Organisation angemessen mit Unsicherheit versorgen . . 6.2.3 Differenzen als konstruktive Bedingung sozialunternehmerischer Innovation akzeptieren . . . . . . . 6.2.4 Die Entfaltung der Innovationsparadoxie braucht Räume mit unterschiedlichen Funktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . 6.2.5 Ko-Entwicklung latenter und manifester Strukturen . . . . . 6.2.6 Alle relevanten Rationalitäten sind im Innovationsprozess zu berücksichtigen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
289 290
7 Rückblick und Ausblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7.1 Rückblick auf den Verlauf der vorliegenden Forschung 7.2 Ausblick und Vorschläge für weitere Forschung . . . . 7.3 Schlussbemerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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313 313 317 318
Danksagung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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290 297 301 303 303 304 305 306 308 311
Vorwort
Innovation ist in der Selbstbeschreibung sozialer Unternehmen längst zum Standard mit inflationärer Beliebtheit geworden. In keinem Verhältnis dazu steht die theoretische Durchklärung in praktischer Absicht, was denn überhaupt unter Innovation zu verstehen ist, was sie begünstigt oder verhindert. Roland Schöttler unternimmt erfolgreich den anspruchsvollen Versuch, den Imperativ der Innovation durch einen profunden Indikativ zu ersetzen. Er zeigt in Aufnahme neuester Forschungsergebnisse weit über den engen Fokus der Innovationsforschung hinaus, dass die Komplexität und Multirationalität sozialer Unternehmen zugleich Ermöglichungsbasis der Innovation wie auch faktisch häufig der Grund ihres Scheiterns ist. Für die Beurteilung dieser Dissertation mit Bestnote war die souveräne Diskursfähigkeit des Verfassers entscheidend. Ungewöhnlich für eine solche Arbeit ist, dass sie einen unmittelbaren und erkennbaren Beitrag zur Gestaltung von Innovationsprozessen in der Praxis von Sozialunternehmen bietet. So wird dieses Buch nicht nur zufriedene Leser finden, die in der Theorie dem Phänomen der Innovation nachgehen wollen, sondern vor allem Praktiker, die selbst nach durchdachten Wegen suchen, wie sie angesichts wachsender Ungewissheiten ihre Unternehmen innovationsfähig machen oder halten wollen. Herr Schöttler ist vielfältig qualifiziert als Ingenieur mit Zusatzqualifikationen im Management und einschlägiger Praxiserfahrung als Business Development Manager Public & Health Care bei Hewlett Packard Enterprise. Seine Arbeit profitiert von der Vielzahl der Rationalitäten, die er sich in Theorie und Praxis erworben hat und die er verständlich und sprachlich ansprechend zu verschränken versteht. Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas Direktor und Vorstandsvorsitzender der Evangelischen Stiftung Alsterdorf
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis
Abbildung 1: Abbildung 2:
Aufbau der Arbeit Multirationales Spannungsfeld sozialunternehmerischer Innovation Abbildung 3: Unterscheidungen sozialunternehmerischer Innovationsbegriffe Abbildung 4: Befähiger sozialunternehmerischer Innovation Abbildung 5: Barrieren sozialunternehmerischer Innovation Abbildung 6: Modelle sozialunternehmerischer Innovationsförderung Abbildung 7: Topologie des Diskurses zur Innovation in Sozialunternehmen Abbildung 8: Forschungsverlauf Abbildung 9: Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene Abbildung 10: Systematisierung Innovationsbefähiger und -modelle Tabelle 1: Tabelle 2: Tabelle 3:
Kategorien von Innovationsbefähigern Kategorien von Innovationshemmnissen Leitfadenstruktur
S. 38 S. 115 S. 116 S. 118 S. 119 S. 119 S. 120 S. 185 S. 296 S. 299 S. 88 S. 95 S. 171
Abkürzungsverzeichnis
a. a. O. AAL AG BMBF CITEC DFG Ebd. ELSI F& E IT NPO PIKSL SWO u. a. vBS Bethel vgl. z. B.
an anderem Orte Ambient Assisted Living Arbeitsgruppe Bundesministerium für Bildung und Forschung Cognitive Interaction Technology Excellence Cluster Deutsche Forschungsgesellschaft Ebenda Ethical, Legal and Social Implications Forschung und Entwicklung Informationstechnologie Non-Profit Organisation Personenzentrierte Interaktion und Kommunikation für mehr Selbstbestimmung im Leben Sozialwirtschaftliche Organisation unter anderem v. Bodelschwinghsche Stiftungen Bethel vergleiche zum Beispiel
1
Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
Soziale Innovation, Innovation in sozialen Dienstleistungen und der Sozialen Arbeit, Social Entrepreneurship als Innovationsmodell, Innovationsmanagement und Innovationskultur in sozialen Organisation: Nachdem der Begriff der Innovation jahrzehntelang eng mit einem technisch-ökonomischen Wachstumsparadigma verbunden und fester Bestandteil nahezu jeder politischen Agenda war und ist, hält er seit geraumer Zeit auf vielfältige Weise auch im sozialen Bereich Einzug. Für diese Entwicklung können verschiedene Treiber ausgemacht werden. Die Diagnose, dass angesichts knapper Kassen und Engpässen auf dem Arbeitsmarkt die sozialen Herausforderungen der Gesellschaft, beispielsweise in Form des demographischen Wandels, des Inklusionsziels und der Armutsentwicklung, mit den bisherigen Konzepten und Strukturen mittelbis langfristig wohl nicht zu lösen sein werden, ist mittlerweile ein Allgemeinplatz – dadurch jedoch nicht weniger zutreffend.1 Entsprechende große Hoffnungen und Erwartungen verbinden sich daher mit Innovationen des Sozialsystems und seiner Organisationen, um neue Antworten auf heutige und zukünftige soziale Herausforderungen zu finden. Zudem stellt der zunehmende Wettbewerb im Zuge der Ökonomisierung des Sozialbereichs ebenso einen Innovationstreiber dar, wie die fortschreitende Technisierung und Digitalisierung fast aller gesellschaftlichen Bereiche. Vor dem Hintergrund dieser Erwartungen und Entwicklungen legen Sozialunternehmen zunehmend einen Schwerpunkt auf das Thema Innovation, nicht zuletzt um sich gegenüber ihren Anspruchsgruppen und den gesellschaftlichen Erwartungen zu legitimieren.2 Die wissenschaftliche Reflektion folgt dieser Entwicklung, wobei zu Beginn des Diskurses vor allem ein Schwerpunkt auf die theoretische Konzeption und Definition sozialer Innovation gelegt wurde, um sich von der technisch-ökonomischen Prägung des Begriffs abzugrenzen.3 In den letzten Jahren werden 1 Vgl. z. B. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 4ff. 2 Vgl. Aghamanoukjan (2012), S. 243f., Drepper (2010), S. 160. 3 Vgl. z.b. Ogburn (1933), Brooks (1982).
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
zunehmend auch die organisationalen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen für innovatives Handeln betrachtet, womit Sozialunternehmen als Orte der Innovation verstärkt in den Fokus geraten.4 Es werden dabei Organisationsformen, Methoden, Modelle und Kriterien zur Gestaltung sozialer Innovation und zur Erhöhung der Innovationsfähigkeit sozialer Organisationen diskutiert. Der jüngste Diskursfaden zu Social Entrepreneurship und Social Enterprises ist dafür ein aktuelles Beispiel.5 Dabei ist zu beobachten, dass die Innovationsfähigkeit von Sozialunternehmen höchst unterschiedlich wahrgenommen wird. Für manche der Autoren,6 die dieses Thema bearbeiten, gelten sie bereits auf Grund ihres »genetischen Codes« und ihrer Geschichte als besonders innovativ, viele andere sehen sie als starr, bürokratisch und sehr wenig innovativ an.7 Die Bandbreite des Begriffs Sozialunternehmen mag daran ebenso einen Anteil haben wie die Unschärfe, was in sozialen Bereichen denn nun genau als Innovation zu bezeichnen ist. In der Diskussion werden unter Sozialunternehmen die großen, etablierten Träger der freien Wohlfahrtspflege ebenso gefasst wie kleine ›Social Startups‹. Mal wird bereits jede Optimierung des Leistungsangebots als Innovation deklariert, mal gilt die Veränderung der Gesellschaft als Innovationsziel. Der Diskurs zur Innovation in Sozialunternehmen ist entsprechend von höchst unterschiedlichen Wahrnehmungen und Definitionen geprägt. Fragen, die angesichts dieser Vielfalt zu stellen wären, sind unter anderem: Was haben Sozialunternehmen bei aller Unterschiedlichkeit gemeinsam? Und was unterscheidet sie bei aller Gemeinsamkeit, so dass sie mal innovativ, mal restaurativ erscheinen? Von welcher spezifischen Art sind die Innovationen, die sie hervorbringen? Und wie erreichen sie diese? Im Zusammenhang mit Innovation lenken diese Fragen den Blick auf die 4 Vgl. Mulgan (2007), S. 8. 5 Vgl. z. B. Then et al. (2013), Schröer/Strauch/Schmitz (2012). 6 Die vorliegende Arbeit versteht sich als rekonstruierende Sozialforschung. Sie geht daher von einer Denktradition aus, in der soziale Wirklichkeit durch Sprache und Kommunikation konstruiert wird. Sprache reflektiert somit gesellschaftliche Werthaltung und manifestiert so Ungleichheiten und Asymmetrien. Die Verwendung eines generischen Maskulinums, in dem die weibliche Form ›mitgemeint‹ ist, scheint vor diesem Hintergrund unzureichend. Daher werden im weiteren Verlauf neutrale, geschlechtergerechte Bezeichnungen bevorzugt. Wo dies nicht möglich ist, wird in loser Folge zwischen maskulinen und femininen Formen gewechselt, ohne dass damit eine Wertung verbunden ist (vgl. auch Jung (2008), S. 17, Seipel (2013), S. 11). 7 Vgl. z.B. Maelicke (2008), S. 809, Then/Scheuerle/Schmitz (2012), S. 5, Wendt (2005b), S. 5. Sehr anschaulich wurden diese unterschiedlichen Wahrnehmungen beispielsweise im Forum Diakoniewissenschaft des Instituts für DiakonieManagement und Diakoniewissenschaft mit dem Thema »Innovationen: das Alte und das Neue denken« am 9. November 2012 (vgl. hier die Referate von Ulrich Steger, Sabine Korb-Chrosch und Markus Horneber (http://www.diakonie wissenschaft-idm.de/index.php?article_id=57, abgerufen am 3.1.2017).
Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
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Komplexität sozialer Unternehmen und ihrer Umwelt, die in der Vielfalt und Unterschiedlichkeit der Anspruchsgruppen, Akteure, Professionen und Erwartungen sichtbar wird. So ist es wenig überraschend, dass trotz aller Unterschiedlichkeit der Definitionen und Wahrnehmungen von sozialunternehmerischer Innovation in einem Punkt weitgehende Einigkeit herrscht: Innovationsprozesse sozialer Organisationen sind von einer schwer zu fassenden Komplexität und Subtilität geprägt, die bislang in der wissenschaftlichen Reflektion noch wenig erforscht sind.8 Möchte man dieses Phänomen näher beleuchten, scheint dies vor allem jenseits der bisherigen Diagnose steigender gesellschaftlicher Herausforderungen, eines Imperativs zu mehr Innovationsfähigkeit sozialer Organisationen, der Übernahme ökonomischer Innovationsmethoden, einem verkürzten Innovationsverständnis oder der anekdotischen Aufzählung erfolgreicher Innovationsbeispiele möglich zu sein. Ein solcher Beitrag müsste eine andere Perspektive auf Innovation im Kontext sozialer Unternehmen vorschlagen und Erklärungsansätze für die höchst unterschiedliche Wahrnehmung der Innovativität des Sozialbereichs ebenso ermöglichen, wie für die schwer zu fassende Subtilität von Innovationsprozessen in Sozialunternehmen. Die vorliegende Arbeit möchte eine solche Perspektive anbieten. Zu diesem Zweck rückt sie den komplexen organisationalen Charakter von Sozialunternehmen, und hier insbesondere der diakonischen Unternehmen, in den Mittelpunkt des Interesses: Ihre hybriden Legitimationszusammenhänge zwischen ökonomischen, politischen, sozialen und ethischen Erwartungen, ihre sich daraus ergebenden heterogenen Organisationstrukturen und die damit verbundene Mehrdimensionalität ihres Handelns und Entscheidens. Bisher findet dieses zentrale Organisationsmerkmal, das Sozialunternehmen jeglicher Art miteinander verbindet, nur selten eine angemessene Berücksichtigung im Diskurs zur Innovation in Sozialunternehmen.9 Zwar wird häufig auf die Besonderheiten der Sozialunternehmen und ihres gesellschaftlichen Umfelds hingewiesen, eine theoretische Fundierung oder empirische Untersuchung dieser Besonderheit in Bezug auf Innovationsprozesse findet jedoch kaum statt.10 Dabei könnte gerade dieser Zugang ein heuristisches Potential entfalten, warum sich soziale Unternehmen in ihrer Innovationsfähigkeit und deren Wahrnehmung so signifikant unterscheiden, und warum sich Innovationprozesse in diesen Organisationen häufig so komplex und widersprüchlich darstellen. Die vorliegende Untersuchung greift diese Organisationsspezifik auf und geht von der zentralen These aus, dass in der Komplexität der Umwelt und der Pluralität der Akteure in 8 Vgl. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 56f., Langer/Eurich (2015), S. 73. 9 Vgl. Jay (2013), S. 137ff. 10 Vgl. McDonald (2007), S. 257, Sundbo (2000), S. 111.
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
den Organisationen eine Innovationsparadoxie begründet ist, mit der soziale Unternehmen konfrontiert sind: Dass in eben dieser Pluralität und Komplexität wesentliche Bedingungen für Innovationen den gleichen Ursprung haben wie die Bedingungen ihres Scheiterns.11
In der Literatur wird in diesem Zusammenhang häufig die Seite des Scheiterns betont und ein Schwerpunkt auf die Konflikte und Spannungen gelegt, die Innovations- und Entscheidungsprozesse erschweren oder verhindern.12 Seit einiger Zeit wird die Komplexität und Pluralität, mit der diese Unternehmen konfrontiert sind, beziehungsweise die Fähigkeit, diese Pluralität konstruktiv zu bearbeiten, jedoch auch als Ressource für Innovation gesehen.13 Folgt man dieser Ausgangsthese, so ist unter anderem zu fragen, wie die Komplexität der Umwelt und die Pluralität der Akteure sozialunternehmerische Innovationsprozesse paradox beeinflussen, wie sich vor diesem Hintergrund ein Innovationsbegriff für Sozialunternehmen theoretisch konzeptualisieren lässt, und vor allem wie Sozialunternehmen diese Paradoxie in ihren Innovationsprozessen bearbeiten und entfalten können. Diesen Fragen soll in der vorliegenden Arbeit nachgegangen werden. Zunächst soll dabei die Ausgangsthese der Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen näher erläutert werden (Abschnitt 1.1). Aufbauend auf dieser These wird die Motivation der vorliegenden Arbeit, die Fragestellung sowie die praktische und wissenschaftliche Relevanz dargelegt (Abschnitt 1.2). Der zur Bearbeitung der Fragestellung gewählte Aufbau der Arbeit wird schließlich in Abschnitt 1.3 vorgestellt.
1.1
Die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen
»Das Paradox der Innovation liegt darin, daß sie etwas voraussetzt, das sie erneuert. Sie bricht mit der Vergangenheit, indem sie sie fortsetzt, und setzt sie fort, indem sie den Gang der Dinge unterbricht«.14
Wer sich mit Innovation beschäftigt, bekommt es in mehrfacher Hinsicht mit Paradoxien zu tun. Ihre Zuschreibung als Innovation erfolgt in der Rückschau auf die Vergangenheit des nun nicht mehr Neuen. Ihre Steuerung und Planung behandelt Zukünftiges in der Gegenwart. In diesem Zwischenraum zwischen 11 Vgl. Jay (2013), S. 137ff., Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 6, Du Chatenier et al. (2009). 12 Vgl. Pache/Santos (2010), Reay/Hinings (2009), Friedland/Alford (1991). 13 Vgl. Jay (2013), S. 137ff., Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 6, Smith (2014), S. 1499, Stark (2009), S. 16, Chen/O’Mahony (2006). 14 Waldenfels (1990), S. 96.
Die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen
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Gegenwart und Zukunft können zwei grundlegende Paradoxien der Innovation benannt werden: Zum einen die Paradoxie der Suche oder der Steuerbarkeit und zum anderen die Paradoxie der Zukunftsfähigkeit.15 Die Suchparadoxie behandelt dabei die grundsätzliche Unbekanntheit des Innovationsgegenstandes zu Beginn der Suche nach Innovation. Wäre er bekannt, wäre es keine Innovation.16 Wenn das Ziel an sich somit unbestimmt ist, ist auch der Weg zum Ziel und damit die Planung und Steuerung unbestimmt. Ortmann fasst die Paradoxie der Suche zusammen, indem »Innovation etwas Neues, noch Unbekanntes hervorbringen soll, von dem man eben deshalb nicht wissen kann, wo und wie es zu finden ist«.17 Zu rechnen ist somit bestenfalls mit der »Ahnung eines Zusammenhangs« und einer »Andeutung des Verborgenen«.18 Die Paradoxie der Zukunftsfähigkeit liegt hingegen in den nicht bestimmbaren Wirkungen des Neuen auf das Bestehende. Innovationen können Handlungsoptionen ebenso erweitern wie einengen, Unsicherheit reduzieren und neue erzeugen, Organisationen und Gesellschaftsbereiche stabilisieren und destabilisieren.19 Einige, in der Regel positive Folgen sind intendiert oder erhofft; andere, oft negative Folgen werden erst sichtbar, wenn die Innovation Verbreitung findet.20 Jegliche Innovation und jedes Innovationsprojekt bewegt sich somit in einem paradoxen Spannungsfeld. Über diese grundlegenden Paradoxien der Innovation hinaus haben es soziale Organisationen jedoch mit einer weiteren operativen und für die Organisationen spezifischen Innovationsparadoxie zu tun, die im besonderen Charakter der Organisationsform begründet ist, und auf die im Folgenden näher eingegangen wird.
Sozialunternehmen als multirationale Organisationen Die Funktion sozialer Unternehmen ist in der Bearbeitung sozialer und gesellschaftlicher Problemlagen begründet und zielt sowohl auf die Verbesserung individueller Lebenssituationen als auch auf gesellschaftliche Veränderung insgesamt. Sie interagieren hierfür mit unterschiedlichen gesellschaftlichen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Soziale Hilfe, Gesundheit oder Religion.21 Dadurch werden unterschiedliche Erwartungen und Steue15 16 17 18 19 20
Vgl. Ortmann (1999), Simonis (1999), S. 149ff. Vgl. Waldenfels (1990), S. 97. Ortmann (1999), S. 249. Polanyi (1985), S. 28. Vgl. Simonis (1999), S. 150. In der Technikfolgenabschätzung ist diese Paradoxie der Hintergrund für das CollingridgeDilemma: Erst wenn das Neue durch Diffusion zur Innovation wird, werden die Folgen sichtbar. Wenn die Folgen sichtbar werden, ist die Innovation jedoch bereits verbreitet und nur noch schwer rückgängig zu machen (vgl. Collingridge (1980)). 21 Vgl. Starnitzke (1996), S. 245ff., Baecker (1994), Fuchs (2000).
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
rungsmechanismen an sie herangetragen, denen Sozialunternehmen durch multiple und teils widersprüchliche Ziele zu entsprechen suchen. Organisationen, die in einem solchen Umfeld operieren, werden in der Literatur als pluralistische,22 hybride,23 multidiskursive24 oder auch multirationale Organisationen beschrieben.25 Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass sie auf Grund des pluralistischen Umfelds in ihrem organisationalen Handeln und Entscheiden mit mehreren unterschiedlichen Logiken oder Rationalitäten konfrontiert sind.26 Kraatz et al. halten beispielsweise fest: »Such an organization is subject to multiple regulatory regimes, embedded within multiple normative orders, and/or constituted by more than one cultural logic. It is a participant in multiple discourses (…). It thus possesses multiple (…) identities which are conferred upon it by different segments of its pluralistic environment«.27
Sozialunternehmen müssen unter anderem sozialpolitische Rahmenbedingungen, ökonomische Marktmechanismen, medizinische und soziale Professionslogiken und, im Falle konfessioneller Organisationen wie Diakonie oder Caritas, theologische Begründungszusammenhänge berücksichtigen. Sie müssen finanzielle Stabilität und Existenzsicherung mit ihrer sozialen Mission und Identität vereinbaren.28 Sie finden somit in ihrer Umwelt mächtige Anspruchsgruppen vor, die der Organisation oder Teilen davon als Referenzsystem dienen, und deren Logiken in der Organisation berücksichtigt werden müssen.29 Um die Komplexität der Umwelt und Tätigkeitsbereiche bearbeiten zu können, und um sich gegenüber den verschiedenen relevanten Anspruchsgruppen und Referenzsystemen zu legitimieren, wird eine Binnendifferenzierung der Organisation in unterschiedliche Professionen, Disziplinen und Identitäten erforderlich.30 Um sich gegenüber einer ökonomischen Steuerungslogik im Zuge der Ökonomisierung sozialer Arbeit zu legitimieren werden Ökonomen benötigt, zur Anschlussfähigkeit gegenüber der Kirche eines konfessionellen Trägers sind Theologinnen und zur Legitimation gegenüber einer medizinischen, sozialen oder anderen »Community« sind entsprechend Mediziner, Sozialarbeiterinnen, Altenpfleger, Psychologinnen, Pädagogen, aber auch Verwaltungsfachleute, Juristen oder möglicherweise Ingenieure erforderlich. Schedler und 22 23 24 25 26 27 28 29 30
Vgl. Kraatz/Block (2008), Denis/Langley/Rouleau (2007), Langley/Cloutier (2007). Vgl. Powell (1987), Lan (1992), Pache/Santos (2013). Vgl. Beyes/Jaeger (2004). Vgl. Rüegg-Stürm (2011), Schedler (2012), Schedler/Rüegg-Stürm (2013). Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 61. Kraatz/Block (2008), S. 243. Vgl. Doherty/Haugh/Lyon (2014), S. 417f., Smith et al. (2013). Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 36, Greenwood et al. (2010). Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 14, Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 71f., Wimmer (2012), S. 41, Pache/Santos (2010), S. 460, Schröer/Strauch/Schmitz (2012), S. 217.
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Rüegg-Stürm führen aus: »Pro Referenzsystem wird (mindestens) eine interne Stelle oder Gruppe die Federführung übernehmen, um die Legitimation dieses Referenzsystems sicherzustellen«.31 Dadurch erhöht sich wesentlich die Komplexität der Organisation, da »die Komplexität des Umfelds (…) von Akteuren als Träger der verschiedenen Rationalitäten in die Organisation eingeschleppt [wird]«.32 Diese erhöhte Organisationskomplexität kann dabei auf wenigstens drei Ebenen beobachtet werden. Erstens kommen durch die Binnendifferenzierung unterschiedliche Professionen und Disziplinen mit ihrem je eigenem Wissen und eigenen Methoden innerhalb einer pluralistischen Organisation zusammen.33 Sozialunternehmen benötigen das Wissen der verschiedensten Disziplinen in ihren Organisationsaktivitäten, wodurch prinzipiell ein organisationsspezifischer, interdisziplinärer Wissenskorpus entsteht, der den Hintergrund für Innovationsprozesse in der Organisation darstellt.34 Durch die Beziehung und den Austausch mit externen Referenzsystemen wird der Wissenskorpus zugleich über die Organisationsgrenzen hinaus ausgedehnt, beispielsweise durch professionsspezifische Konferenzen, Mitarbeit in interdisziplinären Forschungsprojekten, Austauschzirkeln auf Führungsebene oder Organisationsnetzwerken. Der interdisziplinäre Wissenskorpus kann so durch Vernetzung unterschiedlicher Akteure aktuell und wertvoll gehalten werden.35 Zweitens bringen die unterschiedlichen Professionen verschiedene Kulturen und Identitäten in die Organisation ein. Die Zugehörigkeit zu einer Profession erfolgt dabei über formalisierte Eintrittsvoraussetzungen (z. B. Abschluss eines spezifischen Studiums oder Berufsausbildung) und die Sozialisation in eine professionsspezifische Kultur.36 In seinem Konzept der »occupational culture« sieht Schein diese Sozialisation insbesondere in wissensintensiven Berufsfeldern ausgeprägt: »If an occupation involves an intense period of education and apprenticeship, there will certainly be a shared learning of attitudes, norms, and values that eventually will become taken-for-granted assumptions for the members of those occupations«.37
Aufgaben- oder berufsbezogenene Identitäten können dabei nach Schein eine größere Rolle für das Selbstverständnis einer Person spielen, als dies für GeSchedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 73. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 61. Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 45. Vgl. Parpan-Blaser (2011), S. 119f.. Dadurch wird das Thema Wissensmanagement in diesen Organisationen zu einem besonders spannenden Feld. Vgl. hierzu Haas (2011), S. 72. 35 Vgl. Meissner/Wolf/Harboe (2015), S. 24 mit Verweis auf Wolf/Hilse (2014), S. 171ff. 36 Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 45, Reichard (2012), S. 242, Wendt (2005b), S. 27, Hogg/Terry (2000). 37 Schein (2004), S. 20. 31 32 33 34
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schlecht, Abstammung oder soziale Herkunft der Fall ist.38 Eine pluralistische Organisation beinhaltet somit multiple, ausgeprägte Berufskulturen, die Kommunikation, Kooperation und Konflikte innerhalb der Organisation beeinflussen. Die Berufskulturen können häufig im Organisationsalltag an Hinweisen auf »die Ökonomen«, »die Sozialarbeiter«, »die Theologen« oder »die Mediziner« bemerkt werden. Drittens gilt innerhalb jeder professionsspezifischen Kultur eine eigene Rationalität, ein Kode oder eine Logik, die darüber entscheidet, was die Profession als legitim, erfolgreich und sinnvoll ansieht. Schedler und Rüegg-Stürm sprechen in diesem Zusammenhang von Sinngemeinschaften, die durch eine zugrunde liegende Rationalität konstituiert werden.39 Eine Rationalität kann in diesem Sinne als Handlungs- und Begründungslogik angesehen werden und ist eng gekoppelt mit der Logik der Referenzsysteme wie dem Sozialsystem, Religion, Ökonomie oder den Berufsgruppen, auf die sich die Sinngemeinschaften berufen.40 Wie bereits erwähnt, werden Sozialunternehmen daher auch als multirationale Organisationen bezeichnet werden, die weder in ihrem Innern noch in ihrer Umwelt auf eine dominante Rationalität zurückgreifen können, die als Prämisse in Entscheidungsprozessen genutzt werden könnte.41 Während privatwirtschaftliche Organisationen (meinen?) sich im Zweifelsfall primär an einer ökonomischen Logik orientieren zu können, erfolgt die Entscheidungsfindung in Sozialunternehmen im Rahmen von Aushandlungsprozessen zwischen den ökonomischen, politischen, sozialen, theologischen und anderen Rationalitäten, die ebenfalls zu berücksichtigen sind.42 Sozialunternehmerische Innovationsparadoxie Die Diversität von Wissen, Kulturen und Rationalitäten innerhalb sozialer Unternehmen ist nun innovationstheoretisch in mehrfacher Hinsicht von besonderem Interesse, da eine Kernthese der Innovations-, Kreativitäts- und Wissensforschung lautet: Die Wahrscheinlichkeit für die Entstehung des Neuen ist an oder auf den Grenzen zwischen Systemen, Disziplinen, Professionen, Kulturen, Rationalitäten, etc. besonders hoch.43
38 39 40 41
Vgl. Johnson et al. (2006), S. 498. Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 33ff. Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 44, vgl. auch Friedland/Alford (1991). Vgl. Saz-Carranza/Longo (2012), Langley/Cloutier (2007), Reay/Hinings (2009), Pache/ Santos (2013). 42 Vgl. Höver (2013). 43 Vgl. Stark (2009), Nissani (1997), Milgram (2009), S. 103, Alves et al. (2007), Jansen (2013b), S. 82, John (2005), S. 61, Bergmann/Daub (2006), S. 123.
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Die Kombination und Konfrontation unterschiedlicher Logiken und Disziplinen kann in einer Organisation daher ein erhebliches Innovationspotential entfalten.44 Entsprechend können pluralistische Organisationen eine hohe Innovationskraft entwickeln, was beispielsweise Jay als wesentlichen Grund ihrer Existenz ansieht: »For several decades, scholars and practitioners have sought novel organizational models and strategies for addressing big, complex problems: scientific and technological innovation, poverty alleviation, public health, education, and environmental sustainability, among others. One result of this search has been the formation of organizations that draw from multiple institutional logics, particularly when problems seem to dwarf the ability of organizations that hew narrowly to one logic«.45
In dieser Argumentation existiert diese Organisationform, eben weil sie unterschiedliche Logiken und Disziplinen vereint, und deshalb (theoretisch) in der Lage ist, Probleme zu lösen, die aus Sicht einer einzigen Logik unlösbar erscheinen. Das Spannungsfeld, das oft als Problem wahrgenommen wird, ist eben das, was diese Organisationen potentiell besonders innovativ werden lässt. Stark bezeichnet dieses Spannungsfeld als »resourceful dissonance«,46 und sieht das Zusammenbringen inkompatibler Denktraditionen als häufig anzutreffendes Muster in erfolgreichen Innovationsprozessen an.47 Damit knüpft er an die Eigenschaft von Innovation als Grenzphänomen an, das bereits früh und wiederholt betont wurde. So befindet Jansen: »Innovation findet an oder auf der Grenze statt«.48 John bezeichnet Innovation als »quer zu den Funktionssystemen« verlaufend,49 und Bergmann et al. sehen Innovationen »an den Grenzen des Systems, da wo es mit anderen kommuniziert und da wo es seine Identität verlässt«.50 Entsprechend erwarten Meissner et al. Innovationspotenzial im ›Dazwischen‹ unterschiedlicher Rationalitäten und Disziplinen, und sehen Innovationsprojekte in diesem Zwischenraum in einer paradoxen Position im Spannungsfeld unterschiedlicher Domänen.51 44 Vgl. Chen/O’Mahony (2006), Murray (2010), Reay/Hinings (2009), Stark (2009). Ähnlich wird auch in Bezug auf das Thema Diversity in Verbindung mit Innovation argumentiert (vgl. beispielsweise Bassett-Jones (2005), Kutzner (2011)). Hier steht jedoch nicht die Vielfalt unterschiedlicher Sinngemeinschaften oder Disziplinen im Vordergrund, sondern die Vielfalt der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter hinsichtlich Geschlecht, Religionszugehörigkeit, ethnische und soziale Herkunft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung, etc. (vgl. Schröer (2012)). 45 Jay (2013), S. 137. 46 Stark (2009), S. 18. 47 Vgl. a. a. O. S. 16. 48 Jansen (2013b), S. 82. 49 John (2005), S. 61. 50 Bergmann/Daub (2006), S. 123. 51 Vgl. Meissner/Wolf/Harboe (2015).
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An den Grenzen oder in den Zwischenräumen werden Perspektiven verschoben, Grundannahmen hinterfragt und Wissen neu kombiniert.52 Milgram sieht daher interdisziplinäres Denken und die Anwendung disziplinfremder Methoden auf ein vorhandenes Problem als besonders wertvoll für die Entstehung neuer Ideen an und diagnostiziert: »Intellectual cross-pressures generated by an interdisciplinary outlook liberate a person’s thinking from the limiting assumptions of his own professional group, and stimulate fresh vision«.53
Dieser Argumentation folgend, legt die Innovationsforschung zunehmend einen Schwerpunkt auf offene, interdisziplinäre oder systemische Ansätze, in denen unterschiedlichste Sphären, Disziplinen und Rationalitäten zur Anregung, Inspiration und Erhöhung des Variationspotentials und damit der Innovationsfähigkeit genutzt werden.54 In dieser Sichtweise sind Sozialunternehmen somit auf Grund ihres pluralistischen Charakters besondere Orte für die Entstehung nachhaltiger Innovationen. Allerdings, wie fruchtbar und produktiv unterschiedliche Logiken und interdisziplinäres Wissen zur Innovation genutzt werden können, hängt wesentlich davon ab, wie gut es der Organisation gelingt, unterschiedliche Kulturen und Rationalitäten konstruktiv zu verknüpfen, so dass eine »resourceful dissonance« überhaupt entstehen kann. Entscheidend für das Innovationspotential einer Organisation ist in diesem Zusammenhang somit ihre Fähigkeit, unterschiedliche Rationalitäten und Sinngemeinschaften sowohl innerhalb als auch von außerhalb der eigenen Organisation in Innovationsprozessen zu integrieren. Diese Überlegung führt uns zur Kehrseite der Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen. Denn so wie die Pluralität und deren konstruktive Handhabung zur Entstehung von Innovation beiträgt, so sehr kann sie auch zum Scheitern oder zur Blockade von Innovation beitragen, da das Zusammentreffen unterschiedlicher Sphären nicht selten zu spannungsgeladenen Konfliktsituationen führt, wie Schedler und Rüegg-Stürm festhalten: »Aus dem Widerstreit unterschiedlicher Rationalitäten können hochgradig wertgeladene und emotionale Debatten entstehen, denn zur Disposition steht nichts Geringeres als die Wertschätzung des Gegenübers in der Organisation. Wer mich nicht verstehen will, der akzeptiert mich und meine Argumente nicht und versucht, sich und seine Argumente über meine zu stellen«.55
52 Vgl. Akkerman/Bakker (2011). 53 Milgram (2009), S. 103. 54 Vgl. u. a. Howaldt/Schwarz (2012), S. 51, Jansen (2013b), S. 82, sowie grundlegend u. a. Chesbrough (2003), Meissner (2011), Hasse (2003), S. 93ff. 55 Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 77.
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Die pluralistische Organisation ist gekennzeichnet durch widerstreitende externe Ansprüche und Erwartungen und interne Kulturen und Rationalitäten,56 die innerhalb einer Organisation zu Kommunikations- und Kooperationshindernissen führen und sich gerade in Sozialunternehmen als Innovationsbarrieren manifestieren können.57 Gegenseitiges Misstrauen, Opposition und Ablehnung entwickelt dann eine eigene Dynamik, da »das für den interrationalen Diskurs typische »Nicht-verstehen-können« (…) dann als »Nicht-verstehen-wollen« ausgelegt [wird], und eine Spirale der Ablehnung [einsetzt]«, wie Schedler et al. ausführen.58 Die Ökonomin versteht möglicherweise den Sozialarbeiter nicht, die zunehmend säkularen Altenpflegerinnen nicht den Theologen oder Diakon in einem diakonischen Unternehmen, häufig versteht niemand die Leute aus der IT,59 und das Sozialunternehmen insgesamt ›versteht‹ die Politik und die Kostenträger nicht. Die Organisation und ihre Innovationsbemühungen bewegen sich somit schnell in aufgeladenen Spannungsfeldern wie beispielsweise zwischen Ethik und Ökonomie, Sozialsystem und Sozialpolitik oder Mensch und Technik. Dabei besteht zwischen den unterschiedlichen Rationalitäten und Professionen eine teilweise hohe gegenseitige Abhängigkeit zur Erreichung der jeweils eigenen Ziele, da innerhalb einer Organisation gemeinsam zu handeln ist. In konfliktgeladenen Situationen entsteht somit ein Nicht-Miteinander-Wollen und Nicht-Ohneeinander-Können, ohne dass die Beteiligten die Konflikte und Widersprüche immer als solche wahrnehmen.60 Kraatz et al. sprechen daher von einem »pluralistic social dilemma«: »We think that the organization with such diverse purposes might be productively conceptualized as a sort of ›pluralistic social dilemma‹. Its constituencies are mutually dependent as in the archetypical social dilemma (Hardin, 1968). They require cooperation from other groups in order to achieve their own ends, and each group has some ability to block the others’ attempts at goal attainment. But, because the purposes and values of each group are wholly distinct (and perhaps fundamentally incommensurable) the recognition of mutual dependence and potential symbiosis is greatly hindered. Purposes that are merely different are likely to be viewed as oppositional«.61
Diese Spannungen treten vor allem dann auf, wenn unterschiedliche Rationalitäten auf Grund ihrer Logik eine Situation und die damit verbundenen Ak56 Vgl. Pache/Santos (2010), Kraatz/Block (2008). 57 Vgl. Endres/Puch (2008), S. 72, von der Eichen et al. (2010), S. 128, Wendt (2005b), S. 27, Schwarz (1996), S. 23, Thom (2011), S. 27. 58 Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 77. 59 Vgl. auch Schöttler (2011). 60 Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 78. 61 Kraatz/Block (2008), S. 262 mit Bezug auf Hardin (1968).
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
tionen und Ziele unterschiedlich beurteilen.62 Insbesondere in Innovationsprozessen, die per Definition gravierende Veränderungen und Verunsicherungen mit sich bringen können, entsteht somit ein hohes Konfliktpotential, das zur Lähmung der Organisation und damit zum Scheitern der Innovation führen kann.63 Der Ökonomie wird unter Umständen soziale Kälte, der Sozialarbeit ökonomische Naivität, der Theologie Realitätsferne und der Medizin Arroganz unterstellt. Der eigentlich innovationsfördernde, interdisziplinäre Wissenskorpus und das inspirierende, gegenseitige Hinterfragen unterschiedlicher Perspektiven und Professionskulturen können durch Blockade, Opposition und Misstrauen zwischen unterschiedlichen Sinngemeinschaften unfruchtbar werden. So resümieren Rüegg-Stürm et al., dass zum einen »die widersprüchlichen Anforderungen an eine Organisation gemeinschaftliches Handeln und Entscheiden zu blockieren drohen« und andererseits jedoch genau die »Bearbeitung dieser Widersprüchlichkeit […] Möglichkeiten und Innovationschancen [eröffnet]«.64 Beides hat im pluralistischen, multirationalen Charakter der Organisation seinen Ursprung, und eben darin liegt die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen begründet, wie Jay konstatiert: »The root cause of the paradox […] is a hybrid organization’s combining institutional logics and therefore multiple ways of acting and making sense of organizational outcomes«.65
Die Komplexität und Subtilität sozialunternehmerischer Innovationsprozesse wird vor diesem Hintergrund ebenso deutlich wie einsichtig.
1.2
Die Fragestellung und ihre praktische und wissenschaftliche Relevanz
Die beschriebene Paradoxie wird bisher nur selten in den Innovationsdiskursen über Sozialunternehmen tiefergehend thematisiert oder gar empirisch untersucht. Eine der wenigen Ausnahmen stellen hier die bereits zitierte Arbeit von Jay, die Untersuchung von Herausforderungen in ›Open Innovation‹-Teams von Du Chatenier et al.66 oder der Aufsatz von Bassett-Jones zur Paradoxie von 62 63 64 65 66
Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 78. Vgl. Pache/Santos (2010), S. 455, Du Chatenier et al. (2009). Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 6. Jay (2013), S. 140. Vgl. Du Chatenier et al. (2009). Wenngleich Du Chatenier et al. sich nicht auf pluralistische Organisationen beziehen, sondern die in Open-Innovation-Prozessen generell vorhandene Heterogenität thematisieren. Allerdings diagnostizieren sie eine ähnlich gelagerte Innova-
Die Fragestellung und ihre praktische und wissenschaftliche Relevanz
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Diversität und Innovation dar.67 Dies scheint nicht weiter verwunderlich, da generell die empirische Bearbeitung von Innovation in sozialen Organisationen lange Zeit weder im deutsch- noch englischsprachigen Raum hinreichend Beachtung fand, wie McDonald feststellt: »Surprisingly, little empirical work has been done in the area of innovation in nonprofit organizations«.68 Zwar wird seit einiger Zeit das Thema Innovation in sozialen Organisationen verstärkt aufgegriffen.69 Schwerpunkte liegen hierbei beispielsweise auf Definition, Theoriebildung und Entstehungsbedingungen sozialer Innovationen,70 auf Innovationsmanagement und Social Entre- und Intrapreneurship,71 und auf Innovation in der Sozialen Arbeit in Form einer Diskursgrundlegung, Einflussfaktoren in Innovationsprozessen und Fallstudien innovativer Projekte.72 Empirische Untersuchungen und theoretische Konzeptionen jedoch, wie genau Innovationsprozesse vor dem spezifischen Hintergrund pluralistischer Organisationen und der damit verbundenen Innovationsparadoxie in Sozialunternehmen ablaufen, oder wie diese Organisationen die beschriebene Paradoxie entfalten, liegen jedoch so gut wie nicht vor. In der Praxis kann hingegen beobachtet werden, dass Organisationen ihre Innovationsprozesse durchaus über Organisations- und Disziplingrenzen hinweg öffnen. Interorganisationale Netzwerke wie der ›Brüsseler Kreis‹ und ›Soziales neu Gestalten‹,73 sowie interdisziplinäre Arbeitsgruppen wie die ›AG Assistive Technologien‹ der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel und die Mitarbeit in interdisziplinären Forschungsprojekten unter Beteiligung der Wissenschaft und der Wirtschaft wie ›KogniHome‹ und ›Independent Living‹ sind hierfür nur einige Beispiele.74 Sozialunternehmen nutzen dabei idealerweise ihre Fähigkeit, unterschiedliche Rationalitäten konstruktiv in einen Innovationsprozess zu integrieren und entstehende Barrieren zwischen Disziplinen und Organisationen abzubauen. Die Praxis ist der wissenschaftlichen Re-
67 68 69 70 71 72 73 74
tionsparadoxie: »This (…) diversity can positively influence collaborative knowledge creation but can frustrate and obstruct the process as well« (Du Chatenier et al. (2009), S. 350). Vgl. Bassett-Jones (2005). McDonald (2007), S. 257, vgl. zu den Ausnahmen z. B. McDonald (2007), Jaskyte/de Riobj (2004), Jaskyte/Kisieliene (2006) oder Parpan-Blaser (2011). Vgl. hier z. B. die Entwicklung der Schwerpunkte in den Forschungsrahmenprogrammen (FP) der Europäischen Union FP6, FP7 bis hin zu Horizon 2020. Vgl. z. B. Caulier-Grice et al. (2012). Vgl z. B. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), Stephan/Uhlaner/Stride (2014), Then et al. (2013), Schröer/Strauch/Schmitz (2012). Vgl. z. B. Parpan-Blaser (2011), Eurich/Strifler (2012). Vgl. http://www.bruesseler-kreis.de/ , http://www.netzwerk-song.de/home/ (beide abgerufen am 3. 1. 2017). Vgl. https://www.kogni-home.de/, http://www.careum.ch/independent-living/ (beide abgerufen am 3. 1. 2017).
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
flektion in diesem Sinne an manchen Stellen voraus, wenngleich diese Entwicklung nicht in allen Sozialunternehmen gleichermaßen beobachtet werden kann. Umso mehr motivieren diese Beispiele die Fragestellung dieser Arbeit. Auf Grund der Forschungslücke zu Innovationsprozessen in Sozialunternehmen einerseits und den in der Praxis vorfindlichen Phänomenen andererseits erscheint somit ein Forschungsansatz als Beobachtung der Praxis im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung angezeigt.75 Die Fragestellung, mit der eine solche Beobachtung zu unternehmen ist, geht dabei vom Expertenwissen der Praxis zu Innovationsprozessen aus, das als »Heuristik, als Quelle der Ideenproduktion, als Inspiration für die wissenschaftliche Theoriebildung« genutzt werden kann,76 auch wenn die Praxis sich dieses Wissens nicht notwendigerweise explizit bewusst ist. Eine auf Theoriebildung zu Innovationsprozessen in Sozialunternehmen abzielende Beobachtung der Praxis muss demnach die Frage stellen, wie Sozialunternehmen als pluralistische Organisationen interdisziplinäre Innovationsprozesse im multirationalen Kontext ihrer Umwelt organisieren, genauer : Welche unterschiedlichen Professionen, Sinngemeinschaften oder Rationalitäten sind an Innovationprozessen beteiligt und wie bringen diese sich ein? Wie interagieren sie und wie wirkt sich diese Interaktion auf den Innovationsprozess aus? Und wie bearbeiten die Organisationen somit die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen? Diese Fragestellung hat in ihrer Beantwortung sowohl eine praktische wie auch wissenschaftliche Relevanz, die im Folgenden erläutert wird. Praktische Relevanz Soziale Unternehmen verfügen in der Praxis über wenig wissenschaftlich fundiertes Wissen zur Gestaltung der komplexen, widersprüchlichen und subtilen Innovationsprozesse in pluralistischen Kontexten, da sie in ihren Innovationsanstrengungen der wissenschaftlichen Reflektion voraus sind. Zugleich sehen sie sich zunehmenden Innovationserwartungen von Seiten der Politik und der Gesellschaft ausgesetzt, um soziale Problemlagen auch zukünftig vor dem Hintergrund knapper Mittel adressieren zu können. Dabei sind sie aufgefordert, neue Themengebiete in der Weiterentwicklung ihrer Leistungen zu berücksichtigen, beispielsweise verstärkten Technologieeinsatz, neue Finanzierungsmodelle, dezentrale Betreuungs- und Unterstützungsformen oder die zunehmend partnerschaftliche Einbindung eines bürger- und nachbarschaftlichen Engagements in die eigenen Angebote. Sozialunternehmen benötigen daher für
75 Vgl. Strauss/Glaser (1979), Strauss (1994), Breuer (2010), Alvesson/Sköldberg (2009). 76 Breuer (2010), S. 28.
Die Fragestellung und ihre praktische und wissenschaftliche Relevanz
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die komplexer werdenden Innovationsprozesse geeignetes Orientierungswissen,77 wie Nock et al. festhalten: »In jedem Fall wird deutlich, dass die Subtilität von sozialen Innovationsprozessen in der Freien Wohlfahrtspflege noch wenig erforscht und schwer zu fassen ist. Vertiefte qualitative Untersuchungen vorhandener Praxen (…) [scheinen] ein vielversprechendes Mittel, um unser Verständnis zu erweitern und zielgerichteter Empfehlungen geben zu können, wo und in welcher Form steuernde, formalisierte Unterstützungen hilfreich sein können«.78
Durch die vorliegende Arbeit wird zum einen das innewohnende Innovationspotential einer »resourceful dissonance« sozialer Organisationen sichtbar gemacht und zum anderen Orientierungswissen bereitgestellt, um die eigene Vielfalt fruchtbar zu machen und die Blockaden zwischen unterschiedlichen Rationalitäten in Innovationsprozessen zu verringern. Dadurch kann ein Beitrag zu einem besseren Verständnis und somit zu einer Steigerung der Innovationsfähigkeit in Sozialunternehmen geleistet werden. Zur Beobachtung der Praxis hatte der Autor die Möglichkeit, die AG Assistive Technologien der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel (vBS Bethel) in ihren Innovationsprozessen zu begleiten. Als diakonisches Unternehmen stellt der Forschungspartner einen ›extreme case‹ einer pluralistischen Organisation dar.79 Zudem kommen in den Projekten der AG unterschiedliche Organisationen, Stiftungsbereiche, Disziplinen sowie externe Innovationspartner aus Wissenschaft und Wirtschaft zusammen, so dass insbesondere dieses Umfeld durch eine Vielzahl unterschiedlicher Rationalitäten geprägt ist, was sowohl für die Untersuchung an sich als auch für die Überprüfung der Praxisrelevanz der Arbeit gute Voraussetzungen bot. Somit wird die Praxis hier als diakonische Unternehmenspraxis verstanden. Die Praxisrelevanz ist jedoch darüber hinaus auch für Sozialunternehmen anderen Ursprungs gegeben. Wissenschaftliche Relevanz Die Arbeit bewegt sich im Bereich einer interdisziplinär verstandenen Diakoniewissenschaft mit einem Schwerpunkt auf diakonischen Unternehmen. Indem sie die Frage nach Innovationen in diakonischen Unternehmen in ihr Programm aufnimmt,80 nimmt sie den Diskurs zu Innovationen in Sozialunternehmen im 77 Orientierungswissen ist hier im Sinne eines Wissens zu verstehen, das es einem Akteur erlaubt, sich in einem ihm unbekannten, komplex, kompliziert und subtil erscheinenden Bereich zu bewegen (eben zu orientieren) und nicht unbedingt in der Unterscheidung zwischen Verfügungs- und Orientierungswissen zu sehen (vgl. Mittelstraß (1989). 78 Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 56f. 79 Vgl. auch Höver (2013), S. 8. 80 Vgl. Benad/Büscher/Krolzik (2015), S. 24.
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
weiteren Sinne in den Blick. Die vorliegende Arbeit entwickelt in diesem Kontext eine wissenschaftliche Relevanz in dreierlei Hinsicht. Erstens wird durch Beantwortung der Forschungsfrage ein Beitrag zur Schließung der beschriebenen Forschungslücke geleistet. Wie gezeigt, ist die Frage nach Innovationsprozessen in Sozialunternehmen bisher nicht hinreichend theoretisch aufgearbeitet. Während im laufenden Diskurs überwiegend begriffliche Konzeptionen, die Untersuchung der internen und externen Kontexte sowie Innovationskonzepte und -methoden im Vordergrund stehen, werden die organisationalen und sozialen Prozesse der Innovation in Sozialunternehmen unter Berücksichtigung der ihnen eigenen Innovationsparadoxie wissenschaftlich nicht fundiert reflektiert. Auf Grund dieser Forschungslücke ist ein Beitrag zu einer Theorie der Innovation für die interdisziplinäre Forschung zu diakonischen Unternehmen von hoher wissenschaftlicher Relevanz. Zweitens schlägt die vorliegende Studie ein geeignetes theoretisches Fundament vor, das es erlaubt, Innovationsprozesse in pluralistischen Organisationen angemessen zu untersuchen. Hierzu wird auf eine systemische Organisationstheorie aufbauend auf der Systemtheorie Luhmanns als vielversprechende ›theoretische Brille‹ zurückgegriffen. Dieses Theorieinventar führt eine konstruktivistische, beobachterabhängige Perspektive ein, die es ermöglicht, die Sicht der unterschiedlichen Sinngemeinschaften und Rationalitäten auf die Welt, ihre Wirklichkeitskonstruktionen und ihre Interaktionen innerhalb der Organisation zu beobachten. Die zentralen Begriffe Organisation, Multirationalität und Innovation erhalten so eine konsistente theoretische Basis und das Thema Innovation in Sozialunternehmen ein stabiles metatheoretisches Fundament, mit dem der pluralistische Charakter der Organisationen und ihrer Spannungsfelder in Innovationsprozessen untersucht werden kann. Drittens wird durch die Integration der multiplen Logiken und Rationalitäten in eine Konzeption sozialunternehmerischer Innovation eine Schärfung der bisher diskutierten Innovationsbegriffe ermöglicht. In den aktuell vorgeschlagenen Begriffskonzeptionen findet die Multirationalität selten Anklang, obwohl diese Spezifik sozialer Unternehmen ein zentrales Merkmal in Innovationsprozessen darstellt. Durch eine Reflektion der bisherigen Begriffskonstruktionen wird ein Ergänzungsbedarf sichtbar, für den aufbauend auf der empirischen Untersuchung ein Vorschlag für eine weiterentwickelte Innovationskonzeption unterbreitet wird, die die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen berücksichtigt.
Der Aufbau der Arbeit
1.3
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Der Aufbau der Arbeit
Die vorliegende Arbeit ist in sieben Kapitel gegliedert und durchläuft unterschiedliche Praxis- und Theorieebenen, die im Folgenden beschrieben werden. Ausgehend von einem praxismotivierten Erkenntnisinteresse wurde bisher im ersten Kapitel die These der Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen erläutert, das Erkenntnisinteresse der Arbeit formuliert, wie die Organisationen vor dem Hintergrund dieser Paradoxie Innovationsprozesse gestalten, sowie die praktische und theoretische Relevanz aufgezeigt. Im zweiten Kapitel wird zunächst ausgehend von der vorhandenen Literatur der Diskurs zu Innovation in Sozialunternehmen aufgenommen, die Forschungslücke vermessen und die Forschungsfrage der vorliegenden Untersuchung präzisiert. Das Kapitel wird dabei entlang der zentralen Fragestellungen des Diskurses gegliedert: Wo und in welchen Spannungsfeldern bewegt sich sozialunternehmerische Innovation (gesellschaftliche Kontexte)? Was ist unter sozialer und sozialunternehmerischer Innovation zu verstehen (theoretische Konzeptionen)? Wie können Innovationsprozesse in Sozialunternehmen vor dem Hintergrund der theoretischen Konzeptionen und gesellschaftlichen Kontexte gestaltet und organisiert werden (Konzepte und Modelle sozialunternehmerischer Innovation)? In den unterschiedlichen Diskursfäden wird eine Spurensuche nach Mustern der Multirationalität unternommen, sowie deren Begrenzungen und mögliche Anknüpfungspunkte für die Beziehung zwischen Multirationalität und Innovation näher beleuchtet. In kritischer Reflektion wird gezeigt, dass sowohl die bisherigen Begriffskonzeptionen als auch die diskutierten Innovationskonzepte und -methoden diese Beziehung nicht hinreichend aufgreifen, obwohl sie in den Spannungsfeldern der Organisationen angelegt und in der Praxis beobachtbar sind. Somit wird Sozialunternehmen bislang wenig wissenschaftlich fundiertes Wissen für ihre multirationalen Innovationsprozesse zur Verfügung gestellt. Ausgehend von der so identifizierten Forschungslücke werden der Forschungsbedarf und die Forschungsfrage weiter präzisiert. Für die geplante Untersuchung zur Beantwortung der Forschungsfrage wird dann im dritten Kapitel ein angemessenes erkenntnis- und organisationstheoretisches Fundament gelegt. Wurde im zweiten Kapitel der Diskurs zur Innovation in Sozialunternehmen im Sinne einer Gegenstandstheorie fokussiert, wird in diesem Kapitel die »Brille« im Sinne einer Metatheorie definiert, mit der der Gegenstand in der geplanten empirischen Untersuchung betrachtet werden soll.81 Die in der Fragestellung angelegte Beobachterabhängigkeit der verschie-
81 Als Metatheorie bezeichnet Tuckermann den Theoriebereich, in dem »man keine Überra-
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
denen Sinngemeinschaften führt zunächst zur Begründung einer konstruktivistischen Epistemologie als Grundposition der Untersuchung. Von dieser Position ausgehend werden anschließend zentrale Begriffe wie Organisation, Multirationalität und Innovation theoretisch aufgeladen. Die Untersuchung greift dabei auf eine sozialkonstruktivistische Organisationstheorie unter anderem nach Weick, Luhmann, Baecker und Wimmer, die Systemtheorie Luhmanns und das Konzept des multirationalen Managements von Schedler und Rüegg-Stürm zurück.82 Dieses systemtheoretische Fundament als Grundlage zur Beobachtung pluralistischer Organisationen dient somit als Metatheorie für die anschließende empirische Untersuchung. Im vierten Kapitel wird ein zur Metatheorie konsistentes Forschungsdesign entwickelt, das Forschungsverständnis, die Beobachtungseinheiten und den beobachtungsleitenden Bezugsrahmen der Untersuchung ebenso umfasst, wie die zur Anwendung kommenden Methoden der Datenerhebung und Datenanalyse. Im Zentrum steht hier der Ansatz einer systemischen Organisationsforschung mit den Methoden einer rekonstruierenden, qualitativen Sozialforschung. Ebenso werden die Gütekriterien für die geplante Untersuchung festgelegt, sowie der Forschungspartner, die v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, vorgestellt und in die Einzelfallstudie zu den Innovationsprojekten im Rahmen der AG Assistive Technologien eingeführt. Das fünfte Kapitel umfasst schließlich die empirische Untersuchung mit der Beantwortung der Forschungsfrage in der Rekonstruktion des beobachteten Innovationsprozesses. Die Untersuchung fokussiert dabei auf organisationale Bearbeitungsmuster der Multirationalität im Innovationsprozess des Forschungspartners. Der Prozess der Entfaltung der Innovationsparadoxie wird in drei Phasen rekonstruiert, wie er im Zeitraum zwischen 2010 und 2016 in der Organisation ablief. Im Einzelnen werden zu diesem Zweck die organisationalen Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster rekonstruiert, mit empirischen Vignetten begründet und aus Sicht der Metatheorie interpretiert. Im sechsten Kapitel werden die Schlussfolgerungen der empirischen Untersuchung hinsichtlich ihrer Implikationen für Praxis und Wissenschaft dargestellt. Der Ertrag für die Wissenschaft wird auf der Ebene der Gegenstandstheorien im Beitrag zur Schließung der identifizierten Forschungslücke beschrieben. Findet die Forschungsfrage ihre Beantwortung in der Rekonstruktion des Innovationsprozesses, so werden hier geeignete Hypothesen generiert, die als Beitrag zu einer Theorie der Innovation sozialer Unternehmen dienen können. Auf der Praxisebene wird dabei der Ertrag bezüglich des initialen schungen erwartet«, wohingegen im Bereich der Gegenstandstheorien neue Erkenntnisse durch die Untersuchung erwartet werden (vgl. Tuckermann (2013), S. 24ff.). 82 Vgl. u. a. Luhmann (1984b), Luhmann (2011b), Baecker (1999), Baecker (2011b), Wimmer (2012), Schedler/Rüegg-Stürm (2013), Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015).
Der Aufbau der Arbeit
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praxismotivierten Erkenntnisinteresses als Reflektionsangebot für eine diakonische Unternehmenspraxis dargestellt. Die Beantwortung der einleitenden Fragestellung wird somit wieder mit der wissenschaftlichen und praktischen Relevanz verbunden. Im siebten Kapitel wird in einem Rückblick ein abschließendes Fazit der Arbeit gezogen und die Arbeit, ihr Verlauf, ihre Grundentscheidungen und Ergebnisse noch einmal im Zusammenhang betrachtet und reflektiert. Zudem wird ein Ausblick gegeben, welche Fragestellungen sich durch die Ergebnisse der Untersuchung für die weitere Forschung ergeben, bevor die Arbeit mit einigen Schlussbemerkungen abgeschlossen wird. Eine Übersicht über den so gestalteten Aufbau und Verlauf der Arbeit ist unter Angabe der jeweiligen Kapitel in Abbildung 1 dargestellt. Sie stellt somit eine ›Landkarte‹ des Forschungsvorhabens mit dem Weg der Untersuchung durch die verschiedenen Theorie- und Praxisebenen zur Verfügung. Zusammenfassend ergibt sich durch diesen Aufbau somit ein Bogen, der ausgehend von einer praxismotivierten Fragestellung die vorhandenen Gegenstandstheorien reflektiert und eine relevante Forschungslücke identifiziert, für die eine zu untersuchende Forschungsfrage präzisiert wird. Als Fundament der Untersuchung wird eine epistemologische und organisationstheoretische Grundposition im Sinne einer Metatheorie aufgebaut, an die mit einer konsistenten empirischen Methodologie angeschlossen wird. Auf Basis von Metatheorie und Methodologie wird schließlich die empirische Untersuchung durchgeführt. Ausgehend von den empirischen Ergebnissen wird abschließend der Ertrag für die Ebene der Gegenstandstheorien sowie für die Ebene der Praxis aufgezeigt.
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Multirationalität und Innovation: Ausgangslage und Verortung der Fragestellung
Abbildung 1: Aufbau der Arbeit83
83 inspiriert durch Tuckermann (2007), S. 11.
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Multirationalität in den Kontexten, Konzeptionen und Konzepten sozialunternehmerischer Innovation
Wie bereits erläutert, kann der Diskurs zu Innovationen in und durch Sozialunternehmen zum Zweck einer Spurensuche nach Mustern der Multirationalität in drei Bereiche gegliedert werden: Erstens wird das komplexe Umfeld der Sozialunternehmen und die darin enthaltenen Spannungsfelder für Innovationen thematisiert. Zweitens wird diskutiert, wie der stark technisch und ökonomisch geprägte Begriff der Innovation zwischen diesen Spannungsfeldern überhaupt zu konzipieren ist. Drittens werden Organisations- und Innovationskonzepte diskutiert, die in Sozialunternehmen zu einer Steigerung der Innovationsfähigkeit beitragen sollen. Im folgenden Kapitel wird der Diskursfaden in diesen Bereichen aufgenommen und hinsichtlich der Begrenzungen und möglicher Anknüpfungspunkte für die Beziehung zwischen Multirationalität und Innovation untersucht. Dabei ist zu berücksichtigen, dass es keinen klar abgrenzbaren Diskursstrang zu Innovation und Multirationalität im engeren Sinne gibt. Selbst die Diskurse zur Innovation in Nonprofit-Organisationen, in Sozialunternehmen oder der sozialen Arbeit sind häufig nicht klar abgrenzbar. Es handelt sich somit eher um eine Diskurstopologie, in der aus unterschiedlichen Richtungen Beiträge oder Anknüpfungspunkte zu finden sind. Entsprechend wird diese Topologie im folgenden Kapitel kartiert, und so die Relevanz der Fragestellung für die unterschiedlichen Diskursstränge zur Innovation in Sozialunternehmen herausgearbeitet. Dadurch wird zum einen der Anschluss an den vorhandenen Diskurs hergestellt, zum anderen die Forschungslücke genauer bestimmt und die Fragestellung für die empirische Untersuchung präzisiert. Die Gliederung des Kapitels und der Unterkapitel folgt dabei den während der Untersuchung der vorhandenen Literatur herausgearbeiteten leitenden Kategorien und Unterscheidungen. – In Kapitel 2.1 wird die Diskussion zum Kontext der Gesellschaft mit den unterschiedlichen Anspruchsgruppen und Referenzsystemen dargestellt, zwischen denen sozialunternehmerische Innovationsprozesse ablaufen. Dabei werden die drei prominentesten Spannungsfelder näher beleuchtet, die in den
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
Innovationsdiskursen behandelt werden: Sozialsystem und Sozialpolitik, Ethik und Ökonomie, Mensch und Technik. Es wird deutlich, dass Innovationsprozesse ohne Berücksichtigung der multiplen Rationalitäten letztlich nicht verstehbar sind. – In Kapitel 2.2 wird der Diskursstrang zur Konzeption eines Innovationsbegriffs für soziale Kontexte vorgestellt und reflektiert. Es wird gezeigt, dass die bisherigen Begriffskonzeptionen den pluralistischen Charakter der Sozialunternehmen nicht angemessen berücksichtigen, und somit eine im eigentlichen Sinne sozialunternehmerische Begriffskonzeption nicht zur Verfügung steht. – In Kapitel 2.3 werden schließlich die organisationalen Bedingungen und Barrieren dargestellt, sowie die diskutierten Konzepte kritisch reflektiert, mit denen Sozialunternehmen angesichts der Spannungsfelder und Barrieren ihre Innovationsprozesse gestalten. In der Reflektion wird deutlich, dass die bisher diskutierten Konzepte den pluralistischen Charakter sozialer Unternehmen nicht ausreichend berücksichtigen. – Abschließend wird in Kapitel 2.4 die kritische Reflektion der vorherigen Kapitel zusammengefasst und verdichtet. Vor diesem Hintergrund wird dann die Forschungslücke vermessen und die Forschungsfrage für die empirische Untersuchung präzisiert. Im Sinne einer schrittweisen Verdichtung der vorhandenen Literatur wird in jedem Unterkapitel ein Zwischenfazit gezogen, das zur Zusammenfassung der Kapitel 2.1 bis 2.3 und für die kritische Reflektion im abschließenden Kapitel 2.4 herangezogen wird.
2.1
Kontexte der Umwelt: Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovationsprozesse
Untersucht man den Diskurs zur Innovation in Sozialunternehmen nach Spuren multirationaler Muster, so fallen an zentraler Stelle die Spannungsfelder auf, die aus der gesellschaftlichen Umwelt an die Organisationen herangetragen und entsprechend ihrer Bedeutung für Innovationsprozesse thematisiert werden. Vor allem die unterschiedlichen Logiken der verschiedenen Funktionssysteme wie Wirtschaft, Politik, Recht, Soziale Hilfe oder Religion produzieren Spannungen innerhalb der Organisation. Aber auch gesellschaftliche Trends wie die zunehmende Technologisierung spielen dabei eine immer größer werdende Rolle. In der Diskussion können dabei drei zentrale Spannungsfelder identifiziert werden, die im Folgenden dargestellt werden sollen. Ziel des Kapitels ist es,
Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovationsprozesse
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ausgehend von der vorhandenen Literatur ein Verständnis für die Topologie der Spannungsfelder und ihre Implikationen für die Innovationsprozesse in Sozialunternehmen aufzubauen. Entsprechend gestaltet sich der Aufbau dieses Kapitels. – In Abschnitt 2.1.1 werden Spannungen zwischen dem Sozialsystem und der Sozialpolitik diskutiert, die auf die Gestaltung des Sozialbereichs durch den Staat zurückgeführt werden können. – In Abschnitt 2.1.2 wird vor dem Hintergrund eines diakonischen Unternehmens als Forschungspartner der Bedeutung des Spannungsfelds zwischen Theologie, Ethik und Ökonomie für Innovationsprozesse nachgegangen. – Schließlich wird in Abschnitt 2.1.3 das Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik beleuchtet, das auf Grund der Technologisierung und Digitalisierung nahezu aller gesellschaftlichen Bereiche zunehmend in den Innovationsprozessen ausgemacht werden kann. Wenngleich diese Beziehung häufig eng mit ethisch-ökonomischen Fragestellungen verknüpft ist, ist sie nicht deckungsgleich mit diesen.
2.1.1 Innovation zwischen Sozialsystem und Sozialpolitik Die Grundlage der Sozialpolitik in Deutschland ist das im Grundgesetz verankerte Sozialstaatsprinzip, das auf einen sozialen Ausgleich im Sinne sozialer Gerechtigkeit und auf soziale Sicherheit im Sinne von Daseinsvorsorge und Existenzsicherung abzielt.84 Die sozialstaatlichen Ziele setzen zu ihrer Verwirklichung politische Gestaltung, staatliche Eingriffe und soziale Leistungen voraus, die seitens des Gesetzgebers im Rahmen der Sozialpolitik ausgestaltet werden.85 Gerade diese Ausgestaltung hat in den letzten Jahrzehnten einen tiefgreifenden Paradigmenwechsel erfahren. Das Spektrum der unterschiedlichen sozialstaatlichen Paradigmen reicht dabei von einem fürsorgenden Wohlfahrtstaat über ein Paradigma sozialer Grundsicherung bis hin zum Wettbewerbsparadigma eines Sozialmarktes.86 Durch diese Verschiebung hat sich ein breit diskutiertes Spannungsfeld zwischen den bis dahin etablierten Strukturen des Sozialsystems einerseits und den sozialpolitischen Reformen andererseits aufgebaut.87 84 85 86 87
Vgl. Boeckh/Huster/Benz (2006), S. 100. Vgl. Maelicke (1987b), S. 14. Vgl. Horcher (2011), S. 55. Der Begriff »Sozialsystem« wird in der Folge im Sinne des Systems Sozialer Hilfe verwendet und umfasst als System die Gesamtheit der Träger, Verbände und Professionen, die für die Erbringung personenbezogener sozialer Leistungen verantwortlich sind. Es wird als Teil des dritten Sektors verstanden, also ebenso unterschieden von Staat und Politik wie von rein
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
Horcher sieht dieses Spannungsfeld auf drei Ebenen. Erstens wurde die Privilegierung der freien Wohlfahrt durch die Sozialreformen der vergangenen Jahre aufgehoben, um Pluralisierung und Wettbewerb in der Trägerlandschaft zu erhöhen.88 Dieser Prozess wurde durch die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Rahmen des europäischen Gemeinschaftsrechts beschleunigt.89 Zweitens wurden mit dem ›Neuen Steuerungssystem‹ auf kommunaler Ebene privatwirtschaftliche Konzepte wie Kontraktmanagement, output-orientierte Steuerung, Qualitätsmanagementsysteme und leistungsbasierte ControllingInstrumente eingeführt, was ebenfalls zu einer Verstärkung des Wettbewerbsparadigmas im Sozialbereich beigetragen hat.90 Drittens wurde die Wettbewerbsphilosophie unter Schlagworten wie »from welfare to workfare« oder des »aktivierenden Sozialstaats« auf die Adressaten sozialer Hilfen ausgedehnt,91 wobei es letztendlich um die Wettbewerbsfähigkeit des Einzelnen geht. Horcher fasst zusammen: »Das Staatsverständnis hat sich radikal gewandelt. Der moderne Sozialstaat ist nicht mehr der reagierende Wohlfahrtsstaat, sondern der »aktivierende« Staat, der sowohl das einzelne Individuum als auch die Bürgergesellschaft aktiviert, indem er Selbstverantwortung und Eigeninitiative fordert und stärkt, sich selbst aber auf die Setzung der Rahmenbedingungen zurückzieht«.92 Auch Wendt sieht in der Setzung neuer Rahmenbedingungen die Spannungen zwischen den alten Strukturen der Wohlfahrtspflege und dem neuen sozialpolitischen Paradigma begründet, und nennt u. a. die Agenda-Reformen als Beispiel.93 Er sieht darin zwar einen wesentlichen Innovationstreiber für soziale Unternehmen, denen jedoch überwiegend mit »hinhaltendem Widerstand« begegnet wurde und wird,94 was zu einer zögerlichen Kompetenzentwicklung und demzufolge in der Regel lediglich zu »Anpassungsinnovationen« geführt hat.95 Vor diesem Hintergrund wirft Wendt die Frage auf, ob und wie der Sozi-
88 89 90 91 92 93 94 95
privatwirtschaftlichen Organisationen. Dabei ist die Besonderheit des institutionalisierten Wohlfahrtsstaates in Deutschland zu berücksichtigen, der nur bedingt mit anderen Arrangements z. B. im angelsächsischen Raum verglichen werden kann. Das Zusammentreffen von nach wie vor sehr starker politischer Kopplung, gleichzeitiger marktwirtschaftlicher Öffnung und beibehaltener normativer Motivation vor allem in konfessionellen Trägern hat vor dem Hintergrund der historischen Ursprünge zu einer sehr spezifischen Organisationsform geführt, die nicht ohne weiteres mit den Nonprofit-Organisationen anderer Prägung verglichen werden kann. Vgl. Horcher (2011), S. 58. Vgl. Horcher (2011), S. 59. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., S. 51. a.a.O., S. 56. Vgl. Wendt (2005a), S. 13. Vgl. a. a. O., S. 40f. Vgl. a. a. O., S. 45.
Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovationsprozesse
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albereich aus sich heraus überhaupt innovativ sein kann,96 da er beobachtet, dass Veränderungen in der Regel von außen induziert sind, auf die lediglich reagiert wird.97 Als Beispiele nennt er u. a. die Einführung von Sozialmanagementsystemen und des Case-Managements in der Sozialen Arbeit.98 Begleitet wurde dieser Veränderungsprozess durch eine Debatte um die Professionalisierung und professionellen Identität der Sozialen Arbeit insbesondere seit den 1990er Jahren, in der verstärkt versucht wurde und wird, ein Selbstverständnis als Profession und eigene Disziplin zu entwickeln.99 Herwig-Lempp sieht in diesem Zuge u. a. eine klarere Definition von Methoden und Werkzeugen, fachlicher Reflexion, Kundenorientierung, Auftragsklärung und Qualitätsmaßstäben sich herausbilden.100 Buestrich/Wohlfahrt führen aus, dass die Zielsetzung der sozialpolitischen Veränderungen in der Freisetzung von Leistungsreserven bei den Leistungserbringern und Senkung der Kosten auf Trägerseite besteht.101 Hierin sehen sie einen strukturellen Konflikt, da durch die neuen Anforderungen einerseits zusätzliche Tätigkeiten wie Dokumentation und Controlling notwendig werden, während gleichzeitig auf Grund des interpersonalen Charakters personenbezogener sozialer Dienstleistungen eine Kostensenkung ohne Wirkungsverlust und Qualitätseinbußen nicht möglich sei.102 Entsprechend sieht Maelicke die Inhalte und Programme von Innovation vor allem aus den ethischen Grundlagen des Sozialstaatsprinzips begründet, räumt jedoch ein, dass diese von »dem jeweiligen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung, dem sozialen Wandel, den politischen Mehrheitsverhältnissen, dem jeweils aktuellen Verständnis von Sozialpolitik und sozialer Arbeit« beeinflusst werden.103 In eben diesen Aushandlungsprozessen verortet er Spannungen und Friktionen zwischen Politik und Sozialsystem.104 Er sieht die Gefahr, dass in Innovationsprozessen die Grundorientierungen sozialer Hilfe durch eine Fokussierung auf »technokratische Maximierung« verloren gehen können.105 Innovationen in den Tätigkeitsfeldern sozialer Arbeit haben in dieser Sichtweise vielmehr die Adressatinnen sozialer Hilfe in den Fokus zu nehmen, und nicht in erster Linie einem Wettbewerbsparadigma zu folgen.106 Zusammengefasst be96 97 98 99 100 101 102 103 104 105 106
Vgl. a. a. O., S. 39. Vgl. a. a. O., S. 40. Vgl. a. a. O., S. 40f. Vgl. Staub-Bernasconi (1995), S. 57ff. Vgl. Herwig-Lempp (1997), S. 16ff. Vgl. Buestrich/Wohlfahrt (2008), S. 20. Vgl. a. a. O., S. 22f. Maelicke (1987b), S. 14. Vgl. a. a. O., S. 14f. Vgl. a. a. O., S. 10f. Vgl. Kessler/Ruoss (2011), S. 161.
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
steht eine Dimension des Spannungsfeldes somit zwischen einem sozialpolitisch induziertem Wettbewerbsparadigma und einem sozial motiviertem Wirkungsparadigma der Innovation. Eine weitere Dimension wird zwischen den Innovationserwartungen und den sozialpolitischen Innovationsbedingungen diskutiert. Einerseits werden Innovationserwartungen durch die Einführung von Wettbewerb und Marktlogik transportiert, indem durch sozialpolitische Reformen der Veränderungsdruck auf die Trägerlandschaft enorm erhöht wurde. Zudem werden von allen Seiten angesichts zentraler gesellschaftlicher Trends wie dem demographischen Wandel, den Inklusionszielen und der Armutsbekämpfung neue Ansätze vom gesamten Sozialsystem gefordert. Andererseits werden die seitens der Sozialpolitik geschaffenen gesetzlichen Rahmenbedingungen als überwiegend innovationshemmend wahrgenommen. So sieht beispielsweise Bellermann die Heterogenität des Sozialrechts, die Versäulung der Leistungssysteme und die Abhängigkeit der Sozialträger von öffentlicher Finanzierung als wesentliche Gründe für mangelnde Innovation im Sozialbereich.107 Dadurch werde das zur Innovation notwendige Schnittstellenmanagement, die Vernetzung von Angeboten und Akteuren sowie zukunftsorientierte Strategien der Angebotsgestaltung deutlich erschwert.108 Insbesondere die zurückgehende Refinanzierung durch die Sozialsysteme und der einhergehende Kostendruck erschweren die für Innovation notwendigen Überschüsse. Entsprechend verbreitet ist nach Haas das Strategiemuster : Gemacht wird, was bezahlt wird. Als Folge sieht er zum einen »ein reagierendes Grundmuster und andererseits eine konservative Geschäftsentwicklung«.109 Als Beispiel nennt er die Altenhilfe, die, sofern sie finanzierungstechnisch gezwungen ist am Heimmodell festzuhalten, sich nur schwerlich zu einer Speerspitze der Innovation entwickeln wird.110 Keller et al. sehen zudem wenig Bereitschaft in Verwaltung und Politik, das zur Innovation gehörende Risiko mitzutragen. Vielmehr machen sie eine Risikoaversion der Akteure aus,111 die in »innovationshemmenden Prinzipien wie »Nur keinen Fehler machen« oder »Sich immer auf eine gesetzliche Grundlage abstützen« kulturell in der Verwaltung verankert bleiben«.112 Zwar sehen sie mögliche Abhilfe in der Durchführung von Pilotprojekten,113 die allerdings Gefahr laufen, nach Ende der Projektphase leicht zu einem Strohfeuer oder einer 107 108 109 110 111 112 113
Vgl. Bellermann (2015), S. 61. Vgl. ebd. Haas (2011), S. 203. Vgl. a. a. O., S. 249. Vgl. Kessler/Ruoss (2011), S. 161. a.a.O., S. 156. a.a.O., S. 161.
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Leuchtturmruine zu werden, ohne in eine nachhaltige Umsetzung überführt zu werden. Als wesentlichen Grund sehen sie hierbei eine kurzfristige Fokussierung auf ökonomische Kosten-Nutzen-Kriterien, anstatt auf Nachhaltigkeitsund Innovationskriterien.114 Somit stehen die fragmentierten, eher reaktiven und kurzfristig-ökonomisch orientierten sowie risikoaversen Rahmenbedingungen des politisch-administrativen Systems einer andererseits geforderten Innovationsdynamik innerhalb des Sozialbereichs häufig diametral gegenüber. Diese Beobachtung lässt Parpan-Blaser zu dem Schluss kommen, dass »Innovationen eher in Praxisfeldern und Institutionen zu erwarten [sind], die nicht in das politisch-administrative System eingebunden sind und deren Finanzierungsform eine weniger direkte politische Einflussnahme bedeutet«.115 Die bisher genannten Gegensätze können als ein Grund für eine weitere Dimension des Spannungsfeldes zwischen Sozialpolitik und Sozialträger angesehen werden, in dem die Frage diskutiert wird, wie politisch soziale Arbeit selbst sein sollte. Lob-Hüdepohl definiert die Pole in diesem Feld als einerseits »politisch schwach« in der Rolle des »Implementationsakteur staatlicher Sozialpolitik«, und als andererseits »politisch stark« als Akteur mit politischem Mitgestaltungsanspruch der Rahmenbedingungen.116 Staub-Bernasconi verortet dieses Spannungsfeld zwischen einer Sozialen Arbeit als »Dienstleistung« oder als »Menschenrechtsprofession«.117 Dabei sieht sie den Dienstleistungsbegriff in der Nähe eines neoliberalen Theorie- und Selbstverständnisses Sozialer Arbeit, während der Begriff der Menschrechtsprofession für ein normativ geprägtes Verständnis steht.118 Anders ausgedrückt: ob eine auf Fachlichkeit reduzierte oder eine umfassend sozialethische Perspektive eingenommen wird. Benz leitet aus einer solchen ethischen Perspektive eine notwendige Vertretung eigener politische Interessen ab, die er in der Verpflichtung begründet sieht, »ungerechte Politik und Praktiken zurück[zu]weisen« sowie »Auftraggeber, Entscheidungsträger, Politiker und die Öffentlichkeit auf Situationen aufmerksam zu machen, in denen Ressourcen unangemessen sind oder in denen die Verteilung von Ressourcen, Maßnahmen und Praktiken unterdrückerisch, ungerecht oder schädlich ist«.119 Neben Empowerment im Sinne einer Selbstvertretung und Anwaltschaft im Sinne einer Stellvertretung sieht er daher eine dritte Dimension der Mitbestimmung und somit politischen Mitgestaltung.120 Lob-Hüdepohl unterscheidet dabei den Gestaltungsspielraum dieser Mitbe114 115 116 117 118 119 120
Vgl. ebd. Parpan-Blaser (2011), S. 236. Lob-Hüdepohl (2013), S. 85. Vgl. Staub-Bernasconi (2007), S. 20ff., auch Dällenbach (2011). Staub-Bernasconi (2007), S. 20ff. Benz (2013), S. 71f. Vgl. a. a. O., S. 79.
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
stimmung in der Sozialpolitik analytisch in den Dimensionen polity, politics und policies.121 Unter polity wird die Ebene der Strukturen und Institutionen verstanden, die den gesellschaftlichen Handlungsrahmen der Sozialpolitik bestimmen. Hierzu gehören nicht nur formelle Institutionen, sondern ebenso die teils unhinterfragten Grundentscheidungen, Prämissen, Normen und Praktiken, die politischem Handeln zugrunde liegen. Die Ebene der politics bezieht sich auf den Prozess der Durchsetzung und Entscheidung politischer Positionen und ist geprägt von Konflikt, Konsens, Interessen und Mehrheiten. Die policies stellen den eigentlichen Inhalt der Politik dar, wie er in Programmen, Koalitionsverträgen, Gesetzen und Verordnungen verhandelt wird. Nach Lob-Hüdepohl rückt dabei insbesondere die Ebene der politics in den Fokus, auf der eine normativ anspruchsvolle Soziale Arbeit agieren müsse.122 Aus einer Innovationsperspektive heraus wird in diesem Spannungsfeld somit verhandelt, ob Sozialträger und -profession im Verhältnis zur Politik lediglich Innovationsgegenstand oder auch Innovationsakteur sind, ob also nur die Politik über Rahmenbedingungen Innovation im Sozialbereich zu induzieren sucht, oder ob der Sozialbereich seinerseits politische Innovation beeinflussen kann. Anders formuliert, ob die Zielsetzung einer sozial(unternehmerisch)en Innovation sich auf den Bereich der Leistungserbringung und -gestaltung begrenzt, oder ob Sozialpolitik ebenfalls im Zielbereich liegt.
Zwischenfazit Das innovationsbezogene Spannungsfeld zwischen Sozialsystem und Sozialpolitik wird in der Literatur im Wesentlichen entlang dreier Dimensionen beschrieben. Erstens zwischen einem wettbewerbsgeprägten Innovationsparadigma der Sozialpolitik und einer wirkungsorientierten, sozialen Innovationsperspektive. Zweitens zwischen den Innovationserwartungen, die an das Sozialsystem herangetragen werden, und den vorfindlichen sozialpolitischen Rahmenbedingungen für Innovation. Und schließlich drittens zwischen einem politisch aktiven und einem politisch passiven Selbstverständnis sozialer Akteure. Diese letzte Dimension adressiert unmittelbar den Kern der politischen Logik von Mehrheiten und damit Machterhalt. Entlang dieser Dimensionen werden die Grundmuster einer politischen und einer sozialprofessionellen Logik in Innovationsprozessen erkennbar. Dabei wird deutlich, dass sich beide Logiken unter anderem je eines spezifischen Hintergrunds bedienen, mit dem sie jedoch nicht gleichzusetzen sind: die Sozialpolitik der letzten Jahre folgt in wesentlichen Entscheidungen einem ökonomischen Paradigma, während ins121 Vgl. Lob-Hüdepohl (2013), S. 86. 122 Vgl. ebd.
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besondere einer politisch aktiven Sozialen Arbeit ein ethisch-normatives Paradigma zugrunde liegt. Damit weist dieses Spannungsfeld Schnittpunkte mit dem erheblich weiterreichenden Diskurs zwischen Ethik und Ökonomie auf. Die Bedeutung dieses Diskurses gerade auch für Innovation lässt es notwendig erscheinen, das Spannungsfeld zwischen Ethik und Ökonomie genauer auszuleuchten, was im folgenden Abschnitt vorgenommen wird. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass es nicht das eine universelle ethisch-normative Paradigma gibt. Vielmehr stehen die Sozialunternehmen unterschiedlicher Provenienz in ihrer je eigenen Tradition und haben unterschiedliche ethisch-normative Begründungszusammenhänge herausgebildet, auf die hier nicht in Gänze eingegangen werden kann. Daher wird an dieser Stelle eine Unterscheidung der Traditionen und eine Eingrenzung notwendig. Konnte bisher weitgehend von Sozialunternehmen im Allgemeinen gesprochen werden, wird im Folgenden vor dem Hintergrund des Forschungspartners als diakonisches Unternehmen auf die ethischen und damit auch theologischen Bezüge diakonischer Unternehmen fokussiert. Vor dem Hintergrund dieser Organisationen findet sich Innovation somit im Spannungsfeld zwischen Theologie und Ökonomie wieder.
2.1.2 Innovation zwischen Theologie und Ökonomie Das Konzept der Innovation ist spätestens seit Schumpeter eng mit der ökonomischen Theorie verbunden, und diese Perspektive ist in Innovationsdiskursen nach wie vor dominant (vgl. ausführlicher Kapitel 2.2). Im ökonomischen Kontext beziehen sich Innovationen sowohl auf das ökonomische Konzept von Effizienz und Effektivität, als auch auf das Konzept des Marktes von Wettbewerb und Ertrag. Effizienz und Effektivität gewinnen dabei nur unter Knappheit der Mittel eine Relevanz: Ökonomisches Handeln wird in diesem Sinne immer notwendig, wenn keine unbegrenzten Ressourcen für einen bestimmten Zweck zur Verfügung stehen, auch unabhängig von Wettbewerb und Ertragszielen. Innovationen zielen dann beispielweise auf geringeren Ressourcenverbrauch oder eine höhere Wirksamkeit der eingesetzten Mittel in Bezug auf einen gegebenen Zweck.123 Vor dem Hintergrund des Marktes werden Investitionen in Innovation jedoch 123 Dabei ist anzumerken, dass die vordergründige Eingängigkeit dieses Prinzips durchaus nicht so einfach gegeben ist. Die Fragen, welcher Zweck denn überhaupt erreicht werden soll, welche Ressourcen dabei eingesetzt werden können und sollen, und wie Beteiligte und Betroffene aus ihrer je eigenen Sicht Zwecke, Mittel und Wege bewerten, kann insbesondere in sozialen Kontexten schnell komplex werden. Vergleiche hierzu auch die unterhaltsame Darlegung der Begriffe Effektivität und Effizienz in der Pflege in Haas (2011), S. 240ff.
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
zur Existenzvoraussetzung von Unternehmen, die permanent neue und bessere Wege des Wie und Was finden müssen, um im Wettbewerb zu bestehen und Erträge erwirtschaften zu können. Entsprechend definiert Schumpeter früh Innovationen als schöpferische Zerstörung und führt aus, dass »dieser Prozess der ›schöpferischen Zerstörung‹ für den Kapitalismus [das] wesentliche Faktum [ist]. Darin besteht der Kapitalismus und darin muss auch jedes kapitalistische Gebilde leben«.124 Innovation ist in dieser Perspektive ein grundlegendes, existenzsicherndes Handlungsmuster unternehmerischen und wirtschaftlichen Handelns. Unternehmerische Erträge stehen dabei in einer Marktlogik entsprechend der Austauschbeziehung von risk and return denjenigen zu, die die mit Investitionen und Innovationen verbundenen unternehmerischen Risiken eingegangen sind.125 Dabei stellt das Wirtschaftssystem jedoch von sich aus keine ausgewogene Verteilung der Risiken und Erträge sicher. Die klassische ökonomische Theorie, ausgehend von der »Eigenliebe« bei Adam Smith bis zum »Homo Oeconomicus« bei Vilfredo Pareto als zentrale Kunstfigur der Ökonomik, stellt ein am Eigennutz orientiertes Menschenbild auf, in dem eine ausgewogene Risikoverteilung oder ein angemessener sozialer Ausgleich nicht Teil der Entscheidungsprämissen menschlichen Handelns sind.126 Die »Privatisierung der Gewinne« und die »Sozialisierung der Verluste« oder die Externalisierung von Risiken und Kosten in andere Bereiche wie Umwelt und sozial Benachteiligte geben dafür empirische Beispiele.127 Die im wirtschaftlichen Handeln auszugestaltende Beziehung und Verteilung von Risiken und Nachteilen auf der einen, und Erträgen und Vorteilen auf der anderen Seite ist daher ein zentraler Punkt des wirtschaftsethischen Diskurses, und damit auch des Diskurses zwischen Theologie und Ökonomie. Gerade für 124 Schumpeter (1943/1992), S. 83. 125 Vgl. hierzu die sogenannte Sharpe-Ratio oder Sharpe-Equilibrium (Sharpe (1994), Sharpe (1966)). 126 Vgl. Smith (1776/1904), Pareto (1906). Wobei sich Smith in seinem philosophischen Werk »Theorie der ethischen Gefühle« von einem übertriebenen Eigennutz distanziert: »Für wie egoistisch man den Menschen auch immer halten mag, so ist er doch offenkundig von Natur aus so veranlagt, dass er sich für das Schicksal anderer interessiert und er deren Glück und Wohlbefinden als für sich wichtig betrachtet, obwohl er davon keinen Nutzen hat, außer der Freude, die anderen so zu sehen«. Noch deutlicher an anderer Stelle »Wie es das erhabene Gesetz des Christentums ist, unsere Nächsten zu lieben, so ist es das erhabene Gebot der Natur, uns selbst nur so zu lieben, wie wir unseren Nächsten lieben oder, was auf das Gleiche hinauskommt, wie unser Nächster fähig ist, uns zu lieben.« (Smith (1759), beide zitiert nach Brink (2015)). 127 Ein auf unbegrenztes Wachstum ausgerichtetes Wirtschaftssystem in einer nur über begrenzte Ressourcen verfügenden Umwelt könnte vor dem Hintergrund des ökonomischen Prinzips von Effizienz und Effektivität in diesem Sinne als im Kern »anti-ökonomisch« angesehen werden, weil es Knappheit nicht berücksichtigt.
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Innovationsprozesse gewinnt diese Beziehung Relevanz, da Innovationen einerseits positive Veränderungen ermöglichen sollen, aber auch immer mit Risiken für unterschiedliche Anspruchsgruppen verbunden sind. Wie bei wirtschaftlichem Handeln insgesamt stellt sich somit auch hier die Frage nach einem sinnvollen Verhältnis von Kosten und Nutzen (nicht nur monetärer Art) einerseits und einer gerechten Verteilung derselben zwischen den betroffenen und profitierenden Anspruchsgruppen andererseits. Aus theologisch-diakonischer Perspektive steht dieser Zusammenhang zwischen einer Schieflage der Verteilung von Kosten und Nutzen und deren sozialen Folgen am Anfang einer christlich motivierten, organisierten sozialen Hilfe, die ihre Wurzeln in der christlichen Theologie und hier wiederum in bedeutendem Maße im Pietismus und Protestantismus, aber auch in der katholischen Soziallehre hat.128 Allen gemeinsam ist, dass sie sich mit der »sozialen Frage« und dem Pauperismus im 18. und 19. Jahrhundert als Folge der Industrialisierung auseinandergesetzt und in der Folge wesentliche ethische und theologische Positionen herausgearbeitet haben. Dabei stehen zwei Grundwerte gleichermaßen im Mittelpunkt einer konfessionellen Sozialen Arbeit, wie auch einer theologisch begründeten Wirtschaftsethik: christliche Nächstenliebe und eine christliche Anthropologie.129 Hofmann sieht in der Nächstenliebe den zentralen diakonischen Grundwert und dessen Wurzeln in der biblischen Geschichte des barmherzigen Samariters.130 Die Hinwendung zum Bedürftigen, das Not-Wendende tun, der Einsatz eigenen Wissens und eigener Ressourcen, ohne Berücksichtigung von »Klassen-, Religions- und Rassengrenzen« machen den zentralen Wert diakonischen Handelns aus.131 Hofmann versteht Diakonie als »Tat gewordenen Glauben […] von Anfang an zum jüdisch-christlichen Glauben« gehörend, die sich im Engagement für Benachteiligte und soziale Gerechtigkeit ausdrückt, gerade auch in Form organisierter Hilfemaßnahmen.132 Die ethische Positionsbestimmung moderner Sozialer Arbeit mit ihrer Parteinahme für Benachteiligte, die Fokus128 Verwiesen sei hier auf die Ursprünge im Pietismus bei Philipp Jacob Spener (Pia Desideria, Frankfurt (Main), 1676) und August Hermann Francke (Reform- und Programmschrift des Halleschen Pietismus, 1704), sowie in der Folge auf Johann Hinrich Wichern (Rede auf dem Wittenberger Kirchentag, 1848), Friedrich von Bodelschwingh dem Älteren, Georg Heinrich Theodor Fliedner und anderen. Zu den Ursprüngen christlicher Sozialethik im Protestantismus insbesondere Alexander von Oettingen (Die Moralststatistik in ihrer wissenschaftlichen Bedeutung für eine Socialethik, Dorpater Zeitschrift für Theologie und Kirche, Band 9, 1867). 129 Diese Wurzeln prägen bis heute das Selbstverständnis und die Kultur der meisten Sozialträger. Dies gilt naturgemäß insbesondere (aber nicht nur) für die konfessionellen Träger der Diakonie und Caritas, die immer noch gut zwei Drittel des Sozialsektors ausmachen. 130 Vgl. Hofmann (2010), S. 21ff. mit Verweis auf Lk 10,25–37. 131 Ebd. 132 Vgl. a. a. O., S. 23 mit Verweis auf Apg 6.
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sierung auf die Adressaten sozialer Hilfe und die Forderung nach einer politisch aktiven Profession im Sinne von Sozialanwaltschaft und Mitgestaltung können auf diese Wurzeln zurückgeführt werden. Andererseits, und hierin liegt eine kleine Pointe, kann auch unternehmerisches und ökonomisches Handeln innerhalb organisierter sozialer Hilfe auf ähnlich weit zurückreichende Wurzeln zurückgeführt werden.133 Herausforderungen durch Mittelknappheit und prekäre Finanzierungsformen einerseits, sowie unternehmerisches Handeln andererseits können schon bei August Wilhelm Francke, Johann Hinrich Wichern oder auch Friedrich von Bodelschwingh dem Älteren beobachtet werden. Entsprechend kommt Krolzik nach einer historischen Untersuchung dieser Herausforderungen und deren Bewältigung zu dem Ergebnis, dass sich »christlich motivierte Nächstenliebe und unternehmerisches Handeln mit seiner hohen Effektivität [nicht einander] widersprechen«.134 Eng mit dem Grundwert der Nächstenliebe gekoppelt sieht Hofmann eine christliche Sicht des Menschenbildes als zweites Merkmal der Diakonie.135 Sie verweist auf die Spannungsbögen menschlicher Existenz zwischen Autonomie und Geschöpf, Individualität und Sozialität, Beziehungsfähigkeit und Beziehungsbedürftigkeit, Freiheit und Fehlbarkeit sowie Selbstüberschreitung und Sterblichkeit als Kontingenzerfahrung.136 Hofmann diagnostiziert, dass »in unserer Gesellschaft oft die eine Seite idealisiert und die andere tabuisiert [wird]«,137 und schlägt sieben Thesen eines für die Diakonie relevanten Menschenbildes vor: Die in der Gottesebenbildlichkeit begründete Würde des Menschen, die Unvollkommenheit des menschlichen Wesens, die Unverfügbarkeit des Lebens, der Mensch als Gebender und Nehmender, die Verantwor-
133 Vgl. Krolzik (2005), S. 273ff. 134 A.a.O., S. 292. Einen anderen Eindruck gewinnt man, wenn man weite Teile des Diskurses zur Ökonomisierung des Sozialbereichs betrachtet. Häufig werden Begriff wie Ökonomie, Neoliberalismus, Effizienz, Wettbewerb, Eigeninteresse, Unternehmertum, Management oder Markt synonym gebraucht, oder zumindest in einem sehr engen Sinnzusammenhang gesehen. Die ökonomische Logik wird häufig mit Neoliberalismus gleichgesetzt und entsprechend in einer Dichotomie zum Sozialbereich konstruiert. Jedoch blendet diese Engführung einen wesentlichen Teil ebenso aus, wie die eigentliche Wurzel ökonomischen Handelns. Dass der Sozialbereich einer Gewinnmaximierung im neoliberalen Sinne eine Absage erteilen muss, erscheint ebenso offenkundig wie die Tatsache, dass angesichts begrenzter Ressourcen (und welche Ressourcen sind schon unbegrenzt?) mit diesen Ressourcen ökonomisch umgegangen werden muss. Ethik und Ökonomie schließen sich somit nicht aus, sondern stehen in einem näher zu beleuchtenden Zusammenhang. 135 Vgl. Hofmann (2010), S. 24. 136 Vgl. a. a. O., S. 25. 137 Ebd.
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tung des Menschen für sich, andere und die Schöpfung sowie die bedingungslose Annahme des Menschen durch Gott.138 Anknüpfend daran sieht Starnitzke eine vornormative Dimension der Rechtfertigung in der Motivation christlichen Handels, die jenseits eines werteorientierten Managements und einer »Tyrannei der Werte« begründet ist:139 »Gerade im Hinblick auf die Rechtfertigungstheologie ist klar, dass christliches Handeln immer nur eine Konsequenz der Rechtfertigung sein kann, die allem menschlichen Handeln vorausgehend durch Gott und in Jesus Christus bereits geschehen ist«.140 Nur unter diesem Vorbehalt kann die bedingungslose Annahme des Menschen und die unverfügbare Liebe Gottes mit konkreten Handlungsleitlinien in der Diakonie in Verbindung gebracht werden.141 Einig sieht diese vornormative Dimension in der christlichen Spiritualität gegeben, die er als den Ort der Fragen nach transzendenter Zugehörigkeit, Begründung, Sinngebung sowie Hoffnung, Sehnsucht und Zuversicht definiert.142 Auch Haas sieht christliche Spiritualität als Teil theologischer Rationalitätsmuster in der Diakonie.143 Aus der Einsicht um die Vorläufigkeit aller menschlichen Institutionen (also auch der Diakonie) und des Wissens um die Unverfügbarkeit Gottes sieht er Spiritualität als ›Berufspflicht‹ gerade auch diakonischer Führungskräfte an, in der die Wirklichkeit Gottes als Teil der Gestaltung des Führungshandelns Zeiten und Ort braucht, um sich auf diese Wirklichkeit beziehen zu können.144 Christliche Spiritualität hat für ihn den Charakter von Ereignis, Begegnung und Geschenk, ist nicht selbstreferentiell, sondern dialogisch und lebt aus ihren eigenen Quellen der Selbstmitteilung Gottes.145 Daraus folgt für Haas, dass die »Diakonie ein Bild vom Menschen [braucht]«, bemängelt jedoch, dass der hohe Abstraktionsgrad theologischer Anthropologie für die diakonische Praxis häufig »konkretionsavers« erscheint.146 Dies führt er auf das Problem zurück, dass das Menschbild der Diakonie zwei Passungen entsprechen müsse: »einerseits zu den Fachdiskursen der Zeit und andererseits zu den biblisch-theologischen Grundlagen«.147 Er diagnostiziert dabei eine Diastase zwischen den abstrakten Begriffen der theologischen Anthropologie einerseits und den konkreten Lebensthemen andererseits, die aus den Lebenssituationen und menschlichen Grundfragen entstehen. Da Diakonie das prak138 139 140 141 142 143 144 145 146 147
Vgl. a. a. O., S. 26. Vgl. Starnitzke (2011), S. 190, mit Bezug auf Körtner (2010). Ebd. Vgl. ebd. Vgl. Einig (2012), S. 144ff. Vgl. Haas (2011), S. 79ff. Vgl. Haas (2011), S. 81. Vgl. a. a. O., S. 82. a.a.O., S. 90. Ebd.
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tische Handeln an Menschen zum Gegenstand hat, kann sie jedoch nach Haas nicht auf die Konkretion verzichten, ohne zugleich ihre Bedeutung für die Lebensthemen und Lebenssituationen der Menschen zu verlieren.148 Allerdings stehen solche Konkretionsversuche vor einer Reihe von Herausforderungen. Für Haas sind dies zum einen die Frage nach dem gewählten Differenzierungsgrad menschlicher Lebenslagen, der noch Generalisierungen ermöglichen muss, um weiterhin von einer Anthropologie sprechen zu können. Zum anderen sind die einer Konkretion zugrunde liegenden Unterscheidungen auch immer soziale Konstruktionen, und führen somit immer zu Ausblendungen und Ausgrenzungen.149 Für den von ihm unternommenen Versuch einer Konkretion theologischer Anthropologie legt er drei inhaltliche Linien zu Grunde, die für die Diakonie von besonderer Relevanz sind: Eine »lebensgeschichtliche Linie von Geburt bis Tod«, in der jede Lebensphase in ihrer »Unüberholbarkeit und Eigenständigkeit« gesehen wird; eine zweite Linie entlang der »[Grunderfahrungen] des menschlichen Lebens mit besonderer Bedeutung für die Arbeit der Diakonie«; und schließlich eine Linie der Beziehungen oder »Grundrelationen« in »Geschwisterschaft, Generationen, Freundschaft, Nachbarschaft«.150 Will eine so gezeichnete diakonische Anthropologie die notwendige und angestrebte Konkretion und damit Relevanz für die Lebensthemen der Menschen erreichen, so ist nach Haas die Auseinandersetzung mit den am anthropologischen Diskurs beteiligten Wissenschaften im Sinne eines interdisziplinären oder auch multirationalen Dialogs notwendig.151 Wie durch die Gegenüberstellung der jeweiligen Positionen deutlich wird, umfasst dieser Dialog in intensiver Weise auch den Diskurs zwischen Ökonomie und Ethik. Im engeren Sinne bewegen wir uns damit im Feld der Wirtschaftsethik, das neben einer theologischen Perspektive auf Ökonomie auch aus philosophischer Sicht bearbeitet wird. Dabei wird sich dem Spannungsfeld zwischen Ethik und Wirtschaft in der Literatur aus sehr unterschiedlichen Richtungen genähert. Büscher unterscheidet vier Modelle der Verhältnisbestimmung zwischen Ökonomie und Ethik.152 Die separative Ethik meint die Trennung der Welten zwischen beiden, indem sich die Ökonomie auf eine ›reine‹ Wirtschaftstheorie zurückzieht und die Handlungslogik vorgibt. Die funktionale Ethik sieht die Ethik als Beitrag zum ökonomischen Erfolg. Ethik ist gut, wenn sie nützt: »Dieses wirtschaftliche Paradigma nimmt das eigennützige Interesse im ökonomischen Denken auf und sieht darin die Chance bzw. nimmt für sich in Anspruch, zur Umsetzung ethischer Anliegen zu gelangen und nicht auf dem 148 149 150 151 152
Vgl. a. a. O., S. 94. Vgl. a. a. O., S. 95. A.a.O., S. 96f. Vgl. ebd. Vgl. Büscher (2008), S. 15ff.
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Niveau ethischer Analyse stehen zu bleiben«.153 Im deutschsprachigen Raum wird diese Position in der Regel auf Karl Homann zurückgeführt,154 der jedoch nach Büscher die Verknüpfung mit lebensweltlichen Perspektiven (und damit mit den Lebensthemen und Lebenssituationen) jenseits des Eigennutzes fehlt.155 Die korrektive Ethik versteht sich als Normenlieferant und möchte der Wirtschaft Kriterien ethischen Handelns als Orientierung von außen vorgeben. Als Vertreter kann hier Arthur Rich mit den Kriterien des Menschengerechten genannt werden.156 Büscher bemängelt jedoch, dass eine so verstandene Wirtschaftsethik über keinen Zugang zu ökonomischen Grundkategorien verfügt, da es sich um eine »nicht-ökonomische Kriterienethik« handelt, der »die Vernetzung zum ökonomischen Denken fehlt«.157 Die integrative Wirtschaftsethik nach Peter Ulrich unternimmt daher den Versuch, die normativen Grundlagen des ökonomischen Denkens aufzuzeigen, da sie die moderne Wirtschaftstheorie von ihren eigenen philosophischen Fundamenten entkoppelt sieht.158 Die verengte, am Eigennutz orientierte ökonomische Rationalität soll so in politische, soziale, ökologische, kulturelle und lebensweltliche Kontexte reintegriert werden.159 Ökonomie wird so aus ihrer Eindimensionalität befreit und in den multidimensionalen Kontext menschlichen Lebens gehoben. Ort des ethischen Handelns werden somit erstens die Mikroebene mit einer Individual- und Führungsethik, die Verantwortung und Handlungsspielräume als Bürger, Konsument, Führungskraft und Mitarbeiter thematisiert. Zweitens die Mesoebene der Organisationen mit einer Institutionen- und Unternehmensethik, die unter anderem unternehmerische Mitverantwortung und Selbstregulierung umfasst, sowie drittens die Makroebene mit einer Struktur-, Wirtschafts- und Ordnungsethik, die Rahmenbedingungen, Ordnungs- und Gesellschaftspolitik und die Orientierung an der Lebensdienlichkeit in den Blick nimmt. Aus einer verstärkt diakoniewissenschaftlichen Perspektive wurde die Verhältnisbestimmung zwischen Theologie und Ökonomie in besonderem Maße durch Alfred Jäger betrieben, der ausgehend von der zunehmenden Knappheit öffentlicher Mittel durch die Abschaffung des Vollkostendeckungsprinzips in den 1980er Jahren die Notwendigkeit ökonomischen Handelns gerade in der 153 154 155 156 157 158 159
A.a.O., S. 17. Vgl. Homann/Blome-Drees (1992). Vgl. Büscher (2008), S. 19. Vgl. Rich (1984). Büscher (2008), S. 17. Vgl. a. a. O., S. 18. Anknüpfungspunkt in der Wirtschaftsgeschichte ist beispielsweise das Bild des »Ehrbaren Kaufmanns«, dem neben wirtschaftlichen Erfolg auch die Achtung des persönlichen Gewissens und der Gesellschaft, Tugendhaftigkeit und Ehrbarkeit, sowie Verlässlichkeit durch das Kaufmannswort wichtig waren, und der gleichermaßen ein Interesse an seinem Unternehmen und der Gesellschaft hatte.
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Diakonie diagnostizierte.160 In der Diakonie sieht er »den exemplarischen Ort, an welchem sich Traditionen des gelebten, praktischen christlichen Glaubens und die wirtschaftliche Existenzform eines Unternehmens institutionell eng verzahnt«.161 Für die Theologie ebenso wie für die Ökonomie ergibt sich aus dieser Verzahnung ein verändertes Selbstverständnis, in dem »von der Theologie die praxisnahe Umsetzung ihrer Postulate in unternehmensbezogene Richtlinien« gefordert wird, und »von der Ökonomie ein neues Bewusstsein der Wertorientierung«.162 Diese Integration zweier Zielrichtungen führt Jäger zu seinem Achsenmodell diakonischer Führung, in dem sich die Führungsachse der Organisation aus der Kommunikation und Aushandlung einer theologischen und einer ökonomischen Zielrichtung bezogen auf die jeweilige Gestaltungsaufgabe ergibt.163 Dadurch entsteht eine interdisziplinäre Konzeption diakonischer Unternehmensführung.164 Entsprechend schlägt Jäger eine Management-Theologie vor, in der er eine »Verbindung von theologischer Motivation und Sinnorientierung einerseits und andererseits eine ökonomische Kompetenz nach modernsten Maßstäben« sieht.165 Ähnlich wie in der integrativen Wirtschaftsethik wird die Ökonomie somit eingebettet in einen nichtökonomischen Kontext und nimmt ihr so die uneingeschränkte Vormachtstellung.166 Vielmehr muss die jeweilige Zielrichtung der Unternehmensführung im Diskurs zwischen Theologie und Ökonomie bestimmt werden. Den Diskurs zwischen Theologie und Ökonomie und seine Relevanz gerade auch in Bezug auf diakonische Unternehmen hat Haas ausführlich dargelegt.167 Er unternimmt den Versuch einer systemisch-konstruktivistischen Diskursgrundlegung zwischen beiden Disziplinen.168 Diese »zielt auf eine Partnerschaft ›auf Augenhöhe‹, verstanden als Verhältnis einer Cokonstruktion der diakonischen Organisationswirklichkeit durch Theologie und Ökonomie«.169 Haas sieht, dass diese Augenhöhe oft nicht gegeben war und ist. Unter anderem hat sich die Theologie häufig auf ein nach außen gerichtetes Wächteramt zurückgezogen, dessen Selbstbewusstsein sich nicht selten mit einer ökonomischen Vgl. Jäger (1986/1993), S. 21ff. A.a.O., S. 9. A.a.O., S. 69. Vgl. Jäger (1992), S. 65ff. Vgl. auch Haas (2010), S. 222f. Jäger (1986/1993), S. 8. Jäger (1992), S. 66, vgl. auch Haas (2010), S. 222. Diese Einbettung der Ökonomie in eine konkrete Umwelt kann bei Jäger auf Hans Ulrichs Modell einer »Unternehmung als produktives soziales System« zurückgeführt werden, das ein system-orientiertes Unternehmensverständnis vorschlägt (vgl. Ulrich (1970)). 167 Vgl. Haas (2010), S. 276ff. 168 Vgl. a. a. O., S. 13. Haas bezieht sich hier insbesondere auf die neuere Systemtheorie nach Niklas Luhmann (vgl. Luhmann (1984b)). 169 Ebd.
160 161 162 163 164 165 166
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Ahnungslosigkeit verbunden hat,170 wodurch »gewisse Konsistenz- und vor allem Glaubwürdigkeitslücken« entstanden sind.171 Aus Sicht der Ökonomie identifiziert Haas vor allem zwei Hindernisse für einen gleichberechtigten Diskurs, die er aus Peter Ulrichs Wirtschaftsethik auch auf den Diskurs zwischen Theologie und Ökonomie für übertragbar hält. Zum einen die Frage, ob angesichts vorhandener Sachzwänge eine Wirtschaftsethik überhaupt möglich sei,172 und zum anderen, ob die durch Marktmechanismen und deren strikte Systemrationalität nicht eine ausreichende Binnenmoral gewährleistet, und so ein ethischer Diskurs überhaupt notwendig sei.173 Durch Einbeziehung einer systemtheoretischen Perspektive sieht Haas einen Diskursgewinn, der sich in vierfacher Hinsicht benennen lässt: Erstens in Form eines analytischen Erkenntnisgewinns, in dem »sich die Diskurspartner als Lieferanten einer jeweils für den eigenen Gestaltungszusammenhang bereichernden Perspektive erfahren«.174 Zweitens erlaubt die systemtheoretische Perspektive einen Eigenständigkeitsrespekt, da sich beide Seiten als komplexe Systeme mit je spezifischen Funktionen gesellschaftlich ausdifferenziert haben. Drittens erwartet Haas einen Verständigungsgewinn, da sowohl Theologie als auch Ökonomie eigene Fachsprachen entwickelt haben, die nicht durch eine bloße Übersetzung verbunden werden können, sondern eine gemeinsame Perspektive und beiderseits akzeptiertes Vokabular benötigen. Beides kann durch die Systemtheorie bereitgestellt werden. Abschließend erlaubt die systemtheoretische Orientierung einen Begrenzungsgewinn, indem »eine Diskurspartnerschaft nicht von falschen oder überhöhten Erwartungen überfrachtet wird. Geschlossene autopoietische Systeme haben nur sehr bedingte Einflussmöglichkeiten aufeinander. Diese zu beschreiben und die Reichweite des Impulses zu bestimmen, der durch die jeweilige Einflussnahme entstehen kann, dürfte eine wesentliche Aufgabe der Einbeziehung der Systemtheorie sein«.175 Grundsätzlich sieht Haas in der Theologie ein »Multidiskursivitätspotenzial« gegeben, das gerade im pluralistischen Kontext diakonischer Unternehmen hilfreich sein könne, da die Theologie ebenso wie Diakonie zahlreiche Schnittmengen mit anderen Diskursen aufweist. Vor diesem Hintergrund kann die Theologie zumindest eine methodologische Funktion haben, allerdings wurde dieser Aspekt einer multidiskursiven Funktionalität nach Haas bisher auf Grund
170 171 172 173 174 175
Vgl. a. a. O., S. 279. A.a.O., S. 340. Vgl. a. a. O., S. 292f. mit Verweis auf Ulrich (2008). Vgl. a. a. O., S. 293. A.a.O., S. 308. Vgl. a. a. O., S. 308f.
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eines fehlenden Verständnisses der Besonderheit diakonischer Unternehmen vernachlässigt und bedarf einer inhaltlichen Ausfüllung.176 Andererseits wird die Fähigkeit zur Innovation in Theologie und Kirche selbst teils deutlich in Frage gestellt. So macht beispielsweise Fleßa starke Innovationswiderstände und Beharrungstendenzen angesichts eines steigenden Veränderungsdrucks in Kirche und Diakonie selbst aus. Er sieht die Gefahr, dass Kirchenleitung, Kirchenvorstand, Pfarrer und Gemeindemitglieder »lieber an dem bestehenden System festhalten, selbst wenn sie damit untergehen«.177 Anstatt diese Entwicklung zu thematisieren und zu reflektieren, diagnostiziert er insbesondere in der Theologie einen Mangel an Auseinandersetzung und eigenen Antworten, und fordert als Konsequenz eine Theologie der Innovation, um Innovation in der Theologie zu ermöglichen.178 Zwischenfazit Obwohl Theologie und Ökonomie teils höchst unterschiedliche Perspektiven auf Innovation haben, lässt sich auch auf diesem Feld nicht ohne weiteres eine Dichotomie herstellen. Sie als Gegensätze zu konstruieren, käme einer Verkürzung gleich. Ökonomisches Handeln ist nicht gleichzusetzen mit Eigennutz, sondern thematisiert auch das Haushalten und Wirtschaften unter Mittelknappheit und stellt transparente Austauschmechanismen bereit. Eine theologische Rationalität ist nicht deckungsgleich mit Gemeinwohl, sondern weist umfassend unter anderem in Ethik, Dogmatik, Spiritualität und Diakonik auf die Beziehung zwischen dem Menschen und seinem Nächsten, zur Welt und zum Schöpfergott hin. Auch die Beiträge anderer Teilbereiche der Theologie als die hier vorgestellten kurzen Darlegungen aus systematischer und praktischer Theologie könnten genannt werden, beispielsweise biblische oder historische Theologie.179 Dies würde jedoch an dieser Stelle den Rahmen sprengen und ist für die weitere Untersuchung nicht in gleichem Maße relevant. Ebenso wenig ist Ökonomie per definitionem innovationsfreundlich, während Theologie und Ethik innovationsfeindlich sind. Vielmehr geht es im Kontext diakonischer Unternehmen um eine Integration und gegenseitige Bereicherung beider Perspektiven in diakonischen Innovationsprozessen. Dabei ermöglicht der Dialog mit dem Anderen die Sichtbarmachung eigener blinder Flecke. Theologie sieht, was die Ökonomie nicht sieht, was aber auch umgekehrt gilt. Die Theologie hat kein Monopol für das Auffinden blinder Flecken beim Gegenüber, und die Ökonomie kein Monopol auf das Setzen geltender Rah176 177 178 179
Vgl. a. a. O., S. 340. Fleßa (2006), S. 183. Vgl. a. a. O., S. 182f. So wird beispielsweise später in Kapitel 2.2.1 ein theologischer Innovationsbegriff aus der historischen Untersuchung der Beziehung zwischen Mensch und Natur heraus entfaltet.
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menbedingungen. Stellt diakonische Theologie in Spiritualität, Ethik und Dogmatik den zentralen Identitätsanker zur Verfügung, so steuert die Ökonomie durch Effizienz, Effektivität, Wettbewerb und Ertrag die Instrumente einer Existenzsicherung moderner diakonischer Unternehmen bei. So werden Innovationen, die auf ökonomische Effizienz ausgerichtet sind, aus ethischer Perspektive hinterfragt. Ebenso können ethisch wünschenswerte Veränderungen oder eine Ausweitung der Leistungserbringung, die beispielsweise einen erhöhten Personaleinsatz benötigen, schnell unter einen ökonomischen Vorbehalt geraten. Gerade dann werden Innovationen jedoch relevant, wenn neue Ideen abseits des Bekannten das Potenzial haben können, beide Seiten in einer konkreten Situation zu integrieren und dadurch Lösungswege aufzeigen. In diakonischen Innovationsprozessen, wie in Entscheidungsprozessen insgesamt, müssen Identität und Existenz gleichermaßen von den Organisationen aufrecht erhalten werden,180 während Innovationen eben hierzu für die Gesamtorganisation einen Beitrag leisten können. Diakonische Innovation wird somit zu einer integrativen, multidimensionalen Innovation, die Lebensthemen und Lebenssituationen der Menschen, seien es Mitarbeitenden oder Klientinnen, ebenso berücksichtigt, wie zur Verfügung stehende Mittel, konkurrierende Anbieter und innovationsnotwendige Erträge. Der in den vergangenen dreißig Jahren in diakonischen Unternehmen eingeübte Dialog zwischen Theologen und Ökonominnen, sowie die grundsätzliche Multidiskursfähigkeit der Theologie bieten zumindest potentiell auch in Innovationsprozessen mögliche Anknüpfungspunkte für eine ›Rekonzilierung‹ unterschiedlicher Rationalitäten auch jenseits von Theologie und Ökonomie. Eine multidiskursfähige Theologie und eine normativ eingebettete Ökonomie, die sich beide zugleich nicht von den Lebenssituationen der Menschen entfernen, könnten für Innovationsprozesse in diesem Spannungsfeld wichtige Orientierungspunkte bieten.
2.1.3 Innovation zwischen Mensch und Technik Technologie gewinnt insbesondere in den letzten Jahren in sozialen Unternehmen zunehmend an Bedeutung. War das Verhältnis zwischen Technologie und sozialen Organisationen in der Vergangenheit stark von einer Distanz geprägt,181 so lässt sich mittlerweile eine Annäherung beobachten. IT wird in den meisten 180 Sollte es zu Situationen kommen, in denen es beispielsweise auf Grund weiterer Mittelverknappung nicht länger möglich sein sollte, Identität als Diakonie und Existenz als Unternehmen zugleich aufrechtzuerhalten, so wäre eine mögliche Entwicklung, dass Diakonie andere Organisationsformen als die des Unternehmens wählt, womit sie sich notwendigerweise aus dem bisherigen Sozialsystem verabschieden müsste. 181 Vgl. Schöttler (2011), S. 22ff.
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Sozialunternehmen auf operativer, taktischer und teilweise strategischer Ebene eingesetzt,182 um routinisierte Transaktionen beispielsweise in Finanz- und Rechnungswesen oder Personalmanagement zu bearbeiten, aber auch als handlungsleitende Workflow-Systeme, die die Durchführung einer Tätigkeit zum richtigen Zeitpunkt unterstützen und als Dokumentations- und Erinnerungshilfe dienen.183 Darüber hinaus gibt es auch Beispiele eines strategischen Einsatzes von IT-Systemen, wie im Fall von Stakeholder-Managementsystemen.184 Im aktuellen Innovationsdiskurs spielen hingegen insbesondere technische Assistenzsysteme, vor allem im Bereich der Altenpflege und der medizinischen Versorgung, eine große Rolle, unterstützt durch umfangreiche Forschungsprojekte zur Entwicklung und Gestaltung solcher Systeme. Bisher werden diese Leistungen so gut wie ausschließlich durch die Mitarbeiterinnen der jeweiligen Einrichtungen in persönlichem Kontakt mit den Klienten erbracht. Der demographische Wandel und der bereits jetzt vorherrschende Fachkräftemangel zeigen jedoch deutlich die Grenzen des bisherigen Pflegeschlüssels auf. Als eine mögliche Antwort auf diese Herausforderungen werden technische Assistenzsysteme als sinnvolle Ergänzung personaler Assistenzleistungen angesehen.185 Obwohl zur Zeit nur wenige praxistaugliche Angebote erkennbar sind, ist in Zukunft damit zu rechnen, dass Assistenzsysteme in den genannten Bereichen einen großen Stellenwert einnehmen können, wie ein Blick in Länder wie den Niederlanden, Dänemark oder Japan bereits heute zeigt. Doch auch in Deutschland gewinnt der Diskurs über die Möglichkeiten und Risiken dieser Technologien an Dynamik. Im Zusammenhang mit Innovationen kann deshalb ein Spannungsfeld zwischen personaler und technischer Assistenz beobachtet werden. Dabei ist die Frage zu stellen, ob es sich hierbei um ein hinreichend eigenständiges Feld handelt, oder ob es auf Grund der dominanten ethischen Argumente auf der einen und der vordergründig ökonomischen Argumente auf der anderen Seite nicht vielmehr um ein Unterthema des Diskurses zwischen ethisch-theologischen und ökonomischen Rationalitäten handelt. So argumentiert Peter Ulrich, dass grundsätzlich die technische Rationalität der ökonomischen zu einem großen Teil untergeordnet ist, und zu »nichts anderem als der ›Rationalisierung‹ des Kapitalverwertungsprozesses« diene.186 Er sieht beide zusammen in einem industrialistischen Rationalisierungsmuster vereint, das seit Beginn der Moderne zu einer Entfesselung und »Emanzipation« von den lebensweltlichen Bedingungen geführt hat, so dass Technologie und 182 183 184 185 186
Vgl. Sporn (2007), S. 365. Schöttler (2011), S. 9. Vgl. Eisenreich (2009), S. 1ff. Vgl. Horneber/Schoenauer (2010), S. 9. Ulrich (1998), S. 53.
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Ökonomie eine instrumentelle Binnenrationalität entwickeln konnten ohne Anbindung an eine normative Ebene,187 wodurch sich die Opposition zu ethischtheologische Positionen ergibt. Damit überträgt Ulrich ein zentrales Argument seiner integrativen Wirtschaftsethik auf eine mögliche Technikethik. Entlang dieser Unterscheidung scheint eine differenzierte Betrachtung von Technik und Ökonomie nicht weiter notwendig. Zwar argumentiert auch Becker, dass eine Übertragung wirtschaftsethischer Maximen auf die Technik auf Grund der Nähe von Technologie und Wirtschaft sinnvoll ist.188 Neben Ulrich bezieht er sich dabei auf Arthur Rich und orientiert sich an dessen Begriff der Lebensdienlichkeit und seinen Kriterien des Menschengerechten.189 Becker leitet jedoch daraus ab, dass Technologie grundsätzlich ein eigenes lebensdienliches Potenzial hat, und gerade deshalb eine eigene Rationalität auch jenseits der Ökonomie sinnvoll erscheint.190 In Anlehnung an Ulrich konzipiert Becker eine integrative Technikethik, »die die normativen Grundlagen der Technik von Anfang an in den Blick nimmt«, und »wegen der grundsätzlichen Werthaltigkeit der Technik (und allen menschlichen Handelns) notwendig [ist]«.191 Auch aus Sicht einer Techniksoziologie wird erkennbar, dass Technologie nicht nur mit dem ökonomischen System interagiert oder in dieses integriert ist, sondern gerade in den letzten Jahren nahezu alle Gesellschaftsbereiche maßgeblich beeinflusst hat, und dies nicht immer auf den Flügeln einer rein ökonomischen Logik. So sieht beispielsweise Braun-Thürmann neben einer ökonomischen auch eine soziale und politische Ordnung in technische Artefakte eingeschrieben.192 Somit treten im Kontext assistiver Technologien die veränderten soziotechnischen Arrangements in den Vordergrund.193 Diese Hinweise sollen zum Anlass genommen werden, das Verhältnis zwischen personaler und technischer Assistenz jenseits des Diskurses zwischen Theologie und Ökonomie eigenständig näher zu beleuchten. Im Sinne Beckers wird dabei zunächst von der potenziellen Lebensdienlichkeit der Technologie ausgegangen, die auch im Diskurs zu technischen Assistenzsystemen von vielen Autoren thematisiert wird. So spricht Krolzik in diesem Zusammenhang von einer starken Verheißungsstruktur der Technologie. Sie »erleichtert das Leben, besitzt größere Präzision als der Mensch, hilft Mängel und Beschränkungen des Menschen auf 187 188 189 190 191 192 193
Vgl. ebd. Vgl. Becker (2008), S. 402. Vgl.a.a.O., S. 390. Vgl.a.a.O., S. 435. A.a.O., S. 214 (Hervorhebung im Original). Vgl. Braun-Thürmann (2005), S. 26. Vgl. Manzeschke et al. (2013), S. 13ff.
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und eröffnet neue Erlebniswelten«.194 Die Diakonie sieht er vielfältig von der Entwicklung des technischen Fortschritts betroffen, da die Technologie das Potenzial besitzt, Versorgungssicherheit zu erhöhen, Freiheit und Selbstbestimmung zu erhalten und Teilhabe durch Nutzung moderner Kommunikationsmittel zu ermöglichen.195 Krolzik beobachtet, dass »lange Zeit der Technikeinsatz bei der Begleitung von Menschen kritisch betrachtet [wurde] und im Verdacht [stand], den persönlichen menschlichen Kontakt durch unpersönliche kalte Technik zu ersetzen«.196 Entsprechend sieht er die Diakonie vor die Herausforderung gestellt, passende und damit praxistaugliche Angebote zu entwickeln, sowie den Technologieeinsatz strategisch wie ethisch zu reflektieren.197 Ähnlich sehen Manzeschke et al. die Möglichkeit, durch altersgerechte Assistenzsysteme den Nutzern ein selbstbestimmtes Leben, fortgeführte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben und eine Integration in soziale Bindungen zu ermöglichen.198 Verbunden mit einer Versorgungs- und Wohnungssicherheit können so insbesondere ältere Menschen länger selbstbestimmt in der eigenen Häuslichkeit verbleiben.199 Manzeschke greift dabei die Idee einer ›unsichtbaren Technik‹ auf, bei der das technische Artefakt in den Hintergrund tritt,200 damit das häusliche Umfeld älterer Menschen nicht nur als technische auszustattende Unterkunft betrachtet wird, sondern als »symbolischer Ort, wo ein Mensch zu Hause ist«, »als Treffpunkt sozialer Beziehungen« und somit »als Ort von die Person konstituierenden Erinnerungen«.201 Eng mit dieser Perspektive verbunden ist die Frage nach der Nutzerakzeptanz von Assistenztechnologien. Klein hat in diesem Zusammenhang die Akzeptanz unterschiedlicher Technologietypen untersucht.202 Sie unterscheidet dabei vier Technologiebereiche, die sie als Telemonitoring, Telecare, Edutainment und Robotherapy definiert,203 die sie entlang der Kriterien Akzeptanz und Nutzungstauglichkeit untersucht. Dabei kommt sie zu dem Ergebnis, dass zur Zeit vor allem Edutainment-Angebote wie die Verwendung einer Wii-Konsole hinsichtlich Akzeptanz und Nutzungstauglichkeit als Innovation bezeichnet werden können, während die eigentlichen Assistenztechnologien hier noch Nachholbedarf aufweisen.204 Insbesondere die Akzeptanz sieht sie dabei multidi194 195 196 197 198 199 200 201 202 203 204
Krolzik (2013), S. 3. Vgl. Krolzik (2013), S. 3. Ebd. Vgl. Krolzik (2013), S. 3, Schöttler (2011), S. 65f. Vgl. Manzeschke et al. (2013), S. 22f. Vgl. a. a. O., S. 8. Vgl. ebd. mit Verweis auf Weiser (1991), S. 94. A.a.O., S. 9. Vgl. Klein (2010), S. 271ff. Vgl. a. a. O., S. 282ff. Vgl. a. a. O., S. 291.
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mensional, da nicht nur die Akzeptanz des eigentlichen Nutzers von Bedeutung ist, sondern auch die des pflegerischen und sozialarbeiterischen Personals, des Trägers und der politischen Akteure.205 Gleiches beobachtet Horneber und unterscheidet zwischen unternehmensinternen und -externen Akzeptanzbarrieren. Intern müssen Akzeptanzbarrieren bei Mitarbeitenden überwunden werden, während unternehmensextern vor allem die Akzeptanz der Nutzer erreicht werden muss.206 Dabei stehen die Nützlichkeit und der Sinn technischer Innovationen im Vordergrund. Zum anderen soll der Umgang mit der Technik Spaß machen (Joy of Use) und darf nicht zu einer Stigmatisierung der Nutzer führen.207 Horneber et al. sehen zudem in einer gelingenden Umsetzung assistiver Technologien einen Beitrag zum sozialpolitischen Vorrang der ambulanten vor einer stationären Versorgung, wenn diese in entsprechende persönliche und organisierte Unterstützung integriert ist.208 Allerdings konstatiert Horneber auch, dass die Struktur des Sozial- und Gesundheitsmarktes eine Innovationsbarriere darstellt, da durch das Sozialgesetzbuch Budget- und Sektorengrenzen zementiert sind.209 Innovative Technologien finden nur sehr langsam den Weg in den Katalog der erstattungsfähigen Leistungen, und andere Refinanzierungsformen scheinen nicht geeignet, eine breite Diffusion solcher Lösungen zu befördern.210 Die Entwicklung geeigneter Geschäftsmodelle stellt somit eine zentrale Herausforderung dar,211 selbst wenn »technisch brillante Visionen« vorhanden sind.212 Ähnlich argumentieren Köhler et al., die insbesondere in der Pflege eine hohe Komplexität einer historisch gewachsenen Fragmentierung des deutschen Gesundheits- und Sozialsystems sehen,213 die sich hemmend auf innovative Projekte auswirkt. Nicht zuletzt scheitert die Regelfinanzierung solcher Innovationen an den fehlenden Vernetzungsmöglichkeiten in der aktuellen Sozialgesetzgebung.214 Entsprechend folgern sie, dass eine erfolgreiche Diffusion »in die Breite der Versorgungspraxis nur durch die Entwicklung von Nachhaltigkeitsund Transferkonzepten gelingen [kann]«.215 Als eine Grundvoraussetzung für eine breite Implementierung sehen Haub205 206 207 208 209 210 211 212 213 214 215
Vgl. a. a. O., S. 289. Vgl. Horneber (2010), S. 155. Vgl. a. a. O., S. 156. Vgl. Horneber/Schoenauer (2010), S. 9. Vgl. Horneber (2010), S. 153. Vgl. a. a. O., S. 153 oder auch Klein (2010), S. 293, Manzeschke et al. (2013), S. 10. Vgl. a. a. O., S. 143f. Vgl. a. a. O., S. 152f. Vgl. Köhler/Goldmann (2010), S. 259. Vgl. a. a. O., S. 260. Vgl. a. a. O., S. 261.
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
ner et al. zudem die Haltung und Einstellungen der Pflegekräfte zur Technik an.216 Sie sehen diese als Türöffner und Marktimplementierer für Assistenztechnologien, da diese im Zusammenspiel mit den Pflegedienstleitungen häufig die Entscheidung über anzuschaffende technische Geräte treffen.217 Die Einbindung der Pflegeanbieter in die Entwicklung assistiver Technologien ist für sie daher ein zentrales Erfolgskriterium, wobei diese Zusammenarbeit durch die fundamental unterschiedlichen Kulturen erschwert wird: »So kommt beispielsweise in den Bereichen Gesundheit und Soziale Arbeit der Aspekt der Fürsorge, der Pflege und der Hinwendung zu einzelnen Personen ein herausragender Stellenwert zu, während in den technischen Berufen Fragen der technischen Machbarkeit, die Erhöhung von Wirkungsgraden der Technik oder sogar das Ersetzen menschlicher Tätigkeiten durch Technik die Handlungen dominiert«.218 Zusammen mit Heinze et al. diagnostizieren sie, dass vor allem die daraus entstehenden Kommunikationsbarrieren dafür verantwortlich sind, dass hierzulande assistive Technologien schwieriger zu implementieren sind als in anderen Ländern, gerade auch weil »Wanderer zwischen den Welten selten vorzufinden [sind]«.219 Die Technologiedistanz sozialer Organisationen kann neben den Lebensweltunterschieden, die sich in Kultur, den zu Grunde liegenden Paradigmen, Methoden und Sprache ausdrücken,220 zudem auf eine geringere Techniksozialisation der vor allem weiblichen Mitarbeiterschaft von Sozialunternehmen zurückgeführt werden.221 Technologie gilt auch heute noch als überwiegend männliche Domäne. So führt Wajcman aus, dass Frauen wesentliche Aspekte ihrer weiblichen Identität opfern müssen, wenn sie die Domäne der Technik betreten wollen.222 Hierzu ist anzumerken, dass diese Einflussgröße mit der Vgl. Haubner/Nöst (2012), S. 8. Vgl. a. a. O., S. 19f. A.a.O., S. 9, vgl. auch Buhr (2010), Schöttler (2011), S. 23ff. A.a.O., S. 8f. mit Verweis auf Heinze/Hilbert/Paulus (2008). Der Lebensweltbegriff kann im Kontext der Phänomenologie auf Husserl zurückgeführt werden; »Der Mensch lebt demzufolge in der Welt der natürlichen Einstellung, die für ihn fraglos gegeben ist. Hierunter versteht Husserl die Welt, in der wir uns in jedem Augenblick unseres Lebens befinden und zwar ist diese Welt so und nur so zu nehmen, wie sie sich uns in unserer alltäglichen Erfahrung darbietet. Diese Welt ist in Raum und Zeit endlos ausgebreitet; sie umfasst sowohl Naturdinge als auch Kulturobjekte wie Geräte, Werkzeuge und Wertgegenstände (…). In dieser Welt existieren wir, in ihr sind wir tätig und verfolgen in ihr all unsere Ziele. Wir orientieren uns immer in dieser Welt, unserer täglichen Erfahrung und haben eine gewisse Vertrautheit mit dem, was uns in ihr begegnet« (Gurwitsch, A.; Einführung zu Alfred Schütz. Gesammelte Aufsätze Band 1. Das Problem der sozialen Wirklichkeit. In: A. Schütz gesammelte Aufsätze Band 1. Den Haag 1971, Seite XV f.., zitiert nach Meyer (2007), S. 38). 221 Vgl. Schöttler (2011), S. 22ff. 222 Vgl. a. a. O., S. 26 mit Verweis auf Wajcman (2009).
216 217 218 219 220
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zunehmenden Digitalisierung der meisten Gesellschaftsbereiche abnehmen wird: »Ob dies heute noch im gleichen Ausmaß gilt, ist zu hinterfragen, da die fortschreitende Technisierung aller Lebensbereiche auch Auswirkungen auf den Alltag der meisten Frauen hat, und hierbei vor allem jüngere Frauen eine zunehmende Technologieaffinität entwickeln. Dass die Grundkategorie jedoch weiterhin zutrifft, steht außer Frage, da zumindest die Zuschreibung von Technologieaffinität zur maskulinen und die Zuschreibung von Technologieaversion zur femininen Sphäre nach wie vor sehr häufig gegeben ist«.223 Des Weiteren kann ein weitverbreitetes Selbstverständnis der Sozialen Arbeit als ›nicht-informatisierbare‹ Disziplin beobachtet werden, dem die Überzeugung zu Grunde liegt, dass Abläufe, Methoden und wesentliche Merkmale der Sozialen Arbeit nicht mit Hilfe einer Technologie abzubilden seien, da Technologie immer komplexitätsreduzierend ist, es aber gerade diese Komplexität ist, die Soziale Arbeit ausmacht.224 Als weiteres Merkmal der unterschiedlichen Lebenswelten sieht sich Soziale Arbeit grundlegend normativ motiviert (vgl. auch 2.1.1), während in der Technologie als Schwester der Ökonomie eine von einer normativen Ebene abgekoppelte instrumentelle Rationalität gesehen wird.225 In der Wahrnehmung der Akteure Sozialer Arbeit fragt diese Rationalität in extremer Ausprägung nicht mehr nach dem Zweck, und schon gar nicht nach den zugrunde liegenden Normen, sondern in ihr werden Effizienz und Optimierung zum Selbstzweck.226 Diese Argumentation kann, wie eingangs gezeigt, auf Peter Ulrichs Unterordnung der technologischen Rationalität unter eine ökonomische zurückgeführt werden. Zwischenfazit Aus den dargestellten Zusammenhängen lassen sich folgende Schlussfolgerungen ziehen, um die eingangs gestellte Frage zu beantworten, ob sich das Spannungsfeld zwischen Mensch und Technik vollständig an den Diskurs zwischen Theologie, beziehungsweise Ethik und Ökonomie anschließen lässt. Zum einen 223 A.a.O., S. 27. 224 Vgl. a. a. O., S. 46 mit Verweis auf Kirchlechner (2000), S. 28. 225 Vgl. a. a. O., S. 29ff. Der Begriff der instrumentellen Rationalität oder Zweckrationalität kann auf Max Weber zurückgeführt werden. In seiner Interpretation Webers schreibt Habermas: »Weber hat den Begriff praktischer Rationalität unter den drei Aspekten der Mittelverwendung, der Zwecksetzung und der Orientierung an Werten differenziert. Die instrumentelle Rationalität einer Handlung bemißt sich an der effektiven Planung der Mittelverwendung bei gegebenen Zwecken; die Wahlrationalität einer Handlung bemißt sich an der Richtigkeit der Kalkulation der Zwecke bei präzise erfassten Werten, gegebenen Mitteln und Randbedingungen; und die normative Rationalität einer Handlug bemißt sich an der einheitsstiftenden und systematisierenden Kraft und Penetranz der Wertmaßstäbe und Prinzipien, die den Handlungspräferenzen zugrunde liegen« (Habermas (1981), S. 244f.). 226 Vgl. a. a. O., S. 29.
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wird deutlich, dass Technologie zwar enge Verbindungen mit der Ökonomie aufweist, dieser jedoch nicht einfach untergeordnet ist. Kann man der Ökonomie die Logik des Marktes und der Mittelknappheit zuordnen, so kann die Logik der Technologie in ihrer Funktion gesehen werden. Zwar nutzt Ökonomie Technologie in dieser funktionalen Sicht als Instrument, aber sie folgen eben nicht der gleichen Logik. Auch die mit dieser instrumentellen Rationalität einhergehende Gefahr einer Abkopplung der Technologie von einer normativen Dimension, wie sie Ulrich auch für die Ökonomie diagnostiziert, erlaubt keine Gleichsetzung oder reine Unterordnung. Dies wird auch an den Spannungen zwischen »technisch brillanten Visionen« und erfolgreichen Geschäftsmodellen zu Assistenztechnologien sichtbar, in denen die unterschiedlichen Logiken von Technologie und Ökonomie deutlich werden. Zum anderen weist die Technologie Interaktionen und Spannungen zu anderen Rationalitäten und Referenzsystemen auf, die sich nicht auf ökonomische Zusammenhänge reduzieren lassen. Auf Grund ihrer möglichen Lebensdienlichkeit verfügt Technologie über das Potenzial, auch ethisch hochbewertete Ziele wie Teilhabe und Inklusion zu unterstützen. Damit sind Konstellationen denkbar, in denen ein Technologieeinsatz aus ethischen Gründen geboten, jedoch aus ökonomischen Überlegungen nicht realisierbar erscheint. Technologie kann somit als Instrument nicht nur zur Erreichung ökonomischer Ziele genutzt werden. Die Frage, ob sich Technik für andere Referenzen nutzen lässt, ist daher unabhängig von der Ökonomie zu betrachten, wie das Verhältnis zwischen Sozialer Arbeit und Technologie zeigt. Zwar werden in diesem Kontext auch ökonomische Kriterien diskutiert, jedoch steht die Frage nach der Unterschiedlichkeit der Lebenswelten und die Integration der Technik in die Methoden und Prozesse Sozialer Arbeit im Mittelpunkt. Auch im Hinblick auf eine sozialpolitische Rationalität wird Technologie als Instrument wahrgenommen, wenn ihr Lösungspotential für die zentralen sozialpolitischen Herausforderungen des demographischen Wandels, des Fachkräftemangels oder der Inklusionsziele zugedacht wird. Diese beinhalteten zwar auch eine ökonomische Dimension, aber eben nicht nur. Fragen der Akzeptanz und der Wirksamkeit für Nutzer wie für Pflegekräfte und auch sozialpolitische Akteure gehen über rein ökonomische Aspekte weit hinaus. Es kann somit festgehalten werden, dass der Technologie zwar eine instrumentelle Rationalität der Funktion innewohnt, sie aber eben dadurch im Zeitalter der Digitalisierung von unterschiedlichen Rationalitäten als Instrument der je eigenen Logik genutzt werden kann. Genauso kann jede Sinngemeinschaft auch von ihr herausgefordert werden. Dies gilt für die Ökonomie ebenso wie für Theologie und Ethik, die Sozialprofessionen und Sozialpolitik.
Innovationsbegriffe im sozialunternehmerischen Umfeld
2.2
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Konzeptionen der Theorie: Innovationsbegriffe im sozialunternehmerischen Umfeld
In der Betrachtung der Spannungsfelder wurde deutlich, dass die verschiedenen Positionen mitunter ein sehr unterschiedliches Verständnis davon zu Grunde legen, was unter Innovation zu verstehen ist. Folgerichtig kommen die damit verbundenen Disziplinen wie Theologie, Sozialwissenschaften, Ökonomie oder Sozialarbeit zu unterschiedlichen Ergebnissen, wie der Begriff theoretisch zu definieren ist. Somit können im wissenschaftlichen Umfeld der Sozialunternehmen verschiedene Begriffskonzeptionen gefunden werden, die ähnlich wie die Spannungsfelder, in denen sich Innovation bewegt, von unterschiedlichen Rationalitäten geprägt sind. Entsprechend ist die Spurensuche nach Mustern der Multirationalität auf diesen Diskursstrang auszudehnen. Dabei spiegelt sich das teilweise spannungsgeladene Verhältnis der Rationalitäten auch in der Auseinandersetzung um einen geeigneten Innovationsbegriff wieder. Eine Annäherung an einen Innovationsbegriff für Sozialunternehmen wird in der vorhandenen Literatur zumeist über die Diskurse zur sozialen Innovation und zur Dienstleistungsinnovation unternommen. In der Literatur wird insbesondere soziale Innovation in enger Verbindung zu Innovation in sozialen Organisationen, Sozialer Arbeit und personenbezogenen sozialen Dienstleistungen gesehen und häufig auch gleichgesetzt. Gemeinsam ist sozialer Innovation und Dienstleistungsinnovation, dass sie in Abgrenzung zu technologischen Innovationen häufig über ihren immateriellen Charakter definiert werden. Während Dienstleistungsinnovationen jedoch zumeist in ökonomischen Verwertungszusammenhängen diskutiert werden, werden soziale Innovationen zusätzlich von einer singulären ökonomischen Zieldimension abgegrenzt und auf soziale Wirkungskontexte bezogen. Auch um die Dichotomien zu vermeiden, die sich aus den Abgrenzungsbemühungen von einem industriell dominierten Innovationsbegriff ergeben, werden zunehmend postindustrielle Begriffskonzeptionen diskutiert, die Innovation abstrakter aus einer soziologischen Perspektive betrachten, um technische, ökonomische, aber auch soziale Engführungen des Begriffs zu vermeiden. Zum anderen können vor dem Hintergrund diakonischer Unternehmen theologische Perspektiven gefunden werden, die sich dogmatisch mit dem Innovationsbegriff auseinandersetzen. Im Folgenden werden die unterschiedlichen Konzeptionen hinsichtlich ihrer zu Grunde liegenden Rationalitätsmuster sowie ihrer Eignung für Sozialunternehmen untersucht. Dabei wird erkennbar, dass ein Innovationsbegriff für Sozialunternehmen den pluralistischen Charakter aufgreifen und die verschiede-
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
nen Rationalitäten in sich integrieren müsste. Es wird geschlossen, dass ein solcher Begriff im aktuellen Diskurs nicht zur Verfügung steht. – Abschnitt 2.2.1 stellt in der wesentlichen Sinndimension diakonischer Unternehmen Perspektiven zur theologischen Legitimation von Innovation vor, die bis in die präindustrielle Gesellschaft hinein nachvollzogen werden kann. – In Abschnitt 2.2.2 wird auf Ansätze zur Konzeption eines sozialen Innovationsbegriffs in Abgrenzung von einer technisch-ökonomischen und damit industriell geprägten Dominanz eingegangen. – In Abschnitt 2.2.3 werden Ansätze einer postindustriellen Konzeption des Innovationsbegriffs vorgestellt, die die genannten Dichotomien vermeiden und Anknüpfungspunkte für einen Innovationsbegriff pluralistischer Organisationen bieten.
2.2.1 Der Innovationsbegriff in theologischer Perspektive Wie aus der Darstellung des Spannungsfeldes zwischen Theologie und Ökonomie ersichtlich wird, beschränkt sich ein theologischer Beitrag nicht nur auf eine sozial- und wirtschaftsethische Perspektive, die im Grundwert der Nächstenliebe eine zentrale Wurzel hat. Vielmehr wird deutlich, dass Theologie und Ökonomie ein zum Teil höchst unterschiedliches Menschenbild zu Grunde liegt: Dreht sich der Mensch in der klassischen Ökonomie um sich selbst, dreht er sich in theologischer Perspektive um Gott. Ist er hier im Innovationsgeschehen nach Schumpeter Akteur einer schöpferischen Zerstörung, so ist er dort Geschöpf Gottes, der allein wirklich Neues zu erschaffen vermag,227 und alles immer wieder neu macht.228 Somit sind das Neue und die Erneuerung zentrale theologische Begriffe und Verheißung zugleich, wenn gleich der Begriff der Innovation im engeren Sinne nur selten in dogmatischen Diskursen vorkommt.229 Vor diesem Hintergrund argumentiert von Lüpke in Bezug auf Innovation in der Diakonie für die Notwendigkeit, »dass Innovation im Sinne der fortlaufenden Schöpfung geschieht und erfahren wird«.230 Er sieht dies als Maßstab, welche Innovationen zu entwickeln sind, ob sie also die fortlaufende Schöpfung sichern, durch die sich Leben erneuert und erhält, oder ob sie anderen Zwängen wie Kostendruck und Erfolg unterworfen wird, und das Neue auf Kosten des Alten durchgesetzt wird.231 Diakonische Innovationen dienen somit in erster Linie den elementaren Lebensgrundlagen, worin sich der ethisch-normative Kern sozialer 227 228 229 230 231
Vgl. von Lüpke (2003), S. 32. Vgl. a. a. O., S. 33. Vgl. a. a. O., S. 32. A.a.O., S. 36. Vgl. a. a. O., S. 36f.
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Arbeit und die Fokussierung auf die Bedarfslagen der Adressatinnen und Adressaten sozialer Hilfen zeigt. So verstanden werden Innovationen zur Freiheit der Diakonie, »die Freiheit zum Tun der Liebe« ist.232 Dass dieses Tun in Freiheit auch scheitern kann, weil aus dieser Einsicht nicht zwingend der Wille folgt, der aus Theorie Praxis werden lässt, sieht von Lüpke aufgefangen durch die Rechtfertigung des Menschen durch Gott.233 Denn es sei Sache des Geistes, Neues zu schaffen und »einen anderen Verstand und Willen ein[zu]pflanzen«.234 In dieser theologischen Perspektive wird das Neue zu etwas Unverfügbaren, das den ganzen Menschen erneuert, worin von Lüpke den genuin theologischen Sinn des Begriffs der Innovation sieht. Aus der Unverfügbarkeit des schöpferisch Neuen und der Erneuerung durch den Geist folgt für von Lüpke die Rolle des Menschen, sich für »im wahrsten Sinne des Wortes innovatives, erneuerndes Wirken offen und bereit zu halten«.235 Innovation ist dann nicht im Schumpeterschen Sinne eine schöpferische Zerstörung, deren Akteur der Mensch ist, sondern Teil der Erneuerung der göttlichen Schöpfung. Andrerseits führt Krolzik die theologische Legitimation von technischen Innovationen bereits im Mittelalter auf die drei theologischen Vorstellungskomplexe des Zeit- und Geschichtsverständnisses, der Bewertung der Handarbeit und die Stellung des Menschen in der Natur zurück.236 Dabei sieht er unter christlichen Denkern seit dem 12. Jahrhundert ein Geschichtsverständnis verbreitet, das zwischen Anfang und Ende der Geschichte eine Entwicklung sieht, die als »Erneuerung zum Besseren« verstanden werden kann.237 Die Natur wird somit nicht als statisch gegeben und mit einer stabilen Ordnung ausgestattet angesehen, sondern auf Grund der gefallenen Schöpfung als mängelbehaftet und gestaltungsbedürftig. »Deshalb muß der Mensch in Zusammenarbeit mit Gott diese Mängel beseitigen«.238 Nicht statische Ordnung, sondern vielmehr Beziehungen sind der Natur »eingestiftet«. Krolzik führt auf dieses Verständnis, in Verbindung mit der positiven Bedeutung von Handarbeit und Handwerk, beispielsweise im Mönchtum, wichtige Impulse für technischen Fortschritt zurück, der im Mittelalter insbesondere im Umfeld von Klöstern stattfand.239 Während die Stellung des Menschen in der Natur in der Alten Kirche als Herrschaft über eine nicht weiterzuentwickelnde Natur gesehen wird, setzt sich nach Krolzik ab dem Mittelalter beispielsweise mit Hugo von St. Viktor ein dynamisches Na232 233 234 235 236 237 238 239
A.a.O., S. 38. Vgl. a. a. O., S. 39. A.a.O., S. 40. Ebd. Vgl. Krolzik (1993), S. 36. Vgl. a. a. O., S. 37. A.a.O., S. 52. Vgl. a. a. O., S. 39ff.
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turverständnis durch, in dem der Mensch die Natur gerade auch unter Zuhilfenahme »mechanischer Künste« mitgestaltet.240 Nach Hugo teilte sich die Philosophie entsprechend in die vier Künste der Theorie, Praxis, Mechanik und Logik, die zur Wiederherstellung des imago Dei benötigt werden.241 Technik ist in dieser Perspektive nicht etwas naturfremdes, sondern »Naturerkenntnis und ihre Anwendung in der Technik machen nach Auffassung dieser Denker den Menschen zum cooperator Dei im Heilsprozeß«.242 Diese Perspektive kann im engen Zusammenhang mit der These der Lebensdienlichkeit von Technologie gesehen werden (vgl. 2.1.3), die Becker seiner integrativen Technikethik zu Grunde legt. Zwar sieht Becker auch, dass Technologie im Zuge der Industrialisierung zu einem auf ökonomischer Verwertung reduziertes Naturverständnis beigetragen hat. Jedoch führt er dies auf die Entkopplung der Technik von ihren normativen Grundlagen zurück, und nicht im Wesen der Technologie selbst begründet. Mit der Rückbindung der Technik an diese Grundlage kann das prinzipiell lebensdienliche Potential wieder sichtbar und wirksam werden.243 Zwischenfazit Das Neue und die Erneuerung ist in der Theologie ein zentraler Begriff. Zwar kann allein Gott wirklich Neues schaffen, aber der Mensch ist Mitgestalter zum Besseren einer sich in Entwicklung befindlichen Natur. Die Dynamiken und Beziehungen der Natur gilt es als Voraussetzung zu verstehen, und durchaus durch »mechanische Künste« in diesem Sinne zu Nutzen. Zugleich wird jedoch deutlich, dass das hier beschriebene Technikverständnis präindustriell geprägt ist, da einerseits eine besondere Betonung des Handwerks zu finden ist, und andererseits die enge Kopplung des technologischen Fortschritts mit einer ökonomischen Logik noch nicht vollzogen wurde. Andererseits kann von dieser präindustriellen Position möglicherweise eine Brücke zu einem postindustriellen Innovations- und Technikverständnis geschlagen werden: Mit der These, dass Technologie im Begriff ist, sich aus einer ökonomischen Monorationalität zu lösen (vgl. 2.1.3), kann die theologische Perspektive Sinndimensionen für technische Innovationen jenseits der Ökonomie aufzeigen.
240 241 242 243
Vgl. a. a. O., S. 46ff. Vgl. a. a. O., S. 47f. A.a.O., S. 52 (Hervorhebung im Original). Vgl. Becker (2008), S. 435.
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2.2.2 Der Innovationsbegriff zwischen sozialen und technisch-ökonomischen Engführungen Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts erfuhr der Begriff der Innovation eine semantische Wandlung in dreierlei Hinsicht: Im Zuge fortschreitender Industrialisierung und technischer Erfindungen erhielt er eine stark technisch, ökonomisch und ausschließlich positiv aufgeladene Bedeutung.244 Vor diesem Hintergrund wurde der Begriff von Schumpeter in den (wirtschafts-)wissenschaftlichen Diskurs eingeführt, der Innovation als Essenz des Kapitalismus beschrieb.245 In der wissenschaftlichen Betrachtung ebenso wie in der öffentlichen Wahrnehmung war und ist der Begriff der Innovation seither stark technisch und ökonomisch aufgeladen. In der Folge einer scheinbaren Kausalität von technischen Innovationen und den sich daraus ergebenden ökonomischen Vorteilen für Organisationen und Gesellschaft,246 hat sich ein bis heute vorherrschendes, technisch-ökonomisch reduziertes Innovationsparadigma mit entsprechenden Begriffskonzeptionen durchgesetzt. Für soziale Organisationen sowie für soziale Zusammenhänge insgesamt wurde das Konzept der Innovation in dieser Form inkompatibel. Die Suche nach eigenen Begriffskonzeptionen erfolgte daher in der Regel über eine Abgrenzung von technisch-ökonomischen Logiken. Soziale Innovation wird dabei häufig einerseits in Abgrenzung zur Technologie über einen sozialen und damit immateriellen Charakter des Innovationsgegenstandes definiert, andererseits über eine soziale, normativ hochbewertete Zieldimension in Abgrenzung zu rein ökonomischen Verwertungszusammenhängen. So führte Ogburn als einer der ersten den Begriff der »social invention« als Gegenstück zu den »mechanical inventions« ein,247 deren Auswirkungen auf den sozialen Wandel er in seiner Theorie eines cultural lag zwischen der materiellen und der sozialen Kultur,248 sowie in seiner Analyse der sozialen Folgen der scientific achivements untersuchte.249 Die Unterscheidung zwischen mechanical inventions und social inventions zieht er dabei zwischen dem materiellen und immateriellen Charakter des Innovationgegenstands, wobei beide Arten Ein-
244 Vgl. Godin (2008). Die positive Deutung wird dabei hauptsächlich auf Ogburn zurückgeführt, die ökonomische und technische im Wesentlichen auf Schumpeter (vgl. auch Schubert). 245 Vgl. Schumpeter (1943/1992), S. 83. 246 Vgl. ebd. 247 Ogburn (1933), S. 162. Ogburn verknüpft dabei den Begriff der Invention im Sinne einer Erfindung noch nicht mit dem der Innovation als Prozess oder Phasengeschehen. Inventions entsprechen bei Ogburn dem eigentlichen Innovationsgegenstand. 248 Vgl. Ogburn (1923). 249 Vgl. Ogburn (1937), S. 9.
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fluss auf den sozialen Wandel haben können.250 Soziale Innovation wird somit begrifflich als Gegenstück und Kompensation zu technischen Innovationen konzipiert. Als Beispiele für soziale Innovationen nennt Ogburn u. a. den Völkerbund, Wohlfahrtsorganisationen und den Ku-Klux-Klan, ohne diese weiter zu kategorisieren oder zu bewerten.251 Soziale Innovationen werden in dieser Sichtweise dabei überwiegend auf gesellschaftlicher Ebene verortet. Brooks unternimmt in der Folge eine erste geordnete, auch soziale Innovationen umfassende Kategorisierung vor dem Hintergrund der ökonomischen Fragestellung einer nachlassenden amerikanischen Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den Konkurrenten aus Japan und Deutschland in den 1980er Jahren, die er unter anderem in eben diesen sozialen Innovationen begründet sieht.252 Dabei unterscheidet er in Kategorien von technischen, sozio-technischen und sozialen Innovationen, und gliedert letztere in Marktinnovationen (z. B. Leasing), Managementinnovationen (z. B. neue Organisationsformen), politische Innovationen (z. B. ›Gipfeltreffen‹) und institutionelle Innovationen (z. B. Selbsthilfegruppen).253 Das Unterscheidungsmerkmal bleibt weiterhin die Materialität des Innovationsgegenstandes. Anders als Ogburn sieht Brooks jedoch, dass diese nicht nur Auswirkungen auf sozialen Wandel in einer Gesellschaft, sondern auch auf die Wettbewerbsfähigkeit und technologische Innovationsfähigkeit von Unternehmen entwickeln können. Soziale Innovationen erhalten in dieser Perspektive somit eine mögliche ökonomische Zieldimension und werden neben der gesellschaftlichen Ebene auch in Unternehmen verortet. Entsprechend blieb der Begriff bis in die 1990er Jahre hinein fast ausschließlich im Bereich der Managementliteratur verortet, wie beispielsweise Moulert diagnostiziert: »The term thus referred primarily to the transformation and restructuring of organisations with an eye towards improving organisational efficiency«.254 Auch Gillwald weist auf diese Begriffskonzeption hin und benennt hierfür z. B. Fließbandarbeit und Fastfood-Ketten als Beispiele.255 Im deutschsprachigen Raum wird der Begriff der sozialen Innovation von Zapf aufgegriffen und von ökonomischen und Managementdiskursen gelöst, indem er soziale Innovationen definiert als »neue Wege, Ziele zu erreichen, insbesondere neue Organisationsformen, neue Regulierungen, neue Lebensstile, die die Richtung des sozialen Wandels verändern, Probleme besser lösen als frühere Praktiken, und die deshalb wert sind, nachgeahmt und institutionali250 251 252 253 254 255
Vgl. Ogburn (1933), S. 162. Vgl. ebd. Vgl. Brooks (1982). Vgl. a. a. O., S. 13ff. Moulaert et al. (2005), S. 1973. Vgl. Gillwald (2000), S. 3f.
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siert zu werden«.256 Er fasst bestehende Kategorisierungen sozialer Innovation zusammen und grenzt diese von Ideen, Gegenständen, Werkzeugen und Tätigkeiten ab.257 Soziale Innovationen sind in dieser abstrakteren Sichtweise neue soziale Praktiken, soziale Interaktionen oder neue soziale Strukturen. Beispiele sozialer Innovation sind für ihn neue Organisationsformen, Regulierungen, Dienstleistungen, neue Lebensstile oder selbsterzeugte soziale Erfindungen.258 Unabhängig von Konkretionen, Abstraktionen oder den Ebenen der Verortung werden soziale Innovationen in dieser Lesart somit über ihre soziale, immaterielle Natur definiert und so von technologischen oder materiellen Innovationen unterschieden, wie Zapf ausführt: »Während die Produktivität technischer Innovationen auf der Manipulation physikalischer Energie und Materialien beruht, hängt die Produktivität von sozialen Innovationen, von der menschlichen Kreativität und von symbolischen Ressourcen ab«.259 Zudem sieht er die Wechselwirkungen sozialer Innovationen, die sowohl Voraussetzungen, Begleitumstände oder Folgen anderer Innovationen sein können.260 Ähnlich wie Ogburn unterscheidet Zapf soziale Innovationen dabei von sozialen Wandelprozessen,261 jedoch in anderer Form. Erstere sind demnach eine Teilmenge von Letzteren, und zwar in Form jener Wandelprozesse, die die Richtung des sozialen Wandels ändern.262 Anders ausgedrückt: soziale Innovation als Wandel des Wandels, also als sozialer Wandel zweiter Ordnung, um bessere Problemlösungspotenziale zu ermöglichen. Zapf unterscheidet soziale Innovation also sowohl auf der Sachebene des Innovationsgegenstandes als auch in der Zieldimension vom bisherigen technisch-ökonomischen Innovationsparadigma. In der Folge werden soziale Innovationen von vielen Autoren zunehmend von ökonomischen Verwertungszusammenhängen abgegrenzt, und insbesondere im internationalen Diskurs in einem Werte- oder Gemeinwohlbezug gesehen. Gerade im Hinblick auf Sozialunternehmen, Social Entrepreneurship, Corporate Social Responsibility (CSR) oder Innovation (CSI) stehen sozial wünschenswerte, gesellschaftlich hochbesetzte Werte, das Lösen sozialer Probleme oder die Adressierung sozialer Bedarfe im Zentrum der Zieldimension sozialer Innovation.263 In dieser Lesart sind soziale Innovationen das Ergebnis intendierten, 256 257 258 259 260 261 262 263
Zapf (1989), S. 177. Vgl. a. a. O., S. 174. Vgl. a. a. O., S. 175ff. A.a.O., S. 177f. Vgl. ebd. Vgl. auch Howaldt/Schwarz (2012), S. 55. Vgl. Zapf (1989), S. 177. Vgl. Mulgan (2007), Moulaert et al. (2005), S. 1978, OECD (2010), S. 214, Parpan-Blaser (2011), S. 65.
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geplanten Handelns von Akteuren zur Lösung oder Milderung sozialer Problemlagen. Manche Autoren spezifizieren die sozialen Problemlagen und benennen dabei beispielsweise die Herausforderungen des demographischen Wandels, der sozialen Inklusion oder der Armutsbekämpfung. Entsprechend ist für Moulaert et al. soziale Innovation »very much about social inclusion, it is also about countering or overcoming conservative forces that are eager to strengthen or preserve social exclusion situations«.264 Soziale Innovation erhält in dieser Deutung eine ausgeprägt normative Dimension und wird zu einer Frage der Ethik und der Gerechtigkeit in einer Gesellschaft, wie Moulaert weiter ausführt: »Social innovation therefore explicitly refers to an ethical position of justice«.265 Ausgangspunkt sozialer Innovation sind in dieser normativen Perspektive in der Regel die identifizierten sozialen Problemlagen. Insbesondere im Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistungen werden diese als Ausgangspunkt eines Innovationsprozesses angesehen.266 Parpan-Blaser führt beispielsweise aus, dass »die Argumentationsbasis zur Identifikation von Innovationen in der Sozialen Arbeit […] hingegen immer durch reale Problemlagen und deren möglichst wirksame Bearbeitung gegeben [ist]«.267 Dadurch rücken die von diesen Problemlagen Betroffenen als Adressaten und Adressatinnen Sozialer Arbeit als Nutznießer sozialer Innovationen in den Mittelpunkt.268 Entsprechend sieht Jansen soziale Innovation einer Logik der Inklusion folgend, die auf Grund einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft »ohne Spitze, aber mit vielen Randgruppen« immer notwendiger wird.269 Zugleich beobachtet er eine Hybridisierung von Organisationen und Sektoren, die in neuen »Arenen der Interaktion« die Entstehung sozialer Innovationen wahrscheinlicher werden lässt. Als Beispiele nennt er transsektorale Institutionen und soziale Problemlösungen für wirtschaftliche Wertschöpfungsketten. Insbesondere letztere sieht er als Antwort auf unterkomplexe Ansätze wie der Corporate Social Responsibility.270 Als Folge der Hybridisierung sieht er zudem soziale Innovationen zunehmend als Teil einer Systemisierung, da soziale Innovation sich mit Technologie- und Dienstleistungsinnovationen zu komplexen integrativen Systemen verbinden.271 264 265 266 267 268 269 270 271
Moulaert et al. (2005), S. 1978. Ebd. Vgl. z. B. Parpan-Blaser (2011), S. 65. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 242. Jansen (2013b), S. 81f. Vgl. a. a. O., S. 82. Vgl. ebd.
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Entsprechend werden insbesondere Dienstleistungsinnovationen zunehmend mit dem Diskurs zur sozialen Innovation verbunden.272 Zwar sieht beispielsweise Sundbo den Bereich der personenbezogenen sozialen Dienstleistung nach wie vor in der Forschung zu Dienstleistungsinnovationen unterrepräsentiert,273 dennoch werden Dienstleistungen ganz ähnlich der sozialen Innovation üblicherweise in Abgrenzung zu materiellen Produkten als immateriell definiert. Ähnlich wie Jansen führt Sundbo jedoch aus, dass die zur Leistungserbringung notwendigen Strukturen häufig komplexe, heterogene Systeme sind, die nicht nur aus sozialen Praktiken und Prozessen bestehen. Er sieht Dienstleistungsinnovationen als Integration unterschiedlicher Innovationstypen,274 die als Systeminnovation eine hohe Komplexität und Interdependenz unterschiedlicher, materieller wie immaterieller Ressourcen aufweisen. Entsprechend diagnostiziert Sundbo, dass Dienstleistungsinnovationen nur selten auf eine isolierte Forschung- und Entwicklungsabteilung zurückgeführt werden können. Vielmehr sind sie das Ergebnis der Vernetzung von unterschiedlichen Unternehmensbereichen, Wissensbeständen, Ressourcen und sozialen Prozessen.275 Eine immer wichtiger werdende Ressource sieht er gerade auch im Dienstleistungsbereich in der technologischen Infrastruktur, ohne die auch die soziale Dimension einer Dienstleistung immer weniger gestaltet werden kann.276 Zwischenfazit Im Bestreben, die technisch-ökonomische Engführung eines industriellen Innovationsbegriffs aufzulösen, wird die Abgrenzung vom vorherrschenden Paradigma in den Diskursen überwiegend über zwei Unterscheidungen hergestellt: Erstens über eine Unterscheidung zwischen technischen und sozialen Merkmalen des Innovationsgegenstands (z. B. neue Technologien versus neue Organisationsformen, Lebensstile, soziale Praktiken, Dienstleistungen, etc.),277 zweitens durch eine Unterscheidung zwischen einer ökonomischen und einer sozialen Zieldimension der Innovation (z. B. Gewinnsteigerung und Wettbewerbsfähigkeit versus Beitrag zur Lösung sozialer Problemlagen).278 Für die Klärung eines Innovationsbegriffs für Sozialunternehmen ist die Wesensunterscheidung technisch vs. sozial jedoch auf Grund der Wechselwirkungen und Verwobenheit der verschiedenen Innovationstypen, sowie wegen einer nicht länger gegebenen singulären Unterordnung der Technik unter die 272 273 274 275 276 277 278
Vgl. als Übersicht Crepaldi/De Rosa/Pesce (2012), S. 7ff. Vgl. Sundbo (2000), S. 111. Vgl. a. a. O., S. 112. Vgl. a. a. O., S. 117. Vgl. a. a. O., S. 127. Vgl. z. B. Ogburn (1933), Brooks (1982). Vgl. z. B. Mulgan (2007), S. 8; Mulgan (2007), Zapf (1989), Moulaert et al. (2005), S. 1973.
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Ökonomie (vgl. 2.1.3) nicht zielführend. Das bloße Wesen des Innovationsgegenstandes als ›sozial‹ kann für Sozialunternehmen kein Kriterium für relevante Innovation sein, da Sozialunternehmen bei der Gestaltung, Steuerung und Erbringung personenbezogener soziale Dienstleistungen nicht nur auf soziale Ressourcen zurückgreifen.279 Technik ist ebenso Instrument der Ökonomie, wie sie Instrument der Inklusion sein kann. Es wird vielmehr deutlich, dass Sozialunternehmen vor dem Hintergrund einer Unterscheidung technisch vs. sozial auf der Sachebene eines Innovationsobjekts Gefahr laufen, blinde Flecke für mögliche Innovationsquellen zu produzieren. Fokussiert man den Innovationsbegriff in erster Linie auf soziale Relationen und Praktiken als Innovationsgegenstände, seien dies sozialarbeiterische Konzepte, soziale Prozesse, menschliche Interaktion oder Organisationsformen, können leicht Innovationen aus dem Blick geraten, die überwiegend technologischen, architektonischen, ökonomischen, medizinischen, künstlerischen, etc. Ursprungs sind.280 Innovationen aus diesen oder anderen Bereichen sind nicht per definitionem für Sozialunternehmen ungeeignet, sondern potenziell relevante Themenfelder einer Dienstleistungsorganisation, in der unterschiedliche Disziplinen und Professionen ihre Wissensbasis in die Gestaltung und Erbringung sozialer Dienstleistungen einbringen. Je kompetenter und je breiter eine Organisation diese unterschiedlichen Themenfelder bearbeiten und integrieren kann, umso höher ist somit die Wahrscheinlichkeit von nachhaltigen Neuerungen. Ein Innovationsbegriff für soziale Unternehmen muss daher von vereinfachten Unterscheidungen und Dichotomien auf der Sachebene absehen. Auch die Unterscheidung ökonomisch vs. sozial in den Zieldimensionen einer Innovation ist vor dem Hintergrund des pluralistischen Charakters von Sozialunternehmen für die Konzeption eines Innovationsbegriffs wenig hilfreich. Die Ablösung einer ökonomischen Monorationalität durch eine soziale ist für Sozialunternehmen nicht zielführend, selbst wenn es auf den ersten Blick naheliegend erscheint und sich im Einklang mit den Leitbildern vieler Sozialunternehmen befindet. Jenseits ihrer Leitbilder sind Sozialunternehmen jedoch gezwungen, gleichzeitig multiple Ziele (nicht zuletzt ökonomische) zu verfolgen, um sich gegenüber den unterschiedlichen Referenzsystemen zu legitimieren. Die Herausforderung dieser Organisationen ist somit gerade, eine dominierende Logik zu vermeiden (ansonsten wären sie ja nicht pluralistisch), und vielmehr die konfligierenden Rationalitäten auszuhalten und in ihren Entscheidungs- und Innovationsprozessen auszubalancieren. Dabei werden die unterschiedlichen Zieldimensionen von den verschiedenen Sinngemeinschaften mitunter höchst 279 Vgl. Köhler/Goldmann (2010). 280 Beispielsweise das Universal Design von Produkten, Umgebungen, Infrastrukturen oder Systeme, etc.
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unterschiedlich bewertet. Ein Altenpfleger, eine Theologin, ein Mediziner oder eine Ökonomin kommen wahrscheinlich zu sehr unterschiedlichen Bewertungen, wenn sie Neuerungen beispielsweise im Bereich der häuslichen Pflege, der Finanzierung sozialer Dienste oder der Sterbebegleitung vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Disziplin zu bewerten haben. Diese unterschiedlichen Sichtweisen sind jedoch Teile der gleichen Organisation. Entsprechend des multidimensionalen Zielsystems erscheint es für Sozialunternehmen daher sinnvoll, in ihren Innovationsbemühungen ebenfalls multiple Wirkungskontexte in Betracht zu ziehen. Eine Engführung der Innovation auf soziale Wirkungskontexte ist für Sozialunternehmen auf Grund ihrer Multirationalität nicht angemessen. So sind Innovationen vorstellbar, die in Sozialunternehmen in erster Linie für eine der Rationalitäten eine Wirkung entfalten, ohne negative Folgen aus Sicht anderer Logiken. Beispielsweise kann ein neues Finanzierungs- oder Spendenmodell aus Sicht der Gesamtorganisationen durchaus sinnvoll sein, auch wenn eine positive Wirkung auf soziale Problemlagen und Adressaten sozialer Arbeit sich nur mittelbar oder möglicherweise auch gar nicht ergibt. Ein wissenschaftlicher Innovationsbegriff für Sozialunternehmen muss daher von einer konstituierenden Unterscheidung ökonomisch vs. sozial absehen. Wie schon auf der Sachebene müsste ein solcher Begriff abstrakter und offener konzipiert sein, um die multiplen Zieldimensionen sozialer Unternehmen als pluralistische Organisationen integrieren zu können. Es wurde gezeigt, dass die beiden Unterscheidungen technisch vs. sozial und ökonomisch vs. sozial, über die ein sozialer Innovationsbegriff in Abgrenzung zu einem industriellen Innovationsparadigma häufig konstruiert wird, für den Kontext sozialer Unternehmen nicht geeignet sind. Technisch-ökonomisch enggeführte Begriffe sind für Sozialunternehmen ebenso wenig angemessen, wie es sozial reduzierte Definitionen sind. Sie erscheinen für einzelne Sinngemeinschaften wie Ökonomie oder Soziale Arbeit passend, jedoch nicht für die Gesamtheit eines Sozialunternehmens als pluralistische Organisation. So definierte soziale Innovationsbegriffe sind somit auch konzeptionell von einem sozialunternehmerischen zu unterscheiden.
2.2.3 Der Innovationsbegriff in post-industrieller Konzeption Die auf Grund von Engführungen des Innovationsbegriffs entstehenden Defizite und blinden Flecke in der Betrachtung von Innovationsphänomenen werden nicht nur vor dem Hintergrund von Sozialunternehmen diagnostiziert. Insbesondere in den Sozialwissenschaften können Ansätze identifiziert werden, die Innovation auf einer abstrakteren Ebene konzipieren, auf der die bisherigen Dichotomien überwunden werden können. In diesem Zusammenhang wird
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
auch von einem post-industriellen Innovationsparadigma gesprochen,281 da es auf eine Aufhebung der historischen Industrie-, Technologie- und Wirtschaftsnähe des Innovationsbegriffs und der daraus resultierenden Abgrenzungsbemühungen in sozialen Diskursen abzielt. So wird die strikte Unterscheidung zwischen Materialität und Immaterialität von mehreren Autoren aus unterschiedlichen Perspektiven kritisiert, beispielsweise aus techniksoziologischer und auch systemtheoretischer Sicht. Zum einen führt Braun-Thürmann aus, dass Technologie nicht isoliert als Entität gesehen werden kann, denn »es gehört zur Kernthese der Techniksoziologie, dass in technische Artefakte eine soziale und politische Ordnung eingeschrieben ist«.282 So haben zum Beispiel das Internet und Smartphones als technische Artefakte die Kommunikationsstruktur und das Sozialverhalten in einer Form beeinflusst, die auf Grund ihrer technologischen Eigenschaften »eingeschrieben« ist. Zum anderen ziehen auch soziale Innovationen spezifische Materialisierungen nach sich. Braun-Thürmann nennt zum Beispiel das pädagogische Konzept Maria Montessoris (als soziale Innovation) mit den bewusst gestalteten Materialien (als Materialisierung),283 und spricht daher von einer Verwobenheit sozialer und technologischer Innovationen.284 John und Aderholt beobachten andererseits aus systemtheoretischer Sicht, dass unabhängig von der Objektspezifik eines Innovationgegenstandes soziale Prozesse der Irritation, Variation, Selektion und Stabilisierung die Innovation als solche konstruieren und ebenso soziale Routine durch technische Innovationen gestört wird.285 Ähnlich argumentieren Howaldt und Schwarz vor dem Hintergrund des practice turn in den Sozialwissenschaften.286 Sie knüpfen an die soziale Verwobenheit an, kritisieren jedoch, dass die techniksoziologische Sicht, so richtig sie sei, zum einen das Problem der starken Technikorientierung im Innovationsdiskurs nur verdeckt, da die Technikzentrierung erhalten bleibt.287 Zum anderen wird eine theoretisch-analytisch notwendige Unterscheidung zwischen dem Innovationsgegenstand einerseits und den sozialen Konstruktions- und Selektionsprozessen andererseits erschwert.288 Es geht ihnen somit nicht um eine Unterscheidung im inneren Wesen in soziale, technische oder sonstige Innovationen. Vielmehr werden die Konstruktions- und Selektionsprozesse in Form sozialer Praktiken betrachtet, sowie die für jegliche Innovation 281 282 283 284 285 286 287 288
Vgl. als Überblick Howaldt/Jacobsen (2010). Braun-Thürmann (2005), S. 26. Vgl. a. a. O., S. 27. Vgl. ebd. Vgl. John/Aderhold (2008), S. 10, Aderhold/John (2005), S. 9f. Vgl. Howaldt/Schwarz (2010b), S. 10. Vgl. a. a. O., S. 51. Vgl. a. a. O., S. 51.
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notwendigen Wissensbestände und Handlungen, die die prozedurale und damit soziale Seite einer Innovation bilden, die vom Artefakt nicht zu trennen ist.289 Rammert nimmt die Begrenzungen der bisherigen Unterscheidungen technisch/sozial und ökonomisch/sozial zum Anlass, um für einen zweigeteilten Innovationsbegriff zu plädieren, in dem er für jegliche Innovation die Relationen im Sinne des Wesenskerns einer Innovation von den Referenzen im Sinne ihrer Wirkungskontexte unterscheidet und abstrakter ausgestaltet.290 Durch diese Konzeption wird einerseits die Dichotomie von technischer versus sozialer und ökonomischer versus sozialer Innovation aufgehoben, und andererseits die pluralen und sozialen Entstehungs-, Wirkungs- und Wertungskontexte berücksichtigt. Rammert führt aus: »Ein sozialwissenschaftlicher Innovationsbegriff müsste analytisch trennen zwischen den Relationen, die den sachlichen Charakter einer Innovation als Kreation, Erfindung oder Variation mehr oder weniger technischer Art ausmachen, und den Referenzen, die sie letztlich durch künstliche Selektion, Diffusion und Institutionalisierung zur Innovation in einem gesellschaftlichen Feld konkretisieren«.291
Entsprechend schlagen neben Rammert beispielsweise Braun-Thürmann und Brosziewski vor, den Charakter einer Innovation nicht in technisch/sozial oder materiell/immateriell zu unterscheiden, sondern analog zur basalen soziologischen Erkenntnispraxis in drei Relationen von der Routine und den Phänomenen des sozialen Wandels abzugrenzen: in zeitlicher, sachlicher und sozialer Sinndimension.292 Hierdurch wird die Relativität einer Innovation betont: Innovation wird erst in der Unterscheidung, beziehungsweise in der Relation zum anderen sichtbar (genauer : beobachtbar). Es ist somit ein Beobachter, der die Unterscheidung trifft und die Innovation dadurch als solche markiert. So verstanden ist jede Innovation zum einen relativ neu, zum anderen beobachter- oder kontextabhängig. Brosziewski sieht daher »Innovation selbst als eine Form der Beobachtung«, die »die Sinndimension der Zeit [forciert]«.293 Vor diesem Hintergrund werden in der Folge die Relationen einer Innovation in zeitlicher, sachlicher und sozialer Sinndimension, sowie die unterschiedlichen Referenzen einer Innovation unterschieden und weiter entfaltet.294 Grundlegend sind dabei 289 Vgl. Braun-Thürmann (2005), S. 28f., Holtgrewe (2005), S. 215f., Rammert (2010). 290 Vgl. Rammert (2010). Trotz der scheinbaren Unterscheidung in einen Sach- und eine Zielebene handelt es sich hierbei jedoch nicht um ein Zweck-Mittel-Schema im klassischen Sinne (Weber), da die Referenzen auch nicht-intendierte Wirkungskontexte umfassen können, und die Relationen nicht nur die Sachebene beinhalten. 291 A.a.O., S. 22 (Hervorhebung durch Verfasser), vgl. auch Howaldt/Schwarz (2010a), S. 97. 292 Vgl. Braun-Thürmann (2005), S. 7, Brosziewski (2006), Rammert (2010), S. 29, vgl. zum basalen Schema soziologischer Erkenntnispraxis z. B. auch Luhmann (1970), S. 114. 293 Brosziewski (2006), S. 4666. 294 Somit folgt der Aufbau dieses Kapitel nicht der Darstellung der unterschiedlichen Posi-
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unter anderem die Arbeiten von Rammert, Braun-Thürmann, Brosziewski, John, Aderholt oder auch Besio.295 In der zeitlichen Dimension wird die Relation zwischen vorher und nachher bearbeitet. Neuheit ist das offenkundigste Merkmal einer Innovation. Grundlegend ist neben dem Offenkundigen vor allem die mit der Neuzeit einsetzende »Umorientierung von der Vergangenheit und dem Hergebrachten hin zur Zukunft«, durch die das Bisherige als alt oder veraltet markiert und die Differenz zwischen alt und neu überhaupt erst eingeführt wird.296 Eine Innovation verschiebt diese Grenze in der zeitlichen Dimension zwischen dem, was als neu und modern angesehen wird und dem, was als veraltet gilt.297 Die Nachhaltigkeit dieser Grenzverschiebung trägt zur Unterscheidung einer Innovation von einer Mode mit kürzerer oder einer Revolution mit längerer Dauer bei.298 BraunThürmann weist zudem darauf hin, dass eine Innovation selbst eine zeitliche Dimension hat, da sie im Laufe ihres ›Lebenszyklus‹ durch »Weiterentwicklungen, Kombinationen mit anderen Artefakten und Umdeutungen der Nutzer fortlaufend über die Zeit [differiert]«.299 In der sachlichen Dimension wird die Relation zwischen gleichartig und neuartig gezogen, die in der Zeit wahrgenommen wird. Es geht somit um den Gegenstand, das Objekt oder das Artefakt der Innovation.300 Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich um materielle oder immaterielle Artefakte handelt, wie BraunThürmann festhält: »Technische Innovationen sind in einer solchen Betrachtung nicht von Innovationen im Bildungswesen, in der Rechtsprechung oder Unternehmenspolitik zu trennen«.301 Es geht daher nicht um die ›stofflichen‹ Unterschiede von Innovation, sondern vielmehr um die Frage, wie das Neue in die Welt kommt, also in der sachlichen Dimension entsteht. Rammert sieht im Wesentlichen zwei unterschiedliche Wege: Das Hervorbringen aus dem Nichts (creatio ex nihilo) und die Variation des Bekannten zur neuen Gestalt. Rammert bezeichnet ersteres als »Schöpfungstheorie der Innovation«, letzteres als »Evolutionstheorie der Innovation«.302 Die Schöpfungstheorie wird verbunden mit Kreativität, Phantasie und Genialität, in der das überraschende und augen-
295 296 297 298 299 300 301 302
tionen der verschiedenen Autoren, sondern der gemeinsamen, grundlegenden Struktur eines post-industriellen Innovationsbegriffs. Dies erschien aus Gründen der Verständlichkeit und Übersichtlichkeit angebracht. Vgl. u. a. Rammert (2010), Rammert (2008), Braun-Thürmann (2005), Braun-Thürmann (2004), Brosziewski (2006), John/Aderhold (2008), Besio/Schmidt (2012). Rammert (2010), S. 30. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 29f. Braun-Thürmann (2005), S. 7. Vgl. Rammert (2010), S. 31. Braun-Thürmann (2005), S. 7. Vgl. Rammert (2010), S. 31, Parpan-Blaser (2011), S. 20.
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blickliche Moment der Innovation enthalten ist. Rammert sieht diese Denkweise bis ins 19. Jahrhundert vorherrschend,303 und noch Schumpeter wählt den Begriff der schöpferischen Zerstörung in seiner Innovationstheorie.304 Zugleich schlägt er unter dem Begriff der Re-Kombination die Brücke zur Evolutionstheorie der Innovation, in der die Variation aus Ideen, Praktiken, Prozessen, Objekten und Konstellationen als Grundlage für die Genese des Neuen gesehen wird.305 In der sozialen Dimension wird die Relation zwischen normal und abweichend bearbeitet. Das Neue ist gegenüber dem Üblichen zunächst nicht bezeichnet und stellt somit eine Abweichung vom Normalen und der Routine dar.306 Das Normale basiert auf Routine und Wiederholung,307 das Neue ist (noch) ungewohnt, andersartig und fremdartig.308 Das Neue trifft dabei im sozialen Kontext auf vorhandene Strukturen und Erwartungen.309 Es wird somit »in der sozialen Dimension [entschieden], ob das wahrgenommene Neuartige als Besserung oder als Bedrohung erlebt wird«.310 Im Fall erfolgreicher Innovationen findet ein Transformationsprozess des Neuartigen in Innovation statt.311 Diese soziale Bearbeitung des Neuen erfolgt dabei auf drei Ebenen der Innovation: semantisch, pragmatisch und grammatisch.312 Auf der semantischen Ebene wird ausgehend von einem sachlich neuartigen Artefakt, also einer Idee, einer Praktik oder einem Objekt, die Wahrnehmung desselben durch soziale Akteure, z. B. eine Organisation oder Sinngemeinschaft betrachtet.313 Für eine Markierung und kommunikative Konstruktion als Innovation ist hierbei sowohl der Aspekt der Neuheit als auch der Aspekt der Verbesserung von Bedeutung.314 Dadurch tritt »die allgemeinere Instanz des Beobachters (…) an die Stelle, an der Schumpeter (…) den Markt als für Innovationen einzig mögliche Markierungsinstanz definiert hatte«.315 Es erfolgt somit eine Abgrenzung von einem technisch-ökonomischen Innovationsverständnis, ebenso wie von einem unterkomplexen Verständnis sozialer Innova-
303 Vgl. Rammert (2010), S. 31. 304 Vgl. Schumpeter (1997 [1911]). 305 Vgl. Rammert (2010), S. 31f., aber auch Dosi (1983), van den Belt/Rip (1987), S. 135ff., Tushman/Rosenkopf (1992). 306 Rammert (2010), S. 32. 307 Vgl. z.b. auch Wimmer (2012), S. 41. 308 Vgl. Rammert (2010), S. 33. 309 Vgl. Aderhold/John (2005), S. 24, (Luhmann 1991b, S. 373), (Luhmann 1994, S. 216). 310 Rammert (2010), S. 35. 311 Vgl. a. a. O., S. 34. 312 Vgl. Besio/Schmidt (2012), S. 10, Aderhold/John (2005), S. 24, Rammert (2010), S. 34ff. 313 Vgl. Rogers (2003), S. 12. 314 Vgl. Braun-Thürmann (2005), S. 6. 315 Vgl. Besio/Schmidt (2012), S. 3.
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tion.316 Die Markierung eines Artefakts als Innovation ist vielmehr durch die relevanten (und pluralen) sozialen Systeme und Sinngemeinschaften konstruiert, und nicht objektiv gegeben. Auf der pragmatischen Ebene muss das Markieren und Kommunizieren eines Artefakts als Innovation eine Fundierung in Handlungen und »innovativer Performanz« finden, d. h. »erst die Auswahl, Wiederholung und Verbreitung dieser abweichenden Varianten machen (…) eine Innovation [aus] (…); sie muss sich (…) in den entsprechenden Performanzen des Umstellens und Lernens festmachen lassen«.317 Auf grammatischer Ebene kann die Verfestigung der Praktiken als neue Normalität beobachtet werden. Grammatik kann hier als Generalisierung von Regeln gesehen werden,318 die dann als teils unbewusste Verhaltensmuster und -erwartungen in soziale Systeme wie z. B. Sinngemeinschaften oder Organisationen übergehen und dort stabilisiert werden.319 Durch diesen Ansatz werden bisher isolierte Perspektiven auf technische, soziale, organisationale usw. Innovationen abgelöst und der Kern einer Innovation durch die Relationen vorher/nachher, gleichartig/neuartig und normal/ abweichend definiert. Zugleich wird die Pluralität der am Innovationsprozess beteiligten Akteure sichtbar, da Innovation sowohl in Entstehung als auch in der Diffusion als sozialer Prozess multipler Akteure verstanden wird. Rammert bezeichnet dieses Verständnis als reflexive Innovation: »Wir sprechen dann von ›reflexiver Innovation‹ (…) in zweierlei Hinsicht: erstens, wenn bei den verschiedenen Prozessen der kreativen Variation und der sozial- und sachbezogenen Selektion die Bedingungen des Innovationshandelns im Rahmen der jeweils voraus- oder nachlaufenden Prozesse mitbedacht werden, und zweitens, wenn die für die Herstellung und für die Verbreitung des Neuen notwendigen Orientierungen der anderen Beteiligten und die Mechanismen anderer Bereiche nebeneinander bewusst einbezogen werden.«320
Zudem kann auch der Grad einer Innovation in diesen Dimensionen spezifiziert werden. Nicht jeder Wandel, jede Variation und jede Neuerung wird als Innovation wahrgenommen, obgleich im Bestreben, als innovativ gelten zu wollen, der Innovationsbegriff oft sehr großzügig ausgelegt wird.321 Zur objektiven Bestimmung des Grades einer Innovation werden zwar zahlreiche Kriterien und 316 317 318 319
Vgl. Holtgrewe (2005), S. 215f. Rammert (2010), S. 36f. Vgl. a. a. O., S. 37. Im Kontext von Organisationen wird auch von einer Organisationsgrammatik gesprochen, die begrifflich in der Nähe der Organisationskultur verortet wird (vgl. Simon (2011), S. 99, Rüegg-Stürm (2007), S. 157). 320 Rammert (2010), S. 37. 321 Vgl. Wendt (2006), S. 19.
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Raster vorgeschlagen,322 geht man jedoch von einer sozial konstruierten Zuschreibung aus, stoßen solche Objektivierungsversuche schnell an ihre Grenzen. Die Betrachtung der zeitlichen, sachlichen und sozialen Dimension kann hier einen analytischen Zugang zur Einordnung von Innovationen leisten. So führt Rammert aus, dass »eine saisonale Modeschöpfung (…) noch keine Modeinnovation [ist]; aber wenn sie die Bekleidungssitten grundlegend und für längere Zeiten z. B. durch Uniformen die Klassendistinktion oder durch androgyne Hosenanzüge die Geschlechterunterschiede verändert, dann kann sie als soziale Innovation gelten.«323 Im Sinne der Unterscheidung von Wesen und Wirkung kann eine wesensseitig relational bestimmte Innovation in unterschiedlichen Kontexten und Zieldimensionen wirken und somit unterschiedliche und möglicherweise parallel vorhandene Referenzen entwickeln. Als in den Sinndimensionen relational bestimmte Innovationen haben beispielsweise das Smartphone oder soziale Netzwerke wie ›Twitter‹ ökonomische, soziale, künstlerische oder politische Referenzen (man bedenke nur die Bedeutung sozialer Medien in Wahlkämpfen, Meinungsbildungsprozessen oder während des ›Arabischen Frühlings‹). Erst durch diese Referenzen wird sie zur Innovation, die als ökonomische, soziale, künstlerische oder politische Innovation spezifiziert werden kann. Die jeweiligen Referenzen stellen dabei die Kriterien oder Kodes der Performanz und Durchsetzung bereit.324 Für die ökonomische Referenz können beispielsweise Gewinnversprechen und Markterfolg als Kodes der Performanz und Durchsetzung definiert werden.325 Eine Innovation, die beispielsweise zu einem Wettbewerbsvorteil, einer besseren Kostenstruktur oder neuen Einnahmequellen beiträgt, wird dadurch zur ökonomischen Innovation. Wie bereits ausgeführt, ist diese Referenz in den Innovationsdiskursen seit Schumpeter dominierend und am besten aufgearbeitet. Für eine soziale Referenz sieht Rammert soziale Teilhabe und Mobilisierungskraft als Codes der Performanz und Durchsetzung und führt aus: »Soziale Innovationen müssen auf das Zusammenleben in Gemeinschaften und der Gesellschaft bezogen werden und meinen neue Formen von Teilhabe und sozialer Integration, von Interessenausgleich und sozialer Gerechtigkeit und von Individualität sowie Solidarität.«326
322 323 324 325 326
Vgl. z. B. Hauschildt/Salomo (2011), S. 12ff. Rammert (2010), S. 39. Vgl. a. a. O., S. 46. Vgl. a. a. O., S. 41. Vgl. a. a. O., S. 43 Vgl.
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Damit schließt er im Wesentlichen an die normative Sichtweise an, wie sie in Abschnitt 2.2.2 ausgehend von Mulgan, Moulert, Parpan-Blaser und anderen dargestellt wurde. Sozial bezieht sich in den vorgestellten Konzepten vor allem auf die dominierenden Zieldimensionen oder Nutzungsdimension und somit auf die Referenz einer Innovation.327 An dieser Stelle wird eine Stärke des zweigeteilten Innovationsbegriffs deutlich. Soziale Innovation als Referenz verstanden, kann nur normativ sein. Dabei ist die soziale Referenz jedoch von den sozialen Wesenseigenschaften einer Innovation zu trennen, die beispielsweise durch eine neue Dienstleistung, Organisationsform oder anderen immateriellen Innovationen gegeben sind. Es wird erkennbar, dass die Diskussion um den Wertebezug sozialer Innovation häufig auf unterschiedlichen und inkompatiblen Ebenen geführt wird: Auf relationaler Ebene ist die Werteorientierung sinnlos, auf referentieller Ebene konstituierend. Zum großen Teil ist die Konfrontation zwischen den Positionen auf diese Inkompatibilität der Diskussionsebenen zurückzuführen, die durch einen zweigeteilten Innovationsbegriff transparent gemacht werden können. Neben einer ökonomischen und einer sozialen Referenz können die Kodes der Performanz und Durchsetzung für weitere Referenzen spezifiziert werden. Für eine politische Referenz sind dies Machtzuwachs und Kontrollgewinn, für eine künstlerische Referenz nennt Rammert »Sichtwechsel und Sammlung« als Kodes.328 Es wird dabei deutlich, dass die Kodes der Performanz und Durchsetzung einer Innovation eng verbunden sind mit den Rationalitäten und Logiken des jeweiligen Referenzsystems wie Wirtschaft, Politik, Recht, Soziale Hilfe, Gesundheit oder Religion. Zwischenfazit Der zweigeteilte Begriff einer reflexiven Innovation bietet vor dem Hintergrund der bisherigen Diskussion einige Vorteile für die Betrachtung pluralistischer Organisationen. Erstens wird auf der Ebene des Innovationsgegenstandes die Dichotomie zwischen technischen und sozialen Innovationen vermieden. Es wird erkennbar, dass ›technisch‹ ein Merkmal der relationalen Bestimmung in sachlicher Dimension ist.329 Das Gegenteil von technisch ist somit nicht ›sozial‹ sondern vielmehr ›nicht-technisch‹.330 Zudem wird deutlich, dass jede Innovation eine soziale Relation besitzt und der Begriff der sozialen Innovation zur Typisierung des Wesens einer Innovation somit ungeeignet ist. Übertragen auf den Kontext 327 328 329 330
Vgl. Gillwald (2000), S. 15, Zapf (1989), S. 175, Rammert (2010), S. 40. Rammert (2010), S. 44. Vgl. a.a.O, S. 40. Vgl. Rammert (2008), S. 229.
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sozialer Unternehmen erlaubt diese Abstraktion nun, Innovation unabhängig von einer sozialen Objektspezifik zu definieren und relevante Innovationen aus unterschiedlichsten Quellen in den Blick zu nehmen. Sozialunternehmerische Innovationen können in ihrer Spezifik dann auch technologischen, architektonischen, ökonomischen, medizinischen, sozialen, juristischen, künstlerischen, etc. Ursprungs sein. Dem pluralistischen Charakter von Sozialunternehmen wird somit bereits auf der Ebene des Innovationsobjekts Rechnung getragen. Zweitens ist auf der Ebene der Referenz ›sozial‹ nur eine, wenngleich sehr zentrale Zieldimension unter anderen. Weitere Referenzen können für Sozialunternehmen jedoch ebenfalls relevant sein. Entsprechend ihrer Kopplung und Interaktion mit unterschiedlichen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Politik, Recht, Soziale Hilfe, Gesundheit oder Religion werden diese zu möglichen Referenzsystemen sozialunternehmerischer Innovation. Die beschriebene Konzeption einer reflexiven Innovation kann diese multiplen und parallelen Referenzen handhaben und bietet somit geeignete Bezüge zum pluralistischen Charakter der Organisationen auf der Ebene der Referenzen. Drittens ergibt sich durch die Aufteilung in die zwei Betrachtungsebenen der Relation und der Referenz ein geeignetes Analysewerkzeug für die Unterscheidung und Charakterisierung von Innovationen, ohne dabei auf engführende Dichotomien zurückzufallen. So kann der häufig verwendete Begriff einer technisch-ökonomischen Innovation als technische Relation mit ökonomischer Referenz verstanden werden. Analog zu dieser Sichtweise können dann beispielweise auch ökonomisch-soziale (z. B. Fundraising, Stipendien, Sozialversicherung oder Social Impact Bonds) oder technisch-soziale Innovationen (Inklusion durch soziale Medien, Assistenzsysteme für Menschen mit Unterstützungsbedarf) spezifiziert werden.331 Mit Blick auf Sozialunternehmen ist dabei keine ›Kombination‹ von vornherein auszuschließen. Selbst die genannte technisch-ökonomische Innovation kann eine sozialunternehmerische sein, wenn beispielsweise durch den Einsatz neuer Technologien ein ökonomischer Vorteil für ein Sozialunternehmen erreicht werden kann. Allerdings, und hier wird die Begrenzung des zweigeteilten Innovationsbegriffs für soziale Organisationen sichtbar, kann diese ökonomische Referenz nicht isoliert betrachtet werden. Denn anders als auf gesellschaftlicher Ebene, wo Funktionssysteme und Referenzen ohne koordinierende und übergreifende Instanz nebeneinander stehen, treffen die unterschiedlichen Referenzen mit ihren Codes der Performanz und Durchsetzung in einem Sozialunternehmen innerhalb einer Organisation, eines Systems aufeinander. Der ökonomische 331 Die Dichotomie technisch/sozial versucht somit einen Gegensatz zwischen einer Relation und einer Referenz der Innovation herzustellen, der so gesehen in sich nicht schlüssig sein kann.
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Vorteil kann in diesem Kontext Nachteile für andere Referenzen nach sich ziehen, die für die Organisation ebenfalls relevant sind, beispielsweise sozialethische oder rechtliche Fragestellungen.332 An dieser Stelle reproduziert sich somit die zentrale Herausforderung pluralistischer Organisationen gerade auch in Innovationsprozessen: Die Spannungsfelder zwischen und die Aushandlung von unterschiedlichen Logiken, Rationalitäten und damit Referenzen mit ihren spezifischen Codes der Performanz und Durchsetzung.
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Konzepte der Praxis: Befähiger, Barrieren und Modelle sozialunternehmerischer Innovation
Nach der Beleuchtung der Spannungsfelder auf der Ebene der Umwelt im vorherigen Kapitel geht es im Folgenden um die Sichtung der vorhandenen Literatur zu den Konzepten, mit denen Sozialunternehmen ihre Innovationsprozesse in diesem Umfeld gestalten können. Der Diskursstrang beinhaltet neben den Konzepten und Modellen auch die in der Organisation vorfindlichen Innovationsbedingungen und -hemmnisse. Gemeint sind dabei in erster Linie solche Bedingungen und Hemmnisse, die dem Einflussbereich der Organisation zugeordnet werden können. Dabei soll der Frage nachgegangen werden, inwieweit diese Bedingungen und Hemmnisse auf den multirationalen Charakter der Organisationen zurückzuführen sind, und wie die diskutierten Innovationsmodelle diese Multirationalität aufgreifen. Bedingungen und Hemmnisse werden somit vor dem Hintergrund der Innovationsparadoxie gesehen: Erstere im Sinne von Befähigern, letztere im Sinne von Barrieren für Innovation. Entsprechend gliedert sich das Kapitel in drei Abschnitte: – In Abschnitt 2.3.1 werden die in der Literatur diskutierten organisationalen Innovationsbedingungen dargestellt, also was eine soziale Organisation zur Innovation befähigt. Hierbei stehen insbesondere die vorhandenen empirischen Studien im Vordergrund, die Innovation in Organisationen der Sozialwirtschaft, Wohlfahrtspflege und der Sozialen Arbeit untersuchen. – Abschnitt 2.3.2 beleuchtet in gleicher Weise die Barrieren und Hemmnisse, die soziale Organisationen in ihren Innovationsvorhaben behindern. – Abschnitt 2.3.3 betrachtet die Modelle und Konzepte, die zur Innovationsförderung in Sozialunternehmen im Kontext der organisationalen Befähiger und Barrieren diskutiert werden. 332 So kann beispielsweise die Frage nach einem angemessenen Datenschutz beim Einsatz Assistiver Technologien einerseits eine ethische, aber auch eine juristische Problematik darstellen.
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2.3.1 Innovationsbefähiger: Was ermöglicht sozialunternehmerische Innovation? Die Frage, was sozialunternehmerische Innovation ermöglicht, steht naturgemäß häufig im Zentrum der Diskussion. Zugleich lässt sie sich jedoch ohne empirischen Rückgriff auf die Praxis der Organisationen nur schwerlich mit einem angemessenen Detailgrad beantworten. Entsprechend sollen im Folgenden vor allem die empirischen Studien herangezogen werden, die Innovationsbedingungen in Sozialwirtschaft, Freier Wohlfahrtspflege und der Sozialen Arbeit betrachten,333 auch wenn hier, wie an anderer Stelle ausgeführt, empirische Studien nach wie vor unterrepräsentiert erscheinen. Nock et al. unterscheiden in ihrer Studie zum Innovationsmanagement in der Freien Wohlfahrtspflege die innovationsfördernden Faktoren in Personal, Kommunikation und Organisationsgröße.334 Die Praxisnähe der Mitarbeiterinnen zu den Problemlagen und die hohe Eigenmotivation tragen zur Innovation ebenso bei wie fachübergreifende und leistungsfähige Kommunikationsnetzwerke innerhalb und außerhalb der Organisation. Dabei sei die Organisationsgröße von Bedeutung, da »die Größe automatisch eine gewisse Vielfalt mit sich bringe, welche wiederum Interdisziplinarität fördere«.335 Zum anderen verfügten größere Organisationen über mehr Spielräume für personelle und finanzielle Ressourcen, und somit über eine höhere Wirkungsmacht.336 Als förderlich für Innovation sehen sie zudem vorhandene Kooperations- und Innovationsnetzwerke, die unterschiedliche »Milieus« miteinander verbinden.337 Als grundlegende Voraussetzung für Innovation benennen sie zudem Risikobereitschaft und Veränderungswillen, die sie jedoch in der Freien Wohlfahrtspflege häufig als nicht gegeben ansehen.338 Parpan-Blaser betrachtet in ihrer Studie die Ebenen der Kultur, der Mitarbeitenden, der Führung, der Institution, sowie des institutionellen Umfeldes hinsichtlich der förderlichen Faktoren in Innovationsprozessen.339 Auf der 333 Vgl. beispielsweise Nock/Krlev/Mildenberger (2013), Parpan-Blaser (2011) und Schmieder/Vogt-Wuchter (2015). Jede der genannten Untersuchungen betrachtet nicht nur Bedingungen sondern auch Barrieren, so dass im nächsten Kapitel zu Barrieren und Hemmnisse diese Studien wieder aufgriffen werden. Diese Kapitelaufteilung wurde einerseits gewählt, um die beiden Seiten der Innovationsparadoxie deutlicher herausarbeiten zu können. Zum anderen ist aber auch die Literatur zu Innovationsbarrieren interessanterweise umfangreicher und kann somit angemessener in einem eigenen Kapitel dargestellt werden. 334 Vgl. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 22. 335 A.a.O., S. 23. 336 Ebd. 337 Vgl. a. a. O., S. 24. 338 Vgl. a. a. O., S. 30. 339 Vgl. Parpan-Blaser (2011), S. 200.
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Kulturebene verortet sie einen notwendigen Konsens über eine grundsätzliche Haltung, die eine Vision, Spielraum für Fehler, Transparenz und Offenheit, sowie Lern- und Reflexionsfähigkeit beinhaltet, und die durch das ganzes Team mitgetragen wird.340 Auf der Ebene der Mitarbeitenden sieht sie zudem eine gute Grundausbildung und breites Wissen, sowie eine hohe Professionalität, kontinuierliche Weiterbildung und die Fähigkeit zur Infragestellung der eigenen Praxis als förderlich an.341 Umfangreich sind auch die Faktoren auf der Führungsebene. Hervorzuheben sind hier insbesondere die Vorbildfunktion der Führungskraft im Umgang mit Veränderungen, die Unterstützung, Koordination und Förderung neuer Ideen. Zudem wird eine strategische Verankerung von Innovationsthemen und die Antizipation und Moderation von Widerständen, beispielsweise in Form einer Supervision als innovationsfördernd angesehen.342 Die Ebene der Institution zeichnet sich aus durch die Bereitstellung von Freiräumen und personellen und finanziellen Ressourcen, gezieltes Wissensmanagement und vor allem durch eine Heterogenität der Kompetenzen und Erfahrungen sowie überinstitutioneller Vernetzung und Zusammenarbeit.343 Entsprechend sieht Parpan-Blaser auf der Ebene des institutionellen Umfelds vor allem den Zugang zu Ressourcen anderer vergleichbarer Institutionen an.344 In ihrer quantitativen Studie gehen Schmieder et al. unter anderem der Frage nach, welche Kooperationen und Netzwerke für den Innovationsprozess wichtig sind,345 und welche Faktoren zu einer Innovationskultur beitragen.346 Als besonders wichtige Partner im Innovationsprozess werden dabei die Organisationen innerhalb des eigenen oder auch anderer Wohlfahrtverbände, die Klienten und Kunden sowie öffentliche und staatliche Stellen angesehen. Partner aus Wissenschaft, Privatwirtschaft und private Sozialunternehmen sowie Unternehmensberatungen werden hingegen als weniger relevant angesehen.347 Förderliche Faktoren für eine Innovationskultur sind nach dieser Studie das hohe Engagement von Mitarbeitenden, Führungskräften und Ehrenamtlichen und eine aktive Problembearbeitung. Zudem übernehmen in innovativen Organisationen die Mitglieder schneller die Initiative und zeichnen sich durch eine besonders gute Umsetzung neuer Ideen aus, und erfahren dabei die Ermutigung und Unterstützung durch das Unternehmen. Verbunden damit sind eine ausgeprägte Fehlertoleranz und die Fähigkeit zum organisationalen Lernen. Sie 340 341 342 343 344 345 346 347
Vgl. a. a. O., S. 188. Vgl. a. a. O., S. 191. Vgl. a. a. O., S. 194. Vgl. a. a. O., S. 199. Vgl. a. a. O., S. 200. Vgl. Schmieder/Vogt-Wuchter (2015), S. 103f. Vgl. a. a. O., S. 106ff. Vgl. a. a. O., S. 103.
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sehen zudem einen engen Zusammenhang mit der jeweiligen Unternehmenskultur, wobei entscheidend ist, dass »nur wenn es dem Unternehmen gelingt, die verschiedenen Kulturausprägungen eng miteinander zu verbinden und in ein harmonisches Gleichgewicht zu bringen, kann es sein Innovationsverhalten positiv beeinflussen und stärken«.348 Ein in der Praxis hingegen häufig beobachtetes Defizit wird in der Bereitstellung personeller, finanzieller und zeitlicher Ressourcen gesehen.349 Im Bereich der internationalen Studien können zudem die Arbeiten von Jaskyte et al. und McDonald herangezogen werden.350 Jaskyte et al. sehen dabei vor allem einen Zusammenhang zwischen der Innovationsfähigkeit und der Kultur und der Führung der Organisationen. Dabei scheint eine sehr homogene Unternehmenskultur weniger förderlich für Innovationen zu sein, als eine durch Heterogenität und Diversität geprägte Kultur.351 Besonders interessant ist das Ergebnis, wonach der Beitrag der Unternehmensführung auf die Innovationsfähigkeit nicht unmittelbar vorhanden ist, sondern vor allem in der Fähigkeit liegt, eine Kohäsion zwischen bestimmten Werten und damit Teilkulturen herzustellen: »Leadership was not related to organizational innovativeness but was positively related to cultural consensus, indicating that leadership practices create strong cohesion around certain values«.352 Entsprechend resümiert Jaskyte, dass es für Führungskräfte darauf ankomme, die Kultur der Organisation zu verstehen und darauf hinzuwirken, Werte und Praktiken zu entwickeln, die Innovationen unterstützen.353 McDonald sieht zudem einen engen Zusammenhang zwischen der mission der Organisation und ihrer Innovationsfähigkeit: »Organization’s mission is influential in developing and adopting innovations. The mission helps the organization to concentrate on those innovations that are likely to further its mission. The resulting focus on these innovations also creates a climate in the organization that allows innovative projects to succeed«.354 Er definiert die Mission dabei als die Existenzbegründung der Organisation, die im Sozialbereich dadurch gekennzeichnet ist, dass Bedarfe befriedigt werden, die von privater oder staatlicher Seite nicht adressiert werden.355 Eine klar kommunizierte Mission und Vision wirke in einem Innovationsprozess integrierend für Mit-
348 349 350 351 352 353 354 355
Vgl. a. a. O., S. 108f. Vgl. a. a. O., S. 106ff. Vgl. Jaskyte (2004), Jaskyte/de Riobj (2004), Jaskyte/Kisieliene (2006), McDonald (2007). Vgl. Jaskyte/Kisieliene (2006), S. 171. A.a.O., S. 173. Vgl. Jaskyte (2004), S. 164. McDonald (2007), S. 274. Vgl. a. a. O., S. 257.
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arbeiter aus unterschiedlichen Bereichen und fokussierend für die Zielrichtung der Innovation.356 Zwischenfazit Die referierten Studien bieten einige Anknüpfungspunkte für die innovationsfördernden Aspekte multirationaler Organisationen. Zu einem weisen sie nach, dass die damit verbundene Interdisziplinarität und das heterogene Wissen in den Organisationen neue Ideen begünstigt, wenn zugleich ein Klima der Reflektion und Lernbereitschaft vorhanden ist. Die mit der Pluralität einhergehende Vielfalt der Kulturen trägt ebenfalls potentiell zur Innovationsfähigkeit bei, wenn es gelingt, die damit einhergehenden unterschiedlichen Werte und Logiken miteinander in einen konstruktiven Dialog treten zu lassen. Dabei ist eine ausgeprägte Kommunikations- und Konfliktfähigkeit entscheidend. Die Organisationsführung kann durch eine klar formuliert Mission oder ein Leitbild dazu beitragen, wenn dieses eine integrative Wirkung auf die unterschiedlichen Sinngemeinschaften der Organisation entwickeln kann. Zudem kann die Führung durch Vorleben von Veränderungsbereitschaft, Fehlertoleranz und Offenheit eine Innovationskultur in der Organisation fördern. Die Studien bestätigen somit die in Kapitel 1.1 vorgestellten innovationsfördernden Merkmale pluralistischer Organisationen mit ihren multiplen Wissensbeständen, Kulturen und Logiken. Die in den empirischen Studien ermittelten Innovationsbefähiger können dabei in die folgenden Kategorien eingeordnet werden (vgl. Tabelle 1). Kategorie
Innovationsbefähiger
Hohes Engagement, Praxisnähe, Professionalität, Weiterbildung und Lernbereitschaft Führung Vorbildfunktion in Veränderungsprozessen, Förderung neuer Ideen, Moderations- und Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Perspektiven und Disziplinen. Prägen einer Innovationskultur durch eine verbindende Vision und Mission. Kultur Kulturelle Vielfalt, Risikobereitschaft, Veränderungswillen, Fehlertoleranz, Reflektionsfähigkeit und ein gemeinsames Leitbild Kompetenzen Interdisziplinarität (einfacher in größeren Organisationen), Professionalität Kommunikation Transparente Kommunikation, insbesondere zwischen Funktionsbereichen und organisationsübergreifend Ressourcen Zeitliche Freiräume, sowie personelle und finanzielle Ressourcen Kooperationen Vernetzung mit anderen Sozialträgern und Organisationen aus anderen Bereichen und »Milieus«. Tabelle 1: Kategorien von Innovationsbefähigern Mitarbeitende
356 Vgl. a. a. O., S. 260.
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2.3.2 Innovationsbarrieren: Was verhindert sozialunternehmerische Innovation? Wie zu Anfang des vorherigen Kapitels erläutert, untersuchen die bisher referierten Studien in der Regel auch Innovationshemmnisse, die im Folgenden aufgegriffen werden. In der Literatur sind zudem Arbeiten zu finden, die den Versuch unternehmen, diese als Innovationsbarrieren systematischer zu kategorisieren. Daher werden im Anschluss an die Darlegung der empirischen Ergebnisse diese Systematisierungsversuche ebenfalls hinsichtlich möglicher Anknüpfungspunkte für eine multirationale Perspektive betrachtet. In ihrer Studie zu Innovationsprozessen in den Verbänden der Freien Wohlfahrtspflege identifizieren Nock et al. eine Reihe von Innovationshemmnissen in den Organisationen. Zum einen sehen sie eine nur eingeschränkte Veränderungs- und Risikobereitschaft, die tendenziell am Alten festhalten möchte,357 und sich auf die Aufrechterhaltung der Routine konzentriert. Zudem wird die für Innovation erforderliche Kommunikation und Zusammenarbeit teilweise durch ein »lähmendes Konsensmodell« und einen wenig systematisierten Informationsaustausch erschwert.358 Ein Informationsdefizit wird zusätzlich im Bereich einer »Sozialmarktforschung« gesehen, die im Vergleich zu anderen Wirtschaftsfeldern nur gering ausgeprägt sei. Dadurch würden neue Bedarfe und damit Entwicklungs- und Innovationsfelder zu wenig identifiziert.359 Fehlende Marktinformationen als Innovationshemmnis ermitteln ebenfalls Schmieder et al., wenngleich hier der zustimmende Anteil der Befragten verhältnismäßig gering ist. Gleichzeitig wird jedoch eine Unsicherheit eingeräumt, ob innovative Angebote am Markt entsprechend abgenommen würden.360 Zudem werden Schwierigkeiten gesehen, geeignete Kooperationspartner für Innovationsprozesse zu finden. Ausgeprägter werden fehlende finanzielle Ressourcen, nicht ausreichend qualifiziertes Personal und mangelndes fachliches Wissen als Hemmnisse benannt.361 Auch Parpan-Blaser benennt neben Informations- und Kommunikationsdefiziten, die sie in erster Linie an intransparenter Kommunikation und einer zu großen Distanz zwischen unterschiedlichen Funktionen innerhalb einer Organisation festmacht, fehlendes Expertenwissen als Innovationshemmnis.362 Zugleich sieht sie zwischenmenschliche und kommunikative Schwierigkeiten, 357 358 359 360 361 362
Vgl. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 28. Vgl. a. a. O., S. 31. Vgl. a. a. O., S. 30. Vgl. Schmieder/Vogt-Wuchter (2015), S. 104ff. Vgl. ebd. Vgl. Parpan-Blaser (2011), S. 199, a. a. O., S. 194.
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insbesondere hervorgerufen durch organisationsinterne Kulturunterschiede.363 Neben anderem tragen diese auch zu Widerständen und Ängsten bei, die Innovationsprozesse und eine Suche nach alternativen Vorgehensweisen verhindern könnten.364 Bereits früh weist Maelicke, der als einer der ersten den Innovationsbegriff mit deutlichem Bezug zu sozialwirtschaftlichen Organisationen verwendet, auf sozialunternehmerische Innovationshemmnisse hin. Er führt aus, dass hinsichtlich der Spezifika von Innovationen »die Organisationsform der sozialen Arbeit (…) meist nicht den inhaltlichen Notwendigkeiten [entspricht]. Sie ist selten auf interdisziplinäre Auseinandersetzung, auf fachlichen Austausch im Team, auf systematische Planung und Evaluation ausgerichtet«.365 Er sieht somit Probleme im interdisziplinären Austausch, den organisationalen Strukturen und fehlende Prozesse als Ursachen für geringe Innovationsfähigkeit an. Gemeinsam mit Schwarz identifiziert er in einer ersten Kategorisierung weitere Innovationshemmnisse in den Organisationen.366 Zum einen sieht er den monopolistischen Charakter und die Unentgeltlichkeit der Leistung als Hemmnis an. Ersteres zeichnet sich dadurch aus, dass fehlende oder geringe Konkurrenz zu einem Wegfall des Innovationsdrucks führt beziehungsweise Klienten nur selten den Anbieter wechseln. Letzteres bezieht sich auf die vornehmlich nichtmonetären Kriterien, mit denen ein Klient über den Leistungsbezug entscheidet, und auf die Finanzierung der Anbieter, die in der Regel über öffentliche Kostensätze statt private Marktmechanismen hergestellt werde.367 Die Trägheit des demokratischen Prozesses mit seiner Interessenvielfalt verhindere zudem zügige Anpassungen ebenso, wie die oft noch vorherrschende bürokratische Kultur, die in »Funktionärssystemen« eine »Tendenz zur Beharrung, Trägheit, Innovationsfeindlichkeit« entwickelt. Andererseits könne auch das »System ehrenamtlicher Mitarbeit […] weder genügend Innovationsdruck ausüben, noch ist es selbst neuerungswillig«.368 Des Weiteren führen laut Schwarz die mangelnde oder schwierige Erfolgskontrolle und die fehlenden Erfolgskriterien 363 364 365 366 367
Vgl. a. a. O., S. 199, a. a. O., S. 191. Vgl. a. a. O., S. 194. Maelicke (1987a), S. 16. Vgl. Maelicke (2008), S. 809 und Schwarz (1996), S. 23. Es sei darauf hingewiesen, dass diese Ausführungen aus dem Jahr 1996 stammen und die Sozialwirtschaft in den vergangenen Jahren einem deutlichen Wandel ausgesetzt war und immer noch ist, der auch wesentlich die beschriebenen Innovationshemmnisse beeinflusst (hat). So konstatiert Maelicke zu Schwarz, dass zwar »je mehr diese Merkmale in NPO/SWO auffindbar sind, desto resistenter erweisen sie sich gegen den Wandel und gegen Innovationen. Je mehr allerdings Kunden- und Marktorientierung sowie Wettbewerbselemente auch bei NPO/SWO die zukünftige Entwicklung bestimmen werden, desto offenkundiger wird der Bedarf an Veränderung sein.« (Maelicke (2008), S. 809). 368 Schwarz (1996), S. 23.
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zu einer geringen Innovationsmotivation und fehlenden Kontrollmöglichkeiten durch die Anspruchsgruppen, während eine Überbetonung des »Aufgaben- und Normenvollzuges« zu geringer Kundenorientierung und Anpassung an die Klientenbedürfnisse führt.369 Aus Sicht von Schwarz »[verhindert] (diese) innenzentrierte Aufgabenerfüllung Innovation«.370 Wöhrle knüpft an die oft fehlenden Ziele und Erfolgsmaßstäbe an und identifiziert insgesamt vier »Mythen«, die historisch bedingt häufig zu einem in sich geschlossenen System und einer geringen Innovationsfähigkeit im Sozialbereich führen.371 Zum einen sieht er den Mythos, dass Erfolg in der Sozialen Arbeit nicht messbar sei, was dazu führe, dass eher die Quantität als die Qualität der Arbeit betrachtet würde.372 Entsprechend gibt es »keine Instanz, die lobt oder tadelt, und Kolleginnen und Kollegen, die schlechte Arbeit abliefern, werden auch nicht zur Rechenschaft gezogen. Man/frau fühlt sich ausgenutzt, schlecht behandelt. Die Einrichtungen können keine Erfolge in der Öffentlichkeit und gegenüber Finanzgebern nachweisen. Ihren eigenen Rechenschaftsberichten können sie nicht trauen, weil sie wissen, wie sie zustande kamen«.373 Einen weiteren Mythos sieht Wöhrle im »Familienmodell« begründet, das in sozialen Einrichtungen vorherrsche, in dem alle gleich sind und alles gemeinsam entschieden wird, Leitungsfunktionen an die schwächsten Teammitglieder vergeben werden, und »endlose und ineffektive Diskussionen, die oft zu keinen Ergebnissen führen oder deren Ergebnisse nicht für alle verbindlich sind, die Folge [sind]«.374 Des Weiteren sieht Wöhrle einen Mythos in einer Misserfolgsorientierung, die sich in einer Bedenkenträgermentalität äußert. Diese sieht er u. a. auch darin begründet, dass »nicht die professionellen Inhalte den Zusammenhang stiften, sondern die Beziehungen und ein Zusammengehörigkeitsgefühl wie von einer unterdrückten und diskriminierten, aber verschworenen Gemeinschaft«.375 Schließlich werde aus der Not eine Tugend gemacht und in einer Komfortzone verblieben, die er als »gemütlich eingerichtetes Elend« bezeichnet.376 369 370 371 372 373 374 375 376
Vgl. ebd. Ebd. Vgl. Wöhrle (2012), S. 21ff. Vgl. a. a. O., S. 21. Ebd. Ebd. A.a.O., S. 22. A.a.O., S. 23. Wöhrle räumt ein, dass die Ausführungen zu den Mythen im Sozialbereich einige überpointierte Aspekte enthalten, und sieht, dass sie historisch begründet sind und einem Wandel unterliegen können. Er betont zugleich: »Dabei wird keine Aussage über die Potenzen des Systems getroffen. Sie können unerhört groß sein, nur werden sie nicht geborgen und nach außen dargestellt, solange sich das System nur in sich stabilisiert und gemütlich in einem Zustand einrichtet, der eigentlich unerträglich ist.« (Wöhrle (2012), S. 23).
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Neben den Mythen sieht Wöhrle weitere Ursachen für die ausgemachte Innovationsschwäche und benennt dabei die heterogene Interessenlage in der Organisation, die »Spiele der Organisation« und den durch Organisationen erzeugten Tunnelblick.377 Die Interessenlage kann dabei zwischen Personen ebenso divergieren wie zwischen Gruppen innerhalb der Organisation, während sich die Spiele, angelehnt an die Spieltheorie, dadurch auszeichnen, dass sie »auch den informellen Raum [umfassen], der durch formale Regeln nicht abschließend erfasst werden kann«.378 In Verbindung mit intransparenten Interessenlagen werden dadurch Innovationsprozesse in sozialen Organisationen komplex und subtil. Der Tunnelblick bezieht sich nach Wöhrle auf die NichtReflektion von Wahrnehmung und Handeln innerhalb der Organisation, unter anderem auch dieser informellen Spiele. Der Tunnelblick hat einerseits eine Funktion für die Organisation, die nicht ständig ihr Handeln und das ihrer Mitglieder reflektieren kann, sondern Routine sicherstellen muss.379 Zugleich wirkt sich jedoch die Einengung der Wahrnehmung auch auf neue Bilder und Ideen aus, da »Neues nach dem Muster des Alten interpretiert wird«,380 und somit nicht wahrgenommen oder abgelehnt wird. Systematischer nähert sich Thom der Frage nach Innovationshemmnissen in öffentlichen Einrichtungen. Er benennt zunächst Hindernisse für Innovation, unter anderem die Unterschiedlichkeit der Anspruchsgruppen und die damit verbundene Komplexität der Zielsysteme, eine geringe Fehlertoleranz in den Organisationen, sowie entstehende Wertekonflikte.381 In einem weiteren Schritt systematisiert er die Hemmnisse und Widerstände in fünf spezifische Innovationsbarrieren:382 1) Wissensbarrieren umfassen das Nicht-Kennen von Wissen, Informationen, Strukturen und Prozessen im Zusammenhang mit Innovation. 2) Fähigkeitsbarrieren beziehen sich auf das Nicht-Können, wenn Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Gestaltung von Innovationsprozessen fehlen. 3) Willensbarrieren stehen für das Nicht-Wollen, sowohl bezogen auf die neuen Ideen an sich, als auch die Teilnahme an Innovationsprozessen. 4) Normbarrieren charakterisieren das Nicht-Dürfen, wenn eine Innovation den
377 378 379 380 381 382
Vgl. a. a. O., S. 27ff. A.a.O., S. 35. Vgl. a. a. O., S. 41. Ebd., vgl. auch Wendt (2005b), S. 27. Vgl. Thom (2011), S. 19f. mit Verweis auf Maelicke (2008). Vgl. a. a. O., S. 25ff. Thom bezieht hier auch Innovationsbarrieren mit ein, die bereits früher von Witte (vgl. Witte (1973)) und Hauschildt/Chakrabarti (vgl. Hauschildt/Chakrabarti (1988)) formuliert wurden, wenngleich mit teils abgewandelter Begründung.
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»Selbstverständlichkeiten und kulturelle Ausprägungen, die das Tun oder Lassen der Mitarbeitenden leiten« widerspricht.383 5) Systembarrieren hingegen umfassen Widerstände des Systems auch im Sinne von fehlenden Ressourcen und die resultierende Nicht-Erreichbarkeit von Innovationszielen, wodurch die Innovationsträgheit des Systems bestätigt und somit reproduziert wird. Thom sieht diese fünf Barrieren nicht unabhängig voneinander, sondern in einem sich gegenseitig verstärkenden Zusammenhang, der nur unter hohem Aufwand und unter Berücksichtigung der »strategischen, kulturellen und strukturellen Voraussetzungen« aufgelöst werden kann.384 Eine weitere Systematisierung der Innovationsbarrieren in sozialen Organisationen schlagen Enders und Puch vor.385 Auch sie identifizieren zunächst eine Reihe von Innovationshemmnissen, die sie ausgehend vom paradoxalen Charakter der Innovation und »Informationspathologien« in der Organisation benennen. Informationspathologien sind dabei Behinderungen der unterschiedlichen Informationsflüsse, unter anderem weil neue Erfahrungen und Informationen gar nicht erst gesucht werden, kognitive und sprachliche Verständnisprobleme bei fachfremden Themen existieren oder Macht einzelner Personen oder Gruppen eingesetzt wird, um die Verbreitung bestimmter Informationen zu verhindern.386 Die Ausübung von Macht sehen sie für den Innovationsprozess generell als kontraproduktiv an, da sie Vertrauen und Motivation zerstört. Vielmehr sollten geeignete Räume geschaffen werden, in denen unterschiedliche Interessen beteiligt und ausgeglichen werden könnten.387 Vor dem Hintergrund der Innovationsparadoxie und der Informationspathologien systematisieren Endres et al. vier Typen von Innovationsbarrieren, die sie für das Organisieren von Innovation ausmachen,388 wobei Endres diese in Sozialunternehmen stärker ausgeprägt sieht als in privatwirtschaftlichen Unternehmen.389 1) Suchbarrieren beziehen sich darauf, wo nach neuen Ideen gesucht wird. Sie entstehen, wenn zu Beginn eines Suchprozesses die innovationsrelevanten 383 384 385 386
A.a.O., S. 26. Vgl. a. a. O., S. 27, a. a. O., S. 34. Vgl. Endres (2005), Endres/Puch (2007), Endres/Puch (2008). Vgl. Endres/Puch (2008), S. 71. Endres et al. beziehen mit dem Begriff der »Innovationspathologien« auf Scholl (vgl. Scholl (2004)), der sie als Umgang mit entscheidungsrelevanten Informationen definiert, die produzierbar sind, aber nicht produziert werden, die vorhanden sind, aber nicht übermittelt werden, die vorliegen, aber nicht verarbeitet werden, und die beschaffbar sind, aber nicht beschafft werden. 387 Vgl. a. a. O., S. 72. 388 Vgl. ebd., vgl. auch von der Eichen et al. (2010). 389 Vgl. Endres (2005), S. 11.
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Umwelten zu eng definiert werden.390 Es geht darum, »Wirklichkeiten in den Blick zu bekommen, die noch nicht Wirklichkeiten des Unternehmens sind, es aber sein könnten«.391 2) Sinnbarrieren ergeben sich, wenn zu wenige Anspruchsgruppen und Perspektiven in den Sinngebungsprozess einbezogen werden.392 Hier wird bestimmt, wie ›sinnhaft‹ eine Innovation für die Organisation ist, wie sie somit vor dem Hintergrund einer spezifischen Organisation mit ihren Werten, Visionen und Kulturen zu sehen ist. 3) Systembarrieren im Sinne von Rationalitätsbarrieren, die verhindern, dass neue Perspektiven und Rationalitäten in den Innovationsprozess mit einbezogen werden. Endres/Puch sehen, dass »Organisationen, deren Zweck in hohem Maße auf die Verwirklichung von Sozialstaatsprinzipien bezogen ist, Probleme [haben], Vieldeutigkeiten und Irritationen zuzulassen«.393 Wendt spricht in diesem Zusammenhang von einem »Tunnelblick« auf den Organisationsmitglieder »hin sozialisiert [werden]«.394 Deshalb besteht laut Endres/Puch »die besondere Aufgabe (…) darin, Zweckrationalitäten (…) bei der Entwicklung von Szenarien außer Kraft zu setzen und Perspektivenwechsel (…) zuzulassen«.395 4) Diffusionsbarrieren, die es beispielsweise auf Grund geringer Risikoneigung auf Seiten der Anspruchsgruppen gibt,396 und die Nachfrage und Nutzung von Innovationen behindern. Insbesondere im Sozialbereich ist die Frage der Refinanzierung neuer Ansätze durch die Kostenträger häufig eine solche Barriere. Anders als die drei erstgenannten sind Diffusionsbarrieren eher in der Umwelt der Organisation verortet. Zur Überwindung der Barrieren schlagen Endres et al. Promotoren und Grenzgänger vor, die in der Lage sind, die beteiligten Akteure und Rationalitäten zu synchronisieren.397 Sie sehen insbesondere in der Nutzung und Ausgestaltung neuer Technologien Potenziale für soziale Innovationen, für die jedoch Kooperationen und Wissenstransfers aus entsprechenden Bereichen erforderlich sind,398 über die die meisten sozialen Organisationen jedoch nicht verfügen.
390 391 392 393 394 395 396 397 398
Vgl. Endres/Puch (2008), S. 72. von der Eichen et al. (2010), S. 128. Vgl. Endres/Puch (2008), S. 72. Ebd. Wendt (2005b), S. 27. Endres/Puch (2008), S. 72. Vgl. ebd., siehe auch Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 28. Vgl. Endres/Puch (2008), S. 74. Vgl. a. a. O., S. 73.
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Zwischenfazit Fasst man die vorgestellte Literatur zusammen, und hier insbesondere zunächst die empirischen Arbeiten, so können die Innovationshemmnisse ähnlich wie die -befähiger in Kategorien eingeordnet werden (vgl. Tabelle 2). Dabei wird erkennbar, dass zentrale Kategorien unmittelbar mit dem multirationalen Charakter der Organisation in Zusammenhang stehen oder durch diesen wesentlich in ihrer Wirkung verstärkt werden. Zur Verdeutlichung sei an dieser Stelle noch einmal an die drei Ebenen erinnert, auf denen sich Multirationalität in Organisationen manifestiert: Multiple Kompetenzen durch eine Vielfalt der Professionen, multiple professionsspezifische Kulturen, die Wahrnehmung und Problembehandlung beeinflussen, sowie multiple Rationalitäten, die in Form einer Handlungs- und Begründungslogik Sinngemeinschaften konstituieren, die in enger Verbindung zu den spezifischen Professionen und ihrer jeweiligen Kultur stehen (vgl. Kapitel 1.1). Kategorie
Innovationshemmnisse
Wissen, Informationen und Fähigkeiten, z. B. in Form von Expertenwissen oder Marktinformationen stehen nicht zur Verfügung (z. B. bei technologischen Themen) oder werden zurückgehalten. Kultur Die Organisationskultur kann innovationshemmend sein, z. B. auf Grund von Risikoaversion, Fehlerintoleranz, Bürokratie oder kultureller Konflikte zwischen Teilen der Organisation. Rationalitäten Unterschiedliche Interessenlagen, Zieldimensionen, Logiken oder Rationalitäten können zu Spannungen, Ängsten und Blockaden führen. Relevante Umwelten werden nicht gesehen. Kommunikation Kommunikation kann verhindert werden, oder auf Grund fehlender sprachlicher und kognitiver Voraussetzungen zwischen Disziplinen erschwert oder nicht möglich sein. Dadurch werden alle Phasen des Innovationsprozesses behindert. Zudem können Kooperationen mit externen fachfremden Partnern erschwert werden. Reflektionsfähigkeit Fehlende Reflektionsfähigkeit der Organisation und der Mitarbeitenden führt zu unhinterfragten Grundannahmen, die Wahrnehmungen einengen und neue Ideen ausblenden oder blockieren. Strukturen und Starre, hierarchische Organisationsstrukturen verhindern Prozesse notwendige Flexibilität und Vernetzung. Fehlende Prozess- und Methodenkompetenz zur Ausgestaltung von Innovationsprozessen und -räumen. Ressourcen Zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen stehen nicht zur Verfügung Tabelle 2: Kategorien von Innovationshemmnissen Kompetenzen
Auch die Systematisierungen, hier insbesondere die von Endres et al. können dazu beitragen, den Zusammenhang zwischen Multirationalität und Innovation
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näher zu beleuchten. Suchbarrieren beziehen sich auf die Frage, wo nach neuen Ideen gesucht wird, bzw. wie sie ihren Weg in die Organisation finden. Relevante Umwelten dürfen nicht zu eng gefasst, andere Disziplinen und Logiken müssen vielmehr einbezogen werden. Hierfür ist fächerübergreifendes Wissen, Irritations- und interdisziplinäre Kommunikationsfähigkeit erforderlich, ohne sich gleich vom Unbekannten, anderen Lebenswelten oder Rationalitäten verunsichern zu lassen. Bereits relevante und potentiell neue Umwelten wie Politik, Ökonomie, Technologie, Sozialwissenschaften, Soziale Arbeit und Psychologie müssen beobachtet und verstanden werden, um Innovationssignale aufzufangen. Zudem darf Ideentransfer von außen nicht an der Suchbarriere eines »Notinvented-here«- oder eines »Agabu«-Syndroms scheitern.399 Sinnbarrieren werfen die Frage auf, welche Zieldimensionen und Wirkungskontexte in den Innovationsprozessen adressiert werden, bzw. für die Organisation als sinnvoll und sinngebend angesehen werden. Stößt eine ökonomische Innovation an eine Sinnbarriere, weil das Selbstverständnis eines Sozialträgers nicht auch eine unternehmerische Perspektive umfasst? Oder wird eine technische Innovation aus einer kulturellen Technologieaversion heraus abgelehnt? Erfolgt die Sinngebung einer Innovation unter Einbeziehung der verschiedenen Anspruchsgruppen, Sinngemeinschaften und Referenzsysteme, oder existiert eine scheinbar dominante Logik? Systembarrieren stellen dann die Frage, welche Fähigkeiten die Organisation als Gesamtsystem hat, die unterschiedlichen Ziele (beispielsweise auch Routine versus Innovation) und unterschiedliche Rationalitäten und Logiken systemintern zu integrieren. Ist ihr Umgang mit dieser Multirationalität konstruktiv oder konfrontativ? Sind die Sinngemeinschaften und Disziplinen untereinander diskursfähig, ohne von der Dominanz der eigenen Logik auszugehen? Sind die Entscheidungsprozesse, Strukturen und letztendlich die Kultur des Systems somit in der Lage, eine möglicherweise auch nur zunächst von Teilen der Organisation als sinnvoll erachtete Innovation systemintern zu Akzeptanz und Durchsetzung zu verhelfen? Ähnlich gelagert sind schließlich die Diffusionsbarrieren, die die Frage adressieren, welche Möglichkeiten die Organisation hat, die Innovationen systemextern, also in der Umwelt mit ihren unterschiedlichen Referenzsystemen durchzusetzen. Nur weil beispielsweise eine Innovation fachlich höchst sinnvoll ist, und in Summe auch noch ökonomisch realisierbar, bedeutet dies noch lange nicht, dass auf Seiten der Kostenträger und des politischen Systems eine ent399 Das »Not invented here«-Syndrom beschreibt abwertend die Nichtbeachtung von bereits existierendem Wissen durch Unternehmen oder Institutionen aufgrund des Entstehungsortes (vgl. de.wikipedia.org/wiki/Not-invented-here-Syndrom), das Agabu-Syndrom (»Alles ganz anders bei uns«) bezieht sich auf die vermeintliche Nicht-Übertragbarkeit von Konzepten und Ideen aus anderen Bereichen oder Organisationen.
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sprechende Refinanzierung bereitgestellt wird, oder das Nutzerinnen und Nutzer sie akzeptieren. Diffusionsbarrieren liegen in dieser Hinsicht auf der Grenze zwischen einer multirationalen Organisation und ihrer pluralistischen Umwelt. Entsprechend hat die Organisation nur bedingt oder mittelbar Einfluss auf diese Barriere. In dieser Perspektive wird deutlich, wie sehr die genannten Barrieren mit der Multirationalität der Organisationen und ihrer Umwelt verbunden und in ihr begründet sind. In diesem Sinne sind gelingende Innovationsprozesse ohne Berücksichtigung des multirationalen Spannungsfeldes zwischen beiden eher unwahrscheinlich. Nachdem nun die Innovationsbefähiger und -barrieren aus der Literatur abgeleitet und aus einer multirationaler Perspektive reflektiert wurden, betrachtet das nächste Kapitel die in der Literatur vorgeschlagenen Konzepte und Modelle, mit denen Organisationen ihre Innovationsprozesse vor diesem Hintergrund gestalten und ihre Innovationsfähigkeit fördern können.
2.3.3 Innovationsmodelle: Wie kann sozialunternehmerische Innovation gefördert werden? Versteht man unter einem organisationalen Innovationsmodell ein klar abgrenzbares und damit eigenständiges Konzept zur Innovationsförderung innerhalb eines bestimmten Organisationstypus, so muss konstatiert werden, dass ein solches für Sozialunternehmen bisher nicht zu existieren scheint. So beobachten Endres et al., dass »programmatische und allgemeine Forderungen nach mehr Innovation ohne differenzierte Beschreibung der Instrumente zur Umsetzung [vorherrschend sind]«.400 Then et al. räumen ein, dass zwar »Sozialunternehmen (…) in Deutschland stellenweise vielversprechende soziale Innovationen für Gesellschaft und Wohlfahrtstaat [anstoßen], (…) aber nicht grundsätzlich innovativ [sind]«.401 Und Wendt führt aus, dass »von einem organisierten Milieu und System der Innovation (…) im Sozialsektor bisher kaum die Rede sein [kann]«.402 Es wird also ein Mangel an organisierten und systematisierten Innovationshandlungen beobachtet, der auch an fehlenden eigenen Methoden und Instrumenten sichtbar wird. Die dennoch vorhandenen Diskursansätze, wie Sozialunternehmen innovativ sind oder innovativer werden können, greifen in der Regel auf Konzepte zurück, die ursprünglich im Kontext ökonomischer Organisationen entwickelt wurden. Im Vordergrund stehen dabei intendierte 400 Endres/Puch (2008), S. 69. 401 Then/Scheuerle/Schmitz (2012), S. 5. 402 Wendt (2005b), S. 45.
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Strukturen, Prozesse, Rollen-, Steuerungs- oder Anreizsysteme, um die Innovationsfähigkeit zu erhöhen.403 Neben diesen managerialen oder manifesten Ansätzen werden zudem latente Aspekte wie die Organisationskultur, organisationales Lernen und systemische Ansätze in den Diskurs einbezogen.404 Entsprechend stellt Schröer eine Kategorisierung zur Diskussion, die einerseits zwischen organisationsinternen oder -übergreifenden Modellen zur Innovationsförderung und andererseits zwischen strukturiert-prozessorientierten und latent-informellen Ansätzen unterscheidet. Er räumt dabei ein, dass es zurzeit noch kein wirklich durchgängiges Raster für Innovationsmodelle für soziale Unternehmen gibt.405 Die vorhandene Literatur wird daher im Folgenden entlang ihrer Bezüge zu typischen Konzepten der Innovationsforschung strukturiert, die in lineare Modelle, Promotorenmodelle, systemische Modelle und Innovationskultur sowie Social Entrepreneurship und Inkubationsmodelle unterschieden werden können, wobei die Bezüge in der Literatur nicht immer explizit benannt werden, sondern in den gewählten Schwerpunkten sichtbar werden. Die Modelle können dabei archetypisch verstanden werden. Sowohl in der Praxis als auch im wissenschaftlichen Diskurs sind häufig Mischformen dieser Modelle in der Gestaltung von Innovationsprozessen beobachtbar, beispielsweise Kombinationen von linearen Konzepten mit Promotorenmodellen. Lineare Innovationsmodelle Lineare Innovationsmodelle stehen nach Godin als »one of the first (theoretical) frameworks developed in history for understanding science and technology and its relation to the economy« am Anfang der Konzeptualisierung von Innovation in Organisationen.406 Sie sind eng verbunden mit einem klassisch-industriellen Verständnis von Innovation.407 Hierbei bringt ein getrennter Forschungs- und Entwicklungsbereich die Innovation durch Basis- und angewandte Forschung als »technology push« hervor,408 während nachgelagerte Bereiche wie Produktion, Marketing und Vertrieb in diesem Modell für die Umsetzung, Verbreitung und die Kommerzialisierung zuständig sind.409 Innovation wird somit einem zuständigen Bereich zugeschrieben und vom restlichen Organisationsgeschehen 403 Damit ist die Innovationsperspektive Teil des erheblich umfangreicheren Diskurses zu Management in der Sozialwirtschaft, der im Kontext beispielsweise der Diakonie maßgeblich durch Alfred Jäger mitinitiiert wurde (vgl. z. B. Jäger (1986/1993)), und in einem teils kontrovers geführten Diskurs bis heute aktuell ist. 404 Vgl. Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 37ff. 405 Vgl. Schröer (2015). 406 Godin (2005), S. 3. 407 Vgl. Sundbo (2000), S. 114. 408 Vgl. Mowery/Rosenberg (1979), S. 108. 409 Vgl. Godin (2005), S. 4.
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getrennt. In dieser Hinsicht wird der Phasencharakter einer Innovation von Entdeckung, Erfindung, Entwicklung und Verbreitung in einer Organisationsstruktur abgebildet.410 Das Innovationsgeschehen wird gewissermaßen strukturorientiert verstanden. In der Literatur zur sozialwirtschaftlichen Innovation ist dieses Modell eng verbunden mit einer Schwerpunktlegung auf eine starke Forschung und Entwicklung der Disziplin Sozialer Arbeit. Im Vordergrund steht dann häufig das fachliche Wissen der Sozialen Arbeit als Disziplin und Profession, sowie die Rolle der Sozialarbeiter als Innovatoren. Diese Position ist in erster Linie bei Vertretern der Sozialen Arbeit zu finden. So verortet Wendt den Forschungsund Entwicklungsbereich in einer »wissensbasierten und mit Forschung verbundenen sozialen Profession«,411 wobei er zugleich einen Mangel an entsprechender Forschungs- und Entwicklungsarbeit im sozialberuflichen und sozialwirtschaftlichen Handlungsfeld ausmacht,412 die ausgehend vom gegebenen Bedarf neue Formen individueller Wohlfahrt finden müsse.413 Hüttemann und Sommerfeld verorten in ähnlicher Perspektive Innovation in den Austauschprozessen zwischen Wissenschaft und Praxis. In ihrem Verständnis bewegt sich die Praxis zwischen den Polen Innovation und Routine, während die Wissenschaft zwischen Grundlagen- und Handlungsforschung pendelt. In der Begegnung von Praxis und Handlungsforschung entsteht das innovative Potential. Somit sehen sie die Praxis nicht reduziert als Anwendungsfeld der Wissenschaft, sondern in einer befristeten und projektbezogenen Verknüpfung mit handlungswissenschaftlich orientierter Forschung, die sie als kooperative Wissensbildung als Grundlage einer forschungsbasierten Praxis sozialer Arbeit bezeichnen.414 In gleicher Weise argumentiert Parpan-Blaser, die Innovation im engen Zusammenhang mit der Professionalisierung der Sozialen Arbeit sieht,415 jedoch gleichfalls mit Wendt diagnostiziert, dass wesentliche Grundlagen für die systematische Gestaltung von Innovationsprozessen bisher fehlen.416 Als möglichen Grund vermutet sie, dass in der Vergangenheit die Identität der Sozialen Arbeit auch in der Abgrenzung zu anderen Disziplinen gesucht wurde, und »fachfremde Konzepte wenig Beachtung fanden«, sowie »die wirtschaftlich-technische Prägung des Innovationskonzepts […] Bedenken nähren, dass die Soziale Arbeit durch die explizite Bearbeitung der Innovationsthematik zwangsläufig 410 411 412 413 414 415 416
Vgl. Braun-Thürmann (2005), S. 36. Wendt (2005b), S. 6. Vgl. Wendt (2005a), S. 45. Vgl. Wendt (2006), S. 24. Vgl. Hüttemann (2007), S. 48. Vgl. Parpan-Blaser (2011), S. 119. Vgl. a. a. O., S. 118.
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einer kompetitiven Marktlogik unterstellt bzw. in einem gesellschaftspolitischen Kontext instrumentalisiert« wird.417 Entsprechend plädiert sie für eine notwendige Stärkung von Forschung in der Sozialen Arbeit als Voraussetzung für Innovation im Sozialbereich. Diese hervorgehobene Rolle der Disziplin im Innovationsprozess wird unter anderem mit der normativen Dimension Sozialer Arbeit begründet, deren Wahrung andernfalls nicht gewährleistet werden könne, und die Soziale Arbeit Gefahr laufen könne, in Innovationsprozessen »ihre Fachlichkeit preiszugeben«.418 Im gleichen Sinne fordert Dällenbach für die Soziale Arbeit die Rolle als »Gestalterin des Sozialen« und definiert diese Rolle als Kern der Profession sozialer Arbeit.419 Gleichzeitig sieht jedoch auch sie wenig Hinweise auf mögliche »Mittel und Wege (…), das sozial innovative Handeln als Kern ihrer professionellen Handlungskompetenz zu verankern«.420 Das klassisch-lineare Modell wird teilweise stark kritisiert, da es dazu tendiert, Innovationsbarrieren durch ein isoliertes und auf eine Disziplin reduziertes Innovationsmodell zu manifestieren. So konstatiert Rosenberg schon früh: »Everyone knows that the linear model of innovation is dead«.421 Insbesondere in dienstleistungsorientierten Organisationen beobachtet Sundbo, dass Dienstleistungsinnovationen, und damit auch Innovationen personenbezogener sozialer Dienstleistungen, selten forschungsbasiert sind oder einer push-Logik folgen,422 und vielmehr unterschiedliche Disziplinen und Abteilungen in den Innovationsprozess eingebunden werden sollten: »This may be explained by the fact that service innovations are integrated and many functions should be represented in the innovation process«.423 Dies ist zum einen für den interdisziplinären Austausch von Bedeutung, zum anderen wird so vermieden, dass innovatives Handeln an einen Organisationsteil delegiert wird, anstatt Innovation zur Aufgabe der Organisation als Ganzes zu begreifen. Diese Kritik des linearen Modells verneint somit nicht die Wissensbasierung von Innovation gerade auch in sozialwirtschaftlichen Organisationen, sondern stellt vielmehr die Vielfalt und die Vernetzung unterschiedlichen Wissens in den Vordergrund. Auch der grundlegende Phasencharakter des Innovationsprozesses von Invention über Innovation zur Diffusion wird nicht in Frage gestellt, jedoch nicht als strukturgebend für eine Organisation interpretiert. Das Phasenmodell kann mit Braun-Thürmann lediglich als »nützliche Fiktion« gesehen werden, die hilft, »Zäsuren für Entscheidungsprozesse zu setzen. Auf diese Weise 417 418 419 420 421 422 423
A.a.O., S. 101. A.a.O., S. 254. Vgl. Dällenbach (2011), S. 108. A.a.O., S. 106. Rosenberg (1994), S. 139. Vgl. Sundbo (2000), S. 117. Ebd.
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entstehen Zeitsegmente, die den Entwicklungsprozess strukturieren und als Wegmarken Prozesskontrollen ermöglichen«.424 Damit wird das Management von Innovationen innerhalb der Organisation ermöglicht, wie dies beispielsweise bei einem typischen Stage-Gate-Prozess der Fall ist.425 In einem solchen Prozess entsprechen die Zeitsegmente oder Phasen den Stages, die Wegmarken als herbeigeführte Entscheidungsmomente den Gates. Diese Managementprozesse sind nicht als Substitute für die genannten Modelle der Innovationsförderung zu verstehen, vielmehr können sie latent oder manifest in jedem Modelltypus vermutet werden, da Innovation als Phänomen selbst in Phasen ablaufend gesehen wird. Dennoch wird diese Perspektive hier den linearen Ansätzen zugeordnet, allerding nicht im Sinne einer Strukturlinearität der klassischen Modelle, sondern als linearer Prozess, der den Phasencharakter von Innovationsphänomenen aufgreift. Promotorenmodelle Häufig werden zur Überwindung der Innovationsbarrieren Promotorenmodelle vorgeschlagen, die auf Witte zurückzuführen sind.426 Witte bezeichnet mit Promotoren Personen, »die einen Innovationsprozess aktiv und intensiv fördern«.427 Er sieht die Aufgabe eines Fachpromotors darin, die Barriere des NichtWissens zu überwinden, während ein Machtpromotor die Barriere des NichtWollens beseitigen soll.428 Der Fachpromotor treibt den Innovationsprozess durch objektspezifisches Fachwissen,429 während der Machtpromotor einen »Innovationsprozeß durch hierarchisches Potential (…) fördert«.430 Hauschildt und Chakrabarti sehen zudem die Barriere des Nicht-Dürfens im Sinne von organisatorischen und administrativen Widerständen und ergänzen Wittes Promotorengespann um die Rolle eines Prozesspromotors,431 der die Barriere des Nicht-Dürfens überwinden soll.432 Der Prozesspromotor ist immer dann nötig, wenn eine komplexe Materie zu bewältigen ist, oder das Innovationsprojekt in einem vielgliedrigen, großen Unternehmen gesetzt werden soll.433 Die Vorstellung, Widerstände durch persönliches Engagement zu überwinden, kann letztlich bis auf Schumpeter zurückgeführt werden, der bereits die Rollen des 424 425 426 427 428 429 430 431 432 433
Braun-Thürmann (2005), S. 38. Vgl. Cooper (1990), S. 44ff. Vgl. Witte (1973). A.a.O., S. 15ff. Vgl. Hauschildt/Salomo (2011), S. 125. Vgl. Witte (1973), S. 18. A.a.O., S. 17. Vgl. Hauschildt/Chakrabarti (1988). Vgl. Hauschildt/Salomo (2011), S. 125. Vgl. a. a. O., S. 175f.
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Erfinders und des Unternehmers hervorhebt,434 die ganz ähnlich wie die genannten Promotoren Innovationsbarrieren überwindet. Das Innovationsgeschehen kann somit als rollengebunden verstanden werden. Endres und Puch übertragen dieses Modell auf sozialwirtschaftliche Organisationen. Sie sehen, dass Austausch und Kommunikation zwischen unterschiedlichsten Anspruchsgruppen für Innovationsprozesse erforderlich sind, und diagnostizieren, dass »vielfach übersehen [wird], dass Netzwerke bei allen Stärken strukturkonservativ und konfliktvermeidend sind«,435 was zu besonderen Herausforderungen in der Sozialwirtschaft führt. Um vor diesem Hintergrund die iterativen Prozesse der Informationssuche und -bewertung zu ermöglichen, schlagen sie ein Promotorenmodell vor und fassen zusammen: »Fachpromotoren fördern durch ihre fachlichen Kompetenzen Innovationsprozesse und sind daran interessiert, sich Neuem zuzuwenden. Prozesspromotoren steuern und koordinieren, halten den Innovationsprozess offen für Diskussion und Erprobung und arbeiten eng mit den Fach- und den Machtpromotoren zusammen. Machtpromotoren schließlich sind Personen mit hoher hierarchischer Position. Sie schaffen förderliche Rahmenbedingungen, schützen Innovationen vor Opponenten, balancieren als »institutional leader« die Konflikte zwischen Promotoren und Kritikern aus und helfen dadurch Innovationsprozesse zu sichern«.436
Insbesondere für die Rolle eines Fach- und Prozesspromotors sehen Endres et al. Personen als geeignet an, die als Grenzgänger zwischen unterschiedlichen Sinngemeinschaften vermitteln können, und somit Innovationsprozesse initiieren können.437 Grenzgänger müssen in unterschiedlichen Disziplinen sprachfähig sein, und zudem über eine hohe soziale Kompetenz verfügen, um den Dialog zwischen den Disziplinen durch eine hohe Akzeptanz ihrer Person zu fördern.438 Auch Maelicke bezieht sich auf Witte und Hauschild und übernimmt zunächst das aus den drei genannten Promotoren bestehende Modell, das er als wichtige Aufgabe im Management der Sozialwirtschaft verortet.439 In einem späteren Beitrag benennt er zudem einen weiteren Promotorentypus, den er als Dynamik-Promotor bezeichnet. Dieser soll in Anlehnung an das Schumpetersche Rollenverständnis eine unternehmerisch denkende und handelnde Persönlichkeit sein, die vor dem Hintergrund zunehmender Komplexität und Diskontinuitäten eine schnelle Anpassung der Organisation an die veränderten 434 435 436 437 438 439
Vgl. a. a. O., S. 123. Endres/Puch (2008), S. 73. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 74f. Vgl. a. a. O., S. 75. Vgl. Maelicke (2005), S. 17.
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Bedingungen ermöglichen soll.440 Er sieht Dynamik-Promotoren als »unverzichtbar für das dynamische Potentialmanagement« und definiert sie als »Führungskräfte und Mitarbeiter, die bereit sind, die unvermeidlich mit der gesteigerten Dynamik einhergehenden Belastungen und Risiken zu tragen«.441 Wendt sieht ebenfalls die Notwendigkeit von Promotoren, die er als zentralen Bestandteil des Innovationsmanagements in privatwirtschaftlichen Unternehmen ausmacht. Einerseits haben interne Promotoren nach Wendt die Aufgabe, Kreativität zu wecken, neue Projekte auf den Weg zu bringen und Widerstände zu überwinden.442 Anderseits können Promotoren auch von extern herangezogen werden, beispielsweise aus der Privatwirtschaft oder dem Wissenschaftsbetrieb, um Neuerungen zu ermöglichen, die einer einzelnen Organisation so nicht möglich wären.443 Insbesondere für soziale Organisationen ergänzt Moos das Promotorenmodell um die Klienten der Organisation, die ebenfalls als Initiatoren und Mitgestalter einer Innovation fungieren können, und so auch schrittweise an die Innovation herangeführt werden können.444 Kessler et al. hingegen sehen eine wesentliche Aufgabe der Promotoren in der Förderung der Reflektionsfähigkeit der Organisation. Führungskräfte übernehmen dabei situativ die Rolle der Promotoren oder bringen diese im Innovationprozess zusammen, um es der Organisation einerseits zu ermöglichen, sich Unsicherheit und Ungewissheit zu stellen, und andererseits Sicherheit in der Unsicherheit zu erarbeiten.445 Diese Dynamik sehen sie als Grundvoraussetzung für Lernfähigkeit an. Promotoren fördern somit Reflektion und organisationales Lernen. Kessler et al. verbinden auf diese Weise das Promotorenmodell mit einem systemischen Organisationsverständnis.446 Systemische Innovationsmodelle und Innovationskultur Systemische Innovationsmodelle gehen von einem anderen Organisationsverständnis als lineare und Promotorenmodelle aus. Die Organisation wird weniger als mechanistisch oder hierarchisch verstanden, sondern vielmehr als selbstorganisiertes System.447 Im Diskurs werden in diesem Zusammenhang vor allem Aspekte der Organisationskultur und der lernenden Organisation als relevant für Innovation angesehen.448 440 441 442 443 444 445 446 447 448
Vgl. Maelicke (2008), S. 798. A.a.O., S. 800. Vgl. Wendt (2005a), S. 23. Vgl. a. a. O., S. 37. Vgl. Moos (2015), S. 30. Vgl. Kessler/Ruoss (2011), S. 176. Vgl. a. a. O., S. 177. Vgl. Meissner (2011). Vgl. Parpan-Blaser (2011), S. 210, Kessler/Ruoss (2011), S. 169, Strunk (2005), S. 188.
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Der Kultur einer Organisation wird dabei eine große Bedeutung für Innovation zugeschrieben und mit Merkmalen wie Vertrauen, Fehlertoleranz, gemeinsame Vision und Wertschätzung verbunden.449 Meissner bezeichnet dabei »Kultur als verborgenes Skript der Innovation«, und konstatiert, dass »ein beträchtliches Problem des Kulturkonzeptes [darin] besteht, dass es ganz wesentlich auf die informellen Eigenarten des Systems abstellt«.450 Dadurch entzieht es sich häufig sowohl dem Bewussten als auch der Steuerbarkeit. Um dies zu verdeutlichen, und um die durch den singulären Begriff der Organisationskultur hervorgerufene Unterstellung zu vermeiden, dass »eine Organisation nur eine Organisationskultur hat und diese Kultur einigermaßen konsistent gehandhabt werden kann«, schlägt Luhmann stattdessen den Begriff der »unentscheidbaren Entscheidungsprämissen« vor,451 und verankert so die Kulturdimension in seiner systemischen Organisationstheorie. Das Konzept der lernenden Organisation ist ebenfalls eng mit einem systemischen Organisationsverständnis verbunden und wird in der Regel auf Senge zurückgeführt.452 Es verweist auf die Verbindung zwischen Innovation, Organisationskultur und Wissen und stellt zugleich nichtlineare Modelle und soziale Prozesse komplexer Systemtransformationen in den Vordergrund.453 Bezogen auf soziale Organisationen definiert Gould Lernen als »the broad dynamics of adaptation, change and environmental alignment of organisations, takes place across multiple levels within the organisation, and involves the construction and reconstruction of meanings and world views within the organization«.454 Im Sinne Senges versteht er vor allem die Aspekte des systemischen Denkens, des Lernens im Team, einer gemeinsamen Vision, der Reflektion mentaler Modelle und der individuellen Reife der Mitglieder einer Organisation als entscheidende Voraussetzungen für die Fähigkeit zu lernen.455 Vor diesem Hintergrund gehen Bergmann und Daub davon aus, dass »innovativ wird, wer die Bedingungen des Lernens versteht« und sehen daher drei Ansatzpunkte, auf die sich ein Innovationsmanagement in Organisationen konzentrieren sollte: »die Schaffung von Orientierung und Bewusstsein über typische kulturelle Prozessmuster, die Transformation von Ideen in Handlungskonzepte und die Systematisierung der Lernprozesse«.456 Organisationskultur und lernende Organisation werden somit für Innovationsprozesse in 449 450 451 452 453 454 455 456
Vgl. Kessler/Ruoss (2011), S. 170, Parpan-Blaser (2011), S. 230. Meissner (2011), S. 99. Luhmann (2011b), S. 241f. (Hervorhebung im Original). Vgl. Senge (2006), Peters (2015a), S. 252ff., Gould (2000). Parpan-Blaser (2011), S. 231. Gould (2000), S. 587. Vgl. Senge (2006), S. 75ff. Bergmann/Daub (2006), S. 128.
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einem systemischen Konzept als zusammengehörend gesehen. Das Innovationsgeschehen kann in dieser Hinsicht als systemorientiert interpretiert werden. Neben Gould übertragen auch Kessler et al. systemische Perspektiven auf Innovationsprozesse in sozialen Organisationen. Sie diagnostizieren, »dass ein lineares und steuerungsgläubiges Innovationsverständnis der Komplexität und der Kontextabhängigkeit von Organisation im Allgemeinen und des Sozialbereichs im Speziellen nicht gerecht werden«.457 Sie plädieren stattdessen für ein systemisches Innovationsmanagement auf der Mesoebene der sozialen Organisationen, das eingebettet ist zwischen den normativen Rahmenbedingungen der Gesellschaft und der Mikroebene der Akteure mit ihren vielfältigen Beziehungen.458 Sie gehen dabei von einem sozialkonstruktivistischen Verständnis von Innovation aus, in dem Innovation zu einem subjektiven Konstrukt wird, das geprägt ist von Entwicklung, Lernen und Veränderung.459 Als Grundvoraussetzung dieser Lern- und damit Innovationsprozesse in sozialen Organisationen sehen sie die Fähigkeit zur persönlichen und organisationalen Reflektion.460Als Gestaltungsebenen für ein systemisches Innovationsmanagement in sozialen Organisationen benennen sie dabei die Entwicklung und Umsetzung einer Organisationsstrategie, sowie offen, durchlässig und flexibel gestalteter Strukturen und Prozesse und die bewusste Weiterentwicklung der Organisationskultur.461 Auch Peters sieht Innovationsprozesse sozialer Organisation in enger Verknüpfung mit der Veränderungs- und Lernfähigkeit der Organisation und referenziert ebenfalls auf das Konzept der Lernenden Organisation von Senge.462 Zugleich schlägt er einen umfangreicheren und detaillierteren Gestaltungsrahmen vor, indem er das Führungskonzept sozialwirtschaftlicher Unternehmen von Bachert mit dem integrierten Innovationsmanagement von Warschat zusammenführt.463 Dadurch entstehen die für Innovationsprozesse relevanten Gestaltungsebenen der strategischen Führung, des Marketings, des Personal-, Qualitäts- und Finanzmanagements, sowie des Veränderungs- und Risikomanagements.464 Durch diesen Ansatz wird die Innovationsperspektive in alle Felder der Unternehmensführung eingewoben, statt isoliert in einem Bereich verortet zu werden. Ebenso wird die Gestaltung spezifischer als es bei den Ebenen der Strategie, Struktur und Kultur bei Kessler et al. erfolgt. Bei der 457 458 459 460 461 462 463 464
Kessler/Ruoss (2011), S. 177. Vgl. a. a. O., S. 147f. Vgl. a. a. O., S. 150. Vgl. a. a. O., S. 177. Vgl. a. a. O., S. 166ff. Vgl. Peters (2015a), S. 252ff. Vgl. a. a. O., S. 236ff. mit Verweis auf Bachert/Peters/Speckert (2011) und Warschat (2006). Vgl. ebd.
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Bewertung der Innovationsfähigkeit greift Peters dann jedoch, angelehnt an Warschat oder auch Spath et al. und deren Innovationsaudit, wieder auf diese Ebenen zurück.465 Dadurch wird die Nähe zu einem systemischen Innovationsverständnis und der Bedeutung der Organisationskultur für die Innovationsfähigkeit deutlich. In gleicher Weise argumentiert Reimer, der in der Organisationskultur die zentrale Grundlage von Innovationsfähigkeit sieht. Diese kann jedoch nicht »implementiert« werden, sondern vielmehr muss eine »entsprechende Unternehmenskultur in der Fläche der Organisation wachsen«.466 Er benennt drei Kriterienfelder für eine erfolgreiche Innovationskultur : Leitbild und Strategie, Führung und Mitarbeitende, sowie eine Ideen- und Fehlerkultur.467 In jedem dieser Felder diagnostiziert Reimer insbesondere für die Sozialwirtschaft wesentliche Herausforderungen, da weder eine Tradition der Innovation, noch ein innovatives Selbstverständnis in den Organisationen zu finden sei.468 So sieht er auf dem Feld der Strategie in der Sozialwirtschaft ein reaktives Handlungsmuster auf Grund äußerer Zwänge statt eines aktiven, vorausschauenden Gestaltungswillens: »Innovation ist wie Wollen, Wandel ist wie Müssen«.469 Damit einhergehend verortet er in der Führung eine Entscheidungs- und Risikoaversion, sowie traditionelle Entscheidungsstrukturen, die geprägt sind von pyramidenförmigen Hierarchien, detaillierten Stellenbeschreibungen und definierten Dienstwegen, die es den Mitarbeitenden erschweren, kreativ und innovativ zu agieren.470 Auf dem Feld der Ideen- und Fehlerkultur sieht er die Notwendigkeit von geeigneten Plattformen, um eine möglichst große Zahl von Ideen zu sammeln, zu strukturieren und zu bewerten, um sie anschließend zu priorisieren und umzusetzen.471 Dabei geht er davon aus, dass nur circa fünf Prozent der Ideen erfolgreich sein werden: »Nicht gelingende Ideen sind somit keine Fehler und kein Scheitern, sondern vielmehr zu erwartender Standard«.472 Social Entre- und Intrapreneurship In den letzten Jahren wird im Zusammenhang mit sozialen Organisationen intensiv der Begriff des Social Entrepreneurs diskutiert, und gerade in angelsächsischen Ländern wird dieser Idee sehr viel Potenzial zugeschrieben. In Deutschland wird in Diskussionen hingegen häufig darauf verwiesen, dass So465 466 467 468 469 470 471 472
Vgl. Peters (2015b), S. 270 mit Verweis auf Spath et al. (2006). Reimer (2015), S. 287. Vgl. a. a. O., S. 293f. Vgl. a. a. O., S. 287. Vgl. a. a. O., S. 295f. Vgl. a. a. O., S. 295ff. Vgl. a. a. O., S. 298ff. A.a.O., S. 298.
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cial Entrepreneurship kein neues Modell an sich ist. So kann bereits der Aufbau diakonischer Einrichtungen im neunzehnten Jahrhundert durch Friedrich von Bodelschwingh dem Älteren, Johann Hinrich Wichern und Theodor Fliedner als Social Entrepreneurship betrachtet werden.473 Auch heute sind innerhalb etablierter Wohlfahrtsorganisationen innovative Ansätze zu beobachten, die dem Muster der Social Entrepreneurship entsprechen.474 Diese Phänomene werden von einigen Autoren als Social Intrapreneurship bezeichnet, da sie innerhalb bestehender Organisationen ihren Ursprung haben.475 Der Begriff des Social Entre- oder auch Intrapreneurs und sein Anwendungsfeld sind dabei nicht klar abgrenzbar. Eine erste Definition kann bei Dees gefunden werden. Für ihn spielen »Social Entrepreneurs (…) the role of change agents in the social sector, by adopting a mission to create and sustain social value, recognizing and relentlessly pursuing new opportunities to serve that mission engaging in a process of continuous innovation, acting boldly without being limited by resources currently in hand, and exhibiting a heightened sense of accountability to the constituencies served and for the outcomes created«.476
Mit dieser Definition greift er auf die Rolle des Entrepreneurs bei Schumpeter zurück, der durch seine unternehmerische Persönlichkeit maßgeblich zur Entstehung von Innovation beiträgt, der jedoch bei Dees mit einer sozialen Mission ausgestattet ist.477 Einer Definition von Social Entrepreneurship kann sich nach Then et al. zudem über drei Abgrenzungsmerkmale von anderen Organisationsformen genähert werden.478 »Erstes und zentrales Abgrenzungsmerkmal von Social Entrepreneurship ist, dass die Lösung sozialer (…) Probleme zu den primären Zielstellungen der jeweiligen Organisationen gehört«.479Als zweites Abgrenzungsmerkmal benennen sie die hohe Innovationsfähigkeit der Social Enterprises,480 die von den vielen Autoren als konstituierendes Merkmal angesehen wird.481 Schließlich kann eine Abgrenzung zu Nonprofit-Organisationen wie Nichtregierungsorganisationen und Stiftungen über das Merkmal des leis473 Beispielsweise entsteht zur Zeit durch Jens Schild eine Dissertation am Institut für Diakoniemanagement und Diakoniewissenschaft zum Thema »Wichern als Entrepreneur«. 474 Vgl. Schmitz/Scheuerle (2013b). 475 Vgl. Schmitz/Scheuerle (2013b), Nock/Krlev/Mildenberger (2013), S. 56. 476 Dees (1988), S. 4. 477 Vgl. a. a. O., S. 5. 478 Vgl. Then et al. (2013), S. 8ff. 479 A.a.O., S. 8. 480 Vgl. a. a. O., S. 10. 481 Vgl. z. B. Dees (1988), S. 5, Leadbeater (1997), S. 2, Martin/Osberg (2007), Schmitz/ Scheuerle (2013b), S. 192, Gebauer et al. (2009), S. 7, Jansen (2013a), S. 13.
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tungsbasierten Einkommens vorgenommen werden.482 Social Enterprises finanzieren sich somit nicht in erster Linie über Spenden und Fördermittel, sondern durch Entgelte für ihre angebotene Leistung. Dazu können Leistungsentgelte durch soziale Kostenträger ebenso wie marktnahe Vergütungen zählen. Damit »verbinden sich ökonomische und soziale Wertschöpfung in der kontinuierlichen Interaktion der Social Entrepreneurs mit dem gesellschaftlichen Kontext, in den ihre Aktivitäten eingebettet sind.«483 Auch Leadbeater sieht die Persönlichkeitseigenschaften und das Charisma des Social Entrepreneurs als zentralen Kern eines Social Enterprises: »At the heart […] stands a social entrepreneur who drives the organisation. None of these organisations could exist without the leadership of the charismatic individuals at their heart«.484 Die zentralen Eigenschaften einer solchen Person sind für ihn unternehmerisches Handeln, Innovationskraft und Transformationsfähigkeit. Dabei zeichnet sich die Innovationskraft dadurch aus, dass Social Entrepreneurs unterschiedliche Perspektiven und Ansätze zu neuen Lösungen verbinden, die traditionell voneinander getrennt waren.485 Was sie antreibt, ist jedoch in Abgrenzung zum klassischen Entrepreneur nach Leadbeater ihre soziale Mission und nicht Gewinnstreben oder Shareholder Value.486 Dennoch ist ein Social Entrepreneur allein nicht hinreichend: »However, the presence of a social entrepreneur is not enough to guarantee that an organisation will become entrepreneurial and innovative«.487 In seinem Verständnis sind Social Enterprises daher zudem geprägt von flachen, emergenten und dezentralen Strukturen, einem kleinen, flexiblen Team und einer kreativen Kultur.488 Nach Schröer et al. kann in einer weiteren Perspektive Social Entrepreneurship als sozialunternehmerischer Prozess aufgefasst werden,489 der ausgehend von veränderten sozialen Bedarfen, sozialer Ressourcen und der individuellen Erfahrung von Personen zu innovativen Lösungsideen führt, und über ein soziales Geschäfts- und Betriebsmodell zu einer konkreten Möglichkeit einer positiven sozialen Wirkung wird.490 Die Parallele zu den Phasen eines Innovationsprozesse von Invention (Idee), Innovation (soziales Geschäftsmodell) zur Diffusion (soziale Wirkung) ist offensichtlich. In dieser Perspektive kann Social
482 483 484 485 486 487 488 489 490
Vgl. Then et al. (2013), S. 11. Schröer/Strauch/Schmitz (2012), S. 208. Leadbeater (1997), S. 53. Vgl. a. a. O., S. 53. Vgl. a. a. O., S. 11. A.a.O., S. 59. Vgl. a. a. O., S. 60f. Vgl. Schröer/Strauch/Schmitz (2012), S. 208. Vgl. Dees/Guclu/Anderson (2002), S. 2.
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Entre- und Intrapreneurship somit im Kern als ein Innovationsmodell begriffen werden. Inkubatoren Bei genauer Betrachtung sind die Konzepte der Social Entre- und Intrapreneurship in der Praxis eng mit der Idee externer oder interner Innovationsinkubatoren verbunden. Inkubatoren stellen für das Innovationsgeschehen einen eigenen, dezidierten Kontext innerhalb oder außerhalb einer bestehenden Organisation bereit, in dem eine oder mehrere unternehmerisch handelnde Personen Innovationen zielgerichtet entwickeln können. Dabei ist nicht von Bedeutung, ob der Inkubator als solcher bezeichnet wird; entscheidend ist, dass ein organisationaler Kontext um einen Innovationsprozess herum entsteht oder für diesen geschaffen wird. Im Unterschied zu einem Forschungs- und Entwicklungsbereich werden hier nicht nur die Phasen der Invention und Innovation, sondern auch die Diffusion und das neue Geschäftsmodell in diesem Kontext verortet. Im Fall der externen Inkubatoren wird eine eigenständige Organisation durch einen Social Entrepreneur gegründet und geführt, im Fall eines internen Inkubators wird innerhalb einer bestehenden Organisation ein Bereich für Social Intrapreneurship eingerichtet und von der Organisationsroutine isoliert, in dem Mitarbeiter als Social Intrapreneure agieren können.491 In beiden Fällen wird somit der erwähnte organisationale Kontext für den eigentlichen Innovationsprozess geschaffen, der dann als Inkubator für Innovationen begriffen werden kann. Beispiele für Innovationsinkubatoren in Verbindung mit Sozialunternehmen sind das Labor für Diakonisches Unternehmertum der Mission Leben in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Hochschule Darmstadt oder die von Dessoy et al. vorgeschlagenen Innovationslaboratorien im Raum der katholischen Kirche.492 Zwischenfazit Klassisch-lineare Modelle, die sich im Sinne einer Strukturorientierung in der Aufbauorganisation wiederfinden, tendieren zu einer Verstärkung der Suchbarrieren, da Forschung sehr oft intradisziplinär organisiert ist, und durch die Dominanz einer Disziplin blinde Flecke der Organisation erzeugt werden. Sinnbarrieren werden in der Folge manifestiert, da zur Sinngebung der Innovation stark auf ein Referenzsystem fokussiert wird, anstatt die mögliche Vielfalt pluralistischer Organisationen mit einzubeziehen. Andererseits kann somit ein solches Modell mit geringeren Systembarrieren rechnen, da multirationale 491 Vgl. Then et al. (2013), S. 7f. 492 Vgl. Schröer/Bartl (2015), Dessoy et al. (2012).
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
Aushandlungsprozesse reduziert werden. Ebenfalls geringer ausgeprägt sind Diffusionsbarrieren, insbesondere wenn sich die Innovation im Rahmen bestehender Refinanzierungsmechanismen bewegt. Die Vermeidung konfliktträchtiger Aushandlungsprozesse und eine möglicherweise einfachere Refinanzierung lassen diesen Typus attraktiver erscheinen als er ist. Auch prozessorientierte Innovationsmanagementansätze greifen die Multirationalität sozialer Organisationen nicht explizit auf, da sie einen Schwerpunkt auf die Organisation und die Steuerung von Innovation legen. Dabei werden in der Regel der Umgang und die Bewertung von Ideen in den Fokus genommen, weniger die Fähigkeit einer Organisation, neue Ideen überhaupt erst zu generieren. Zudem markieren sie lediglich die Entscheidungsmomente im Innovationsprozess, greifen dabei jedoch nicht die für soziale Organisationen typischen Aushandlungsprozesse auf, ohne die eine Innovationsentscheidung nur schwerlich die Akzeptanz der Gesamtorganisation erreicht. Promotorenmodelle scheinen hingegen eher in der Lage, die Multirationalität sozialer Organisationen aufzugreifen. Sie thematisieren die damit verbundenen Innovationsbarrieren und bieten eine durchaus pragmatische Lösung zur Verringerung dieser Barrieren an. Dabei kann festgehalten werden, dass die betrachteten Barrieren des Nicht-Wissens, Nicht-Wollens und Nicht-Dürfens in der Regel auf der Ebene der Personen und somit häufig auf Seiten der Mitarbeitenden verortet werden.493 Personale Innovationsbarrieren werden somit mit personalen Innovationspromotoren adressiert. Dabei werden, anders als bei klassisch-linearen Ansätzen, wesentliche Teile des Innovationsgeschehen nun nicht in einem bestimmten Organisationsbereich oder einem Managementprozess verortet, sondern an bestimmten Rollen oder Funktionen, eben den Promotoren festgemacht. Jedoch laufen dadurch auch diese Modelle Gefahr, innovatives Handeln zu delegieren, anstatt Innovation zur Aufgabe der Organisation als Ganzes zu begreifen, wodurch das eigentliche Innovationspotential pluralistischer Organisation erst gehoben werden könnte. Promotoren können zwar als Grenzgänger in der Lage sein, Innovationsbarrieren zu überwinden oder wenigstens durchlässiger zu machen. Dabei hängt ihr Erfolg jedoch maßgeblich von der Fähigkeit der Organisation ab, die dafür erforderlichen Reflektions- und Lernprozesse zuzulassen und zu gestalten. Zu diesem Zweck müssen die Barrieren in Form von Widerständen den Beteiligten jedoch bewusst sein, was gerade für Such-, Sinn- und Systembarrieren oft nicht der Fall ist. Diese sind vielmehr in der Grammatik oder Kultur einer Organisation zu vermuten und sind somit zumindest teilweise latent und unbewusst. Um diese beobachtbar zu machen, ist eine Reflektionsfähigkeit der Organisation in Bezug auf sich selbst notwendig, die jedoch die Promotoren nur begrenzt herstellen können. 493 Vgl. Schneider (2015), S. 302ff.
Befähiger, Barrieren und Modelle sozialunternehmerischer Innovation
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Systemische Ansätze greifen diese Grammatik und Kulturaspekte einer Organisation auf. Bezogen auf die Such-, Sinn- und Systembarrieren bietet diese im Gegensatz zu struktur-, prozess- und personenorientierten Perspektiven tiefergehende Erklärungsansätze zur Entstehung der Innovationsbarrieren, indem diese als Barrieren zwischen unterschiedlichen Kulturen und damit Handlungslogiken oder Systemrationalitäten innerhalb einer gewachsenen Organisation verstanden werden können. Je ausgeprägter die kulturellen Unterschiede sind, umso weniger können sie durch Strukturen oder Promotoren überwunden werden. Das systemische Modell zielt auf die Selbstreflektionsfähigkeit der Organisation, um die Barrieren beobachtbar und somit bearbeitbar zu machen, liefert jedoch keine tieferen Erkenntnisse, wie genau dies in den pluralistischen Organisationen der Sozialwirtschaft geschehen kann. Entsprechend steht den Organisationen auf Grund fehlender empirischer Untersuchungen wenig spezifisches Orientierungswissen für Transformationen dieser Art zur Verfügung. Die bisherigen Diskurse zur Innovation in sozialwirtschaftlichen Organisationen liefern hier keine tragfähigen Ansätze. Das gilt auch für die systemische Perspektive, die in der Praxis häufig als zu komplex, kontraintuitiv und wenig pragmatisch wahrgenommen wird. Es stellt sich somit die Frage, wie in einem pluralen Kontext unterschiedlicher Rationalitäten die Innovationsbarrieren sinnvoll bearbeitet werden können. Inkubatorenmodelle kombinieren durch den Social Entre- oder Intrapreneur die Inkubatorstruktur mit personenorientieren, strukturorientierten und systemorientierten Innovationsansätzen und scheinen somit in der Lage, Innovationsbarrieren effektiver zu überwinden. Genauer gesagt werden die Innovationsbarrieren jedoch nicht überwunden, sondern vielmehr vermieden, indem ein Kontext geschaffen wird, in dem diese nicht oder nur in geringer Ausprägung vorhanden sind. Diese Vermeidung wird unter anderem auch dadurch möglich, weil im Kontext eines externen oder internen Inkubators die unterschiedlichen Rationalitäten weniger durch starke, selbstbewusste Sinngemeinschaften repräsentiert werden, wie dies in der gewachsenen Organisation eines etablierten Trägers der Fall ist. Dies mag die Attraktivität des Modells in der aktuellen Diskussion erklären. Allerdings können angesichts der bisher geringen Durchdringung des Sozialmarktes mit Konzepten dieser Art signifikante Diffusions- und Skalierungsbarrieren vermutet werden.494 Wie eingangs erwähnt, können die aufgeführten Ansätze in einem archetypischen Sinne verstanden werden. In der Praxis und im wissenschaftlichen Diskurs werden häufig Mischformen der unterschiedlichen Typen beobachtet. Beispielsweise können klassisch-lineare Strukturen mit Innovationsmanagementansätzen oder Promotorenmodelle mit systemischen und kulturorientier494 Vgl. Then/Scheuerle/Schmitz (2012), S. 5, Schmitz/Scheuerle (2013a), S. 109ff.
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
ten Ansätzen kombiniert werden, um die Schwachpunkte des jeweiligen Typus abzumildern. So kann ein möglicherweise interdisziplinär zusammengesetzter, dezidierter F& E-Bereich zur Ideengenerierung beitragen, während Promotoren Innovationsbarrieren zu überwinden helfen, und ein Innovationsmanagement die Steuerung und Entscheidungsmomente bereitstellt. Durch konsequente Umsetzung und erfolgreiche Innovationen, mit denen sich die Organisation und ihre Mitarbeiter identifizieren können, kann über einen solchen Weg langfristig auch die Innovationskultur einer Organisation gefördert werden.
2.4
Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf
Nachdem nun die zentralen Kategorien sozialunternehmerischer Innovation auf den Ebenen der theoretischen Begriffskonzeptionen (vgl. 2.2), der Rationalitäten im Kontext der Umwelt und der daraus resultierenden Sinngemeinschaften der Organisation (vgl. 2.1), sowie in den Konzepten von Befähigern, Barrieren und Modellen der Innovationsförderung in den Organisationen (vgl. 2.3) aus der vorhandenen Literatur herausgearbeitet worden sind, sollen diese weiter verdichtet und zusammengeführt werden. Es wird gezeigt werden, dass der multirationale Charakter der Organisation entscheidend auf Innovationsprozesse in Sozialunternehmen wirkt, und ohne eine Berücksichtigung desselben weite Diskursbereiche Gefahr laufen, fragmentarisch zu bleiben. Somit kann eine Forschungslücke ausgemacht werden, die im weiteren Verlauf der Arbeit für die empirische Untersuchung die erkenntnisleitende Grundlage bildet. Entsprechend gliedert sich dieses Kapitel in drei Abschnitte: – Die bisherigen Ergebnisse werden in Abschnitt 2.4.1 zusammengeführt und eine Topologie des Diskurses zur Innovation in Sozialunternehmen skizziert, in der die Multirationalität als relevante Hintergrundfolie erkennbar wird. – Abschnitt 2.4.2 reflektiert diese Erkenntnisse aus Sicht der Innovationsparadoxie (vgl. Kapitel 1.1) und stellt aus dieser Perspektive die Hauptthesen auf, die aus der bisherigen Untersuchung gewonnen werden können. – In Abschnitt 2.4.3 wird dann ausgehend von diesen Thesen die im Fokus dieser Arbeit liegende Forschungslücke vermessen und die Forschungsfrage für die dann folgende empirische Untersuchung präzisiert.
Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf
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2.4.1 Zusammenfassung: Topologie des Diskurses zur Innovation in Sozialunternehmen Ziel der vorangegangenen Kapitel war die Spurensuche nach multirationalen Mustern in den Diskurssträngen zur sozialunternehmerischen Innovation. Hierzu wurden der Umweltkontext, die wissenschaftlichen Begriffskonzeptionen und die Konzepte der Organisationen mit ihren Befähigern und Barrieren näher untersucht. Dabei konnte festgestellt werden, dass die multidimensionale Besonderheit sozialunternehmerischer Organisationen als Grundthema gerade auch in Innovationsprozessen durchscheint oder zutage tritt. Aus der Untersuchung der Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovation in ihren Umweltkontexten konnten fünf relevante Rationalitäten abgeleitet werden (vgl. Kapitel 2.1). Neben einer eigenen Handlungs- und Begründungslogik bringen diese einen je eigenen disziplinären wissenschaftlichen Hintergrund mit ein. Die Komplexität der Umwelt wird von den Organisationen in Form unterschiedlicher Sinngemeinschaften intern abgebildet, wodurch die Pluralität zur Hintergrundfolie des organisationalen Handelns und Entscheidens in den Organisationen wird. Dies gilt gerade in den mit Risiken, Unsicherheiten und paradoxen Zielen verbundenen Innovationsprozessen. Die Politik gestaltet die Rahmenbedingungen des Sozialsystems und fragt nach politischen Mehrheiten für ihre Gestaltungsaufgabe und folgt so der Logik des Machterhalts oder -gewinns. Dabei unterliegt sie (oder unterwirft sich) häufig einer ökonomischen Logik, die in zunehmenden Maße viele Gesellschaftsbereiche dominiert. Dennoch geht es den Akteuren dieser Sinngemeinschaft nicht um den ökonomischen Gewinn an sich, sondern um politische Mehrheiten zur Sicherung des Innehabens einer Machtposition. Für ihre Gestaltungsaufgabe nutzt sie dabei Gesetze und Verordnungen und weist somit eine enge Kopplung mit dem Rechtssystem auf. Die Sozialprofessionen stellen den Adressaten sozialer Hilfe und die spezifischen Bedarfslagen in den Vordergrund und fragen nach Mittel, Methoden und Rahmenbedingungen wirksamer Hilfe. Sie folgt damit einer Logik des Helfens und Heilens. Sie berufen sich dabei auf eine normative Motivation, ist mit dieser aber nicht deckungsgleich. Ihr Selbstverständnis ist das einer Profession und Disziplin, die über das Wissen und die Gestaltungsfähigkeit wirksamer Hilfe verfügt. Sie ist damit eng verwandt mit einer medizinischen Professionslogik, der in Komplexträgern mit medizinischen Einrichtungen eine vergleichbare Bedeutung zukommt. Die Ökonomie folgt einerseits der Logik von Effizienz und Effektivität vor dem Hintergrund der Mittelknappheit. Verantwortliches Haushalten und Wirtschaften ist somit auch jenseits von Gewinnmaximierung Teil der ökonomischen Rationalität. Über die Logik des Marktes, der auf Grund des sozial-
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
politisch induzierten ökonomischen Paradigmas auch im Sozialbereich Einzug gehalten hat, werden zudem Wettbewerb, Ertrag und Austauschbeziehungen als Gestaltungsfelder und Zielgrößen in den Sozialbereich hineingetragen, die zur Existenzsicherung von den Sozialunternehmen berücksichtigt werden müssen. Die Theologie und mit ihr die Ethik transportiert eine Logik der Normen und Werte und bietet unter anderem in Dogmatik und Spiritualität Begründungszusammenhänge menschlichen Lebens und Handelns. Sie stellt die normative Reflektionsebene dar, an der diakonische Unternehmen ihre Identität festmachen und überprüfen. Sie wirkt dabei der Entkopplung einer instrumentellen Rationalität von Ökonomie und Technologie von Normen und Werteorientierung entgegen. Zugleich weist die Theologie über die Beziehung zwischen Menschen hinaus auf die Unverfügbarkeit der existenziellen Themen und Fragen nach Gott, Tod, Leiden und Ewigkeit hin. Die Technologie folgt einer instrumentellen Logik der Funktion im Sinne von Machbarkeit und Wirksamkeit. Im Zuge der Technologisierung nahezu aller Gesellschaftsbereiche kann sie nicht mehr singulär der Ökonomie untergeordnet werden, sondern tritt eigenständig jenseits ökonomischer Kriterien mit den übrigen Rationalitäten in Interaktion. Sie stellt für diese dabei gleichermaßen Instrument wie Herausforderung dar. Sozialunternehmerische Innovation findet sich somit in einem Spannungsfeld von wenigstens fünf unterschiedlichen konkurrierenden und interagierenden Logiken wieder. Folgt man der Argumentation, dass diese Komplexität der Umwelt über die mit ihrem jeweiligen Referenzsystem gekoppelten Sinngemeinschaften in die Organisation sozialer Unternehmen hineingetragen wird (vgl. Kapitel 1), findet sich ein Spiegelbild dieser Spannungen und Friktionen auch in der Organisation selbst zwischen ihren Sinngemeinschaften wieder (vgl. Abbildung 2). In eben diesem Spannungsfeld liegt zu einem wesentlichen Teil die Innovationsparadoxie pluralistischer Organisationen begründet, da das Zusammentreffen der unterschiedlichen Kulturen, Wissensbestände und Logiken sich ebenso als innovationsfördernd wie -hemmend herausstellen kann. Im Zentrum der Innovationsprozesse befinden sich hingegen die Menschen mit einem Unterstützungsbedarf, die Adressatinnen und Adressaten Sozialer Arbeit. Bereits in den Bezeichnungen, wie diese Personen bei unterschiedlichen Gelegenheiten genannt werden, werden die verschiedenen Rationalitäten erkennbar : Für die Theologie ist die Person der Nächste oder Mitgeschöpf, für die Aufgabenprofessionen Klientin oder Patient. Für die Politik Bürger oder Leistungsempfänger, für die Ökonomie Kundin. Und für die Technologie Nutzer oder Endanwender. Sie sind nicht einer Rationalität zuzuordnen. Sie befinden sich letztlich selbst im Spannungsfeld, durch das das Sozialsystem geprägt ist. Sie sind somit sowohl Adressaten als auch Akteurinnen der Innovationsprozesse sozialer Unternehmen. Fokussiert man, wie die vorliegende Untersuchung, auf
Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf
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die Ebene der Organisation, dann treten sie je aus Sicht der unterschiedlichen Sinngemeinschaft in Erscheinung. Entsprechend der jeweiligen Rationalität erlangen sie zentrale Bedeutung und Relevanz, obwohl sie selbst nicht Mitglieder der Organisation sind.
Abbildung 2: Multirationales Spannungsfeld sozialunternehmerischer Innovation
Auch das Wesen und das Ziel von Innovationen stellen sich aus den unterschiedlichen Perspektiven dieser Spannungsfelder höchst unterschiedlich dar. In der Auseinandersetzung um einen geeigneten Innovationsbegriff wird sichtbar, dass es im Kern um die Positionsbestimmung unterschiedlicher Rationalitäten geht. Dabei wird Innovation im Kontext sozialer Unternehmen in der Regel an den Begriffskonzeptionen sozialer Innovation angelehnt, und somit in Abgrenzung zu einem industriell geprägten Innovationsbegriffs konzipiert. Die konstituierenden Leitunterscheidungen technisch/sozial und ökonomisch/ sozial werden dabei häufig bewusst oder unbewusst übernommen. Jedoch werden durch diese Unterscheidungen auf der Ebene des Innovationsobjekts technische Artefakte von einem sozialen Innovationsbegriff ausgeschlossen, auf der Ebene der Zieldimensionen werden ökonomische Referenzen als nicht zur sozialen Innovation gehörend angesehen. Damit greifen beide Leitunterscheidungen vor dem Hintergrund sozialer Unternehmen zu kurz (vgl. 2.1.1 und
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Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
2.1.2), da diese in ihrer Leistungserbringung auch technische Infrastrukturen und Lösungen verwenden und in ihren Organisationszielen auch ökonomische Kriterien berücksichtigen müssen. Auf Grund ihres Wesens als pluralistische Organisation müsste für sie ein Innovationsbegriff zur Verfügung stehen, der eine Abgrenzung von für sie relevanten Rationalitäten als konstituierende Unterscheidung vermeidet. Die abstraktere Konzeption einer Unterscheidung in Relationen und Referenzen versucht eben dies, indem sie die unterschiedlichen Rationalitäten in einem post-industriellen Innovationsbegriff integriert (vgl. 2.2.3). Die Dichotomie zwischen technischen und sozialen Innovationen wird dabei vermieden, und unterschiedliche Zieldimensionen werden berücksichtigt. ›Sozial‹ ist dann nur eine unter anderen Referenzen von Sozialunternehmen, wenngleich eine sehr zentrale. Die reflexive Innovation ist somit in der Lage, den pluralistischen Charakter der Organisationen im Innovationsbegriff aufzugreifen. Allerdings berücksichtigt dieser Ansatz nicht die Aushandlung unterschiedlicher Referenzen und ihrer Rationalitäten innerhalb einer Organisation, da er seinen Ursprung in einer sozialwissenschaftlichen Perspektive der Gesellschaft hat, und nicht unmittelbar auf die Ebene pluralistischer Organisationen fokussiert.
Abbildung 3: Unterscheidungen sozialunternehmerischer Innovationsbegriffe
Es kann somit diagnostiziert werden, dass in der Literatur kein Innovationsbegriff zur Verfügung steht, der dem multirationalen Charakter sozialer Unternehmen gerecht wird. Entsprechend fragmentarisch und unscharf bleibt häufig die Verwendung des Innovationsbegriffs in sozialunternehmerischen Kontexten. In der Untersuchung der Befähiger und Hemmnisse wurde festgestellt, dass sie in ähnlichen Kategorien eingeordnet werden können, die entweder eine innovationsbefähigende oder eine innovationshemmende Ausprägung haben können (vgl. 2.3.1, 2.3.2). Beispielsweise können Führung, Kultur oder Prozesse einer Organisation mal als Befähiger oder mal als Hemmnisse in Erscheinung treten. Betrachtet man diesen Zusammenhang ressourcenorientiert, lassen diese Kategorien als Befähiger bezeichnen, die mehr oder weniger innovations-
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freundlich gestaltet sind.495 Dabei können insgesamt fünf Kategorien unterschieden werden. Kompetenzen und Ressourcen stellen die Grundkategorien von Innovation dar. Ohne Kompetenzen (»was wir können«) und Ressourcen (»was wir haben«), ohne Wissen um den Innovationsgegenstand und Informationen über relevante Umwelten, sowie zeitliche, personelle und finanzielle Ressourcen sind Innovationen in sozialen Organisationen nicht erwartbar. Sie sind somit die notwendigen Voraussetzungen eines jeden Innovationsprozesses oder -modells in Organisationen.496 Die Kompetenzen, und damit das Wissen der Organisation, bilden den interdisziplinären Wissenskorpus (vgl. 1.1). Führung und Mitarbeiter einer Organisation können in einer personalen Kategorie zusammengefasst werden, in der es vorrangig um Engagement, Vorbildfunktion, Lernbereitschaft sowie ihre Fähigkeit zur Moderation und Integration unterschiedlicher Perspektiven und Disziplinen geht, die in die Innovationsprozesse zu integrieren sind, um das Wissen der Gesamtorganisation nutzbar zu machen. Kommunikation und Prozesse bilden die prozessualen Kategorien und umfassen somit Kommunikations- und Managementprozesse, die innerhalb einer Organisation oder zwischen der Organisation und ihrer Umwelt ablaufen. Innerhalb der Organisation geschieht Kommunikation auch zwischen den Sinngemeinschaften, die durch Konflikte und Barrieren oder durch Kooperation und gegenseitig Inspiration geprägt sein kann. Die latenten Kategorien greifen die häufig unbewussten Phänomene auf, die in Organisationen beispielsweise mit den vorherrschenden Kulturen, Rationalitäten, Sinngemeinschaften und emergenten Strukturen verbunden sind, die durch soziale Prozesse herausgebildet werden. Im Gegensatz dazu umfassen die manifesten Kategorien die sichtbaren Strukturen und Rollen, wie sie z. B. in einer Aufbau- und Ablauforganisation dokumentiert sind, in Stellenbeschreibungen und Dokumenten, letztlich aber auch in IT-Systemen oder anderen Infrastrukturen. Sie dokumentieren auch die Hierarchie der Organisation und damit die (zumindest formale) Machtverteilung, beispielsweise auf welcher Hierarchieebene welche Sinngemeinschaft
495 Diese Sicht ist eng verbunden mit dem »resource-based view« in der Management- und Strategieforschung. Dort wird von resources und capabilities einer Organisation gesprochen, die als Grundlage jeder Unternehmensstrategie dienen: »The resources and capabilities of a firm are the central considerations in formulating its strategy : they are the primary constants upon which a firm can establish its identity and frame its strategy, and they are the primary sources of the firm’s profitability« (vgl. Grant (1991), S. 133). 496 Wenngleich Spontaninnovation oder zumindest -invention im Sinne der ›Schöpfungstheorie‹ der Innovation nie ausgeschlossen werden kann.
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vertreten ist. Die unterschiedenen Kategorien lassen sich somit, wie in Abbildung 4 gezeigt, verdichten.
Abbildung 4: Befähiger sozialunternehmerischer Innovation
Die Pluralität der Rationalitäten wirkt sich entsprechend auf alle Bereiche des Innovationsprozesses aus. Sie prägt die Mitglieder der unterschiedlichen Sinngemeinschaften, die Kommunikationsprozesse, die Kulturen, Strukturen und Prozesse der Organisation. Der interdisziplinäre Wissenskorpus, die gegenseitige Inspiration und Irritation, die kulturelle Vielfalt wären ohne diese Tiefenstruktur nicht gegeben, und das Innovationspotential entsprechend geringer (vgl. 2.3.1). Zugleich befördert diese Tiefenstruktur die Grenzverläufe, Konflikte und Blockaden zwischen den Logiken in Sozialunternehmen in einer Ausprägung, die in dieser Form einzigartig in der Organisationslandschaft sind (vgl. 2.3.2). Auf welchen Feldern die Organisation nach Innovationen und Ideen sucht, welche Zieldimensionen für die Sinngebung von Bedeutung sind, wie unterschiedliche Rationalitäten im Organisationssystem integriert werden können und wie anschlussfähig die Innovationen an relevante Umwelten sind und dort Verbreitung finden, wird maßgeblich von dieser Tiefenstruktur und dem Umgang der Organisation damit beeinflusst. Entsprechend können wesentliche Innovationsbarrieren auf diese Tiefenstruktur zurückgeführt werden. Dabei wird deutlich, dass sie von den Hemmnissen zu unterscheiden sind. In der hier verwendeten Interpretation sind Hemmnisse als geringe Ausprägung innovationsrelevanter Merkmale der Organisation zu verstehen. Die Barrieren sind hingegen struktureller und systematischer Natur. Sie existieren in jedem (multirationalen) Innovationsprozess, und können beispielsweise durch Stärkung der Befähiger und geeignete Konzepte einer Organisation überwunden oder durchlässiger werden. In diesem Sinne können die Barrieren als ›Anfrage‹ an eine Organisation verstanden werden (vgl. Abbildung 5). In dieser Systematisierung wird deutlich, wie eng die Innovationsbarrieren in Sozialunternehmen mit Fragen des Zusammenspiels unterschiedlicher Perspektiven und Rationalitäten verknüpft sind.
Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf
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Abbildung 5: Barrieren sozialunternehmerischer Innovation
Die in Kapitel 2.3.3 unterschiedenen organisationalen Modelle der Innovationsförderung können somit als Methoden und Konzepte verstanden werden, diese Fragen aufzugreifen und die Innovationsbarrieren zu bearbeiten. Dabei setzen sie jeweils unterschiedliche Schwerpunkte auf die im Modell verwendeten Befähiger der Organisation. Lineare Modelle zielen auf die manifesten Strukturen und Prozesse, Promotorenmodelle auf die Rollen und Funktionen der verschiedenen Promotoren, systemische Modelle adressieren die latenten Merkmale sozialer Prozesse und Kulturen. Social Entre- und Intrapreneurship stellen die unternehmerische Persönlichkeit in den Vordergrund, während Inkubatoren diesen Personen einen Kontext bereitstellen, in dem Strukturen, Prozess, Rollen, Funktionen und Kultur auf optimale Innovationsbedingungen hin ausgelegt sind (vgl. Abbildung 6).
Abbildung 6: Modelle sozialunternehmerischer Innovationsförderung
In den jeweiligen Zusammenfassungen der bisherigen Untersuchungsergebnisse konnte gezeigt werden, dass der multirationale Charakter sozialer Unternehmen auf jeder Ebene des Innovationsdiskurses eine materiale Rolle spielt. Aus den herausgearbeiteten Kategorien und Grundunterscheidungen lässt sich zusammenfassend eine Topologie des Diskurses zur sozialunternehmerischen Innovation skizzieren (vgl. Abbildung 7), in der die Multirationalität von Umwelt und Organisation als Hintergrundfolie dient, und in der die zentrale Bedeutung dieser Spezifik für Innovationsprozesse sichtbar wird. Vor dieser Folie deuten sich dann Ansätze zur Beantwortung der zu Beginn der Arbeit aufgeworfenen Fragen an, was Sozialunternehmen bei aller Unter-
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Abbildung 7: Topologie des Diskurses zur Innovation in Sozialunternehmen
schiedlichkeit verbindet (eben die Multirationalität), warum sie mal innovativ, mal restaurativ erscheinen (je nachdem wie sie mit der eigenen Vielfalt umgehen und diese fruchtbar nutzen, durch sie blockiert werden oder sie verweigern), von welcher Art die Innovationen sind oder sein müssten, die sie hervorbringen (multidimensional, anschlussfähig an unterschiedliche Logiken und Referenzen), und wie sie diese erreichen könnten (durch die Entfaltung der Innovationsparadoxie). Diese Perspektive birgt somit ein heuristisches Potenzial zum Verständnis der Komplexität und Subtilität des Innovationsgeschehens in der Sozialwirtschaft, das sich ohne diese Hintergrundfolie nicht erschließen lässt.
Kritische Reflektion: Diskurstopologie und empirischer Forschungsbedarf
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2.4.2 Reflektion: Thesen zur Multirationalität in sozialunternehmerischen Innovationsprozessen Aus dem Ergebnis der Spurensuche nach multirationalen Mustern im Innovationsdiskurs zu Sozialunternehmen können für den weiteren Verlauf der Arbeit zentrale Thesen für das Verhältnis von Multirationalität und Innovation entwickelt werden, die den bisherigen Diskurs aufgreifen, kritisch reflektieren und über ihn hinaus auf den weiteren Forschungsbedarf hinweisen. 1) Sozialunternehmen können nicht nicht-multirational sein. Organisationen, die in der Sozialwirtschaft tätig sind, sind unabhängig von ihrem Selbstverständnis an unterschiedliche Funktionssysteme der Gesellschaft gekoppelt. Sie können keinem singulärem System zugeordnet werden, sondern benötigen für ihr Überleben als Organisation in der gegebenen Form die Legitimation mehrerer Referenzsysteme, die sie in ihrem Handeln und Entscheiden in Einklang bringen müssen. Damit stellen sie einen Sonderfall dar, da sie auf der Ebene der Organisationen der einzige Ort sind, an dem diese unterschiedlichen Logiken innerhalb eines Systems zusammentreffen. Diese Besonderheit kann als wichtiger Teil ihrer Existenzbegründung angesehen werden: Eben weil die von ihnen bearbeiteten Problemlagen aus Sicht einer einzelnen Logik unlösbar erscheinen, müssen sie in ihrem Kern multirational sein. Nur in dieser Pluralität konnten und können nachhaltige Lösungen entwickelt werden, die die erforderliche fachliche, ethische, ökonomische und politische Akzeptanz finden. Sie berücksichtigen dabei die blinden Flecke der jeweiligen Rationalitäten, und machen so Spannungen und Widersprüche sichtbar. Auf Grund ihrer eigenen Multirationalität haben sie das Potential, in dieser Widersprüchlichkeit zu handeln und innovativ zu werden. Ihre Multirationalität wird somit zur wichtigsten Ressource und zugleich zur Erwartung an ihre Innovationsfähigkeit. Dieses Potential und die damit verbundenen Erwartungen gehen weit über Optimierungen des Bestehenden oder die Innovationen in einzelnen Disziplinen hinaus. 2) Sozialunternehmen werden ihrem spezifischen Innovationspotential häufig nicht gerecht. Dem so verstandenen Potential und den damit verknüpften Erwartungen (und somit einem der Ursprünge ihrer Entstehungsgeschichte) werden Sozialunternehmen jedoch vielfach nicht gerecht. Zu eng orientieren sich viele Organisationen mittlerweile an einer Refinanzierungslogik und folgen einer Strategie des »Gemacht wird, was bezahlt wird«. Sie vermeiden Unsicherheiten und reagieren oft nur auf äußeren Druck. Ökonomie im Kontext sozialer Unternehmen be-
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deutet in der Regel eher Controlling statt Entwicklung neuer Geschäftsmodelle. Technologie ist weit öfter notwendiges Übel statt strategisches Instrument. Mit dem validen Argument der Versorgungssicherheit wird jegliches Risiko vermieden, das jedoch unvermeidbar zu Innovationsprozessen dazugehört. Die vorherrschende Mittelknappheit in der Refinanzierung durch die Sozialsysteme begründet für Sozialunternehmen häufig die fehlende Innovationskraft, statt alternative Finanzierungsmodelle, neue Geschäftsfelder oder die auch im Sozialbereich mögliche Erwirtschaftung zur Innovation notwendiger Gewinne anzustreben. Solche sozialen Organisationen, die durch dieses Muster beschrieben werden können (was natürlich nicht auf alle zutrifft), verweigern sich somit letztendlich ihrer eigenen Multirationalität. Sie entwickeln keine echte unternehmerische Kompetenz, suchen nicht nach politischen Gestaltungsmöglichkeiten, sind im Kern technologieavers, beharren auf dem Bestehenden oder Vergangenen und laufen Gefahr, wie Wöhrle es formuliert, sich in der Komfortzone des »gemütlichen Elends« immer weiter sinkender Budgets einzurichten (vgl. 2.3.2). Indem sie sich so ihrer eigenen Multirationalität verweigern, riskieren sie letztendlich ihre Existenz als Sozialunternehmen. In jedem Fall werden sie jedoch ihrem spezifischen Innovationspotential und den Erwartungen der Gesellschaft an sie nicht gerecht. 3) Sozialunternehmerische Innovationsprozesse können nicht nicht-multirational sein. Von sozialunternehmerischen Innovationen ist erst dann zu sprechen, wenn die Innovation selbst multirational ist. Beispielsweise ist in diesem Sinne ein neues Pflegekonzept allein keine Innovation eines Sozialunternehmens. Erst wenn es auch aus ethischer, ökonomischer, sozialpolitischer und technischer Perspektive nachhaltig und umsetzbar ist, beispielsweise in Verbindung mit einem nachhaltigen, sich selbst tragenden Geschäftsmodell, hat es das Potential zu einer sozialunternehmerischen Innovation. Laufen die Prozesse nur in einer Disziplin, in einer Sinngemeinschaft ab, so kann nach dieser Definition nicht von einer sozialunternehmerischen Innovation gesprochen werden. Dies können dann zwar sozialarbeiterisch, ökonomisch oder vielleicht auch theologisch wichtige Neuerungen und Weiterentwicklungen sein, aber eben keine, zu denen spezifisch ein Sozialunternehmen in der Lage ist. Die ›hohe Kunst‹ sozialunternehmerischer Innovation ist es, Lösungen für Probleme zu entwickeln, die aus Sicht einer einzelnen Logik, einer einzelnen Disziplin unlösbar erscheinen. Sie sind somit im Kern immer interdisziplinär. Sozialunternehmerische Innovation ist dadurch gekennzeichnet, dass sie an multiple Logiken zumindest anschlussfähig, wenn nicht sogar für die unterschiedlichen Perspektiven ›neu‹ ist. Daher bekommen es Sozialunternehmen in ihren
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Innovationsprozessen an zentraler Stelle immer mit ihrer eigenen Multirationalität und daher mit der Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen zu tun. Der Umgang damit entscheidet wesentlich über Gelingen oder Scheitern der Innovation mit. 4) Innovation und Innovationsprozesse sind ohne Berücksichtigung der pluralistischen Organisationsspezifik in der Theorie letztendlich nicht verstehbar und in der Praxis nicht gestaltbar. Entsprechend erscheint es offenkundig, dass sowohl die wissenschaftliche Betrachtung, als auch die praktische Gestaltung des Innovationsgeschehens in Sozialunternehmen notwendigerweise die pluralistische, interdisziplinäre Tiefenstruktur der Organisationen mit in den Blick nehmen muss. Die Komplexität und Subtilität, die Potentiale und Spannungen, Erwartungen und Blockaden, die mit Innovationen im Sozialbereich verbunden sind, können ohne Berücksichtigung der multirationalen Organisationsspezifik nicht verstanden werden. Ohne eine solche analytische Ebene können die Dynamiken und Interaktionen zwischen den unterschiedlichen Sinngemeinschaften nicht hinreichend betrachtet werden. Ohne ein Verstehen und Sichtbarmachen der zu Grunde liegenden Zusammenhänge erscheint Innovation in der Organisationspraxis wahrscheinlich als schwierig, wenn nicht sogar vollständig unmöglich, da eine notwendige Gestaltungsebene fehlt, auf der interdisziplinär und multidiskursiv die unterschiedlichen Perspektiven in einen Innovationsprozess integriert werden können. Zwangsläufig bleibt das Wissen über Innovation in Sozialunternehmen ohne hinreichende Betrachtung dieser Spezifik unvollständig. 5) Der Innovationsdiskurs zu Sozialunternehmen berührt vielfach die multirationale Organisationsspezifik, ohne diese jedoch selbst hinreichend zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung zu machen. Unbestreitbar findet der multirationale Charakter im Diskurs ebenso Berücksichtigung wie die daraus resultierenden Spannungsfelder, in denen sich die Organisationen bewegen. In Bezug auf Innovation wird jedoch in erster Linie auf die darauf zurückzuführenden Hemmnisse und Barrieren geschlossen. Kaum Beachtung findet hingegen die daraus entstehende Dynamik innerhalb der Organisationen während ablaufender Innovationsprozesse, und nahezu gänzlich unerwähnt bleibt in der wissenschaftlichen Betrachtung sozialer Unternehmen das damit verbundene einzigartige Innovationspotential. Während die Spurensuche auf jeder Ebene des Innovationsdiskurses deutliche Muster der Multirationalität zu Tage gefördert hat, wird sie selbst nicht oder nur in Ansätzen zum Gegenstand der wissenschaftlichen Betrachtung gemacht, sondern ledig-
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lich implizit mitgeführt. Zwar können und werden aus angrenzenden Disziplinen Anleihen gemacht, wie beispielsweise aus der systemischen Organisationstheorie, aus der Soziologie mit Systemtheorie, Neo-Institutionalismus und soziale Praktiken oder dem Konzept des multirationalen Managements. Jedoch werden diese bisher weder konsequent in den Diskurs miteinbezogen und auf Innovationprozesse sozialer Unternehmen übertragen, noch findet eine intensive empirische Innovationsforschung unter Berücksichtigung der Dynamik der unterschiedlichen Sinngemeinschaften mit ihren jeweiligen Rationalitäten statt. 6) Es fehlt eine geeignete Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene, die die Analyse und Integration der Multirationalität gleichermaßen erlaubt. Als eine Konsequenz der fehlenden wissenschaftlichen Betrachtung ist zu diagnostizieren, dass bisher keine passende Innovationskonzeption für Sozialunternehmen zur Verfügung steht. Zwar existieren eine Vielzahl sozialer Innovationsbegriffe, die jedoch ebenso wenig in ihrer Anlage unterschiedliche Rationalitäten integrieren, wie dies bei technisch-ökonomischen Begriffen der Fall ist. In beiden Fällen wird von einer dominanten Logik in Innovationsprozessen ausgegangen, die so in Sozialunternehmen nicht vorausgesetzt werden kann. Ansätze einer post-industriellen Innovationskonzeption leisten zwar diese Integration unterschiedlicher Referenzen, sind jedoch in ihrer bisherigen Form auf der Makroebene der Gesellschaft verortet und nicht ohne Weiteres auf die Mesoebene der Organisationen übertragbar. Können auf der Makroebene die verschiedenen Referenzen noch relativ unabhängig parallel nebeneinander stehen, produzieren sie in den Organisationen Spannungen und Zielkonflikte, die eine Innovationskonzeption für Sozialunternehmen aufgreifen müsste. Die Grundlage der post-industriellen Innovationskonzeptionen müsste somit um die Mesoebene der Organisationen erweitert werden, um sie zu einer Konzeption sozialunternehmerischer Innovation weiterentwickeln zu können. 7) Die in der Literatur diskutierten Modelle der Innovationsförderung vernachlässigen in weiten Teilen die mit der Multirationalität einhergehende Paradoxie sozialunternehmerischer Innovation und stellen den Organisationen entsprechend wenig Orientierungswissen zur Verfügung. Gleichfalls als Folge der fehlenden wissenschaftlichen Thematisierung multirationaler Innovationsprozesse kann ein Mangel geeigneter Modelle zur Innovationsförderung in Sozialunternehmen festgestellt werden. Zwar bieten die meisten Modelle Ansätze zur Überwindung von Innovationsbarrieren an, führen diese Barrieren jedoch nicht auf die pluralistische Organisationsspezifik zurück. Selbst Modelle, die hierzu das Potential besitzen, wie beispielweise
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Ansätze des systemischen Innovationsmanagements und der Social Entrepreneurship, bleiben im Diskurs häufig an der Oberfläche und tauchen nicht in die multirationale Tiefenstruktur ein, die den spezifischen Innovationsbarrieren sozialer Unternehmen zu Grunde liegt. Entsprechend finden Sozialunternehmen für ihre Innovationspraxis nur wenig Orientierungswissen für den Umgang mit der eigenen Organisationsspezifik, das auch das besondere Innovationspotential pluralistischer Organisationen mit einschließt.
2.4.3 Forschungslücke und Forschungsfrage Die vorgestellten Thesen weisen auf einen Forschungsbedarf hin, da im Vergleich zur Bedeutung der Multirationalität das vorhandene Wissen über die zu Grunde liegenden Zusammenhänge in sozialunternehmerischen Innovationsprozessen wenig ausgeprägt ist. Dieses Wissen ist jedoch als eine Voraussetzung für die wissenschaftliche Entwicklung sozialunternehmerischer Begriffskonzeptionen und Innovationsmodelle anzusehen, die wiederum zur Gestaltung einer innovativen Organisationspraxis beitragen können. Um die so identifizierte Forschungslücke zu bearbeiten, soll in der Folge die der Arbeit zugrunde liegende Forschungsfrage verfeinert und präzisiert werden. Zu diesem Zweck können zunächst einige hinführende Fragen formuliert werden, die zur Vermessung der Forschungslücke dienen: a) Wie äußern sich unterschiedliche Rationalitäten, beziehungsweise wo und wie werden sie im organisationalen Innovationsprozess erkennbar? b) Wie werden sie in die Entwicklung des Neuen integriert, welche Rolle spielen sie in der organisationalen Sinngebung einer Innovation? c) Wie interagieren, kooperieren, inspirieren sich, ignorieren sich, konkurrieren oder blockieren sich unterschiedliche Rationalitäten? d) Welche Friktionen, Barrieren, Potentiale und Befähiger entstehen dabei, und wie können diese verortet und beschrieben werden? e) Welche Gestaltungsmöglichkeiten nutzen Führung und Organisation im Umgang mit unterschiedlichen Rationalität in Innovationsprozessen? f) Wie werden Diskurse und Aushandlungsprozesse zwischen unterschiedlichen Rationalitäten gestaltet? g) Wie wirken sich in Summe die Rationalitäten, ihre Interaktion und der organisationale Umgang mit ihnen auf den Innovationsprozess aus? Aus diesen Fragestellungen lassen sich vier analytische Ebenen unterscheiden, über die sich die Forschungslücke erstreckt. Erstens kann eine strukturelle Ebene identifiziert werden, auf der die beteiligten Rationalitäten, ihre Funktionen und Gewichtungen im Innovationsprozess identifiziert und verortet
126
Multirationalität in sozialunternehmerischer Innovation
werden. Welche relevanten Referenzsysteme und damit Sinngemeinschaften in Organisationen spielen in den Tiefenstrukturen der Innovationsprozesse sozialer Unternehmen eine Rolle? Zweitens ist eine Beziehungsebene auszumachen, auf der die Interaktionen und Dynamiken zwischen den Rationalitäten mit ihren Barrieren und Potentialen sichtbar werden. Wie konkurrieren, kooperieren, verhandeln die unterschiedlichen Rationalitäten in Innovationsprozessen? Auf der dritten Ebene wird danach gefragt, wie Führung und Organisationen diese Dynamiken und Beziehungen gestalten und bearbeiten können. Welche Gestaltungsmöglichkeiten haben Management und Organisation, wodurch können Barrieren überwunden und Potentiale gehoben werden? Und viertens eine Ebene, auf der gefragt wird, wie diese Zusammenhänge in Innovationsprozessen gebündelt werden und welche Bedeutung für sozialunternehmerische Innovation die Multirationalität und ihre Bearbeitung dabei haben. Genauer : wie die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen entfaltet wird. Von besonderem Interesse ist somit zusammenfassend die Frage, wie Sozialunternehmen Innovation vor dem Hintergrund der eigenen Multirationalität gestalten, und mit welchen Friktionen und Potentialen sie es dabei zu tun bekommen. Dem Prozess des Organisierens kommt als eigentliche Gestaltungsebene dabei eine zentrale Rolle zu. Somit kann die Forschungsfrage präziser formuliert werden: »Wie organisieren Sozialunternehmen Innovationsprozesse unter Berücksichtigung multipler Rationalitäten und den daraus entstehenden Potentialen und Friktionen?«
3
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
Die im vorherigen Kapitel formulierte Forschungsfrage ist dazu geeignet, in ihrer Beantwortung einen wissenschaftlich und praktisch relevanten Beitrag zur Schließung der beschriebenen Forschungslücke zu leisten. Ausgehend von der Beobachtung, dass in der Organisationspraxis interdisziplinäre, multirationale Innovationsprozesse stattfinden, empfiehlt sich für die Bearbeitung der Fragestellung ein empirischer Forschungsansatz als Beobachtung der Praxis im Sinne einer gegenstandsbezogenen Theoriebildung, der im Folgenden unternommen wird. Zu diesem Zweck ist zunächst eine geeignete Theoriearchitektur zu begründen und zu erarbeiten, die es erlaubt, die Organisationspraxis angemessen zu untersuchen. Hierfür wird eine Organisationstheorie benötigt, die in der Lage ist, die Organisation in ihrer Pluralität von Rationalitäten und Sinngemeinschaft zu beobachten, und die darin ablaufenden Innovationsprozesse vor diesem Hintergrund zu untersuchen. Voraussetzung für die begründete Festlegung auf ein der Fragestellung angemessenes Theorieinventar ist zunächst die Klärung der erkenntnistheoretischen Position, die jeder wissenschaftlichen Forschung zugrunde liegt.497 Daher werden in der Folge die epistemologischen und organisationstheoretischen Grundpositionen beschrieben und begründet, die als metatheoretisches Fundament der geplanten Untersuchung dienen. Dieses Kapitel trägt somit zur Explikation der Beobachterkategorien bei, mit denen der Forscher seinen Untersuchungsgegenstand betrachtet.498 – In Kapitel 3.1 wird eine konstruktivistische Position als axiomatischer Kern der Arbeit eingeführt, sowie ihre Implikationen für die weitere Theoriewahl mit Blick auf die Fragestellung dargelegt und begründet. – Daran anschließend wird eine systemtheoretische Perspektive auf Organisationen als angemessene Metatheorie für die Bearbeitung der Forschungsfrage gewählt, und die zentralen Begriffe und Zusammenhänge einer syste497 Siehe hierzu u. a. Sander/Rüegg-Stürm/Wyss , S. 172f., Rüegg-Stürm (2001), S. 19, Simon (2007). 498 Vgl. Tuckermann (2013), S. 90.
128
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
mischen Organisationstheorie wie Beobachtung, Kommunikation, Organisation und Umwelt eingeführt (Kapitel 3.2 und 3.3). – Die beiden zentralen Begriffe der Forschungsfrage, Multirationalität und Innovation, werden dann vor dem Hintergrund einer systemischen Organisationstheorie entwickelt und für die weitere Untersuchung aufbereitet (Kapitel 3.4).
3.1
Entität oder Konstruktion?
Die Frage nach der eingenommenen erkenntnistheoretischen Position ist von zentraler Bedeutung für die Theorie- und Methodenwahl, sowie für die Einordnung der Untersuchungsergebnisse. Je nachdem wie man Begriffe der Organisation, Innovation und Multirationalität inhaltlich auflädt, ergeben sich in der Untersuchung unterschiedliche Erkenntnisse und Interpretationen derselben. Die Frage stellte sich nicht, gäbe es nur die eine mögliche Position, von der aus Wissenschaft betrieben werden könnte. Jedoch ist »die Einheitsvorstellung von Wissenschaft (…) genauso verloren gegangen wie die Vorstellung der Wissenschaft als Hüterin objektiven Wissens«.499 Im Kern geht es somit um den Zusammenhang zwischen Welt bzw. Wirklichkeit, Erkennen und Wissen. Im Verlauf der Wissenschaftsgeschichte wird dieser Zusammenhang unterschiedlich gedeutet. Vereinfacht können die Denkansätze in zwei Richtungen unterschieden werden, die Rüegg-Stürm einerseits als Entdecken und andererseits als Erfinden bezeichnet,500 entsprechend eines abbildtheoretischen bzw. eines konstruktivistischen Paradigmas. Damit ist zum einen die Vorstellung von Realität als objektiv gegebenen, mehr oder weniger exakt abbildbaren Entitäten gemeint, und zum anderen die Vorstellung von Realität als (soziale) Konstruktion verbunden. Die Frage, welche erkenntnistheoretische Position für eine Untersuchung geeignet ist, hängt dabei unmittelbar vom Forschungskontext ab.501 Weder die eine noch die andere Denkrichtung ist für sich genommen richtig oder falsch. Abbildtheoretisches und konstruktivistisches Paradigma werden daher in der Folge erläutert und auf den vorliegenden Forschungskontext bezogen, um im Anschluss die eigene Position zu begründen, sowie die sich ergebenen Implikationen für die Theoriewahl darzulegen.
499 Sander/Rüegg-Stürm/Wyss , S. 172. 500 Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 21. 501 Vgl. a. a. O., S. 22.
Entität oder Konstruktion?
129
Abbildtheoretisches Paradigma Entdecken setzt beobachterunabhängige Entitäten, also konkrete, objektiv gegebene und abstrakte Gegenstände, Eigenschaften, Sachverhalte, Ereignisse und Prozesse voraus, die entdeckt werden können.502 Es steht somit in der Tradition eines Wissenschaftspositivismus und der alteuropäischen Philosophie, in der Ren8 Descartes’ Unterscheidung zwischen einer res cogitans, also einem Bereich des Geistes, und einer res extensa,503 also einem Bereich der Materie zu einer Aufspaltung der Welt in Subjekt und Objekt führte.504 In dieser Tradition wird bezogen auf das Objekt die Frage gestellt, was etwas ist,505 was seine Essenz sei. Ziel von Wissenschaft ist es dann, Erkenntnis durch ein möglichst genaues Abbild des Objekts in sprachlicher Form zu gewinnen, und somit die Realität beobachterunabhängig als gegebene Entität zu beschreiben.506 Rüegg-Stürm verortet dieses »abbildtheoretische Paradigma, das letztendlich auf Platon zurückgeht«,507 in den klassischen Naturwissenschaften, in denen »der Forschungsgegenstand [kein] Wissen um sich selber [hat], welches sein Eigenverhalten beeinflussen könnte«.508 In dieser Perspektive werden Organisationen zu Verknüpfungen von Entitäten, »die unabhängig von Beobachtern bestimmte Eigenschaften aufweisen und deren Verhalten kausalen Gesetzmäßigkeiten folgt«, wie Höver ausführt.509 Sie verfolgen ein von außen vorgegebenes Ziel (Profit bei Wirtschaftsunternehmen, Erziehung in der Schule, Nächstenliebe in der Diakonie, etc.), und versuchen, dies durch möglichst effiziente Anordnung und Arbeitsteilung von und zwischen Ressourcen, Personen und Teilbereichen im Sinne einer ZweckMittel-Relation zu erreichen. Gesteuert werden Organisationen dann durch Hierarchien, an deren Spitze in der Regel eine oder einige wenige Personen stehen, die einen Überblick über die Aktivitäten der einzelnen Teilbereiche haben, und in der Lage sind, »im Sinne der Gesamtorganisation rational zu handeln«.510 Organisationen rücken damit in die Nähe einer Metapher der (trivialen) Maschine im Sinne einer Kybernetik erster Ordnung.511 Sie sind dann objektiv analysierbar, auf einen Zweck hin steuerbar, in ihren Mitteln gestaltbar, mithin deterministisch. Im Organisationsdenken kann diese Perspektive zu-
502 503 504 505 506 507 508 509 510 511
Vgl. a. a. O., S. 21, siehe auch Jung (2008), S. 54. Vgl. Descartes (1641/1994). Vgl. auch Sander/Rüegg-Stürm/Wyss , S. 178, Jung (2008), S. 54f., Simon (2007), S. 9ff. Vgl. Simon (2007), S. 9. Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 24. A.a.O., S. 22. A.a.O., S. 20. Höver (2013), S. 114, vgl. auch Pettigrew (1985). Wimmer/Meissner/Wolf (2014), S. 31. Vgl. von Foerster (1988).
130
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
rückgeführt werden auf Taylors Scientific Management,512 oder parallel dazu auf Webers Bürokratiemodell,513 und ist seither in der unüberschaubar gewordenen Literatur zur Organisationsforschung dominierend.514 Innovation wird in diesem Paradigma ebenfalls zur Entität, die entlang objektiver Kriterien beschreibbar und messbar ist, deren Entwicklung kausal begründet und deren Entstehen geplant werden kann.515 Unsicherheit wird auf den Ursprung, also die initiale Idee reduziert. Der weitere Innovationsverlauf, also Invention, Innovation und Diffusion, folgt dann den definierten Organisationsprozessen. Der kreative Schöpfungsmoment bleibt somit an sich ›mystisch‹ und unbestimmbar und kann nur ›empfangen‹ werden, während der weitere Innovationsverlauf rationalen Entscheidungen folgt. Sichtbar wird dies beispielsweise an vielen klassischen Innovationsmanagementmodellen, an deren Anfang ein »fuzzy frontend« als Auffangschale für Ideen steht, gefolgt von einem Stage-Gate-Prozess, in dem die Ideen mit rationalen Kriterien Stufe für Stufe zur Innovation weiterentwickelt werden.516 In der Organisationspraxis erscheint eine solche Theorie der Organisation und Innovation oft hilfreich im Sinne einer »nützlichen Fiktion« (vgl. 2.3.3). Jedoch ist sie wenig geeignet, all das mit zu berücksichtigen, was offenkundig ebenso Teil von Organisationen und Innovationsprozessen ist, z. B. fehlgeschlagene Innovationen oder gegenteilige oder nichtintendierte Folgen von Innovation. Jung führt aus, dass eine auf Entität ausgerichtete Theorie darauf bestenfalls durch »Bildung neuer Begriffe wie die der Definition von Erfolgsoder Misserfolgsfaktoren« reagieren kann, im ungünstigsten Fall mit »Ignoranz« oder der Unterstellung von »Implementierungsdefiziten«.517 Die für ein reflexives Innovationsverständnis mit seinen Relationen und Referenzen notwendigen sozialen Prozesse der Kommunikation und Beziehungen zwischen Akteuren werden weitgehend ausgeblendet. Dadurch werden die unterschiedlichen Beobachtungsperspektiven der verschiedenen Akteure und Sinngemeinschaften für die Forschung ebenso unzugänglich,518 wie die daraus resultierenden Innovationspotenziale und -barrieren. 512 Vgl. Taylor (1911). 513 Vgl. Weber (1922). 514 Vgl. Dachler (2000), S. 417f., Jun (2006), S. 45ff.. Zur Unüberschaubarkeit der Literatur hält Luhmann fest: »Seit dem Ende des zweiten Weltkriegs hat die Organisationsforschung einen Umfang angenommen, der es ausschließt, über Trends, Ergebnisse, Autoren und Publikationen adäquat zu berichten.« (Luhmann (2011b), S. 15). 515 Vgl. Wimmer/Meissner/Wolf (2014), S. 41ff.. Die Menge der Literatur zum »erfolgreichen Innovationsmanagement« nimmt entsprechend ähnliche Ausmaße wie die zur Organisation an. 516 Vgl. Cooper (1990), Koen et al. (2001). 517 Jung (2008), S. 56. 518 Vgl. Tuckermann (2007), S. 70.
Entität oder Konstruktion?
131
Konstruktivistisches Paradigma Im Gegensatz zum abbildtheoretischen Paradigma ist für das konstruktivistische Paradigma die Perspektive des Beobachters von zentraler Bedeutung. Wirklichkeit ist hier nicht beobachterunabhängig, sondern impliziert nach Rüegg-Stürm »die Vorstellung von etwas, was erst im Prozess des Beobachtens kreativ erschaffen oder konstruiert wird, woran also die beobachtenden Personen aktiv teilhaben«.519
Wirklichkeit ist demnach nicht objektiv gegeben, sondern durch Beobachter mit ihren je eigenen Wahrnehmungen und Zuschreibungen von Wert, Sinn und Bedeutung konstruiert.520 Da ein objektiver Zugang zur Welt in letzter Konsequenz nicht möglich ist, findet kein Abbildungsprozess statt,521 sondern immer ein kognitiver, beobachterspezifischer Konstruktionsprozess,522 der von einem anderen Beobachter auch ganz anders vollzogen werden könnte (und auch wird). Der Konstruktivismus hat in der Wissenschaft unterschiedliche Varianten hervorgebracht,523 auf die an dieser Stelle nicht im Einzelnen eingegangen wird. Für die vorliegende Arbeit wird vielmehr der Sozialkonstruktivismus hervorgehoben (auch als relationaler Konstruktivismus oder Konstruktionismus bezeichnet),524 der Wirklichkeit als soziale Konstruktion versteht.525 Sie wird in einem fortlaufenden Prozess der Verfertigung durch aufeinander bezogene Akteure bzw. Beobachter unter Einbeziehung ihren jeweils individuellen Unterscheidungen und Perspektiven fortlaufend konstruiert.526 Sprache dient dann nicht der möglichst genauen Beschreibung einer objektiven Realität, sondern »in der Sprache findet die Verwirklichung menschlicher Existenz im Vollzug sozialer Beziehungen statt«.527 Dadurch wird Kommunikation zur basalen epistemologischen Operation,528 durch die Wirklichkeit von in Beziehung stehenden Beobachtern sozial konstruiert wird.529 Oder wie Simon
519 520 521 522 523 524 525 526 527 528 529
Rüegg-Stürm (2001), S. 21f. Vgl. Watzlawick (1976), Glasersfeld (1996), Gergen (1985), Berger/Luckmann (1972). Vgl. von Foerster (1973/1985), S. 29. Vgl. a. a. O., S. 30. Von Foerster spricht auch vom Er-rechnen der Realität: »Ich fasse zusammen: Mein Vorschlag besteht darin, kognitive Prozesse als nie endende rekursive Prozesse des (Er-)Rechnens aufzufassen.« (von Foerster (1973/1985), S. 31). Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 26ff. Vgl. Sander/Rüegg-Stürm/Wyss , S. 193. Vgl. z. B. Dachler/Hosking (1995), Berger/Luckmann (1972). Vgl. z. B. Wimmer/Meissner/Wolf (2014), S. 33. Rüegg-Stürm (2001), S. 53. Vgl. Luhmann (1990a), S. 115. Vgl. Baecker (2005), S. 13.
132
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
pointiert: »Was nicht in die Kommunikation kommt, gewinnt keine soziale Existenz oder Bedeutung«.530 Organisationen werden vor diesem Hintergrund zu Netzwerken,531 die aus fortlaufender Kommunikation unterschiedlicher Beobachter bestehen,532 zu einem »network of intersubjectively shared meanings that are sustained through the development and use of a common language and everyday social interactions«.533 Dadurch entstehen Dynamiken der Selbstorganisation, wodurch das System im Sinne einer Kybernetik zweiter Ordnung nicht länger berechenbar ist.534 Die Widersprüchlichkeiten, Paradoxien und Ambiguitäten des Organisationsalltags sind dann nicht Fehlfunktionen, die über mehr oder weniger diffuse Konstrukte z. B. einer begrenzten Rationalität in die Theorie eingebaut werden oder in andere Bereiche, z. B. der Organisationspsychologie ausgelagert werden müssen, sondern sind vielmehr erwartbar.535 Innovation wird in dieser Perspektive ebenfalls zu einem sozialen Prozess. Er benötigt keinen ›mystischen‹ Anfang, schließt ihn aber auch nicht aus. Innovation erfolgt durch die Interaktion der beteiligten Akteure und Sinngemeinschaften mit ihren je eigenen Perspektiven und Unterscheidungen von Wert, Sinn und Bedeutung gleichsam evolutorisch in Irritation und Variation, Selektion und Re-Stabilisierung. Dadurch werden Multirationalität und die damit einhergehenden Potentiale und Friktionen mit einer geeigneten Metatheorie beschreibbar und analytisch zugänglich. Präferenz für eine systemische Organisationstheorie Ausgehend von den bisherigen Überlegungen wird eine Präferenz für eine sozialkonstruktivistische Epistemologie und damit für eine systemische Organisationstheorie für die vorliegende Untersuchung begründet. Wie gezeigt, kommt in Innovationsprozessen sozialer Unternehmen der Kommunikation und den unterschiedlichen Beobachterperspektiven eine zentrale Bedeutung zu. Insbesondere in der neueren Systemtheorie steht hierfür zum einen ein Kommunikationsbegriff zur Verfügung, der Organisation als sozialen Prozess des Organisierens zu fassen erlaubt, und somit der Prozessorientierung von Innovation und Veränderung in Organisationen folgt.536 Zum anderen erlaubt der Kommunikationsbegriff auch die Betrachtung persönlicher Interaktion und die Kommunikation zwischen Organisation und Umwelt, wodurch Mitarbeiter und 530 531 532 533 534 535 536
Simon (2011), S. 38. Vgl. Luhmann (2011b). Vgl. Weick (1979), S. 89ff., Simon (2011), S. 16ff. Walsh/Ungson (1991), S. 60. Vgl. von Foerster (1993). Vgl. Weick (1995), S. 15, Simon (2007), S. 116. Vgl. Tuckermann (2007), S. 72.
Beobachtung und Kommunikation
133
Sinngemeinschaften der Organisation und Referenzsysteme in der Umwelt in der Untersuchung berücksichtigt werden können. Und schließlich sind somit unterschiedliche Beobachterperspektiven grundlegend in der Konzeption der Theorie verankert. Mit diesem Ansatz wird es somit möglich, die unterschiedlichen Rationalitäten und Sinngemeinschaften, sowie die Spannungsfelder in Innovationsprozessen systematisch in der Untersuchung zu berücksichtigen: »Die systemische Organisationstheorie […] verfügt dadurch über ein überaus starkes Analyseraster für die Existenz multipler Rationalitäten in der Gesellschaft, aber auch innerhalb von Organisationen«.537 Widersprüchliche Wahrnehmungen, Deutungen und Interpretationen können dann bearbeitet werden, weil »weniger ihr Wahrheitsgehalt und vielmehr ihr aufeinander bezogenes Zusammenwirken zur sozialen Konstruktion von Wirklichkeit interessiert«, wie Tuckermann ausführt.538 Um das heuristische Potential dieser systemisch-konstruktivistischen Ausrichtung für die Untersuchung nutzbar zu machen, bedarf es zunächst einer Einführung und Definition der zentralen Begriffe einer systemischen Organisationstheorie.
3.2
Beobachtung und Kommunikation
In einem systemisch-konstruktivistischen Paradigma stellen die Begriffe der Beobachtung und der Kommunikation die grundlegenden Elemente dar. Beobachtung ist dabei in Luhmanns konstruktivistischem Ansatz die Operation der Konstruktion, Kommunikation das Letzt- oder Basalelement sozialer Systeme. Entsprechend ihrer zentralen Funktion sollen diese Begriffe in der Folge inhaltlich genauer bestimmt werden, da sich ihre Definition in der Systemtheorie teils deutlich von ihrer alltäglichen Bedeutung unterscheidet.
3.2.1 Beobachtung als epistemologische Grundoperation In systemtheoretischer Perspektive ist Beobachten die eine Operation, über die Wahrnehmung und damit Wirklichkeitskonstruktion erfolgt. Die Operation selbst besteht dabei aus zwei Schritten, die eine Einheit bilden: Unterscheiden und Bezeichnen. Ein Beobachter nimmt die Welt wahr, in dem er Unterscheidungen trifft, und die Seite bezeichnet, die in seiner Wahrnehmung liegt. Luhmann definiert: »Beobachten ist demnach das Bezeichnen der einen (und nicht 537 Schedler (2012), S. 364. 538 Tuckermann (2007), S. 70.
134
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
der anderen) Seite einer Unterscheidung. Ohne die Unterscheidung, aber auch ohne die Bezeichnung, kommt es nicht zustande. [Es] ist der operative Vollzug einer Unterscheidung durch Bezeichnung der einen (und nicht der anderen) Seite. Es ist nichts weiter als dieser operative Vollzug«.539 Ein Beobachter kann dann als System fortlaufender Beobachtungen verstanden werden, der durch kontinuierliches Unterscheiden und Bezeichnen die eigene Realität immer feiner ausdifferenziert.540 Entsprechend können nicht nur Personen als psychische Systeme beobachten, sondern auch soziale Systeme können durch die Operation von Unterscheiden und Bezeichnen ihre Umwelt und letztlich auch sich selbst beobachten,541 wenn die Unterscheidungen in die Kommunikation gelangen. Organisationen und Sinngemeinschaften konstruieren somit als soziale Systeme ebenfalls ihre eigene Realität, die ausschließlich durch die getroffenen Unterscheidungen und Bezeichnungen bestimmt wird. Die rekursive Fortsetzung der Beobachtung im Sinne einer Reaktualisierung lässt damit auch Veränderung der Konstruktionen zu,542 beziehungsweise macht sie notwendig, wenn Unterscheidungen in der Umwelt nicht länger bestätigt werden, die erwartete Bestätigung somit ausbleibt und zu Irritationen führt: »Der dominante Gebrauch bestimmter Unterscheidungen bildet sich im Laufe der Zeit durch die gemachten Erfahrungen mit denselben heraus. Waren sie nämlich in der Lage, dem Handeln des Systems, dem Umgang mit sich selbst zu seiner Umwelt eine erfolgreiche Orientierung zu schaffen, so bestätigen die Auswirkungen dieses Handelns die verwendeten Unterscheidungen und stimulieren ihren weiteren Gebrauch. Unterbleibt die Bestätigung, erzeugt das stets eine Irritation«.543 Nach Tuckermann führt die sich so vollziehende Stabilisierung von Realitätskonstruktionen unweigerlich zu nicht mehr wahrgenommenen Selbstverständlichkeiten. Das System konstruiert Realität über diese Unterscheidungen, aber eben nicht über andere. In der Beobachtung wird die eine Seite bezeichnet, die andere eben nicht. Beobachtung zieht daher immer »blinde Flecken« nach sich, da das »System nur sehen [kann], was es sehen kann. Es kann nicht sehen, was es nicht sehen kann. Es kann auch nicht sehen, dass es nicht sehen kann, was es nicht sehen kann«.544 Der blinde Fleck entsteht durch die Operation der Beobachtung, da die Unterscheidung, die für die Beobachtung genutzt wird, nicht
539 Luhmann (1990a), S. 84. Luhmann greift hierbei auf den logischen Formalismus von Georg Spencer Brown zurück (vgl. Spencer Brown (1972)). 540 Vgl. Luhmann (2011a), S. 137. 541 Vgl. Luhmann (1990a), S. 82. 542 Vgl. Luhmann (1997), S. 45. 543 Wimmer (1992), S. 73. 544 Luhmann (1990b), S. 52.
Beobachtung und Kommunikation
135
zugleich auch mitbeobachtet werden kann. Beobachtungen sind in Bezug auf sich selbst blind.545 Jenseits einer Unterscheidung lässt sich Wirklichkeit nicht beobachten, da »alle Realität über Unterscheidungen konstruiert werden [muß] und damit Konstruktion [bleibt]«.546 Es lassen sich dann zwar die unterschiedliche Realitätskonstruktionen verschiedener Beobachter miteinander vergleichen, jedoch nicht mit der Realität an sich, da die Unterscheidungen durch einen Beobachter getroffen werden, aber nicht in der Welt selbst existieren.547 Ontologie wird somit durch die Einführung des Beobachters in die Theorie relativiert.548 Alles was über die Welt ausgesagt wird, wird immer von einem Beobachter gesagt, wie Maturana und Varela ausführen: »Alles was gesagt wird, wird von einem Beobachter gesagt. Der Beobachter spricht durch seine Äußerungen zu einem anderen Beobachter, der er selbst sein könnte; alles, was den einen Beobachter kennzeichnet, kennzeichnet auch den anderen. Der Beobachter ist ein menschliches Wesen, d. h. ein lebendes System, und alles was lebende Systeme kennzeichnet, kennzeichnet auch ihn«.549 Damit ist Kommunikation immer Kommunikation zwischen Beobachtern.
3.2.2 Kommunikation als Letztelement sozialer Systeme Kommunikation wird bei Luhmann nicht im Sinne der Übertragung eines gegebenen Informationsbündels zwischen Sender und Empfänger verstanden, sondern als Einheit oder Synthese einer dreifachen Selektion, bestehend aus den Selektionen von Information, Mitteilung und Verstehen. Die Selektionen erfolgen dabei auf Seiten wenigstens zweier Kommunikationsteilnehmer (also Beobachter), so dass »mindestens zwei informationsverarbeitende Prozessoren vorhanden sind, die sich aufeinander und übereinander und auf sich selbst beziehen können«.550 Luhmann bezeichnet diese als Alter und Ego, »wobei wir als Ego den bezeichnen, der eine Kommunikation versteht und als Alter den, dem eine Mitteilung zugerechnet wird«.551 Die Selektion einer Information durch Alter ist bereits Teil der Kommunikation, da dieser eine Unterscheidung trifft, was er durch den selektiven Akt der Aufmerksamkeit zur Information macht. Information ist somit nichts, was in 545 546 547 548 549 550 551
Vgl. Tuckermann (2013), S. 15. Luhmann (2005), S. 47. Vgl. a. a. O., S. 38. Vgl. Luhmann (2011a), S. 134. Maturana/Varela (1982), S. 34. Luhmann (1984b), S. 191. Luhmann (1997), S. 1136f.
136
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
der Umwelt vorhanden wäre, sondern wird durch Unterscheidung eines Beobachters konstruiert. Diese Unterscheidung ist unabhängig von der Mitteilung zu sehen. Daher bezieht sich die zweite Selektion durch Alter auf das Verhalten, durch das die Information mitgeteilt wird, und so zur Mitteilung wird. Diese Selektion bestimmt somit sowohl den Inhalt der Mitteilung (das was) als auch das Medium und die Form der Mitteilung (das wie und wodurch). Die dritte Selektion erfolgt auf Seiten Egos, denn »nicht nur Information und Mitteilung, sondern auch das Verstehen selbst ist eine Selektion«.552 Verstehen ist dabei nicht im Sinne einer Verständigung gemeint, sondern vielmehr ob Ego das Verhalten Alters als Mitteilung interpretiert. Erst mit dem Verstehen ist die Kommunikation vollständig: »Begreift man Kommunikation als Synthese dreier Selektionen, als Einheit aus Information, Mitteilung und Verstehen, so ist die Kommunikation realisiert, wenn und soweit das Verstehen zustande kommt«.553 Kommunikation wird somit vom Verstehen her gedacht. Dabei ist Kommunikation nur in doppelter Kontingenz möglich, was unter anderem bedeutet, »dass keiner der Kommunikationsteilnehmenden beobachten kann, was ›im‹ anderen abläuft, also wie ein Kommunikationsbeitrag verstanden wird«.554 Ob Verstehen möglich ist, hängt nach von Weizsäcker davon ab, ob eine »praktische Information« vorliegt,555 die sich zwischen vollkommener Redundanz und vollkommener Neuheit bewegt. Der fortlaufende Kommunikationsprozess bricht zusammen, »wenn die Dialogpartner entweder nur noch stur ihre bisherigen Standpunkte repetieren (100 % Bestätigung) oder Dinge von sich geben, die mit nichts Bekanntem in Verbindung gebracht werden können, und demzufolge schlicht unverständlich erscheinen«.556 Information muss einen Unterschied darstellen, also vom Redundanten unterscheidbar sein. Zur Fortführung der Kommunikation muss dieser Unterschied einen Unterschied machen,557 also weitere Möglichkeiten der Selektion eröffnen. Verstehen ist somit eine Voraussetzung für die Anschlußfähigkeit der Kommunikation.558 Indem Kommunikation anschlussfähig ist, ermöglicht sie weitere Kommunikation, und somit die ständig fortlaufende Aneinanderreihung von Kommunikationsereignissen. Dabei wird jeweils mitgeprüft, ob die vorangegange Kommunikation verstanden worden ist, ob also die wechselseitigen Erwartungen gegenseitigen Verstehens erfüllt werden. Aus der doppelten Kontingenz folgt, dass diese Erwartungen bestätigt, aber auch enttäuscht werden können, wodurch ein Ent552 553 554 555 556 557 558
Luhmann (1995), S. 116. Luhmann (1984b), S. 203. Tuckermann (2007), S. 82. Vgl. von Weizsächer (1986). Rüegg-Stürm (2013), S. 83f. Vgl. Bateson (1985), S. 582. Vgl. Baecker (2005), S. 29.
Beobachtung und Kommunikation
137
wicklungsprozess angestoßen wird, in dem sich die gegenseitigen Erwartungen und Erwartungserwartungen stabilisieren.559 Luhmann bezeichnet diese stabilisierten Erwartungen als Strukturen, die »die Variationsmöglichkeiten weiterer Kommunikationen einschränken«.560 Strukturen ermöglichen es daher, an vorherige Kommunikation anzuschließen. Der Prozess der Kommunikation und die Strukturen, die im Prozess herausgebildet werden, bedingen somit einander.561 Soziale Systeme entstehen, indem Kommunikation in einem wechselseitigen, selbstreferentiellen Prozess durch Irritation und Stabilisierung von Erwartungen über Verstehen und Anschlussfähigkeit stabile und doch reversible Strukturen ausbildet, die von der Umwelt unterschieden werden können. Sie erzeugen Kommunikation und Strukturen und damit die Differenz zur Umwelt selbst, und sind somit autopoietisch und operational geschlossen. Sie können zwar irritiert, aber nicht gesteuert oder kontrolliert werden. Wie sie auf Irritationen aus der Umwelt reagieren, ist nicht berechenbar, da jede Irritation das System und seine Prozesse selbst verändert, und damit eine identische Wiederholbarkeit von Verarbeitungsprozessen nicht mehr vorausgesetzt werden kann.562 Das System hat somit eine Geschichte, in der jeder gegebene Zustand auf einen vorherigen zurückgeführt, jedoch nicht analytisch bestimmt werden kann. Über die Art, wie Kommunikationsbeiträge als Elemente einem System zugeordnet werden können, differenzieren sich nach Luhmann drei unterschiedliche Typen sozialer Systeme: Interaktion, Organisation und Funktionssystem. Ein Interaktionssystem zeichnet sich durch Anwesenheit aus, entsteht somit in Kommunikation zwischen anwesenden Teilnehmern. In einem Organisationssystem entscheidet hingegen die Mitgliedschaft eines Kommunikationsträgers in seiner Rolle als Mitglied der Organisation über die Zuordnung einer Kommunikation zum System (vgl. 3.3). Gesellschaftliche Funktionssysteme wie Politik, Wirtschaft oder Religion differenzieren sich über eine Leitunterscheidung in Form eines binären Codes aus. Im Falle der Politik über Regierung/Opposition, in der Wirtschaft über Zahlung/Nicht-Zahlung und in der Religion über Transzendent/Immanent.563 Wo auch immer sich Kommunikationsbeiträge an diesen Codes orientieren, können sie dem entsprechenden Funktionssystem einer Gesellschaft zugeordnet werden (vgl. 3.3.2).
559 560 561 562 563
Vgl. Luhmann (1984b), S. 414. Luhmann (1990a), S. 136. Vgl. Luhmann (1984b), S. 73. Vgl. von Foerster (1988). Vgl. als Übersicht Luhmann (1990b), S. 89ff.
138
3.3
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
Organisation und Umwelt
Ausgehend von den so definierten Grundoperationen Beobachtung und Kommunikation wenden wir uns nun dem Systemtypus der Organisation zu. Hierbei wird genauer zu spezifizieren sein, wie eine Organisation als soziales System konstituiert wird, wie sie sich aus ihrer Umwelt einerseits ausdifferenziert und wie sie zugleich mit ihrer Umwelt gekoppelt ist.
3.3.1 Organisation als soziales System Werden Organisationen als soziale Systeme verstanden, sind auch sie als fortlaufender Prozess zu verstehen. In der Organisationstheorie kann die Denkfigur der Organisation als Prozess auf Karl Weick zurückgeführt werden.564 Organisationen bestehen dann nicht aus Personen, Hierarchien, Strukturen, Arbeitsprozesse, Gebäude oder Maschinen, sondern werden erst durch den Prozess des Organisierens zur Organisation. Weick beschreibt den Prozess wie folgt: »Processes contain individual behaviors that are interlocked among two or more people. The behaviors of one person are contingent on the behaviors of another person(s), and these contingencies are called interacts. The unit of analysis in organizing is contingent response patterns, patterns in which an action by actor A evokes a specific response in actor B […], which is then responded to by actor A«.565 Durch fortlaufendes, ineinandergreifendes Handeln der Akteure wird Organisation konstituiert. Stoppt die Interaktion, endet die Organisation. Organisation ist soziale Prozessualität und unterliegt damit einer radikalen Temporalisierung, da Handlungen als ihre Elemente im Moment ihres Vollzuges verschwinden. Sie muss somit ständig durch Aufrechterhaltung und Fortführung der Interaktion erzeugt werden und kann nur über die Zeit bestehend bleiben, wenn die Prozesse fortlaufend immer neu realisiert werden: »The image of organizations that we prefer is one which argues that organizations keep falling apart and that they require chronic rebuilding. Processes continually need to be reaccomplished«.566 Dadurch wird die Nichtveränderung einer Organisation ebenso erklärungsbedürftig wie deren Veränderung.567 Die dennoch stabile Struktur einer Organisation definiert Weick daher als »the structure that determines how an orga564 565 566 567
Vgl. Weick (1979), S. 89. Ebd. A.a.O., S. 44. Vgl. Simon (2011), S. 16.
Organisation und Umwelt
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nization acts and how it appears is the same structure that is established by regular patterns of interlocked behaviors«.568 Organisationsstrukturen werden also nicht von außen oder ›von oben‹ vorgegeben, sondern manifestieren sich durch wiederkehrende Muster im Handlungsstrom, den contingent response patterns. Diese Perspektive stellt das bisherige Verständnis von Organisation (und auch von Führung) nachhaltig auf den Kopf, da in dieser Lesart Organisation immer Selbstorganisation ist. Weick weist somit den Weg zu einer systemischen Organisationstheorie, jedoch können drei wesentliche Kritikpunkte an seinem Modell benannt werden, die in der Konzeption als Handlungssystem begründet sind. Zum einen stellt sich die Frage, wie die Handlungen einer Vielzahl von teils weit verteilten Akteuren verbunden sind, so dass ein koordiniertes Handlungssystem entsteht.569 Wie kann zudem die auch Personalwechsel überdauernde Form erklärt werden?570 Und schließlich, wenn die Theorie Organisationen durch aufeinander bezogene Handlungen konstituiert, wie kann sie dann über die Beziehungsgestaltung, also auch über die Organisation selbst, hinausgehen?571 Gerade diese Frage ist aber für pluralistische Organisationen mit ihren multiplen Kopplungen an relevante Umwelten und damit für ihre Multirationalität von großer Bedeutung. Die systemische Organisationstheorie auf Basis der neueren Systemtheorie bietet hier einige entscheidende Vorteile. Sie behält Prozessualität, Temporalisierung und Selbstorganisation der Organisation bei, definiert aber statt Handlung nun Kommunikation zum Letztelement des Systems, wodurch verteilte Interaktion, Fortbestand bei Personalwechsel und Kopplung an die Umwelt erklärbar werden.572 In Organisationen nimmt Kommunikation dabei die Form von Entscheidungen an. Organisationen kommunizieren, indem sie entscheiden; und sie entscheiden, indem sie kommunizieren. Die Entscheidungen als Letztelemente der Organisation werden von ihr selbst (re-)produziert, wodurch Organisationen als selbstreferentielle, autopoietische soziale Systeme zu fassen sind. Die Strukturen der Organisation als soziales System werden dann zu Entscheidungsprämissen, über die die Entscheidungen miteinander verknüpft werden. Die Entscheidungsprämissen ermöglichen der Organisation durch Einschränkung der Variationsmöglichkeiten in Form generalisierter Verhaltenserwartungen, Entscheidung an Entscheidung zu knüpfen. Dadurch wird Unsicherheit absorbiert, wie, durch wen, wann und über was die Organisation entscheidet. Diese unsicherheitsabsorbierenden Entscheidungsprämissen können in Form 568 569 570 571 572
Weick (1979), S. 90. Vgl. Simon (2011), S. 19. Vgl. ebd. Vgl. Wimmer/Meissner/Wolf (2014), S. 35f. Vgl. ebd.
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von Programmen, Kommunikationswegen oder Personen in der Organisation vorliegen. Programme definieren, welche Aufgaben und Funktionen in der Organisation bearbeitet werden. Je genauer die Aufgaben und Funktionen sich beschreiben lassen, desto exakter kann ein Programm die erforderlichen Einzelschritte definieren und dadurch Unsicherheit verringern. Beispielsweise kann ein solches Programm in einer diakonischen Einrichtung durch einen formalen Aufnahmeprozess gegeben sein, über den entschieden wird, ob ein Klient in die Einrichtung aufgenommen wird oder nicht. Programme können in Konditional- und Zweckprogramme unterschieden werden. Konditionalprogramme folgen einer Wenn-Dann-Logik, Zweckprogramme dienen der Zielerreichung. In beiden Fällen sind sie auf eine frühere Entscheidung zurückzuführen: »Bei beiden Programmformen, und darin stimmen sie überein, handelt es sich um die Einführung einer künstlichen Unterscheidung, die nicht vorgefunden wird, sondern im System selbst konstruiert und durch Entscheidung verbindlich gemacht werden muss. Konditionalprogramme unterscheiden zwischen Bedingungen und Konsequenzen, Zweckprogramme zwischen Zwecken und Mitteln«.573 Programme können somit als abgespeicherte, frühere Entscheidungen beschrieben werden, die in Entscheidungssituation abgerufen werden können. Sinnvoll sind sie überall dort, wo die Organisation über ausreichendes Wissen über die Entscheidungssituation hat (beispielsweise in der Produktion).574 Nicht alle Entscheidungsunsicherheit lässt sich durch Programme absorbieren. Steht in einer Entscheidungssituation kein Programm zur Verfügung, kann die Organisation auf Kommunikationswege als Entscheidungsprämissen zurückgreifen. Hierzu gehört die formale Struktur, beispielsweise in Form einer Hierarchiebildung und des ›Dienstweges‹. Die Entscheidungssituation wird entlang des Kommunikationswegs an eine Stelle »weitergereicht«, die entweder über andere Programme als Entscheidungsprämissen verfügt, oder aber als Person oder Personengruppe selbst als Prämisse fungiert. Personen oder Personengruppen (z. B. ein Unternehmensvorstand) als Entscheidungsprämisse sind vor allem in den Bereichen von Bedeutung, in denen die Organisation überwiegend mit Nichtwissen konfrontiert ist. Aus systemtheoretischer Sicht wird dadurch auf psychische Systeme als Möglichkeit der Entscheidungsfindung zurückgegriffen. Die mangelnde Flexibilität von Programmen wird durch das Vertrauen in Personen kompensiert. »Die Kopplung der Organisation mit unverwechselbaren psychischen Systemen ermöglicht ihr den Zugang zur Kompetenz, Intelligenz, Kreativität und Urteilsfähigkeit von
573 Luhmann (2011b), S. 261. 574 Vgl. Simon (2011), S. 74.
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Individuen«.575 Die Entscheidung für eine Stellenbesetzung durch eine Person erhält dadurch ›programmatischen‹ Charakter für die Organisation, wenn auch weniger unmittelbar als im Falle der Programme selbst. Wie Programme gestaltet werden, wie Kommunikationswege verlaufen und wie Stellen besetzt werden, wird durch die Organisation entschieden. Sie sind somit entscheidbare Entscheidungsprämissen. Demgegenüber stehen die unentscheidbaren Prämissen, die in der Kultur einer Organisation verortet werden können. Mit der Definition der Organisationskultur als Komplex der unentscheidbaren Entscheidungsprämissen wird einerseits deutlich, dass die Organisation nicht entscheiden kann, wie ihre Kultur gestaltet ist: »Eine Organisationskultur entsteht wie von selbst«.576 Zugleich »befreit uns der Begriff der unentscheidbaren Entscheidungsprämissen von einer Unterstellung, die sich leicht einschleicht, wenn der Begriff ›Organisationskultur‹, wie üblich, im Singular gebraucht wird, nämlich dass eine Organisation nur eine Organisationskultur hat und diese Kultur einigermaßen konsistent gehandhabt werden kann«.577 Organisationskulturen bilden das Gedächtnis zur eigenen Geschichte und repräsentieren, auf den Wesenskern reduziert, die Werte einer Organisation.578 Simon spricht in dem Zusammenhang auch von »grammatischen Regeln« einer Organisation.579 Er unterscheidet sie von den »technischen« Regeln in Programmen, Kommunikationswegen und formaler Organisation, sowie von den »informellen« Strukturen und Regeln, die die Organisation ausbildet (manchmal um kompensatorisch auf die technischen Regeln zu wirken).580 Wie grammatische Regeln vermittelt werden, sieht er in kulturanthropologischer Analogie: »Organisationen suchen sich unter den potenziellen Mitgliedern (Bewerbern) diejenigen Personen aus, die zu ihrer Kultur passen (es sei denn, Kulturveränderung wäre Ziel der Personalpolitik). Ab da erfolgt das Lehren und Lernen grammatischer Regeln in Organisationen nach ähnlichen Prinzipien wie das der Kultur, in die man hineingeboren wird: Auf Normverletzungen wird von den Kommunikationspartnern (mehr oder weniger stark und heftig) affektiv reagiert. […] Die so erlernten Verhaltensmuster und -erwartungen sind meist unbewusst, können aber bewusst gemacht und expliziert werden (wie die der Grammatik der Muttersprache). Auf diese Weise weiß jeder, der dieser Kultur zugehört, welches Verhalten erlaubt, erwartet und verboten ist«.581 575 576 577 578 579 580 581
Ebd. Luhmann (2011b), S. 243. A.a.O., S. 241f. (Hervorhebung im Original). Vgl. a. a. O., S. 244. Simon (2011), S. 97ff. Vgl. a. a. O., S. 99. A.a.O., S. 99f.
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Rüegg-Stürm bezeichnet diesen Komplex der Verhaltenserwartungen in ähnlicher Weise als »Organisationsgrammatik«, und führt aus: »Organisationen entwickeln mit der Zeit eine Organisationsgrammatik oder einen organisationsgenetischen Code. Die Organisationsgrammatik umfasst insbesondere wechselseitig unterstellte Erwartungen, Bedeutungszusammenhänge, Sinnschemata, Ursachenkarten […] und Entscheidungsprämissen, an denen sich Menschen bei ihrem Entscheiden und Handeln implizit ausrichten«.582 Auch die Organisationsgrammatik bildet somit eine Struktur, die entscheidungsleitend wirkt. Anders als Programme oder Kommunikationswege, Ablauf- und Aufbauorganisation, sind diese Strukturen jedoch verborgen.583 Entsprechend können sie als latente Strukturen bezeichnet werden.584 Rüegg-Stürm et al. unterscheiden sie von den manifesten Strukturen (Reglements, Dokumente, Infrastrukturen, etc. der formalen Organisation) und der »routinisierten Praxis« als kommunikative Handlungen und Interaktionen,585 die sich in informelle Strukturen äußern können.
3.3.2 Umwelt der Organisation Organisationen beobachten als soziale Systeme ihre Umwelt. Umwelt ist dabei zunächst einmal alles, was nicht zur Organisation gehört. Die Organisation beobachtet (wie jeder Beobachter) durch die Operation von Unterscheiden und Bezeichnen (vgl. 3.2). Beobachtung durch die Organisation erfolgt dabei nur durch die Unterscheidungen und Bezeichnungen, die Eingang in die Kommunikation innerhalb des Organisationssystems finden. Was nicht in die Kommunikation kommt, existiert für die Organisation nicht.586 Wie jeder Beobachter produziert damit auch eine Organisation im Vollziehen des Beobachtens notwendigerweise blinde Flecke. Da die Unterscheidungen, mit denen die Organisation beobachtet, von ihr selbst erzeugt werden und nicht in der Umwelt vorfindlich sind, bestimmt die Organisation die für sie relevanten Umwelten selbst. Dies ist eine notwendige Komplexitätsreduktion, da die Organisation nicht die Kapazität hat, auf alles zu reagieren, was in der Umwelt geschieht. Sie muss entscheiden, worauf sie ihre Aufmerksamkeit lenkt, und was sie ignoriert.587 Allerdings stellt sich der Organisation dadurch »die Frage, (d. h. die Leitung sollte sich diese Frage stellen), ob sie in ihrer Kommunikation (bei 582 583 584 585 586 587
Rüegg-Stürm (2008), S. 6f. (zitiert nach Höver (2013), S. 77). Vgl. Luhmann (2011b), S. 243. Vgl. Rüegg-Stürm/Schumacher (2012). Vgl. a.a.O, S. 52f. Vgl. Simon (2011), S. 38. Vgl. Luhmann (2011a), S. 162.
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ihren Entscheidungen) ›viable‹ Unterscheidungen gebraucht und nicht etwa für das Überleben relevante Umwelten ›wegdenkt‹«.588 Die Organisation ist also in der Lage, für sie relevante Themenfelder und Trends, Diskussionen und Diskurse zu beobachten, an ihnen teilzunehmen und durch sie irritiert zu werden. Die Irritation, sofern sie aufgenommen und nicht ignoriert wird, wird als »Unterschied, der einen Unterschied macht« in Form einer Information in das System integriert. Wie innerhalb des Systems mit dieser Information umgegangen wird, beispielsweise welche Entscheidungen eine Organisation auf Grund dieser Information trifft, hängt von den Informationsverarbeitungsprozessen und damit von der eigenen Systemkomplexität ab. Die Fähigkeit, in dieser Form auf Irritationen oder Störungen mit Information und Informationsverarbeitung zu reagieren, bezeichnet Luhmann als die »Resonanzfähigkeit« eines Systems.589 Dabei beeinflusst die Umwelt rekursiv auch die Strukturen, die sich in einer Organisation ausdifferenzieren: »Je nach dem, an welche Umweltausschnitte ein System langfristig gekoppelt ist, entwickeln sich im System andere Strukturen – einfach deshalb, weil das System seine Strukturen aus Anlass von spezifischen Irritationen aufbaut und ändert«.590 Bleiben die relevanten Umwelten einer Organisation über längere Zeit konstant, kann es sich als sinnvoll erweisen, möglichst stabile Prozesse und Programme zu entwickeln, die einer starren Kopplung mit der relevanten Umwelt entsprechen. Ist die Umwelt hingegen von hoher Dynamik und Veränderung geprägt, können starre Prozesse und Strukturen zur Handlungsunfähigkeit der Organisation führen.591 Teil der relevanten Umwelt der Organisation sind auch die Funktionssysteme der Gesellschaft, an die sie sich mehr oder minder stark bindet: Politische Parteien an die Politik, privatwirtschaftliche Unternehmen an das Wirtschaftssystem, Kirchen an das Religionssystem, Gerichte an das Rechtssystem.592 Funktionssysteme differenzieren sich dabei über Leitunterscheidungen in der Kommunikation in Form binärer Codes (vgl. 3.2.2, ausführlicher 3.4). Wo immer sich in der Gesellschaft Kommunikation entlang dieser Codes orientiert, ist diese Kommunikation dem jeweiligen Funktionssystem zuzurechnen.593 Wie die Leitunterscheidung operationalisiert wird, erfolgt dabei über Programme, die die Bedingungen und Kriterien für die Richtigkeit der Orientierung (genauer : Selektion) vorgeben.594 Im Falle des Rechtssystems 588 589 590 591 592 593 594
Simon (2011), S. 60. Vgl. Luhmann (2011a), S. 120. Luhmann (1990a), S. 40f. Vgl. Simon (2011), S. 82. Vgl. Luhmann (2011b), S. 238. Vgl. Luhmann (1990b), S. 126. Vgl. a. a. O., S. 91.
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lautet die Leitunterscheidung beispielsweise recht/unrecht; die Programme, über die die Unterscheidung vollzogen oder operationalisiert wird, sind dabei die geltenden rechtlichen Normen wie Gesetze und Verordnungen.595 Indem sich die Organisation an ein Funktionssystem koppelt, ›kopiert‹ sie den Code und damit auch die Programme in die eigenen Entscheidungsprozesse. Die Organisation bindet sich somit strukturell an den Code eines spezifischen Funktionssystems, »wobei Mehrfachzugehörigkeiten« zu unterschiedlichen Systemen »durchaus beobachtbar sind, ein Umstand, der die betroffenen Organisationen jedoch stets vor eine besondere Problematik stellt, weil organisationsintern ständig massive Zielkonflikte zu handhaben sind«.596 Je nach Grad der Kopplung beeinflussen somit ein oder mehrere Funktionssysteme die Strukturen und Entscheidungsprämissen der Organisation.597 So ›programmiert‹ die Sozialpolitik über eine enge Kopplung die im Sozialmarkt aktiven Unternehmen und hat beispielsweise durch die Reformen der letzten Jahrzehnte eine ökonomische ›Re-Programmierung‹ des Sozialsystems vorgenommen, wodurch eine ökonomische Logik in den Entscheidungsprämissen erzwungen wurde, die in diesem Ausmaß vorher nicht gegeben war.598 Waren zuvor stabile Prozesse und Strukturen ausgebildet worden (beispielsweise vor dem Hintergrund der Vollkostendeckung), wurden die Organisationen nun durch die Einführung einer marktnahen Refinanzierung massiv irritiert und bildeten entsprechend andere Strukturen aus, die eine ökonomische Logik berücksichtigten und eine Anschlussfähigkeit an das Wirtschaftssystem sicherstellen konnten (beispielsweise durch Berufung von Kaufleuten in die Vorstände diakonischer Unternehmen, die als psychische Systeme als Entscheidungsprämissen dienen, vgl. 3.3). Die Kopplung einer Organisation mit Personen oder psychischen Systemen ist dabei nicht auf den Bereich der Entscheidungsprämissen beschränkt. Aus systemtheoretischer Sicht sind Menschen als Einheit der Differenz zwischen einem psychischen System (Bewusstsein) und einem biologischen System (Körper) zu verstehen.599 Aus der Konzeption der Organisation als operativ geschlossenes Kommunikationssystem folgt somit zwingend, dass diese Einheit nicht Teil des Systems sein kann, und somit der Umwelt zuzurechnen ist.600 Sie 595 Vgl. a. a. O., S. 94ff. 596 Wimmer (2004), S. 105. Aus eben diesem Grund muss eine Theorie zur Untersuchung dieser Zielkonflikte die gesellschaftlichen Funktionsysteme mitbetrachten können, wozu die Systemtheorie in der Lage ist (vgl. auch Tuckermann (2007), S. 88). 597 Vgl. Luhmann (1990a), S. 40f. 598 Vgl. Schedler (2012), S. 365. 599 Vgl. Luhmann (1991), S. 173. 600 Vgl. Simon (2011), S. 35. Eine Organisation, die Anspruch auf den »ganzen« Menschen erhebt, wäre in diesem Sinne als »totale Institution« zu verstehen, wie es Gefängnisse oder
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sind zwar als Träger der Kommunikation zwingend notwendige Voraussetzungen für das Zustandekommen von Kommunikation (und damit der Organisation), zugleich jedoch von dieser zu unterscheiden. Dies gilt somit auch für Mitarbeiterinnen, die als psychische und biologische Systeme Teil der Umwelt der Organisation sind, wenngleich höchst relevante, strukturell miteinander gekoppelte Umwelten. Nicht alles, was ein Mitarbeiter denkt und wahrnimmt, ist dabei Teil der Organisation, sondern nur das, was von ihm in seiner Rolle als Mitglied der Organisation kommuniziert wird. Diese Unterscheidung zwischen der operational geschlossenen Kommunikation der Organisation und dem individuellen Bewusstsein der Mitglieder führt einerseits zu einer notwendigen Komplexitätsreduktion, die die Handlungsfähigkeit der Organisation erlaubt (würde alles, was Mitarbeiter in jeder Situation denken und kommunizieren Teil der Organisation sein, hätte dies eine enorme Komplexität zur Folge). Sie kann aber auch negative Folgen haben, »wenn in der Kommunikation nicht hinreichend komplexe Wirklichkeitskonstruktionen erzeugt werden, sodass die Organisation ›blöder‹ als ihre einzelnen Mitarbeiter« ist, wie Simon ausführt.601 Aus der operativen Schließung der Organisation als Kommunikationssystem (nur Kommunikationen sind mögliche Operationen des Systems) folgt zwingend, dass Organisationen selbst nicht wahrnehmen können, da »sinnliche Wahrnehmung eine enge strukturelle Kopplung von Gehirn und Bewusstsein« voraussetzt,602 über die die Organisation selbst nicht verfügt. Wahrnehmungen können somit nur indirekt Eingang finden, indem sie von psychischen Systemen (die physisch wahrnehmen können) in ihrer Rolle als Mitglied der Organisation in die Kommunikation gebracht werden. Über diesen Weg kann alles, was potentiell im Wahrnehmungsbereich eines psychischen Systems liegt, in die Kommunikation und damit in die Organisation gelangen (z. B. die Wahrnehmung, dass das Büro brennt). Was und wie kommuniziert wird, unterliegt dabei den Selektionen der Kommunikationsteilnehmer, und damit den Unterscheidungen, mit denen sie operieren. Diese können entsprechend des professionellen, kulturellen oder persönlichen Hintergrunds der Teilnehmer höchst unterschiedlich sein. Sozialarbeiter verwenden andere Unterscheidungen als Ökonomen, Theologinnen andere als Ingenieure, Ärzte andere als Politikerinnen. Wie die Organisation ihrerseits auf den Kommunikationsbeitrag reagiert, wie sie irritiert, gestört, inspiriert oder angeregt wird, hängt wiederum von der Resonanzfähigkeit der Organisation als System gegenüber der jeweiligen Umwelt ab, ob die Untergeschlossene psychatrische Einrichtungen für deren Insassen sind (vgl. Goffman (1961/ 1972), S. 17ff.). 601 Simon (2011), S. 38. 602 Luhmann (2011b), S. 119.
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scheidungen für das System relevant sind, ob es sprachfähig im Sinne einer anschlussfähigen Kommunikation ist, und ob es über geeignete Strukturen der Informationsverarbeitung verfügt. Die sich aus einer wahrgenommenen Irritation ergebenden Variationsmöglichkeiten sind somit »abgestimmt auf das Tempo und die Informationsverarbeitungskapazität des Systems«.603 Nicht nur Mitarbeiter sind als psychische Systeme relevante Umwelt für die Organisation, sondern auch deren Kunden und Klientinnen. Als Adressaten und Adressatinnen der personenbezogenen sozialen Dienstleitungen eines Sozialunternehmens sind sie als Koproduzenten der Leistung in besonderer Weise von Relevanz, gerade auch in Innovationsprozessen. Sie werden von der Organisation beobachtet und irritieren das System somit über ihr wahrnehmbares Verhalten und ihre Kommunikationsbeiträge. Diesen liegen ihre spezifischen Unterscheidungen und Selektionen zu Grunde: was ihnen hilft oder nicht hilft, was sie sich wünschen oder nicht wünschen, welche Leistungen sie in welcher Form in Anspruch nehmen möchten oder eben nicht möchten, was sie sich leisten können und was nicht. Dadurch werden sie zu einer zentralen Quelle in Innovationsprozessen und zugleich die wichtigste Referenz dieser Innovationen aus Sicht der Organisation. Neben den gesellschaftlichen Funktionssystemen und psychischen Systemen sind auch andere Organisationen Teil der Umwelt von Sozialunternehmen. Dies können andere (Sozial-)Unternehmen, Verbände, Interessensgemeinschaften, Kirchen, Parteien, Gewerkschaften, Medien, Hochschulen, etc. sein. Werden sie von der Organisation der relevanten Umwelt zugeordnet und entsprechend beobachtet und wahrgenommen, beispielsweise als Teil eines relevanten Funktionssystems oder als Organisation relevanter Anspruchshalter, können auch sie als Perturbation für das System wirken und somit Einfluss auf die Organisation entfalten oder umgekehrt von dieser irritiert werden, falls die Organisation ihrerseits als relevant wahrgenommen wird (was größeren Sozialunternehmen oftmals leichter fällt als kleineren). Im Zuge der gegenseitigen Beobachtung und Irritation können sich Organisationen aneinander binden (z. B. durch Beteiligungen), Kooperationen eingehen, sich Verbänden anschließen oder in Netzwerken austauschen, und so die interorganisationale Kopplungen und Kommunikationswege strukturieren und formalisieren. Dabei bleibt jedoch jede Organisation ein eigenes, operational geschlossenes, selbstreferentielles System.
603 Luhmann (2011a), S. 122.
Multirationalität und Innovation
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Multirationalität und Innovation
Nachdem nun die theoretische Fundierung durch die Einführung der Systemtheorie vorgenommen wurde, sollen vor diesem Hintergrund die zentralen Begriffe der Forschungsfrage, Multirationalität und Innovation reflektiert und inhaltlich bestimmt werden. Dabei geht es erstens darum zu klären, wie Multirationalität in der Umwelt und in der Organisation verstanden werden kann, und zweitens, wie Innovation und Innovationsprozesse aus systemischer Perspektive zu fassen sind.
3.4.1 Multirationalität in Umwelt und Organisation Betrachten wir diakonische Unternehmen vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführung zu Organisation und Umwelt, so wird deutlich, wie sehr die zwingend erforderliche Kopplung an unterschiedliche Funktionssysteme zu einer im Kern pluralistischen und damit multirationalen Organisation führt. Diakonische Unternehmen können die für sie relevanten Funktionssysteme nicht ignorieren (zumindest nicht, wenn sie in Form diakonischer Unternehmen fortbestehen wollen). Als theologisch begründete Organisation, die auf einem politisch-rechtlich regulierten Sozialmarkt aktiv ist, sind dies zumindest die Funktionssysteme Wirtschaft, Recht, Politik, Religion und Soziale Hilfe.604 Wie bereits ausgeführt, arbeitet das Rechtssystem mit dem Code recht/unrecht und der Orientierung an gesetzlichen Normen als Programm. Teil dieser gesetzlichen Normen sind auch die Sozialgesetze, deren Anwendung in den Entscheidungsprozessen diakonischer Unternehmen notwendig zu berücksichtigen sind, wenn und solange die Organisation sich im Bereich der dort festgelegten Leistungserbringung und Refinanzierungsmechanismen bewegen möchte.605 Sozialunternehmen erfahren in dieser Hinsicht eine ›Programmierung‹, die in den letzten Jahren auch deutliche wirtschaftliche Aspekte umfasst hat: Sozialpolitik nutzt gesetzgeberische Kompetenz, um über das Rechtssystem die Organisationen des Sozialsystem gerade auch ökonomisch zu ›re-programmieren‹ und somit an das Wirtschaftssystem zu koppeln. Das Wirtschaftssystem operiert mit dem Code zahlen/nicht-zahlen, d. h. unter Wirtschaft wird »hier die Gesamtheit derjenigen Operationen verstanden werden, die über Geldzahlungen abgewickelt werden. Immer wenn, direkt oder 604 Je nach Tätigkeitsfelder und Ausrichtung sind häufig auch Medizin, Erziehung und Wissenschaft relevante Funktionssysteme, an die sich ein diakonisches Unternehmen koppelt (vgl. Starnitzke (1996), S. 245ff.). 605 Vgl. Starnitzke (1996), S. 246.
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indirekt, Geld involviert ist, ist Wirtschaft involviert, gleichgültig durch wen die Zahlung erfolgt und gleichgültig, um wessen Bedürfnisse es geht«.606 Dabei orientiert sich Wirtschaft immer an Knappheit. Einerseits an der »weltbedingten Knappheit der Güter und Leistungen« (eine endliche Welt bedingt notwendigerweise Knappheit) und andererseits an »der artifiziellen Knappheit des Geldes« einer voll monetarisierten Wirtschaft.607 Die Funktion des Wirtschaftssystems ist es somit, eine Konditionierung der Beziehungen zwischen diesen beiden Knappheiten zu erreichen, was vor allem über den realisierten Preis eines Gutes oder einer Leistung erfolgt, der einer effektiv geleisteten Zahlung zu Grunde liegt.608 Preise werden dadurch zur wichtigsten Komponente in den Programmen des Wirtschaftssystems. In einem tieferen Sinne ist die Funktion des Wirtschaftssystems somit die »Erzeugung und Regulierung von Knappheiten zur Entproblematisierung künftiger Bedürfnisbefriedigung«,609 womit auch die Zielsetzung der ökonomischen Programmierung des Sozialsystems durch die Politik treffend beschrieben werden kann. Die Politik ihrerseits operiert mit dem Code Regierung/Opposition, d. h. es geht »um Innehaben bzw. Nichtinnehaben der Positionen, in denen öffentliche Gewalt ausgeübt werden kann«.610 Operationalisiert wird der Code durch politische Programme und Ideologien, die durch politische Wahlen und Regierungsbildung in Übereinstimmung gebracht werden, »das heißt, denjenigen die Regierung zu überlassen, die persönlich und sachlich die Gewähr für die Durchführung bevorzugter politischer Programme zu bieten scheinen. Das setzt aber eine strukturelle Entkoppelung von Code und Programm voraus, das heißt die Möglichkeit, auch anderen Programmen den Zugang zu verschaffen«.611 An dieser Stelle wird deutlich, dass eine politische Soziale Arbeit in letzter Konsequenz ein mehrheitsfähiges politisches Programm vorweisen oder zumindest unterstützen muss, um eine grundsätzliche Änderung der Programmierung des Sozialsystems zu erreichen (vgl. 2.1.1). Bereits die Entscheidung für ein solches Programm ist dabei Politik und politische Einflussnahme, nicht erst die dem Staat zuzurechnenden Entscheidungen.612 So sieht Starnitzke eine Relevanz des politischen Systems in der Diakonie, da zum einen auf Grund der hohen Personalintensität »personalpolitische Entscheidungen einen wesentlichen Faktor bei der Gestaltung diakonischer Arbeit bilden«, und andererseits die Stellung der Diakonie auch wesentlich dadurch bestimmt ist, »auf welche Positionen 606 607 608 609 610 611 612
Luhmann (1990b), S. 101. Luhmann (1984a), S. 317. Vgl. Luhmann (1988), S. 64. Luhmann (1988), S. 65. Luhmann (1990b), S. 170. Luhmann (1990b), S. 171. Vgl. Luhmann (1990b), S. 170.
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öffentlicher Gewalt sie, etwa in staatlichen Institutionen, Einfluss zu nehmen vermag, welche öffentlichen Positionen z. B. mit Personen besetzt sind, die den diakonischen Anliegen positiv gegenüberstehen und welche öffentlichen Positionen sie selbst durch eigene Mitarbeiter besetzen kann«.613 Das diakonische Anliegen geht dabei über sozialwirtschaftliche Aspekte hinaus, da Diakonie auf einen umfassenderen, theologischen Begründungszusammenhang verweist. Aus systemtheoretischer Sicht wird durch diese Verweisung die Unterscheidung immanent/transzendent eingeführt, die als Code des Religionssystems fungiert. Theologische oder religiöse Kommunikation findet immer dann statt, wenn das Immanente aus einer transzendentalen Perspektive beobachtet wird, und dadurch Sinnstiftung geschieht: »Erst von der Transzendenz aus gesehen erhält das Geschehen in dieser Welt einen religiösen Sinn. Aber Sinngebung ist dann auch die spezifische Funktion der Transzendenz«.614 Die Sinngebung geschieht somit in Grenzüberschreitung, wobei Transzendenz dann »die Überschreitbarkeit jeder Grenze in Richtung auf ein Anderes« ist.615 Erfahrbare Sinnstiftung, beispielsweise im Raum der Diakonie, setzt dann voraus, dass die Grenze (also die Differenz) zwischen Immanenz und Transzendenz in das System wieder eingeführt und beispielsweise erkennbar wird in Handlungen, Gesten, Orten oder Gegenständen.616 Somit werden Texte (insbesondere biblische), Rituale, Offenbarung und Dogmatik zum Programm der Religion, durch das der Code operationalisiert wird, und das sich je nach Erzählgemeinschaft unterscheidet. Für die christliche Religion, und insbesondere für die Diakonie, schlägt Starnitzke die Ausgestaltung in Form einer Zweitcodierung vor, die er in vollmächtigen Dienst/Nichtdienst unterscheidet, und die den Primärcode immanent/transzendent konkretisiert und interpretiert.617 Die Bevollmächtigung (transzendental durch den Geist) sieht er immer gebunden an den Dienst an der Gemeinde.618 Anders als die häufig wahrgenommene moralische Zweitcodierung der Religion, die auch Luhmann beobachtet, eröffnet diese Zweitcodierung neue Perspektiven: »Traditionelle Moral kann unter den Bedingungen der Moderne auch in der christlichen Religion offenbar nicht einfach unverändert weiterverwendet werden. Die Unterscheidung vollmächtiger Dienst/Nichtdienst könnte an dieser Stelle der christlichen Religion gewissermaßen als Zweitcodierung neue Perspektiven eröffnen. Sie konkretisiert die Kommunikationen und Handlungen im Bereich der christlichen Religion in einer Weise, die in der 613 614 615 616 617 618
Starnitzke (1996), S. 247. Luhmann (2002), S. 77. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 83. Vgl. Starnitzke (1996), S. 297. Vgl. a. a. O., S. 293.
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heutigen Gesellschaft wahrscheinlich besser zu plausibilisieren ist als der moralische Code«.619 Insbesondere für diakonische Unternehmen geht diese Unterscheidung über die Codierungsvorschläge hinaus, die an anderer Stelle für das System der sozialen Hilfe als mögliches Funktionssystem der Gesellschaft gemacht werden. Baecker schlägt beispielsweise den Code »helfen/nicht-helfen« als Leitunterscheidung sozialer Hilfe vor,620 und verortet die Programme, die sich an diesem Code orientieren, in den Organisationen des Sozialsystems : »Organisationen der Sozialarbeit machen die Unterscheidung zwischen Helfen und Nichthelfen entscheidungsfähig, das heißt, sie führen sie auf der Ebene ihrer Programmgestaltung als Zielwerte ein, und zwar beide, so daß auf der Ebene der Organisation entschieden werden kann und auch muß, was auf der Ebene des Funktionssystems nicht entschieden werden kann, nämlich ob in bestimmten Fällen geholfen wird oder nicht geholfen wird«.621 Diese Entscheidungsprogramme unterliegen jedoch auch den Kopplungen mit dem Rechts-, Politik- und Wirtschaftssystem, weshalb die Entscheidung, ob geholfen wird oder nicht, maßgeblich von deren Programmierung des Sozialsystems abhängt. In der Regel kann besonders leicht entschieden werden, wenn ein Anspruch auf Hilfe im Sinne der Sozialgesetzgebung vorliegt, und somit die Refinanzierung gesichert ist. Andernfalls wird es mitunter schwierig, wenn die Organisation Hilfe ablehnen muss oder müsste, obwohl in ihrer Sicht Hilfe notwendig wäre. Dieses Dilemma führt unter anderem zum Vorschlag, das Sozialsystem in der Codierung »Fall/Nicht-Fall« zu fassen, in der der rechtliche Anspruch auf Hilfe zum Auslöser der Kommunikation in der Leitunterscheidung mitgeführt wird.622 Helfen ist auch ohne rechtliche Grundlage möglich, Fallbearbeitung (mit gesicherter Refinanzierung) nicht. Dafür ist in letzterem Code das almosenhaft Mildtätige der Hilfe vermieden, da ein Anspruch auf Hilfe besteht. Somit werden schon in den unterschiedlichen Codierungsvorschlägen ›vollmächtiger Dienst/Nichtdienst‹, ›helfen/nicht-helfen‹ oder ›Fall/ Nicht-Fall‹ seitens verschiedener Beobachter die Spannungen und Widersprüche erkennbar, denen das Sozialsystem häufig unterliegt. Für diakonische Unternehmen bedeuten diese Kopplungen mit wenigstens den vorgestellten Funktionssystemen, dass sie die multiplen Codes und Programme dieser Referenzsysteme in ihren Entscheidungsprozessen berücksichtigen müssen. Die Codes werden somit in die Organisation ›hineinkopiert‹. Andernfalls würden relevante Umwelten »weggedacht«, wodurch die eigene 619 620 621 622
A.a.O., S. 297. Vgl. Baecker (1994), S. 100. A.a.O., S. 105 (Hervorhebung im Original). Vgl. Fuchs/Schneider (1995).
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Existenz als Organisation in gegebener Form bedroht würde. Um jedoch diese Pluralität bearbeiten zu können, muss die Organisation in der Lage sein, anschlussfähig mit den jeweiligen Referenzsystemen zu kommunizieren und die Codes entsprechend der Programme anzuwenden, also zu operationalisieren. Zugleich muss sie resonanzfähig gegenüber diesen Umwelten sein, d. h. Irritationen in Form von Veränderungen in diesen Umwelten müssen von der Organisation wahrgenommen, als Information im System aufgenommen und mit entsprechenden Informationsverarbeitungsprozessen bearbeitet werden. Somit bilden Organisationen in diesem Zuge und für diese Kopplungen Strukturen aus, die Sprachfähigkeit, Wissen und Kompetenz der relevanten Umwelt in ihrem Innern vorhält. Dies kann der Organisation nur durch Kopplung an psychische Systeme gelingen, die ihr Wissen der Organisation zur Ausdifferenzierung angemessener Strukturen zur Verfügung stellen oder selbst als Entscheidungsprämissen fungieren. Die Vielfalt des benötigten Wissens führt somit notwendigerweise zu einer Vielfalt der Professionen, die in diakonischen Unternehmen anzutreffen sind. Dadurch entstehen in den Organisationen Sinngemeinschaften, die eng mit den Professionen verbunden sind, jedoch nicht mit diesen gleichzusetzen sind, und die einerseits über das erforderliche Wissen verfügen, andererseits jedoch auch ihre eigenen Unterscheidungen und Bezeichnungen in der Organisation zur Anwendung bringen. Sinngemeinschaften können somit als soziale Systeme verstanden werden, die als Subsysteme in der Organisation existieren und dabei eine eigene Identität ausbilden und in die Organisation einbringen. Zwingend werden dadurch aber auch die unterschiedlichen Handlungs- und Begründungslogiken, Grammatiken, Werte und Leitunterscheidungen dieser Sinngemeinschaften in die Organisation mit übernommen. Schedler und Rüegg-Stürm sehen dadurch unterschiedliche Rationalitäten in der Organisation aufeinandertreffen, wobei Rationalitäten, ähnlich wie Kulturen, nicht einfach zu erfassen oder direkt zu beobachten sind.623 Sie werden jedoch erkennbar in den für eine Sinngemeinschaft spezifischen Fragestellungen (»Welche Fragen stellen sie sich und den anderen immer wieder?«), in Erfolgsmaßstäben (»Welches formale Kriterium muss erfüllt sein, um als erfolgreich zu gelten?«), in den zentralen Argumenten (»Welches sind Argumente, mit denen ein Akteur gegenüber den anderen typischerweise sein Handeln oder seine Entscheidung begründet?«), in Inkompatibilitäten (»Was müsste ein Akteur tun, wie müsste er entscheiden oder argumentieren, damit er von seiner Sinngemeinschaft als ›irrational‹ angesehen würde?«) und dem zentralen Referenzsystem (»An welchen Akteursgruppen außerhalb der Organisation ori-
623 Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 50.
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Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
entieren sich die betrachteten innerorganisatorischen Akteure? Woher werden die Erwartungen, Ansprüche und Werthaltungen ›importiert‹?«).624 Systemtheoretisch gesehen stellt sich somit die Frage, wie die unterschiedlichen Sinngemeinschaften ihre Umwelt beobachten, und welche Unterscheidungen und Bezeichnungen sie dafür verwenden. Ist beispielsweise der Mensch, der ihre Dienstleistungen in Anspruch nimmt, für sie Klient, Kundin, Bürger, Anwenderin oder Mitgeschöpf ? Welche blinden Flecke produzieren sie dabei notwendigerweise? Welche Umwelten definieren sie als relevant, und welche ignorieren sie? Mit welchen Umweltausschnitten und Diskursen können sie anschlussfähig kommunizieren und mit welchen nicht? Und welche Kulturen und Paradigmen in Form unentscheidbarer Entscheidungsprämissen bringen sie in die Organisation ein? Wie konstruieren sie somit letztendlich Realität? Für die Organisation stellt sich vor dem Hintergrund der multiplen Codes, Kompetenzen und Kulturen, die sie notwendigerweise beinhaltet, die zentrale Frage, wie diese teils sehr unterschiedlichen ›Bewohner‹ miteinander zurechtkommen. Schedler und Rüegg-Stürm benennen fünf unterschiedliche Bearbeitungsstrategien im Umgang mit multiplen Rationalitäten, die einer Organisation grundsätzlich zur Verfügung stehen.625 Diese unterscheiden sich einerseits danach, ob in einer Organisation implizit bzw. explizit mit der Multirationalität umgegangen wird,626 ob also systemtheoretisch gesprochen die Unterscheidung der verschiedenen Rationalitäten in die Organisation wieder eingeführt wird. Und andererseits, ob letztlich eine der Rationalitäten dominiert, oder ob zwei oder mehrere mit- und nebeneinander gleichberechtigt existieren. Aus systemtheoretischer Sicht also, ob Entscheidungsprämissen in der Organisation sich überwiegend an einem oder an mehreren Codes orientieren. Schedler und Rüegg-Stürm bezeichnen und definieren die unterschiedlichen Bearbeitungsstrategien wie folgt:627 1) Polarisierung: Die unterschiedlichen Rationalitäten sind offen erkennbar, wobei sich letztendlich eine von ihnen als dominant durchsetzt. Polarisierung geht oft mit Konflikten, Wettbewerb, Machtspielen zwischen existierenden und der Abwehr neuer Rationalitäten einher.628 Setzt sich eine neue Rationalität durch, kann das eine radikale Änderung des Referenzsystems und somit eine ebenso radikale Veränderung der Organisation nach sich ziehen.629 Gut beobachtbar wurde dieses Muster mit der Einführung einer ökonomischen Rationalität in das Sozialsystem. 624 625 626 627 628 629
Vgl. ebd. Vgl. Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 7ff. Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 194ff. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., S. 202ff. Vgl. a. a. O., S. 204f.
Multirationalität und Innovation
153
2) Vermeidung: Obwohl die Organisation in ein multirationales Umfeld eingebettet ist, werden die unterschiedlichen Rationalitäten nicht weiter thematisiert. Zwar dominiert implizit eine Rationalität, gelegentlich aufkommende Konflikte werden jedoch nicht zwischen den Rationalitäten verortet, sondern auf fehlendes Fachwissen, Antipathie, Machtspiele oder mangelnde Wertschätzung zurückgeführt. Andere Rationalitäten werden marginalisiert, nutzen Intransparenz und eigene Fachlichkeit, um Entscheidungen an der dominanten Rationalität ›vorbeizuschmuggeln‹ oder diese zu blockieren.630 Möglicherweise findet auch ein Rückzug auf zeremonielle Aktivitäten statt, die zwar externe Anforderungen befriedigen, jedoch keine Relevanz für die Entscheidungsprozesse der Organisation haben.631 In diakonischen Unternehmen wäre dies beispielsweise der Fall, wenn durch Gottesdienste und Andachten der Zeremonie genüge getan wird, die Organisation ansonsten jedoch diakonisch-theologische Inhalte marginalisiert. 3) Minimierung: Es werden die Unterschiede zwischen den Rationalitäten zumindest in der Wahrnehmung minimiert. Die Akteure schätzen sich selbst als wohlmeinend und akzeptierend ein, wobei sie implizit »die eigene organisationale Rationalität nicht als kontingent, sondern als letztlich allgemeingültig« ansehen, und dabei nicht erkennen, dass andere Sinngemeinschaften die Organisation deutlich anders wahrnehmen. Die Unterschiedlichkeit wird somit teils deutlich unterschätzt, »obwohl die jeweiligen Unterschiede grundsätzlich bekannt sind«.632 4) Toleranz: In der Organisation wird die Diversität unterschiedlicher Akteure wahrgenommen, jedoch nicht explizit auf unterschiedliche Rationalitäten zurückgeführt. Häufig kommt es dadurch zu einer impliziten Vermittlung zwischen den unterschiedlichen Rationalitäten. Dies gelingt solange, wie »über bestehende Differenzen Ambiguität und Intransparenz« bewahrt werden kann, »denn dank der Ambiguität und Intransparenz besteht die Möglichkeit, dass jeder Akteur seine eigene Interpretation auf bestimmte Entscheidungen anwendet – und sie damit für sich oder seine Sinngemeinschaft legitimieren kann«.633 Zeitweise ist es möglich, dass eine der ansonsten nebeneinanderstehenden Rationalitäten eine temporäre Dominanz erlangt, wodurch situativ die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit sichergestellt werden kann.634 Für die Tolerierung unterschiedlicher Sinngemeinschaft ist es hilfreich, wenn Gemeinsamkeiten betont werden, zum Beispiel durch eine starke Identifikation mit der Gesamtorganisation auf Grund eines gelebten 630 631 632 633 634
Vgl. a. a. O., S. 196ff. Vgl. a. a. O., S. 199. Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 8. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 207. Vgl. a. a. O., S. 209.
154
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
Leitbildes oder einer gemeinsamen Vision.635 Zudem kann die Trennung in dezentrale Subsysteme mit je eigener Rationalität sinnvoll sein, wenn Sinngemeinschaften über eine starke Professionalisierung verfügen, beispielsweise ein Forschungsbereich oder eine IT-Abteilung. Allerdings stellt die daraus resultierende größere Autonomie eine Herausforderung für das Management dar, da aus systemtheoretischer Sicht (Sub-)Systeme nicht von außen gesteuert werden können.636 5) Förderung: Die Förderung der Fähigkeiten im Umgang mit multiplen Rationalitäten hat zum Ziel, Multirationalität als Ressource zu verstehen und für die Organisation fruchtbar zu machen.637 Auf strategischer Ebene gilt dies gerade auch im Hinblick auf die Innovationsfähigkeit,638 während auf einer normativen Ebene die Frage gestellt wird, wie »unternehmerische Entscheidungen gefunden werden [können], ohne dass die Integrität der Unternehmung sowie die Würde der Mitarbeitenden in den einzelnen Sinngemeinschaften auf der Strecke bleiben«.639 Hierfür ist zum einen das Eingeständnis der Existenz und die Wertschätzung multipler Rationalitäten, die wechselseitige positive Anerkennung dieser Unterschiedlichkeiten, die Fähigkeit zum interrationalen Dialog, sowie die grundsätzliche Gleichberechtigung der verschiedenen Sinngemeinschaften erforderlich.640 Zum anderen ist die Fähigkeit zur »Übersetzung zwischen zwei Rationalitäten von höchster Bedeutung«,641 die durch den Aufbau gemeinsamer Lernarenen und Konventionen für die Verständigung zwischen den Rationalitäten ausgebaut werden kann.642 Darüber hinaus kann die Organisation durch »Insourcing externer Rationalitäten« neue oder bisher vernachlässigte Perspektiven einfließen lassen, »die das Gesamtsystem in seiner Kompetenz oder Legitimation [stärken]«.643 So wird es auch möglich, die blinden Flecke der Organisation zu verringern und so mehr relevante Umwelten wahrzunehmen und auf Veränderungen in diesen zu reagieren. Allerdings wird dadurch auch die Komplexität der Entscheidungsprozesse erhöht, was einen höheren Anspruch an das Management stellt.644
635 636 637 638 639 640 641 642 643 644
Vgl. a. a. O., S. 210. Vgl. a. a. O., S. 211f. Vgl. Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 9, Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 213. Vgl. Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 6. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 214. Vgl. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 214ff., Rüegg-Stürm (2011), S. 13. Schedler/Rüegg-Stürm (2013), S. 218. Vgl. a. a. O., S. 220f. A.a.O., S. 222. Vgl. Rüegg-Stürm/Schedler/Schumacher (2015), S. 10.
Multirationalität und Innovation
155
Jenseits der Bearbeitungsstrategien pluralistischer Organisationen für den Umgang mit multiplen Rationalitäten schlägt Labucay vor, die Organisation selbst auf den Ebenen der Strukturen, der Prozesse, der Personen und der Beziehungen auf die Bearbeitung von Heterogenität auszurichten. Eine solche Organisation bezeichnet sie als »Konziliare Organisation«, in der Konziliarität als gegenseitiges Raten und Beraten verstanden wird,645 das im Rahmen von Konzilen stattfindet. Konzile können dabei in der Organisation in unterschiedlichen Formen ablaufen, beispielsweise als Präsenzkonzile in kollegialer Beratung, Distanzkonzile in virtuellen Teams, dislozierte Konzile in Strategiezirkeln oder integrative Konzile in Diversity Councils.646 Konzile erfüllen unterschiedliche Funktionen, wie Steuerungsfunktion, Kontrollfunktion oder Initiativfunktion (zur Willensbildung), wobei insbesondere dislozierte und integrative Konzile eine Innovationsfunktion bereitstellen.647 In ihnen können einerseits Perspektiven jenseits der Routine eingenommen werden und andererseits Räume entstehen, in denen unterschiedliche Kulturen und Kompetenzen in Dialog treten können. Insbesondere im Fall pluralistischer Organisationen kann dabei durch die Vielfalt der Sinngemeinschaften innovatives Potential freigesetzt werden.
3.4.2 Innovation aus systemischer Perspektive Mit Blick auf Innovation ist zunächst festzustellen, dass die Systemtheorie selbst keine Begriffskonzeption bereitstellt, die Innovation von anderen Wandelphänomenen abgrenzen könnte.648 Soziale Systeme gleich welcher Art bestehen nur aus kommunikativen Ereignissen. Sie sind somit radikal temporalisiert und reproduzieren sich in jedem Moment von neuem. Innovation im Sinne der Erneuerung ist somit ein erwartbarer, wahrscheinlicher und immer schon bewältigter Vorgang, der zugleich jedoch auf strukturelle Widerstände stößt, wie Baecker ausführt: »Innovation ist unwahrscheinlich und wahrscheinlich zugleich. Sie ist unwahrscheinlich, weil ihr, wie gesagt, zahlreiche strukturell berechtigte Widerstände entgegenstehen, und sie ist zugleich wahrscheinlich, weil es jedes einzelne soziale System gar nicht gäbe, wenn es sich nicht laufend innovieren würde«.649 Wie jede Veränderung geschieht Innovation somit im Rahmen von Variation, Selektion und Re-Stabilisierung eines Systems auf Grund einer Irritation oder 645 646 647 648 649
Vgl. Labucay (2010). Vgl. a. a. O., S. 126f. Vgl. ebd. Vgl. Baecker (2012), S. 52; Besio/Schmidt (2012), S. 2. Baecker (2012), S. 53.
156
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
Störung. Eine Innovation ist somit nichts, das aus der Systemtheorie selbst heraus von anderen Wandelformen zu unterscheiden wäre. Die Unterscheidung, was Innovation ist, wird vielmehr von einem Beobachter gezogen. Sie wird in und durch den Kontext, in dem sie geschieht, als Innovation gekennzeichnet.650 Innovation ist somit selbst eine Beobachtung,651 und vollzieht sich wie jede Beobachtung in Unterscheiden und Bezeichnen.652 Es können daher spezifische Unterscheidungen anstelle spezifischer Merkmale benannt werden, die Innovation von anderen Wandelphänomenen unterscheiden. Als Unterscheidungen der Innovation als Beobachtung können die bereits in 2.2.3 dargestellten Differenzierungen in den zeitlichen, sachlichen und sozialen Sinndimensionen herangezogen werden. Eine Innovation markiert in der Zeit den Unterschied zwischen Nachher und Vorher und steht dabei selbst auf der Seite des Nachhers. In der Sachdimension unterscheidet die Innovation das Neue vom Alten. Sie bezeichnet das Neue, das aber nur in Abgrenzung vom Alten als Neu erscheinen kann. In der Sozialdimension trennt die Innovation das Abweichende vom Normalen. Sie bezeichnet die Abweichung, die durch soziale Akzeptanz und »Einsickerung« in das Sediment der Erwartungen und Grammatiken zum Normalen wird. Auf diesen drei Dimensionen wird ein Beobachter Unterscheidungen vollziehen und sie beispielsweise als Wandel, Mode, Revolution oder eben auch Innovation bezeichnen. Aus systemtheoretischer Perspektive müssen somit zwei Ebenen in den Blick genommen werden, um sich dem Phänomen einer Innovation zu nähern. Einerseits die Ebene der systemverändernden Prozesse selbst, und andererseits die Ebene der Beobachtung, auf der ein Beobachter diese Prozesse unterscheidet und als Innovation bezeichnet. Besio und Schmidt bezeichnen diese Ebenen als Struktur und Semantik.653 Auf der Ebene der Struktur läuft der Evolutionsprozess sozialer Systemstrukturen in Variation, Selektion und Stabilisierung, während auf der semantischen Ebene durch einen Beobachter mit Hilfe spezifischer Unterscheidungen ein bestimmter Ausschnitt dieses Prozesses mit der Zuschreibung als Innovation versehen wird. Vollziehen sich die Operationen des Systems als Beobachtung erster Ordnung, dann entspricht Innovation selbst einer Beobachtung zweiter Ordnung. 650 Damit wird auch klar, warum es eine unüberschaubare Menge an Innovationsdefinitionen gibt. In jedem Kontext werden Veränderungen unterschiedlich bewertet. Wenn eine Organisation als innovativ gelten möchte oder muss, reichen schon kleinere Adaptionen aus, um als Innovation propagiert zu werden, selbst wenn andere Beobachter sich fragen, worin die Innovation liegen mag. 651 Vgl. Brosziewski (2006), S. 4666. 652 Diese Sichtweise befindet sich im Einklang mit einer techniksoziologischen Perspektive und Rammerts Vorschlag einer reflexiven, postindustriellen Innovation (vgl. Kapitel 2.2.3). 653 Vgl. Besio/Schmidt (2012).
Multirationalität und Innovation
157
Bezogen auf eine Organisation kann der Beobachter zweiter Ordnung dabei an unterschiedlichen Stellen verortet werden. Dies kann die Organisation selbst sein, die in einer Selbstreflektion die Unterscheidungen der Innovation wieder in das System einführt oder es kann die Umwelt sein, die ein Projekt oder eine ganze Organisation als innovativ bezeichnet. Mit der Abweichung, die als Innovation markiert wird, wird in diesem Sinne immer ein Akteur, also eine Person, ein Team oder eine Organisation verknüpft, sie ist eine mindful deviation: »Es bedarf einer besonderen Form der Beobachtung dieser Abweichung, um von struktureller Innovation zu sprechen. Sie wird, anders als in anderen Formen sozialen Wandels, als artifizielle Abweichung betrachtet, eine Art ›mindful deviation‹ […]. Die Abweichung wird nicht als Nebenfolge menschlichen Handelns eingestuft, sondern als etwas angesehen, dass ›mindfulness‹ oder Achtsamkeit in einer speziellen Form impliziert. […] Die Innovation als Artefakt wird dabei stets Instanzen zugeschrieben, die für fähig gehalten werden, ›mindful‹ eine Veränderung hervorzubringen«.654 Die evolutorische, ›natürliche‹ Komponente der Innovation wird somit ergänzt um eine künstliche Komponente. Sie wird, »anders als in anderen Formen sozialen Wandels, als artifizielle Abweichung betrachtet«,655 als »Gemachtheit in Bezug auf systemische, ›nutzbare‹ Folgen«.656 Sie ist Folge einer intendierten Intervention oder Störung, die ein System zur Variation anregen soll. Entsprechend bezeichnet Baecker Innovation auch als Störung zweiter Ordnung: »Eine solche Störung zweiter Ordnung ist auch die Innovation. Eine Innovation wird erst dann erforderlich, wenn viele kleine Störungen […] aufgefallen sind und innerhalb der Organisation sichtbar nach einer Reaktion verlangen«.657 Anders formuliert: Störungen irritieren bestehende Routine. Und die Reaktion, die verlangt wird, ist eine Veränderung dieser Routine. »Routinen leben davon, dass sie gegenüber Variationen der Umwelt konstant gehalten werden können. Darin besteht nicht zuletzt auch ihre soziale Attraktivität. […] Irgendwann jedoch erweisen sich dieselben Routinen, die bislang die Ausdifferenzierung und Reproduktion der Organisation sichergestellt haben, als Gefährdungen dieser Ausdifferenzierung und Reproduktion. […] Dann müssen diese Routinen geändert werden. […] Die Innovation, verstanden als Störung zweiter Ordnung, ist eine Routine zweiter Ordnung, die es erlaubt, Routinen zu verändern (so wie Lernen in Organisationen erst möglich ist, wenn Regeln gefunden werden, die es erlauben, bei der Veränderung von Regeln korrekte Veränderungen von falschen Änderungen zu unterscheiden […])«.658 So verstanden, wird ein weiterer Zusammenhang deutlich: Aus Sicht der 654 655 656 657 658
Besio/Schmidt (2012), S. 12f. A.a.O., S. 13 (Hervorhebung im Original); Vgl. auch Baecker (2009). A.a.O., S. 8. Baecker (2012), S. 58. Baecker (2012), S. 59f.
158
Epistemologische und organisationstheoretische Grundlegung
systemischen Organisationstheorie sind die Routinen einer Organisation in Form von Strukturen, Prozessen und Regelsystemen zugleich ein zentraler Ort, an dem das Wissen der Organisation gespeichert ist.659 Diese Routinen sind nicht von ihrem Kontext zu lösen. Gleiches gilt daher für Wissen, wie Willke ausführt »Wissen entsteht, wenn Informationen in einen Praxiszusammenhang eingebunden werden und daraus eine neue oder eine veränderte Praxis folgt«.660 Wissen ist somit eingebettet in einen Praxisbezug, und nur dort kann neues Wissen entstehen und weitergegeben werden: »Entstehung und Transfer von Wissen setzen immer einen Erfahrungskontext voraus, eine ›community of practice‹ […]. In diesem Sinne gibt es kein ›theoretisches‹ Wissen, sondern nur praktisches Wissen im Umgang mit Theorie«.661 Mit Blick auf multirationale Organisationen eröffnet diese Sichtweise eine Reihe von Schlussfolgerungen. Erstens ist das Wissen der Professionen in den Routinen der Sinngemeinschaft gespeichert. Sie bilden eigene communities of practice, in denen das für ihre Praxis relevante Wissen generiert und transferiert wird. Zweitens ist der interdisziplinäre Wissenskorpus (vgl. 1.1) somit zwar vorhanden, aber zugleich nicht notwendigerweise zwischen den verschiedenen Professionen verknüpft und integriert. Drittens ist daher zu erwarten, dass das Wissen, das in multirationalen Innovationsprozessen benötigt wird, möglicherweise entweder nicht nutzbar ist (wenn die Trennung zwischen den unterschiedlichen Praxen sehr ausgeprägt ist), oder andererseits erst gar nicht in der Organisation zu finden ist, wenn diese Organisation in einer der am Prozess beteiligten Rationalitäten über keine eigene professionelle Praxis verfügt (beispielsweise im Bereich der Technologie). Es ist somit zu erwarten, dass Innovationsprozesse in multirationalen Organisationen immer auch Lernprozesse umfassen, die voraussetzend oder begleitend ablaufen, und die eine neue oder veränderte Praxis (oder auch Praxen) zur Folge haben werden.
659 Vgl. Willke (2007), S. 59ff. 660 A.a.O., S. 33. 661 Ebd.
4
Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen als Gegenstand empirischer Forschung
Nachdem im vorherigen Kapitel die epistemologischen und metatheoretischen Grundpositionen der Arbeit aufgebaut wurden, geht es im folgenden Kapitel darum, aufbauend auf dieser Basis eine für die geplante empirische Untersuchung angemessene Methodologie zu entwickeln. Das Forschungsdesign muss einerseits konsistent zur gewählten Metatheorie, andererseits der Fragestellung der vorliegenden Arbeit angemessen sein. Entsprechend gliedert sich das Kapitel wie folgt. – Der erste Abschnitt (Kapitel 4.1) greift die Überlegungen aus Kapitel 3 auf, leitet aus diesem Paradigma das der Arbeit zu Grunde liegende Forschungsverständnis ab und führt eine systemische Organisationsforschung als geeigneten Rahmen für die geplante Untersuchung ein. – In Kapitel 4.2 wird der Forschungsgegenstand anhand des beobachtungsleitenden Bezugsrahmens und der Analyseeinheit für die empirische Untersuchung definiert, bevor in – Kapitel 4.3 die Forschungsmethodologie mit Forschungsansatz, Methoden der Datenerhebung und -uswertung sowie den zu Grunde gelegten Gütekriterien einer qualitativ-interpretativen Sozialforschung vorgestellt und begründet wird. – Schließlich wird in Kapitel 4.4 der zeitliche Verlauf der Untersuchung dargestellt, bevor in Kapitel 4.5 der Forschungspartner vorgestellt wird.
4.1
Forschung als Beobachtung der Praxis
Die der Arbeit zu Grunde liegende epistemologische Grundposition bestimmt nicht nur das Verständnis von Organisationen, sondern auch das Forschungsdesign und das Verständnis von Forschung selbst. Für die vorliegende Arbeit wird dieses Fundament durch eine konstruktivistische Epistemologie bestimmt (vgl. 3.1), die Wirklichkeit nicht als objektiv gegeben, sondern als soziale Konstruktion durch unterschiedliche Beobachter versteht (vgl. 3.2). Im Folgenden
160
Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
soll ausgeführt werden, wie Forschung unter einem konstruktivistischen Paradigma einzuordnen ist, und welche Konsequenzen sich daraus für das Forschungsdesign der vorliegenden Untersuchung ableiten lassen.
4.1.1 Beobachtung zweiter Ordnung Für die Forschung bedeutet das konstruktivistische Axiom, dass sie keine übergeordnete Position einnehmen kann, von der aus sich eine objektive Realität untersuchen ließe.662 Einerseits weil Realität nicht in objektiv existierenden Entitäten vorliegt, andererseits weil Forschung vor diesem Hintergrund selbst als Beobachtung und damit Konstruktion zu verstehen ist. Diese Schlussfolgerung hat für die Forschung weitreichende Konsequenzen. Denn wenn Forschung nicht in der Lage ist, Realität objektiv zu beschreiben, welche Gültigkeit haben dann ihre Ergebnisse? Anders ausgedrückt: Was kann Forschung dann überhaupt noch leisten? Forschung als Programm der Wissenschaft hat zum Ziel, Wissen zu schaffen. In systemtheoretischer Perspektive kann Wissen jedoch unter Bezug auf die Ausführungen in 3.4.2 als die praxisrelevante Kontextualisierung von Information verstanden werden. Doch bereits was Information ist, und wie diese auf die Praxis bezogen wird, entscheidet dabei das System anhand seiner Relevanzkriterien selbst, sei es ein Organisationssystem oder ein Funktionssystem wie die Wissenschaft der Gesellschaft. Forschung kann in dieser Lesart somit weder Wissen noch Information unmittelbar erzeugen (außer in dem System, in dem die Forschung abläuft). Forschung als Beobachtung der Praxis kann selbst nur Unterscheidungen treffen. Sie tut dies, indem sie die Unterscheidungen beobachtet, über die ihr Forschungsgegenstand Wirklichkeit konstruiert. Sie beobachtet somit Beobachter, wie sie beobachten: sie ist Beobachtung zweiter Ordnung.663 Indem sie Beobachter beobachtet, beobachtet sie sowohl die Unterscheidungen als auch die blinden Flecke, also die Selbstverständlichkeiten, die im Vollziehen der Beobachtung hervorgebracht werden. Sie bietet ihre so »beobachteten Unterschiede« als alternative Deutung der Praxis an,664 sei es der Wissenschaft oder der Organisation selbst, die sie untersucht. Sie ist somit bestenfalls »Hebamme, die nicht zeugt, aber durch Praxis(nach)vollzug Neuem ans Tageslicht verhilft«, wie Kappler ausführt.665 Ihre Deutungen sind dabei nicht ›wahrer‹ oder ›objektiver‹ als die anderer Beob662 663 664 665
Vgl. Tuckermann (2007), S. 101. Vgl. Luhmann (2011b), S. 470. Vgl. Bateson (1985), S. 582. Kappler (1994), S. 53.
Forschung als Beobachtung der Praxis
161
achtungsperspektiven.666 Vielmehr ist Objektivität bestenfalls als das »Ergebnis der Einigung unterschiedlicher Beobachter über die anzuwendenden Beobachtungsmethoden und deren Ergebnisse vorstellbar«.667 Die Legitimation (oder der Sinn) der Forschung zu, in und über Organisationen liegt dann darin, dass sie aus einer anderen Perspektive auf die Organisation schaut, als die Organisation selbst,668 und sie daher wahrscheinlicher in der Lage ist, das zu sehen, was die Organisation selbst nicht sehen kann: die blinden Flecke, die sich durch die »Routinisierung funktionierender Unterscheidung« zwangsläufig ergeben (vgl. 3.2).669
4.1.2 Systemische Organisationsforschung An dieses wissenschaftstheoretische Fundament schließt die Ebene der Theorien und Konzepte an, auf der geeignete Theorien zur Beschreibung und Deutung von komplexen Wirkungszusammenhängen zu verorten sind.670 Diese Theorien stellen eine Form der Komplexitätsreduktion dar, da durch sie bestimmt wird, welche »theoretische Brille« der Forscher bei der Wahrnehmung und Untersuchung der Problemstellung trägt.671 Diese Brille muss konsistent zur darunterliegenden Epistemologie sein, im vorliegenden Fall Systemtheorie und Konstruktivismus.672 Es erscheint wenig sinnvoll, konstruktivistische Beschreibungen und Deutungen mit Hilfe positivistischer Theorien erreichen zu wollen. Für das Forschungsdesign stellt sich somit die Frage nach geeigneten Instrumenten und Methoden, mit denen in einem konkreten Forschungsvorhaben eine Untersuchung vorgenommen werden soll. Diese Methoden und ihre Anwendung müssen zur darunter liegenden theoretischen und epistemologischen Position konsistent sein, sowie dem Untersuchungsvorhaben angemessen sein, wie Luhmann ausführt: »Zunächst muß man entscheiden, welche Methode zu welchem Forschungsvorhaben überhaupt paßt, das heißt: welche Methode die Aussicht rechtfertigt, bestimmte Ergebnisse zu erreichen. Außerdem müssen die Methoden, oft unter Verzicht auf Strenge der Anwendung, den konkreten Gegebenheiten der Projekte angepaßt werden«.673 Für das Forschungsdesign der 666 667 668 669 670 671 672 673
Vgl. Jung (2008), S. 80. Simon (2007), S. 113. Vgl. Tuckermann (2013), S. 14. Vgl. a. a. O., S. 15. Vgl. Sander/Rüegg-Stürm/Wyss , S. 172f. Vgl. Höver (2013), S. 14. Vgl. Simon (2007). Luhmann (1990a), S. 414f.
162
Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
vorliegenden Untersuchung wird zu diesem Zweck unter anderem auf das von Tuckermann vorgelegte Konzept einer systemischen Organisationsforschung verwiesen werden, das sich methodologisch unter anderem entlang folgender Merkmale strukturiert.674 Zum einen sind in theoretischer Hinsicht Meta- und Gegenstandstheorien zu unterscheiden, d. h. »was als geschlossene theoretische Vorannahme vor den Forschungsprozess gesetzt wird (Metatheorie) bzw. welche Räume dem Gegenstand durch bestimmte methodologische Zugänge gegeben werden, sich selbst offenbaren zu können (Gegenstandstheorie)«, wie beispielsweise Vogd schreibt.675 Metatheoretische Annahmen werden zumindest für die Forschungsdauer stabil gehalten.676 Sie repräsentieren im Wesentlichen die »Brille«, die der Forschende zur Betrachtung des Untersuchungsgegenstandes trägt. Oder wie Tuckermann meint, sie ist der Bereich, in dem man »lieber Überraschung vermeiden möchte«, während man sich auf der Ebene der Gegenstandstheorien »von der Praxis überraschen lassen will«.677 Für die vorliegende Untersuchung wurde diese Unterscheidung mit der Präferenz für eine systemische Organisationstheorie bereits getroffen und in Kapitel 3 die metatheoretische Ebene dargelegt (während in Kapitel 2 in die relevanten Gegenstandstheorien eingeführt wurde). Des Weiteren ist für die Forschungsfrage der beobachtungsleitende Bezugsrahmen zu spezifizieren,678 in dem bestimmt wird, was und wo genau geforscht werden soll, um die Forschungsfrage zu beantworten. Somit enthält dieser Rahmen neben der Bestimmung der Analyseeinheit auch »Überlegungen sowohl aus der Gegenstands- wie aus der Metatheorie und stellt die Operationalisierung der Forschungsfrage dar«.679 Er dient zur Komplexitätsreduktion der Praxis, in dem er den Ausschnitt eben dieser Praxis beschreibt, der untersucht werden soll.680 Auf dieser Basis werden schließlich die Methoden der empirischen Untersuchung dargestellt, mit denen Daten erhoben, ausgewertet und gedeutet werden, sowie die Gütekriterien des so konzipierten Forschungsdesigns definiert.
674 675 676 677 678 679 680
Vgl. Tuckermann (2013). Vogd (2009), S. 102. Vgl. Tuckermann (2013), S. 24. Ebd. Vgl. a. a. O., S. 26ff. A.a.O., S. 27. Vgl. ebd.
Forschungsgegenstand
4.2
163
Forschungsgegenstand
Die im Zentrum der Arbeit stehende Forschungsfrage steht am Anfang der Überlegungen zu einem beobachtungsleitenden Bezugsrahmen: »Wie organisieren Sozialunternehmen Innovationsprozesse unter Berücksichtigung multipler Rationalitäten und den daraus entstehenden Friktionen und Potentialen?«
Möchten wir diese Frage mit Hilfe der dargelegten Metatheorie untersuchen, ist zunächst festzustellen, dass weder Rationalitäten noch Friktionen, Potentiale oder das Organisieren selbst direkt beobachtbar sind. Werden Organisationen als Kommunikationssysteme verstanden, müssen sich Rationalitäten, Friktionen und Potentiale in der Kommunikation des Systems wiederfinden, da sie ansonsten für die Organisation weder Existenz noch Bedeutung erlangen.681 Es ist somit in der Kommunikation der Organisation nach Mustern zu fahnden, die auf diese Phänomene hindeuten. Jedoch ist auch Kommunikation, wenn sie als Einheit einer dreifachen Selektion verstanden wird (vgl. Kapitel 3.2.2), nicht unmittelbar beobachtbar (da man nicht in die Köpfe der Kommunikationsteilnehmer hineinschauen kann). Was hingegen beobachtet werden kann, sind die Kommunikationsmuster in den sprachlichen Handlungen der Kommunikationsteilnehmer : »Sieht man dagegen Kommunikationen […] als zentrale Elemente jeder Organisation an, dann muß jede Veränderung des Systems zunächst vorrangig aus einer Veränderung der das System konstituierenden Kommunikationsmuster, Kommunikationsregeln und Semantiken folgen. Es wird dann unumgänglich für ein Begreifen und Beeinflussen des Systems, durch die Personen hindurch zu sehen auf die hinter ihnen sich verbergenden Kommunikationsstrukturen und -regeln«.682 Neben der Suche nach Kommunikationsmustern schlägt Willke zudem vor, danach zu fragen, »durch welche Einschränkungen die Besonderheit des betreffenden Sozialsystems gekennzeichnet ist, welche Restriktionen und Grenzen es sich selbst setzt und welche Ausschnitte von Welt damit als relevant und als irrelevant gesetzt sind« und »wie die internen Möglichkeiten des entstehenden Sozialsystems durch Regeln (offizielle Regeln, implizite Regeln) in eine bestimmte Ordnung gebracht werden«.683 Anders ausgedrückt, welche Strukturen und blinden Flecke das System im Vollzug des Organisierens unter Verwendung spezifischer Unterscheidungen produziert. Schließlich sieht Willke eine dritte Strategie in der Suche nach den Bedingungen gelingender Kommunikation zwischen Beobachtern, die nur scheinbar 681 Vgl. Simon (2011), S. 38. 682 Willke (1994), S. 99 (Hervorhebung im Original). 683 A.a.O., S. 101.
164
Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
»›einfach‹ miteinander kommunizieren können und deshalb gezwungen sind, kontinuierlich die Bedingungen gelingender instruktiver Kommunikation in ihren Kommunikationen mit zu erzeugen«.684 Zudem sieht Tuckermann einen Weg in der Beobachtung der Entscheidungsprämissen als Strukturen einer Organisation (vgl. Kapitel 3.3), also mit welchen Programmen, formellen und informellen Kommunikationswegen, Personal- und Stellenentscheidungen und durch welche unentscheidbaren Entscheidungsprämissen »als die sich über die Geschichte manifestierenden Werte« die Organisation Entscheidungsfähigkeit herstellt.685 Unter Berücksichtigung dieser Überlegungen kann in der Folge ein beobachtungsleitender Bezugsrahmen entwickelt werden.
4.2.1 Beobachtungsleitender Bezugsrahmen Die Forschungsfrage rückt Innovationsprozesse in Sozialunternehmen in den Fokus, in denen unterschiedliche Rationalitäten einerseits zu Friktionen und andererseits zu Innovationspotentialen führen (können). Dabei soll untersucht werden, wie eine Organisation mit dieser Multirationalität in den Innovationsprozessen umgeht, wie sie die entstehenden Friktionen bearbeitet und dadurch die Potentiale erschließt: wie sie mithin die Innovationsparadoxie des multirationalen Arrangements entfaltet. Im Rahmen der Untersuchung ist also nach Kommunikationsmustern der Bearbeitung von Multirationalität zu fahnden, die ihrerseits in den Mustern, Strukturen, Semantiken und Unterscheidungen der Kommunikation in der Organisation beobachtbar werden. Zur Operationalisierung der Forschungsfrage können vor diesem Hintergrund sowie den erfolgten theoretischen Ausführungen die zentralen Fragen für den Bezugsrahmen formuliert werden, die die Beobachtung leiten sollen. Sie beziehen sich dabei auf die vier analytischen Ebenen, auf denen die Forschungslücke vermessen wurde und die zur Formulierung der Forschungsfrage führten (vgl. 2.4.3): 1) Welche rationalitätsbezogenen Kommunikationsmuster werden im Innovationsprozess beobachtbar (z. B. in Fragestellungen, Erfolgskriterien, Argumenten, Leitunterscheidungen, Referenzsystemen, etc.)? 2) Welche friktionsbezogenen Kommunikationsmuster werden zwischen den Rationalitäten beobachtbar (z. B. Inkompatibilitäten, Konflikte, Ängste, Misstrauen, Missverständnisse, Unkenntnis des Gegenübers, etc.)? 3) Wie werden diese Friktionen zwischen den Rationalitäten bearbeitet (z. B. Kommunikationsverlauf, Kommunikationswege, Kommunikationsdynamik, etc.)? 684 A.a.O., S. 111. 685 Vgl. Tuckermann (2013), S. 27f.
Forschungsgegenstand
165
4) Wie wirkt sich diese Bearbeitung auf den Innovationsprozess und damit auf das Potential des multirationalen Arrangements aus (z. B. Impulse, Ideen, Wissen, Blockaden, Beschleunigung, etc.)? Mit dem so definierten Rahmen lässt sich nun die Frage nach der eigentlichen Analyseeinheit stellen, aus der sich die Orte der Beobachtung ableiten lassen. Spezifiziert der Bezugsrahmen, was genau untersucht werden soll, bestimmt die Analyseeinheit, wo die Untersuchung unternommen wird.686
4.2.2 Analyseeinheit Die Bestimmung der Analyseeinheit birgt eine methodische Herausforderung. Rückt die Forschungsfrage Innovationsprozesse in den Fokus, stellt sich die Frage, wo diese in der Organisation zu finden sind und insbesondere wie sie abgegrenzt werden können. Innovationsprozesse sind, wie die Prozesse des Organisierens und Entscheidens insgesamt, in einen Kontext eingebettet. Sie weisen keine klaren Grenzen auf und sind zudem mehrdeutig.687 Andererseits ist mit Innovationsprozessen das Merkmal der Intention verbunden (vgl. 3.4.2), was bedeutet, dass sie von der Organisation selbst als solche markiert werden müssen. Damit geht die Möglichkeit einer Verortung des Innovationsprozesses innerhalb der Organisation einher, da dem Prozess ein Rahmen in der Organisation zugeordnet wird. Dieser Rahmen kann sich unter anderem in strategischen Entscheidungen, Ressourcenzuordnungen, Teams und Projekten manifestieren. Fokussiert man jedoch in der Untersuchung lediglich auf das, was von der Organisation als Ort der Innovation markiert wird, greift man zu kurz, da der Prozess selbst über den Ort hinausweist. Innovationsprozesse sind ja gerade von einer Offenheit und der Interaktion mit der Umwelt geprägt. Somit ist zwar mit der Verortung keine Abgrenzung gegeben, dennoch repräsentiert sie ein Zentrum, in dessen Umfeld die Organisation den Innovationsprozess organisiert. Im vorliegenden Fall konnte dieser Ort beim Forschungspartner in der AG Assistive Technologien gefunden werden. In der Kommunikation, die im Umfeld dieses Zentrums ablief, konnten Themenströme identifiziert werden, in denen organisationale Bearbeitungsmuster von Multirationalität enthalten waren und dem Innovationsprozess zugeordnet werden konnten. Zentrales Selektionskriterium hierbei war, ob ein Themenstrom im Zwischenraum unterschiedlicher Rationalitäten angesiedelt werden konnte, oder ob er Berührungspunkte mit 686 Vgl a. a. O., S. 29. 687 Höver (2013), S. 129.
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Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
diesen aufwies. Dabei konnten drei Themenströme identifiziert werden, die in Rückbindung an die bisherigen Ausführungen wie folgt beschrieben werden können. – Kodes Dieser Themenstrom umfasst die Bearbeitungsmuster, die auf die Unterschiedlichkeit der Leitunterscheidungen, Referenzsysteme und Erfolgskriterien hindeuteten.688 – Kulturen Dieser Themenstrom umfasst die Bearbeitungsmuster, die auf die Unterschiedlichkeit der Sprache, Lebenswelten und Selbstverständlichkeiten hindeuteten. – Kompetenzen Dieser Themenstrom umfasst die Bearbeitungsmuster, die auf die Unterschiedlichkeit von Wissen, Methoden und fachlichen Zusammenhängen in der Praxis hindeuteten. Vor dem Hintergrund dieser Überlegungen erscheint eine Zweiteilung des Begriffs der Analyseeinheit sinnvoll, wie ihn beispielsweise Höver in seiner Untersuchung der Entscheidungsfähigkeit pluralistischer Organisationen in ähnlicher Weise anwendet,689 oder wie es Langley nahelegt, die zu den Analyseeinheiten im Kontext einer prozessualen Forschung ausführt: »They often involve multiple levels and units of analysis whose boundaries are ambiguous«.690 Einerseits spezifiziert die Analyseeinheit die Organisation und die Bereiche der Organisation, in der die Untersuchung ablaufen soll. Dabei sind in systemischer Perspektive nicht (notwendigerweise) Teams, Abteilungen oder Unternehmensbereiche gemeint, sondern Prozesse des Organisierens, im vorliegenden Fall Innovationsprozesse, die in der Organisation verortet werden können. Tuckermann nennt in diesem Zusammenhang beispielsweise auch Veränderungsinitiativen.691 Mit dieser Verortung wird es möglich, die Orte der Beobachtung abzuleiten, also eine Interviewpopulation, Gelegenheiten für teilnehmende Beobachtungen (beispielsweise Projekt- oder Teambesprechungen) oder die in diesem Kontext zirkulierenden Dokumente zu bestimmen. Im vorliegenden Fall wurde als Analyseeinheit der Kontext der AG Assistive Technologien der v. Bodelschwinghschen Stiftungen gewählt (vgl. 4.5). 688 Die hier verwendete Bezeichnung ›Kode‹ ist nicht zu verwechseln mit den binären »Codes« der Funktionssysteme in Kapitel 3.3, wenngleich hier offenkundig ein Zusammenhang besteht. 689 Vgl. Höver (2013), S. 127ff. 690 Langley (1999), S. 692. 691 Vgl. Tuckermann (2013), S. 29.
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Andererseits bezieht sich der zweite Teil des Begriffs, der analog mit Simon in der Folge als Untersuchungsgegenstand bezeichnet werden soll, auf die Kommunikationsmuster, Kommunikationsregeln und Semantiken, die in den Themenströmen der Analyseeinheit für die Fragestellung relevant sind. Simon definiert wie folgt: »Untersuchungsgegenstand sind dementsprechend Strukturen, Funktionen, die Relationen von Elementen innerhalb eines Gesamtgefüges, die Regeln der Interaktion, die Transformation von Systemzuständen«.692 Für die vorliegende Untersuchung lässt sich die Analyseeinheit somit genauer spezifizieren als die organisationalen Kommunikations- und Bearbeitungsmuster von Multirationalität im Innovationsprozess, die sich in den Interaktionen zwischen Personen, Aufgaben und Bereichen (wie beispielsweise auch Sinngemeinschaften) niederschlagen.
4.3
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4.3.1 Explorative Einzelfallstudie Die Forschungsfrage – wie lassen sich Innovationsprozesse unter Berücksichtigung multipler Rationalitäten und den daraus entstehenden Friktionen und Potentialen organisieren – bezieht sich empirisch auf Sozialunternehmen und die dort vorfindliche, spezifisch ausgeprägte Innovationsparadoxie. Wie gezeigt wurde, existiert hierzu nur wenig Forschung, weshalb ein Forschungsansatz als Beobachtung der Praxis sinnvoll ist,693 für den ein exploratives und qualitatives Forschungsdesign geeignet erscheint. Dyer und Wilkens, sowie Eisenhardt, plädieren in einem solchen Fall für eine Untersuchung in Form von Fallstudien,694 wobei sich ihre Ansätze grundlegend unterscheiden: Eisenhardt schlägt die Untersuchung mehrerer vergleichender Fallstudien vor, um eine höhere Generalisierbarkeit der Ergebnisse zu erhalten. Dem entgegen sehen Dyer und Wilkens dieses Vorgehen im Widerspruch zu klassischen Fallstudien und kritisieren: »We fear that this form of case research will not create an exemplar, that is, a story against which researchers can compare their experiences and gain rich theoretical insights. […] The emphasis of the classic case study approach is to highlight a construct by showing its operation in an ongoing social context«.695 Entsprechend plädieren sie für ein Forschungsdesign in Form einer Einzelfallstudie,696 da in dieser der komplexe 692 693 694 695 696
Simon (2007), S. 16. Vgl. Strauss/Glaser (1979), Strauss (1994), Breuer (2010), Lamnek (2005), S. 298ff. Vgl. Dyer/Wilkens (1991), Eisenhardt (1989). Dyer/Wilkens (1991), S. 613. Vgl. a. a. O., S. 614.
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Kontext, in dem die Fallstudie untersucht wird, mitgeführt werden kann, um so zu tiefgreifenderen und genaueren Ergebnissen zu gelangen.697 Diese Sicht wird beispielsweise unterstützt durch Langley,698 die Theoriebildung durch einen narrativen Zugang aufzeigt, was wiederum als Ausdruck der Berücksichtigung der unterschiedlichen Interpretationen von am Prozess Beteiligten verstanden werden kann, für den Baitsch eintritt.699 Somit geht es in diesem Ansatz um die Rekonstruktion und Interpretation eines Narrativs, in dem durch Eintauchen in den Kontext die Tiefenstruktur sozialer Prozesse zugänglich gemacht wird.700 Die Beantwortung der zu Grunde liegenden Forschungsfrage wird dann durch eben dieses rekonstruierte und interpretierte Narrativ repräsentiert. Die vorliegende Arbeit folgt dieser Argumentation aus folgenden Gründen. Erstens zeichnen sich Innovationsprozesse in Sozialunternehmen gerade durch eine Komplexität und Subtilität aus, die als auslösendes Moment des Erkenntnisinteresses bereits zu Beginn der Arbeit aufgegriffen wurde (vgl. Kapitel 1). Ein Forschungsansatz, der darauf abzielt, diese Komplexität frühzeitig zu reduzieren, erscheint weniger geeignet, sozialunternehmerische Innovationsprozesse zu untersuchen, als ein Ansatz, der eben diese Komplexität in den Mittelpunkt rückt. Zweitens ergibt sich aus der Argumentation für eine konstruktivistische, beobachterabhängige Epistemologie, dass die Forschungsfrage nicht mit Anspruch auf eine objektive Beschreibung von Realität beantwortet werden kann: sie fragt nicht, was etwas ist, sondern wie etwas in einem bestimmten sozialen Kontext bearbeitet wird. Generalisierbarkeit (zumindest in einem positivistischen Sinne einer allgemeingültigen, objektiven Wahrheit) durch eine komparative Untersuchung mehrerer Fallstudien kann somit nicht primäres Ziel der vorliegenden Arbeit sein. Vielmehr wird mit Bezug auf Weicks »Acknowledge Tradeoffs« von Genauigkeit, Einfachheit und Generalisierbarkeit in der Forschung ein Schwerpunkt auf die ersten beiden gelegt, da: »It is impossible for a theory of social behavior to be simultaneously general, accurate, and simple«.701 Drittens spielen in der Untersuchung die unterschiedlichen Kodes, Kulturen und Kompetenzen der Sinngemeinschaften eine zentrale Rolle, weshalb die Sicht der Beteiligten und ihre Interpretationen systematisch in die Untersuchung einbezogen werden müssen. Hierzu muss in den Kontext ›eingetaucht‹ werden, um die unterschiedlichen Perspektiven zu rekonstruieren und ihre Interaktio-
697 698 699 700 701
Vgl. Mayring (2016), S. 41ff. Vgl. Langley (1999). Vgl. Baitsch (1993), S. 5, vgl. auch Tuckermann (2007), S. 110ff. Vgl. Dyer/Wilkens (1991), S. 615. Weick (1979), S. 35f.
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nen beobachten zu können. Der dazu notwendige »rich background« ginge bei der Untersuchung mehrerer Kontexte höchstwahrscheinlich verloren.702 Viertens bietet sich aus systemtheoretischer Sicht einerseits ein exploratives und qualitatives Forschungsdesign an, da es um die Rekonstruktion von Kommunikationsstrukturen und -dynamiken geht.703 Jedoch kann dies nur in dem Kontext erfolgen, in dem sich diese Strukturen verändern und stabilisieren, weshalb sich eine Einzelfallstudie anbietet, die das Thema in einem spezifischen Kontext untersucht.
4.3.2 Datengenerierung Im folgenden Kapitel soll der Prozess und die Methoden der Datengenerierung beschrieben und begründet werden. Dabei sollen neben den Methoden auch der Zeitverlauf und die Orte der Datenerhebung dargelegt werden. Entsprechend den bisherigen Ausführungen zu einer systemischen Organisationsforschung im Rahmen einer explorativen Einzelfallstudie wurden in Konzeption und Durchführung der Datenerhebung folgende Aspekte berücksichtigt. Damit Forschung dem Ansatz einer kontextualistischen und prozessualen Forschung angemessen ist, wird sie im vorliegenden Fall als longitudinale Einzelfallstudie konzipiert, die es erlaubt, über einen längeren Zeitraum zu untersuchen, wie und warum sich Entwicklungen über die Zeit ergeben.704 Diese Form der Untersuchung ermöglicht es, den Untersuchungsgegenstand »in natural settings using observational and qualitative methodologies« zu erforschen, wie Pettigrew es für kontextualistische Forschungsvorhaben fordert.705 Um die Veränderungen und Entwicklungen im Verlauf des Innovationsprozesses untersuchen zu können, erstreckte sich die Feldphase daher über einen Zeitraum von zwanzig Monaten zwischen September 2014 und Mai 2016. Zweitens wurde zur Datenerhebung auf Methoden zurückgegriffen, die sich zur Untersuchung von Einzelfallstudien bewährt haben und empfohlen werden.706 Zu ihnen zählt insbesondere die Kombination von Einzelinterviews, Dokumentenanalyse und teilnehmender Beobachtung.707 Insbesondere bei der Untersuchung komplexer Prozesse wird für die Kombination unterschiedlicher Datenquellen argumentiert: »Finally, particularly in macrolevel studies of such processes as strategy making, innovation, and decision making, the researcher is 702 703 704 705 706 707
Vgl. Dyer/Wilkens (1991), S. 613. Vgl. Tuckermann (2013), S. 29. Vgl. Langley (1999), S. 692. Pettigrew (1987), S. 652. Vgl. Pettigrew (1990), S. 277f., Eisenhardt (1989), Jäger (2008). Vgl. Tuckermann (2013), S. 79ff.
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often obliged to combine historical data collected through the analysis of documents and retrospective interviews with current data collected in real time«.708 Im Folgenden sollen die genannten Methoden und ihre Anwendung in der Untersuchung dargelegt werden.
4.3.2.1 Einzelinterviews Die Interviews wurden als leitfadengestützte Einzelinterviews durchgeführt und stellen die zentrale Datenquelle der Untersuchung dar. Als Interviewpartner wurden Personen angefragt, die im Rahmen der AG Assistive Technologien bestimmte Rollen wahrnahmen oder in den Projekten mitarbeiteten. Dabei wurden sowohl Personen auf unterschiedlichen Hierarchieebenen vom Vorstand über Geschäftsführungen bis zu Projekt- und Einrichtungsleitungen und Pflegekräften befragt. Zudem wurden Beteiligte aus verschiedenen Projekten befragt, die in der AG gebündelt waren. Die Interviews wurden mit Einverständnis der Befragten aufgezeichnet und im Anschluss vollständig transkribiert. Sie wurden in einer Mischform von halbstandardisierten, problemzentrierten Interviews durchgeführt,709 die darauf abzielten, die subjektiven Theorien des Befragten zum Untersuchungsgegenstand zu rekonstruieren, sowie narrativen Interviews,710 um die biographischen, reichhaltigeren Erzählungen von Situationen und Erfahrungen im Zusammenhang mit dem Forschungsgegenstand zu Tage zu fördern. Dadurch sollten die Deutungen und Interpretationen des Interviewpartners zu bestimmten Situationen sichtbar gemacht werden. Zur Orientierung während der Interviews wurde die folgende Struktur genutzt, die für den jeweiligen Gesprächspartner angepasst wurde (vgl. Tabelle 3). Zunächst stellte sich der Forscher vor, erläuterte das Forschungsprojekt und das eigene Interesse, sowie den Ablauf und die Dauer des geplanten Interviews. Das Interview begann dann mit einer Frage zum biographischen und beruflichen Werdegang, bevor auf die Rolle des Interviewpartners im Innovationsprojekt eingegangen wurde. Anschließend wurde darum gebeten, Situationen zu benennen, die als besonders in Erinnerung waren oder die im Rahmen des Innovationsprozesses zu einem Konflikt, einer Veränderung oder einer Dynamik geführt haben, wie Pettigrew empfiehlt: »Go for extreme situations, critical incidents and social dramas«.711 An diesen Punkten wurden dann vertiefende Fragen gestellt, wodurch sich diese Situation oder dieses Ereignis als besonders hervorgehoben hatte, und wie von den Beteiligten damit umgegangen wurde. 708 709 710 711
Langley (1999), S. 693. Vgl. Flick (2011), S. 203ff., Jaeger/Reinecke (2009), S. 34. Vgl. Flick (2011), S. 228ff., Jaeger/Reinecke (2009), S. 34. Pettigrew (1990), S. 275.
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Der Zweck dieses Vorgehens war, den Gesprächspartner die Gelegenheit zu geben, ihr eigenes Narrativ dieser Episode zu erzählen. Es wurden weitere Nachfragen zu Positionen und zu Argumentationen der Beteiligten gestellt, bevor die erfolgte oder mögliche Veränderung und die damit verbundene Dynamik in einer Episode thematisiert wurde. Aus der bisherigen Vergangenheitsorientierung des Interviews wurde an diesem Punkt in eine Zukunftsorientierung übergeleitet, in der der Interviewpartner gebeten wurde, eigene Hypothesen über einen alternativen Verlauf und den möglichen zukünftigen Umgang mit ähnlich gelagerten Situationen aufzustellen. Dabei wurden während des Interviews gezielt zirkuläre Fragen verwendet, wie sie im Rahmen systemischer Forschung (aber auch systemischer Therapie) vorgeschlagen werden.712 Zum Abschluss wurde eine Reflektionsfrage gestellt, was aus Sicht des Gesprächspartners bisher noch nicht angesprochen wurde, oder was für den weiteren Forschungsverlauf von Bedeutung sein könnte. Kategorie
Themen
Kontext des Interviews im Forschungsprozess
Vorstellen der eigenen Person; Erläuterung des Forschungsvorhabens; Bitte um Aufzeichnungserlaubnis Fragen zum biographischen Hintergrund und beruflichen Werdegang Weg ins Projekt, Position im Projekt, Wahrnehmung der eigenen Rolle Konflikte, Spannungen, »Aha-Erlebnisse«, Wendepunkte, Entscheidungssituationen Eigene Beschreibung der Situation und der Umwelt Argumentationen, Kriterien der Beteiligten, welche Positionen nahmen die Beteiligten ein Wahrnehmungen, Erklärungsmuster, Vermeidung, Polarisierung, Toleranz, Kooperation. Hypothesen, alternative Handlungsweisen oder Konstellationen Was unerwähnt blieb; was für die weitere Forschung von Bedeutung sein könnte.
Biographie Rolle im Innovationsprojekt Besondere Ereignisse oder Situationen Was machte die Situationen besonders? Umgang mit diesen Situationen Wie wurde die Situation verändert oder wodurch hätte sie verändert werden können? Wie sollte zukünftig mit ähnlichen Situationen umgegangen werden? Reflektionsfrage Tabelle 3: Leitfadenstruktur
Während der Interviews wurde darauf geachtet, sich nicht zu starr am Leitfaden und der Struktur zu orientieren, um die notwendige Offenheit zu gewährleisten und den Gesprächsfluss nicht zu sehr einzuengen.713 Vielmehr ging es darum, die 712 Vgl. Pfeffer (2001). 713 Vgl. Jaeger/Reinecke (2009), S. 41.
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Erzählung des Interviewpartners zu stimulieren und ihm selbst die Möglichkeit zu geben, Themen, die für ihn relevant waren, im Interview vorkommen zu lassen und eigene Verknüpfungen herzustellen. Die durchschnittliche Dauer der Interviews betrug zwischen einer und zwei Stunden, und es fand in der Regel im jeweiligen Arbeitsumfeld des Gesprächspartners statt. Während des Interviews wurden durch den Forschenden erste Hypothesen und Beobachtungen notiert, die in der Nachbereitung ergänzt wurden. Insgesamt wurden auf diese Weise zehn formale Interviews durchgeführt, die durch eine Vielzahl informeller Gespräche im Beobachtungszeitraum ergänzt wurden.
4.3.2.2 Teilnehmende Beobachtung Im Beobachtungszeitraum hatte der Forscher zudem Gelegenheit, an Sitzungen, Besprechungen und Workshops teilzunehmen, die im Rahmen verschiedener Projekte oder auf Ebene der AG stattfanden. Hierzu zählten die regelmäßigen Sitzungen der AG Assistive Technologien, der Lenkungsgruppe zwischen den v. Bodelschwinghschen Stiftungen und dem CITEC, Mitarbeiter-Workshops zu Technikthemen oder auch Ethikworkshops im Rahmen eines Forschungsprojektes mit Teilnehmern aus Industrie, Forschung und Praxis. Dadurch wurde es möglich, Interaktions- und Kommunikationsprozesse »live« mitzuerleben und einen Abgleich mit den Interviewaussagen der Beteiligten vorzunehmen. Durch die unmittelbare Nähe zum Arbeitsalltag bot sich somit die Gelegenheit zur Verständnisvertiefung, und es wurde möglich, »auch organisationale Praxis zu beobachten, die sich der Artikulation in Interviews oder Dokumenten entzieht«, wie Tuckermann ausführt.714 Es ergab sich somit im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung die Möglichkeit, Daten zu generieren, die alleine aus den Interviews nicht erhoben werden konnten. Zu diesem Zweck nahm der Forscher die Rolle eines passiven Beobachters ein (nicht die eines aktiven Teilnehmers), der während der Beobachtung Besonderheiten in der Zusammensetzung und dem Ablauf der Interaktionen mitprotokollieren konnte, sowie erste Hypothesen festhalten konnte. Dabei ist anzumerken, dass diese »nicht von anderen Autoren stammen, sondern vom Forschenden. Damit sind [teilnehmende (d.V.)] Beobachtungen besonders den eigenen Beobachterkategorien ausgesetzt, während bei Dokumenten und lnterviewdaten die Beobachterkategorien von Praxispartnern und Forschenden zum Zuge kommen«.715 714 Tuckermann (2013), S. 81. 715 Tuckermann (2013), S. 81.
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4.3.2.3 Dokumentenanalyse Ergänzend zu Interviews und teilnehmender Beobachtung standen dem Autor auch Dokumente der Organisation zur Verfügung, die in die Untersuchung einbezogen werden konnten. Hierbei handelte es sich einerseits um öffentliche Dokumente, wie Internetseiten, Unternehmensveröffentlichungen wie Jahresberichte, Unternehmenszeitschriften, Firmenprospekten, aber auch interne Dokumente wie Sitzungsprotokolle, Präsentationen oder Informationspapiere. Durch die Dokumentenanalyse konnte der Unternehmenskontext und die Geschichte der Organisation in der Untersuchung mit berücksichtigt werden. Die Dokumente trugen somit dazu bei, Interviews und Beobachtungen zu ergänzen, abzugleichen und zu plausibilisieren, sowie den historischen Kontext des Unternehmens in die Untersuchung mit einzubeziehen.716 Schließlich bot die Dokumentenanalyse auch die Möglichkeit, einen Blick auf das Selbstbild des Unternehmens zu werfen, welches insbesondere in den öffentlichen Dokumenten von der Organisation erzeugt wurde.717
4.3.3 Datenauswertung Die vorliegende Untersuchung orientiert sich in der Auswertung der gesammelten Daten an Methoden, die in verschiedenen Studien ihre Tauglichkeit im Kontext systemischer Organisationsforschung unter Beweis gestellt haben und in der Literatur als geeignete Methoden der Datenauswertung vorgeschlagen werden.718 Das gemeinsame Ziel der vorgeschlagenen Methoden ist es zunächst, sich in der Vielzahl der generierten Daten »zurechtzufinden«, was beispielsweise durch Clustering und Themenbildung im Rahmen einer inhaltsanalytischen Auswertung erreicht werden kann.719 Zudem werden häufig Strategien der qualitativen Prozessforschung angewandt, die es erlauben, den zeitlichen Verlauf der Fallstudie zu strukturieren. Langley schlägt hierzu die Methoden wie visual mapping oder temporal bracketing vor.720 Um im Verlauf der Auswertung die strukturierten Daten von den Interpretationen zu unterscheiden, werden diese in verschiedenen Untersuchungen in first-order concepts und secondorder concepts getrennt.721 Die vorliegende Untersuchung verwendet eine 716 Vgl. Pettigrew (1990), S. 277f. 717 Vgl. Rüegg-Stürm (2002), S. 34. 718 Vgl. Tuckermann (2013), S. 82, sowie Rüegg-Stürm (2002), Tuckermann (2007), Jung (2008), Höver (2013). 719 Vgl. Mayring (2007), Gläser/Laudel (2010), S. 197ff., Jaeger/Reinecke (2009), S. 58f. 720 Vgl. Langley (1999). 721 Vgl. beispielsweise Höver (2013) und Rüegg-Stürm (2002).
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Kombination der vorgeschlagenen Methoden, die in der Folge beschrieben und begründet werden.
4.3.3.1 Offene Codierung Zur Auswertung des durch die Datengenerierung gewonnenen Rohmaterials werden verschiedene Strategien vorgeschlagen, die grundsätzlich in zwei Kategorien unterschieden werden können. Einerseits können strukturorientierte Methoden eingesetzt werden, die eine inhaltsanalytische Codierung des Materials vornehmen; andererseits können gegenstandsbezogene Ansätze verfolgt werden, in denen sinnauslegende, hermeneutische Verfahren zu Einsatz kommen. Während mit ersteren Methoden Verflechtungen und Zusammenhänge herausgearbeitet werden können, fördern letztere Erkenntnisse über latente Sinnstrukturen eines sozialen Kontextes.722 Auf Grund des Umfangs der generierten Daten aus Interviews, Dokumentenanalyse und teilnehmender Beobachtung erschien eine Strukturierung der Rohdaten notwendig, ohne zugleich zu viel von den Deutungen und ihren Kontexten zu verlieren. Daher wurde in der vorliegenden Untersuchung ein Ansatz verfolgt, der ein offenes Codieren in Form von In-vivo-Codes umfasste.723 Im offenen Codieren wurden aus dem Material Sätze, Abschnitte oder ganze Passagen mit einer Überschrift versehen, die sich ihrerseits in diesen Ausschnitten wiederfand oder sich zumindest sehr nah an ihnen orientierte (»In-vivo«). Durch die offene Codierung mit Hilfe von Invivo-Codes wurde einerseits eine Engführung auf Grund vorhandener Kategorien vermieden, andererseits konnten durch die Invivo-Codes Kontexte und Sinn der Passagen leichter mitgeführt werden. Auf diese Weise entstanden mehrere hundert Codes, die im weiteren Verlauf der Auswertung verdichtet wurden, wodurch sich nach und nach Kategorien ausbildeten, die mehrere Codes umfassten. Diese Gruppierung erfolgte mit Blick auf das Erkenntnisinteresse und den beobachtungsleitenden Bezugsrahmen, so dass organisationale Bearbeitungsmuster in Innovationsprozessen mit ihren Zusammenhängen und Kontexten sichtbar wurden. Um in diesem Prozess die Codes und damit die Kategorien nicht von ihrem Kontext zu trennen und dadurch einem unterkomplexen Bild des Forschungsgegenstandes Vorschub zu leisten, wurden die zentralen Interviewaussagen immer wieder anhand ihres eigentlichen Kontextes im Interview reflektiert und plausibilisiert. Für die Codierung wurde die Software MAXQDA eingesetzt, die lediglich die Arbeit des 722 Vgl. Tuckermann (2013), S. 82ff. 723 Vgl. Alvesson/Sköldberg (2009), S. 62, Tuckermann (2013), S. 83.
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Codierens erleichterte, jedoch keine Interpretationen und Zusammenhänge lieferte. Neben der fortlaufenden kontextuellen Reflektion wurde zudem auf Methoden der qualitativen Prozessforschung zurückgegriffen, die eine Strukturierung und Einordnung der identifizierten Bearbeitungsmuster erlaubten, sowie phasenübergreifende Zusammenhänge im Innovationsprozess sichtbar machten, wodurch der zeitliche Verlauf der Fallstudie strukturiert wurde. Diese Auswertung qualitativer Prozessdaten soll in der Folge beschrieben werden.
4.3.3.2 Konzepte erster und zweiter Ordnung Um die Unterscheidung zwischen dem Datenmaterial und der Interpretation desselben in der Fallstudie transparenter zu gestalten, wurde auf ein Konzept von Van Maanen zurückgegriffen. Van Maanen plädiert für die Unterscheidung von first-order concepts und second-order concepts, mit der das Ziel verfolgt wird, die Konstruktionen des Forschungspartners von denen des Forschenden zu trennen. Damit entspricht diese Unterscheidung dem Konzept von Forschung als Beobachtung zweiter Ordnung, in dem die Beobachtungen der Organisationsmitglieder von den Beobachtungen des Forschenden unterschieden werden. Zwar spricht Van Maanen in einer vereinfachten Definition von Fakten: »Put simply, first-order concepts are the ›facts‹ of an ethnographic investigation and the second-order concepts are the ›theories‹ an analyst uses to organize and explain these facts«;724 spezifiziert jedoch an gleicher Stelle, dass es sich bei diesen »Fakten«, die in der Datengenerierung gesammelt wurden, um die Interpretationen der Organisationsmitglieder handelt, die nur im biographischen und historischen Kontext Bedeutung gewinnen.725 Aus Sicht unserer Metatheorie handelt es sich somit um die Beobachtungen der Organisationsmitglieder und der Organisation selbst. Ebenso handelt es sich bei den second-order concepts um Interpretationen (oder Beobachtungen), in diesem Fall die des Forschenden, die es erlauben, die unter den Interpretationen der Organisationsmitglieder liegenden Muster, Strukturen und »background expectancies« zu rekonstruieren.726 »Typically, the more theoretically engaging second-order concepts represent what could be called ›interpretations of interpretations‹«.727 Die hier vorgestellten Auswertungsmethoden des Codierens und die Analyse qualitativer Prozessdaten dienen damit im Wesentlichen dazu, vom Datenma724 725 726 727
van Maanen (1979), S. 540. Vgl. ebd. Vgl. a. a. O., S. 541. Ebd.
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terial ausgehend zu einer Theoriebildung zu gelangen, also von first-order concepts zu second-order concepts zu gelangen. In Anlehnung an die Studie von Höver wird in der vorliegenden Untersuchung dieser Unterscheidung Rechnung getragen,728 indem in der Darstellung der Fallstudie die Entwicklungen und Bearbeitungsmuster anhand von empirischen Vignetten in ihrem Kontext (firstorder concepts) von der Interpretation des Forschenden (second-order concepts) getrennt werden. Die Interpretationen und damit Beobachtungen des Forschenden werden dabei durch die im Vorfeld getroffenen Festlegungen auf ein Theorieinventar maßgeblich beeinflusst. Im vorliegenden Fall also durch eine systemische Organisationstheorie und der darunterliegenden epistemologischen Grundposition, deren Kategorien, Unterscheidungen und Bezeichnungen die Interpretation leiten (vgl. Kapitel 3). 4.3.3.3 Prozessanalyse Letztlich untersucht Prozessforschung, wie sich Dinge über einen Zeitraum entwickeln, und warum sie sich auf diese Weise entwickeln.729 Die in den Vignetten sichtbaren Bearbeitungsmuster entwickelten und veränderten sich im Verlauf des Prozesses, und eben diese Entwicklung ist für die vorliegende Untersuchung von besonderem Interesse, da in ihr die Entfaltung der Innovationsparadoxie nachvollzogen werden kann. Um die identifizierten Bearbeitungsmuster strukturieren und in Beziehung setzen zu können, und so die Entfaltung der Paradoxie zu untersuchen, wurde in der Folge auf die integrierte Prozessanalyse von Miebach zurückgegriffen,730 die auf einem systemtheoretischen Prozessmodell basiert. In diesem bearbeitet eine Organisation Abweichung und Irritation vor dem Hintergrund ihres »Systemgedächtnisses« mit Prozessmechanismen der Systemveränderung. Miebach unterscheidet drei Mechanismen oder Operationen der Systemveränderung, die er als Selbstbeobachtung, Selbstbeschreibung und Selbstorganisation bezeichnet.731 Diese Mechanismen können unterschiedlichen, aufeinanderfolgenden Phasen im Prozess des Organisierens zugeordnet werden. In der Phase der Selbstbeobachtung nimmt das System Differenzen, Abweichungen und Variationen von der bestehenden Routine wahr, die beispielsweise in Form von Irritationen nicht länger ignoriert werden können. Somit ist »Selbstbeobachtung […] zunächst ein Moment im Prozessieren der eigenen Informations728 729 730 731
Vgl. Höver (2013), S. 147. Vgl. Langley (1999), S. 692. Vgl. Miebach (2009), S. 284ff. Vgl. a. a. O., S. 287ff. (Miebach definiert neben den drei genannten Operationen eine vierte, die er als zweite Selbstbeschreibung bezeichnte, rechnet diese aber nicht mehr den systemverändernden Operationen zu. (vgl. Miebach (2009), S. 289.)).
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verarbeitung«.732 Von besonderem Interesse in Transformationsprozessen sind dabei Konfliktsituationen, die Luhmann als kommunizierten Widerspruch definiert,733 und mit denen »Ablehnungspotentiale vom System zur weiteren Kommunikation genutzt [werden], die prozesstheoretisch in […] Strukturveränderungen transformiert werden«.734 In der Phase der Selbstbeschreibung des Systems erfolgt die Reflexion und Kommunikation der so wahrgenommenen Differenzen zu den bisherigen Routinen. Die wahrgenommenen Differenzen zur Routine werden in die Kommunikation des Systems wiedereingeführt und zum Gegenstand des Diskurses. In dieser prozessualen Reflexivität wird die Transformation des Systems möglich,735 indem sich neue Unterscheidungen, Prämissen und Praktiken entwickeln können, die schließlich in der Phase der Selbstorganisation in das Organisationssystem integriert werden.736 Im Zuge einer Prozessanalyse lassen sich diese Phasen untersuchen, indem die in ihnen vorfindlichen Bearbeitungsmuster beschrieben und interpretiert werden, und der Prozess des Organisierens kann entlang der drei Phasen dargestellt werden. Übertragen auf die vorliegende Fragestellung, wie Sozialunternehmen multirationale Innovationsprozesse mit ihren Friktionen und Potentialen organisieren, wird die Fallstudie entlang dieser Phasen strukturiert. In der Phase der Selbstbeobachtung beginnt die Organisation Irritationen und Differenzen nicht länger auszublenden und zu vermeiden und die daraus entstehenden Friktionen und Konflikte wahrzunehmen. In einer reflexiven Selbstbeschreibung nähert sich die Organisation diesen Konflikten und bearbeitet sie in einem reflexiven Prozess, der eine Transformation der multirationalen Konflikte in Strukturveränderungen ermöglicht. Schließlich stabilisiert das System durch Selbstorganisation eine Ebene multirationaler Kooperation, die eine Integration multipler Rationalitäten in den Innovationsprozess ermöglicht. Entsprechend strukturiert sich die empirische Untersuchung in Form einer Fallstudie entlang dieser drei Phasen: Zwischen Vermeidung und Konflikt (vgl. 5.1), Annäherung und Transformation (vgl. 5.2) und zwischen Kooperation und Integration (vgl. 5.3). Dabei darf diese linear anmutende Abfolge jedoch nicht zu dem Fehlschluss einer linear-kausalen Beziehung zwischen den Phasen führen. Der Prozess der Systemveränderung entwickelt sich vielmehr rekursiv über die Zeit und ist nur in den Veränderungen der Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster nachvollziehbar. Es gibt nicht den einen eindeutig bestimmbaren Zeitpunkt, zu dem die eine Phase endet und die neue Phase beginnt. Zu verschiedenen Zeitpunkten lassen sich in der Organisation Bearbeitungsmuster der verschiedenen Phasen 732 733 734 735 736
Luhmann (1984b), S. 234. Vgl. a. a. O., S. 530. Miebach (2009), S. 292. Vgl. a. a. O., S. 285f. Vgl. a. a. O., S. 288.
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finden, so wie in evolutionären Abläufen unterschiedliche Entwicklungsstufen in einem definierten Zeitfenster zeitgleich vorhanden sein können. Die Unterscheidung ist somit nicht chronologisch scharf zu unterscheiden, sondern nur in den spezifischen Merkmalen der Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster, die sich den jeweiligen Phasen zuordnen lassen, und die sich im Laufe der Zeit stabilisieren.
4.3.4 Gütekriterien Qualitative Forschung, insbesondere wenn sie auf einer konstruktivistischen Epistemologie beruht, kann mit den Gütekriterien eines abbildtheoretischen Paradigmas wie Objektivität, Reliabilität und Validität, nur wenig anfangen.737 Eine Orientierung an diesen Kriterien ließe »eine zentrale Problematik unbeachtet, nämlich daß der Sinn und die Bedeutung der Methoden und des damit gewonnenen Wissens grundsätzlich aus den epistemologischen Grundfragen des Entdeckungszusammenhangs entstehen«, wie Dachler ausführt.738 Ein konstruktivistisches Paradigma führt zwangsläufig dazu, die Ergebnisse der Forschung ebenfalls als Konstruktion (und gerade nicht als objektives Abbild der Wirklichkeit) zu verstehen. Gütekriterien einer interpretativen, rekonstruierenden Forschung müssen daher ebenso wie Forschungsansatz und gewählte Methoden der Datengenerierung und -auswertung mit den epistemologischen Grundpositionen konsistent sein.739 Dabei ist zu beachten, dass die Frage, wie die Güte qualitativer Forschung bewertet werden soll, noch nicht abschließend beantwortet wurde,740 vielmehr existieren eine Reihe von unterschiedlichen Vorschlägen zu möglichen Gütekriterien qualitativer Sozialforschung.741 So benennen beispielsweise Mayring oder auch Lamnek als Gütekriterien Verfahrensdokumentation, argumentative Interpretationsabsicherung, Regelgeleitetheit, die Nähe zum Forschungsgegenstand, die kommunikative Validierung sowie die Triangulation von Methoden oder Datenquellen,742 die im Folgenden dargelegt und auf die vorliegende Untersuchung bezogen werden sollen.
737 738 739 740 741 742
Vgl. ausführlicher Mayring (2016), S. 140ff. Dachler (2000), S. 417f. Vgl. Lamnek (2005), S. 146. Vgl. Flick (2011), S. 487. Vgl. u. a. Flick (2011), Lamnek (2005), Mayring (2016). Vgl. Mayring (2016), S. 140ff., Lamnek (2005), S. 146ff.
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a) Verfahrensdokumentation Die Verfahrensdokumentation soll ermöglichen, den Forschungsprozess intersubjektiv nachprüfbar zu machen.743 In wie weit hier von Nachprüfbarkeit im Sinne einer Reproduzierbarkeit der Ergebnisse gesprochen werden kann, ist vor dem Hintergrund einer systemtheoretischen Grundprämisse sicherlich diskussionswürdig. Geht man von der konsequenten Temporalisierung sozialer Prozesse und damit von Organisationen aus (vgl. 3.4), ist eine auf Reproduktion der Ergebnisse abzielende ›Wiederholung‹ des Forschungsprozesses ausgeschlossen: Die Organisation oder die Prozesse, die untersucht wurden, sind in dieser Form nicht mehr existent,744 der Untersuchungsgegenstand ist somit nicht von seinem zeitlichen und sozialen Kontext zu trennen. Zudem ist Forschung in diesem Paradigma ebenfalls Konstruktion und somit beobachterabhängig. Verfahrensdokumentation dient somit vielmehr der Nachvollziehbarkeit des Forschungsprozesses durch »Explikation des Vorverständnisses, Zusammenstellung des Analyseinstrumentariums, Durchführung und Auswertung der Datenerhebung«.745 Im vorliegenden Fall wurde die Verfahrensdokumentation berücksichtigt, indem einerseits durch die Unterscheidung von Meta- und Gegenstandstheorie die zu Grunde liegenden Beobachterkategorien und das gegenstandsbezogene Vorverständnis dargelegt wurden, sowie die zur Anwendung kommenden Methoden der Datenerhebung und -auswertung vor diesem Hintergrund beschrieben und begründet wurden. Während der Feldphase wurde zudem ein Forschungstagebuch geführt, in der Forschungsprozesse durch Kommentare und Notizen, beispielsweise im Rahmen der teilnehmenden Beobachtung dokumentiert wurden. Ebenso dient die Verschriftlichung und Verdichtung der Interpretationen innerhalb des vorliegenden Dokumentes zu wesentlichen Teilen der Verfahrensdokumentation. b) Argumentative Interpretationsabsicherung Auch in der argumentativen Absicherung der Interpretationen geht es um deren intersubjektive Nachvollziehbarkeit. Es gilt dabei die Regel, »dass Interpretationen nicht gesetzt, sondern argumentativ begründet werden müssen«.746 Das bedeutet jedoch nicht, dass andere Beobachter zu den gleichen Interpretationen gelangen müssen. Vielmehr müssen die Interpretationen in sich schlüssig sein und sich adäquat zum Vorverständnis verhalten.747 Es geht somit darum sicherzustellen, »dass die eigenen Vorannahmen nicht ungeprüft auf die Materialauslegung durchschlagen, so dass man sukzessive ein diffe743 744 745 746 747
Vgl. Lamnek (2005), S. 146. Vgl. Jung (2008), S. 243f. Mayring (2016), S. 145. Ebd. Vgl. ebd.
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renziertes und gut geprüftes Wissen generiert, welches sich für das Verständnis der alltäglichen Erscheinungsform eines Phänomens als brauchbar erweist«.748 Die vorliegende Fallstudie versucht, die Absicherung durch die Kennzeichnung der Interpretationen durch die Unterscheidung von first and second order concepts (vgl. 4.3.3.2), die Rückbindung der Interpretationen an Gegenstands- und Metatheorie, sowie durch eine enge kontextuelle Verbindung mit empirischen Vignetten in der Interpretation zu gewährleisten. c) Regelgeleitetheit Grundsätzlich bewegt sich qualitative Sozialforschung im Spannungsfeld zwischen einem notwendigen systematischen Vorgehen einerseits und einer erforderlichen Offenheit gegenüber ihrem Untersuchungsgegenstand andererseits.749 Qualitative Forschung muss sich an bestimmte Verfahrensregeln halten, die ein schrittweises Vorgehen ermöglichen. Hierzu ist bereits im Vorfeld der Untersuchung dieses Vorgehen zu reflektieren, um eher sequentiell und organisiert zu arbeiten, anstatt sich von der Dynamik des Forschungsprozesses zu spontanen Sprüngen und Ad-Hoc-Entscheidungen verleiten zu lassen. Dennoch muss die Offenheit für eben diese Dynamik aufrechterhalten werden, da durch sie der Forschungsprozess (gerade auch durch den Forschungspartner) zu oft zu den im Kern spannenden und relevanten Fragestellungen geführt werden kann. Jedoch gilt es, dabei nicht die Orientierung zu verlieren, weshalb die vorliegende Untersuchung auf verschiedenen Ebenen ›Landkarten‹ einsetzt, um so die Regelgeleitetheit sicherzustellen. Zum einen erfolgt die Orientierung anhand des in Abbildung 1 dargestellten Aufbaus der Untersuchung, der als ›Forschungslandkarte‹ fungierte. Die Unterscheidung von Praxisebene, Gegenstandstheorie, empirischer Untersuchung und Metatheorie erlaubt die grundlegende Verortung des jeweiligen Untersuchungsschritts im Kontext des Forschungsprozesses. Zum anderen folgte der Prozess der Datenerhebung und -auswertung immer dem gleichen Schema. Während der Interviews wurde ein dokumentierter Interviewleitfaden verwendet, der es den Interviewpartnern zugleich erlaubte, ihre eigenen Inhalte und Themen im Gespräch einzubringen. Ebenso wie die Datenerhebung orientierte sich die Auswertung am beobachtungsleitenden Bezugsrahmen, um sich dem Material mit einer stabil gehaltenen Fragestellung zu nähern, die die offene Codierung und die anschließende Kategorienbildung leitete.
748 Lueger (2000), S. 75f. 749 Vgl. Lamnek (2005), S. 147, Mayring (2016), S. 145.
Forschungsmethodologie
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c) Nähe zum Untersuchungsgegenstand Die Nähe zum Gegenstand ist ein Leitgedanke qualitativ-interpretativer Forschung und steht somit im Gegensatz zu quantitativen Methoden, die gerade eine kritische Distanz anstreben und den Untersuchungsgegenstand von seinem Kontext isolieren, um so einen Anspruch auf Objektivität zu verfolgen.750 Aus der Kritik an diesem Ansatz, nämlich dass je nach Fragestellung eine Untersuchung ohne Berücksichtigung des Kontextes zu kurz greift, leiten qualitative Ansätze wesentliche Teile ihrer Existenzberechtigung ab. Eben deshalb ist die Nähe zum Gegenstand in seinem unmittelbaren Kontext »in qualitativer Forschung von besonderer Bedeutung und ein methodologisches Grundprinzip. Qualitative Forschung sollte daraufhin überprüft werden, ob sie sich auf die natürliche Lebenswelt der Betroffenen gerichtet und deren Interessen und Relevanzsysteme einbezogen hat. Der Verlust der Nähe zum Gegenstand würde qualitative Sozialforschung als solche diskreditieren«.751 Dabei hängt diese Nähe von einer ganzen Reihe externer Bedingungen ab, die den Feldzugang im Forschungsprozess beeinflussen (welche Situationen können beobachtet werden, an welchen Besprechungen kann teilgenommen werden, welche Interviewpartner stehen zur Verfügung, etc.). Letztendlich muss die Nähe es erlauben, möglichst unmittelbaren Zugang zur kommunikativen Dynamik zu erlangen,752 sich also im vorliegenden Fall möglichst nah an den Innovationsprozess heranwagen. Bei aller Nähe muss der Forscher jedoch immer in der Beobachtung zweiter Ordnung verbleiben, also nicht selbst Teil des Systems werden, das er untersucht. Lamnek spricht dabei vom Dilemma zwischen Identifikation und Distanz,753 zu der Jung ausführt: »Auf der einen Seite wird von ihm verlangt, dass er sich mit dem Feld soweit identifiziert, dass er die Sinnstrukturen und Selektionsprinzipien des Systems nachvollziehen kann, das heißt, durch die Augen der anderen sehen lernt. Dafür muss er also vor allem in Distanz zu sich selbst treten. Andererseits würde er seinen Beobachterstatus genau in dem Moment verlieren, wo ihm das gelingt, denn dann würde er zum Teilnehmer oder zur Teilnehmerin des Systems, die Differenz zwischen dem Beobachter und dem Beobachteten würde dann verschwinden. Worum es geht, drückt der Begriff der teilnehmenden Beobachtung deshalb sehr gut aus: Es geht weder nur um Teilnahme, noch ausschließlich um die Beobachtung, sondern um die Einheit dieser Differenz zwischen Teilnahme und Beobachtung«.754 In der vorliegenden Untersuchung wurde die Nähe zum Untersuchungsgegenstand durch eine fast 20monatige Forschungsdauer hergestellt, während der durch fortlaufende teil750 751 752 753 754
Vgl. Mayring (2016), S. 146. Lamnek (2005), S. 147. Vgl. Jung (2008), S. 246. Lamnek (2005), S. 632ff. Jung (2008), S. 247.
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nehmende Beobachtungen in unterschiedlichen Kontexten, Interviews und informellen Gesprächen ein Eintauchen in den Innovationsprozess, seines spezifischen Kontextes und der ablaufenden Dynamik möglich wurde. d) Kommunikative Validierung Die kommunikative Validierung spielt in der systemischen Organisationsforschung eine zentrale Rolle, da sie kompatibel zu den systemtheoretischen Konzepten einer Beobachtung zweiter Ordnung und des Re-Entrys ist.755 Unter Re-Entry wird an dieser Stelle die Wiedereinführung der in der Beobachtung zweiter Ordnung gewonnenen Erkenntnisse in das untersuchte System verstanden. Kommunikative Validierung bedeutet somit die Einbeziehung des Forschungspartners (Personen oder Gruppen) in den weiteren Forschungsprozess, in dem die Interpretationen des Forschers den Akteuren vorgestellt und kommunikativ abgeglichen werden.756 Zudem kann eine kommunikative Validierung auch durch eine diskursive Auswertung mit weiteren Personen oder Gruppen durchgeführt werden, sei es innerhalb eines Forscherteams, einer Forschungswerkstatt oder auch im Rahmen von Konferenzen oder Workshops, um so die wissenschaftliche und praktische Anschlussfähigkeit der Ergebnisse und Interpretationen zu validieren oder zu plausibilisieren.757 Während des hier beschriebenen Forschungsprozesses wurde die kommunikative Validierung kontinuierlich vorgenommen und erfolgte auf verschiedenen Ebenen. Bereits während der Datenerhebung wurde in den Interviews das eigene Verständnis durch gezieltes Rückfragen an den Interviewpartner zurückgespiegelt. Informelle Gespräche wurde dazu genutzt, Hypothesen und Interpretationen kontinuierlich zurückfließen zu lassen, um so eine Rückkopplung mit dem Forschungspartner herzustellen. Zudem wurde regelmäßig der aktuelle Stand des Forschungsprozesses in einer Coachinggruppe mit anderen Doktoranden vorgestellt und reflektiert, sowie in kommunikativer Plausibilisierung mit externen Wissenschaftlern diskutiert, die über Erfahrungen mit systemischer Organisa755 Vgl. Tuckermann (2013), S. 90. 756 Vgl. Flick (2011), S. 495. 757 Vgl. Tuckermann (2013), S. 91f., Höver (2013), S. 154f., Jung (2008), S. 248. Jung weist darauf hin, dass der Begriff Validierung möglicherweise auf Grund seines Ursprungs in einer quantitativen Forschungstradition irreführend sein könnte, und schlägt statt dessen vor, von Plausibilisierung zu sprechen: »Ganz sicherlich kann eine solche Rückkopplung als Gütekriterium der qualitativen Sozialforschung kritisch in Frage gestellt werden, denn von Validierung im Sinne der quantitativen Forschungstradition kann aufgrund der angestellten wissenschaftstheoretischen Überlegungen ohnehin nicht gesprochen werden. Aus diesem Grunde sollte man deshalb auch besser von kommunikativer Plausibilisierung sprechen. Diese kann dann aber ganz sicher ein wichtiger Beitrag zur wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit der Forschungsergebnisse leisten, weil durch eine solche kommunikative Plausibilisierung sichergestellt werden kann, dass die Interpretation der Daten nicht beliebig verläuft.« (Jung (2008), S. 248).
Forschungsmethodologie
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tionsforschung verfügten.758 Hierdurch sollte die wissenschaftliche Anschlussfähigkeit geprüft werden. Des Weiteren konnten zentrale Arbeitshypothesen im Rahmen von Konferenzen und Workshops ausgewählten Führungskräften sozialer Unternehmen vorgestellt und reflektiert werden, um die Anschlussfähigkeit an die Praxis zu überprüfen.759 e) Triangulation Triangulation, also das Einnehmen und Vergleichen unterschiedlicher Perspektiven und Positionen, soll dazu beitragen, die Qualität der interpretativen Forschung zu steigern.760 Dabei stehen unterschiedliche Formen der Triangulation zur Verfügung, insbesondere eine Methoden- und eine Datentriangulation.761 Im ersten Fall erfolgt die Datengenerierung mit Hilfe unterschiedlicher Methoden, im letzteren ist die Triangulation beispielsweise dadurch gegeben, dass unterschiedliche Interviewpartner zu unterschiedlichen Zeitpunkten zum Untersuchungsgegenstand befragt und in unterschiedlichen Kontexten und zu verschiedenen Zeitpunkten teilnehmende Beobachtungen durchgeführt werden. Beide Varianten wurden in der vorliegenden Untersuchung eingesetzt (vgl. 4.3.2). Dabei ist aus konstruktivistischer Sicht der Eindruck zu vermeiden, dass sich durch Triangulation einer beobachterunabhängigen Realität angenähert werden könne. Jede Form der Datengenerierung ist ihrerseits eine Beobachtung, und nur weil etwas häufiger beobachtet wurde, wird es nicht notwendigerweise ›wahrer‹. »Erkenntnistheoretisch bleibt es dabei: Jede Beobachtung ist nicht die Sache selbst, ganz gleich, wie viele unterschiedliche Perspektiven diese Beobachtungen auch stützen mögen«, wie Jung ausführt.762 Aus systemtheoretischer Sicht ist vielmehr von Interesse, wo es Differenzen zwischen den Datenquellen gibt, da hier einerseits Hinweise darauf zu finden sind, ob in der Organisation Widersprüche existieren, die in lnterviewäußerungen und Beobachtungsbeschreibungen zwischen den explizit genannten und den beobachteten gebrauchten Erklärungen, Strukturen, Entscheidungsprämissen vorhanden sein können. Andererseits können die Differenzen zur Reflektion der eigenen Forschung genutzt werden, indem gefragt wird, warum 758 An dieser Stelle möchte ich Prof. Dr. Beate Hofmann, Prof. Dr. Stefan Jung, Dr. Hendrik Höver, Dr. Nicola Bücker, Elke Damian und Udo Polenske für die engagierte Begleitung in dieser Phase danken. 759 So zum Beispiel im Rahmen der »Nordlicht Dialoge« im April 2016, eines hochschulöffentlichen Vortrags am IDM im Juni 2016, der Jahrestagung des Finsoz (Fachverband Informationstechnologie in Sozialwirtschaft und Sozialverwaltung) im Oktober 2016 und auf der Dienstleistungstagung des Bundesverbandes evangelischer Behindertenhilfe im November 2016. 760 Vgl. Mayring (2016), S. 147f. 761 Vgl. Lamnek (2005), S. 158f. 762 Jung (2008), S. 249.
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diese Unterschiede auftreten, und ob gegebenenfalls der Forschungsprozess anzupassen ist. Die Triangulation dient dann eher der Qualitätssicherung des Forschungsprozesses und weniger der Validierung der Daten. Jung spricht in dem Zusammenhang daher auch von einer Plausibilisierung.763 Zudem wird durch die Verwendung unterschiedlicher Datenquellen eine gegenseitige Ergänzung komplementärer Sichtweisen ermöglicht. Daten, die aus der einen Perspektive gröber gegeben sind, können mit Hilfe anderer Quellen verfeinert werden, wie etwa Mayring ausführt: »Triangulation meint immer, dass man versuche, für die Fragestellung unterschiedliche Lösungswege zu finden und die Ergebnisse zu vergleichen [ … ] die Ergebnisse der verschiedenen Perspektiven können verglichen werden, können Stärken und Schwächen der jeweiligen Analysewege aufzeigen und schließlich zu einem kaleidoskopartigen Bild zusammengesetzt werden«.764
4.4
Forschungsverlauf
Nachdem die Forschungsmethodologie und das Forschungsdesign dargelegt wurden, soll im Folgenden ein Überblick über den zeitlichen Verlauf des Forschungsprozesses gegeben werden (siehe Abbildung 8). Zu Anfang des Prozesses stand das praxismotivierte Erkenntnisinteresse zu Innovationsprozessen in Sozialunternehmen, das im Oktober 2013 formuliert wurde. Es folgte eine mehrmonatige Phase, in der die vorhandene Literatur gesichtet und der wissenschaftliche Diskurs zu diesem Thema reflektiert wurde. Im weiteren Verlauf wurden bis Mai 2014 die zentrale Forschungsfrage und die metatheoretischen Grundlagen der geplanten Untersuchung entwickelt. Die Konzeption des Forschungsdesigns und die Akquisition des Forschungspartners, der AG Assistive Technologien der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel erfolgte im Sommer 2014. Gemeinsam mit dem Forschungspartner wurde die Feldphase der Untersuchung geplant. So wurden eine Interviewpopulation, Möglichkeiten der teilnehmenden Beobachtung und der Zugang zu relevanten Dokumenten vereinbart. Die Feldphase begann im September 2014 mit der Vorstellung des Forschungsvorhabens auf einem Treffen der AG Assistive Technologien. In den folgenden zwanzig Monaten wurde der Innovationsprozess begleitet und die Daten mit Hilfe der beschriebenen Methoden generiert. Im Sinne eines iterativen Vorgehens wurde nach einer ersten Phase der Datengenerierung mit der Auswertung des Materials begonnen, dessen weitere Auswertung und Plausibilisierung bis Juli 2016 andauerte. Die Verschriftlichung 763 Vgl. a. a. O., S. 248 . 764 Mayring (2016), S. 147f.
Forschungsverlauf
Abbildung 8: Forschungsverlauf
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der Ergebnisse erfolgte schließlich bis zum Januar 2017. Die Verschriftlichung der Reflektion des wissenschaftlichen Diskurses, sowie der Entwicklung der Forschungsfrage, des metatheoretischen Fundaments und des Forschungsdesigns erfolgte begleitend zur Feldphase bereits vor diesem Zeitraum.
4.5
Forschungspartner: Die AG Assistive Technologien in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
Als Forschungspartner konnte für die geplante Untersuchung, wie bereits erläutert, die AG Assistive Technologien der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel (vBS Bethel) gewonnen werden. Zu diesen Zweck wurde ein formeller Forschungsantrag eingereicht, der vom Vorstand der vBS Bethel genehmigt wurde. Die vBS Bethel sind mit ca. 18.000 Mitarbeitenden eines der größten Sozialunternehmen in Deutschland. Es entstand aus einem Heim für epilepsiekranke Menschen, das 1867 von der Inneren Mission in Bielefeld gegründet wurde, und aus dem sich insbesondere in der Zeit bis zum ersten Weltkrieg eine umfangreiche und vernetzte Einrichtung entwickelte, die die drei Anstalten Bethel, Nazareth und Sarepta umfasste. Diese bilden bis heute als eigenständige Stiftungen (zusammen mit der Hoffnungstaler Stiftung Lobetal) die vBS Bethel. Sie sind über ihren jeweiligen Vorstand verbunden, der stiftungsübergreifend aus denselben Personen besteht. So wie diese gewachsene Struktur bis heute im Unternehmen erkennbar ist, so prägt an vielen Stellen auch die hundertfünfzigjährige Geschichte der vBS Bethel ihr Selbstverständnis und die Kultur als diakonisches Unternehmen. Die praktische Arbeit orientiert sich weniger an der Stiftungsstruktur, sondern gliedert sich in verschiedene Stiftungs- und Unternehmensbereiche, so beispielsweise die Bereiche Bethel.regional, proWerk/Betriebe oder den Stiftungsbereich Altenhilfe. Jeder dieser Stiftungs- und Unternehmensbereiche hat eine eigene Geschäftsführung, die die Arbeit, Prozesse und Strukturen in diesem Bereich lenkt und verantwortet. Neben den genannten Bereichen gibt es zentrale Dienstleistungszentren wie Rechnungswesen, Informationstechnologie oder Bau und Technik, sowie den Zentralen Bereich, der vorwiegend Verwaltungsbereiche umfasst, aber auch die Stabsstelle Unternehmensentwicklung, die die Arbeit der AG Assistive Technologien koordiniert. Die AG Assistive Technologien wurde im Juli 2010 ins Leben gerufen, nachdem der Vorstand ein technologiebezogenes Ziel in die strategische Planung mit aufgenommen hatte: »Innovativ handeln – Wir setzen fachliche Innovationen zeitnah um, beteiligen uns an der Entwicklung, Erprobung und
Die AG Assistive Technologien in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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Anwendung neuer Ideen und Konzepte, assistierender und kommunikationsfördernder Technologien und kooperieren dabei mit Wissenschaft und Forschung«.765 Die Ziele, die die vBS Bethel mit der Entwicklung assistiver Technologien verfolgen wollte, wurden im ersten Sitzungsprotokoll der AG wie folgt festgehalten: »Die Selbsthilfe- und Selbstbestimmungsmöglichkeiten von Nutzenden bei der Gestaltung des Alltags und in der Kommunikation sind erweitert. Mitarbeitende sind von Routineaufgaben entlastet und verfügen über erweiterte Spielräume für personenbezogene Unterstützungsleistungen. Die Anzahl der Mensch/Technik-Schnittstellen ist minimiert«.766 Die Mitglieder der AG waren zu Beginn Vertreter aus Stiftungs- und Unternehmensbereichen, die durch geplante Projekte Anknüpfungspunkte zum Thema Assistive Technologien sahen, sowie Vertreter aus den Dienstleistungszentren. Den Vorsitz übernahm ein Vorstandsmitglied der vBS Bethel. Diese Struktur wurde im Wesentlichen beibehalten, wenngleich durch die wachsende Anzahl der Projekte die Teilnehmerzahl beständig stieg, und die generelle Koordination auf die Stabsstelle Unternehmensentwicklung überging. In enger Verbindung zur AG Assistive Technologien und zur Aufnahme des Technologieziels in die strategische Planung ist die Kooperation mit der Universität Bielefeld zu sehen. Zwar existierte schon seit längerer Zeit eine Zusammenarbeit auf unterschiedlichen Ebenen zwischen der vBS Bethel und der Universität. Jedoch trat letztere in 2010 an die vBS Bethel mit dem Vorschlag heran, einen formalen Kooperationsvertrag zu schließen. In diesem Zusammenhang wurde das Thema Assistive Technologien als mögliches gemeinsames Forschungsfeld benannt, in dem insbesondere eine Zusammenarbeit mit dem Exzellenzcluster Kognitive Interaktionstechnologie (CITEC) der Universität zustande kam. Als das CITEC 2011 seine Förderung als Exzellenzcluster bei der DFG neu beantragen musste, wurde die Partnerschaft mit den vBS Bethel explizit in der Bewerbung erwähnt und in einem ›Letter of Intent‹ die vertiefte Zusammenarbeit vereinbart. Aus dieser Zusammenarbeit entstanden in der Folge eine Reihe von gemeinsamen Forschungsprojekten, die einerseits ebenfalls in der AG Assistive Technologien vertreten waren. Andererseits wurden verschiedene Kooperationsgremien gegründet, zu denen neben der AG Assistive Technologien auch eine Lenkungsgruppe auf Vorstandsebene sowie die jeweiligen Projektgruppen gehörten, die mit den gemeinsamen Forschungsprojekten betraut wurden und werden. Insgesamt wurden und werden unter dem Dach der AG eine Vielzahl unterschiedlicher Projekte und Vorhaben rund um das Thema Assistive Technologie koordiniert. Einige davon laufen in Federführung des CITEC, andere verfolgen 765 Sitzungsprotokoll der AG Assistive Technologien vom 22. Juli 2010 (Dok-AG-01). 766 Ebd.
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Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
die vBS Bethel eigenständig. Aus der großen Menge der Projekte sollen in der Folge drei näher vorgestellt werden, die im Rahmen der vorliegenden Untersuchung eine herausgehobene Rolle innehatten. 1) Projekt »KogniHome« Das Projekt »KogniHome« ist ein großes Verbundforschungsprojekt unter Beteiligung von insgesamt fünfzehn Partnern aus Wissenschaft, Industrie und Sozialbereich.767 Im Projekt soll eine intelligente Modellwohnung entwickelt werden, die für unterschiedliche Zielgruppen technische Assistenzsysteme umfasst. Hierzu gehören eine »Digitale Küche«, ein intelligenter Eingangsbereich und Virtuelle Dialogassistenten, beispielsweise ein Persönlicher (digitaler) Trainer. Zudem werden in dem Projekt im Sinne einer Querschnittsfunktion für alle Teilprojekte ethische, soziale, rechtliche und sicherheitsrelevante Fragestellungen bearbeitet (sogenannte ELSI-Aspekte). Federführend in diesem Projekt ist das CITEC. Als diakonischer Träger arbeiten die vBS Bethel im Kontext des Verbundprojekts besonders über die Bereiche Altenund Behindertenhilfe, den Bewegungs- und Sporttherapeutischen Dienst mit, sowie durch die besonderen Kompetenzen der vBS Bethel in der Bearbeitung ethischer Fragen. So arbeiten die vBS Bethel im ELSI-Querschnittsprojekt zu ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen mit. Das Projekt KogniHome begann im Jahr 2014 mit einer geplanten Dauer von drei Jahren. Finanziert wird das Projekt zum überwiegenden Teil aus Mitteln des BMBF, das insgesamt acht Millionen Euro bereitstellte. 2)
Assistive Technologien in einem Neubauvorhaben in der stationären Altenhilfe Im Stiftungsbereich Altenhilfe wurde für das Jahr 2011 der Neubau einer stationären Altenhilfeeinrichtung geplant. Der Stiftungsbereich verfügte bereits über erste Erfahrungen mit Assistiven Technologien in anderen Projekten und formulierte seine Zielsetzung im Zusammenhang mit dem Neubauvorhaben so: »Ziel des Stiftungsbereiches Altenhilfe ist es, mit Hilfe innovativer, assistiver Technologien Nutzerinnen und Nutzern zusätzliche Sicherheit und Lebensqualität zu ermöglichen, den Ressourceneinsatz im Bereich von Pflege- und Dokumentation zu optimieren sowie AAL-Leistungen als Marketinginstrument in einem stark wettbewerbsorientierten Altenhilfemarkt einzusetzen. Zur Implementierung assistiver Techniken in Einrichtungen der vBS Bethel strebt die Altenhilfe gemeinsame Planungsempfehlungen für nachhaltiges Bauen an«.768 Der Neubau wurde schließlich mit technischen Assistenzsystemen ausgestattet, 767 Vgl. https://www.kogni-home.de/ (abgerufen am 3. 1. 2017). 768 Sitzungsprotokoll der AG Assistive Technologien vom 22. Juli 2010 (Dok-AG-01).
Die AG Assistive Technologien in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel
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die es erlauben, bei Bedarf und nach Zustimmung durch die Klienten eine Sensorik zu aktivieren, die in der Lage ist, potentielle Notfälle selbstständig zu registrieren und über gewohnte Meldewege an das Pflegepersonal weiterzuleiten. Zu diesem Zweck wurde mit unterschiedlichen Technologiepartnern zusammengearbeitet, um gemeinsam ein geeignetes System zu entwickeln. Dies war erforderlich, da am Markt kein bestehendes System vorhanden war, welches die Anforderungen der vBS Bethel erfüllen konnte. Das Projekt wurde im Wesentlichen aus Eigenmitteln der vBS Bethel finanziert. 3) PIKSL Labore Das Projekt PIKSL hat zum Ziel, Menschen mit und ohne Behinderungen zusammenzubringen, um innovative Ideen durch Inklusion zu verwirklichen.769 Dies soll unter anderem gelingen, indem moderne Informationstechnologie für Menschen mit geistiger Behinderung zugänglich gemacht wird, um ihnen die Teilhabe an der Gesellschaft zu erleichtern und zugleich die Abhängigkeit von professioneller Unterstützung zu reduzieren.770 Ein zentrales Merkmal dieses Projektes ist die Teilhabe der Klienten und Mitarbeiterinnen in den sogenannten PIKSL Laboren als Entwickler und Forscherinnen in der Entwicklung geeigneter Technik. Die Labore sollen Kommunikationsorte, »Treffpunkt und Denkfabrik« sein, beispielsweise in Form eines früheren Ladenlokales in zentraler Lage, die eine Schnittstelle zum Ausbau sozialer Vernetzung und interdisziplinärer Kommunikation bieten.771 Auch dieses Projekt wurde mit einer Reihe externer Partner aus Wissenschaft und Wirtschaft entwickelt. Finanziert wurde es insbesondere zu Anfang aus Spenden- und Eigenmitteln. Diese Konstellation der unterschiedlichen Projekte, die dennoch in einem gemeinsamen organisationalen Rahmen verortet werden konnten, war für die geplante Untersuchung in mehrfacher Hinsicht geeignet. Aus Sicht des vorliegenden Forschungsvorhabens war ein Kontext im Sinne eines ›extreme case‹ wünschenswert, in dem möglichst alle relevanten Rationalitäten im Innovationsprozess vorzufinden waren. Wie aus den vorgestellten Projekten ersichtlich wird, lagen diese Bedingungen im Umfeld der AG Assistive Technologien und ihrer Projekte vor. Zum einen bewegten sich die Themen der Projekte im Spannungsfeld zwischen personaler und digitaler Assistenz, und somit in besonderer Weise zwischen Mensch und Technik (vgl. 2.1.3). Zum anderen wurde in allen Projekten mit externen Partnern aus Forschung und Industrie zusammengearbeitet, so dass technologische 769 Vgl. http://www.piksl.net/ (abgerufen am 3. 1. 2017). 770 Vgl. Sitzungsprotokoll der AG Assistive Technologien vom 22. Juli 2010 (Dok-AG-01). 771 Vgl. http://www.piksl.net/was-ist-piksl.html (abgerufen am 3. 1. 2017).
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Innovationsprozesse diakonischer Unternehmen
und ökonomische Sinngemeinschaften in besonderer Weise beobachtbar waren. Zugleich waren durch die vBS Bethel ausgeprägte theologische, ethische und sozialprofessionelle Rationalitäten vertreten. Das multirationale Arrangement mit den verschiedenen Kodes, Kompetenzen und Kulturen trat vor diesem Hintergrund deutlicher als in den anderen Optionen einer Forschungspartnerschaft für die vorliegende Untersuchung zu Tage. Zugleich bot die Unterschiedlichkeit der Projekte die Möglichkeit, den Innovationsprozess umfassender zu untersuchen und zu begleiten, während die Koordinierung durch die AG alle betrachteten Projekte verband und in einem Kontext beobachtbar machte. Hierdurch konnte auch die Feldphase einfacher koordiniert werden und der Feldzugang wurde dem Forschenden sehr erleichtert.772 Das Ergebnis dieser Feldphase und der Rekonstruktion des Innovationsprozesses zur Beantwortung der Forschungsfrage, das sich in der Umsetzung des dargestellten Forschungsdesigns ergab, wird im folgenden Kapitel beschrieben.
772 An dieser Stelle möchte ich mich ganz besonders und herzlich bei Frau Melissa Henne bedanken, die mich in großartiger Weise in allen Aspekten des Feldzugangs unterstützt hat. Sie hat mir Türen geöffnet, zahllose Fragen beantwortet und mir als Reflektionspartnerin während der gesamten Feldphase und darüber hinaus zur Verfügung gestanden.
5
Entfaltung der Innovationsparadoxie eines diakonischen Unternehmens
In diesem Kapitel wird die Entfaltung der Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen im Rahmen der Fallstudie empirisch untersucht. Zu diesem Zweck werden die organisationalen Bearbeitungsmuster der Multirationalität in Innovationsprojekten der AG Assistive Technologien rekonstruiert und aus systemischer Sicht interpretiert. Die Entwicklung der Bearbeitungsmuster kann im Zeitraum von 2010 bis 2016 in drei Phasen nachgezeichnet werden. Einerseits folgen die Phasen einer Chronologie, sind zeitlich jedoch nicht klar abgegrenzbar. Vielmehr wird deutlich, dass der Prozess eher zirkulärer als linearer Natur ist. Er bewegt sich in reflexiven Schleifen fort. So überwiegen zu Anfang des Innovationsprozesses beispielsweise Konfliktmuster, die nach und nach durch Muster der Annäherung und Kooperation abgelöst werden. Dennoch konnten auch zu späteren Zeitpunkten immer mal wieder Vignetten beobachtet werden, in denen Friktionen zwischen den Rationalitäten sichtbar wurden, die dann in weiteren Reflektionsschleifen bearbeitet wurden. Zudem verliefen unterschiedliche Projekte in unterschiedlichen Konstellationen zeitversetzt. Dennoch ließ sich der Prozess der Entfaltung der Innovationsparadoxie im genannten Zeitraum entlang der folgenden drei Phasen rekonstruieren. – In der ersten Phase konnten Bearbeitungsmuster beobachtet werden, die zunächst von Vermeidung und Konflikt zwischen den aufeinandertreffenden Rationalitäten geprägt waren (Kapitel 5.1). – Die zweite Phase umfasst Bearbeitungsmuster, mit denen die Organisation versuchte, eine Annäherung zwischen den Rationalitäten zu erreichen und die aufgetretenen Konflikte und Friktionen zu transformieren, um konstruktiv im Innovationsprozess zusammenarbeiten zu können (Kapitel 5.2). – Schließlich wurden in der dritten Phase Bearbeitungsmuster sichtbar, in denen die zunehmend gelingende Kooperation und die schließlich einsetzende Integration verschiedener Rationalitäten in den Innovationsprojekten erkennbar wurden (Kapitel 5.3). – Abschließend werden in Kapitel 5.4 die Schlussfolgerungen zusammengefasst, die unmittelbar aus der empirischen Untersuchung gezogen werden
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Entfaltung der Innovationsparadoxie eines diakonischen Unternehmens
können, und die somit die Grundlage für den in einem späteren Kapitel dargestellten Ertrag für Theorie und Praxis bilden.
5.1
Selbstbeobachtung: Zwischen Vermeidung und Konflikt
5.1.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstbeobachtung Die erste Phase umfasst die Entwicklung zu Anfang des Innovationsprozesses, die von anfänglicher Vermeidung bis zum Auftreten interrationaler Konflikte führte. Dabei wurden zunächst Muster erkennbar, in denen verschiedene Rationalitäten ausgeblendet und die Auseinandersetzung mit den sich daraus ergebenden Spannungen vermieden wurden. Im Verlauf dieser Phase wurde es jedoch zunehmend schwieriger, diese Strategie aufrechtzuerhalten, da Irritationen an die Organisation und die beteiligten Personen herangetragen wurden, die nicht länger ignoriert werden konnten. Zentrale Ereignisse in dieser Phase der Selbstbeobachtung (vgl. 4.3.3.3) waren das Kooperationsangebot der Universität Bielefeld, Forderungen seitens politischer Akteure sowie die wachsende Wahrnehmung innerhalb der Organisation, dass die Herausforderungen insbesondere des demographischen Wandels mit der bisherigen Routine nicht zu bewältigen wären. Durch diese Entwicklungen wurde die Organisation gezwungen, die bisherige Vermeidungsstrategie aufzugeben und sich mit neuen Rationalitäten auseinanderzusetzen. Diese Veränderung manifestierte sich in einem zweiten zentralen Ereignis: der Entscheidung des Vorstandes, die Entwicklung assistiver Technologien als strategisches Ziel in die Unternehmensplanung aufzunehmen. Durch diese Entscheidung wurde das Thema der assistiven Technologien innerhalb der Organisation erheblich sichtbarer, wodurch eine Verunsicherung der Organisation beobachtbar wurde. Durch das Arbeitsfeld der in dieser Phase entstehenden AG Assistive Technologien rückte insbesondere eine technologische Rationalität in den Mittelpunkt. Zugleich traten jedoch durch die eintretenden Verunsicherungen auch Konfliktlinien wieder stärker zu Tage, die bereits seit längerer Zeit vorhanden waren und typisch für Unternehmen der Sozialwirtschaft sind, beispielsweise Spannungen zwischen Ökonomie und Ethik, oder zwischen dem Sozialsystem mit seinen Organisationen und der Sozialpolitik. Aus der zunächst beobachtbaren Vermeidung wurde somit eine Polarisierung der Rationalitäten, die zu einem multipolaren Spannungsfeld führte, in dem die unterschiedlichen Logiken aufeinandertrafen. Werte und Sinngemeinschaften wurden hinterfragt, Sprachbarrieren, Dominanzverdachte gegenüber anderen Rationalitäten und kulturelle Unterschiede der Professionen wurden sichtbar.
Selbstbeobachtung: Zwischen Vermeidung und Konflikt
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Entsprechend bewegen sich die Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Multirationalität in dieser Phase, die im folgenden Kapitel aufgezeigt werden, zwischen der Vermeidung und den Konflikten in diesem Spannungsfeld.
5.1.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstbeobachtung 5.1.2.1 Muster: Nicht-Wahrnehmung führt zu Nicht-Bearbeitung Mit Blick auf die Zeit vor dem Beginn des eigentlichen Innovationsprozesses wurde von Beteiligten ein Bearbeitungsmuster beschrieben, das von der eingeschwungenen Routine der Organisation und der Professionen bestimmt war. Zwar war der Sozialbereich in den letzten Dekaden Schauplatz großer Veränderungen und Umbrüche, dennoch gab (und gibt) es in den professionellen Tätigkeiten der unmittelbaren Leistungserbringung sehr stabile Routinen. Technologie war bisher vor allem in Unterstützungsprozessen wie Dokumentation und Abrechnung zu finden, jedoch selten in den Kernprozessen sozialer Arbeit. Diese waren nach wie vor durch stabile Routine und ein professionelles Selbstverständnis geprägt, das Technologie als Antipode der Sozialen Arbeit wahrnahm. Durch die Fokussierung auf diese stabile Routine wurden mögliche professionsfremde Ideen und Irritationen gar nicht erst wahrgenommen oder ausgeblendet. Zudem wurde geschildert, dass der Rückzug auf bekannte Routinen und Denkschemata durch den wahrgenommenen Alltagsdruck noch verstärkt wurde, weil man bestrebt war, sich unter Druck auf das Wesentliche zu konzentrieren. Die Nicht-Wahrnehmung möglicher Irritationen aus anderen Umwelten führte letztendlich zur Nicht-Bearbeitung derselben. Vermeiden und Ignorieren charakterisierten somit ein Bearbeitungsmuster, das in der Vorlaufphase der eigentlichen Innovationsprojekte von den Beteiligten beobachtet wurde. Vignette: Langjährige Routine und Sozialisation produziert blinde Flecke Personen, die in Veränderungsprozessen der vBS Bethel engagiert waren, schilderten häufig ihre Beobachtungen, dass die Organisation von Mitarbeiterinnen geprägt sei, die über viele Jahre die gleiche Tätigkeit ausübten. Diese langjährige Einübung einer Routine wurde als Grund für festgefahrene Denkmuster und Veränderungsresistenz vieler Mitarbeiter in den vBS Bethel angesehen. »Das ist sowieso schwierig genug gewesen, weil keiner will so etwas aufgeben und was Neues, und es gibt ein unendlich großes Beharrungsvermögen, in dem was wir schon immer gemacht haben, soll auch immer so bleiben, […] wenn man erst einmal 20 Jahre in so einer Einrichtung gearbeitet hat, dann kommt einem jede Veränderung irgendwie
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Entfaltung der Innovationsparadoxie eines diakonischen Unternehmens
als ganz schwierig vor. Von daher bin ich ein Mensch, aber da stoße ich nicht auf so viel Gegenliebe, bin ich ein Mensch der eigentlich möchte, dass die Leute alle fünf, sechs, sieben Jahre – […], also dieser Wechsel nach sieben Jahren, sich wieder neu einzustellen, das ist gut. Das hält gesünder und so, aber irgendwie möchte es keiner.« (IV-LF08: 32–32) »Was sehr erschwerend war : In der Einrichtung gab es, also wie überall in Bethel, ganz viele langjährige Mitarbeiter – was ja auch sehr gut ist. Nur, wenn Mitarbeiter sehr lange dort sind, sind sie auch in diesem Denken sehr verhaftet, […] das Traditionelle, wo die Tradition wirklich so in den Wänden klebte mit den Mitarbeitern, die das verinnerlicht haben.« (IV-LF-04: 4–4)
Das angesprochene ›Denken‹ wurde dabei einerseits durch Abgrenzung von anderen Professionen definiert und andererseits auf die Sozialisation und Motivation in sozial geprägten Berufen zurückgeführt. Die Motivation, »mit realen Menschen« zu arbeiten und »Menschen Gutes zu tun«, wird durch Sozialisation und »Training« in einer sozialen Profession verstärkt. »Ja, als ich mich entschieden habe, Theologie, Religionspädagogik zu studieren und auch dann in die Jugendarbeit zu gehen oder in die Erwachsenenbildung zu gehen, da war für mich klar, ich wollte das tun, um zum Beispiel nie in meinem Leben was mit PCs zu tun zu haben. Immer nur mit realen Menschen. Nichts mit PCs, weil hätte ich mit PCs arbeiten wollen, wäre ich Banker geworden.« (IV-LF-01: 22–22) »Alle sind drauf trainiert, deswegen sind sie in den Beruf gekommen: ich möchte Menschen – und das ist jetzt gar nicht zynisch oder irgendwie – ich möchte Menschen Gutes tun.« (IV-LF-08: 32–32)
Diese Sozialisation und die erlernte Routine wurden als Ursache für eine dominierende Sichtweise beschrieben, die verhinderte, dass größere Zusammenhänge jenseits dieser Perspektive gesehen wurden. Politische, ökonomische, gesellschaftliche aber auch geschichtliche Kontexte, die keinen unmittelbaren Einfluss auf die Handlungen und Entscheidungen im Alltag haben, wurden ausgeblendet. »Aber in welchem Zusammenhang steht eigentlich die Arbeit, die wir hier tun, in welchen gesellschaftlichen und politischen Zusammenhang steht die? […] Von daher bin ich immer wieder erstaunt, wie wenig, sowohl soziologisch als auch historisch, beispielsweise die Entwicklung der Sterbebegleitung im Augenblick gesehen wird, dass wir da auch eine Geschichte haben, dass wir besondere Verantwortung haben, dass das nicht zufällig passiert, sondern dass es einen ökonomischen Zusammenhang […], dass es auch noch eine Ökonomie gibt, die mit Gesundheitswesen etwas zu tun hat, das fehlt mir an ganz vielen Stellen und das finde ich eigentlich schade.« (IV-LF-08: 14–14)
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Vignette: Druck und Herausforderungen im Alltag engen die Wahrnehmung zusätzlich ein Neben der Routine und der Sozialisation in eine bestimmte Profession trugen häufig der wahrgenommene Druck und die alltäglichen Herausforderungen zu einer weiteren Einengung der Wahrnehmung bei. »Er sieht sehr auf den Menschen, sehr auf die … ich sage jetzt mal ganz einfach, dass es dem Menschen gut geht, dass meine Organisation eben läuft, das ist auch der Job einer Einrichtung, einer PDL, ist schwer genug. Ich möchte unter heutigen Bedingungen kein Pflegedienstleiter sein.« (IV-LF-08: 14–14)
Lediglich Veränderungen in eng gekoppelten Umwelten wurden von der Organisation aufgegriffen und bearbeitet, was jedoch dazu führte, dass andere Entwicklungen in der Umwelt nur selten wahrgenommen wurden. Der Druck, den viele Mitarbeiter in ihrem Alltag empfinden, führte zu einer Konzentration auf das aus ihrer Sicht Wesentliche. Andere Rationalitäten und Umwelten wurden in der Folge ausgeblendet. »Ja, also weil zu sehr, glaube ich, kurzfristig gedacht wird. Im Moment sind die Auftragsbücher ja noch voll. Also es ist kein wirklicher Mangel, also die sind noch voll. Dazu kommt, wie ich zu Anfang sagte, immer wieder neue Säue, die hier durchs Dorf getrieben werden, was Sozialrechtsprechung, was Tarifrecht angeht, was alles wirklich schwierige Fragen nach sich zieht, so sich Leute jahrelang damit befassen können, um das zu regeln. Und darüber vergisst man dann so einen Weg.« (IV-LF-01: 92–92) »Ich glaube, dass, also diese Technikentwicklung […], die ist ja nicht aufzuhalten. Ich glaube, dass sich sehr viele Träger in der sozialen Branche auch noch gar nicht so viel Gedanken dazu machen, muss man einfach sagen. Welchen Einfluss diese Entwicklung zukünftig auf ihr Produktportfolio hat, auf ihre Dienstleistung, auf ihre Produkte.« (IVLF-09: 124–124)
Interpretation In den beiden Vignetten sind drei Merkmale von besonderem Interesse: Erstens konnte auf Grund von ehemals stabilen Rahmenbedingungen über einen langen Zeitraum eine nahezu unveränderte Routine aufgebaut und aufrechterhalten werden. Aus systemischer Sicht konnten somit sehr stabile Entscheidungsprämissen und Kommunikationsmuster etabliert werden. Zweitens beruhten diese Muster auf tradierten und sozialisierten Unterscheidungen, wie z. B. »Für Menschen/Nicht technisch«, die als Kern einer Begründungslogik für soziale Professionen leitend wurden. Die Unterscheidungen wurden in der Vergangenheit nicht hinterfragt, sondern auf Grund ihrer Funktionalität sowohl für die Organisation, insbesondere aber für die Sinngemeinschaft, nahezu unverändert reproduziert: Die Organisation blieb anschlussfähig an wichtige Umwelten und
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die Sinngemeinschaft sozialer Professionen fand einen gemeinsamen Identitätsanker, der auch als Abgrenzung zu anderen Professionen fungierte. Je selbstverständlicher die Richtigkeit der eigenen Routine und Unterscheidungen jedoch angenommen wird, desto weniger werden Entwicklungen und Ereignisse wahrgenommen, die außerhalb dieser Routine und der eigenen Leitunterscheidungen liegen, was letztendlich eine Begrenzung der als relevant wahrgenommenen Umwelten auf die eng mit der Organisation gekoppelten bedeutet. Gegenüber anderen Ereignissen in der Umwelt erscheint die Organisation wenig resonanzfähig. Dies gilt zunächst auch, wenn die Routine unter Zeit- und Arbeitsdruck gerät, da wegfallende Redundanzen aus systemischer Sicht zu einer Verringerung von Informationsverarbeitungskapazitäten beitragen. Anstatt also Irritationen wahrzunehmen und für die Organisation in Information und praxisrelevantes Wissen zu transformieren, werden diese verstärkt von der Organisation ignoriert. Dabei besteht die Gefahr, auch Veränderungen und Irritationen zu ignorieren (›wegzudenken‹), die zukünftig für die Organisation relevant und somit existenznotwendig werden können (beispielsweise Technologie). Paradoxerweise droht eine Organisation somit möglicherweise genau dann innovationsunfähiger zu werden, wenn neue Ideen auf Grund veränderter Rahmenbedingungen notwendiger werden. 5.1.2.2 Muster: Irritationen in der Umwelt können nicht länger ignoriert werden Trotz einer Fokussierung auf etablierte Routinen und eng gekoppelte Umwelten wurden zunehmend Irritationen in Form von Innovations- und Veränderungserwartungen an die Organisation herangetragen, die ab einem bestimmten Punkt nicht länger ignoriert werden konnten. Insbesondere das konkrete Angebot der Universität Bielefeld in 2010, einen Kooperationsvertrag für Forschungsprojekte abzuschließen, war ein wesentlicher Anstoß. Ähnlich wie bei früheren Irritationen, wie beispielsweise an die vBS Bethel gerichtete, deutliche Aussagen seitens der Sozialpolitik über erwartete Veränderungen, kamen die wesentlichen Innovationsimpulse somit von außen. Einzelne Personen in der vBS Bethel griffen diese Impulse auf und brachten sie schließlich in die Kommunikation innerhalb der Organisation ein. Vignette: Wesentliche Innovationsimpulse kommen von außen Ein übereinstimmendes Muster zu Beginn der Innovationsprojekte ist ein Anstoß von außen, der auf Grund der Relevanz des Impulsgebers für die vBS Bethel unübersehbar wurde, während die Organisation aus ihrer Routine heraus selbst wenig Innovationsantrieb entwickelte. Anstöße kamen einerseits aus der Sozialpolitik, andererseits von der Universität Bielefeld, mit der es bereits in der Vergangenheit Kontakte gegeben hatte.
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»Dieser Anstoß kam von außen, ähnlich wie damals bei der Regionalisierung der Psychiatrie. Das wollte Bethel auch nicht. Oder wie bei der Dezentralisierung des Heimbereichs, das kam vom LWL, also wir wollen nicht so tun, als wenn das alles aus eigener Kraft oder aus eigenem Antrieb geschah. […] Das kam auch von außen. Es kam alles von außen.« (IV-LF-02: 6, 20) »Wesentliche Innovationskurse der letzten Jahre kamen letztlich von außen. Und dieser kam von der Uni, von CITEC. Die Uni kam relativ aus heiterem Himmel auf uns zu und sagte, lasst uns doch mal einen Kooperationsvertrag machen. Wir haben das erst gar nicht so richtig verstanden, weil wir natürlich auf vielen verschiedenen Ebenen, und vor allen Dingen verschiedene Fakultäten und Institute der Universität mit verschiedenen Bereichen auf unserer Seite, schon immer irgendwie zusammengearbeitet haben.« (IV-LF-02: 6–6) »Politik koppelt da im Moment einfach zwei große Themen. Das eine ist eben, das läuft immer so unter High-Tech-Strategie der Bundesregierung […]. Das andere ist eben dieses Thema demographischer Wandel, wo die Bundesregierung, ich glaube nicht ausschließlich auf Technik setzt, aber schon die Hoffnung hat, dass eben Technik da eine der Lösungen sein kann die mit den Herausforderungen die das so mit sich bringt irgendwie umzugehen.« (IV-LF-03: 54–54)
Auch von Seiten der Klientinnen und Klienten kamen Impulse, da diese Veränderungen wahrnahmen, die für sie von Bedeutung waren, und sich von der Organisation entsprechende Angebote wünschten. »Klientinnen und Klienten haben wirklich diesen Wunsch geäußert, neue Medien nutzen zu wollen, auch gemerkt, dass es einen digitalen Strukturwandel gibt, dass es plötzlich Ressourcen gibt, die nicht für alle zugänglich sind, die aber nützlich sind. Und mit dieser Anforderung haben sie sich an ihre leitenden Mitarbeiter, an die Geschäftsführung gewendet.« (IV-LF-09: 46–46)
Insbesondere in der Leitung gab es zudem einige Personen, die deutlicher als andere die Veränderungen und zukünftige Herausforderungen in der Umwelt sahen, diese reflektierten und als relevant für die Organisation bewerteten. »Das macht es, finde ich, in vielen Stellen auch so spannend, weil ich in Teilen das Gefühl habe, dass wir gesellschaftlich kaum drum herum kommen, also wir müssen uns damit auseinandersetzen, aber das zu reflektierend finde ich gerade so spannend.« (IV-LF-03: 16–16) »Und ich hatte eben in der Pipeline, dass wir folgerichtig seit 2008 mehr Menschen in eigenen Wohnungen betreuen als im Wohnheim. Und dann war eben für mich so die Frage, wie stelle ich weiterhin Kommunikation sicher – untereinander, aber auch mit dem Dienst?« (IV-LF-01: 8–8) »Ja, sehr deutlich. Es geht in der Tat darum, […] wir werden die Menschen nicht mehr bekommen, die pflegen können. […] Da beißt die Maus keinen Faden ab, wir werden zu wenig Menschen haben, die pflegen. Also müssen wir uns doch was überlegen!« (IVLF-08: 86–86)
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Interpretation Es zeigt sich, dass vornehmlich über drei Wege Innovationsimpulse in die Wahrnehmung der Organisation gelangten, die dann in der Folge zur Formulierung einer ersten Vorstandsentscheidung führten. Erstens konnte Sozialpolitik als eng gekoppelte Umwelt die Aufmerksamkeit der Organisation erregen, zweitens wurden durch die Universität Bielefeld als einen mit der vBS Bethel vernetzten Partner Themen und Vorschläge an die Organisation herangetragen, und drittens verfügte die Organisation aus systemischer Sicht über psychische Systeme als Entscheidungsprämissen, die ihre Beobachtungen der Umwelt in die Kommunikation der Organisation einspeisen konnten. So war es möglich, den Routinefokus in Teilen der Organisation zu unterbrechen, und eine Bearbeitung dieser Irritation anzustoßen und zu erzwingen. Das Zusammenspiel von Störungen aus der Umwelt, der Wahrnehmung durch die Organisation und die Einführung und Bearbeitung dieser Störungen in der Kommunikation der Organisation löst aus systemischer Sicht den Innovationsprozess aus und ist somit ein erster Wendepunkt in der Entwicklung der Organisation. Jedoch wurde bereits zu Beginn dieser Bearbeitung vermutet, dass die beteiligten und betroffenen Organisationsmitglieder nicht mit rückhaltloser Zustimmung reagieren würden. 5.1.2.3 Muster: Entscheidungen der Führung tragen Verunsicherung in die Organisation Die durch Einzelne wahrgenommenen Irritationen manifestierten sich in der Folge in Entscheidungen der Führung, wodurch sie öffentlich sichtbarer wurden. So wurde auf Vorstandsebene nach dem Kooperationsangebot der Universität Bielefeld eine strategische Entscheidung getroffen, die Mitgestaltung assistiver Technologien als Organisationsziel in der strategischen Planung zu verankern, und in einer Tochterorganisation wurde durch die Geschäftsführung entschieden, neue Kompetenzen und Perspektiven durch die gezielt fach- und branchenfremde Besetzung einer spendenfinanzierten Stelle in die Organisation einzubringen, um die wahrgenommene Enge und Routine zu durchbrechen. Oder es wurde in einem Neubauprojekt entschieden, assistive Technologien in die Planung des Neubaus mit aufzunehmen. Jede dieser Entscheidungen führte dazu, dass die Routine der Organisation unterbrochen wurde und die Organisation so ›gezwungen‹ wurde, sich mit neuen Themen zu beschäftigen und den anstehenden Veränderungsbedarf zu diskutieren. Die Unterbrechung der Routine führte in den beteiligten Organisationsteilen einerseits zu einer beobachteten Verunsicherung, andererseits stellten die Entscheidungen Kristallisationspunkte dar, an denen sich die Kommunikation der Organisation aufhängen und sich neue Ideen verfangen und weiterentwickeln konnten.
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Vignette: Vorstand reagiert auf Innovationsimpulse In 2010, im Anschluss an die Kooperationsvereinbarung mit der Universität Bielefeld, wurde im Vorstand der vBS Bethel im Rahmen der strategischen Planung ein Technikziel in die Unternehmensstrategie aufgenommen. Zwar waren in der Kooperation bereits Leitlinien und Themen für Innovationsprojekte formuliert, diese waren jedoch innerhalb der vBS Bethel nur einem kleinen Kreis bekannt. Dies änderte sich im nächsten Planungszyklus. »Und im Rahmen dieser Fünf-Jahres-Zeiten sich vollziehenden Zielplanung ist tatsächlich in Planung, haben wir dann in der dritten Periode 2010, 2011 bis 2016, das erste Mal ein Technikziel drin gehabt. Wir beteiligen uns an der Entwicklung von assistiven Technologien und so weiter.« (IV-LF-02: 6–6)
Während die Kooperation mit CITEC in der Organisation zunächst relativ unbeachtet blieb, wurde die Vorstandsentscheidung, die Entwicklung von Assistiven Technologien als Unternehmensziel zu formulieren, in der Organisation deutlich sichtbarer, und führte zu Anschlussentscheidungen über entsprechende Innovationsprojekte. Insbesondere Personen, die sich bereits vorher mit innovativen Themen beschäftigt hatten, erfuhren durch die Entscheidung Rückendeckung, die in der Folge dazu beitrug, erste Kristallisationspunkte für Innovationsprojekte entstehen zu lassen. Als beispielsweise ein Projekt dem Vorstand vorgeschlagen wurde, konnten die Beteiligten unmittelbar an das Technikziel in der strategischen Planung anknüpfen. »Weil der Vorstand hatte ein paar Wochen vorher auf der Klausur, hatte auf Treiben von Herrn XYauch mit aufgenommen, wir müssen uns um Technologie mehr kümmern. Da gab es damals diesen Zusammenschluss oder diese Kooperationsvereinbarung auch mit CITEC. So, das waren so die Anfänge davon, sodass Herr XYdieses Thema auch mit eingespielt hat, glaube ich, aber noch keinen konkreten Punkt hatte. Und sodass [Projektname] quasi so der erste Kristallisationspunkt von was Neuem war. […] Also das passte genau auch in die Geschichte, dass der Vorstand gesagt hat, wir müssen uns auch um solche Fragestellungen kümmern.« (IV-LF-01: 16–16)
Auch das Zustandekommen des Projekts eines Einrichtungsneubaus, in dem trotz fehlender Refinanzierung der neuen Angebote der Neubau mit assistiven Technologien ausgestattet wurde, sahen beteiligte Personen eng im Zusammenhang mit der Vorstandsentscheidung. »Ich glaube, das hängt mit Unternehmensentwicklung zusammen. Das ist ein Ziel, Unternehmensentwicklung in diesem Bereich zu machen, also war es der richtige Weg, in einer Einrichtung zu sagen, und dort machen wir es jetzt mal.« (IV-LF-04: 100–100)
Zugleich wurde deutlich, dass bereits vor der Vorstandsentscheidung und der Gründung der AG Assistive Technologien diese Themen und Ideen von einzelnen Personen angedacht worden waren.
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»Und wir haben uns also auch schon bevor diese AG ins Leben gerufen wurde mit dem Themenkomplex beschäftigt. Das war natürlich noch sehr in den Kinderschuhen. Wir haben halt angefangen mit: Welche Unterstützungsformen gibt es für Menschen mit Weglauftendenzen, mit Orientierungsdefiziten? Wie kann man denen trotzdem größtmöglichen Bewegungsradius einräumen? Da gab es schon so ganz rudimentäre Tracking Systeme und so. Von daher ist es innerhalb des Hilfefeldes schon, sind schon Dinge vorgedacht worden. […] Und von daher haben wir uns also auch dezentral, bevor es diese AG gab, schon mit dem Themenkomplex beschäftigt« (IV-LF-05: 14–14)
Vignette: Fach- und branchenfremde Stellenbesetzung In verschiedenen Projekten wurde auch die Idee geäußert, fach- und branchenfremde Stellenbesetzungen vorzunehmen, um einerseits neue Kompetenzen in die Organisation zu integrieren und andererseits die bestehende Routine positiv zu irritieren und neue Ideen einzubringen. In einem Projekt wurde diese Entscheidung vollzogen, indem es die Möglichkeit gab, über eine spendenfinanzierte Stelle eine Person mit einem ganz anderen professionellen Hintergrund in Kommunikation und strategischem Marketing einzustellen. »Dass ich [Name] kennenlernte, […] seine Diplomarbeit gelesen habe und da den Hinweis auf diese Lebenswelt-Thematik … also dass ich eine Lebenswelt erkunden muss, um zu spüren, was geht denn anschließend dann, wenn ich eine Produktentwicklung mache? Und das fand ich unheimlich spannend und dann habe ich gedacht, das wäre mal eine schlaue Idee, mal jemanden ins Unternehmen zu holen, der überhaupt nichts mit Behindertenhilfe am Hut hat, der auch nichts mit sonstiger sozialer Arbeit am Hut hat, sondern wirklich was ganz anderes macht.« (IV-LF-01: 10–10) »Ich finde ja immer, man muss bestimmte Positionen fachfremd besetzen, das halte ich für wichtig, weil der Blick doch immer nur so eng ist. Andere Leute gucken anders hin und […] das muss man sich auch vornehmen als Träger.« (IV-LF-08: 106–106)
Durch diese neue Perspektive wurde das Bestehende herausgefordert. So erschienen den Projektbeteiligten die ersten Vorschläge zur Umsetzung des Projektes, die aus der bisherigen Routine und dem »alten Denken« entsprangen, als Versuch, die neue Idee in einer »Schmuddelecke« einzurichten, die möglichst nichts kosten sollte. Aus Sicht eines Projektverantwortlichen war jedoch genau das Gegenteil notwendig. »Aber diese Umsetzung wieder in dem alten Denken. Also das kann man irgendwo, wir haben noch einen Kellerraum, da können sich die Leute treffen, da sollen sich die Leute treffen und das kriegen die auch und da brauchen die nichts dafür zahlen. Aber nicht das rausgeholt aus der Ecke, aus der Schmuddelecke und sagen, wir stellen uns ganz prominent da hin. Wir machen es stigmatisierungfrei. Im Gegenteil, wir stigmatisieren in die andere Richtung und machen das richtig groß. Und das haben die nicht verstanden. Das habe ich sehr schnell gelernt durch [Name]. Also ich habe da unheimlich viel gelernt von dem. […] Und eine ganz andere Sprache auch und natürlich auch seinen Blickwinkel. Und bei [Firmenname] hatte er ja zumindest eine Menge auch
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mitbekommen, wenn auch jetzt nicht im Big Business, aber schon mitgekriegt, wie das bei einem großen Unternehmen funktioniert. Das war schon toll.« (IV-LF-01: 50–52)
Dabei nahmen die Personen, die als Außenstehende eingestellt wurden, ihren anderen Hintergrund durchaus deutlich wahr, und erkannten auch die daraus entstehende Aufgabe, der Organisation zu helfen, andere Blickwinkel einzunehmen und für neue Themen zu sensibilisieren. »Ja, ja, also ich bin auch heute noch der Alien zwischen den ganzen Pädagogen. Das ist, werde ich auch immer gefragt, also geht das klar für mich, weil ich hatte von vornherein keine Berührung mit diesem ganzen Feld.« (IV-LF-09: 16–16) »Jetzt bin ich Digital Native, […] bin mit dieser ganzen Technikthematik auch noch aufgewachsen, habe da sicherlich auch einen anderen Blickwinkel drauf und natürlich auch die Generation, die jetzt nach mir kommt, aber trotzdem glaube ich, eine Herausforderung ist wirklich die Sozialen dafür zu sensibilisieren, dass da nicht nur Risiken drin stecken, sondern auch Chancen und dass es Umbrüche geben wird. Ganz einfach. Das ist eins.« (IV-LF-09: 124–124) »Das hatte mich aber nicht so gereizt, weil es nicht so die Herausforderung war des Neugestaltens und neue Dinge kennenlernen und den Übergang begleiten, zu gucken, was machen wir denn aus alt nach neu? Also das hat mich so persönlich gereizt. Und ich glaube, dass es für die, die mich eingestellt haben, hilfreich war, dass ich von außerhalb kam, dass ich halt nicht in den Denkstrukturen so gefangen war, sondern einfach diesen etwas freieren, kritischeren Blick hatte, den man ja hat, wen man einfach von außen kommt.« (IV-LF-04: 10–10)
Interpretation Mit den Führungsentscheidungen wurde das Technologiethema sichtbar und erhielt zugleich eine erste Legitimation innerhalb der Organisation. Unterstützt wurden diese Entscheidungen in ihrer Bindungskraft durch Einzelpersonen in Führungspositionen, die diese Legitimation nutzen konnten, um ihre eigenen Ideen und Wahrnehmungen mit dieser Entscheidung zu verknüpfen. In dieser Verbindung war es möglich, konkrete Projekte innerhalb der Organisation voranzutreiben. Zwar bedeuteten sowohl die Entscheidungen als auch die Projekte an sich eine potenzielle Unsicherheit und Irritation für die vBS Bethel. Zugleich wurde aber durch die Legitimation und die darauffolgende Resonanz diese Unsicherheit in der Organisation bearbeitbar. Ähnlich trug auch die fachfremde Stellenbesetzung zur Verunsicherung bei, durch die neue Perspektiven in die Kommunikation gelangten. Auch hier wurde Legitimation durch die Entscheidung der Stellenbesetzung herbeigeführt, sodass die Irritationen zwar vorhanden waren, aber von den Beteiligten aufgenommen werden konnten, bzw. wahrgenommen werden mussten. In beiden Vignetten wird erkennbar, wie eine Versorgung der Organisation mit Unsicherheit Kristallisationspunkte für Innovationen und neue Ideen ermöglichte. Aus systemischer Perspektive wurde
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die Organisation (oder zumindest Teilbereiche davon) durch die Verunsicherung zur Veränderung (also zur Variation) angeregt, ohne vorhersagen zu können, wie die Organisation und ihre Mitglieder auf diese Unsicherheit reagieren würden. Dennoch markieren diese Entscheidungen den sichtbaren Beginn des Innovationsprozesses, da in ihnen die Intention enthalten war, das Alte, Gleichartige und Normale vom Neuen, Neuartigem und Abweichenden zu unterscheiden. 5.1.2.4 Muster: Erste Reaktionen sind von Ängsten geprägt Nach Einbringen der Innovationsimpulse in die Kommunikation der Organisation zeigte diese in weiten Teilen zunächst Abwehrreaktionen, in denen unterschiedliche Ängste sichtbar wurden. Insbesondere in den Sozialprofessionen wurden einerseits Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes auf Grund von technischen Rationalisierungsmaßnahmen geäußert. Andererseits konnte unterschwellig eine Angst vor dem Verlust der Bedeutung und Rolle der eigenen Profession oder die Furcht vor Überforderung durch das Neue wahrgenommen werden. Mitarbeitende fühlten sich durch ihre bisherige Ausbildung und Tätigkeit nicht für technologische Neuerungen vorbereitet und fürchteten eine Entwertung ihrer eigenen professionellen Kompetenz, die in der Vergangenheit wesentlich zur Identitätsbildung der Sinngemeinschaft sozialer Professionen beigetragen hatte. Vignette: »Technik soll Menschen ersetzen« Durchgängig wurde von den Beteiligten geschildert, wie die Sorge vor Arbeitsplatzverlust auf teils sehr deutliche Weise insbesondere von älteren, langjährigen Mitarbeitern geäußert wurde. »Ja, genau. Also ganz am Anfang, als wir mit diesem Projekt angefangen haben, kam diese Personalrationalisierungsdebatte auf. Oh, jetzt fängt das Unternehmen an, plötzlich Technik einzusetzen und wir werden hier unsere Arbeitsplätze los. […] Wir stehen alle unter Kostendruck und wir müssen irgendwie alle einsparen. Und das führt jetzt dazu, dass Technik eingesetzt wird, also haben wir Angst um unseren Arbeitsplatz. […] Weil das ist genau die Angst, die ganz oft durchkommt.« (IV-LF-09: 60, 64, 124) »Das kann ich mir gar nicht vorstellen und wie soll das funktionieren, was sind das für technische Hilfsmittel, uns werden die Arbeitsplätze weggenommen. Einfach auch kein Verständnis dafür, dass es irgendwie, dass Technik ersetzt wird. Also dass quasi die Pflegekräfte ersetzt werden und Technik eingesetzt wird. So rum. Genau, bis ein bisschen Skepsis und … das waren eher so die Älteren Mitarbeiter.« (IV-LF-06: 24–24) »Und seitdem geht es bergab. Die Arbeitsvertiefung nimmt immer mehr zu, Ansprüche steigen und die Kosten steigen immer stärker, jedes Jahr als die Träger. Und das ist etwas, was jetzt über 20 Jahre läuft und was eben Hunderte von Mitarbeitern hier am
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Ort sehr schmerzlich am eigenen Leibe erleben. Und diese älteren Mitarbeiter, die die Verlusterlebnisse haben, da ist natürlich die Reaktion naheliegend, jetzt kommen sie uns mit der Technik. Jetzt wollen sie auch noch weiter rationalisieren, indem sie jetzt die Technik einsetzen.« (IV-LF-02: 14–14)
Neben der Sorge um den eigenen Arbeitsplatz wurde von Beteiligten auch die Angst geäußert, durch den Technikeinsatz würden menschliche Zuwendung und Nähe verringert oder verdrängt. »Und dass da Befürchtungen aufkommen würden, war uns ganz klar. Das haben auch die ersten Gespräche und so weiter gezeigt. Also erstens natürlich die Befürchtung, dass menschliche Zuwendung durch Technik ersetzt wird, dass Arbeitsplätze möglicherweise wegfallen und all diese Dinge. Das war klar.« (IV-LF-02: 10–10) »Und natürlich wurde das diskutiert mit ›Wir schaffen die Menschen ab‹ und ›Wie kann man nur?‹ und ›Wir hintergehen demente Menschen, weil das ist ja nicht echt‹ und, und, und.« (IV-LF-08: 20–20)
Vignette: Angst vor Bedeutungsverlust der eigenen Profession Mitarbeiter äußerten zudem Befürchtungen, dass sich durch den möglichen Einsatz assistiver Technologien das eigene Berufsbild verändern könnte. Einerseits weil bisherige Qualifikationen ihre Bedeutung verlieren könnten, und andererseits, dass sich der Berufsalltag in einer Weise verändern könnte, indem Tätigkeiten wegfallen, aus denen Befriedigung und Sinnstiftung der Profession bezogen wird. »Ja, das macht die überflüssig. Das macht die überflüssig. Also das, wo du eigentlich sagst, dafür habe ich zehn Semester studiert und so weiter.« (IV-LF-01: 58–58) »Auf einem ganz anderen Weg, der, glaube ich, auch zukünftig eine Veränderung der Methodenkompetenz der Leute, die in der Behindertenhilfe arbeiten, mit sich führen muss, irgendwann.« (IV-LF-01: 62–62) »Wobei es gar nicht zwangsläufig der Verlust des Arbeitsplatzes ist, sondern der Verlust von den noch wenig schönen Dingen in der Altenpflege, nämlich Altenpfleger ziehen den Impuls für ihre Arbeit aus dem Kontakt mit den Bewohnern. Und die Sorge, dass dieser Kontakt sich jetzt verringert, das ist es, glaube ich. […] Weil das in der Pflege eben auch so die Geschichte ist, im Prinzip ist Altenpflege ein ganzheitlicher Beruf, aber irgendwann gab es den Sozialdienst, dann gab es die Betreuungsassistenten und die gesamte soziale Betreuung ist aus dem Beruf rausgenommen worden. Und Altenpflege wird nur noch über Pflege definiert.« (IV-LF-04: 60–60)
Vignette: Angst vor Überforderung Die erwarteten Veränderungen durch den Technikeinzug führten auch zu Ängsten der Mitarbeitenden, durch die Neuerung überfordert zu werden, weil
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sie sich nicht in der Lage sahen, die scheinbar notwendigen Kompetenzen zu erlernen. »Es war ja im Vorfeld schon großes Thema: [Einrichtungsname], Technik, was kommt da auf uns zu, was müssen wir armen Mitarbeiter jetzt noch machen? Wie wird das für Bewohner? Was sollen wir damit, wie sollen wir damit klarkommen?« (IV-LF-04: 52– 52) »Also es waren Mitarbeiter, die gesagt haben, oh, dann kann ich da gar nicht arbeiten, weil das schaffe ich nicht. Das war so die eine Schiene.« (IV-LF-04: 54–54) »Also viele Mitarbeiter konnten sich das irgendwie nicht vorstellen […]. Das übersteigt unsere Fähigkeiten an IT-Wissen quasi. Genau, das war es. Wir haben Probleme schon mit den Computereinträgen in der Einrichtung, wie soll das mit den ganzen technischen Einsätzen, die noch kommen werden weitergehen? Kann ich dadurch meinen Arbeitsplatz behalten, bin ich also, ich denke, dass ich überfordert wäre damit.« (IVLF-06: 26–26)
Interpretation Die eingeschwungene Routine wird durch die Konfrontation mit dem Neuen in Form von Technologie gestört. Unterscheidungen wie »Menschen/Technik« oder »sozial/ökonomisch«, die in der Vergangenheit zur Abgrenzung sozialer Professionen von anderen Berufsbildern genutzt wurden, werden zunehmend in Frage gestellt. Diese Störung produziert Unsicherheiten, die wiederum Ängste bei den Betroffenen auslösen können. Es wird geäußert, dass dieser Zusammenhang eher bei älteren Mitarbeiterinnen beobachtet werden kann, die über einen langen Zeitraum die Möglichkeit hatten, feste Denk- und Handlungsschemata zu stabilisieren. Je stabiler diese Schemata, umso größer die Wahrscheinlichkeit von Verunsicherung und angstgeleiteten Abwehrreaktionen gegenüber dem Neuen und damit Unbekannten. Aus systemischer Perspektive führen die Veränderungen zu einer fehlenden Passung zwischen den bisher stabilisierten Strukturen und Unterscheidungen und einer sich verändernden Umwelt. Die Re-Aktualisierung der bisherigen Unterscheidungen wird damit gestört und die Erwartung einer fortdauernden Gültigkeit enttäuscht. Das bisher Gültige wird durch die neue Wahrnehmung nicht länger bestätigt; eine Erfahrung, die dem Sozialbereich angesichts der Entwicklungen der letzten Jahrzehnte teils schmerzlich bekannt ist. Neben der Verunsicherung der bisherigen Routine ist es auf Grund dieser Erfahrungen nachvollziehbar, dass erneute Veränderungen zunächst auf wenig Gegenliebe stoßen, und dass diese Reaktion bereits im Vorfeld so auch erwartet worden war.
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5.1.2.5 Muster: Konflikte zwischen Werten und Codes unterschiedlicher Rationalitäten Die Thematisierung eines Technologieeinsatzes führte zu grundlegenden Konfliktlinien zwischen den unterschiedlichen Werten und Codes der jeweiligen Rationalitäten. Insbesondere zu Beginn der Interaktion mit externen Partnern, die deutlich andere Rationalitäten in den Innovationsprozess einbrachten, wurden unterschiedliche Handlungs- und Argumentationsmuster, sowie Erfolgskriterien und Zielsetzungen wahrgenommen und auf einer normativen Ebene in Frage gestellt. Dabei traten einerseits zu erwartende Konflikte zu Tage, wie beispielsweise zwischen einer ethisch-sozialen und einer ökonomischen Position. Andererseits wurden aber auch Inkompatibilitäten zwischen einem diakonischen Unternehmen und einer universitären Forschungslogik beobachtbar, sowie zwischen einer an Funktion und Machbarkeit orientierten Technik und einer am Menschen orientierten sozialen Hilfe. Spätestens in diesem konfliktgeprägten Muster wurde das Spannungsfeld der notwendigerweise multirationalen Konstellation in den Innovationsprojekten deutlich sichtbar. Vignette: ›Hilfe für Menschen‹ vs. ›Technische Funktion‹ Im Zusammentreffen mit den Technikern und Ingenieuren der externen Partner wurden von den Beteiligten zu Beginn deutliche Unterschiede zwischen einer technischen Logik und der eigenen Perspektive wahrgenommen. Ein zentrales Thema hierbei waren beispielsweise Fragen des Datenschutzes. »Also die Menschen, die eher von der Uni kommen und die technikversiert sind, nenne ich sie mal, den Projektbereichen oder aus dem Bereichen zum Beispiel von Miele oder ich weiß nicht, was da noch für Firmen waren, also quasi die ganzen Unternehmen, die vertreten waren, hatten schon einen festen Standpunkt, der Technik, wo die eher nicht so die Bedenken hatten mit den ganzen Daten.[…] Aber Bethel hat da so diesen Standpunkt, dass die Daten schon sehr sensibel verarbeitet werden müssen und dass man da zu einem Punkt kommt, wo man sich irgendwie einig wird, dass man Technik so integriert, dass die ganzen, wie sagt man Daten oder ethische Fragen, so mit eingebracht werden, dass sie nicht missbraucht werden von anderen Menschen. Das jeder quasi seinen Standpunkt hat, die Techniker, die sozialen Unternehmen und, genau. […] Es gab viele Gegenargumentationen, bezüglich des Datenschutzes, also man kam irgendwie nicht zu Ende. Für mich war das so, dass trotzdem, des Workshops, trotzdem noch viele Fragen besprochen wurden, aber auch trotzdem noch viele offene Fragen gab. Genau.« (IV-LF-06: 59, 63) »[Firmenname] hat das überhaupt gar nicht verstanden, dass wir gesagt haben, wir wollen das so nicht, also in dieser verschlüsselten Form. Warum? Sie können doch immer gucken? Also die hatten da überhaupt kein Bewusstsein dafür, dass wir das aus datenschutzrechtlichen Gründen als Eingriff in eine Privatsphäre empfinden. Keine Vorstellung.« (IV-LF-04: 86–86)
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Aus Sicht der externen Partner ging es in erster Linie um die technische Funktion, während ethische Fragestellungen als unwichtig angesehen wurden. Damit verbunden war auch ein fehlendes Problembewusstsein für die konkreten Zusammenhänge in der Altenhilfe. »Das ist für Techniker, die dann in [Ort] oder wo auch immer sitzen, schwierig nachzuvollziehen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben die, weil der Notruf nicht funktioniert, sterben. Also dass das auch eine Bedeutung hat. Das ist nicht nur: Da funktioniert ein Fernseher nicht oder so. Darum geht es nicht, sondern da waren tatsächlich Situationen, wo wir gesagt haben, das ist jetzt sicherheitsrelevant.« (IV-LF08: 52–52) »Ich habe drei Mal mit den [Firmenname] zusammengesessen und die Erfahrung ist, dass es eben Techniker sind, die aber nicht so genau wissen was in den Wohnungen der Menschen eigentlich vor sich geht und noch überhaupt keine Erfahrungen haben was ist denn mit den Menschen und woher auch, also das ist ja okay. […] Die denken sehr an ihre Technik, […] wenn ich es mal so ganz einfach sage, die diskutieren immer ohne Menschen, die diskutieren wirklich nur, wie geht das mit dem Kabel und wie kriege ich die Information von da nach da, aber es wird ohne den Menschen diskutiert.« (IV-LF08: 68–68)
Aus Sicht der Beteiligten auf Seiten der vBS Bethel ging es den Technikern zudem weniger um eine am Menschen orientierten Lösung, die einen Mehrwert für Klientinnen und Klienten ermöglichen sollte, als vielmehr um die technische Machbarkeit und Funktion, während Fragen der Akzeptanz als nachranging angesehen wurden. »Und ein anderes Thema was wir im Moment auch an einigen Stellen merken, also es gibt relativ viel Kritik im Moment auch so in der Literatur in solchen Forschungsprojekten, weil die eben oft so technikgesteuert sind und eben tatsächlich sagen: Wir entwickeln jetzt die Technik und dann untersuchen wir mal die soziale Akzeptanz und dann wundern sich die Ingenieure sozusagen, warum die Leute ihre schöne Technik nicht akzeptieren. Und eigentlich müsste man vorab irgendwie mit Nutzern sprechen oder zukünftigen Nutzern und erst einmal gucken was brauchen die eigentlich und was würden die sich wünschen und ist das überhaupt die passende technische Lösung und so und dafür hatten wir hier halt hier auch nie Zeit.« (IV-LF-03: 46–46) »Die interessieren sich eher für technische Details, für eine technische Umsetzung, während dem ich eben gucken würde, na ja, wie sozial verträglich ist das und wie kann man das einbetten und was macht Sinn und womit können die Leute umgehen und was überfordert die vielleicht auch einfach.« (IV-LF-07: 134–134)
Vignette: ›Unternehmen für Menschen‹ vs. ›Universität für Forschung‹ Neben einer technologischen Rationalität der Funktion wurde in der Kooperation mit der Universität Bielefeld zudem eine Logik des Wissenschaftsbetriebs
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wahrgenommen, die sich in ihrer Zielsetzung von den konkreten Erwartungen der vBS Bethel unterschied. »Das heißt, die haben aus einer wissenschaftlichen Perspektive ein Forschungsziel, haben Kooperationspartner, haben aber auch eine ganz klare Vorstellung wie das dann zum Beispiel publiziert wird. Das ist also relativ deutlich. Das ist eben ein wissenschaftliches Projekt was da abläuft.« (IV-LF-07: 70–70) »Es ist innerhalb des Konsortiums Thema, […] wo wollen wir eigentlich hin wo wollen wir eigentlich stehen? Es gibt eben Bereiche in diesen, also da wird ja eigentlich eine Vielzahl von Technologien entwickelt und da wirklich noch mal aufzuschlüsseln an welchen Stellen ist das jetzt Grundlageforschung und da haben wir vielleicht ein paar wissenschaftliche Artikel am Ende der drei Jahre und an welchen Stellen werden hier eigentlich fertige Produkte irgendwie entwickelt die im Jahr 2018 irgendwie im Supermarkt stehen?« (IV-LF-03: 52–52)
Vor allem während der teilnehmenden Beobachtung wurde erkennbar, dass die wissenschaftlich-theoretische Ausrichtung beispielsweise des KogniHomeProjektes bei einigen Beteiligten einen konkreten Nutzen für aktuelle Problemlagen vermissen ließ. Zwar wurde nicht die Sinnhaftigkeit der Konstellation in Frage gestellt, jedoch wurde in Gesprächen deutlich, dass eine höhere Praxisrelevanz wünschenswert wäre, während auf Seiten der Universität häufig ein Interesse an wissenschaftlicher Verwertbarkeit im Sinne einer Publikation oder die weitere Akquise von Forschungsgeldern wahrgenommen wurde (IV-HG-11: 1–1). Vignette: Sozialer vs. ökonomischer Mehrwert Eine weitere Konfliktlinie entlang der Nutzenerwartungen unterschiedlicher Partner verlief zwischen den vBS Bethel und einigen Industriepartnern wiederum im Projekt KogniHome. Während die Industrie ihrer ökonomischen Logik folgend auf wirtschaftlichen Gewinn aus war, stand für die vBS Bethel ein sozialer Mehrwert im Vordergrund, und in ökonomischer Dimension wurde nur die Refinanzierung über die Sozialsysteme als vertretbar angesehen. Die Industriepartner äußerten ihre Erwartungen und Bedenken teils deutlich: »Die sagen schon, na ja, warum sollen wir denn irgendwie hier mit Bethel hier so eng zusammenarbeiten, wenn der Großteil dieser Menschen hier Sozialhilfeempfänger sind, die werden jetzt nicht unsere schicken Produkte irgendwie in zehn Jahren kaufen. […] Also es wird deutlich diskutiert durch diese unterschiedliche Zusammensetzung der Verbundpartner in diesem KogniHome-Projekt, also weil da eben Partner sind, wo die einen sagen, wir hätten gerne eine breite Masse und da bitte auch bis zum Hartz-IVEmpfänger, und die anderen Partner eben sagen: ›Für uns ist völlig klar, wir sind hier Premium-Produktanbieter, wir haben auch gar nichts anderes vor.‹« (IV-LF-03: 46, 78)
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Im Gegensatz dazu war für die vBS Bethel immer klar, dass Premiumangebote für Gutsituierte nicht zur »DNA« eines diakonischen Unternehmens passen konnten. »Also das gehört zur genetischen Ausstattung von Bethel, dass wir uns den Schwächsten zuwenden. Und die Schwächsten sind auch immer und wir machen keine Angebote an Selbstzahler, außer Chefärzte, die mal Leistungen abrechnen. […] Oder sie werden so billig, dass sie auch für Sozialhilfeempfänger bezahlbar sind. Wir machen keine Angebote, die nur für Besserverdienende geeignet sind.« (IV-LF-02: 70–74)
Sehr deutlich wurde dies bei einer Diskussion im Rahmen eines Ethikworkshops im Projekt KogniHome. Nach der Präsentation eines Industriepartners, wie er sich Assistive Technologie im Haushalt vorstellte, entspann sich folgender Schlagabtausch zwischen der Mitarbeiterin einer Pflegeeinrichtung und einem Vertreter des Industriepartners: Pflegevertreterin: »Aber wer kann sich sowas schon leisten?« Industriepartner : »Die Gesellschaft ist nun mal ungerecht. Einige können sich die Produkte leisten, andere nun mal nicht. Das war schon immer so, so wird das auch hier sein.« Pflegevertreterin: »Die Welt ist ungerecht. Aber sollte man dann nicht wenigstens versuchen, sie weniger ungerecht zu machen?« Industriepartner : »Ich bin nicht von der sozialen Wohlfahrt. Wenn das nicht vermarktbar ist, muss man da irgendwann einen Riegel vorschieben.« (TB-WS-02: 1–4)
Immer wieder klang dabei an, dass es nach wie vor einen tief sitzenden, historischen Konflikt zwischen sozialer und ökonomischer Rationalität gibt. Das Risiko, vor allem den ökonomischen Vorteil technischer Assistenzsysteme zu sehen, wurde dabei mit teils deutlichem Unbehagen geäußert. »Es gibt zwei Welten: das ist die böse Welt, hier ist die gute Welt. Wir sind Teil der guten Welt. Und ich bin Teil dieser guten Welt gewesen und habe mich bewusst dafür entschieden. Und ich glaube, dass das bis auf den heutigen Tag noch eine bewusste Entscheidung … oder bei vielen Mitarbeitern, die jetzt auch mein Alter mittlerweile haben, war das vor 30 Jahren auch mal eine bewusste Entscheidung.« (IV-LF-01: 22–22) »Aber auch viele, die gesagt haben, das geht gar nicht, das ist vollkommen daneben! Jetzt wollt ihr die Armen […] irgendwie noch mehr knechten, indem ihr die in die digitale Versklavung bringt und dass die vereinsamen, dass die von schlimmen Leuten im Internet ausgenutzt werden und und und. Also wirklich alle schlimmen Befürchtungen, die aber damit einhergehen, dass diese Menschen nach wie vor glauben, sie wüssten, was für die Leute gut wäre.« (IV-LF-01: 30–30) »Die Chancen, die die Technik bietet, können gleichzeitig auch die Risiken sein. Eine gute Vernetzung, ein Größtmaß an Sensorik und Überwachung und ich sage mal sicherheitsrelevanter Technik kann auch immer bedeuten, dass wir da den gläsernen
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Mensch haben und das wir da vielleicht auch aus ökonomischen Gründen Betreuungsleistung zurückfahren, weil wir ja da auch so ein relativ kostengünstiges technisches Monitoring betreiben. Ja. Das ist natürlich, das ist auch ein Risiko. Das ist auch nicht zu unterschätzen.« (IV-LF-05: 102–102)
Interpretation In den dargestellten Vignetten werden die unterschiedlichen Codes der Referenzsysteme sichtbar. Geht es in sozialer Perspektive um den Code helfen/nichthelfen, orientiert sich Technologie an der Unterscheidung Funktion/NichtFunktion. Die Partner aus der Wissenschaft folgen einer Logik der Publikation von Forschungsergebnissen mit einer Logik von wahr/unwahr. Eine ökonomische Rationalität, die dem Code Zahlung/Nicht-Zahlung folgt, wird dabei zwar von allen beteiligten Akteuren in Form einer Subcodierung berücksichtigt, allerdings in unterschiedlicher Weise: Die Universität denkt in Forschungsgeldern, die vBS Bethel in Refinanzierbarkeit durch die Sozialsysteme und die Industriepartner in wirtschaftlichen Gewinnzielen. In dieser Form erscheinen die Codes und Sub-Codes nahezu unvereinbar und die Konflikte zu diesem Zeitpunkt nicht auflösbar : Hochpreisige Premiumprodukte mit entsprechenden Gewinnmargen vertragen sich nicht mit einer einkommensunabhängigen Versorgung und Unterstützung von Menschen mit Assistenzbedarf. Somit tritt das Spannungsfeld der unterschiedlichen Rationalitäten deutlich zu Tage, während das Potential dieses multirationalen Arrangements, das der eigentliche Grund für die interdisziplinäre Zusammensetzung der Innovationsteams ist, zunächst nur am Rande wahrgenommen wird. Insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen einem sozialen und einem ökonomischen Mehrwert wird zudem erkennbar, mit welcher Strategie dieser Rationalitätenkonflikt in der Organisation bisher überwiegend bearbeitet wurde: Minimierung (vgl. 3.4). Zwar konnte die ökonomische Logik innerhalb der vBS Bethel nicht ignoriert werden, der daraus entstehende Konflikt wurde jedoch meistens in den Hintergrund gedrückt, während jede Rationalität sich selbst als letztendlich allgemeingültig ansieht und insbesondere der Ökonomie Dominanzansprüche unterstellt werden. Dabei ist zu beobachten, dass innerhalb der vBS Bethel die ökonomische Logik oft entscheidungsleitend ist, sie aber nicht im gleichen Maße sichtbar wird. In der Interaktion mit den externen Akteuren hingegen wird sie überdeutlich wahrgenommen. Zudem werden unterschiedliche Prägungen einer ökonomischen Logik zwischen Sozial- und Industrieunternehmen erkennbar. Während das Sozialunternehmen in der Refinanzierung entstehender Kosten denkt, und somit einen Schwerpunkt auf Kostenmanagement und Controlling legt, orientiert sich die Industrie stärker am unternehmerischen Denken, in dem eine durchaus mit Risiko behaftete Investition möglichst schnell einen unternehmerischen Gewinn erbringen soll.
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5.1.2.6 Muster: Ökonomische Dominanz wird wahrgenommen Immer wieder wurde in Entscheidungssituationen im Rahmen der Innovationsprojekte eine Dominanz ökonomischer Argumente beobachtet. Einerseits wenn es direkt um die Finanzierung von Innovationsvorhaben ging, andererseits indirekt, wenn Inhalte von Innovationsprojekten bestimmt werden mussten. Insbesondere in der Kooperation mit CITEC wurden die Projekte überwiegend durch Forschungsgelder finanziert, die durch die Universität akquiriert wurden, was sich auch in den Projektinhalten widerspiegelte, die eher forschungs- als praxisorientiert waren. Aber auch in Gesprächen mit anderen Partnern aus der Wirtschaft wurde diese Dominanz wahrgenommen, z. B. wenn es um die Frage ging, mit welchen Innovationen tragfähige Geschäftsmodelle und somit mögliche Gewinne realisierbar wären und dabei die sozialen Anforderungen ausgeblendet wurden. Entsprechend nahmen die Beteiligten häufig eine Dominanz in der Themensetzung dieser Projekte wahr. Andererseits nutzte auch die vBS Bethel in Entscheidungssituationen die Dominanz der Ökonomie, um eigene Ziele durchzusetzen, beispielsweise um Partner im Projekt des Einrichtungsneubaus zur Einhaltung gemachter Zusagen zu bewegen. Vignette: Projektthemen folgen Forschungsgeldern Insbesondere in der Kooperation mit der Universität Bielefeld erfolgte die Finanzierung der Projekte überwiegend durch Forschungsgelder, die durch die Uni akquiriert wurden. Dadurch dominierten in den Projekten zwangsläufig Inhalte und Logik, die von CITEC vorgegeben waren, die von den vBS Bethel zunächst mitgetragen oder übernommen wurden. »Natürlich ging das nicht Tabula rasa. CITEC ist ein System von Wissenschaftlern und Technikern Pipapo, die zum Teil schon lange zusammenarbeiten, auch über Fakultätsgrenzen hinweg, interdisziplinär und so, und wo natürlich jeder seine Themen und Steckenpferde hat, wo es auch Arbeitsgruppen und Netzwerke gibt, die schon lange, auch bevor es CITEC gab, ihre Themen hatten. […] Und da war das dann natürlich nicht Tabula rasa, sondern im Grunde haben wir angeknüpft an die Vorarbeit und das war mehr oder weniger so, dass die gesagt haben, das und das können wir oder da und da sind wir dran und das können wir.« (IV-LF-02: 30–30)
In der Folge führte diese Ausrichtung der Projekte dazu, dass von einigen Beteiligten eigene Inhalte und eine strategische Einbindung der Projekte vermisst wurden. »Wenn die Uni ein Projekt beantragt und das wird was, dann wird es gemacht. […] Weil da kommt das Geld her und dann stellt man sich jetzt Kooperationspartner zur Verfügung, aber ich sage mal so, was mir insgesamt fehlt ein Stück ist glaube ich auch, ich würde mir zum Beispiel überlegen: Bethel ist eine Sondereinrichtung. Ich sage das jetzt mal etwas verkürzt. Im Zuge der Inklusion werden die Sondereinrichtungen abge-
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schafft. Also ne, ich spitze das etwas zu. Wenn sich Bethel Inklusion auf die Fahnen schreibt, sägt es an dem Ast wo es drauf sitzt, würde ich mir doch strategisch überlegen, wie nutze ich so etwas wie die Assistiven Technologien, um Publicity für Sondereinrichtungen zu machen, das heißt, um zu sagen, passt auf, Inklusion kann an manchen Stellen funktionieren, an vielen Stellen wird es so nicht funktionieren. […] Aber jetzt mal extrem gedacht, ob das Sinn macht, das so zu realisieren ist ja noch mal eine andere Sache, aber extrem gedacht, ist das eben so ein Stück weit von der Uni gesteuert. Bethel kommt nicht und sagt: Passt mal auf, wir haben jetzt hier das und das Anliegen und wir fänden es gut, dass und das zu machen. So. […] Bethel baut keine eigene Logik auf.« (IV-LF-07: 64–76)
Vignette: Fehlende Refinanzierung erschwert Innovationsprojekte Nahezu alle Beteiligten schilderten Wahrnehmungen einer ökonomischen Dominanz im Innovationsprozess, die im Sinne einer fehlenden Refinanzierung sowohl des eigentlichen Innovationsprozesses als auch der nachhaltigen Finanzierung der daraus entstehenden neuen Angebote im Rahmen eines tragfähigen Geschäftsmodells sichtbar wurde. Während sich zwischen anderen Rationalitäten häufiger Verständigungen abzeichneten, wurde die fehlende Finanzierung oft als ›show stopper‹ gesehen, in dem sich der ökonomische Anspruch manifestierte. »Ja, das fängt schon intern an, wenn sich das nicht rechnet, wird das nicht gemacht. Was sich nicht rechnet, wird nicht gemacht. Und am Beispiel Kinderhospiz, unsägliche Diskussionen mit den Kostenträgern die in keiner Weise Interesse daran haben, was Innovatives zu machen was die Kassen betrifft, die Krankenkassen.« (IV-LF-08: 74–74) »Das steht auch außer Frage, aber wir machen Defizite mit unserem ambulanten Dienst, weil wir Tarif bezahlen und dann machen wir so etwas, das muss der Vorstand ja auch immer, und das müssen wir zusammen mit dem Vorstand machen… machen wir das, auch wenn wir keinen Deckungsbeitrag haben, müssen wir es machen, oder was von diesen Diensten machen wir? Das sind so Fragestellungen, die natürlich über die Ökonomen sehr stark kommen.« (IV-LF-08: 30–30) »Da trifft man sehr auf offene Ohren und manches kommt sogar aus der Politik, also Herr XY beispielsweise, der das Projekt, was ich Ihnen beschrieben habe, mit angestoßen hat. Da gibt es schon relativ große Offenheit, aber die endet natürlich genau an der Stelle, wo es ums Bezahlen geht.« (IV-LF-08: 74–74)
Dieses Muster ließ sich auch im Zusammenspiel mit anderen Akteuren finden, in dem letztendlich ökonomische Argumente die Entscheidung über Innovationsprojekte leiteten. Beispielsweise bei Überlegungen zu einem gemeinsamen Projekt mit einem Industriepartner wurde von diesen sehr deutlich auf die Notwendigkeit eines funktionierenden Geschäftsmodells hingewiesen. »Am Beispiel […] dieses [Projektes] ist natürlich auch klar, dass wir mit [Firmenname] ein offenes Wort gesprochen haben und [Firmenname] haben auch gesagt, wir machen
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das, was letztlich, wo mehr als eine schwarze Null übrig bleibt. Also das muss sich rechnen. Wir machen das sozusagen nicht einfach so.« (IV-LF-05: 56–56)
Vignette: vBS Bethel nutzt Dominanz ökonomischer Argumente gegenüber Partnern Auch in anderer Richtung waren sich Beteiligte durchaus dieser Dominanz ökonomischer Argumente bewusst, wenn es darum ging, eigene Anforderungen in konfliktgeladenen Situationen durchzusetzen. Als es in einem Projekt zu einer Situation kam, in der die unterschiedlichen Technologiepartner nicht in der Lage waren, die vorher zugesagten Anforderungen umzusetzen, wurde dem technischen Argument »Es funktioniert nicht« sehr deutlich mit ökonomischen Konsequenzen begegnet. »Wie wir es gedreht haben? Also, ich habe allen richtig auf die Füße getreten auch, um zu sagen: Der Notruf funktioniert nicht, wir werden jetzt zwei zusätzliche Nachtwachen einstellen und das geht nicht anders. So mache ich das nicht und ihr bezahlt das, weil ihr habt das nicht fertiggestellt so wie versprochen. Also ja, da muss der Gelddruck immer kommen, sonst funktioniert gar nichts. […] Und ich meine, die sind schon alle bemüht, aber nur mit Geld bemühen sie sich auch dann Tag und Nacht und das ist für Techniker, die dann in Duisburg oder wo auch immer sitzen, schwierig nachzuvollziehen, dass wir es hier mit Menschen zu tun haben, die, weil der Notruf nicht funktioniert, sterben. Also dass das auch eine Bedeutung hat. Das ist nicht nur: Da funktioniert ein Fernseher nicht oder so. Darum geht es nicht, sondern da waren tatsächlich Situationen, wo wir gesagt haben, das ist jetzt sicherheitsrelevant und dann treffe ich auch Entscheidungen, dass dann noch zusätzliche Leute kommen und die bezahlen wir natürlich nicht. Sonst müssen die bezahlen.« (IV-LF-08: 50, 52)
Interpretation Es zeigt sich, dass die mehr oder weniger stark ausgeprägte Orientierung aller beteiligten Akteure an einer ökonomischen Logik, die bereits im vorherigen Muster erkennbar wurde, unmittelbaren Einfluss auf das Zustandekommen und die Ausgestaltung von Innovationsprozessen hat. Kein Akteur kann es sich im Interesse des Fortbestandes der Organisation erlauben, ökonomische Kriterien zu ignorieren. Vielmehr wird deutlich, dass Ökonomie wenig überraschend zur relevanten Umwelt aller Organisationen gehört, und der ökonomische Code somit einerseits die Entscheidungsprozesse wesentlich mitprogrammiert, andererseits jedoch auch von allen Beteiligten zur Erreichung eigener Ziele eingesetzt wird (indem der Entscheidungsprozess der anderen Organisation ebenfalls ökonomisch ›programmiert‹ wird). Dies gilt insbesondere für Innovationsprozesse, in denen die eingesetzten finanziellen Ressourcen immer mit einem Verlustrisiko behaftet sind. Dabei wird nochmals deutlich, dass zwar die beteiligten Akteure alle auch einem ökonomischen Code folgen, diesen jedoch unterschiedlich operationalisieren. Für die vBS Bethel werden Zahlungen in erster Linie als Refinanzierung aus dem Sozialsystem operationalisiert, für
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CITEC erfolgt dies in Form von Forschungsmitteln, während für die Industrie erzielbare Marktpreise als Programme fungieren. Mit jedem dieser unterschiedlichen Programme werden unterschiedliche Ausrichtungen der Innovationsziele verbunden: Nach SGB abrechenbare Leistungsangebote, publizierbare Forschungsergebnisse oder vermarktbare, wettbewerbsfähige Produkte mit entsprechenden Gewinnerwartungen. In diesen Programmen werden somit auch unterschiedliche Subdisziplinen der Ökonomie erkennbar. Während die Industrieunternehmen unternehmerisch in risk and return denken (und dabei von einer Gewinnerwartung ausgehen), liegt der Schwerpunkt der vBS Bethel auf Risikovermeidung und Kostenkontrolle. Zwar ist beides Teil einer ökonomischen Logik, jedoch in unterschiedlichen Funktionen, die mit den Rollen des Unternehmers und des Controllers beschrieben werden könnten. 5.1.2.7 Muster: Ursachen für fehlende Innovationsfähigkeit wird außerhalb der Organisation verortet Entsprechend dem vorherigen Muster wurde die Innovationsfähigkeit oft eng mit dem Vorhandensein von finanziellen Innovationsressourcen in Verbindung gebracht. In der Kommunikation konnte beobachtet werden, dass die Zurückhaltung von Politik und Kostenträgern, Innovationen in Sozialunternehmen zu finanzieren, als ein Hauptgrund für die fehlende Innovationsfähigkeit angesehen wurde. Neben dem Kostendruck auf Trägerseite wurden dabei vor allem die starren gesetzlichen Rahmenbedingungen und die Trägheit des politischen Systems bei der Anpassung derselben als hinderlich wahrgenommen. Einige der größten Innovationshindernisse wurden von der Organisation somit außerhalb ihres eignen Einflussbereichs verortet, da ihr einerseits eine Gewinnorientierung des eigenen unternehmerischen Handelns vor dem Hintergrund der Umwelterwartungen nicht möglich oder erstrebenswert erschien, und andererseits Innovationsmittel aus den bestehenden Einnahmequellen nicht zugänglich waren. Vignette: Kostenträger finanzieren keine Innovation Die Erfahrung der Organisation mit dem politisch-administrativen System in der Finanzierung von Innovationsprojekten wurde in der Untersuchung durchgehend negativ eingeschätzt. »Ich habe immer gedacht, wir bräuchten so was, aber es war ja nie finanzierbar. Also die 20, 25 Jahre vorher war mir immer klar, also eigentlich wird nur das bezahlt, was der Kern dieser sozialen Arbeit ist. Und natürlich Verwaltung und so drum herum, aber nichts, was in Richtung Forschung und Entwicklung geht.« (IV-LF-01: 12–12)
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»Oder muss es eigentlich eine Regelfinanzierung für Innovationen geben, ist die Frage. Also wie kriegen wir da eigentlich eine nachhaltige Entwicklung rein oder überlassen wir das jetzt der Aktion Mensch, dass sie punktuell fördert und gucken mal, was denn dabei rauskommt? […] Also der Finanzierungsaspekt ist sicherlich auch eine Herausforderung. Ja.« (IV-LF-09: 126–126) »In erster Linie weil es in keiner Weise refinanziert wird, weil das ja alles zusätzliche Sachen sind. Und all die Dinge, die ich in dieser Beziehung getan habe, sind ja nicht vorranginge Aufgabe einer Einrichtungsleitung. Ja, und was nicht refinanziert wird in der Pflege ist ja schon mal per se sehr schwierig. Es ist ja so diese zusätzliche Entwicklungsarbeit im Prinzip, die wir nicht bezahlt bekommen.« (IV-LF-04: 94–94)
Die bisherigen Gespräche mit Kostenträgern wurden dabei als sehr schwierig wahrgenommen. Trotz guter Ideen schien es wenig erfolgversprechend, eine Finanzierung innovativer Konzepte zu erhalten. Nur auf Grund der Größe der vBS Bethel war es möglich, solche Innovationsprozesse weiterzuverfolgen. »Also bezogen auf neue Innovation ist, glaube ich, die Frage der Refinanzierung ist ein Punkt der ungerne von… der wird ungern behandelt. Das ist es schon so, dass es so betrachtet wird, Bethel als Träger jetzt, also großer Träger ja so etwas ja machen und vorantreiben kann, aber ich glaube wenn ich jetzt an irgendwelche Kostenträger herantreten würde oder an die Stadt um da über Refinanzierung zu sprechen, ich glaube das würde momentan nicht so einfach gelingen.« (IV-LF-05: 64–64)
Vignette: Politisch-administratives System ist träge und risikoavers Die Auseinandersetzung mit den sozialpolitischen Akteuren produzierte insbesondere bei Innovationsthemen deutliche Frustrationen auf Seiten der vBS Bethel. In der Wahrnehmung der vBS Bethel wurden in der Vergangenheit notwendig angesehene Veränderungen erst nach etlichen Jahren seitens der Politik umgesetzt, während die Organisation tagtäglich mit einer sich immer schneller verändernden Umwelt konfrontiert wurde. Ein Vorstandsmitglied äußerte sich in diesem Zusammenhang sehr deutlich: »Innovationsfeindlich, feindlich fast schon, unheimlich träge. Das kann ich Ihnen auch sagen, woran das liegt. Wir sind ja in dem Bereich wie in keinem anderen gesellschaftlichen Bereich extrem reglementiert. Und das sind die Sozialgesetzbücher. […] Die letzte gründliche Überarbeitung gab es Anfang der 90er Jahre. Das ist praktisch im Generationenrhythmus. Die Pflegeversicherung ist eingeführt worden von Norbert Blüm. Jetzt wird sie auf neue Grundlagen gestellt. 20 Jahre arbeitet man auf der gleichen Grundlage, gesetzlichen Grundlage und das verhindert natürlich fachliche Innovationen. Fachlich tut sich viel, inhaltlich, neue Therapiemethoden […]. Aber strukturell ist es alles in Stein gemeißelt, in Stein gemeißelt. […] Aber strukturell was verändern? Wahnsinn. Wie lange haben die gebraucht, um ambulante Eingliederungshilfe zu machen? Wie lange haben wir gebraucht, damit die Zuständigkeit für die stationäre und die ambulante in Nordrhein-Westfalen in eine Hand kommt, aus einer Hand gesteuert wird? Erst mal gab es gar kein betreutes
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Wohnen. Als es das dann gab, waren die Kommunen zuständig. 20 Jahre lang. Der Landschaftsverband war für stationär, der andere für ambulant. Die haben sich gegenseitig blockiert. 20 Jahre hat es gedauert oder 15, bis das endlich in eine Hand kam in Nordrhein-Westfalen. Total irrsinnige Zeit. Wahnsinn, dass man sich da, dass wir überhaupt so viel zustande kriegen, ist schon erstaunlich in dem System. […] Ja, das ist doch Wahnsinn. […] Das dauert 20 Jahre. Jede dieser Innovationen. Also könnte ich mich ja schon wieder in Rage reden, wie Sie merken.« (IV-LF-02: 56–62)
Auch auf der Ebene einer Geschäftsbereichsleitung provozierte die Trägheit des politischen Systems große Frustration. Es wurde deutlich, dass die Führung der Organisation der Ansicht war, dass viel mehr Innovation durch die vBS Bethel möglich wäre, wenn Rahmenbedingungen flexibler gestaltet wären. »Die Nachhaltigkeit ist das schwierige Thema und von daher gibt es ja auch nicht … also wenn ich mir die Versorgung von alten Menschen angucke, gibt es ja wenig Fortschritte da. Was passiert denn? Nichts! Gar nichts! Seit 96 habe ich die gleichen Personalschlüssel beispielsweise, seit 96! Und die Strukturen in den Einrichtungen, die Menschen, die wir pflegen, das hat sich alles völlig verändert, aber ich kriege es nicht hin. Ja gut, ich kann das jetzt nicht alles aufmachen.« (IV-LF-08: 76–76)
Interpretation Die Organisation spürt die enge Kopplung an das politisch-administrative System, und sieht vor diesem Hintergrund wenig Möglichkeiten, aus eigener Kraft innovativ zu handeln, und vor allem diese Innovationen ohne gesicherte Refinanzierung in die Breite zu tragen. Zugleich empfinden sich die Beteiligten als machtlos gegenüber den ökonomischen Rahmenbedingungen und den starren sozialpolitischen Strukturen. Sie finden sich in ihren Innovationsbemühungen im Spannungsfeld zwischen ökonomischer und politischer Rationalität wieder, und sehen auch auf Grund bisheriger Erfahrungen keine Möglichkeiten, daran etwas zu ändern, also diese beiden Pole produktiv in das Innovationsgeschehen einzubeziehen. Die Machtlosigkeit führte zu nachhaltiger Frustration unter den Beteiligten, nach dem Motto: »Wir könnten ja, wenn es nicht immer nur um Geld und Politik ginge«. Darin spiegelt sich jedoch auch ein Selbstverständnis, das weniger dem eines Unternehmens entspricht, als vielmehr noch in der Erwartung der Kostendeckung durch den Sozialstaat wurzelt. Entsprechend gibt es nur wenige Versuche, Handlungs- und Innovationsspielräume in der Schnittmenge von Sozialpolitik, Kostenträger, Industriepartnern, Sozialunternehmen und Klientinnen und Klienten zu finden. Letztendlich werden die Innovationshemmnisse somit in der Umwelt des Systems verortet, was einerseits der eigenen Erfahrung entspricht, aber in der Konsistenz, in der diese Position geäußert wird, auch vermuten lässt, dass die organisationseigenen Hemmnisse und Hürden unterbewertet werden. Vor diesem Hintergrund lässt sich auch die ›Ausweichbewegung‹ verstehen, dass viele Projekte durch akqui-
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rierte Forschungsgelder finanziert wurden, da andere Mittel nicht zur Verfügung standen. Allerdings führte dies, wie gezeigt, zu forschungslastigen und weniger praxisorientierten Themen- und Zielsetzungen in den so finanzierten Projekten. Dort, wo Projekte aus Eigenmitteln finanziert wurden, beispielsweise die Ausstattung des Einrichtungsneubaus mit Assistenztechnik, konnte eine erheblich stärkere Praxisrelevanz beobachtet werden, wie später zu sehen sein wird. 5.1.2.8 Muster: Unterschiedliche Arbeitsweisen der Innovationspartner finden anfangs schwer zusammen In der in der Folge beginnenden konkreten Zusammenarbeit in den Projekten wurden insbesondere am Anfang von den Beteiligten teils sehr unterschiedliche Arbeitsweisen zwischen den Akteuren wahrgenommen, die auf die jeweiligen professionellen und kulturellen Hintergründe zurückgeführt wurden. Wurde beispielsweise von Seiten der vBS Bethel eine strukturierte, abgestimmte Vorgehensweise erwartet, wurden die Wissenschaftler als ›kreativ-chaotisch‹ wahrgenommen, während die Industriepartner in ihrer pragmatischen Zielorientierung und ›Entscheidungsfreude‹ die aus Sicht der vBS Bethel notwendige Abstimmung vermissen ließen. Jede Sinngemeinschaft brachte die für ihre jeweilige Zielerreichung bewährten Methoden und Arbeitsweisen mit, die in der konkreten Zusammenarbeit zu ähnlichen Friktionen führten, wie die darunter liegenden Werte und Codes der unterschiedlichen Rationalitäten. Die Beteiligten sprachen unter anderem von »unterschiedlichen Kulturen« und vom Unterschied zwischen Dynamik und Struktur (IV-LF-03: 18–18) Vignette: »Die kreativ-chaotischen Wissenschaftler und das strukturiert-kontrollierte Sozialunternehmen« In den gemeinsamen Projekten zwischen den vBS Bethel und dem CITEC traten Unterschiede zu Tage, mit welchen Instrumenten die Arbeit und die Kommunikation zu organisieren sei. Für die Beteiligten der vBS Bethel war es selbstverständlich, dass es eine klare Struktur von Sitzungen, Protokollen und einzubeziehender Gremien geben müsse, bevor konkrete Schritte umgesetzt werden konnten. Hingegen wurde beim CITEC eine Haltung wahrgenommen, dass man zunächst loslaufen könne, um möglichst schnell erste Ergebnisse zu erhalten. »Also es war schon so, dass wir am Anfang, also das eine waren sozusagen diese professionellen Hintergründe, dass andere auch einfach glaube ich unterschiedliche Kulturen so von dieser eher sehr dynamischen Forschungseinheit die da eben dieses Exzellenz-Cluster bildet auf der andern Seite hier eben ein sehr großes Unternehmen was sehr gut durchstrukturiert ist, was da auch viel, viel Wert drauf legt. […] Und da war am Anfang wirklich auch so Standard, also was halt wirklich so Themen wie
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›müssen wir eigentlich Protokoll führen für Sitzungen oder nicht‹, ›wer führt das‹, ›wie führt man ein richtiges Protokoll‹ oder auch, ›wie schnell kann man so eine Studie eigentlich durchführen?‹ Also wie die Kollegen von der Uni hatten nur die Idee, dass sie nach vier Wochen so eine erste Studie machen können, wo wir dann gesagt haben: Okay, wir müssen jetzt erst einmal gucken wer macht mit. Welche Betreuer müssen informiert werden. Welche Mitarbeiter müssen informiert werden. Wie binden wir die Mitarbeitervertretung ein und so. Das man einfach so gemerkt hat, da sind sehr unterschiedliche Welten die irgendwie aufeinander kommen und das hat wirklich auch eine ganze Weile gebraucht, bis wir wirklich zueinandergekommen sind.« (IV-LF-03: 18–18) »Der wissenschaftliche Bereich viel – interessanterweise ansonsten sind die oft sehr flexibel, aber da es da viel länger gebraucht hat umso ein Stück weit in Gang zu kommen, Strukturen überhaupt erst einmal zu entwickeln und so, und wir da immer so ein bisschen dazwischen standen irgendwie und geguckt haben, wo fädeln wir uns eigentlich ein? Ja.« (IV-LF-03: 6–6)
Dabei unterschieden sich auch die Fragestellungen, die den Vorgehensweisen der jeweiligen Sinngemeinschaften und Organisationen zu Grunde lagen. Stellte die vBS Bethel ihre Klienten und Mitarbeiter in den Mittelpunkt, orientierten sich die Projektpartner aus der Wissenschaft an der Durchführung der Studien und die Industrie häufig an technischen Merkmalen und Kriterien. Die unterschiedlichen Arbeitsweisen lösten dabei nicht selten Erstaunen aus. Man war überrascht, dass andere Sinngemeinschaften das für die vBS Bethel selbstverständliche Vorgehen so nicht gewohnt waren. »Und ich bin erstaunt, ich bin wirklich erstaunt, wie unbeleckt auch die Uni Leute, die Technikleute, von diesen Fragestellungen sind. Also was ich eben über die [Firma] gesagt habe, die kennen die Menschen nicht, also ist gar kein Vorwurf, es ist nicht ihr Thema, da haben sie nichts mit zu tun.« (IV-LF-08: 94–94) »Ich war überrascht, dass, war ich echt überrascht, bin bis heute zum Teil noch ein bisschen, also, dass das für die Uni-Leute relativ ungewohnt war. Also die arbeiten da irgendwie, habe ich den Eindruck, chaotischer oder kreativer oder flexibler.« (IV-LF02: 24–24) »Aber die können sich die Menschen gar nicht vorstellen, die haben immer nur Zähler, also Stromzähler. Das ist so die Erfahrung.« (IV-LF-08: 68–68)
Die unterschiedlichen Arbeitsweisen wurden dabei auf die verschiedenen Professionen und Kulturen mit den zu Grunde liegenden Leitdimensionen zurückgeführt, einerseits Soziale Arbeit, andererseits Technik und Forschung. »Also das ist tatsächlich eine sehr hochkomplexe Mischung an Professionalität, Kulturen, weil es nicht nur um Technik und soziale Arbeit geht, sondern innerhalb, was da an Professionen, da haben wir die Juristerei dabei, da haben wir Ökonomen dabei, da haben wir Techniker dabei, Psychologen, die Linguisten und so weiter. Auf unserer Seite ist es nicht ganz so komplex. Aber auch hier spielen natürlich ganz unter-
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schiedliche Professionen. Aber hier ist es die Leitdimension, die sagen wir mal soziale Arbeit und da die Leitdimension Technik und Forschung.« (IV-LF-02: 42–42)
Vignette: Pragmatisch-zielorientierte Wirtschaft Ähnlich unterschiedlich gestalteten sich auch die Arbeitsweisen im Zusammenspiel mit den Partnern aus der Wirtschaft. Dabei wurde zwar einerseits geäußert, dass auf Grund einer ähnlich strukturierten Vorgehensweise eine größere Nähe zu Wirtschaftsvertretern empfunden wurde. »Ich merke bei den anderen Partnern, bei KogniHome zum Beispiel, die Leute, die aus der Wirtschaft kommen, die ticken oft ähnlicher als… Da spüre ich oft mehr Ähnlichkeit als mit oder mehr Nähe, wie das ganze tickt, als mit den CITEC-Leuten. […] Ja, also die sind relativ pragmatisch. Die sind an konkreten Ergebnissen orientiert, an klaren Strukturen, klaren Verabredungen und so. Während die eben auch ein bisschen immer Künstler sind, die CITEC-Leute. Das sind eben nicht alles nur rationale Wissenschaftler, die das alles methodisch strikt abarbeiten, sondern das sind auch ein bisschen, sonst wären sie auch nicht bei CITEC. Das sind auch ein bisschen verrückte Köpfe wahrscheinlich. Und die Leute aus den Unternehmen, das sind Pragmatiker und da fühle ich erst mal größere Nähe, wenn auch die manchmal die Augen verdrehen, wenn die CITEC-Leute da irgendwelche großen Kreise ziehen. Wir wollen doch mal hier jetzt zack zu Ergebnissen kommen. Also da war ich überrascht, wie wenig wahrnehmbare Grenzen es da gibt zwischen diesen gewerblichen Unternehmen und uns. Also da war eine relativ große Akzeptanz von Anfang an da. Sie haben nicht so auf uns herabgeguckt, was seid ihr, was macht ihr eigentlich oder so. Das pragmatisch, praktisch läuft das. Nun wissen die auch, dass Bethel keine Telefonzelle ist oder so, sondern haben da wahrscheinlich auch einen gewissen Respekt. Also die Kulturen sind sehr ähnlich komischerweise, also das, was so Umgang mit diesem Thema angeht.« (IV-LF02: 50–52)
Andererseits wurden auch deutliche Unterschiede wahrgenommen, was Geschwindigkeit, Ergebnisse und Erfolgskriterien anging. Partner aus der Industrie wurden als sehr zielorientiert gesehen, was nach Meinung einiger Beteiligter auf Seiten der vBS Bethel zu Lasten der notwendigen Abstimmung und Einbindung der involvierten Parteien ging. Die fehlende Abstimmung und das teils als Vorpreschen empfundene, hohe Tempo wurden von einigen Beteiligten als Versuch wahrgenommen, anderen die eigenen Denk- und Arbeitsweise aufzudrängen, woran Partnerschaften auch scheitern konnten. »Das hat sich hinterher als sehr schwierig herausgestellt, weil es eine andere Unternehmenskultur ist. Da geht es um Geschwindigkeit, da geht es auch darum sicherlich, Erträge zu generieren, Zahlen zu generieren […].Und da merkte ich schon, da versucht uns jetzt das Unternehmen so ein bisschen ihre Philosophie und ihre Struktur überzustülpen und so ein bisschen einzunormen und das hat unterm Strich dann nicht funktioniert und wir sind dann nicht zusammengekommen.« (IV-LF-09: 114–114)
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»Und das ist für uns auch noch mal neu. Also weil wir sozusagen dazwischen es schon langsam gewohnt sind da mit der Forschung zusammenzuarbeiten, aber Industrie und Wirtschaft tickt noch mal anders. Das merkt man da in diesem Projekt auch so. Manche Industriepartner haben zum Beispiel unheimlich schnell losgelegt und die sehr schnell vorgearbeitet haben, Gremien dann einfach Entscheidungen schon mal treffen ohne das abzusprechen.« (IV-LF-03: 6–6)
Diese Konflikte fanden auch in internen Besprechungen der vBS Bethel ihren Niederschlag. Folgender Dialog entwickelte sich, als das Agieren eines Industriepartners in einer AG-Sitzung thematisiert wurde. Dieser hatte entschieden, eines seiner vorhandenen Produkte in das Projekt einzubringen, was aus Sicht der vBS Bethel wenig sinnvoll war. Die Ursache des Konfliktes wurde dabei in fehlenden Regeln verortet, die durch das beschleunigte Antragsverfahren zur Akquirierung der Forschungsgelder im Vorfeld nicht ausformuliert worden waren: TL1: »Firma XY will ihre Lichtleisten in der Wohnung installieren, die müssen aber im Boden versenkt werden.« TL2: »Niemand lässt sich zuhause so eine Lichtleiste reinfräsen.« TL1: »Der Partner will das aber einbringen.« TL2: »Nur damit Firmen was einbringen können, macht das inhaltlich kein Sinn.« TL1: »Das ist dem Holter-di-Polter-Antragsverfahren geschuldet. Da sind die Regeln nicht klar genug abgestimmt worden.« (TB-AG-04: 1–5)
Interpretation Die unterschiedlichen Herangehensweise können als Hinweis auf spezifische Haltungen (und damit Kulturen, Methoden, Zielsetzungen und Vorgehensweisen) gesehen werden. Die vBS Bethel ist bestrebt, in bekannten Strukturen zu arbeiten und die Vergewisserung durch Einbeziehung der verschiedenen Anspruchsgruppen sicherzustellen, gerade auch in einem Umfeld, das durch Verunsicherung und unterschiedliche Interessen geprägt ist. Es geht somit um die Aufrechterhaltung einer Routine, die mit Blick auf die Klienten sichergestellt werden muss. Der Wunsch ›die Leute mitzunehmen‹, insbesondere auch die Mitarbeiter, kann einerseits in der Kultur der Sozialprofession verortet werden. Andererseits ist auch zu vermuten, dass sich diese Vorgehensweise in den Spannungen und Herausforderungen der letzten Jahre für die Organisation in Zeiten der Unsicherheit bewährt hat. Diese Sorge treibt die Wissenschaftler von CITEC nicht um. Sie gehen forsch an die Forschung, geprägt von Forschungsfreiheit, Unabhängigkeit und Kreativität. Ihre Methoden fokussieren sich auf Design und Durchführung von Studien. Industrie und Wirtschaft sind in ihrer Zielorientierung durchaus auch strukturiert, wissen aber anders als der Forscher, was am Ende dabei heraus
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kommen soll. Sie sind es gewohnt, sehr schnell Entscheidungen zu treffen und sind an konkreten Ergebnissen interessiert, die möglichst einen Weg zu neuen oder zur besseren Vermarktung bestehender Produkte weisen sollen. Die unterschiedlichen Instrumente und Methoden können in dieser Hinsicht als stabilisierte Verhaltensmuster verstanden werden, die im Kontext des jeweiligen Organisationssystems dienlich und zweckmäßig und mittlerweile Teil der jeweiligen Organisationsgrammatik sind. Solange jede Organisation unter sich bleibt, wird dieser Konflikt vermieden. Nun, im Fall der Kooperation innerhalb eines Innovationsprojekts, müssen neue, eben für das gemeinsame Projekt dienliche Formen der Zusammenarbeit erst gefunden werden. 5.1.2.9 Muster: Fehlende Sprachfähigkeit erzeugt Missverständnisse und Barrieren Noch deutlicher als bei den unterschiedlichen Methoden und Arbeitsweisen wurden die unterschiedlichen Kulturen anhand ihrer jeweiligen Sprachen erkennbar, die sich zunächst unverständlich gegenüber standen. Jede Profession und jede Organisation brachte ihre Fach- und Organisationssprache in den Prozess ein, die vom Gegenüber oft nicht verstanden wurde, was zu Kommunikationsbarrieren und nicht thematisierten Missverständnissen zwischen den beteiligten Akteuren führte. Dadurch verstärkte die vorherrschende Sprachunfähigkeit die bestehenden Konflikte, da zunächst keine gemeinsame sprachliche Ebene zur deren Bearbeitung zur Verfügung stand. Vignette: Unterschiedliche Fachsprachen erschweren Kommunikation Die unterschiedlichen Fachsprachen wurden zu Beginn der Zusammenarbeit als eine der größten Herausforderungen wahrgenommen. Die Kommunikation gestaltete sich mühsam und war von häufigem Nachfragen geprägt. Immer wieder mussten die Beteiligten eine Hemmschwelle überwinden, um durch wiederholtes Nachfragen eine gemeinsame Verständigung zu erreichen. Es wurde als ein »Zusammenprallen von Welten« empfunden (IV-LF-09: 86–86), das zur Reflektion der eigenen Fachsprache führte. »Ich fand sozusagen dieses sprachliche, das lag eigentlich immer ziemlich oben auf, also so, aber da eben auch den Mut zu haben immer wieder einzufordern und zu sagen, so ich weiß nicht welcher Anglizismus, was der jetzt wieder bedeutet in diesen technischen Kontexten […], das finde ich bisher die größte Herausforderung.« (IV-LF-03: 88–88) »Ja. Da prallen auch Welten aufeinander, genau. Und da ist es dann auch wirklich so, dass man dann nachfragt. Also wenn es dann um Begrifflichkeiten geht oder bei den Marketingleuten, diese ganzen Anglizismen oder so, sagt der Kollege, also ich verstehe überhaupt gar nichts mehr. […]
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Ein Informatiker sagt, puh, habe ich mir noch nie drüber Gedanken gemacht, weil ich befinde mich immer in meinem Metier und da ist es ganz klar, dass ich solche Begriffe nutze, reflektiere das überhaupt nicht, aber wenn ich dann natürlich in einem anderen Kontext zusammensitze, dann funktioniert das nicht mehr.« (IV-LF-09: 88–92)
Die unterschiedlichen Sprachen der professionellen Hintergründe wurden auch in scheinbar nebensächlichen Situationen sichtbar, beispielsweise als bei einer Raumverlegung einer Sitzung die Ingenieure den neuen Raum als »Tür plus Epsilon« bezeichneten oder normale Abstimmungsprobleme im Projekt als »arithmetische Restreibung« (TB-AG-03: 2–3). Die fehlende Sprachfähigkeit wurde von den Beteiligten dabei auch als Kompetenzdefizit wahrgenommen, dass durch Erlernen der jeweils anderen Sprache abgebaut werden müsse: »Im Kontakt mit Wirtschaft und Industrie muss deren Sprache gelernt werden.« (TBWS-01: 5–5).
Diese fehlende Sprachfähigkeit der jeweils anderen Profession erschwerte die Zusammenarbeit zwar sehr, wurde dabei jedoch in der Regel als gemeinsames Problem empfunden und nicht als Böswilligkeit. Das Eingeständnis der eigenen Unwissenheit erforderte oft Mut und eine soziale Kompetenz, insbesondere im späteren Kontakt mit den Klienten, die in den Innovationsprozess eingebunden wurden. »Die Zusammenarbeit mit der programmierenden Firma anders aufbauen. Also das ist das, was in dem Prozess am schlechtesten gelaufen ist – aber durch unsere gemeinsame Unwissenheit.« (IV-LF-04: 114–114) »Oder eben auch diese ganzen Fachbegriffe aus dem Sozialwesen, also da auch wirklich den Mut zu haben und dran zu bleiben und immer wieder einzufordern, dass wir sowohl auf professioneller Ebene und dann erst recht in Kontakt mit den Klienten eine leichte Sprache finden und eine gemeinsame Sprache finden.« (IV-LF-03: 88–88) »Unterm Strich ist es wirklich so, dass es unglaublich schwierig ist, unabhängig von welcher Fachdisziplin wir da reden, den Kopf frei zu machen. Und wirklich bei null anzufangen […], weil natürlich auch eine gewisse soziale Kompetenz eingefordert wird.« (IV-LF-09: 38–38)
Interpretation Aus systemischer Perspektive kann die fehlende Sprachfähigkeit zwischen den Disziplinen auf eine gegenseitige Unkenntnis der jeweils verwendeten Unterscheidungen und Bezeichnungen zurückgeführt werden. Zwar wird Kommunikation als solche verstanden und ist in diesem Sinne zunächst erfolgreich. Allerdings bewegt sich die Kommunikation in Weizsäckers Modell einer »praktischen Information« (vgl. 3.2.2) häufig am Rande der vollkommenen Neuheit, da Akteure beider Seiten »Dinge von sich geben, die mit nichts Be-
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kanntem in Verbindung gebracht werden können, und demzufolge schlicht unverständlich erscheinen«.773 Dadurch wird die Informationsverarbeitung im Kommunikationssystem deutlich erschwert oder verhindert. Die Fähigkeit zur Informationsverarbeitung auf Grund eines wahrgenommenen Ereignisses oder Irritation ist jedoch für die weitere Bearbeitung innerhalb des Systems, also auch einer Organisation, eine notwendige Voraussetzung. Bewegen sich Kommunikationsbeiträge ständig an der Grenze der vollkommenen Neuheit, ist die Gefahr groß, dass Inhalte nicht wahrgenommen und Informationen nicht verarbeitet werden. Dieses Ringen an der Grenze wird von den Beteiligten als sehr mühsam empfunden. Wohl auch, weil sie wissen, dass sie nicht wissen, was sie in der Kommunikation mit dem Anderen nicht wahrnehmen, und was somit keine Möglichkeit hat, in die Kommunikation der Organisation zu gelangen, um dort bearbeitet und Teil der Wirklichkeit der Organisation (oder zumindest des Projekts) zu werden. Für das gemeinsame Innovationsprojekt steht somit noch keine gemeinsame Sprache (oder wenigstens Sprachebene) zur Verfügung.
5.1.3 Zwischenfazit Zu Beginn des Innovationsprozesses wird die Organisation mit Unsicherheit ›versorgt‹, die in einem begrenzten Bereich zur Unterbrechung der bisherigen Routine führt. Das System wird »in Schwingung« versetzt, da bisherige Gewissheiten, Unterscheidungen und Prämissen nicht länger re-aktualisiert werden, jedoch neue Strukturen sich noch nicht ausdifferenziert und stabilisiert haben. Das System wird dadurch einer Ungewissheit ausgesetzt, die einerseits als Voraussetzung für die Entstehung des Neuen angesehen werden kann, zugleich jedoch auch ein Risiko für die Projekte und letztlich auch für die Organisation darstellt, da nicht abzusehen ist, wie die Konflikte aufgelöst werden können und welche Dynamik sie im weiteren Verlauf entwickeln werden. In diesem Dualismus wird die Innovationsparadoxie erkennbar, wobei in der ersten Phase die konfliktgeladene Seite der Paradoxie dominiert. Sie ist von Ängsten, Misstrauen und Missverständnissen geprägt, da zunächst die Bedrohung für das Bestehende wahrgenommen wird und weniger das Potential, aus dieser Verunsicherung heraus neue Wege mit besserer Passung zur veränderten Umwelt zu finden. Vor diesem Hintergrund kann auch die anfängliche Vermeidungsstrategie gesehen werden, sich gar nicht erst in dieses Spannungsfeld begeben zu wollen. Erst durch die Verschiebungen von Erwartungen und Wahrnehmungen der Umwelt wird die Organisation dazu bewogen, sich in dieses ›Minenfeld‹ zu begeben, in dem die unterschiedlichen Rationalitäten als scheinbare Pole auf773 Vgl. Rüegg-Stürm (2001), S. 83f.
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einandertreffen. In den auftretenden Konflikten werden Unterschiede zunächst stark betont und Hindernisse und Fehler tendenziell im Gegenüber verortet, der sich nun zwar nicht mehr ignorieren lässt, aber meistens eher als Fremdkörper denn als Partner wahrgenommen wird. Es werden somit die Konfliktlinien sichtbar, die im Spannungsfeld der unterschiedlichen Organisationen, Disziplinen und Rationalitäten vorhanden sind. Dabei bewegen sich die Spannungen auf unterschiedlichen Ebenen. Erstens kann eine Ebene der Rationalitäten ausgemacht werden, auf der die unterschiedlichen Codes, Werte und Erfolgskriterien aufeinandertreffen. Die Akteure agieren entsprechend des Codes ihres jeweiligen Referenzsystems und konstruieren Realität über die in der Vergangenheit stabilisierten Unterscheidungen (wie beispielsweise sozial/technisch, Mensch/Technik, Funktion/Nicht-Funktion). Zwar sind auch innerhalb der vBS Bethel als pluralistischer Organisation immer mehrere Codes beteiligt, allerdings existieren in diesem Rahmen auf Grund früherer Konflikte und Erfahrungen bereits Entscheidungs- und Aushandlungsprozesse, die die ›Rekonzilierung‹ der bekannten Codes in der Regel wahrscheinlicher machen. Im Kontext des Innovationsprozesses stehen diese jedoch nur begrenzt zur Verfügung, da einerseits externe Organisationen beteiligt sind, die ihre eigenen Entscheidungsprozesse anwenden; andererseits erhält mit dem Schwerpunkt auf assistive Technologien eine technologische Rationalität ein Gewicht, das bisher in dieser Form innerhalb der vBS Bethel nicht gegeben war. Dass die Rolle der Technik bisher eine gänzlich andere war, wird auch an der geringen Einbindung der IT-Abteilung in diese Projekte deutlich, die erheblich geringer ausfällt als zu erwarten gewesen wäre. Zweitens werden Unterschiede in den Kulturen beobachtet, die an Arbeitsweisen und insbesondere an der Sprache festgemacht werden. An der Grenze zwischen den Disziplinen verfügen diese zunächst nicht über eine gemeinsame Sprache, durch die eine gemeinsame Realität konstruiert werden könnte. Unterscheidungen und Bezeichnungen sind dabei nicht nur verschieden, sondern werden vom Gegenüber gar nicht erst verstanden(vgl. 3.1–3.2.2). Entsprechend schwierig gestaltet sich Kommunikation und die Vermittlung der verschiedenen Perspektiven. Auch auf dieser Ebene ist der Raum zwischen neuen und bereits in der Organisation existierenden Sinngemeinschaften unbestimmt und somit von Unsicherheit und Missverständnissen geprägt. Drittens treffen in der Unterschiedlichkeit der Methoden und Instrumente, mit der die Organisationen und Disziplinen Probleme und Projekte bearbeiten, die verschiedenen Kompetenzen aufeinander. Jede Organisation (aber auch jede Sinngemeinschaft) hat auf Basis ihrer eigenen Rationalität, Kultur und ihres Wissen entsprechende Methoden entwickelt, wie Interaktion, Zusammenarbeit und Problembearbeitung gestaltet werden. Indem nun im Rahmen der Projekte diese unterschiedlichen Methoden auf operativer Ebene aufeinandertreffen,
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können hier ebenfalls Spannungen beobachtet werden. Aus der bisherigen Bearbeitungsstrategie »Vermeidung« tritt nun der »Konflikt« als Bearbeitungsstrategie des Systems im Umgang mit multiplen Rationalitäten. Folgendes lässt sich somit für die erste Phase zusammenfassen: Über einen längeren Zeitraum hinweg konnte das System stabile Routinen entwickeln, die auch bestimmten, was in der Umwelt wahrgenommen und was ignoriert wurde. Im vorliegenden Fall wurde insbesondere Technologie als relevante Umwelt vom System weitestgehend ›weggedacht‹. Durch zunehmende Veränderungen und Ereignisse in der Umwelt (demographischer Wandel, technologische Entwicklungen, Kooperationsanfrage, Nutzerwünsche, etc.) wurden Irritationen vom System wahrgenommen (häufig durch einzelne Personen in Führungspositionen auf der zweiten Leitungsebene). Durch die Irritationen und schließlich die folgenden Entscheidungen auf Vorstandsebene wird das System aus dem Bereich seiner Komfortzone bewegt, in der es über stabile Orientierungen in Form von Werten, Unterscheidungen, Sprache und Methoden verfügt. Zusammen mit anderen Akteuren befindet es sich nun auf dem Weg in einen ›Zwischenraum‹, in dem diese Orientierungen nicht gegeben sind oder nicht länger unhinterfragt bleiben. In dieser Phase der Verunsicherung treten zunächst Abwehrreaktionen und Konflikte zu Tage, oft ausgelöst durch empfundene Ängste vor dem Unbekannten. Dabei kann diese Entwicklung als intendiert angesehen werden, da sie von den Beteiligten als Teil eines Innovationsprozesses gedeutet wurde, in dessen Rahmen neue Routinen und Methoden jenseits des bisher bekannten entwickelt werden sollten. Nur indem die bisherige Routine unterbrochen und Ungewissheit zugelassen wird, kann das System zur Veränderung angeregt werden. Damit markiert diese Bewegung den Beginn des Innovationsprozesses, in dem Altes von Neuem und Gleichartiges von Neuartigem unterschieden, und bisher Normales durch Abweichung artifiziell verändert werden soll (vgl. 3.4.2).
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Selbstbeschreibung: Zwischen Reflektion und Transformation
5.2.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstbeschreibung In der zweiten Phase wird die Bearbeitung der in der ersten Phase beobachteten interrationalen Friktionen und Konflikte innerhalb der Projekte und der Organisation dargestellt. Dabei war eine Entwicklung zu beobachten, in der die anfängliche Vermeidung und folgende Abwehr durch eine allmähliche Annäherung zwischen den Sinngemeinschaften abgelöst wurde. Im Sinne einer reflexiven Selbstbeschreibung entwickelte die Organisation in dieser Phase neue
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Unterscheidungen, Prämissen und Praktiken (vgl. 4.3.3.3). Es ist eine Phase des Übergangs, in der die Transformation von der früheren Polarisierung hin zu einer späteren Kooperation gestaltet wurde. Im Verlauf dieser Phase gelang es der Organisation, Kommunikationsprozesse zu initiieren, die eine Annäherung zwischen den Rationalitäten ermöglichte. Ein zentrales Ereignis war dabei die frühe Umsetzung einer durch die Führung gestalteten Kommunikationsstrategie, die auf Erfahrungen und Instrumente früherer Veränderungsprozesse zurückgriff. Durch die Strategie sollte die Kommunikation innerhalb der Organisation über erwartete Spannungen und Konflikte ermöglicht und zugleich gelenkt werden. In diesem Zusammenhang wurden Kommunikationsräume geschaffen, in denen der organisationsinterne Diskurs über Spannungen, Ängste und Konflikte stattfinden konnte. Zu den erwarteten Friktionen gehörten die in der ersten Phase beobachteten Konflikte und Ängste, darunter die Sorge vor weiterer ökonomischer Dominanz, Befürchtungen vor Arbeitsplatz- oder Bedeutungsverlust der eigenen Profession, aber auch eine generelle Veränderungsresistenz der Organisation. Ein weiteres relevantes Ereignis war der konkrete Beginn der ersten Projekte im Rahmen der AG Assistive Technologien. Bisher als abstrakt empfundene Ängste und Konflikte trafen nun auf konkrete Projektsituationen mit ›echten‹ Menschen und ›echter‹ Technik. Diese Konkretion markierte einen Wendepunkt in der weiteren Entwicklung, da durch das Aufeinandertreffen von ›Theorie‹ und ›Praxis‹ erstmals eigene Erfahrungen mit dem Innovationsgegenstand gemacht werden konnten, wodurch bisherige Positionen in Frage gestellt und entweder bestätigt oder verschoben werden konnten. Schließlich fiel in diese Phase konkreter Projektsituationen auch die Annäherung und Veränderung in der Interaktion mit externen Partnern. Anfängliche Sprachunfähigkeit wurde nach und nach abgebaut, neue Erfahrungen gesammelt und gegenseitige Akzeptanz gewonnen, wodurch die Anfänge einer konstruktiven, interdisziplinären Zusammenarbeit sichtbar wurden. Zugleich trat jedoch die Komplexität der Projekte deutlicher zu Tage, da erkennbar wurde, dass notwendiges Wissen nicht einfach vorhanden war oder zwischen den Partner transferiert werden konnte, sondern vielmehr in einem gemeinsamen Prozess erst entwickelt werden musste.
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5.2.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstbeschreibung 5.2.2.1 Muster: Durch offenen Diskurs wird Vertrauen aufgebaut Zu Beginn der zweiten Phase konnte beobachtet werden, wie innerhalb der Organisation ein Diskurs über die wahrgenommenen Konflikte und Spannungen entstand. Durch einen offenen Umgang gelang es in der Folge, eine Dialogebene zu finden, auf der die Beteiligten ihre unterschiedlichen Wahrnehmungen, Ängste aber auch Hoffnungen äußern konnten. Durch den Diskurs und die Offenheit konnte nach und nach Vertrauen aufgebaut oder vorhandenes Vertrauen bestätigt werden. Dadurch wurde eine Kommunikationsbasis für den Innovationsprozess geschaffen, die im weiteren Verlauf immer wieder aufgesucht wurde und an Bedeutung zunahm. Die Identität der vBS Bethel als diakonisches Unternehmen wurde dabei häufig thematisiert, sowohl in Form einer Erwartungshaltung, als auch als Reflektionsebene der getroffenen Entscheidungen und geplanten Projekte. Vignette: Wertekonflikte zwischen unterschiedlichen Codes werden erwartet und offen thematisiert Von Beginn an wurde seitens der Führung damit gerechnet, dass die Beschäftigung mit assistiven Technologien zu Konflikten in der Mitarbeiterschaft führen würde (s. 5.1.2.5). Auf Grund von Erfahrungen in früheren Veränderungsprozessen formulierte bereits vor Auftreten dieser Konflikte beispielsweise ein Vorstandsmitglied die aus seiner Sicht notwendigen Voraussetzungen für einen konstruktiven Umgang, die er in einem wesentlichen Punkt als »ethische Fragestellungen offenlegen« und »in Diskurs gehen« beschreibt. »Das war klar, dass das kommen würde und deswegen haben wir gesagt, das muss man die zweite wichtige Voraussetzung, also drei Voraussetzungen, erst mal wir müssen mitgestalten, zweitens die potenziellen Nutzer müssen einbezogen werden und drittens wir müssen ethische Fragestellungen in dem Zusammenhang von Anfang an bedenken und das auch unseren Mitarbeitern gegenüber offenlegen und in Diskurs gehen. Und da hatte ich eine entsprechende Erfahrung gemacht, auch ein Innovationsprojekt, das habe ich vergessen.« (IV-LF-02: 10–10)
Die Offenheit und der ausführliche Diskurs ethischer Fragestellungen wurden sehr positiv aufgenommen und als hilfreich empfunden. Innerhalb des Projektes des Einrichtungsneubaus wurde beispielsweise im direkten Vergleich der Bewertungen von unmittelbar Beteiligten und zunächst Außenstehenden deutlich, wie wichtig diese Form der Prozessbegleitung war. Durch sie wurde eine Vertrauensbasis geschaffen, die die anfänglichen Sorgen in den Hintergrund treten ließ.
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»Man muss, also deshalb, und das finde ich in Bethel auch sehr gut und sehr richtig und sehr wichtig, dass wir den ethischen Zusammenhang da diskutieren.« (IV-LF-08: 20– 20) »Und die Sorgen […] kamen eigentlich eher von Menschen, die nicht im [Einrichtungsname] waren, die, glaube ich, diesen Begleitungsprozess so innerhalb der Einrichtung nicht mitgemacht haben. Das waren mal ganz interessante Erlebnisse für mich in der ersten Zeit.« (IV-LF-04: 58–58) »Da sagte eine der Auszubildenden, also sie wäre in diesem Umzug dabei gewesen und sie hat das überhaupt gar nicht so empfunden, weil alles das, was sie wissen musste, um damit umzugehen, hätte sie gesagt bekommen und alles andere hätte sie nicht belastet. Da dachte ich, okay, scheint geglückt zu sein. Weil genauso sollte es nämlich auch sein.« (IV-LF-04: 58–58)
Diese Dialogebene entfaltete auch im weiteren Verlauf in Konfliktsituationen eine stabilisierende und vertrauensbildende Wirkung, da auf ihr authentisch und glaubwürdig vermittelt werden konnte, dass es im Kern »um die Menschen geht«, wie eine Beteiligte ihre Erfahrungen schilderte: »Es gab auch wieder kritische Stimmen, und zugleich fanden wir es oft erstaunlich, wie schnell man aber in einen guten Dialog gekommen ist, also so in dem Moment wo klar wird, bei uns stehen sozusagen die Menschen wirklich tatsächlich an der Stelle im Mittelpunkt und wir haben jetzt nicht die Idee sozusagen, dass Technik die Lösung all unserer Probleme ist.« (IV-LF-03: 60–60)
Vignette: Christlich-diakonische Identität als Reflektionsebene Die Art und der Verlauf des Diskurses wurde von vielen Beteiligten implizit oder explizit mit der diakonischen Identität der vBS Bethel und der daraus resultierenden Verantwortung für ethische Fragestellungen in Verbindung gebracht. Einerseits war dies eine Erwartungshaltung an die Führung, diese Fragen aus einer inneren Werthaltung heraus mitzubearbeiten. Darin spiegelte sich sowohl ein Bewusstsein, in einem diakonischen Unternehmen und nicht in der Industrie zu arbeiten, als auch der Anspruch, sich von anderen Trägern in der Prüfung und Abwägung ethischer Fragestellungen zu unterscheiden. »Also ich weiß noch, dass wir tatsächlich bei diesem Fachtag in der Altenhilfe der irgendwie relativ am Anfang war, da habe ich mal in einem Workshop dann eben auch mit den Leuten darüber diskutiert, was wir so vorhaben und so. Und ich habe tatsächlich, in habe in Erinnerung noch so ein Bild von einer der Schwestern vor mir, die eben tatsächlich so in dem Outfit der Schwestern wirklich in der Tracht dann auch da saß und das auch so ein bisschen repräsentiert hat und eben auch wirklich schon auch drauf gepocht haben, dass wir da irgendwie eine ethische Verantwortung haben. […] die Mitarbeiter haben hier einen sehr hohen Anspruch an all diese Fragen, also es wird hier viel erwartet. Also es ist glaube ich schon, würden wir diese Prozesse vorantreiben und nicht ausdrücklich regelmäßig auf ethischen Fragen eingehen, würden die Mit-
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arbeitern das einfordern und sagen, ihr seid Bethel oder wir sind Bethel, das erwarten wir ja schon auch. Also wir sind hier bewusst nicht in irgendeinem Industrieunternehmen, sondern wir wollen da schon auch eine Werthaltung dahinter haben.« (IV-LF03: 70–70) »Also es ist glaube ich dieses bisschen was, wir können Dinge ein bisschen anders machen, wir können auch über die Dinge vielleicht auch einen Augenblick länger nachdenken hier. Es wird sozusagen sich auch sozusagen in diesem Kontext bei diesem Träger, wird sich die Zeit genommen auch Dinge noch mal abzuwägen und noch mal genau zu prüfen und das glaube ich unterscheidet uns schon auch von anderen Trägern.« (IV-LF-05: 102–102)
Diese Haltung wurde dabei von Beteiligten als authentisch wahrgenommen, was es ermöglichte, die diakonische Identität immer wieder als Reflektionsebene einzubringen. So wurde beispielsweise im Projekt des Einrichtungsneubaus in einer Arbeitsgruppe ganz gezielt die Frage nach den diakonischen Inhalten der Arbeit gestellt. Dabei wurde Wert darauf gelegt, eine möglichst breite Beteiligung zu erreichen, die bewusst auch Mitarbeiterinnen anderer Glaubensrichtungen oder ohne Religionszugehörigkeit mit einbindet: »Die Arbeitsgruppe hatte ich bewusst sehr groß zusammengesetzt, angefangen von Sozialdienstmitarbeitende, die Diakonin ist, Koordinatoren, die ja in Bethel sehr tragend sind, weil sie pflegeprozessverantwortlich sind, aus Leitung, aber eben auch Mitarbeiter, die keiner christlichen Religion angehören, und auch einer Muslimin. Und wir haben einfach gemeinsam reflektiert, was machen wir eigentlich im [Einrichtungsname], was diakonisch ist?« (IV-LF-04: 82–82) »Und das ist glaube ich, wie ich das wahrnehme, nicht nur so aufgesetzt, ›das ist so ein Punkt, der muss mit bearbeitet werden, weil wir halt diakonisch sind‹, sondern ich glaube schon, dass hier engagierte Leute auch am Werk sind, die sich da auch ernsthaft Gedanken machen. Das ist schon gut.« (IV-LF-05: 102–102)
Die diakonische Identität wurde einerseits als Verantwortung und Verpflichtung wahrgenommen, zugleich wurde aber in der Kompetenz in ethischen Fragestellungen auch eine Ressource gesehen, da die vBS Bethel durch diese Reflektionsebene in der Lage schien, technische Lösungen »menschlich und gewinnbringend« einzusetzen. »Wir können frühzeitig darauf hinweisen, dass es da auch ethische Aspekte gibt, die zu berücksichtigen sind. Von daher glaube ich, haben wir als diakonischer Träger da große Verantwortung, aber wir können auch reichen Erfahrungsschatz einbringen um technische Lösungen auch menschlich und gewinnbringend auch einzusetzen. Das ist glaube ich schon die Aufgabe und Verpflichtung, die wir da haben. Aber da liegt auch eine Riesenchance drin.« (IV-LF-05: 102–102)
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Interpretation Der Organisation gelingt es, die durch die Verunsicherung ausgelösten Konflikte und Ängste in einem offenen Dialog aufzugreifen. Die eigene Identität als diakonisches Unternehmen mit langer Geschichte in der Bearbeitung ethischnormativer Fragestellungen dient dabei als Reflektionsebene, und wird zugleich als Verpflichtung wahrgenommen. Sie wird aber auch als Kompetenz angesehen, die von anderen Partnern so nicht eingebracht werden kann, die jedoch für Innovationsprozesse im Kontext sozialer Unternehmen als wichtig angesehen wird. Aus systemischer Perspektive werden die Unterscheidungen, die den Konflikten und Ängsten zu Grunde liegen, damit wieder in die Kommunikation der Organisation eingeführt, wodurch eine Bearbeitung der Friktionen möglich wird. Operiert die Organisation als Beobachter, wird durch die Wiedereinführung eine Selbstreflektion im Sinne einer Beobachtung zweiter Ordnung ermöglicht. Diese Reflektion wird als überwiegend kongruent und damit glaubwürdig vor dem Hintergrund der Organisationsgeschichte und -kultur wahrgenommen. Anders ausgedrückt wird die Kommunikation in diesem Diskurs nicht als Widerspruch zur unbewussten Organisationsgrammatik (oder : unentscheidbaren Entscheidungsprämissen) empfunden. Vielmehr kommen die in der Kultur ›gespeicherten‹ Werte permanent implizit wie explizit ins Spiel. Dieses Zusammenspiel wird zu Recht als Kompetenz der Organisation angesehen, da hierdurch ein konstruktiver Diskurs möglich wird – einerseits innerhalb der vBS Bethel, aber auch mit den externen Partnern. Diese Diskursfähigkeit trägt letztlich dazu bei, die Kommunikation trotz unterschiedlicher Perspektiven, Rationalitäten und Codes nicht abbrechen zu lassen und ermöglicht somit die Fortsetzung des Innovationsprozesses. 5.2.2.2 Muster: Einzelpersonen übernehmen Öffnungs- und Brückenfunktionen Insbesondere in der Anfangsphase des Innovationsprozesses spielten Einzelpersonen eine wichtige Rolle bei der Öffnung der Organisation für neue Impulse und Rationalitäten. Sie übernahmen dabei häufig eine Brückenfunktion zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten, über die eine Kommunikation ermöglicht wurde. Einerseits waren dies Mitarbeitende und Führungskräfte, die auf Grund ihrer Biographie in der Lage waren, unterschiedliche Perspektiven einzunehmen und zu verbinden. Andererseits nahmen gerade beim Thema Technologie häufig jüngere Mitarbeiterinnen diese Funktion wahr, da sie schon früh mit neuer Technik in ihrem Alltag in Berührung gekommen waren, und daher eine andere Techniksozialisation erfahren hatten als ältere Mitarbeiter. In der zweiten Phase wurde durch diese ›Brückenbauer‹ eine Annäherung und Vermittlung zwischen unterschiedlichen Rationalitäten befördert.
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Vignette: Personen als Träger multipler Rationalitäten Ein sehr deutliches Muster, das viele an den Innovationsprozessen beteiligten Personen charakterisierte, war eine Offenheit gegenüber anderen Lebenswelten, die sich sehr oft auch in einer heterogenen oder interdisziplinären Berufsbiografie wiederspiegelte. In Kombinationen wie Autoschlosser und Religionspädagoge, Kauffrau und Altenpflegerin, Krankenschwester und Psychologin oder Pfleger und Soziologe wurden unterschiedliche professionelle Hintergründe in einer Person vereinigt. »Gelernter Autoschlosser. Ja, genau. Ursprünglich als Berufsziel Berufsschullehrer für Kfz-Bau und evangelische Religion. War dem Umstand geschuldet, mein Papa war Betriebsrat in einem Autohaus, bei Opel. Und meine Mama war bis zu ihrer Hochzeit Diakonisse. Okay, war der Weg irgendwie ein bisschen vorgezeichnet. Dazu ist es letztendlich dann nicht gekommen. Ich habe dann das Fachabitur gemacht nach der Lehre, habe dann begonnen, Theologie und Religionspädagogik zu studieren. Das habe ich auch gemacht, habe dann auch nach sechs Semestern Religionspädagogik mit dem Diplom abgeschlossen, habe dann noch weitere vier Semester Theologie studiert und wollte dann eigentlich ins Lehramt gehen.« (IV-LF-01: 4–4) »Nach dem Abitur habe ich eine kaufmännische Ausbildung gemacht, dann habe ich Psychologie studiert – aber nur wenige Semester, das war mir zu naturwissenschaftlich ausgerichtet – und hatte dann in den Semesterferien in der Altenpflege gearbeitet.« (IVLF-04: 4–4) »Also um es kurz zu machen, oder nicht kurz zu machen, aber ich habe Abi gemacht, danach habe ich eine Ausbildung gemacht als Facharbeiter für Krankenpflege. Danach habe ich Psychologie studiert, danach habe ich, war ich mal kurz im Ausland.« (IV-LF07: 6–6) »Nebenbei eine Krankenpflegehelferausbildung gemacht, damit das Studium finanziert. Ich bin also Soziologe und konnte damit Krankenpfleger oder Helfertätigkeiten, Nachtwache oder auch durch den Tagdienst das Studium finanzieren, sodass ich letztlich immer Kontakt zur Praxis hatte und viel in der Psychiatrie gearbeitet habe. Da die verschiedensten Bereiche, auch die Gerontopsychiatrie schon damals.« (IV-LF-08: 4–4)
Vignette: Jüngere Mitarbeiterinnen bringen Technologieaffinität ein Häufig wurden die Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Mitarbeitenden in der Altenpflege im Umgang mit Technologie betont. Durch die Verbindung ihrer Technologieaffinität und des professionellen Hintergrundes als Altenpfleger war es den jüngeren Mitarbeitenden dabei möglich, Brücken zwischen den unterschiedlichen Themen herzustellen und ältere Mitarbeiter dabei zu unterstützten, sich der Idee von assistiver Technologie zu nähern. »Die Jüngeren fanden das spannend und waren eigentlich recht positiv mit dieser Thematik vertraut. Ja. […] Und die positiven waren, also das wo ich gesagt habe zum
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Beispiel, wir jüngeren Mitarbeiter werden euch unterstützen, wenn ihr Fragen habt, könnt ihr auf uns zukommen, und dann sagten die aber auch, ja müsste aber ist total nervig, wenn wir immer die jüngeren Mitarbeitern belasten mit ganz banalen Fragestellungen, also das war so die Sorge von den Mitarbeitern. […] Also wir jüngeren Mitarbeiter … also ich war einer der jüngsten Mitarbeiter zurzeit als das gerade so anfing mit der ganzen Thematik. Wir fanden das alle total spannend, weil wir sind die Generation iPhone, Smartphone, genau, und ja, wir fanden das höchst spannend. Also … und da haben wir uns echt Gedanken gemacht wie wir das irgendwie aussehen könnte.« (IV-LF-06: 24–28)
Die Technologieaffinität wirkte sich auch auf die Haltung der Jüngeren gegenüber dem stattfindenden Innovationsprozess aus. Sie nahmen die Chancen wahr und freuten sich über die Möglichkeit, den Prozess mitgestalten und eigene Ideen einbringen zu können. »Wir fanden die Prozesse total gut, wo wir sagen okay, das bringt zum Beispiel Arbeitserleichterung, nicht sofort irgendwie oder man könnte sofort eintragen, man hat dann keine Dokumentationslücken. Genau, was könnten wir denn, was war da noch? Technik unterstützt zum Beispiel, wie ich auch persönlich gesagt habe, eben im Nachtdient, mit der Sensorik, also wir haben das eher unterstützt, wo wir sagen, das ist natürlich eine Arbeitserleichterung und wir sehen das nicht als negativen Punkt in dem Prozess. Genau.« (IV-LF-06: 28–28)
Vignette: Personen in Leitungsfunktionen unterstützen Innovation Die innovationsfreundliche Haltung einiger entscheidender Führungskräfte wurde ebenfalls als wichtig für den Prozess angesehen. Dabei wurde die Haltung stärker an einzelnen Personen festgemacht, als an der Führung insgesamt. »Und wir haben das Glück, dass eben Geschäftsführung und Vorstand gerade Menschen sind, die sagen, jawohl, wir machen es zu unserem Thema. Und im Prinzip kommt da ja keiner daran vorbei. Also Pflege kann ja nicht so tun, als gäbe es keine Technik, nur weil sie von Berufs wegen da eher ein bisschen problematischeres Verhältnis dazu haben.« (IV-LF-04: 92–92) »Man muss sagen, […] dass also mein direkter Dienstvorgesetzter, mein Chef, einer der Geschäftsführer der Altenhilfe ist so ein innovativer Geist. Ist immer bedacht gewesen, das Hilfefeld weiterzuentwickeln und auch Strömungen und neueste Tendenzen und Entwicklungen aufzugreifen.« (IV-LF-05: 14–14)
Die Verortung dieser Offenheit in einzelnen Personen wurde auch in einigen Gesprächen sichtbar, die sich um die zukünftig anstehenden Pensionierungen einiger dieser Führungskräfte drehten. In der Regel wurde in dem Zusammenhang eine Skepsis geäußert, ob es der Führung und der Organisation als Ganzes ohne diese Personen gelingen würde, weiterhin solche Innovationsprozesse anzustoßen und voranzutreiben (IV-HG-09: 1–1, IV-HG-08: 1–1).
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Interpretation Die Vignetten zeigen, dass einzelnen Personen in der Annäherung an neue Themen und Rationalitäten eine wichtige Rolle zukommt, die sie entweder auf Grund einer heterogenen Berufsbiografie oder durch persönliche Prägung in unterschiedlichen Lebenswelten bewerkstelligen können. Dadurch verfügen die Personen einerseits über Sprachfähigkeit auf mehreren Gebieten, andererseits waren sie es gewohnt, Ereignisse aus unterschiedlichen Perspektiven zu betrachten und diese miteinander zu verbinden. Aus systemischer Sicht bringen sie diese Fähigkeiten durch ihre Kommunikationsbeiträge als psychische Systeme in das Organisationssystem ein. Sie können dabei mit den Unterscheidungen unterschiedlicher Professionen operieren, und so anschlußfähige Kommunikation und damit Sprachfähigkeit zwischen den verschiedenen Welten wahrscheinlicher machen. In einer Rolle als Führungskraft agieren diese Personen auch als Entscheidungsprämissen, die der Organisation helfen können, in den von Unsicherheit und unentscheidbaren Entscheidungssituationen geprägten Innovationsprozessen entscheidungsfähig zu bleiben (vgl. 3.3). Zugleich gelingt es, unterschiedliche Positionen in den Entscheidungsprozess zu integrieren, wodurch die Wahrscheinlichkeit für bindende Entscheidungen in der Gesamtorganisation erhöht wird.
5.2.2.3 Muster: Schaffung von Kommunikationsräumen ermöglicht Diskurs Durch die Sichtbarkeit des Themas Assistive Technologien im Zuge der Vorstandsentscheidung entstand innerhalb der Organisation Kommunikationsbedarf, der durch die Führung aufgegriffen und mitgestaltet wurde. Sowohl die Inhalte der Kommunikation wurden in der Folge genau abstimmt, als auch dezidierte Kommunikationsforen geschaffen, in denen ein offener und angstfreier Dialog über die Pläne, Folgen und Nutzen im Zusammenhang mit assistiven Technologien ermöglicht werden sollte. Dabei wurde auf Erfahrungen einzelner Führungskräfte aus anderen Veränderungsprozessen zurückgegriffen, in denen Instrumente wie ein entwickelter Fragenkatalog, Workshops und themenspezifische Fachtage zur Beförderung des Dialogs in der Organisation genutzt wurden. Vignette: Interne und externe Kommunikation wird gezielt gesteuert In der Folge der Vorstandsentscheidungen, einen Kooperationsvertrag mit der Universität Bielefeld zu vereinbaren und ein Technikziel in die langfristige Planung aufzunehmen, wurde zugleich eine Kommunikationsstrategie entworfen, wie diese Entscheidungen in den vBS Bethel kommuniziert werden sollten. Einerseits wurde zu diesem Zweck auf die »gestufte Kaskade« vorhandener
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Kommunikationswege entlang der hierarchischen Unternehmensstruktur zurückgegriffen. »Und dann müssen wir erst mal die Mitarbeiter der ambulanten Dienste informieren und die Bereichsleitungen. Da haben wir also gestufte Kaskade sozusagen gemacht, erst mal Ansprechpartner auf der Regionalleitungsebene informiert, Geschäftsführung sowie einbezogen Bethel.regional. Dann haben die ihre Bereichsleiter informiert. Dann haben wir, also von der Projektseite her, die Bereichsleiter noch mal eingeladen.« (IVLF-02: 18–18)
Andererseits wurde den Mitarbeitenden ein Fragenkatalog zur Verfügung gestellt, in dem häufig gestellte Fragen im Zusammenhang mit assistiven Technologien zusammengefasst und aus Unternehmenssicht beantwortet wurden. Dieses Instrument war bereits in der Vergangenheit in Veränderungsprozessen eingesetzt worden, in denen gute Erfahrungen damit gemacht worden waren, mit dieser Form der einheitlichen Kommunikation die unterschiedlichen Organisationsteile zu informieren. »Und das haben wir jetzt dann auch wieder genutzt, haben wir auch relativ früh auch angefangen, schon vor drei, vier Jahren, einen neuen Fragenkatalog aufzustellen. Und der ist eines der Instrumente dann, um uns den Fragen der Mitarbeitenden, der Öffentlichkeit et cetera zu stellen im Umgang mit dem Thema, den kritischen Fragen.« (IV-LF-02: 10–10) »Wir haben Gespräche mit der Gesamtmitarbeitervertretung geführt, mit der Ethikkommission hier und so und versuchen dieses Thema immer an unterschiedlichen Stellen möglichst auch einzubringen oder ins Gespräch zu kommen und wir hatten halt eben tatsächlich auch so ein, in dieser Arbeitsgruppe über Assistive Technologien haben wir so ein Dokument entwickelt mit 20 Fragen und Antworten zum Thema Technologien.« (IV-LF-03: 60–60)
Dabei war es den Projektbeteiligten vor Ort bewusst, dass sie unter Beobachtung der Mitarbeitenden standen und über ihr Projekt hinaus eine Verantwortung dafür hatten, wie assistive Technologien in der Gesamtorganisation wahrgenommen wurden. Während dieser Phase wurde von den Beteiligten einerseits darauf geachtet, im Projekt des Einrichtungsneubaus die Kommunikation an die Mitarbeitenden engmaschig mit der Führung abzustimmen, um Verunsicherung durch unterschiedliche oder widersprüchliche Aussagen zu Plänen und Inhalten zu vermeiden. Andererseits wurde die Kommunikation an die Mitarbeitenden differenziert gestaltet. Beides diente bewusst dem Zweck, Beteiligte und Betroffene nicht unverhältnismäßig zu verunsichern und zu überfordern. »Das haben wir auch immer mit der Geschäftsführung, Direktion abgeglichen. Also alles, was wir rausgegeben haben, haben die vorher verabschiedet, ist in der Leitungskonferenz angeguckt worden. Weil wir drücken ja im Prinzip eine Haltung aus, wie das Leben in Bethel sein soll.« (IV-LF-04: 76–76)
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»Wir haben am Anfang aber zum Beispiel Informationsflüsse sehr genau gesteuert, das heißt wirklich jede Information die an die Presse ging oder so, die lief wirklich über den Tisch von Herrn [Name] im Vorstand der dafür verantwortlich ist um möglichst gut zu gucken wie wir da kommunizieren und so.« (IV-LF-03: 60–60) »Und diese Bandbreite von Mitarbeitern ist ja hier. Und da musste ich gucken, die Menschen so zu erreichen, wie die einzelnen es brauchen. Also einzelne einfach da weg so ein bisschen zu lassen, andere so als Ideenverbreiter, Stützer des Systems zu stärken und andere nicht grundlegend zu langweilen. Und das war schon sehr individuell und es war schon sehr anspruchsvoll. Ich bin davon überzeugt, wenn das nicht so gewesen wäre, dann wäre die Akzeptanz auch nicht zustande gekommen.« (IV-LF-04: 54–54)
Dieser gesteuerte und selektive Informationsfluss wurde von den Mitarbeitenden überwiegend positiv aufgenommen: »Also da muss ich irgendwie Frau [Name] ein großes Lob aussprechen und ihr sagen, sie hat das echt gut gemeistert. Die hat also immer so darauf geachtet, dass jeder Mitarbeiter so viele Informationen bekommt, wie er braucht und nicht mehr.« (IV-LF06: 29–29)
Vignette: In Workshops und Fachtagen werden Diskursräume geschaffen Teil der Kommunikationsstrategie waren auch Informationsveranstaltungen in Form von Workshops und Fachtagen, in denen assistive Technologien und die Zielsetzung der vBS Bethel vorgestellt wurden und diskutiert werden konnten. Für diese Veranstaltungen wurden »Drehbücher« entwickelt und abgestimmt. »Da hatte schon [Projektname] geöffnet. Da haben wir die dahin eingeladen und dann, das war sozusagen die vierte Welle, dann ist eine Reihe von Informationsveranstaltungen für die Mitarbeitenden in den ambulanten Diensten gelaufen. Also richtig Kaskadenform ausgerollt und ich war nur bei den Veranstaltungen mit den Bereichsleitern dabei. Das war gut. Die waren sehr aufgeschlossen und habe dann aber von meinen Leuten gehört, dass diese Informationsveranstaltungen für die Mitarbeitenden super gelaufen sind. Also da gibt es natürlich auch Drehbücher und so.« (IV-LF-02: 18– 18) »Und ja, und dann haben wir vorgestellt was wir vorhaben, wie wir das machen und dann darf man natürlich wieder anfangen, aber dann haben wir denen Bilder gezeigt, was wir wollen und dann haben wir gesagt: Also wir müssen das Thema tiefer verwurzeln im Stiftungsbereich und dann haben wir gesagt – und das machen wir jedes Jahr, wir machen einen Fachtag zu einem Thema und dann haben wir einen Fachtag gemacht – nur für unsre Mitarbeiter machen wir das – einen Fachtag Altenhilfe. In diesem Jahr machen wir den zu »palliativ« und dann haben wir einen Fachtag zur Technik gemacht. Also sehr professionell dann mit 120 Leuten, […] 120 Mitarbeitende, also eben ganz normale Mitarbeitende. Querschnitt durch unsere Mitarbeitenden.« (IV-LF-08: 32–32)
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In diesen Veranstaltungen wurden die erwarteten Ängste konkret angesprochen und Raum gegeben, diese zu äußern. Einerseits wurde die Position der Führung durch Leitgedanken vorgestellt, andererseits wurden Mitarbeitende zur Diskussion und eigener Reflektion ermutigt, und konnten so ihre eigenen Perspektiven einbringen. »Das ist manchmal so die erste Sorge, so die Roboter kommen jetzt nächstes Jahr. Wenn man das so ein bisschen tatsächlich mit Informationen deutlich machen konnte, dass das gar nicht das Ziel ist, sondern dass es uns gerade an bestimmten Punkten auch darum geht, irgendwie auch zu Entscheidungen zu kommen was wir nicht tun wollen, dann sind wir gut ins Gespräch gekommen.« (IV-LF-03: 60–60) »Und zum anderen haben wir einen Leitgedanken vorgegeben. Also wir haben Mitarbeiter reflektieren lassen, wir haben es auch gemeinsam erarbeitet. Im Prinzip haben wir gesagt, so ist unser Weg, so definiert Bethel …« (IV-LF-04: 76–76) »Genau, und das es nicht darum geht hier Mitarbeiter zu ersetzen. Das ist ja völliger Quatsch. Man muss es aber diskutieren, man muss den Raum geben, dass es diskutiert wird, dass die Ängste genannt werden können […]. Und man muss ein bisschen Überzeugungsarbeit leisten und mit Fachtagen und so was zu machen.« (IV-LF-08: 34– 34)
Interpretation Durch die abgestimmte Strategie und die regelmäßigen Veranstaltungen wurde eine konsistente und wiederholte Kommunikation innerhalb der Organisation ermöglicht. Im Rahmen der Kommunikationsstrategie wurde gezielt die Diskursfähigkeit gestärkt, und zugleich wurden Räume angeboten, in denen die Diskurse stattfinden konnten. Aus systemischer Perspektive wurde somit versucht, die Leitunterscheidungen, mit denen die Organisation und ihre Mitglieder assistive Technologien beobachten und wahrnehmen, in eine bestimmte Richtung zu lenken. Es wurde ein Kommunikationsmuster in Form eines Narrativs angeboten, das versuchte, die Notwendigkeit und Vorteile assistiver Technologien in den Vordergrund zu stellen, und zugleich die Beobachtungen und Unterscheidungen, die in der Wahrnehmung der Mitarbeitenden Ängste und Bedenken auslösten, zu transformieren. Um Überforderungen in diesem Transformationsprozess zu reduzieren, wurden dabei die Informationsverarbeitungskapazitäten der Beteiligten explizit berücksichtigt, indem Informationen konsistent und dosiert weitergegeben wurden. Der Führung gelang es, dieses Vorgehen glaubwürdig zu gestalten, so dass diese Form der Informationssteuerung nicht als Vorenthalten entscheidender Informationen oder Manipulation aufgenommen wurde.
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5.2.2.4 Muster: Schaffung von Innovationsräumen Eine zentrale Herausforderung für die Organisation war die Bereitstellung der für die Innovationsprojekte erforderlichen Ressourcen, die weder durch Politik oder Kostenträger hinreichend bereitgestellt wurden, noch aus erwirtschafteten Gewinnen der operativen Tätigkeiten verfügbar waren. Im Spannungsfeld der unterschiedlichen Logiken war eine Finanzierung der Innovationsprojekte nicht erreichbar. Aus Sicht der Organisation signalisierte die Politik zwar Interesse an Innovationen im Sozialbereich, stellte jedoch keine stabile Finanzierung sicher, und die Kostenträger bezahlten nur erbrachte Leistungen. Zudem stand für die vBS Bethel als Sozialunternehmen das Erwirtschaften ausreichender Gewinne, über die in privatwirtschaftlichen Kontexten Innovationen finanziert werden, nicht im Mittelpunkt. Somit wurden Finanzierungsmöglichkeiten außerhalb des Spannungsfeldes in Form von Spenden, Stiftungs-, Förder- oder Forschungsgeldern gesucht. Über diesen Weg gelang es, in den unterschiedlichen Projekten eine Finanzierung aufzubauen, die die Schaffung der erforderlichen Freiräume für die Innovationsprojekte erlaubte, indem Mitarbeiter vom Tagesgeschäft freigestellt werden, benötigte Ausrüstung beschafft und geeignete Räume und Rahmenbedingungen eingerichtet werden konnten. Vignette: Finanzierung außerhalb des Regelbetriebs wird ermöglicht Durchgängig waren alle Projekte in ihrer Finanzierung von Drittmitteln abhängig. Während damit zwar der Beginn der Innovationsprojekte ermöglicht wurde, standen diese jedoch auch immer unter einem Finanzierungsvorbehalt, in wie weit diese Mittel auch zukünftig bereitgestellt wurden. Eine geäußerte Befürchtung war dementsprechend, dass aus einem innovativen Leuchtturmprojekt bei Wegfall der Mittel sehr schnell eine »Leuchtturmruine« werden könne (TB-AG-01: 1–1). »Die kann ich natürlich nicht auf meine Produkte umlegen, so wie es VW beispielsweise macht, also von daher kann ich mir die eigentlich nur erlauben, wenn ich entsprechende Drittmittel habe. Also die ist ganz stark an externe Förderung gebunden. Ist mein Empfinden. Das betrifft ja auch meine eigene Person […]. Also von daher glaube ich, wenn wir über Innovation im Sozialbereich sprechen, dann sprechen wir auch immer über eine Drittmittelfinanzierung oder über Projektförderung oder wie auch immer.« (IV-LF-09: 98–98)
Diese Drittmittelfinanzierung wurde dabei häufig in unerwarteten Nischen gefunden, beispielsweise private Geldgeber in Form eines anonymen Großspenders oder Projektförderungen durch eine Stiftung, die sich im Graubereich der eigenen Statuten bewegte.
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»Und dadurch, dass eben seine Stelle über diesen privaten Spender finanziert wurde, hatte ich auch kein Problem damit zu sagen, okay, (unklar 00:15:34) eine kleine Forschungs- und Entwicklungsabteilung.« (IV-LF-01: 12–12) »Also ein erster Schritt war wirklich die Zusage der Stiftung Wohlfahrtspflege, die aber ein Projekt gefördert haben, was sie über die Statuten niemals hätten fördern dürfen. Ich glaube, die haben nicht aufgepasst. Und [Name] und ich haben denen wirklich einen an die Kante erzählt und die haben sich darauf eingelassen. Und mit so einer Förderung dann wiederum im sozialen Bereich aufzulaufen und zu sagen, es gibt jemanden, der sagt, das ist uns eine dreijährige Förderung wert, also das ist eine Wertschätzung, die von außen dann eben passiert ist.« (IV-LF-01: 38–38) »Also ich werde ja auch zurzeit noch extern finanziert über einen privaten Anonymspender zum Beispiel. Das hat das Unternehmen auch erst in die Lage versetzt, diese Stelle frei machen zu können und mich einstellen zu können und damit auch Ideen voranzubringen.« (IV-LF-09: 98–98)
Ein Vorteil wurde auch in der Größe der vBS Bethel gesehen, die eher Zugang zu Fördermitteln und Spenden habe als kleinere Träger. Dieser Vorteil wurde dabei auch als Verantwortung eines großen Trägers gesehen, mit innovativen Themen voranzugehen. »Wir können das nur, weil wir Fördermittel bekommen haben, weil wir Spenden bekommen haben, und so… und da ist so ein großer Träger. Das kann ein kleiner Träger gar nicht machen, da gibt es auch eine Aufgabe für so etwas zu machen als großer Träger und das kann ein kleiner Träger nicht machen und man muss auch in Vorleistungen treten für bestimmte Sachen.« (IV-LF-08: 98–98)
Hingegen wurde aus Richtung der Politik oder der Kostenträger bei allem Interesse an Innovation jedoch wenig Bereitschaft gesehen, sich an der Finanzierung der Projekte zu beteiligen. Die eigene Logik dieser Interessengruppen schien letztendlich auf Grund einer ökonomischen Dominanz eher risikoavers ausgerichtet zu sein. »Ja, das fängt schon intern an, wenn sich das nicht rechnet, wird das nicht gemacht. Was sich nicht rechnet, wird nicht gemacht. So. Dann gibt es hier in Bethel immer noch die Möglichkeiten über Spenden bestimmte Projekte anzustoßen, die natürlich den Menschen, die wir hier betreuen zugutekommen müssen. […] Und am Beispiel [Projektname], unsägliche Diskussionen mit den Kostenträgern, die in keiner Weise Interesse daran haben, was Innovatives zu machen, was die Kassen betrifft, die Krankenkassen. Was die Politik in Bielefeld betrifft, da bin ich im Netzwerk über die Pflegekonferenz. Wir haben hier eine sehr gute Koordinatorin für die Altenhilfe, die seit 20 Jahren Sachen managt für Bielefeld. Da gibt es… Sonst wäre es in Bielefeld auch nicht so, das ist ja eine Vorzeigestadt was die soziale Versorgung angeht. Da trifft man sehr auf offene Ohren und manches kommt sogar aus der Politik, also Herr XY beispielsweise, der das Projekt, was ich Ihnen beschrieben habe, mit angestoßen hat. Da
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gibt es schon relativ große Offenheit, aber die endet natürlich genau an der Stelle, wo es ums Bezahlen geht.« (IV-LF-08: 74–74)
Vignette: Mitarbeiter erhalten zeitliche Freiräume und Ressourcen werden bereitgestellt Durch die vorhandene Finanzierung konnten innerhalb der Organisation die Innovationsprojekte mit Zeit, Geld und Personal ausgestattet werden. Diese Freiheiten wurden von den Beteiligten wenig überraschend als großer Vorteil wahrgenommen, gerade auch in Abgrenzung zu ihrem sonstigen Arbeitsalltag. »Man arbeitet ohne Stress quasi, also der Stress ist halt ein anderer. Genau, das sind so die Punkte, oder die Unterschiede, und die Arbeitszeiten sind noch mal ganz wichtig, genau. Im Büroalltag beginnt man um 08:00 Uhr und geht irgendwie um spätestens 17:00 Uhr. Wenn man so einen Stellenanteil hat von 50 Prozent und die Einrichtung hat man Frühdienst von 06:30 Uhr bis 13:45 Uhr und der Spätdienst geht dann quasi bis 21:15 Uhr. Und dann gibt es noch den Nachtdienst, also die Zeiten sind noch mal utopisch anders, genau.« (IV-LF-06: 112–112) »Oder […] dass man dem Nutzer einfach, mit dem Nutzer genug Zeit hat, ihm Sachen zu erklären, wenn er Fragen hat und die Struktur, die Zeit, ich weiß nicht, wie man das übernehmen könnte, aber ich wünsche mir einfach, dass ich für den Einzelnen in der Einrichtung Zeit habe, wenn der Mensch quasi, Fragen hat, wenn er wünscht. Das man halt nicht unter Druck steht, sondern mit ihm in Ruhe das Problem bespricht und eine Lösung direkt findet. So wie man das mit der Technik quasi macht, man hat ein Problem, sucht nach einer Lösung, die es zwar nicht sofort gibt, aber die gibt es dann quasi, genau. Diesen Prozess finde ich ganz gut. Wenn man das irgendwie übertragen könnte, wäre das genial. Ja.« (IV-LF-08: 120–120)
Die so entstandenen Innovationsräume wurden von den Mitarbeitenden in den Projekten zunehmend als Ort entdeckt, in dem sie sich einbringen konnten und in dem neue Ideen entstanden. »Und aber auch damit, dass Kolleginnen und Kollegen diesen Ort und dieses Projekt für sich selbst entdeckt haben und auch ein eigenes Angebot zum Teil gestalten und das auch für sich als Spielwiese identifiziert haben und verstanden haben, dass sie ja auch Dienste mitgestalten können und Angebote mitgestalten können.« (IV-LF-09: 30–30) »Das hängt auch wieder […] zusammen […] mit diesem Ort, wo wir die Möglichkeit haben, in den Dialog zu kommen über Technik, mit Technikern, mit Kunden, mit Designern, mit Pädagogen und das gut abgeben können, indem wir auch die Möglichkeit haben, die Menschen zu befähigen, an solchen Prozessen mit beteiligt zu sein.« (IV-LF-09: 76–76)
Interpretation Es zeigt sich, dass das Spannungsfeld der unterschiedlichen Rationalitäten und die dabei häufig wahrgenommene Dominanz einer ökonomischen Logik bereits
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die Entstehung geeigneter Rahmenbedingungen beeinflusst. Entsprechend werden Alternativen gesucht, die abseits der ökonomischen Bedingungen des Spannungsfeldes eine Finanzierung und damit die Schaffung von Innovationsräumen ermöglicht. Dabei greift die Organisation auf Ressourcen zurück, die ihr einerseits auf Grund ihrer Größe und Bekanntheit durch Spender zur Verfügung gestellt werden. Andererseits werden Teile der durch den universitären Innovationspartner beigestellten Forschungsmittel zur Schaffung notwendiger Freiräume genutzt. Durch diese Umgehung wird das Innovationsgeschehen jedoch, wie bereits ausgeführt, in einigen Projekten stark in eine forschungsorientierte Richtung gelenkt. Dennoch wird aus systemischer Sicht damit zweierlei erreicht: Erstens wird ein Raum geschaffen, der von der unmittelbaren ökonomischen Logik entkoppelt wird. Dadurch wird zumindest zu Beginn der Projekte das Spannungsfeld reduziert, da temporär eine Logik aus dem Spiel genommen wird. Die grundsätzlichen Barrieren auf Grund fehlender geregelter Innovationsfinanzierung in den Sozialsystemen werden dadurch zwar nicht aufgelöst, aber es wird möglich, im gegebenen Rahmen erste Projekte anzustoßen. Zweitens wird durch die Innovationsräume ein ›routinefreier‹ Bereich in der Organisation geschaffen. Mitarbeitende, die an den Projekten beteiligt sind, erhalten Freiräume jenseits ihres Arbeitsalltags, wodurch die Wahrscheinlichkeit erhöht wird, dass eingefahrene Muster durchbrochen und neue Perspektiven entwickelt werden können. Insbesondere in den mit Eigenmitteln finanzierten Projekten werden diese Innovationsräume zwar einerseits jenseits der Alltagsroutine, zugleich jedoch mit Nähe zur Praxis eingerichtet. 5.2.2.5 Muster: Praxisnähe fördert Akzeptanz von Innovationen Im Zuge der ersten konkreten Projekte wurde deutlich, dass neben den Kommunikationsplattformen und dem Engagement von Einzelpersonen, durch die eine Verbindung unterschiedlicher Rationalitäten ermöglicht wurde, insbesondere das Zusammentreffen der verschiedenen Rationalitäten und Lebenswelten in alltäglichen Praxissituationen als ein Ort wahrgenommen wurde, an dem eine Veränderung in der Haltung der beteiligten Personen hin zu mehr Verständnis und Akzeptanz beobachtet werden konnte. Je konkreter technologieorientierte Projekte im Praxisalltag sichtbar wurden, umso deutlicher wurden Funktionen, Sinn oder auch Unsinn der jeweiligen Technologien. Die Gelegenheit, durch eigene Beiträge unmittelbar Einfluss auf den Innovationsgegenstand nehmen zu können, führte in vielen Fällen zu einem größeren Interesse an den Projekten, weshalb der Praxisbezug häufig gesucht und eingefordert wurde, bzw. dessen Fehlen bemängelt wurde.
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Vignette: Praxisebene vereinfacht die Kommunikation Insbesondere in der Zusammenarbeit mit der Universität Bielefeld nahmen Beteiligte einen Unterschied zwischen einer ›Praxis‹- und einer ›Forschungs‹Ebene wahr. Dabei wurde Forschung zunächst als etwas Fernes und Abstraktes gesehen, das wenig Relevanz für die unmittelbare Praxis hatte (IV-HG-11: 1–1). Diese Wahrnehmung führte einerseits zu einer Verunsicherung bei einigen Beteiligten, andererseits wurden dadurch Interesse und Akzeptanz nicht eben gefördert, da sich auf einer praxisfernen Ebene Kommunikation häufig schwieriger gestaltete. Entsprechend notwendig erschien eine Erdung der Forschung in der Praxis (IV-LF-02: 36–36), oder ein stärkerer Praxisbezug wurde eingefordert (IV-HG-11: 1–1). Ganz anders wurde es wahrgenommen, wenn es zur konkreten Zusammenarbeit in der alltäglichen Praxis der Arbeitsbereiche kam. Hier wurde die Kommunikation häufig als erheblich einfacher wahrgenommen: »Also ich habe den Eindruck, dass es gut funktioniert und zwar glaube ich aus dem einfachen Grund, dass das schon von der Uni zum Beispiel bei dem ACT, […] das ist ja schon mal was sehr praxisnahes. Also finde ich, was auch für die, aus meiner Sicht für die Leute die im praktischen Arbeiten auch akzeptabel und leicht zu verstehen ist. Sie sehen da drin, also damit können sie was anfangen, das macht irgendeinen Sinn, das ist jetzt nicht irgendwie was aus der Theorie übergestülptes. […] Und von daher ist es einfach, weil sich dann die praktischen Seiten treffen, die Praxis.« (IV-LF-07: 92–106)
Die Praxisnähe führte zu einer veränderten Wahrnehmung und zu anderen Fragestellungen bei den Beteiligten, die nicht mehr überwiegend von Unsicherheit und Ängsten geprägt war, sondern von einem Interesse, sich mit dem Neuen näher zu beschäftigen und auseinanderzusetzen. »Also durchaus auch ein Interesse dafür und ich denke, das ist genährt davon, dass es im Prinzip um was ganz praktisches geht, was funktionieren soll, was auch vorstellbar ist, dass es funktioniert. […] Dadurch, dass diese Methode funktioniert, dass sie praktikabel ist sozusagen, ist auch eine gewisse Offenheit dann der Mitarbeiter dafür da, also habe ich so empfunden, wenn sie das nicht schon so vorher hatten, sicherlich auch aber auch eine Bereitschaft sich damit auseinanderzusetzen: Was liegt denn dahinter? Was ist denn aus Forschungsperspektive interessant?« (IV-LF-07: 110–110)
Auf der Praxisebene fiel es den Beteiligten seitens der vBS Bethel zudem leichter, ihre eigene professionelle Perspektive einzubringen. Hier waren sie die Experten, die die Komplexität von Abläufen und Zusammenhängen verstanden und reflektieren konnten. Entsprechend gestaltete sich die Interaktion zwischen unterschiedlichen Rationalitäten mehr auf Augenhöhe, die das Einbringen eigener Ideen und Positionen zuließ. »Und ich glaube, da sind wir aus der Praxis geübter, weil wir ja von der Praxis her denken. Und vielleicht ist es, dass die Komplexität des Systems, mit der wir auch gelernt
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haben umzugehen, dass wir das immer wieder hinterfragen und reflektieren und sagen: An welchem Stand sind wir jetzt eigentlich? Worüber sprechen wir denn gerade? Und was könnte eine Fehlerursache sein? Weil die kann ja hier total vielfältig sein.« (IVLF-04: 34–34) »Und dann haben wir da unsere Praxisideen mit zusammengebracht. Also zum Beispiel BILLIE. Wir haben eben dann mitgekriegt, die werkeln da an solchen zweidimensionalen Kollegen und dann haben wir gesagt, was müssen die eigentlich können und was sollen die als erstes leisten.« (IV-LF-02: 30–30)
In Situationen, in denen von Forschungsseite diese Praxisrelevanz mitgetragen wurde, wurde es bei allen verbleibenden Herausforderungen als deutlich einfacher wahrgenommen, die durchaus als unterschiedlich empfundenen Kulturen der verschiedenen Rationalitäten zusammenzubringen. »Die Praxis ist das Kriterium der Wahrheit, also letztlich, wenn es praktisch funktioniert, ist das das, was entscheidend ist und ich glaube, dass XY da eine ähnliche Perspektive hat und da auch recht pragmatisch vorgeht. Und auch die Wissenschaft letztlich auch ein Stück weit im Dienst der Praxis sieht. Und das macht es natürlich leicht, diese Kulturen zusammenzubringen.« (IV-LF-07: 102–102)
Interpretation In den Projekten, in denen eine Praxisrelevanz schnell erkennbar war, verlief die Annäherung zwischen den Partnern und Professionen erheblich einfacher. Dialog auf Augenhöhe, das Einbringen eigener Ideen und Kompetenzen wurden möglich und Fragestellungen veränderten sich. In der praxisnahen Kommunikation standen weniger die unterschiedlichen Codes und Kulturen im Vordergrund, als vielmehr das Wissen der Professionen, und hier insbesondere das Wissen um die Praxis in sozialen Unternehmen. Die Beiträge der Beteiligten seitens der vBS Bethel wurden dadurch relevanter, was eine stärkere Identifikation der Beteiligten mit dem Innovationsprozess zur Folge hatte. Dadurch konnte eine Veränderung in der Haltung beobachtet werden, die weniger von Konfrontation und mehr von Kooperation und Interesse an der Innovation geprägt war. Systemtheoretisch kann diese Veränderung als sozialer Prozess verstanden werden, in dem bestehende Erwartungen ›enttäuscht‹ werden (beispielsweise weil vorhandene Vorurteile oder Unterscheidungen sich in der Realität nicht bestätigen) und neue Unterscheidungen und Erwartungen ausdifferenziert werden (z. B. das gemeinsame Interesse). Durch die Erfahrung von Gemeinsamkeiten verschiebt sich das Bearbeitungsmuster im Umgang mit Multirationalität in diesem Prozess von Vermeidung bzw. Polarisierung hin zu einem Muster der Toleranz (vgl. 3.4).
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5.2.2.6 Muster: Schaffung von Lern- und Erfahrungsräumen ermöglicht Annäherung In den Projekten wurde den Mitarbeitenden zudem die Möglichkeit gegeben, sich in einem geschützten Rahmen persönlich mit neuen Technologien vertraut zu machen und eigene Erfahrungen zu sammeln. Dabei wurde einerseits beobachtet, wie die persönliche Beschäftigung mit der Technik zu einem Abbau von Ängsten und Vorbehalten führte. Andererseits führte die veränderte Sichtweise dazu, das Potenzial und den Mehrwert von assistiven Technologien für den eigenen Alltag zu erkennen. Anders herum äußerten auch die externen Partner, wie sich ihre eigenen Wahrnehmungen und Vorbehalte gegenüber dem Sozialbereich, beispielsweise ihre Sicht auf Menschen mit Behinderung, durch den persönlichen Umgang veränderten. Diese Erfahrungsräume wurden von allen Beteiligten als sehr wertvoll angesehen, da sie dazu beitrugen, bestehende Perspektiven zu hinterfragen und zu reflektieren. Vignette: Persönlicher Umgang mit neuen Technologien verändert Wahrnehmung Bereits in der Vergangenheit wurde den Mitarbeitenden die Gelegenheit gegeben, neue Technologien selbst auszuprobieren. Als Beispiel hierfür wurde häufig auf die ersten Versuche mit der »Robbe Paro« hingewiesen. »Dann hatten wir die ›Robbe Paro‹ da und die wurde allen gezeigt und jeder konnte das mal ausprobieren und wir haben das Thema nicht losgelassen über jetzt zwei, drei Jahre lassen wir das Thema nicht los und es ist tatsächlich festzustellen, dass die Mitarbeitenden, dass das für die viel selbstverständlicher geworden ist, sich damit auseinanderzusetzen.« (IV-LF-08: 32–32)
Projektspezifisch wurde den Mitarbeitenden der Umgang mit der geplanten Technik ermöglicht. Dies reichte von der Verwendung eines Tablets, bis zur Installation eines Dusch-WCs auf der Mitarbeiter-Toilette in einer Pflegeeinrichtung. Hierdurch konnten die involvierten Mitarbeiter eigene Erfahrungen sammeln, wodurch sich die Wahrnehmung der Technik verändern konnte. »Wir sind auch irgendwann mit Tablets in die stationären Einrichtungen gegangen, haben die Angebote aufgebaut und da merkte man, okay, da ändert sich das Verständnis. Es gibt einfach auch ein Verständnis der Kolleginnen und Kollegen, dass es da eine Nachfrage gibt von Klientinnen und Klienten.« (IV-LF-09: 28–28) »Wir haben dann auf einer Mitarbeiter-Toilette auch so ein Dusch-WC installiert, damit die Mitarbeiter das selbst ausprobieren konnte. Und das war schon ein bisschen lustig.« (IV-05 HG) »Also sehr positiv fand ich ein, zwei Sitzungen in dieser Teamsitzung wo wir gemeinsam auf Ergebnisse und sozusagen Videos aus Studien geschaut haben. Und weil ich glaube, dass da immer noch mal so deutlich wurde okay, was machen wir hier
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eigentlich und was kann man da rausziehen aus solchen Tests auch wirklich. Wo sind auch echt die großen Schwierigkeiten im Sinne von Mensch-Technik-Interaktion. Die fand ich schon sehr prägend.« (IV-LF-03: 24–24)
Andererseits wurden die Projekte selbst als Erfahrungsräume für Außenstehende oder nichtinvolvierte Mitarbeiter genutzt. Nachdem einige Projekte realisiert worden waren, wurde bisher nicht beteiligten Mitarbeitern die Möglichkeit gegeben, sich vor Ort ein eigenes Bild von der Umsetzung und dem Nutzen der Technologie zu machen. Die Schaffung dieser Erfahrungsräume war von Beginn an auch ein Ziel dieser Projekte. »Und wenn man das erst einmal hat und dann, [Einrichtungsname], die haben da ja tolle Bedingungen und die können dann da hin fahren und können sich das angucken und so. Und ach, da würde ich auch gerne arbeiten und so. Also man muss auch Beispiele schaffen dafür, damit die Leute auf den Geschmack kommen.« (IV-LF-08: 32– 32) »Also, wenn ich jetzt beide Einrichtungen vergleiche, wenn ich die vergleiche, sage ich, der ganz normale Alltag im klassischen Altenheim, ist total stressig. Ich weiß nicht was in den Zimmern passiert, ob die Bewohner schlafen, ich muss Beispiel jeden Bewohner oder in jedes Zimmer reingehen und gucken, dadurch ist die Durchschlafstörung, also Nachtruhe gestört. Was im Vergleich zu [Einrichtungsname] nicht so ist, zum Beispiel ich weiß, wenn Bewohner schlafen, dann brauche ich da nicht reingehen, weil mir das System meldet oder kein Alarm meldet. Das erleichtert das enorm. Also das heißt, das ist für die Bewohner ziemlich ruhig nachts, ich störe ihn nicht beim Schlafen, und dadurch ist der Tagesrhythmus auch viel angenehmer für ihn, das wissen wir Menschen ja genau so, wenn wir nachts gut durchschlafen, ist man vital, viel fitter als wenn man nachts ständig jede drei Stunden gestört wird.« (IV-LF-06: 43–43)
Vignette: Persönliche Begegnung verändert Einstellung gegenüber anderen Lebenswelten Die Veränderung der Wahrnehmung wurde dabei nicht nur bei den Mitarbeitenden der vBS Bethel beobachtet, sondern auch auf Seiten der Techniker und Ingenieure. Auch diese äußerten, dass durch die Zusammenarbeit ihre Perspektive auf den Sozialbereich mit seinen Mitarbeitenden und Klienten verändert wurde. Auch dieser Erfahrungsraum wurde gezielt ermöglicht, indem beispielsweise Besprechungen und Projektaktivitäten in den Räumlichkeiten der vBS Bethel durchgeführt wurden und Begegnungen zwischen Technikern, Klientinnen und Mitarbeitenden der vBS Bethel ermöglicht wurden. »Und es besteht natürlich auch, und das denke ich ist ja auch so ein Kennzeichen von dieser Bethel-Uni-Kooperation, das wechselt ja die Räume, mal die Uni mal hier in Bethel auch, wenn der Lenkungsausschuss sich trifft, oder auch Projektebene, dass eben Veranstaltungen zum Teil hier in den Räumlichkeiten von Bethel stattfinden oder auch mal in der Universität oder dort auch mal eine Führung gemacht werden kann
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oder hier was gezeigt werden kann, also so dass auch da schon alleine durch die Wahrnehmung des Raums in dem man sich bewegt, eine gewisse, ja nicht Vertrautheit aber zumindest eine gewisse Kenntnis oder ein Eindruck dessen entsteht wo man sich da bewegt.« (IV-LF-07: 98–98) »Und hinterher sagte der Student wirklich na ja, ich hatte wirklich Angst vor diesem Kurs, ich hatte Angst vor Menschen mit geistiger Behinderung, weil ich genau dieses Bild im Kopf hatte, Menschen, die nichts können, die auf die Tastatur sabbern und die nicht der Sprache mächtig sind und die unglaublich schwierig im Umgang sind, verhaltensauffällig, und da hatte ich Angst vor. Und muss aber jetzt nach einem […] Semester meinen Blick noch mal auf Behinderung revidieren. Und habe auch jetzt mal verstanden, was es mit der Lernschwierigkeit auf sich hat und nehme das einfach für mich mit. Und habe auch zum ersten Mal verstanden, dass es darum geht, die Anforderungen der Kunden zu berücksichtigen in einem sehr frühen Stadium und sie einzubinden in diese Entwicklungsprozesse und hätte nie gedacht, dass das funktioniert.« (IV-LF-09: 44–44)
Vignette: Durch Erfahrungen wird Wissen für zukünftige Projekte aufgebaut Neben dem Abbau von Ängsten und Vorurteilen wurde der Sinn konkreter Erfahrungsräume insbesondere auch im Lernpotential für die Organisation selbst gesehen. Das wahrgenommene Wissensdefizit sollte durch das Ausprobieren der Technologie in einem prototypischen Umfeld abgebaut werden, um so Kompetenzen für zukünftige Projekte zu entwickeln. Diese Intention war von Anfang an vorhanden und beinhaltete die Idee, nicht nur ein Leuchtturmprojekt zu realisieren, sondern möglichst die Grundlage für eine konkrete und praxisrelevante Verbreitung der Technologie zu legen. »Der Mehrwert der Technologie wird sichtbar. […] Wir probieren aus, was geht und was nicht geht. Dafür haben wir es ja auch gemacht, und das hat der Vorstand ja auch deshalb sehr unterstützt, das ist ein Haus in dem wir viel reingepackt haben und wir sammeln jetzt Erfahrungen, die bei den nächsten Neubauten genutzt werden können. Wir wollen eben auch Erfahrungen sammeln, was kann man im Nachhinein auch noch in alte Einrichtungen einbauen. Also das… und die Mitarbeiter arbeiten gerne da, nicht nur wegen der Technik. Aber es ist phänomenal, was dieser Wechsel aus einem Altbau der seit 50 Jahren da steht in ein neues Haus – und die Teams sind ganz neu zusammengestellt – was diese Veränderung mit den Menschen gemacht hat. Das ist phänomenal, die arbeiten völlig anders als vorher, die sind wieder motiviert. Was dieser Umzug für die Bewohner… Da waren Bewohner, die sind nicht mehr aus ihrem Zimmer rausgekommen und dann war plötzlich wieder so eine Lebensanforderung da: Ich muss woanders hin. Das hat alle aufgeregt, aber die Leute kommen wieder aus ihrem Zimmer raus. Also diese erzwungene Veränderung, die ist ganz wichtig.« (IV-LF08: 56–56) »Also können wir hier wertvolle Erfahrungen sammeln die wir nachher sozusagen in die Gemeinde ausrollen, dann mit etwas anderen System, mit funkbasierten Systemen, aber es ging schon darum zu sagen: Unter optimalen quasi Laborbedingungen, also
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Laborbedingungen sind es nicht, aber unter solchen idealen Bedingungen mal zu prüfen was bringen diese Systeme, also was bringt Sensorik tatsächlich in so einem Pflege- und Betreuungskontext und können wir das dann nicht auch, wenn es gut und erfolgreich läuft auch tatsächlich in der Gemeinde auch anbieten? Das war wichtig.« (IV-LF-05: 38–38)
Interpretation Ähnlich wie durch die Praxisnähe der Projekte wurden in den Erfahrungsräumen etablierte Sichtweisen und Unterscheidungen mit einer veränderten Umwelt konfrontiert. Die Praxisnähe war dabei eine Voraussetzung zur anschließenden Gestaltung der Erfahrungsräume. Dadurch wurde es den Beteiligten möglich, neue Unterscheidungen und Bezeichnungen auszudifferenzieren und zu stabilisieren. Mitarbeiter konnten erfahren, dass beispielsweise bisherige Wertungen in Bezug auf Technologie wie »kompliziert«, »nutzlos« oder »bedrohlich« im konkreten Erleben nicht in jedem Fall zutrafen. Diese Erwartungen, wie Technologie sei, wurden somit ›enttäuscht‹, so dass Mitarbeiter begannen, Technologie anhand anderer Unterscheidungen zu beobachten. Durch gelungene Beispiele, in denen Technologie gewinnbringend für Mitarbeitende und Klienten in der sozialen Praxis eingesetzt werden konnten, verschoben sich die verwendeten Unterscheidungen in konkreten Praxiskontexten von »sozial/ technisch« hin zu einer nutzenorientierten Unterscheidung »nützlich/unnütz« oder »sinnvoll/unsinnig«. Der Diskurs wurde in der Folge weniger konfrontativ oder grundsätzlich normativ geführt, sondern verlagerte sich auf eine sachliche, eher instrumentell bestimmte Ebene, auf der es um einen sinnvollen Nutzen für die eigene Praxis ging.
5.2.2.7 Muster: Gegenseitige Sprachfähigkeit wird aufgebaut Die Unterschiedlichkeit der Professionen wurde in Praxiskontexten besonders an den verschiedenen Fachsprachen sichtbar. Zu Anfang der Zusammenarbeit gab es auf allen Seiten Verständigungsprobleme, die nicht selten auch zu Missverständnissen führten (vgl. 5.1.2.9). Dabei war den Beteiligten klar, dass ohne eine gemeinsame Sprache die weitere Zusammenarbeit nicht gelingen könne (IV-LF-04: 20–20). Die unterschiedlichen Termini und Sprachebenen wurden von den Akteuren als eine große Herausforderung gesehen, der auf verschiedenen Wegen begegnet wurde. Einerseits fand eine Aneignung der jeweils anderen Sprache im Verlauf der Zusammenarbeit statt, andererseits wurden Sprachebenen gesucht und gefunden, auf der die Themen in einfacherer und verständlicherer Sprache bearbeitet werden konnten. Der Prozess des Suchens und Findens gemeinsamer Sprachebenen wurde in verschiedenen Situationen unter anderem durch die Hilfe eines Moderators oder ›Übersetzers‹ ermöglicht.
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Vignette: Sprachfähigkeit der Akteure – »Fremdsprache lernen« Über die Zeit eigneten sich die Akteure die Sprache der jeweils anderen Profession an. Dieser Prozess wurde häufig mit Metaphern wie »Vokabeln lernen«, »Wörterbuch« oder »Übersetzen« in Verbindung gebracht. Dieses Erlernen erfolgte in der Regel in den Praxiskontexten, in denen gemeinsam an konkreten Themen gearbeitet wurde. »Das man das sowohl sprachlich merkt. Also ich musste viele Vokabeln aus dem technischen Bereich auch erst einmal verstehen lernen.« (IV-LF-03: 20–20) »Also der Kollege hat sich immer so einen Scherz gemacht, ›Max – Pädagogensprache, Pädagogensprache – Maxsprache‹.774 Das ist auch ein Prozess einfach. Also man macht einfach auf Unverständnis aufmerksam und erklärt sich dann. Und dann funktioniert das.« (IV-LF-09: 86–86)
Vignette: Gemeinsame Sprachebenen werden gesucht und gefunden Die wahrgenommene Inkompatibilität der Sprachen führte in der Praxis dazu, dass Mitarbeiter die Aufgabe einer »kommunikativen Schnittstelle« übernahmen (IV-LF-09: 54–54). Einerseits, falls möglich, um zwischen den verschiedenen Sprachen zu übersetzen, andererseits um während der laufenden Kommunikation darauf aufmerksam zu machen, dass die Verständigung zwischen den Professionen oder in der Interaktion mit Klienten zu verloren gehen drohte. »Ja, also wir hatten letztes Mal eine Gruppe aus sieben Informatikern da. Und die haben uns auch ein Blogsystem oder Content Management System gezeigt und erklärt und das ist dann einfach wirklich so, dass sie dann mit Fachbegriffen um sich werfen und über Codes sprechen und ich weiß nicht, was sie dann alles da für Funktionen eingebaut haben und die dann beschreiben und da ist es eigentlich so, dass ich selbst halt intervenieren muss, weil so Schlussstrich jetzt mal, ja. Auf ein anderes Sprachniveau zusammenkommen.« (IV-LF-09: 90–90) »Ich [kann] auch in leichter Sprache erklären, was Technik bedeutet. […] Zum Bespiel das Thema Datenschutz, worauf müssen diese Menschen achten, die kognitiv eingeschränkt sind. Also quasi so eine Vermittlerrolle, sozusagen, okay, ich bin jemand der aus der klassischen Altenpflege kommt und trotzdem aber gerne mit Menschen arbeite, die kognitiv eingeschränkt sind, und die auch gerne betreue und da einfach der, ich weiß gar nicht wie man das nennt, jemand bin der Informationen weitergibt in leichter Sprache. Genau, ja.« (IV-LF-06: 45–45) »Und das war eigentlich immer so der Knackpunkt, dass die sich das Leben in einer Einrichtung überhaupt gar nicht vorstellen können und auch natürlich nicht den Hilfebedarf der Menschen – genauso wenig wie ich mir die technischen Details vorstellen kann. Und das mussten wir miteinander immer vermitteln.« (IV-LF-04: 22–22) 774 Es handelte sich hierbei um den Vornamen des Interviewpartners. Der Name wurde geändert, damit das Wortspiel erhalten blieb und dennoch anonymisiert wurde.
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Häufig wurden in diesem Vermittlungsprozess Methoden verwendet, die weniger auf Fachbegriffe zurückgriffen, sondern Zusammenhänge anders verdeutlichten, beispielsweise durch Visualisierungen oder die Verwendung einer vereinfachten Sprache. »Die wird moderiert von den Kolleginnen und Kollegen, die vor Ort sind. Also in einem visuellen Prozess ist es relativ barrierearm, muss man sagen, also wenn es wirklich darum geht, dass man sagt, malt eure Interfaces ist jetzt mal auf einem Blatt Papier, wir pinnen die an die Wand und stellen uns die gegenseitig vor, dann wird relativ schnell klar, um was es geht. […] So dann wird gesagt, ja, Oberfläche, wo die Tasten angeordnet sind, bei Bildschirmoberfläche, also man versucht es dann, zu beschreiben. In erster Linie machen das die Kolleginnen und Kollegen, also es ist immer jemand Professionelles vor Ort in Anführungsstrichen, ein Assistent, die Assistentin, in leichter Sprache oder in einfacher Sprache. Aber es ist auch so, dass, auch meine Erfahrung, dass die Studierenden auch das Niveau senken und sich dort dann quasi anpassen und sagen, okay, ich merke gerade, ich bin zu theoretisch unterwegs, ich muss mich noch mal erden und versuche, dir das zu erklären oder zeige es dir an Beispielen, zum Beispiel. Ja, es ist also ein Prozess.« (IV-LF-09: 82–84)
Interpretation In der zunächst fehlenden Sprachfähigkeit der Akteure und der Organisation wird deutlich, dass zwar im Innovationsprozess Kompetenzen in neuen Themengebieten erforderlich geworden sind, die Organisation diese jedoch noch nicht besetzen kann. Unterscheidungen und Bezeichnungen der unterschiedlichen Sinngemeinschaften sind inkompatibel und müssen entsprechend mühsam erlernt werden, um Kommunikation zu ermöglich. In Fällen, in denen dies nicht möglich ist, versuchen die Akteure eine vereinfachte Sprachebene zu finden. Die Vereinfachung birgt allerdings immer auch das Risiko, Zusammenhänge unterkomplex darzustellen. Vereinfachung und ›Vokabeln lernen‹ sind einerseits notwendige Voraussetzungen, um die Kommunikation zwischen den unterschiedlichen Lebenswelten zu ermöglichen. Die neu gewonnene Sprachfähigkeit reicht aus, um zu verstehen und verstanden zu werden, wodurch Annäherung möglich wird. Andererseits kann sie hinsichtlich des neuen Wissens nur als ein erster Schritt angesehen werden, die zur Mitgestaltung in interdisziplinären Innovationsprozessen benötigten Kompetenzen aufzubauen. 5.2.2.8 Muster: Externe Experten bringen Kompetenzen und Komplexität ein In den verschiedenen Projekten wurden Wege gesucht, die für die Entwicklung assistiver Technologien notwendigen Kompetenzen bereitzustellen, wobei viele der benötigten Kompetenzen auf Grund der Neuheit der Ideen weder innerhalb noch außerhalb der Organisation ohne weiteres zu finden waren. Häufig wurde versucht, das Wissen für den Aufbau von assistiven Technologien über externe
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Fachleute in die Projekte zu integrieren. Hierbei kam es jedoch auf Grund unterschiedlicher Logiken, Interessen und Sprachfähigkeiten teilweise zu Spannungen, die den Innovationsprozess erschwerten und gelegentlich die Fortführung des Projekts gefährdeten. Vignette: Technologische Kompetenz der Organisation soll durch externe Experten ausgebaut werden Für die Beteiligten war es offenkundig, dass das organisationsinterne Wissen nicht ausreichte, um die geplanten Projekte erfolgreich durchzuführen: Die Organisation war in den neuen Technologiethemen nicht sprachfähig. Durch die Beschäftigung mit neuen Technologien wuchs die Erkenntnis, dass eine weiterreichende Sprachfähigkeit im Sinne einer neuen Kompetenz in der Organisation benötigt würde, die über die Verständigung zwischen einzelnen Personen in konkreten Projekten hinausging. »Und wenn ich daraus ein großes Projekt machen möchte – das war mir schon klar, da sollte irgendwie ein technologisches, technologisch in Anführungsstrichen, Projekt daraus werden – dann brauche ich jemanden, der diese Welt auch kennt. Da bin ich ja nicht so zuhause drin.« (IV-LF-01: 12–12)
Die Einsicht, selbst nicht über die erforderlichen Kompetenzen zu verfügen, führte häufig zu dem Schluss, externe Experten hinzuzuziehen. »Von daher holen wir uns die rein. Wir holen uns einen IT-Experten, wir holen uns den Experten, wir holen uns den Experten.« (IV-LF-01: 72–72) »Dann habe ich bundesweit recherchiert nach Hochschulprofessoren, die sich im Bereich der IKT, der Barrierefreiheit getummelt haben. Damals auch Fraunhofer-Institut, Professor XY zum Beispiel, der nach wie heute mit an Bord ist. Aus [Ort] ein Professor, der auch zu dem Thema barrierearme Interfaces geforscht hatte. Und die habe ich dann einfach angeschrieben.« (IV-LF-09: 24–24)
Vignette: Komplexität wird durch externe Experten erhöht Durch die Einbeziehung externer Experten wurde jedoch zugleich die Komplexität der Projekte weiter erhöht, so dass neue Kommunikationsprobleme an anderen Stellen entstanden. Die externen Experten bildeten keine einheitliche Gruppe, sondern brachten wiederum unterschiedliche Kompetenzen, Perspektiven und Interessen ein. In der Umsetzung wurde dabei die Erfahrung gemacht, dass das Hinzuziehen externer Experten allein nicht ausreicht, um zu einer Lösung zu kommen. »Aber um es auf den Punkt zu bringen: Es war einfach so, dass wenn viele Akteure im Boot sind, die alle auf ihrem Gebiet Fachpersonen sind, heißt das noch nicht, dass man automatisch zu einer Lösung kommt die nachher funktioniert. Und natürlich hätte
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man sagen können: Okay, das hätte auch der Fachplaner Elektro machen können, aber der wiederrum kannte die Abläufe in der Einrichtung nicht so.« (IV-LF-05: 26–26)
Vielmehr wurde beobachtet, dass die Verknüpfung der unterschiedlichen Perspektiven entscheidend war. »Und von daher ging es darum, dass die Einrichtungsleitung mit der ich gesprochen habe, das Know-how, die Anforderung, dass ich die sozusagen mit in dieses Gespräch genommen habe. Und auf der Grundlage konnten wir von Betreiberseite, konnten wir sagen: So liebe Leute, das brauchen wir und nichts anderes. Und dann hatten wir diese Lösung sozusagen herbeigeführt. Von daher war es so, dass letztlich diese wirklich innovative Lösung – ich glaube auch, dass es diese Systematik […] nicht so oft gibt in einem deutschen Pflegeheim.« (IV-LF-05: 26–26)
In einem der Projekte kam es beispielsweise zu einer Situation, in der die unterschiedlichen Experten sich in der Analyse eines Problems und der damit einhergehenden Verantwortung für eine Lösung uneinig waren. »Aber es ging dann soweit, dass es irgendwann zeitkritisch wurde und dann musste ich da auch ein bisschen energischer werden einfach, weil ich gesehen habe, das Projekt läuft mir davon, wir kriegen am Ende nicht mehr die Bauteile die wir benötigen verbaut und von daher gab es einen ominösen Baubesprechungstermin, da habe ich dann alle Akteure in den Baucontainer eingeladen und habe gesagt: Es ist kurz vor Weihnachten, es kommt keiner hier raus, bevor er nicht am heutigen Tag die Lösung entwickelt. […] Ich meine man sprach auch nicht untereinander und miteinander, sodass ich das dann sozusagen von Betreiberseite zuspitzen musste, dann habe ich gesagt: So, jetzt setzen wir uns an den Tisch und dann machen wir das.« (IV-LF-05: 24–26)
Nur durch einen Mitarbeiter der vBS Bethel, der inzwischen die ›Vokabeln‹ gelernt hatte und die ›richtigen‹ Fragen stellte, konnten die unterschiedlichen Experten zusammengebracht werden, um eine gemeinsame Lösung zu finden. Diese Moderationsfähigkeit wurde möglich, da der Mitarbeiter eine Sprachfähigkeit aufgebaut hatte, die eine Kommunikation auf Augenhöhe erlaubte. »Es war dann so, es waren natürlich alle auf ihre Art Platzhirsche. Der eine ist für Schwachstrom mit Lichtruf und so weiter, da ist er sozusagen der kompetente Mann, der andere für EIB und für intelligente Smart-Home-Lösungen. Und dann war es aber so, dass ich gesagt habe: Jetzt beschreiben Sie mir genau den Punkt, wo kommen Ihre Systeme zusammen? So. Und da war es dann so, dass der Lichtrufanlagenhersteller, obwohl er nicht der Hersteller ist, der hatte gute Erfahrungen natürlich auch aus anderen Kontexten, wie Krankenhäusern. Der hat gesagt: Wir verbauen jetzt diese Ackermann-Anlagen und bei der Ackermann-Anlage gibt es eine entsprechende Schnittstelle wo zum Beispiel auch Gerätealarme sozusagen noch auflaufen können und wir gucken einfach, dass wir einen Binärausgang, auf jeden Fall die entsprechende Schnittstelle zum EIB genau an dem Punkt anknüpfen, dann kann nämlich aus so einem Bus-System der Alarm kann über diesen Punkt in die Lichtrufanlage gehen und kann dort in dem Zimmer ganz normal Lichtruf auslösen, egal ob jemand die Taste
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drückt, oder ob der Sensor unterm Bett sozusagen angeschlagen hat.« (IV-LF-05: 26– 26)
Entsprechend wurde der Wunsch formuliert, dass externe Experten in der Lage wären, die Besonderheiten des Sozialbereichs besser zu verstehen und sich ihrerseits auf einen Transformationsprozess einlassen könnten. »Auf der anderen Seite wünsche ich mir natürlich auch, dass die Techniker aufmerksam auf die Anforderungen des Sozialbereichs werden, reagieren und sich auch auf so Transformationsprozesse einlassen, also zu sagen, okay, da gibt es einen Kunden […], die haben gewisse Ansprüche und die möchten ganz gern mitsprechen, die möchten gerne auch mit entwickeln womöglich und ihre Anforderungen mit einfließen lassen und da darf ich mich als Entwickler oder als Hochschule oder als Technikunternehmen, glaube ich, auch nicht verschließen. Also wie bringe ich eigentlich meine Kunden in solche genannten Partizipationsprozesse mit ein?« (IV-LF-09: 124–124)
Interpretation Zwar gelang es, über externe Experten die notwendigen Kompetenzen in die Projekte einzubringen, allerdings zeigte sich, dass neben der reinen Fachkompetenz insbesondere die Fähigkeit benötigt wurde, zwischen den unterschiedlichen Sinngemeinschaften zu moderieren. Auf Grund der Ferne der technischen Fachleute zu den Anforderungen und Abläufen in einem Sozialunternehmen einerseits und der fehlenden Technologiekompetenz in der Organisation andererseits stellte sich dies jedoch häufig auf Grund gegenseitiger Sprachunfähigkeit als problematisch dar. Zwar waren die Kompetenzen nun prinzipiell vorhanden, aber die verschiedenen Kulturen und Codes der unterschiedlichen Sinngemeinschaften erschwerten zunächst die Integration dieser neuen Kompetenzen in den Innovationsprozess. Vielmehr erhöhten sie dadurch die Komplexität der Kommunikation. Aus systemischer Perspektive war die Kommunikation zwischen den Experten durch fortlaufende Erwartungsenttäuschungen geprägt, die im Kommunikationssystem bearbeitet werden mussten. Zu dieser Bearbeitung gehörte auch die Klärung der je eigenen Position der unterschiedlichen Disziplinen. Es wurde deutlich, dass eine Disziplin alleine nicht in der Lage war, sinnvolle assistive Technologien zu entwickeln, wodurch ein Führungsanspruch einer einzelnen Rationalität nicht aufrechterhalten werden konnte. Die Notwendigkeit einer Kooperation zwischen den Professionen auch in der Kommunikation wurde dadurch deutlicher. Zwar erschien dies bereits zu Beginn der Projekte den Beteiligten selbst einerseits als offensichtlich, jedoch bedurfte es der konkreten Auseinandersetzung mit anderen Disziplinen, um sowohl die Notwendigkeit als auch die Möglichkeit einer interdisziplinären Kooperation zu verinnerlichen. Von Bedeutung ist dabei die Reaktion auf die Erkenntnis, dass auch seitens der Technologiepartner das benötigte Wissen nicht vorhanden war. Wäre die Unterscheidung »technisch vs. sozial« zu diesem Zeitpunkt noch dominant gewesen, wäre eine erwartbare Re-
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aktion die vollständige Ablehnung assistiver Technologien gewesen. Indem jedoch die Unterscheidung »sinnvoll/nicht sinnvoll« in den Vordergrund rückte, wurde aus einer möglichen Ablehnung die Frage nach einer möglichen Kooperation.
5.2.3 Zwischenfazit In der ersten Phase wurde die Organisation durch Irritationen der Umwelt und Interventionen der Führung »in Schwingung« versetzt und die bisherige Routine dadurch in Teilen unterbrochen. Wo dies geschah, bewegte sich das System in einen Zwischenraum, in dem bisherige Routinen, Unterscheidungen und Prämissen in Frage gestellt wurden, wodurch Friktionen und Konflikte auftraten und in die Kommunikation der Organisation gelangten. In der zweiten Phase erfolgte die Bearbeitung dieser Friktionen durch die Organisation. Dadurch kommt dieser Phase eine zentrale Bedeutung im Innovationsprozess zu, da sich in ihr letztendlich entscheidet, ob die Friktionen und Konflikte transformiert werden können, um so das Innovationspotential einer multirationalen Konstellation zugänglich zu machen. Es ist somit die Phase, in der die Innovationsparadoxie durch die Organisation entfaltet wird. Die Bearbeitung kann dabei, wie bereits die Friktionen in der ersten Phase, auf drei Ebenen beobachtet werden (vgl. 5.1.3). Erstens werden auf der Ebene der Rationalitäten die Friktionen zwischen unterschiedlichen Codes, Werten und Erfolgskriterien durch das System bearbeitet. Durch das Einrichten von Kommunikationsräumen und das Verfolgen einer Kommunikationsstrategie wird innerhalb des Systems ein Diskurs gefördert, durch den bisherige Unterscheidungen reflektiert und verändert werden können. Systemtheoretisch werden die Erwartungen der bisherigen Unterscheidungen enttäuscht. Die Enttäuschung wird im Diskurs wieder in die Kommunikation des Systems eingeführt, wodurch die Reflektion ermöglicht wird, und sich neue Unterscheidungen und Strukturen ausdifferenzieren und stabilisieren können. Welche das sind, entscheidet die Organisation als selbstorganisierendes System selbst. Durch die Kommunikationsstrategie und die Art der eingerichteten Kommunikationsräume versucht die Führung, bestimmte Unterscheidungen wahrscheinlicher werden zu lassen als andere. Dass dies im vorliegenden Fall in mancherlei Hinsicht gelingt, kann an zwei Begriffen festgemacht werden: Reflektionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit. Aus systemtheoretischer Sicht kann Reflektionsfähigkeit als die bereits erläuterte Wiedereinführung der Erwartungsenttäuschungen in das System gedeutet werden. Indem das System diesen »Re-Entry« zulässt,775 ermöglicht es die Bearbeitung der Er775 Simon (2007), S. 66ff.
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wartungsenttäuschungen (und damit der Friktionen und Konflikte), und erlaubt die Reflektion der eigenen Werte und Erfolgskriterien. Glaubwürdigkeit hingegen kann auf die Unterscheidungen bezogen werden, die nicht enttäuscht werden, im vorliegenden Fall insbesondere Unterscheidungen wie diakonisch/ nicht-diakonisch, ethisch/unethisch oder auch helfen/nicht-helfen. Diese Unterscheidungen werden nicht enttäuscht, da sie in den Handlungen und der Kommunikation der Organisation bestätigt und somit re-aktualisiert werden. Dabei spielen in der Organisation Einzelpersonen (häufig, aber nicht nur in Führungspositionen) eine wichtige Rolle, da in ihnen die Handlungen der Organisation sichtbar und verortet werden. Zweitens wird auf der Ebene der Kulturen eine Annäherung einerseits durch den Aufbau gegenseitiger Sprachfähigkeit erreicht. Die Kommunikation bewegt sich zunehmend aus dem Bereich einer »vollkommenen Neuheit« der Kommunikationsbeiträge, und wird in Richtung einer »praktischen Information« (vgl. 3.2.2) verschoben, also einer Information, die auf eine eigene, erfahrene Praxis bezogen werden kann. Dabei entwickelt sich nicht nur die Sprachfähigkeit, sondern auch die Praxis selbst. Im Zwischenraum zwischen den Professionen entsteht eine eigenständige Praxis, die technische Assistenzsysteme für Menschen mit Unterstützungsbedarf zum Gegenstand hat. In dieser Form ist diese Praxis weder in der einen noch in der anderen Profession bereits vorhanden. Vielmehr entwickelt sie sich zwischen Pflegeprofession und Technologie. Diese Entwicklung wird durch die Einrichtung von Erfahrungsräumen befördert, in denen auf einer Praxisebene Erfahrungen mit dem Gegenstand der jeweils anderen Profession ermöglicht werden. Anders ausgedrückt könnte somit pointiert werden: Ging es auf der Ebene der Kodes um Reflektionsfähigkeit und Glaubwürdigkeit, so werden auf dieser Ebene Toleranz (im Sinne einer Bearbeitungsstrategie der Multirationalität, vgl. 3.4) und Offenheit (im Sinne einer Resonanzfähigkeit des Systems, vgl. 3.3.2) gegenüber der Kultur und dem Gegenstand der jeweils anderen Sinngemeinschaft relevant. Drittens wird auf der Ebene der Kompetenzen erkennbar, dass das bisherige isolierte Wissen der Professionen für die in der Entstehung befindliche Praxis technischer Assistenzsysteme nicht ausreicht. Weder das Wissen der Sozialprofession, noch das Wissen externer Experten funktionieren für sich genommen in der neuen Praxis. Die bisher erfolgte Annäherung ermöglicht vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis die Option zu einer weiterführenden Kooperation zwischen den Professionen, in der neues Wissen und neue Ideen wachsen können. Die Lernfähigkeit der Organisation und ihrer Sinngemeinschaften ist auf dieser Ebene dabei von zentraler Bedeutung. Für die beginnende Kooperation stehen zudem Innovationsräume zur Verfügung, die abgekoppelt von der bisherigen Routine und ausgestattet mit eigenen Freiräumen einen Rahmen für die mögliche Entstehung von Wissen und Innovationen bieten.
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Der auf diesen drei Ebenen ablaufende Prozess kann als Koevolution von aufeinander abgestimmten Unterscheidungen und Strukturen gedeutet werden, die im Zwischenraum zwischen den Sinngemeinschaften auf den Ebenen der Kodes, Kulturen und Kompetenzen ausdifferenziert werden. Wo noch in der ersten Phase Ängste und Unsicherheit dominierten, wird langsam ein Muster erkennbar, das auf das Innovationspotential des multirationalen Arrangements hindeutet. Hinweise auf Friktionen werden in dieser Phase immer seltener in der Kommunikation der Organisation beobachtet. Hingegen finden sich immer mehr Spuren von kooperativen Mustern, die als Zeichen einer beginnenden Transformation interpretiert werden können. Diese Transformation stellt den Wendepunkt (wenngleich nicht die Vollendung) in der Entfaltung der Innovationsparadoxie dar. Zusammengefasst erfolgt die Bearbeitung der Multirationalität in dieser Phase in Kommunikations-, Erfahrungs- und Innovationsräumen, die das Hinterfragen bestehender und die Entwicklung neuer Unterscheidungen, Strukturen und Prozesse erlauben, die mit einer sich entwickelnden Praxis wechselseitig verbunden sind. Durch Reflektions- und Diskursfähigkeit, Resonanz- und Lernfähigkeit gelingt dem System eine Annäherung der Sinngemeinschaften und die Transformation ursprünglicher Konflikte. Indem das System beginnt, in diesem Zwischenraum zu operieren, wird neues Wissen aufgebaut und eine neue Praxis »realisiert« (vgl. 3.4.2). Diese beginnende Realisierung einer neuen Praxis markiert einen Wendepunkt, der zur dritten Phase überleitet, in der die Kooperation der unterschiedlichen Sinngemeinschaften und die Integration in eine neue Praxis fortgeführt wird.
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5.3.1 Entwicklungen in der Phase der Selbstorganisation In der dritten Phase wird die Entwicklung hin zur Kooperation aufgezeigt, die im weiteren Verlauf als Integration mehrerer Rationalitäten in eine neue Praxis und einem gemeinsamen Innovationsprozess erkennbar wird. Diese Phase war weniger von zentralen Ereignissen oder Interventionen geprägt, sondern von einer beginnenden Dynamik zwischen den Sinngemeinschaften, die als zunehmend positiv und prägend für den Innovationsprozess wahrgenommen wurde. Im Zwischenraum zwischen den Rationalitäten entstand etwas Neues, das in gemeinsam entwickelten Ideen, im gemeinsamen Lernen und in der Entwicklung neuen Wissens jenseits der professionsspezifischen Kompetenzen mündete. Die in der Phase der Selbstbeschreibung entwickelten neuen Unterscheidungen,
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Prämissen und Praktiken stabilisieren sich durch Selbstorganisation des Systems in diesem Zwischenraum (vgl. 4.3.3.3). Lagen in der zweiten Phase die Schwerpunkte noch in den jeweiligen Disziplinen, die sich durch die Bearbeitung der in ersten Phase beobachteten Friktionen annäherten und ihr Verhältnis zueinander transformierten, lag nun der Schwerpunkt im ›Dazwischen‹. Das Spannungsfeld selbst erfuhr somit eine Veränderung, indem nicht nur vorhandene Friktionen bearbeitet wurden, sondern das Innovationspotential in den Grenzbereichen deutlich zu Tage trat. Mitarbeitende erfuhren sich selbst als Teil von etwas Neuem und begannen, sich mit den Innovationsprojekten zu identifizieren. Wurde ein Nutzen der Innovationen bisher in erster Linie entlang der Erfolgskriterien der eigenen Sinngemeinschaft gesucht, weitete sich dieser Blick gegen Ende dieser Phase. Innerhalb der Innovationsprojekte wuchs die Erkenntnis, dass Innovationen in einem multirationalen Spannungsfeld ebenfalls einen multidimensionalen Nutzen entwickeln sollten. Unter anderen dadurch wurde die beginnende Integration multipler Rationalitäten im Innovationsprozess sichtbar : Ein Innovationsnutzen wurde zugleich in sozialen, ethischen, technologischen, ökonomischen, aber auch politisch-administrativen Referenzen gedacht. Vor diesem Hintergrund wurden auch zunehmend Fragen nach geeigneten Organisationsstrukturen für die Entstehung und Verwertung von Innovationen diskutiert, ohne während des Untersuchungszeitraums zu konkreten Ergebnissen zu kommen. Dennoch wurde immer deutlicher wahrgenommen, dass das Neue, das in den Zwischenräumen unterschiedlicher Rationalitäten entstand, für die bestehende Organisationsform einige Herausforderungen bereithalten würde, ohne diese im Rahmen der vorliegenden Untersuchung spezifizieren zu können. Erkennbar wurde jedoch, dass einige Beteiligte sich zunehmend die Frage stellten, ob die Integration einer multidimensionalen Innovation in die bestehende Organisationsform sinnvoll wäre, oder ob ein eigenständiger organisationaler Rahmen in Form einer Ausgründung oder ›Zellteilung‹ nicht erfolgsversprechender sei. In der Folge werden die Bearbeitungsmuster der Organisation in der Entwicklung zwischen Kooperation und Integration rekonstruiert.
5.3.2 Bearbeitungs- und Kommunikationsmuster der Selbstorganisation 5.3.2.1 Muster: Soziale Professionen bringen eigene Kompetenzen und Werte konstruktiv in den Innovationsprozess ein Die in der zweiten Phase beobachteten Veränderungen und Annäherungen ermöglichten einen zunehmend konstruktiven Umgang mit den zuvor unbe-
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kannten Technologien. Indem die Begrenzungen der Disziplinen hinsichtlich der benötigten Kompetenzen sichtbar wurden, trat an die Stelle von Ängsten und Vorbehalten nach und nach ein Dialog, in dem auch die Kompetenzen der sozialen Professionen und ein Selbstbewusstsein der eigenen Werte konstruktiv eingebracht werden konnten. Dadurch wurde einerseits eine aktivere Mitgestaltung des Innovationsprozesses möglich, und andererseits wurde die Bedeutung der sozialen Professionen unterstrichen, wodurch die anfängliche Sorge einiger Beteiligter vor einem Bedeutungsverlust der eigenen Profession abgemildert werden konnte. Die Beteiligten empfanden die Mitgestaltung technischer Innovation als Notwendigkeit, eben um sicherzustellen, dass diese Innovationen »menschenverträglich« ausgestaltet würden. Die Kompetenzen sozialer Professionen und die Werte als diakonisches Unternehmen wurden somit wichtiger Bestandteil der Projekte. Vignette: Bedeutung von Empathie und Beziehung wird selbstbewusst eingebracht In der Auseinandersetzung mit Technologiethemen stellte sich den Beteiligten die Frage nach der zukünftigen Bedeutung der Sozialprofessionen. War diese Auseinandersetzung anfangs eher von Ängsten geprägt (vgl. 5.1.2.4), wurde in der Folge zunehmend selbstbewusst der spezifische und nicht ersetzbare Kern der Profession zum Ausdruck gebracht. Als zentrale Merkmale sozialer Professionen wurden von den Beteiligten unter anderem Empathie, Emotionen und soziale Beziehungen benannt. »Also das ist eigentlich die Unique Selling Proposition, also unsere Arbeit ist wirklich Empathie, wenn man so will. Und Empathie wird nie durch Technik ersetzt werden können.« (IV-LF-09: 60–60)
Mit der Beschreibung dieses Wesenskerns wurde es auch möglich, Aspekte heutiger Sozialarbeit zu benennen, die nicht zu diesem Kern gehören, wodurch sich aus Sicht der Akteure ein Feld ergab, in dem technische Innovationen einen sinnvollen Beitrag leisten könnten. »Und das war immer die Perspektive die da eingebracht werden, zu gucken an welchen Punkten könnte das ansetzen, weil bestimmte Punkte glaube ich sind klar, dass die aus unserer Sicht nicht durch Technik ersetzt werden können, weil es um soziale Beziehungen und Emotionen und so geht. Aber bestimmte Prozesse könnten eben wirklich auch, also zumindest mal angetestet werden ob es durch Technik irgendwie übernommen werden könnte, oder ob die da unterstützen könnte.« (IV-LF-03: 34–34)
Dabei war zwar die Notwendigkeit offensichtlich, das technologische Wissen extern zu beschaffen, ohne jedoch die inhaltlichen Aspekte der Arbeit zur Disposition zu stellen.
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»[Für uns] war wichtig, dass wir natürlich gerne das, ich sage mal, das reine technische Know-how einkaufen wollten, aber das wir als Altenhilfeanbieter einfach unsere, ich sage mal Qualitätsmaßstäbe und unsere inhaltlichen Maßstäbe da einfach auch zugrunde legen wollten […].« (IV-LF-05: 20–20)
Vignette: Kompetenzen und Wissen des Sozialträgers sollen mitgestaltend wirken Mit der aktiven Mitarbeit in den Innovationsprojekten wurde den Beteiligten zunehmend die Relevanz des eigenen Wissens für einen im Sinne des Unternehmens erfolgreichen Innovationsprozess deutlich. Statt Vermeidung von neuen Technologien wurde nach Möglichkeiten zu deren der Gestaltung im Kontext der vBS Bethel gesucht. »Diese ganze Technikthematik [wird] auch nicht am sozialen Bereich vorbeigehen. Krankenhaus ist sowieso schon technisiert. Und das wird auch irgendwann kommen in der Alten- oder Behindertenhilfe, dass wir entsprechende Lösungen finden und je eher wir dabei sind und das mitgestalten, desto menschenverträglicher wird das. Und da müssen wir einfach mitmachen.« (IV-LF-02: 6–6) »Also so auf Bethel-Seite würde ich sagen auf jeden Fall eben Wissen über eben genau diese Bedürfnisse von Menschen im Alter, Erfahrungen im Umgang mit Menschen, also was hier eben ja auch wirklich wichtig war sozusagen, wie kann man zum Beispiel auch Menschen zu Dingen motivieren und zugleich eben aber auch zumindest so ein grobes Gespür dafür was eventuell auch nicht funktioniert und womit man Menschen auch vielleicht überfordern könnte. Das ist halt sozusagen einmal das Wissen über den Alltag von Menschen mit Behinderung oder von Senioren. Das Wissen wie man diese Menschen im Alltag unterstützen kann. Und aber eben auch, was eben immer ein Thema war, von an welchen Punkten könnte man eventuell so etwas wie Selbstbestimmung oder Eigenständigkeit verlangen.« (IV-LF-03: 34–34)
Dabei wurde neben dem fachlichen Wissen der Profession auch das Wissen um die Komplexität des Sozialsystems mit seinen rechtlichen, politischen und administrativen Anforderungen als Kompetenz der Organisation angesehen. »Ja, also wie Pflegeeinrichtungen vom Raumprogramm und von den Arbeitsabläufen her aussehen, das war uns als Altenhilfeanbieter schon bekannt und es gab natürlich auch die Vorgaben der Kostenträger und auch des Gesetzgebers wie die Altenhilfeeinrichtungen zu bauen sind. Das war sozusagen gesetzt.« (IV-LF-05: 18–18)
Das Einbringen der eigenen Kompetenz und die sich daraus ergebende Möglichkeit zur Mitgestaltung wurden dabei als positive Selbstwirksamkeitserfahrung angesehen. »Ja. Für mich war das noch mal der Beweis, dass ich als Designer nicht nur Oberflächen gestalten kann, weil das ist ja der klassische, das versteht ja die Umwelt unter dem Designbegriff. Da gibt es immer, der macht die Welt schön. Für mich war das der Beweis, dass ich geschafft habe, mit den Werkzeugen, die ich gelernt habe im Studium, mit den kreativen Tools, auch Prozesse zu gestalten, dem Unternehmen sozusagen ein
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Werkzeug zu gestalten, mit dem es möglich ist, soziale Innovation voranzubringen. Das war für mich noch mal ein Learning. Und ja, ich würde mal sagen, das sind so die hauptsächlichen Punkte.« (IV-LF-09: 36–36) »Wir haben dann im Prinzip Module entwickelt, wo wir gesagt haben, die wollen wir haben. Das eine ist dieses Aufstehen aus dem Bett, nächtliche Aufstehen aus dem Bett. Funktioniert ja, Bewegungsmelder hinter dem Bett gibt ein Signal an den Lichtruf. Und dann hat die Firma gesagt, kein Problem, können wir machen. Und ich habe gesagt, prima, aber tagsüber brauchen wir das nicht. Wieso? Wie gesagt, weil tagsüber das Leben anders ist als nachts. Tagsüber sind Bewohner aktiv, machen ihren Tagesablauf in Begleitung, aber nachts, da geht es darum, dass wir das Signal brauchen. Also da gibt es so ein ganz anderes, weil wir deren Welt nicht kennen, die unsere nicht, wissen die nicht, dass wir einfach über Menschen sprechen, die tagsüber einen normalen Tagesablauf haben und nachts einfach die zusätzliche Sicherung.« (IV-LF-04: 22–22)
Interpretation Indem zunehmend Mitarbeitende der Sozialprofessionen ihre Position weniger durch Abgrenzung zu anderen Disziplinen definierten, sondern sich selbstbewusster auf ihre eigenen Kompetenzen konzentrierten, wurde es möglich, die Innovationsprojekte konstruktiver mitzugestalten. Anstelle anfänglicher Ängste und Abwehrreaktionen rückte die Frage nach einem für alle Beteiligten sinnvollen Technikeinsatz in den Vordergrund. Die Bedeutung der eigenen Kompetenz für die Entwicklung solcher Systeme wurde erkennbar bzw. bestätigt. Dadurch, und durch die damit einhergehende Erfahrung von Selbstwirksamkeit und Gestaltungsmöglichkeit wurde das ursprüngliche Gefühl der Überforderung und Ohnmacht durch ein aktives, positiveres Gefühl der Fähigkeit zur Mitgestaltung abgelöst. Die Bearbeitungsstrategie in den multirationalen Kontexten der Projekte verschob sich somit von Vermeidung und Polarisierung von und zwischen den Rationalitäten in Richtung einer gegenseitigen Toleranz, da die Bedeutung der jeweiligen disziplinären Kompetenzen anerkannt wurde. Aus der Wahrnehmung »Technik verdrängt und bedroht« wurde nach und nach »Technik kann unterstützen, und wir können dabei helfen, dass sie das tut«. Zwar war je nach Fragestellung phasenweise eine Disziplin dominant, jedoch wurde stärker auf das gemeinsame Ziel fokussiert, sinnvolle Technologien zu entwickeln.
5.3.2.2 Muster: Sprachfähigkeit ermöglicht interdisziplinären Dialog Die zunehmende Sprachfähigkeit mit bisher fremden Disziplinen ermöglichte eine Zusammenarbeit der verschiedenen Professionen in den Innovationsprojekten. Die Fähigkeit, sich in technische Zusammenhänge hineinzudenken, unterstützte die Mitgestaltung und Einflussnahme der technischen Entwick-
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lung. Einerseits benutzten Mitarbeitende der vBS Bethel technische Ausdrücke mit wachsender Selbstverständlichkeit, andererseits lernten Techniker und Forscher die Sprache des Sozialbereichs. Dadurch waren die Beteiligten in der Lage, je nach Gesprächspartner die Kommunikation anschlussfähig zu gestalten, und es wurde eine Dialogebene erreicht, auf der die unterschiedlichen Professionen konstruktiv zusammenarbeiten konnten. Zwar kam es weiterhin zu Spannungen in den Projekten, die jedoch weniger grundsätzlicher Art waren, sondern vielmehr auf der Sachebene stattfanden. Vignette: Grundverständnis erlaubt Hineindenken in technische Zusammenhänge Zwar nahmen die Beteiligten der vBS Bethel noch Unterschiede zum Wissen der technischen Experten wahr, jedoch waren sie zunehmend in der Lage, technische Zusammenhänge nachzuvollziehen und sich in die Entwicklung einzubringen. »Ja, wobei ich bin ja Fürsorger, also eigentlich bin ich kein Elektrofachmann, also ich kann mich in Dinge reindenken und versuche dann zumindest das, was ich beeinflussen kann zu beeinflussen. Und ich glaube an diesem Punkt, das könnte strategisch noch mal sinnvoll sein, tatsächlich das mal aufeinander abzustimmen. Genau.« (IV-LF05: 52–52) »Also ich habe gelernt, die verschiedenen Schritte zu betrachten und auch kritisch zu hinterfragen […]. Und das ist gestiegen dadurch, dass ich dann ja die verschiedenen Prozesse auch gelernt habe, dass es Aktoren gibt, dass es die Bewegungsmelder gibt, dass es eine Software gibt, die aufgespielt ist. Also ganz viel Detailwissen, was ich vorher in meinem Leben so noch nie gehört habe, aber einfach durch die immer wiederkehrenden Gespräche und Argumentationen […]. Dadurch dass ich mehr Technikerfahrung bekommen habe. Also das hat sich verändert. Also ja, einzelne Mitarbeiter von [Firma], vor allen Dingen einer, hat auch so ein gewisses Grundverständnis dafür bekommen.« (IV-LF-04: 32–40)
Trotz des Hineindenkens in technische Zusammenhänge wurde das eigentliche Anliegen der vBS Bethel nicht aus den Augen verloren. Vielmehr wurde die neue Kompetenz genutzt, die eigentliche Idee und die Interessen des Sozialträgers in andere Kontexte einzubringen. »Ich agiere schon adressatenspezifisch, das ist schon so, einfach weil damit die Leute mich verstehen und ich die Leute verstehe mit denen ich gerade spreche, aber ich möchte natürlich auch, dass die Gesamtidee, die ich für eine Gute halte, dass die irgendwann auch ausgeführt wird, also dass die irgendwann zum Tragen kommt. Von daher geht es immer um die Idee, um das Thema, um das Projekt an dem ich dran bin und ja, dadurch spreche ich mit den unterschiedlichsten Menschen und das dann auch in unterschiedlicher Form, aber letztlich ist mein Anliegen, dass die Sache, die ich für eine Gute halte, auch irgendwann sich durchsetzt. Und natürlich müssen sie Sachverhalte mit einem Elektrofachplaner anders besprechen als mit der Altenpflegerin.« (IV-LF-05: 62–62)
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Vignette: Technische Sprachfähigkeit ermöglicht Kooperation Auffallend war die Veränderung in der Sprache der beteiligten vBS BethelMitarbeiter, die mehr und mehr ganz selbstverständlich technisches Vokabular benutzten. Zusammen mit einem technologischen Grundverständnis auf Seiten der sozialen Professionen und einem sich entwickelnden Verständnis für die Abläufe eines Sozialträgers auf Seiten der Ingenieure konnte eine Kooperation und konstruktive Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen Disziplinen in den Innovationsprojekten beobachtet werden. »Und da gibt es darum, dass wir zum Beispiel Impulswasserzähler verbaut haben, die dann zumindest einmal am Tag, wenn sage ich mal mindestens zehn Liter verbraucht wurden, einen Impuls ausgelöst haben, der wurde dann sozusagen zentral ausgewertet und wenn dann nicht wenigstens einmal am Tag dieser Impuls ausgelöst wurde, die Person sich aber nicht in den Urlaub verabschiedet hatte, dann bestand die Vereinbarung, dass die Pflegeeinrichtung in der Wohnanlage nachgefragt hat konkret bei der Mieterin oder dem Mieter : Ist bei Ihnen alles in Ordnung? Wir haben von Ihnen gar nichts gehört? Also das war sozusagen auch ein erster Schritt […]. Die Auswertung so etwas wie eine Vitalitätsüberwachung. Das andere war, was wir im Pflegebereich auch im Seniorenzentrum [Name] hatten, haben wir zum Beispiel Betten mit Sensorik auch erstmals getestet mit dem Hersteller [Firma]. Also die hatten im Pflegebereich damals hatten die das noch nicht gemacht und wir sind damals auf [Firma], wir haben uns mit [Firma] da verabredet, dass wir das einmal dort auch testen, von daher war BettSensorik dort ein Thema und auch die Möglichkeit sozusagen in das Zimmer hineinzusprechen. Also diese Gegensprechmöglichkeiten mit den Bewohnern, also so ein Systemtelefon haben wir dort auch erstmals getestet […].« (IV-LF-05: 16–16)
So schilderte beispielsweise eine Einrichtungsleitung ihre Erfahrungen mit einem Gespräch, das sie mit den Vertretern unterschiedlicher Technologiefirmen anlässlich eines bisher ungelösten technischen Problems führte. Sie bezeichnet ihren »gesunden Menschenverstand« als einen Schritt zur Lösung, wobei vom Inhalt und Thema des Gesprächs technische Aspekte im Vordergrund standen, die sie mit gewonnener Selbstverständlichkeit nachvollziehen konnte. »Also nicht die verschiedenen Signalisierungsformen, SMS oder Sprachnachricht, sondern alles geht in den Lichtruf. Das ist total genial und das ist auch das, warum das System richtig, richtig gut ist – hat aber alle ausführenden Firmen vor eine Riesenherausforderung gestellt, die es wohl anscheinend in Deutschland auch noch gar nicht so gibt. Das hat zur Folge, dass wir mit vielen Beteiligten sprechen: der Lichtruffirma, der [Firma], der ausführenden Elektrofirma. Die drei und dann gibt es noch den Fachplaner, der eigentlich den Job hat, das Ganze zu bündeln – aber auch nur zum Teil, je nachdem wie die Aufträge vergeben sind. Und von Anfang an war die Tendenz: Bei den Störungen – und wir hatten zahlreiche Störungen – hat der eine gesagt: »Ich war es nicht, das waren die anderen.« Der hat gesagt: »Ich war es auch nicht.« Der war es auch nicht. Und dann haben die zum Teil die wildesten Theorien in den Raum geworfen,
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woran es liegen könnte. Und da war es mir irgendwann hilfreich, wirklich vom reinen gesunden Menschenverstand zu sagen: Schön, was ihr erzählt, aber das kann so nicht sein.« (IV-LF-04: 32–32)
Interpretation Die zunehmende Sprachfähigkeit war einerseits eine der sichtbarsten Veränderungen, die in der Selbstverständlichkeit deutlich wurde, mit der Sozialarbeiter und Einrichtungsleitungen von Binärausgängen, Schnittstellen, Sensoren und Aktoren sprachen. Andererseits war diese zunehmend selbstverständliche Sprachfähigkeit die Voraussetzung für eine interdisziplinäre Kooperation. In Weizsäckers Modell einer »praktischen Information« (vgl. 3.2.2) bewegt sich die Kommunikation nun erheblich seltener am Rande der »vollkommenen Neuheit«. Dadurch ist der rekursive Kommunikationsprozess weniger von gegenseitigen Erwartungsenttäuschungen geprägt; vielmehr gelingt zunehmend ein Entwicklungsprozess, in dem sich gegenseitige Erwartungen und Erwartungserwartungen stabilisieren (vgl. 3.2.2). Aus systemischer Sicht differenziert sich auf diese Weise ein soziales System aus: Kommunikation bildet in einem wechselseitigen, selbstreferentiellen Prozess durch Irritation und Stabilisierung von Erwartungen über Verstehen und Anschlussfähigkeit stabile und doch reversible Strukturen aus, die von der Umwelt unterschieden werden können. Es entsteht ein eigenständiges Innovationssystem, da sinnhaft aufeinander bezogene Kommunikationen ein soziales System konstituieren. In diesem Innovationssystem entwickelt sich eine bisher nicht vorhandene Kombination von Unterscheidungen und Bezeichnungen, die es in dieser Mischung innerhalb eines sozialen Systems nicht gab. Zwar gab es in der ersten und zweiten Phase auch Kommunikation und damit Kommunikationssysteme. In diesen war jedoch die Anwesenheit das konstituierende Merkmal eines Interaktionssystems. Hier nun konstituiert zunehmend Mitgliedschaft in einer Suborganisation das System. Die Mitgliedschaft wird dabei auch durch die Fähigkeit definiert, interdisziplinärer Unterscheidungen und Bezeichnungen miteinander zu kombinieren. Die Mitglieder werden gewissermaßen in ein neues System hineinsozialisiert, sodass eine Form entsteht, die zwischen einfachem Interaktionssystem und eigenständiger Sinngemeinschaft verortet wird. Dieses Innovationssystem ist gekoppelt an die Innovationserwartungen der Umwelt (hier insbesondere der Führung und der Gesamtorganisation), koppelt aber ebenso mit den beteiligten Sinngemeinschaften. Es ist somit ein wesentlicher Ort, an dem auch die darunterliegenden Rationalitäten miteinander gekoppelt werden, weil ohne diese Verbindung der unterschiedlichen Rationalitäten erfolgreiche Innovation unwahrscheinlicher wird. In diesem Sinne ist das Koppeln verschiedener Codes Teil der Systemrationalität des so entstandenen Innovationssystems.
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5.3.2.3 Muster: Gegenseitiges Lernen und neues Wissen entwickeln sich auf der Grenze zwischen den Disziplinen Die Annäherung der unterschiedlichen Professionen in den praxisnahen Erfahrungsräumen, die Fähigkeit, die ›richtigen‹ Fragen zu stellen, die grundlegende Sprachfähigkeit mit und das Verständnis für andere Professionen und Kontexte ermöglichte den Beteiligten im weiteren Verlauf der Projekte ein gegenseitiges Lernen, das häufig zwar als schwierig, letztendlich aber als Voraussetzung für den Erfolg des Projektes angesehen wurde. Dabei war den Beteiligten zu Anfang der Projekte oft nicht bewusst, welches Wissen benötigt werden würde. Vielmehr gingen insbesondere die Technologiepartner davon aus, dass ihre bisherigen Kompetenzen und Erfahrungen ausreichten, während es Mitarbeitern der vBS Bethel schon zu Anfang klar war, dass sie sich auf ein neues Lernfeld würden einlassen müssen. Im weiteren Verlauf wurde deutlich, dass dieses neue Wissen nicht nur im Sinne eines Transfers von der einen auf die andere Seite übertragen wurde, sondern dass es auf der Grenze zwischen den Disziplinen gemeinsam neu entwickelt wurde. Vignette: Wissenstransfer durch Technologiepartner alleine nicht ausreichend In den ersten Gesprächen in einem der Projekte traten Vertreter des Technologiepartners sehr selbstbewusst auf und demonstrierten ihre Erfahrungen im Bereich Assistiver Technologien. Es wurde dadurch der Eindruck vermittelt, dass das benötigte Wissen um Problemlagen und Herausforderungen auf Seiten des Technologiepartners bereits vorhanden wäre und lediglich ein Transfer auf das vorliegende Projekt notwendig sei. »Und da haben viel Firmen zu vollmundig gesagt: Ja, das sagen sie ja immer, das ist ja eh klar. Was die alles können. […] Das ist keine Frage. Kann ich. War dann auch trotzdem schwierig genug.« (IV-LF-08: 44–44) »Erst einmal hat der eloquente Geschäftsführer sowohl den Mitarbeitenden als auch mir das ganz gut plausibel machen können was man denn machen könnte. So. Sehr nachvollziehbar. Mir ist völlig klar, das weiß man dann eben, wenn man länger dabei ist, dass das natürlich Verkäufer sind. […] Aber sie haben uns über ihre Erfahrungen berichtet, sie haben uns das, was sie selber aufgebaut haben […] gezeigt. […] Und die konnten das ganz gut darstellen, was sie bisher verwirklicht haben und das waren dann eben doch 300 Häuser, die sie schon gemacht hatten. Das waren dann Einfamilienhäuser.« (IV-LF-08: 38–38)
Auf Seiten der vBS Bethel hingegen wurde das als eine ›Verkaufssituation‹ empfunden und bereits früh vermutet, dass die praktische Umsetzung am Ende nicht so einfach werden würde. Vielmehr wurde im Projektverlauf deutlich, dass die benötigten Kompetenzen weder beim Technologiepartner noch in der vBS Bethel im ausreichenden Maße vorhanden waren, und nur durch ein Zusam-
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menspiel der unterschiedlichen Disziplinen eine praxisrelevante Lösung entstehen konnte. »Und das waren eigentlich so meine ersten konkreteren Einstiege, dass ich in Sitzungen mit [Firmenname] erst mal so eine Idee davon bekommen habe, wo der Weg hingehen soll, und habe erstaunt zur Kenntnis genommen, dass die das alle miteinander auch nicht wissen […]. Für mich war ziemlich schnell klar, wir wissen eigentlich gar nicht, wo wir hinterher landen. Und wir wissen nicht, was braucht die Praxis wirklich. Und das hat [Firmenname] nicht so gesehen. Teilweise und gerade, wenn es denen ein bisschen kompliziert wurde, haben sie sich auf ihr Pflichtenheft zurückgezogen und haben gesagt, hier, das war doch die beauftragte Leistung, und haben gesagt, damit ist unser Job jetzt auch zu Ende. Also sicherlich hätte in dieser Vertragsgestaltung und Aufgabenübertragung viel Potenzial dafür bestanden, das anders zu machen. Aber da gibt es die nötigen Firmen nicht dazu. Weil ich glaube, die Möglichkeit dazu ist wirklich mehr in Forschungsprojekten. Und darum, glaube ich, war das im Prinzip auch hier so ein kleines Forschungslabor, was wir hier gestaltet haben. Also so wie wir es zumindest als innovativen Prozess gestaltet haben. Auch wir wussten ja vorher nicht, welche Systeme werden wir hinterher haben und was bewährt sich davon. Und da sind wir immer auch noch in der Überprüfung.« (IV-LF-04: 20, 46)
Diese Erkenntnis wurde im Nachhinein als wichtiges Ergebnis des Lernprozesses wahrgenommen, das auch für zukünftige Projekte hilfreich sein würde. »Und beim nächsten Mal stellen wir andere Fragen. Also das ist klar. Da würden wir beim nächsten Mal anders rangehen und ja, die Erfahrung muss man aber dann eben auch mal machen.« (IV-LF-08: 44–44)
Vignette: Neues Wissen wird im Zusammenspiel der Akteure entwickelt In der konkreten Umsetzung in der Praxis kamen somit bald Fragen auf, die so vorher nicht im Raum standen, und die nicht auf Basis des vorhandenen Wissens und der bisher gemachten Erfahrungen beantwortet werden konnten. In der gemeinsamen Bearbeitung dieser Fragen entstand ein Lernprozess für alle Beteiligten. Dieser Prozess war weniger davon geprägt, dass Wissen von einer Disziplin zur anderen übertragen wurde, sondern dadurch, dass zwar jede Seite ihre Kompetenzen einbrachte, das für eine erfolgreiche Entwicklung entscheidende Wissen jedoch erst in der praxisbezogenen Bearbeitung konkreter Fragestellungen entwickelt wurde. »Die Fragen kamen im Tun, und ›Learning bei Doing‹ war das. Aber für alle Beteiligten. Für alle Beteiligten.« (IV-LF-08: 44–44) »Dass es im Prozess eigentlich hinterher andersrum war, dass [Firmenname] mindestens so viel von uns gelernt hat wie wir über Technik und dass eigentlich [Firmenname] jetzt ein Produkt hat, wo die richtig was Vernünftiges damit machen können, das ist denen, glaube ich, in dem ganzen Prozedere gar nicht aufgefallen.« (IVLF-04: 26–26)
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»Dass das in der täglichen Umsetzung manchmal dann doch schwieriger ist, das ist klar […]. So eine Altenhilfeeinrichtung ist schon was anderes als das Einfamilienhaus, wo du dann doch plötzlich im Tun… Die haben viel bei uns gelernt und wir haben auch viel gelernt. Das muss man sagen.« (IV-LF-08: 38–38)
Dabei wurde mit der Zeit beobachtet, dass es den Beteiligten immer besser gelang, die jeweils andere Perspektive zu verstehen. So entwickelten Techniker und Ingenieure ein Verständnis für die ethischen Problemlagen des Technikeinsatzes und die Anforderungen des Pflegealltags, während die Mitarbeiter der vBS Bethel technische Herausforderungen und Zusammenhänge besser einschätzen konnten. »Aber war schon so, dass im Laufe der Projektlaufzeit, so habe ich immer mal wieder Situationen gehabt, wo man wirklich gemerkt hat, dass sozusagen inhaltlich sich beide Bereiche sehr stark angenähert haben, wo jetzt so wir als Sozialwesen im weitesten Sinne irgendwie oft eben diese kritischen Punkte erst einmal hatten und gesagt haben: Och, welche ethischen Fragen sind denn da und was kann da alles passieren und welche Risiken und so und die Wissenschaftler auch gesagt haben: ›Ja, aber man muss ja den Menschen auch die Gelegenheit geben auch so etwas auszuprobieren‹, und so. Und wo man jetzt tatsächlich glaube ich, wenn man jetzt irgendwie sieht wie, wenn ich einen Vortrag zum Beispiel darüber halte, oder Kollegen von der Uni, also ich oft auf die technischen Möglichkeiten inzwischen hinweise und die Kollegen von der Uni dann irgendwie sagen: Na ja und man muss ja auch irgendwie teilhaben und unterstützen.« (IV-LF-03: 20–20) »Wenn man sich länger schon mit Technik beschäftigt, dann weiß man, dass wenn das Thema Schnittstellen genannt wird, dass das immer ein schwieriges Thema ist. Das ist mir natürlich bekannt.« (IV-LF-08: 38–38) »Also das war so, glaube ich, irgendwie die befreiendste Erkenntnis, dass, Technik an sich kann Dinge programmieren, aber Pflege weiß, wie es geht – und wir müssen zusammenkommen […]. Und wenn wir nicht die Dinge so begleitet hätten, […] dann, ja, hätten wir jetzt Technik in den Wänden und nichts Lebbares, Nutzbares, überhaupt gar nichts.« (IV-LF-04: 20–20)
Interpretation Die Entwicklung neuen Wissens geschieht vor dem Hintergrund eines entstehenden neuen Praxisfeldes, das sich dadurch auszeichnet, nicht einfach einer einzelnen Profession zugeordnet werden zu können. Statt »Technik in den Wänden« entsteht etwas »Lebbares, Nutzbares«, das nur durch die Verbindung und im Zwischenraum der Disziplinen entwickelt werden kann. Für dieses neue Praxisfeld ist die Entwicklung neuen Wissens erforderlich. Wissen definiert sich über einen Praxisbezug (vgl. 3.4.2), und nur durch dieses Wissen wird Innovation in der neuen Praxis möglich. Entsprechend wird nachvollziehbar, dass zu Beginn des Innovationsprojektes zwischen den Beteiligten nicht klar war, wel-
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ches Wissen für die Entwicklung funktionierender Technologien notwendig war, da diese Praxis selbst erst entstehen musste. Aus systemischer Sicht ist Wissen die Fähigkeit zur praxisbezogenen Anwendung von Information. Neue Praxis und neues Wissen sind somit aufeinander bezogen und entstehen rekursiv und zirkulär im multirationalen Innovationssystem. 5.3.2.4 Muster: Neue Ideen werden im Zusammenspiel mehrerer Professionen entwickelt Durch den Dialog der Disziplinen mit professionsspezifischem und neu entwickeltem Wissen konnte ein Bearbeitungsmuster beobachtet werden, das es erlaubte, einen gemeinsamen kreativen Prozess in Gang zu setzen. Auf Basis gegenseitiger Sprachfähigkeit, gemeinsamen Lernens und eines konstruktiven, angstfreien Miteinanders wurden neue Ideen entwickelt, die nicht innerhalb einer Disziplin alleine hätten entstehen können. Von den Beteiligten wurde dieses gemeinsame Entwickeln als eigentlicher Kern des interdisziplinären Innovationsprozesses angesehen. Vignette: Gemeinsames Entwickeln fördert neue Ideen Der gemeinsamen Entwicklungsprozess und das gegenseitige Befruchten und Inspirieren wurde von den Beteiligten als besonders wertvoll für die Entstehung neuer Ideen angesehen, da durch das Zusammenspiel der verschiedenen Perspektiven »wirklich richtig was Neues« (IV-LF-03: 88–88) in den Innovationsprojekten beobachtet werden konnte. »Und die größten Chancen, finde ich, sind wirklich in dem gemeinsamen Entwickeln […]. Und das befruchtet sich finde ich schon sehr. Und aber eben, genau, also wirklich das zu nutzen, diese unterschiedlichen Perspektiven um irgendwie gemeinsam dann wirklich richtig was Neues zu entwickeln und eben auch wirklich mit den Perspektiven der Klienten und Klientinnen zusammen.« (IV-LF-03: 88–88)
In diesem Zusammenspiel entstand eine Dynamik konstruktiver Fragen, die Energien für den kreativen Prozess freisetzte. So wurde beispielsweise gezielt in Brainstorming-Workshops gemeinsam nach neuen Anwendungsszenarien für assistive Technologien in den Arbeitsfeldern der vBS Bethel gesucht. »Na ja das andere, sozusagen zum Beispiel […] was dann entstanden ist, basiert zum Beispiel auch auf so auf Brainstorming-Workshops, die wir mit einer Reihe von Kollegen aus Bethel und der Uni gemacht haben. Und in diese Brainstorming-Workshops sind einfach sowohl Erfahrungen aus den Projekten eingeflossen als auch Ideen, die die Leute einfach so hatten, oder Vorstellungen zum Beispiel, die Leute die hier im Bereich Pflege und Betreuung tätig sind so eingebracht haben. Also welche Technologien zum Beispiel könnten man hilfreich sein, in welchen Bereichen bräuchten Leute Hilfe im Alter und sozusagen die Ideen die da gesammelt wurden, sind mit eingeflossen […].
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Und ich glaube schon, dass viele dieser Ideen und diese Energie, die da so reingeflossen ist, eben genau daher kam.« (IV-LF-03: 32–32)
Als eine Idee dieses kreativen Prozesses zwischen den Disziplinen schilderte eine Beteiligte beispielsweise die Idee, eine Arbeitsschutzbrille zu entwickeln, die einen beginnenden Epilepsieanfall über die Augenbewegung erkennen könne. Dadurch wäre es Menschen mit der entsprechenden Diagnose dennoch möglich, in einem metallverarbeitenden Betrieb an Maschinen zu arbeiten, die im Falle eines akuten Epilepsieanfalls abgeschaltet werden könnten, um eine Gefahrensituation zu vermeiden. »Oder aber auch beispielsweise, wir haben ja junge Menschen mit Epilepsie. Die Idee eine Arbeitsschutzbrille zu entwickeln, die im Prinzip epileptische Anfälle registrieren kann, das heißt, wenn sich die Augenbewegung das Muster durchbrochen wird, dass das registriert wird und wenn die an der Maschine arbeiten, wir bilden ja zum Teil Leute aus im Bereich Metall, das heißt, die stehen an der Drehmaschine, dass das praktisch wie eine Arbeitsschutzbrille funktionieren kann. Wenn doch jemand einen kurzen Bewusstseinsverslust sozusagen anleitet. […] Das die Maschine stoppt oder ein akustisches Signal ertönt oder so. Also das wäre was, was natürlich eine tolle Sache wäre und das jetzt so zu realisieren, ist noch mal eine anderen Frage, […] also so wirklich zu gucken auch, wenn so was gelingen könnte, sage ich mal, wäre das natürlich und da gucke ich aus der Perspektive […] für unsere Jugendlichen natürlich, ein Vermittlungshemmnis könne damit abgebaut werden, ne? Also wenn sich jetzt jemand bewirbt mit einer Epilepsie im Hintergrund, in einem Metallberuf vor einer Maschine steht, dann haben natürlich Betriebe zum Teil Vorbehalte. Klar, und wenn man das dadurch, durch so eine Brille dann etwas minimieren könnte […].« (IV-LF-07: 42–42)
Interpretation Indem sich eine neue Praxis und neues Wissen im Innovationssystem entwickeln, entstehen neue Ideen, die so innerhalb einer einzelnen Disziplin nicht möglich gewesen wären. Aus systemischer Sicht reagiert das Innovationssystem mit systemspezifischen Variationen und Selektionen auf wahrgenommene Irritationen. Versteht man beispielsweise die Wahrnehmung fehlender beruflicher Möglichkeiten für Menschen mit Epilepsie als Irritation, entstehen innerhalb des Innovationssystems Variationen, die verschiedene Rationalitäten und Disziplinen miteinander verbinden, und aus denen eine intelligente Arbeitsschutzbrille schließlich als mögliche Idee selektiert wird. Der sozialprofessionellen Sinngemeinschaft alleine hätte diese Variationsmöglichkeit nicht zur Verfügung gestanden, während die technologische Sinngemeinschaft die anfängliche Irritation vermutlich ignoriert hätte. Die neuen Ideen entstehen somit nicht einfach zwischen den Disziplinen, sondern in der Re-Kombination und im Zusammenspiel innerhalb des Innovationssystems, das in diesem Zwischenraum entsteht.
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5.3.2.5 Muster: Mitarbeitende beginnen, sich mit den Innovationsprojekten zu identifizieren Je konkreter in einigen Projekten Ergebnisse sichtbar wurden, umso mehr konnte beobachtet werden, dass auch bisher außenstehende Mitarbeitende begannen, sich stärker mit den Projekten zu identifizieren. Einerseits trug die öffentliche Wahrnehmung und die Anerkennung von außen dazu bei, andererseits die sich einstellenden ersten Erfolge sowie die Möglichkeit, an diesen Erfolgen teilzuhaben. Diese Veränderung wurde von Beteiligten auch bei Mitarbeitenden wahrgenommen, die den Innovationsprojekten anfangs skeptisch und zurückhaltend gegenüberstanden. Die beginnende Identifikation veränderte bei einigen Beteiligten auch das Verhältnis zu Technologiethemen, die nun als Ausweis für ein modernes Unternehmen gesehen wurden, bei dem man gerne arbeitet. Die positive Identifikation mit einzelnen Projekten wurde dadurch wenigstens teilweise auf die Organisation oder Bereiche davon übertragen. Vignette: Anerkennung von außen verändert die Wahrnehmung der Innovationsprojekte In einem der Projekte, das öffentliche Auszeichnungen erhielt, wurde diese Form der Anerkennung als ein wesentlicher Moment der Veränderung in der Haltung und Einstellung bisher außenstehender Mitarbeiter gegenüber dem Projekt wahrgenommen. »Und was auch noch gekommen ist, […] diese vielen Auszeichnungen, die wir auch errungen haben und die nie jetzt … also das war immer eine Auszeichnung fürs [Projekt], aber gleichzeitig haben sich die Mitarbeiter, das haben wir denen auch verkauft, haben sich damit identifiziert und gesagt, wir arbeiten in einem modernen Unternehmen.« (IV-LF-01: 62–62) »Ich glaube, das hat mit der Außenwahrnehmung zu tun. Also wenn der Externe plötzlich sagt, wow, Frau Müller, Sie arbeiten aber für ein innovatives Unternehmen. Da macht sich Frau Müller dann auch irgendwann mal Gedanken. Also damit hat das zu tun.« (IV-LF-09: 30–30)
Vignette: Erfolg und Beteiligung tragen zur Identifikation bei Indem einerseits erste Erfolge und Verbesserungen spürbar wurden, und andererseits Räume für Beteiligung angeboten wurden, erhöhte sich zusammen mit der Anerkennung durch Außenstehende die positive Identifikation von Mitarbeitenden mit den Innovationsprojekten. »Das ist auch so angelegt. Als Netzwerkhub sozusagen für das Unternehmen. Also ich habe die Möglichkeit, das Quartier zu beteiligen. Es gibt eine pensionierte Kunstlehrerin in der Nachbarschaft, die dort ein Angebot platziert. Es gibt auch die Kollegin, die das Angebot platziert im Labor unter gemeinsam zu häkeln mit Kolleginnen, mit
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Kollegen, mit Klientinnen und Klienten. Und das ja, macht sich einfach, also das zeichnet das Projekt aus und das sorgt einfach dafür, dass die Kolleginnen und Kollegen sich damit auch identifizieren können.« (IV-LF-09: 34–34) »Als zum Beispiel wir für nachts den Bewegungsmelder einsetzen konnten und die Nachtwache informiert wurde, wenn Frau Maier sich auf die Bettkante sitzt. Und die Nachtwache sagte, boa, das ist total klasse, ich muss jetzt nicht immer die Sorge haben, steht sie auf, steht sie nicht auf ? Sondern ich weiß, aha, ich gehe rein und ich sehe, sie ist dort. […] Also der Weg dahin, das funktionierende System zu haben, war genauso vielschichtig wie so eine gesamte Organisation, durch die verschiedenen Faktoren. Aber als wir es dann hatten, da haben die Mitarbeiter gesagt, das ist total klasse.« (IVLF-04: 62–62)
Vignette: Positive Identifikation wird auch auf die Organisation übertragen Je sichtbarer sowohl Resultate der Innovationsprojekte als auch deren Anerkennung durch Dritte wurden, umso stärker wurde durch die Beteiligten eine Übertragung dieser positiven Wahrnehmung auf die jeweiligen Organisationsbereiche beobachtet. Nicht nur das einzelne Projekt erschien in diesem Licht attraktiv, sondern diese Attraktivität übertrug sich in Teilen auch auf die Organisation. »Und ich merke jetzt aber wieder […] auch diese ganzen Fragen mit assistiver Technologie, Wohnumfeld und so weiter […], wo ich sage, ja, da können sich hinterher auch Mitarbeiter wieder damit identifizieren oder sagen, ich will zu Bethel, weil dort passiert neben der normalen Arbeit auch so etwas.« (IV-LF-01: 64–64) »Also es war wirklich am Anfang so. Das hat einige dicke Bretter, die wir räumen mussten, um das auch bekannt zu machen und eine gewisse Attraktivität zu vermitteln, auch an die Kolleginnen und Kollegen, die mittlerweile auch wissen, das ist ein Projekt, das sorgt für Furore, das ist ein Innovationsprojekt und das hat auch positiven Transfereffekt auf das Gesamtunternehmen, […] und die Kolleginnen und Kollegen, […] die stecken sich das mittlerweile auch an, das Etikett, zu sagen, wir arbeiten in einem Unternehmen, das quer denkt und das gute Ideen hat. Aber das hat gedauert, ja. Das war ein Prozess, auf jeden Fall.« (IV-LF-09: 28–28) »Und es gibt keinen, Sie können ansprechen, also da lege ich meine Hand dafür ins Feuer, von den […] Mitarbeitern, die wir haben, es gibt keinen, der [das Projekt] nicht kennt und nicht sagt, das ist Teil von uns und das wollen wir auch.« (IV-LF-01: 68–68)
Interpretation Die drei kurzen Vignetten zeigen, wie Anerkennung, Erfolg und die Möglichkeit, durch Beteiligung ein Teil davon zu werden, zur zunehmenden Identifikation der Mitarbeitenden mit den Projekten führen. Waren zu Beginn vor allem kritische Stimmen aus der Mitarbeiterschaft zu vernehmen, führte zum einen die positive Wertung durch Dritte zu einer Reflektion der eigenen Wertungen, indem von außen eine alternative Perspektive herangetragen wurde. In Verbindung mit
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spürbaren Erfolgen in Form von Verbesserungen oder Bereicherungen der alltäglichen Arbeit durch die Resultate der Innovationsprojekte, veränderte sich in der Reflektion zunehmend die Wahrnehmung durch die Mitarbeitenden. Der Organisation gelang es somit an diesen Stellen, das Neue, das zunächst fremd und unbestimmt war, in das Bestehende zu integrieren. Aus den Variationen, die sich in Folge der Irritationen und Verunsicherungen entwickelten, wurden für die Organisation nützliche Konstellationen selektiert und langsam in veränderten Alltagsroutinen stabilisiert. Im sozialen Prozess der Selektion waren dabei einerseits Wertungen von außen relevant, die in die Organisation zurückgespiegelt wurden (also in die Kommunikation gelangten). Andererseits wurden veränderte Praktiken entwickelt, die sich allmählich in neuen Alltagsroutinen stabilisierten. Dadurch wurden die Innovationen in Form veränderter Routinen Teil der Organisation, während die Organisation durch die ermöglichte Beteiligung Teil der Innovationsprozesse wurde. Diese Wechselseitigkeit ermöglichte eine zunehmende Identifizierung (lat.: »Zur Wesenheit machen«) der Organisation mit der Innovation: »Das ist ein Teil von uns und das wollen wir auch« (IV-LF-01: 68–68).
5.3.2.6 Muster: Innovationen werden in multiplen Nutzendimensionen gedacht Stand in den Innovationsprojekten zunächst die Verbindung von Technologie und sozialen Professionen unter Berücksichtigung ethischer Kriterien und der diakonischen Identität der vBS Bethel im Zentrum, rückten im weiteren Verlauf Fragen nach der ökonomischen Nachhaltigkeit und einer möglichen politischen Unterstützung stärker in den Mittelpunkt. Wurde Technologie in erster Linie als Instrument zur Entwicklung innovativer Ideen und neuer Lösungen angesehen, ging es in dieser Betrachtung darum, die unterschiedlichen Referenzsysteme wie Ökonomie und Politik, und damit die mit ihnen gekoppelten Institutionen wie Kommunen und Kostenträger, im Innovationsprozess zu berücksichtigen. Den Beteiligten wurde bewusst, dass ohne die Einbindung dieser Referenzen eine tatsächliche Umsetzung und Diffusion der innovativen Ideen in die Praxis nicht gelingen würde. Dabei wurden verschiedene Ansätze diskutiert, die sich beispielsweise darin unterschieden, ob ein mögliches Geschäftsmodell innerhalb der Refinanzierung durch die Sozialsysteme verortet werden sollte, oder auf alternative Einnahmequellen basieren könnte. In diesem Zuge wurde die Verknüpfung technischer, ethischer, sozialer, politischer und ökonomischer Anforderungen als eine zentrale Herausforderung für den Innovationsprozess angesehen, als »dickes Brett«, das es zu bohren galt. Die Organisation suchte nach einem »mehrdimensionalen Nutzen« (IV-LF-05: 66), mit dem neue Ideen
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einen Mehrwert in unterschiedlichen Logiken entfalten könnten, um Innovationen im Kontext eines Sozialunternehmens zum Erfolg zu führen. Vignette: Mehrere Nutzendimensionen werden verknüpft Zunehmend wurde im Innovationsprozess versucht, unterschiedliche Nutzendimensionen miteinander zu verbinden, d. h. im Rahmen einer Innovation in mehreren Logiken positive Wirkung zu entfalten. Ein Beteiligter unterschied dabei einen »Primärnutzen« mit einem klaren Klientenfokus, beispielsweise in der ambulanten Pflege, und den Mehrwerten, die auch für andere Interessengruppen enthalten sein müssten. »Ich meine, ob Sie es glauben oder nicht, also wenn ein Mensch so lange wie möglich zu Hause leben kann, selbstbestimmt, das ist der größte Nutzen und damit zusammenhängend stellt sich aber auch ein Nutzen für uns als Anbieter ambulanter Leistungen. Wir können sozusagen Pflegebetreuungsleistung, Serviceleistung anbieten und haben natürlich dann als Träger auch einen Nutzen, weil wir diesem Menschen so lange wie möglich in die Lage versetzen können in seiner Wohnung zu bleiben. Das heißt für uns entsteht da auch ein Nutzen. Das ist so. Also letztlich, der Nutzen ist da schon mehrdimensional. Natürlich ist dann auch ein Nutzen da meinetwegen für den Anbieter des technischen Systems, der kann seine Leistung dort auch anbieten und hat dort auch einen Nutzen. […] Also von daher ist es schon, dieses so lange wie möglich selbstständig und selbstbestimmt in seinem eigenen vier Wänden leben ist ja sozusagen der Primärnutzen, aber da hängen natürlich unterschiedliche Interessensgruppen dran, die um das zu ermöglichen, auch selber dadurch einen Nutzen generieren.« (IV-LF-05: 66–66)
Dieses Muster einer Verknüpfung unterschiedlicher Rationalitäten in der Nutzenerwartung im Sinne eines »Sowohl-als-auch« trat immer deutlicher zu Tage und wurde in Verbindungen sichtbar wie Autonomie mit diakonischer Identität, volkswirtschaftliche Aspekte und das sozialpolitische Paradigma »Ambulant vor Stationär« mit dem Klientenwunsch, länger in der eigenen Wohnung zu verbleiben, oder technische und ökonomische Lösungen, die alten Menschen helfen, trotz ihrer »Gebrechen« alt werden zu können. »In der Selbstbestimmung. Also ich finde, dass die Autonomie das ist, was alles miteinander verbindet, nämlich unser Bild davon, wie autonom dürfen Menschen sein in einer Pflegeeinrichtung und welche Form von Autonomie hört auf, nur weil ich in eine Pflegeeinrichtung gehe. Und da finde ich aus der diakonischen Ableitung ganz klare Sprache für viel Autonomie und in der Technik finde ich Systeme, die die Autonomie unterstützen können.« (IV-LF-04: 84–84) »Genau, letztlich gibt es dadurch natürlich auch so eine volkswirtschaftliche Komponente auch, dass jemand der länger zu Hause bleibt, kostet weniger als jemand, der sozusagen stationär zu versorgen ist. Also wenigstens wäre das anzustreben, also solange da keine 24-Stunden-Betreuung erforderlich wird.« (IV-LF-05: 68–68)
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»Das ist schon und das wäre schon ein großer Wunsch, wenn wir sozusagen durch gute technische, und dann hoffentlich auch irgendwann ökonomische Lösungen, Menschen dazu verhelfen können, alt zu werden trotz ihrer Gebrechen. Das wäre schon ein großer Wunsch auf alle Fälle.« (IV-LF-05: 100–100)
Vignette: Tragfähige Geschäftsmodelle werden gesucht Die Notwendigkeit der Verknüpfung verschiedener Nutzendimensionen und die damit einhergehende Komplexität wurde den Beteiligten insbesondere in der Frage tragfähiger Geschäftsmodelle bewusst. Zwar wurde im Laufe der Projekte deutlich, dass Technologie nutzbringend in der Versorgung und Betreuung von Menschen mit Assistenzbedarf eingesetzt werden konnte. Jedoch wurden von vornherein Schwierigkeiten erwartet, diese Lösungen im Rahmen der bisherigen Refinanzierungsstrukturen durch Kostenträger vergütet zu bekommen. Dabei wurde im Wesentlichen die Argumentationslinie verfolgt, dass ein nachweisbarer Klientennutzen durch neue Lösungen auch zu einer Refinanzierung durch Kostenträger führen müsse. »Ich glaube das Bethel als Träger so arbeitet, auch so innovativ, und da vielleicht auch ein bisschen Sperrspitze ist, das wird schon in der Öffentlichkeit bei der Kommune auch schon mit großem Interesse verfolgt und auch anerkannt, aber ich glaube wenn es um die Refinanzierung geht, das ist glaube ich ein Brett, ein sehr dickes Brett, was da noch zu bohren wäre. Das ist so. Aber trotzdem… Ja, wie gesagt, den Punkt würden wir nicht aus den Augen verlieren. Wenn wir sozusagen ein System haben, wo wir auch dann im Prinzip nachhalten können, das durch dieses System dieser oder jener Nutzen, der dann auch messbar wäre, erreicht werden kann, dann würden wir natürlich Gespräche suchen und würden gucken wie können wir da sozusagen auch diesen Nutzen und also, wie kann man das sozusagen auch deutlich machen, wie können wir da auch rüber zu einer Refinanzierung kommen über so eine Argumentationslinie.« (IV-LF-05: 64–64)
Zwar wurde von neuen Geschäftsmodellen gesprochen, die jedoch im Kontext der bisherigen Strukturen des Sozialsystems beispielsweise auf Grund der Versäulung des Systems als schwer zu realisieren wahrgenommen wurden. Auch blieben diese Überlegungen der bisherigen Argumentation verhaftet, dass ein nachweisbarer Nutzen eine Refinanzierung durch Kostenträger ermöglichen müsse. »Das ist genau der Punkt, und dann geht es natürlich im nächsten Schritt darum auch mit potenziellen Kostenträgern ins Gespräch zu kommen, also man könnte ja auch sagen: Okay, im Prinzip so ein Sensorik-System könnte ja auch so ein Hausnotruf 4.0 sein, also da kommt das System eine Hilfsmittelnummer und dann könnte es im Prinzip auch, wenn nicht ganz, aber zumindest teilweise bezuschusst werden. So etwas wäre ja auch denkbar und dann könnte man dann mit einer ortsansässigen Pflegekasse könnte man ja durchaus auch Gespräche führen, ob man auch dort mal so ein Modell durchspielt, also das man dort auch mal so ein Test macht: Wie verhält sich im Prinzip
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so ein Sensorik-System im Vergleich zu einem Hausnotruf, zu einem klassischen. Also von daher, geht da auch unseren Planungen hin, dass wir auch mit potenziellen Kostenträgern ins Gespräch kommen wollen.« (IV-LF-05: 58–58) »Und natürlich wollen wir auch ein Geschäftsmodell entwickeln […]. Und das ist ja bei uns alles versäult, ambulant, stationär, das ist ja alles versäult und wir wollen jetzt mal versuchen, das zu knacken und sozusagen einen Gesamtversorgungsvertrag zu kriegen, der auch ambulante Dienste mit beinhaltet. Warum soll nicht Mutter XY, die Schwierigkeiten hat, mit ihrer Badewanne nicht klar kommt, bei uns in der Einrichtung mal das Bad mit benutzen können. Also quasi das Zentrum für diese Fragen im Quartier zu werden und dazu gehört natürlich auch das Quartier und das ist so meine Vorstellung, oder zumindest meine Vorstellung zu sagen, wir können auch die Wohnungen, die es gibt, dann auch ausstatten mit Technik oder Angebote zumindest machen.« (IV-LF-08: 68–68)
Andererseits wurde überlegt, ein mögliches Geschäftsmodell über weniger personalintensive Dienstleistungen zu realisieren, die durch die Technologieunterstützung möglich gemacht werden könnten. Insbesondere im Wettbewerb mit anderen Anbietern wurden die eigenen, höheren Personalkosten als Nachteil empfunden, der in der Anwendung assistiver Technologien abgemildert werden könnte. Wie genau ein solches Geschäftsmodell unter Berücksichtigung der anderen Logiken aussehen könnte, blieb jedoch weitestgehend unbestimmt. »Aber natürlich kommt dann die Ökonomie dazu und mit den Personalkosten haben wir gerade einen Besuch gemacht, 38.000 Euro die andere für Fachkräfte bezahlen, da sind wir bei 48.000 Euro und dann rechnet sich das einfach nicht mehr. Das muss man einfach so sehen. Und von daher haben wir schon vor Jahren gesagt: Nein, das können wir als diakonischer Träger mit Tarifbindung können wir das nicht so betreiben wie [Firmenname] das macht, mit Scheinselbstständigkeit und allem Pipapo, was dazugehört um das so machen zu können. Ansonsten ist das inhaltlich natürlich gut und richtig. Aber es gibt eben Bedingungen unter denen man das machen kann oder nicht. So. Und das Thema ›assistive Technologien‹ scheint mir ein ganz gutes Thema zu sein, was dann nicht so viel mit den Personalkosten zu tun hat, sodass man das auch noch mal weiterbetreiben kann.« (IV-LF-08: 20–20)
Die Schwierigkeiten, ein ökonomisch nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln, führten auch in den anderen Projekten zu bisher nicht beantworteten Fragen. Unterschiedliche Einnahmequellen wurden dabei erwogen, um möglicherweise eine »Mischkalkulation« zu erreichen, in der strukturelle Defizite möglicher Geschäftsmodelle durch Spenden- oder Stiftungsgelder ausgeglichen werden könnten. »Von daher gehen wir diesen Weg, gucken aber, ob es nicht andere Möglichkeiten gibt, und ich glaube, es wird langfristig auch auf so eine Mischkalkulation hinauslaufen, also ein Part wird sicherlich Fundraising sein, Spendenakquise, Stiftungsgelder, wie auch immer, ein Teil wird sein eigene Erträge über Produkte, über Dienstleistungen, die
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generiert werden und vielleicht gibt es da noch ein paar Projektförderungen oder Eigenmittel des Unternehmens. Muss man dann gucken.« (IV-LF-09: 106–106)
Interpretation In diesem Muster, das in einer späteren Phase zunehmend an Bedeutung gewann, kommt die gesamte Bandbreite der multirationalen Struktur sozialer Unternehmen und ihrer Umwelt zum Tragen. Konnte die Organisation die Innovationsprojekte bis hierher mehr oder weniger »im stillen Kämmerlein« betreiben, wird spätestens mit dem Versuch der Umsetzung in die (refinanzierte) Praxis (und damit der Diffusion in die Umwelt) die Pluralität der verschiedenen Rationalitäten relevant. Die bisher erfolgte Verbindung ethischer und sozialprofessioneller Referenzen mit einer technologischen Logik trifft in der Diffusion (also dann, wenn die Innovationen die Breite getragen werden soll) auf die in der Umwelt dominanten ökonomischen und politisch-administrativen Rationalitäten. Es ist zu beobachten, dass die Organisation bis hierher wesentlich ohne Berücksichtigung der Programmierung ihrer Entscheidungsprozesse durch Ökonomie und Politik entschied. Dies führte dazu, dass einige Beteiligte eine Refinanzierung für schwierig, wenn nicht sogar unmöglich ansahen. Ökonomie spielte im Innovationsprozess fast ausschließlich die Rolle des »Controllers«, weniger die des »Unternehmers«. Es ging somit vornehmlich um die Budgetierung von Innovationsprojekten, sowie Kosten- und Risikovermeidung. Ein unternehmerisches Denken in risk-and-return, tragfähigen Geschäftsmodellen und Business Cases konnte im Innovationsprozess nur gelegentlich wahrgenommen werden. In diesem Sinne waren die Entscheidungprozesse zwar ökonomisch programmiert, aber eben mit einem sehr starken Kostenfokus. Aus unternehmerischer Sicht stellt dies jedoch eine Verkürzung ökonomischen Denkens dar. Ökonomie als Rationalität und zentrales Referenzsystem eines Sozialunternehmens wird somit beschnitten und Innovation als Merkmal einer Entrepreneurship erschwert. Die Ausprägung der ökonomischen Logik unterscheidet sich somit sehr deutlich zwischen einem Sozialunternehmen und dem Verständnis von unternehmerischer Ökonomie in Innovationsprozessen. Ökonomische Rationalität ist somit nur in Teilen in die multirationale Topologie sozialer Unternehmen integriert: eher Controlling als Entrepreneurship. Es wird somit deutlich, dass das multirationale Innovationssystem nicht alle relevanten Rationalitäten gleichermaßen integrieren konnte. Der Schwerpunkt lag offenkundig in der Verbindung technologischer, ethischer und sozialprofessioneller Logiken, während Ökonomie und Politik nur am Rande oder stark verkürzt im Innovationsprozess berücksichtigt wurden. Zwar wird die Notwendigkeit eines multidimensionalen Nutzens erkannt, jedoch gelingt es zu
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diesem Zeitpunkt noch nicht, diese Verknüpfungen in funktionierende Geschäftsmodelle zu integrieren. 5.3.2.7 Muster: Organisationale Strukturen für Innovation werden diskutiert Im Verlauf der unterschiedlichen Projekte wurde auch diskutiert, welche organisationalen Strukturen für Innovationen geeignet sein könnten. Im Vordergrund stand dabei die Frage, ob eher kleinere oder größere Organisationseinheiten (oder eine Kombination aus beiden) innovationsdienlicher sein könnten. Häufig wurde dabei eine Präferenz für kleinere Einheiten geäußert, die flexibler und unabhängiger agieren könnten, um so die unterschiedlichen Interessen und Perspektiven besser berücksichtigen zu können. Während die größere Freiheit und Flexibilität kleinerer Einheiten in der Frühphase eines Innovationsprozesses allgemein Zuspruch fanden, wurde zwischen den Projekten ein Unterschied sichtbar, wenn es um die Ausgestaltung eines funktionierenden Geschäftsmodells ging. Für Ideen, die eher auf alternative Refinanzierungsmodelle abzielten, wurde ein Vorteil in kleineren, schnelleren Einheiten gesehen, während für Lösungen, die im Rahmen der Sozialsysteme finanziert werden sollten, dies bevorzugt innerhalb größerer Organisationseinheiten gedacht wurde. Vignette: Kleine vs. große Organisationseinheiten Teilweise wurde deutliche Skepsis geäußert, ob die vBS Bethel auf Grund ihrer Größe als Konzern in der Lage wäre, die notwendigen Rahmenbedingungen für erfolgreiche Innovation anzubieten. Aus der Erfahrungsperspektive in kleineren Organisationseinheiten wurden dahingehend Zweifel beschrieben, ob durch die Größe und die damit verbundene Vielzahl der Themen, der Komplexität der Entscheidungsprozesse und notwendiger Reglementierungen eine Organisation in Konzerngröße überhaupt nachhaltig innovativ sein könne. »Und ich glaube, das ist genau die Schwierigkeit von Bethel. Es ist viel zu groß, also der gesamte Bereich ist viel zu groß, es gibt viel zu viele Baustellen […]. Es sind eben so viele Sachen, die sich quasi so kannibalisieren irgendwie. Und man kommt da zu nichts.« (IV-LF-01: 94–94)
Kleine, flexiblere Einheiten hingegen könnten aus Sicht von Beteiligten als Forschungs- und Entwicklungsabteilung dienen, die ihre Ergebnisse dann in den Konzern tragen könnten. »Wir waren bei Herrn XY und haben gesagt: ›Bethel fehlt es an Innovation. Ja, [Name] wird deine Forschungs- und Entwicklungsabteilung. Wir arbeiten dann in deinem Auftrag, im eigenen Laden geht das nicht, VW sourct das auch out, kauft sich das von irgendwelchen Agenturen […].‹ Ja, dass so kleine Einheiten, die irgendwie zum Konzern gehören, dass die genutzt werden können für eine Weiterentwicklung dann
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auch im Konzern und im großen Konzern. Das würde ich mir wünschen.« (IV-LF-01: 100–100) »Aber es ist von der Struktur her schon so angelegt, dass man sehr schnell und agil ist. Das mag spezifisch für die IGL sein, ich weiß nicht, wie es zum Beispiel ist bei den Kollegen in Bielefeld, die ja wesentlich größer sind, aber hier macht sich das wirklich bemerkbar, dass sie Wege kurz sind und das wir relativ flexibel reagieren können.« (IVLF-09: 20–20)
Stichworte, die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchten, waren beispielsweise »Zellteilung«, »Ausgründung«, »eigene GmbH« oder auch allgemeiner »eigene Rechtsform«. Dabei ging es in erster Linie um größere Unabhängigkeit von Konzernstrukturen, durch die unternehmerisch denkenden Personen ein inkubatorähnlicher Rahmen zur Entwicklung innovativer Ideen bereitgestellt werden könne. »Das heißt, es müsste hier die Möglichkeit geschaffen sein, irgendwie die nächste Organisation zu gründen, da wieder jemanden zu suchen, der da Spaß daran hat und Interesse daran hat und das auch mit seinen Themen dann auch weiter und aus seiner Erfahrung weitertreibt. Für [Projektname] bräuchte es die eigene Rechtsform, da bin ich relativ sicher, dass man das hinkriegen müsste.« (IV-LF-01: 98–98) »In bin der Meinung, wenn man den ganzen Laden kleiner gemacht hätte, irgendwie statt größer zu machen und dann interessierte Leute jeweils mit der Leitung dann dieser kleinen Einheit beauftragt hätte […]. Ja. Also das, wovon ich überzeugt bin, wenn ein Unternehmen eine gewisse Größe bekommen hat oder das Spektrum an Themen zugenommen hat, so wie es jetzt hier auch […] der Fall ist, dann bin ich der Meinung, muss es eine Zellteilung geben. Also es darf nicht immer größer … weil dann muss ich es durch Struktur reglementieren, weil anders geht es sonst nicht.« (IV-LF-01: 98–98) »Das muss man aber überlegen, wie man auch mit [dem Projekt] umgeht, ob es irgendwann eine eigene Rechtsform bekommt, eine eigene Organisationsform. Das kann man so noch nicht sagen, hängt damit aber auch zusammen.« (IV-LF-09: 108–108)
Auffallend hierbei war, dass die Präferenz für kleinere Einheiten einerseits in Projekten geäußert wurde, an denen bereits unabhängigere Organisationsteile beteiligt waren, die also die Vorzüge dieses Kontextes erfahren hatten, oder in solchen Projekten, die mögliche Geschäftsmodelle jenseits der Refinanzierung durch die Sozialsysteme in Erwägung zogen. In den Projekten, die ein Geschäftsmodell eher im Bereich des etablierten Sozialsystems verorteten, wurde diese Präferenz nicht in gleichem Maße beobachtet.
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Vignette: Aufbau eines Kompetenzzentrums für assistive Technologien wird vorgeschlagen Ein weiteres Beispiel dafür, wie sich die Organisation mit der Frage nach geeigneten Strukturen beschäftigte, wurde in den Überlegungen zu einem Kompetenzzentrum für Assistive Technologien beobachtbar. Wurden bislang entsprechende Projekte lediglich durch die AG Assistive Technologien koordiniert, wurde von Beteiligten der Vorschlag unterbreitet, ein Kompetenzzentrum mit den Schwerpunkten »Erforschung & Entwicklung«, »Einsatz« und »Bildung« zu technischen Assistenzsystemen einzurichten (Dok-AG-15: 2: 77–2: 114). »Zudem fehlt es bisher noch an einem verbindendem Element, das die unterschiedlichen Projekte und auch Anforderungen in den SB/UB zusammenführt, Beratung zur Nutzung von Technologien bietet etc. Darum entstand die Idee eines »Kompetenzzentrums Technische Assistenz«. Bei den Überlegungen wurden erste Finanzierungsmöglichkeiten in den Blick genommen, z. B. über die Eingliederungshilfe, Krankenund Pflegeversicherung oder als Modellprojekt. Es wird angeregt, das Thema »Bildung« bei der Konzeption mit in den Blick zunehmen, z. B. wie können Mitarbeitende mit solchen Systemen umgehen. Wie können Bildungsprozesse durch Technik unterstützt werden etc.« (Dok-AG-15: 2–3)
Das »Kompetenzzentrum Technische Assistenz« sollte somit der Vernetzung der Projekte einerseits, sowie der beteiligten Akteure andererseits dienen. Zudem sollte dort vorhandenes Wissen zu Assistenzsystemen akkumuliert werden, und sowohl für Erforschung und Entwicklung, als auch zum Zweck der Mitarbeiterbildung genutzt werden. Interpretation Die Strukturdiskussion kann als das Ringen der Organisation um die Ausdifferenzierung geeigneter Strukturen für die Entstehung und Verbreitung von Innovationen interpretiert werden. Dabei sind zwei Systeme zu unterscheiden: Einerseits das kleine, flexible »Innovationssystem« mit der neuen Community of Practice, in dem sich neue Praxis, neues Wissen und neue Ideen entwickeln, andererseits das System der Konzernorganisation, das zum einen nach wie vor stärker von Routine geprägt ist, zum anderen jedoch über größere Reichweite und Ressourcen für eine möglich Verbreitung verfügt. Im Diskurs um organisationale Strukturen wird diese Unterscheidung in die Kommunikation eingeführt. Mit kleinen, unabhängigen Organisationseinheiten wird dabei häufig ein Innovationsrahmen für unternehmerisch denkende Personen verbunden, die im Sinne eines Inkubators oder Innovationslabors verstanden werden können, in denen Social Entrepreneure oder Intrapreneure geeignete Bedingungen für ihre Innovationsvorhaben vorfinden. Kürzere Kommunikationswege, flachere Hierarchien und geringere Komplexität durch weniger starke oder ausgeblen-
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dete Sinngemeinschaften sind dabei die Hauptargumente für ein solches Arrangement. Dadurch werden wesentliche Innovationsbarrieren zunächst vermieden (vgl. 2.3.2). Jedoch ist zu erwarten, dass spätestens beim Transfer von Innovationen in die Gesamtorganisation Probleme umso deutlicher sichtbar werden, da die Mutterorganisation nicht im gleichen Maße in den Innovationsprozess eingebunden ist und somit eine Identifizierung mit neuen Ideen und Konzepten erschwert wird. Die notwendige Entscheidungsfähigkeit und Bindekraft müssten anders hergestellt werden, wobei zu erwarten ist, dass die im Vorfeld vermiedenen Innovationsbarrieren in diesem Zuge schließlich doch Wirkung entfalten. Wurden Friktionen mit Ökonomie und Politik bisher begrenzt, werden sie in der Diffusionsphase, in der eine Innovation verbreitet und skaliert werden soll, unvermeidbar. Nur ein tragfähiges Geschäftsmodell ermöglicht Diffusion, und nur die Refinanzierung durch das Sozialsystem erlaubt scheinbar eine Skalierung, die der Größe einer Konzernorganisation entspricht. Zudem können aus systemischer Sicht neue Ideen und Konzepte ohnehin nicht einfach in ein anderes Organisationssystem übertragen werden. Vielmehr entscheidet das »Zielsystem« im Rahmen seiner Selbstorganisation selbst über den Umgang mit der Innovation. Skalierung aus eigener Kraft oder Übertragung in eine größere Organisation: in jedem Fall bleiben Diffusion und Skalierung zentrale Herausforderungen kleiner, unabhängiger Organisationseinheiten, und auch im untersuchten Innovationsprozess war diese Frage zum Zeitpunkt der Untersuchung noch unbeantwortet.
5.3.3 Zwischenfazit In der dritten Phase konnte beobachtet werden, wie die zunehmende Integration sozialprofessioneller, ethischer und technologischer Rationalitäten innerhalb des Innovationsprozesses gelang. Aus der Wahrnehmung eines Bedrohungsund Verdrängungspotenzial durch Technik rückte durch wachsende Kooperation zwischen den Professionen immer stärker das Nutzenpotenzial eines sinnvollen Technologieeinsatzes in den Fokus, sowie die Möglichkeit zur Mitgestaltung der Technik. Ebenfalls wurde eine stärkere Identifizierung der Beteiligten mit dem Innovationsprozess beobachtbar, die sich in Richtung eines Gruppenverständnisses entwickelte. Durch Mitarbeit, interdisziplinäre Kooperation und Sprachfähigkeit, das Arbeiten an neuen Themen und der Aufbau neuen Wissens unterschieden sich die beteiligten Mitarbeiter von weiten Teilen der übrigen Organisation. Aus systemischer Sicht differenziert sich somit nach und nach ein eigenständiges Innovationssubsystem in eben jenem Zwischenraum aus, in den die
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Sinngemeinschaften in der Phase der Reflektion und Transformation eingetreten waren, nachdem sie die ursprüngliche Polarisierung der ersten Phase überwinden konnten. Das Innovationssubsystem bildete dabei eigene Strukturen und Prämissen aus, die in veränderten Unterscheidungen einer ›Community-of-Practice‹ sichtbar wurden. Diese Community operierte vornehmlich nicht mehr mit den Unterscheidungen, die von den beteiligten Sinngemeinschaften importiert würden, und durch welche die Grenzen zwischen den Sinngemeinschaften und Rationalitäten reproduziert wurden (beispielsweise technisch/sozial, Mensch/Technik, ökonomisch/sozial, etc.). Vielmehr bildeten sich Unterscheidungen aus, die nicht auf der Ebene der Rationalitäten zu verorten sind und von den Akzeptanz- und Erfolgskriterien der neuen Community bestimmt wurden. Eben durch diese Verschiebung werden die Kriterien jedoch notwendigerweise selbst multidimensional und multirational, da die Community ansonsten die Legitimation der in ihrer Umwelt nach wie vor vorhandenen Sinngemeinschaften verlieren würde. Sie muss in ihren Unterscheidungen die ›Positivseite‹ der Referenzcodes mitführen, ihre Innovationen müssen somit Menschen dienen, Klienten helfen, technisch funktional, ökonomisch bezahlbar und politisch gewollt sein. Erst dann sind sie ›sinn-voll‹. Indem unterschiedliche Logiken ihren Platz und ihre Bedeutung im Innovationsprozess finden, entwickelt sich das Erfolgskriterium einer Innovation hin zu einem mehrdimensionalen Nutzen: sie muss technisch, sozial und ethisch gleichermaßen ›funktionieren‹. Die in den unterschiedlichen Codes der Referenzsysteme begründete Innovationsparadoxie wird entfaltet, indem sie auf eine andere Ebene gehoben wird, auf der die Unterscheidungen nicht länger konstituierend für eine Sinngemeinschaft sind, und dennoch in den Unterscheidungen der Community ›integriert‹ sind. Sie sind die sinngebenden Subcodes der Unterscheidung ›sinnvoll/nicht-sinnvoll‹. Dabei können die Unterscheidungen nur in und durch ihren Praxisbezug eine Relevanz erlangen. Denn die Einsicht, dass Projekte in der Sozialwirtschaft multiple Kriterien berücksichtigen müssen, ist vor dem Hintergrund ihres pluralistischen Charakters wenig revolutionär. Dass jedoch Innovationen vermutlich nur dann Aussicht auf Erfolg haben, wenn sie in einem (Sub-)System entstehen, das mit einer entsprechend integrierten Unterscheidung operiert und das eine (neue) Praxis zum Gegenstand hat, die durch Verschmelzung unterschiedlichster Professionen und Kodes entsteht, geht über die bisherigen Hypothesen zu Innovation in Sozialunternehmen hinaus. Diese Praxis ist dadurch gekennzeichnet, dass die keiner Sinngemeinschaft singulär zugeordnet werden kann, auch sie entsteht im Zwischenraum zwischen den Disziplinen. Sie entwickelt in der Bearbeitung ihrer Praxis das hierfür erforderliche Wissen der neuen Praxis zwischen den Professionen. Dabei entstehen in der Verknüpfung
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von Wissen und Praxis im Innovationsprozess immer mehr neue Ideen, die charakterisierend für die neue Praxis sind. Die so entstehende Community-of-Practice bietet dabei zunehmend Anknüpfungspunkte zur Identifikation. Indem sich die neue Praxis entwickelt, beginnen die Beteiligten sich zunehmend als Teil der Community zu sehen und sich mit dieser zu identifizieren. So definieren sie Nutzen nicht länger nur aus Sicht einer Sinngemeinschaft, vielmehr beginnen die Mitglieder der neuen Praxis selbst multidimensional, genauer : multirational zu denken. Je mehr sich die neue »Practice« und ihre »Community« co-entwickeln und stabilisieren, umso deutlicher tritt die Frage zu Tage, inwieweit diese in der bestehenden Organisationsform weiterentwickelt werden kann. Anders ausgedrückt: die Community sucht eigene Orte in der Organisation, weshalb eine Diskussion über Organisationsformen und neue Organisationsteile beobachtbar wird. Bis auf die Treffen der AG Assistive Technologien und die zeitlich begrenzten Projektstrukturen existieren in der Organisation keine manifesten Strukturen, in denen das Thema der Assistiven Technologien verortet werden könnte. Vielmehr ist nach wie vor eine starke Verbindung mit bestimmten Personen beobachtbar. Ein weiterer Grund für die Suche nach alternativen Organisationsformen ist in der Frage nach tragfähigen Geschäftsmodellen und damit einer Verbreitung oder Diffusion der Innovationen zu sehen. Die Konzernorganisation wird dabei in Verbindung zu einem auf Refinanzierung durch das Sozialsystem basierenden Geschäftsmodell gesehen, das für Assistive Technologien so jedoch nicht zur Verfügung steht. Entsprechend werden an verschiedenen Stellen kleinere Organisationseinheiten diskutiert, die sich über Mischformen unterschiedlicher Finanzierungsarten tragen könnten. Zugleich erscheint es offenkundig, dass nur ein Geschäftsmodell unter Berücksichtigung einer Refinanzierung durch die Kostenträger über ein Skalierungspotential verfügt, das der Konzernorganisation entspricht, soll die Innovation nicht einfach Leuchtturm- oder Nischenprojekt bleiben. Bemerkenswert ist, dass in dieser Diskussion sichtbar wird, dass eben die beiden Rationalitäten, deren Integration in den Prozess nicht in gleicher Weise vollzogen wurde, nun Barrieren für die Diffusion einer ansonsten gelungenen Innovation produzieren: Ökonomie und Politik.
5.4
Schlussfolgerungen
Die in den vorangegangenen Kapiteln vorgenommene Rekonstruktion des Innovationsprozesses der AG Assistive Technologien in den v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel diente der Beantwortung der Forschungsfrage, wie Sozialunternehmen interdisziplinäre Innovationsprozesse unter Berücksichti-
Schlussfolgerungen
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gung multipler Rationalitäten und den daraus entstehenden Friktionen und Potentialen organisieren. Im Folgenden wird es darum gehen, in einem nächsten Schritt erste Schlussfolgerungen aus den empirischen Ergebnissen zu ziehen. Diese Schlussfolgerungen verbleiben zunächst noch nahe an der Rekonstruktion des Innovationsprozesses und den Interpretationen aus Sicht der Metatheorie. Sie beschreiben, welche zentralen Entwicklungen und Zusammenhänge aus Forscherperspektive unmittelbar aus der Empirie abgeleitet werden können. Sie bilden den Ausgangspunkt für die im darauf folgenden Kapitel 6 dargestellten Implikationen für die Ebene der Gegenstandstheorie und damit für den Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs zu Innovation in Sozialunternehmen und deren Praxis.
5.4.1 Innovation braucht ausreichend Irritationen, angemessene Unsicherheit und bindende Entscheidungen Schauen wir auf den Beginn der Fallstudie, so wird erkennbar, dass ohne die Irritation durch die Kooperationsanfrage der Universität Bielefeld der Innovationprozess vermutlich nicht in dieser Weise begonnen hätte. Es bedurfte der Unterbrechung von Routine und einen Moment der Selbstbeobachtung, um ein Thema wie Technologie aus dem blinden Fleck heraus in den Wahrnehmungsbereich der Organisation zu verschieben. Durch das Kooperationsangebot der Universität Bielefeld wurde eine Entscheidungssituation an die Organisation herangetragen, die nicht länger ignoriert werden konnte. Die Organisation begann dadurch, sich selbst zu beobachten, indem sie wahrnahm, was bisher als relevante Umwelt definiert wurde, und was im Umkehrschluss bisher außerhalb ihrer Wahrnehmung lag. Mit der Entscheidung, die Kooperation mit der Universität (und hier insbesondere CITEC) einzugehen und zugleich die Beteiligung an der Entwicklung technischer Assistenzsysteme als strategisches Ziel in die Fünfjahresplanung des Vorstandes aufzunehmen, nahm die Organisation Technologie als relevantes Thema in den Prozess des Organisierens mit auf. Hierbei zeigte sich, dass unterschiedliche Organisationsmitglieder unterschiedlich auf diese Entscheidung reagierten. Einerseits erhielten Personen, die dieses Thema bereits früher ›unter dem Radar‹ bearbeitet hatten, eine Legitimation und Anknüpfungspunkte für ihre Überlegungen und Aktivitäten. Ihre Beiträge waren nun anschlussfähig zu einer Entscheidung des Vorstandes. Andererseits reagierten weite Teile der Organisation mit Ablehnung und Abwehr auf diese Irritation, die sich in Konflikten und Ängsten äußerten, die somit in die Selbstbeobachtung der Organisation rückten. Diese Phase der Unsicherheit war nicht nur teilweise erwartet worden, aus systemischer Sicht ist sie geradezu notwendig: Nur indem die Organisation ›in Schwingung‹ versetzt wurde, wur-
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den die Entscheidungsbedarfe und Verweisungsüberschüsse erzeugt, die für eine Weiterentwicklung der Organisation erforderlich waren. Durch den Innovationprozess wurde die Organisation mit Entscheidungsbedarf in einem Kontext versorgt, in dem vorher keine Entscheidungen zu treffen waren (Wie sollten technische Assistenzsysteme aus Sicht der Gesamtorganisation bewertet werden, welche Projekte sollten verfolgt werden, welche Organisationsmitglieder sollten mit welchen Aufgaben betraut werden, wie sollte die Kooperation mit der Universität ausgestaltet werden, wie sollten die Projekte finanziert werden, welche Partner sollten eingebunden werden, etc.?). Diese Unsicherheit musste zugleich angemessen sein und benötigte einen Rahmen, damit die ›Schwingungen‹ nicht dazu führten, dass die Organisation ›auseinanderflog‹. Die Organisation konnte und musste nun entscheiden, und die Entscheidungen mussten eine Bindekraft in der Organisation erhalten, um dem Innovationsprozess eine nachhaltige Entwicklung zu ermöglichen. Innovation brauchte ausreichende Irritationen zur Unterbrechung der Routine, angemessene Unsicherheit in Form von Entscheidungsbedarfen und bindende Entscheidungen zur Nachhaltigkeit.
5.4.2 Die Resonanzfähigkeit hängt oft an einzelnen Personen Die Notwendigkeit der Irritation zur Unterbrechung der Routine lenkt unseren Blick auf die Resonanzfähigkeit der Organisation. Es konnte beobachtet werden, dass diese im vorliegenden Fall bezüglich der Technologie häufig lediglich durch einzelne Personen der Organisation zur Verfügung gestellt werden konnte, obwohl das Thema in der Umwelt eine nahezu unübersehbare Relevanz erhalten hatte. Hinzu kam, dass Personen, die sich bereits früher grundsätzlicher mit Technologiethemen beschäftigt hatten, dies weitestgehend ›unter dem Radar‹ getan hatten. Hier war also eine Resonanzfähigkeit einzelner Personen durchaus gegeben. Allerdings verfügten diese nicht über die Macht und Reichweite, um die Organisation zur Bearbeitung der Irritation zu bewegen, um so die Irritation aus dem blinden Fleck in den Wahrnehmungsbereich der Gesamtorganisation zu verschieben. Dies deutet auf eine Barriere zwischen der Resonanzfähigkeit Einzelner und der Entscheidungsfähigkeit auf Ebene der Gesamtorganisation hin. Eine Frage, die sich Organisationen in diesem Zusammenhang stellen müssten, lautet somit, wie sie die Fähigkeit der Resonanz mit der Reichweite bindender Entscheidungen verknüpfen können. Auffallend war zudem, dass der Organisationsteil, der eine technologische Perspektive in die Organisation hätte hineintragen können, im gesamten Innovationsprozess nahezu keine Rolle spielte: die eigene IT. Diese Abwesenheit mag eine Reihe von Gründen haben, die im Rahmen der
Schlussfolgerungen
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Untersuchung nicht zu Tage traten. Allerdings erscheint es offenkundig, dass der Weg technologischer Innovation, ausgehend von der Offenheit und Resonanzfähigkeit der IT gegenüber ihrer (technologischen) Umwelt, über die Verknüpfung technologischer Trends mit der Unternehmensstrategie bis hin zur Entscheidung für eine sinnvolle Ausgestaltung der Technologie im Zusammenhang technischer Assistenzsysteme nicht über die organisationseigene technologische Sinngemeinschaft lief.
5.4.3 Die Diskursfähigkeit braucht Orte in der Organisation, das Vertrauen in die Führung und die Offenheit der Beteiligten Der Rahmen, den eine angemessene Unsicherheit benötigt, konnte in der Fallstudie in den Orten gefunden werden, an denen die Organisation die Konflikte und Friktionen bearbeitete, die durch die Irritation ausgelöst worden waren. Durch die Wahrnehmung (oder Selbstbeobachtung) der Konflikte und Friktionen wurde die Organisation mit weiterer Unsicherheit und weiterem Entscheidungsbedarf versorgt. Da Technologie nun nicht länger im blinden Fleck lag, konnte und musste die Organisation entscheiden, wie mit dem Thema und den entstehenden Irritationen umgegangen werden sollte, welche Position gegenüber technischen Assistenzsystemen eingenommen werden sollte, und wie diese zu bewerten wären. Diesem Entscheidungsprozess und damit der Kommunikation innerhalb der Organisation wurden Räume gegeben, in denen Beteiligte und Betroffene sich in den Entscheidungsprozess einbringen konnten und sich repräsentiert fühlten. Die unterschiedlichen Meinungen und Argumente konnten geäußert, die Veränderungen, Konflikte, Ängste und Sorgen somit beschrieben und reflektiert werden. Hierdurch wurden die letztlich getroffenen Entscheidungen nachvollziehbar. In Diskursräumen wie Fachtagen, Workshops und Informationsveranstaltungen zum Thema Assistive Technologien gelang es somit, der Unsicherheit einen Rahmen zu geben. Dabei spielten die Diskursfähigkeit der Organisation, die Glaubwürdigkeit der Führung und das Vertrauen in die Offenheit des Diskurses eine zentrale Rolle, zumal die Beteiligten im Anfang noch nicht auf konkrete eigene Erfahrungen aus der Praxis laufender Projekte zurückgreifen konnten. Glaubwürdigkeit der Zielsetzungen der Führung und Vertrauen in deren Fähigkeit, Technologie im Sinne der Geschichte und der Identität der Organisation zu entwickeln und einzusetzen, wurden somit zur Grundlage eines gelingenden Diskurses.
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Entfaltung der Innovationsparadoxie eines diakonischen Unternehmens
5.4.4 Die Integrationsfähigkeit unterschiedlicher Sinngemeinschaften in den Innovationsprozess entsteht im ›Zwischenraum‹ Die Integration verschiedener Rationalitäten in den Innovationsprozess kann als die Auflösung der Konflikte und Friktionen gedeutet werden, die durch die Unterschiedlichkeit der Unterscheidungen bedingt sind, die den Rationalitäten zu Grunde liegen. Die in der Fallstudie beobachteten Konfliktlinien und Argumentationen verliefen im Wesentlichen entlang der unterschiedlichen Rationalitäten, insbesondere zwischen ethischen und sozialprofessionellen Positionen einerseits und der in der Nähe einer ökonomischen Rationalität verorteten Technik andererseits. Da aus systemtheoretischer Sicht die konstituierenden Codes der Rationalitäten (Helfen/Nicht-Helfen, Transzendent/Immanent, Funktion/Nicht-Funktion, Zahlung/Nicht-Zahlung, Macht/Opposition, vgl. Kapitel 3.4) nicht auflösbar sind, ohne die funktionale Ausdifferenzierung der Gesellschaft selbst aufzulösen, konnte die Integration nur gelingen, indem sich die Sinngemeinschaften außerhalb der jeweiligen ›Komfortzone‹ ihrer Referenzsysteme bewegten und sich im ›Dazwischen‹ begegneten und kommunizierten. Die Integration erfolgte nicht auf Ebene der Leitunterscheidungen, sondern wurde auf einer Ebene kommunikativ entwickelt, die im unbestimmten Zwischenraum der Sinngemeinschaften lag. Hier wurde entschieden, wie Assistive Technologien gestaltet sein müssten, um für die Gesamtorganisation unter Berücksichtigung multipler Rationalitäten ›sinnvoll‹ zu sein. Das bedeutet, dass ein alleiniger Anspruch einer Rationalität oder Profession auf das Setzen der Kriterien des ›Sinnvollen‹ eine Integration multipler Rationalitäten verhindert hätte. In dieser Deutung bedurfte es den leeren Raum zwischen den Sinngemeinschaften, in dem diese die für eine sinnvolle Innovation benötigten neuen Unterscheidungen entwickelten. Es ist der gleiche Raum, in dem neues Wissen, neue Ideen und eine neue Praxis entstanden, die dem Innovationspotential multirationaler Arrangements entsprechen. Die Entfaltung der Innovationsparadoxie konnte somit nur durch kommunikative Aushandlung alternativer Unterscheidungen im ›Dazwischen‹ der Sinngemeinschaften erfolgen. Die kommunikative Entfaltung setzte somit einen interdisziplinären Dialog und eine multirationale Sprachfähigkeit voraus, die anschlussfähige Kommunikation ermöglichte. Gerade zu Beginn der Innovationsprojekte stellte diese Sprachfähigkeit jedoch mit die größte Herausforderung dar, da sich Kommunikationsbeiträge für das Gegenüber oft im Bereich der »vollkommenen Neuheit« bewegten. Integrationsfähigkeit bedingte somit die Bereitschaft zur Grenzüberschreitung und eine multirationale Sprachfähigkeit der Sinngemeinschaften. In der Fallstudie konnte beobachtet werden, dass insbesondere das Zusammentreffen der Professionen in praxisnahen Projekten einen Ort im ›Zwischenraum‹ darstellte. Die unmittelbar am Prozess beteiligten Sinngemein-
Schlussfolgerungen
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schaften machten die Erfahrung, dass sie in Verbindung mit einer unmittelbaren Praxisnähe einen Zwischenraum betraten, in dem sie nach und nach gemeinsam neue Unterscheidungen, neues Wissen und letztlich eine neue Praxis entwickelten. Dies gelang, obwohl die anfänglichen Differenzen in den Kodes, Kompetenzen und Kulturen der Sinngemeinschaften signifikant waren. Das Zusammenspiel eigener Erfahrungen mit der je anderen Praxis sowie die Möglichkeit, Innovationen aktiv mitzugestalten erleichterte Grenzüberschreitungen jenseits der eigenen Profession und trug signifikant zum Aufbau einer interdisziplinären Sprachfähigkeit bei.
5.4.5 Innovationen brauchen das Wissen einer für die Organisation relevanten Praxis In systemischer Perspektive entsteht Wissen, wenn Informationen in einen Praxiszusammenhang eingebunden werden. Dieses Wissen bildet die Grundlage neuer Ideen und damit von Innovationen. Dabei ist nicht jede Praxis, jedes Wissen und jede Innovation gleich relevant. In der Fallstudie konnte beobachtet werden, dass nicht jedes Projekt eng mit einer für die Organisation relevanten Praxis verbunden war. Insbesondere in Projekten, in denen Finanzierung, Themen und Zielsetzung wesentlich durch den universitären Partner mitbestimmt wurden, fehlte aus Sicht der Organisation häufig eine solche Praxisrelevanz. Dies kann dadurch erklärt werden, dass sich eine relevante Praxis des Wissenschaftsbetriebs von der eines Sozialunternehmens unterscheidet. Wissenschaftsbetrieb zielt auf wissenschaftliche Verwertbarkeit im Sinne einer Publikation und die weitere Akquise von Forschungsgeldern, ein Sozialunternehmen bemisst die Relevanz unter anderem am Klientennutzen. Indem die Praxis, mit der sich im Innovationsprozess akkumulierte Informationen verknüpften, eine wissenschaftliche war, entwickelte sich ein nur im geringeren Ausmaß relevantes Wissen für die eigene Praxis der Organisation. Das Wissen, das im Innovationsprozess entwickelt wurde, entstand im ›Innovationssystem‹ und ist bezogen auf den Gegenstand oder die Praxis, mit der sich das Innovationssystem als ›Community-of-Practice‹ beschäftigte. Aus systemtheoretischer Sicht kann Wissen nicht einfach von einem System in das andere transferiert werden, sondern muss als Information mit der eigenen Praxis verbunden werden. Je weiter die Praxis des Innovationssystems von der der Organisation entfernt ist, umso schwieriger und unwahrscheinlicher ist ein Transfer. Anders ausgedrückt: Projekte, denen eher eine wissenschaftliche Praxis zu Grunde lag, entwickelten entsprechend eher wissenschaftliches Wissen und wissenschaftlich orientierte Innovationen. Projekte, in denen die Organisation
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selbst für Finanzierung, Themen und Zielsetzungen verantwortlich war (beispielsweise im Projekt des Einrichtungsneubaus), wurden als deutlich relevanter für die eigene Praxis wahrgenommen. Zwar wurde richtigerweise aus guten Gründen die Kooperation mit der Universität gesucht; zugleich wurde jedoch damit auch eine Logik in den Innovationsprozess integriert, die für die eigene Praxis und auch für eine spätere Verbreitung der Innovation nur begrenzte Relevanz besaß.
5.4.6 Nicht-integrierte aber relevante Rationalitäten manifestieren sich im Innovationsprozess als Barrieren In der Fallstudie konnte beobachtet werden, wie es durch die Integration ethischer, sozialprofessioneller und technologischer Sinngemeinschaften gelang, einen gemeinsamen Innovationsprozess zu organisieren. Als Ergebnis wurden Innovationen erkennbar, die in den Logiken der beteiligten Sinngemeinschaften keine signifikanten Barrieren mehr vorfanden. Andererseits konnte auch beobachtet werden, dass sich Rationalitäten, die nicht in gleicher Weise integriert wurden oder werden konnten, sich zu einem späteren Zeitpunkt als Innovationsbarrieren manifestierten. Zum einen wurde eine ökonomische Rationalität in erster Linie in der Rolle des Controllings mitgeführt, nicht aber mit einer unternehmerischen Perspektive, beispielsweise in Form einer Geschäftsmodellentwicklung. In dieser Hinsicht wurde mehr oder weniger explizit von einer späteren Refinanzierung durch die Kostenträger ausgegangen. Aus unternehmerischer Perspektive wäre jedoch eine begleitende Entwicklung und Validierung eines Geschäftsmodells (beispielsweise im Sinne eines ›Business Case Prototypings‹) bereits während des Innovationsprozesses sinnvoll gewesen. Allerdings wäre hierfür ein unternehmerischeres Ökonomieverständnis jenseits des Controllings ebenso notwendig gewesen, wie die entsprechende Kompetenz. In der Fallstudie konnte jedoch beides im Innovationsprozess nicht in hinreichendem Ausmaß vorgefunden werden. Zum anderen wurde auch die politisch-administrative Logik nicht in den Innovationsprozess integriert, beispielsweise durch aktive Beteiligung und Begleitung des Prozesses durch Vertreter eines Kostenträgers. Die Diskussion um Refinanzierung und Geschäftsmodell nahm erst Fahrt auf, als schließlich erste Projekte praxistaugliche Resultate hervorbrachten. Dann jedoch wurden ökonomische und politisch-administrative Logiken überwiegend als Innovationsbarrieren wahrgenommen. Ob eine frühere Einbindung möglich gewesen wäre, kann hier nicht beantwortet werden. Allerdings kann der Schluss gezogen werden, dass relevante aber nicht-integrierte Rationalitäten zu Innovationsbarrieren beitragen, da sie einerseits zwar Einfluss auf die Organisation, ihre
Schlussfolgerungen
285
Umwelt und damit auf den Innovationsprozess haben, andererseits jedoch ihre inhärente Logik (und mögliche Handlungsspielräume innerhalb dieser Logik) während des Prozesses unberücksichtigt bleiben.
5.4.7 Innovationsfähigkeit entwickelt sich in latenten Prozessen, weniger über manifeste Strukturen Letztlich wurde mit dem Organisieren des Innovationsprozesses zugleich die Innovationsfähigkeit der Organisation organisiert. Durch größere Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit wurde die Organisation oder Teile davon innovativer. In der Fallstudie konnte beobachtet werden, dass dieser Prozess mit einem überraschend geringen Maß an manifesten Strukturen wie Teams, definierten Prozessen, definierten Rollen, Aufbau- und Ablauforganisation, etc. auskam. Überraschend deshalb, weil die Organisation insgesamt in den Bereichen ihrer Routine eher hierarchisch-bürokratisch erschien, und dies auch im Innovationsprozess seinen Niederschlag fand. Zu den entscheidenden Entwicklungen und zentralen Wendepunkten des Innovationsprozesses trugen manifeste Organisationsstrukturen jedoch wenig bei (und wenn doch, dann eher als Barriere). Innovationsfähigkeit in Form von Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit entwickelte sich vielmehr in den latenten Strukturen und Prozessen. Einerseits weil sich die Organisation häufig darauf beschränkte, Räume statt Strukturen vorzugeben. Diese Räume können entsprechend der sich in ihnen entwickelnden Fähigkeiten auch als Resonanz-, Diskurs- und Integrationsräume bezeichnet werden. Andererseits bewegte sich das Innovationssystem selbst im Zwischenraum der Professionen und Disziplinen, so dass auch hier Strukturen, Prozesse und Methoden der Professionen nicht unhinterfragt übernommen werden konnten. Die Ausgestaltung manifester Strukturen beschränkte sich im Wesentlichen auf die Rahmengebung, beispielsweise in Form der AG Assistive Technologien und der Bereitstellung von Projektstrukturen, in denen sich latente Prozesse entwickeln konnten, die ihre eigenen latenten Strukturen in Form neuer Unterscheidungen ausdifferenzieren konnten. Auch die beteiligten Personen trugen nicht auf Grund ihrer Position oder Aufgabenbeschreibung zur Innovationsfähigkeit bei, sondern auf Grund der ihnen eigenen Resonanz- und Integrationsfähigkeit, die oft mit einem biographischen Muster der Interdisziplinarität verknüpft war. Vor dem Hintergrund der Beobachtung, dass die Konflikte und Friktionen in den Kodes und Kulturen der Sinngemeinschaften begründet waren, die ihrerseits in den latenten Strukturen verortet werden
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können, erscheint es logisch, dass diese Konflikte und Friktionen nicht durch manifeste Strukturen bearbeitet werden konnten.
5.4.8 Zur nachhaltigen Stabilisierung der Innovationsfähigkeit erscheinen manifeste Strukturen sinnvoll Wenn manifeste Strukturen auch nicht im Kern zur Entwicklung der Innovationsfähigkeit beitrugen, so wird doch anhand der Diskussion um geeignete organisationale Strukturen gegen Ende des Untersuchungszeitraums sichtbar, dass die Organisation eine manifeste Stabilisierung der bereits erreichten Innovationsfähigkeit thematisierte. Getragen wurde die Diskussion einerseits von der Sorge, dass die Verortung in bestimmten Personen und den nicht sichtbaren latenten Strukturen nicht ausreichend sein könnte, um das Thema Assistive Technologien und die erreichte Innovationsfähigkeit langfristig über das Ausscheiden entscheidender Personen hinaus in der Organisation zu verankern. Ideen, wie beispielsweise das Kompetenzzentrum Assistive Technologien, können in diesem Sinne verstanden werden. Andererseits wurden bestehende Organisationsstrukturen schließlich in einigen Projekten als Innovationsbarrieren wahrgenommen, die die Weiterentwicklung oder Verbreitung der Innovation hemmen könnten. Der Wunsch nach »Ausgründung« oder »Zellteilung« ist ein Hinweis darauf, dass manifeste Strukturen eben auch Innovationsbarrieren manifestieren können. Sie tragen zur kontinuierlichen Stabilisierung der Organisation bei: Im Hinblick auf Innovation tragen sie somit sowohl zu Strukturen der Innovationsfähigkeit als auch zu Innovationsbarrieren bei. Der Bedarf, manifeste Strukturen der sich entwickelnden Innovation(sfähigkeit) anzupassen, erscheint somit nachvollziehbar. Der umgekehrte Weg, durch manifeste Strukturen Innovationsfähigkeit zu entwickeln, erscheint vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen weniger vielversprechend.
Schlussfolgerungen
5.4.9
287
Zusammenfassung
Möchte man die so gezogenen Schlussfolgerungen pointiert zusammenfassen (und es damit wagen, die Forschungsfrage in einem Satz zu beantworten),776 dann ließe sich folgendes formulieren: Ein diakonisches Unternehmen organisierte einen interdisziplinären Innovationsprozess durch die reflexive Bearbeitung der Multirationalität in Räumen der Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit, um im Zwischenraum der Sinngemeinschaften die Friktionen zwischen den Rationalitäten abzubauen, und um die Innovationspotenziale des multirationalen Arrangements der Organisation und seiner Umwelt für eine relevante Praxis zu aktivieren.
776 Gewagt deshalb, weil die Beantwortung der Forschungsfrage in einem Satz vor dem Hintergrund der Ausführungen in Kapitel 4 eine unzulässige Dekontextualisierung und Verkürzung und damit eine Unterkomplexität zur Folge hätte, da der »rich background« der Fallstudie komplett verloren ginge. Die Antwort auf die Forschungsfrage ist in der Gesamtheit der Rekonstruktion des Innovationsprozesses zu sehen. Die Zusammenfassung in einem Satz soll lediglich Anlass für das Eintauchen in die Fallstudie sein (ähnlich des Klappentextes eines Roman), und die entwickelten zentralen Begrifflichkeiten und Zusammenhänge im Sinne eines Destillats sichtbar machen. Um den Ursprung des Satzes in der konkreten Geschichte einer Fallstudie zu verdeutlichen, wurde die Vergangenheitsform gewählt und der Satz bewusst auf ein diakonisches Unternehmen und einen Innovationsprozess bezogen.
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Ertrag für Theorie und Praxis
Im folgenden Kapitel soll den Implikationen nachgegangen werden, die sich aus der Fallstudie für Theorie und Praxis diakonischer und sozialunternehmerischer Innovation ergeben. Was können somit Wissenschaft und Sozialunternehmen aus der ›kleinen Geschichte der Innovation‹ lernen, die im Rahmen der Rekonstruktion erzählt wurde? Zu diesem Zweck werden die Schlussfolgerungen der Fallstudie wieder mit der Ebene der Gegenstandtheorien sowie der Ebene der Praxis durch die Bildung geeigneter Hypothesen verbunden (vgl. Abbildung 1). – In Kapitel 6.1 wird der Ertrag der Untersuchung für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft dargestellt, die ihrerseits den Diskurs zu Innovationen in Sozialunternehmen in den Blick nimmt. Es wird erstens vorgeschlagen, dass Innovationsphänomene in Sozialunternehmen unter Berücksichtigung der Multirationalität anders zu beschreiben sind, als dies im bisherigen Diskurs geschieht (vgl. 2.2). In dieser Konzeption werden sowohl die Innovationsfähigkeit als auch die Innovationsbarrieren auf die multirationale Charakteristik der Organisationen und ihrer Umwelt zurückgeführt. Zweitens wird für Innovationsbefähiger und Innovationsmodelle im Kontext sozialer Unternehmen eine Kategorisierung und systematische Zusammenführung vorgeschlagen, die im Diskurs bisher nicht vorhanden war (vgl. 2.3). Schließlich wird drittens vor dem Hintergrund der Schlussfolgerungen der Fallstudie eine alternative Deutung zum Verständnis des Spannungsfeldes (vgl. 2.1) in Innovationsprozessen angeboten. – Anschließend wird in Kapitel 6.2 der Ertrag für eine diakonische Unternehmenspraxis dargestellt. Wie in Kapitel 4.1 ausgeführt, geht die vorliegende Arbeit nicht von einer übergeordneten Position der Forschung gegenüber ihres Untersuchungsgegenstandes aus. Vor diesem Hintergrund kann es weniger darum gehen, der Praxis konkrete Handlungsempfehlungen zu geben. Vielmehr werden die bisherigen Schlussfolgerungen und Hypothesen als Reflektionsangebot für die Praxis thesenartig zusammengefasst.
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6.1
Ertrag für Theorie und Praxis
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
Eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft mit einem Schwerpunkt auf Unternehmensdiakonie und Diakoniemanagement, wie sie beispielsweise am Institut für Diakoniemanagement und Diakoniewissenschaft der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel betrieben wird, nimmt die Frage nach Innovationen in diakonischen Unternehmen in ihr wissenschaftliches Programm auf.777 Gerade in diesem Diskurs nimmt sie dabei Quellen in den Blick, die über diakonische Unternehmen hinaus die Sozialwirtschaft und Sozialunternehmen insgesamt zum Gegenstand haben. Gleiches gilt umgekehrt für die Ergebnisse dieser Untersuchung. Sie entstanden im Kontext eines diakonischen Unternehmens, bergen jedoch häufig identische Implikationen für Sozialunternehmen insgesamt. Diese Kongruenz wird als so signifikant angesehen, dass der wissenschaftliche Beitrag in weiten Teilen auf Sozialunternehmen jeglicher Provenienz bezogen werden kann. Wenn wir in der Folge (nachdem wir nun die Ebene der Empirie verlassen, und uns wieder auf der Ebene der Gegenstandstheorien bewegen) wieder von Sozialunternehmen sprechen, so soll damit nicht die Verortung in einer interdisziplinären Diakoniewissenschaft marginalisiert werden, sondern vielmehr deren Anschlussfähigkeit an sozialwirtschaftliche Diskurse betont werden. Dort, wo originäre Beiträge zu diakonischen Unternehmen thematisiert werden, wird dies auch in der Darstellung der Beiträge zum wissenschaftlichen Diskurs entsprechend deutlich gemacht.
6.1.1 Beitrag zu einer Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene Wie in Kapitel 2.4 festgestellt, steht auf der Ebene der Begriffskonzeptionen kein Ansatz zur Verfügung, der sozialunternehmerische Innovationsphänomene hinreichend beschreibt. Die Konzeptionen entlang der Unterscheidungen technisch/sozial und ökonomisch/sozial (vgl. 2.2.2) haben ihren Ursprung in den Abgrenzungsbemühungen gegenüber einem industriell dominierenden Innovationsbegriff, sind jedoch für die betrachteten Organisationen ungeeignet, da sie jeweils wenigstens eine relevante Rationalität sozialer Unternehmen ausschließen (vgl. 2.4.2). Auch die Fallstudie zeigt, dass solche Unterscheidungen eine Integration unterschiedlicher Rationalitäten in den Innovationsprozess geradezu verhindern. Solange Innovation über diese Unterscheidungen theo777 Vgl. Benad/Büscher/Krolzik (2015), S. 24.
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
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retisch konstruiert wird, wird es somit nahezu unmöglich, das spezifische Innovationspotenzial dieser Organisationsform in den Blick zu nehmen. Die Konzeption eines postindustriellen Innovationsbegriffs nach Rammert geht von der gleichen Diagnose dichotomer Begriffskonzeptionen aus und verschiebt daher die konstituierenden Unterscheidungen einer reflexiven Innovation auf die Ebenen der Relationen und Referenzen einer Innovation (vgl. 2.2.3). Wie bereits in Kapitel 2.4.2 ausgeführt, ist dieser Ansatz in der Lage, multiple Rationalitäten zu integrieren. In seiner bisherigen Form ist er auf der Makroebene gesellschaftlicher Funktionssysteme zielführend, und bietet dabei eine dem Gegenstand angemessene Komplexität (im Vergleich zur Unterkomplexität eindimensionaler, dichotomer Innovationsbegriffe). Allerdings macht er keine spezifischen Aussagen über den Prozess des Organisierens der Innovation, da er die Mesoebene der Organisationen unberücksichtigt lässt. Redet man über Innovation in Sozialunternehmen, gehört dieser Aspekt neben einer Berücksichtigung der Multirationalität jedoch zwangsläufig dazu. Eben an dieser Stelle können die Ergebnisse der vorliegenden Arbeit genutzt werden, um diese Lücke zu schließen, da sie Auskunft darüber geben, wie diakonische Unternehmen multirationale Innovationsprozesse organisieren. Im Sinne einer Weiterentwicklung kann der Begriff der reflexiven Innovation genutzt und um eine organisationale Dimension erweitert werden, um so zu einer Konzeption sozialunternehmerischer Innovation zu gelangen. Eine solche Konzeption muss auf der Mesoebene ebenso über ein unterkomplexes Innovationsverständnis hinausgehen, wie es in der reflexiven Innovation in den Relationen und Referenzen geschieht. Vielmehr ist der Versuch einer Struktur aus Kategorien, Begriffen und Zusammenhängen zu unternehmen, die in der Lage sind, multirationale Innovationsphänomene in sozialen Unternehmen zu beschreiben und analytisch zugänglich zu machen. Ausgehend von den Erkenntnissen der Fallstudie können als Überschriften der zentralen Ebenen einer solchen Konzeption die Begriffe Resonanz, Diskurs und Integration vorgeschlagen werden (vgl. 5.4). Auf jeder dieser Ebenen benötigt eine Organisation spezifische Fähigkeiten zur Bearbeitung der Multirationalität (vgl. 5.4.2–5.4.4). Folgen wir den Ergebnissen der Fallstudie, so können diese Fähigkeiten in entsprechenden Räumen entwickelt und entfaltet werden, die in der Organisation vorhanden sind, beziehungsweise geschaffen und gestaltet werden können. Andererseits führt eine Nicht-Bearbeitung der Multirationalität auf jeder Ebene zu spezifischen Innovationsbarrieren (vgl. 5.4.6), die etwas anders zu definieren sind, als die bisher in der Literatur diskutierten (vgl. 2.3.2). Ebene der Resonanz Auf der Ebene der Resonanz erfolgt die Beobachtung der Umwelt durch die Organisation, sowie die Bearbeitung dieser Wahrnehmung in den organisatio-
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Ertrag für Theorie und Praxis
nalen Prozessen. Es werden somit Fragen gestellt wie: Was sieht die Organisation, was sieht sie nicht? Was bringt sie zum ›Schwingen‹? Wie weit breiten sich diese Schwingungen innerhalb der Organisation aus? Welche Trends und Entwicklungen nimmt sie wahr, welche nicht? Was definiert sie für sich als relevante Umwelt, und welche Umwelten ignoriert sie? Wie und durch welche Bereiche oder Mitglieder der Organisation beobachtet sie ihre Umwelt? Reagiert sie reaktiv oder agiert sie vorausschauend? Sucht sie angemessene Irritation und Unsicherheit, oder vermeidet sie jegliches Risiko? Und wie geht die Organisation mit den entstehenden Irritationen und Unsicherheiten um? Die Resonanzfähigkeit einer Organisation zeichnet sich entsprechend dadurch aus, dass die Organisation in der Lage ist, neue Irritationen jenseits ihrer etablierten Routinen und Unterscheidungen zuzulassen, und diese innerhalb der Organisation in Form sinnvoller Information durch organisationales Handeln und Entscheiden zur Unterbrechung der Routine zu nutzen. Eine innovative Organisation nimmt dabei ein breites Spektrum möglicher Umwelten, Rationalitäten und Disziplinen in den Blick und verfügt über eine ausreichende Sprachfähigkeit, um sich in diesen Umwelten zu bewegen und ›umzusehen‹. Als Resonanzräume können in der Organisation dann die Orte bezeichnet werden, an denen solche Fähigkeiten vorhanden sind oder sich entwickeln können. In der Fallstudie dienten der Organisation beispielsweise Personen mit interdisziplinären Biographien, fachfremde Stellenbesetzungen, Möglichkeiten zur persönlichen Technologieerfahrungen oder technologieaffine Mitarbeiterinnen als Orte der Resonanzfähigkeit. Im Umkehrschluss werden Resonanzbarrieren wirksam, wenn die Organisation viable Umwelten ausblendet, nicht über eine ausreichende Sprachfähigkeit verfügt, wenig Gelegenheit zu interdisziplinärem Austausch und zur Erfahrung mit anderen Lebenswelten ermöglicht, oder die Resonanzfähigkeit einzelner Mitarbeiter oder Bereiche nicht in die Entscheidungsprozesse der Organisation gelangt. Ebene der Diskurse Auf der Diskursebene erfolgt die Bearbeitung der Konflikte und Friktionen, die durch die Versorgung mit Unsicherheit im multirationalen Spannungsfeld der Organisation entstehen. Grund hierfür ist das Spektrum erhoffter und befürchteter Wirkungen des Innovationsgegenstands auf das Bestehende. Fragen, die auf dieser Ebene gestellt werden, sind beispielsweise: Gelingt der Organisation ein offener Diskurs um Sorgen und Ängste betroffener Personen? Bietet sie ein verständliches Narrativ an, dass die Unsicherheit in einen größeren Kontext einbettet? Vertrauen die Mitarbeitenden der Führung der Organisation? Verfügt die Organisation über eine glaubwürdige Identität und eine weitestgehend angstfreie Organisationskultur? Bringen die Beteiligten die Offenheit mit,
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konstruktiv über ihre Sorgen und Ängste zu sprechen? Verfügen die Organisation und ihre Mitglieder über eine notwendige Reflektionsfähigkeit? Entsprechend ist die Diskursfähigkeit einer Organisation dadurch gekennzeichnet, dass es ihr gelingt, angesichts von Unsicherheit einen Diskurs in Gang zu setzen, den die Beteiligten als authentisch und glaubwürdig wahrnehmen, und der dazu geeignet ist, Befürchtungen und Konflikte zu reflektieren und im Idealfall zu transformieren. Ein solcher Diskurs benötigt Diskursräume in der Organisation, die die Bedingungen für einen gelingenden Diskurs umfassen. Im Rahmen der Fallstudie konnten solche Räume unter anderem in den Fachtagen, Workshops, Informationsveranstaltungen und der Zusammenstellung häufig gestellter oder erwarteter Fragen mit entsprechenden Antworten als Teil einer Kommunikationsstrategie gesehen werden. Ebenso trug die christliche-diakonische Identität als glaubwürdige Reflektionsebene zum Gelingen des Diskurses bei. Diskursbarrieren können immer dann diagnostiziert werden, wenn ein solcher Diskurs nicht gelingt, weil beispielsweise Misstrauen in der Organisation herrscht, einzelne Rationalitäten einen Dominanzanspruch haben, oder andererseits relevante Rationalitäten gar nicht im Diskurs vorkommen, die Konflikte nicht offen thematisiert oder nicht erwartet werden, Kommunikation nicht ausreichend ermöglicht wird, Informationen nicht bereitgestellt werden, oder schlicht das Ausmaß an Unsicherheit die Diskursfähigkeit der Organisation übersteigt. Ebene der Integration Die Ebene der Integration ist der Ort, an dem das Neue der Innovation im Zwischenraum der Sinngemeinschaften entsteht und mit einer relevanten Praxis verbunden wird.778 Sie repräsentiert somit die andere Seite der Paradoxie, auf der das Innovationspotenzial des multirationalen Arrangements sichtbar wird. Öffnete der Diskurs den Blick für das Spektrum unterschiedlicher Rationalitäten, geht es hier darum, wie sich die unterschiedlichen Sinngemeinschaften in den Innovationsprozess integrieren, und im Zwischenraum neue Ideen, neues Wissen und letztlich eine neue Praxis entstehen. Fragestellungen auf dieser Ebene sind: Verfügen die Sinngemeinschaften über eine gegenseitige, multirationale Sprachfähigkeit? Werden im Zwischenraum der Sinngemeinschaften Kriterien des Sinnvollen unter Berücksichtigung der Logiken der unterschied778 An dieser Stelle ist nochmals der Hinweis angebracht, dass Innovationen, die nicht im Zwischenraum verortet werden können, zwangsläufig einer Profession zuzuordnen sind. Es handelt sich dann natürlich immer noch um eine Innovation, aber eben keine, die auf das spezifische Innovationspotenzial multirationaler Organisationen wie Sozialunternehmen zurückgeführt werden kann. Sie fallen somit nicht unter die hier verwendete Definition sozialunternehmerischer Innovation.
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Ertrag für Theorie und Praxis
lichen Referenzsysteme gefunden? Sind die Sinngemeinschaften in der Lage, sich aus der ›Komfortzone‹ der jeweiligen Referenzsysteme zu bewegen? Entsteht im Zwischenraum ein Innovationssystem mit einem für die Organisation relevanten Praxisbezug? Die Integrationsfähigkeit der Organisation entscheidet sich somit einerseits auf der Ebene der Sinngemeinschaften und deren Fähigkeiten zur Grenzüberschreitung und zur multirationalen Kommunikation.779 In diesem Sinne setzt sie Resonanz- und Diskursfähigkeit voraus. Andererseits umfasst sie auch die Fähigkeit der Sinngemeinschaften, eine relevante Praxis in das entstehende Innovationssystem zu integrieren, genauer : dass sich Innovationssystem und relevante Praxis ko-entwickeln. Integrationsräume zeichnen sich dadurch aus, dass sie Grenzerfahrungen sowie Begegnung und Kommunikation auf Augenhöhe ermöglichen und Anknüpfungspunkte für einen relevanten Praxisbezug anbieten. In der Fallstudie wurde sichtbar, dass solche Integrationsräume insbesondere in konkreten, praxisnahen Projekten entstanden. Das Zusammentreffen auf engem Raum produzierte Grenzerfahrungen, Kommunikationsanlässe und relevante Praxisbezüge, durch die die Sinngemeinschaften gemeinsam neue Unterscheidungen, neues Wissen und letztlich eine neue Praxis entwickelten. Die Innovationen pluralistischer Organisation wie Sozialunternehmen entstehen durch Integration. In diesem Sinne sind Integrationsräume als die eigentlichen Innovationsräume zu verstehen. Sie sind somit auch die Orte, die mit den notwendigen Ressourcen auszustatten sind, und in denen das notwendige Wissen entwickelt wird, damit Innovationsprojekte möglich sind. Im Umkehrschluss können Integrationsbarrieren dort verortet werden, wo Sinngemeinschaften sich nicht auf Augenhöhe begegnen, wo also ein alleiniger Anspruch einer Rationalität oder Profession auf das Setzen der Kriterien des Sinnvollen eine Integration multipler Rationalitäten verhindert, sich in einer Komfortzone eingerichtet wird, Begegnung und Grenzerfahrungen nicht gesucht oder vermieden werden. Auch eine fehlende multirationale Sprachfähigkeit und ein für die Organisation nicht-relevanter Praxisbezug können sich als Integrationsbarrieren manifestieren. Zwar können im letzteren Fall immer noch Sinngemeinschaften zueinander finden, jedoch wird ein relevanter Praxisbezug nicht in das Innovationssystem integriert. Ebenso können auch fehlende Ressourcen oder fehlendes Wissen die Entstehung solcher Integrationsräume verhindern, wenn beispielsweise trotz guter Ideen und Ansätze Innovationsprojekte gar nicht erst realisiert werden können.
779 Hiedurch wird an die Eigenschaft von Innovation als Grenzphänomen angeknüpft (vgl. auch 0).
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
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Versuch einer graphischen Darstellung In Abbildung 9 wird der Versuch einer graphischen Darstellung der bisherigen Ausführungen zu einer theoretischen Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene unternommen. Dabei ist anzumerken, dass die so beschriebenen Ebenen hier zwar deutlich unterschieden werden, sie jedoch nicht voneinander isoliert sind. Auch von der scheinbar linearen Darstellung sollten keine Rückschlüsse auf lineare Zusammenhänge gezogen werden. Vielmehr ist der Innovationsprozess ein zutiefst rekursives und reflexives Geschehen, in dem zu unterschiedlichen Zeiten unterschiedliche Räume aufgesucht werden; aus neuen Fähigkeiten auf der einen Ebene ergeben sich Entwicklungsmöglichkeiten auf anderen Ebenen. Dennoch soll der Versuch unternommen werden. Zum einen, um in der Darstellung die Zusammenhänge der Konzeption zu verdeutlichen; zum anderen, weil anhand einer solchen Darstellung das analytische Potenzial der Konzeption für die Innovationsfähigkeit sozialer Unternehmen angedeutet werden kann. Betrachten wir unterschiedlich innovative Sozialunternehmen vor dem Hintergrund der entwickelten Konzeption, so wird deutlich, dass sich die unterschiedliche Innovativität auf den Ebenen der Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit zeigen muss. Ein weniger innovatives Unternehmen hätte dann ein flaches Innovationsprofil: Es nimmt nur relativ wenig von der Umwelt wahr und erzeugt Veränderungen, die sich nur wenig vom Bestehenden unterscheiden. Entsprechend wenig Konfliktpotenzial entsteht im Spannungsfeld der Rationalitäten, so dass nur eine geringe Diskursfähigkeit notwendig ist. Das Spannungsfeld wird auf Grund des flachen Profils gewissermaßen ›durchtunnelt‹. Es bewegt sich überwiegend im Rahmen der Erwartungen der verschiedenen Sinngemeinschaften, die entsprechend geringe Notwendigkeit verspüren, Grenzen zu überschreiten und sich aus der Komfortzone des Bestehenden heraus zu bewegen. Letztendlich vermeidet eine solche Organisation das multirationale Spannungsfeld und vernachlässigt damit das eigentliche Innovationspotenzial dieser Organisationsform. Eine typische Strategie wäre beispielsweise die Orientierung an einem »Gemacht wird, was (durch Kostenträger) bezahlt wird« (vgl. 2.1.1). Sobald eine solche Organisation sich mit Innovationen beschäftigen möchte, die ihr eigenes Innovationsprofil übersteigen, werden sich höchstwahrscheinlich Innovationsbarrieren manifestieren, die den Innovationsprozess zum Scheitern bringen würden. Hingegen verfügt eine innovative Organisation über ein sehr viel ausgeprägteres, entfaltetes Innovationsprofil: Sie nimmt einen viel größeren Ausschnitt der Umwelt wahr, betrachtet auch Umwelten, die (noch) nicht für sie relevant erscheinen, sucht Irritationen und lässt entstehende Unsicherheiten zu. Sie ist dadurch in der Lage, Innovationen mit deutlichen Unterschieden in den
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Ertrag für Theorie und Praxis
Abbildung 9: Konzeption sozialunternehmerischer Innovationsphänomene
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
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Relationen zum Bestehenden zu entwickeln. Sie verfügt über eine ausgeprägte Diskursfähigkeit, um Konflikte und Friktionen im Spannungsfeld unterschiedlicher Rationalitäten diskursiv zu transformieren. Dadurch ist sie in der Lage, Innovationsgegenstände mit einem viel breiteren Spektrum an möglichen Referenzen in den Blick zu nehmen. Durch die Integrationsfähigkeit ihrer Sinngemeinschaften gelingt es ihr, sich in den Zwischenräumen zu bewegen und dort neues Wissen, neue Ideen und letztlich eine relevante Praxis zu entwickeln. Durch die gelingende Bearbeitung und Integration aller relevanten Rationalitäten werden mögliche Innovationsbarrieren überwiegend abgebaut, so dass eine erfolgreiche Diffusion der Innovation erheblich wahrscheinlicher ist. Eine solche Organisation entfaltet die Innovationsparadoxie der Multirationalität und nutzt das ihr innewohnende Innovationspotenzial. Mit der letzten Ausführung kann auf einen weiteren Zusammenhang geschlossen werden: Die in den Resonanz-, Diskurs- und Integrationsräumen nicht bearbeiteten und nicht berücksichtigten Rationalitäten tauchen mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem späteren Zeitpunkt und an anderer Stelle als Diffusionsbarrieren wieder auf.
6.1.2 Beitrag zu einer Systematisierung sozialunternehmerischer Innovationsmodelle In einem weiteren Beitrag schlägt die vorliegende Arbeit eine Systematisierung vorhandener Innovationsmodelle vor, die im Kontext sozialer Unternehmen zur Steigerung der Innovationsfähigkeit diskutiert werden (vgl. 2.3.3). Wie bereits Schröer diagnostizierte, existiert noch keine zufriedenstellende Kategorisierung dieser Modelle.780 Zu diesem Zweck sollen zunächst die in der empirischen Untersuchung identifizierten Fähigkeiten hinsichtlich Resonanz, Diskurs und Integration mit den aus der Literatur verdichteten Kategorien der Befähiger sozialunternehmerischer Innovation verbunden werden. In Kapitel 2.4.1 wurden diese neben den Grundkategorien der Kompetenzen und Ressourcen in personale, prozessuale, manifeste und latente Kategorien unterschieden. In der Fallstudie wurde erkennbar, dass Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit letztlich auf diese Befähigerkategorien zurückgreifen: Personen wie Prozesse, latente wie auch manifeste Kategorien bilden das ›Rohmaterial‹, aus denen sich die genannten Fähigkeiten gleichsam herausbilden können. Diese vier Kategorien können somit als organisationale Gestaltungsdimensionen verstanden werden. Mögliche Modelle zur Innovationsförderung unterscheiden sich dann darin, welche Schwerpunkte sie entlang dieser 780 Vgl. Schröer (2015).
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Ertrag für Theorie und Praxis
Dimensionen setzen. Dabei wurde in der Fallstudie deutlich, dass einerseits eine Unterscheidung zwischen latenten und manifesten Kategorien bedeutsam war, sowie (offenkundig) zwischen einzelnen Personen und den Prozessen der Organisation. Sie können daher als die jeweiligen Enden einer Gestaltungsdimension verstanden werden. Die erste Dimension, die in anderen Worten so auch bereits von Schröer beschrieben wird, ist die Gegenüberstellung von latenten und manifesten Kategorien. Schröer spricht hier von einem Vorgehen, »das auf das Herstellen von Strukturen, Prozessen und Methoden setzt« im Vergleich zu einem, »das auf informelle Prozesse setzt, auf Informalität und Vernetzung«.781 Manifeste Strukturen sind sichtbar und gestaltbar, beispielsweise in Aufbau-, Ablauforganisation oder Stellenbeschreibungen. Sie sind damit Gegenstand der Kommunikation in Organisationen, und helfen, das Innovationsgeschehen in der Organisation verortbar zu machen. Latente Strukturen sind in der Regel verborgen, nur mittelbar gestaltbar und wie die Grammatik der eigenen Muttersprache kommunikationsleitend, aber meist nicht selbst Gegenstand der Kommunikation. Diese Unterscheidung kann dabei sowohl hinsichtlich der Prozesse einer Organisation als auch des Verhaltens einer Person getroffen werden. In beiden Fällen beschreiben die latenten Strukturen die unbewussten, erlernten Entscheidungs- und Verhaltensmuster und die ihnen zu Grunde liegenden Handlungs- und Begründungslogiken. Die zweite Dimension ergibt sich zwischen den personalen und prozessualen Kategorien. Stehen also Personen und Rollen, wie beispielsweise Promotoren oder ein Social Entrepreneur im Vordergrund, oder werden prozessuale Abläufe wie ein Stage-Gate-Prozess, ein klassisch-linearer Prozess oder generell soziale Prozesse in den Fokus genommen. Die Zusammenhänge zwischen beiden Paaren zeigen somit, dass sie das Spektrum der jeweils anderen Dimension näher beschreiben können. Prozesse können sowohl manifester als auch latenter Natur sein, latente und manifeste Strukturen sind in Prozessen ebenso zu verorten wie in Persönlichkeiten, Personen und Rollen. Daraus kann geschlossen werden, dass die Gestaltungsdimensionen orthogonal zueinander angeordnet werden können. Die beiden Dimensionen können somit als Achsen eines »Koordinatensystems« verstanden werden, in dem unterschiedliche Modelle der Innovationsförderung eingetragen werden können. Diese Modelle wurden in Kapitel 2.4.1 in lineare und Promotorenmodelle, systemische Modelle, Social Entrepreneurship und Inkubatorenmodelle unterschieden. Unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Schwerpunktlegung auf bestimmte Befähigerkategorien können sie im beschriebenen Koordinatensystem 781 Vgl. Schröer (2015).
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
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Abbildung 10: Systematisierung Innovationsbefähiger und -modelle
verortet werden (vgl. Abbildung 10). Entsprechend dieser Darstellung legen lineare Modelle einen Schwerpunkt auf definierte und dokumentierte (und damit manifeste) Prozesse und Strukturen, die Arbeitsteilung und Abläufe beschreiben (vgl. 2.3.3). Promotorenmodelle rücken die benannten (und damit manifesten) Rollen und Funktionen von Personen ins Zentrum, denen die Funktion von Macht-, Fach-, Prozess- oder Dynamikpromotoren zugewiesen wird. Systemische Modelle zielen auf die latenten, sozialen Prozesse, die auch Kulturen oder Handlungs- und Begründungslogiken bestimmen, während sich der Ansatz des Social Entrepreneurs an der unternehmerischen Persönlichkeit und dem »Charisma« eines Sozialunternehmers orientiert, während Inkubatoren diesen Personen einen Kontext bereitstellen, in dem Strukturen, Prozess, Rollen, Funktionen und Kultur auf optimale Innovationsbedingungen hin ausgelegt sind. Sie kombinieren somit Elemente der verschiedenen Dimensionen in einem dezidierten Innovationskontext. Entsprechend attraktiv erscheinen letztere aktuell in Theorie und Praxis. Dennoch weist die vorliegende Arbeit auf einen Schwachpunkt vieler Inkubatoren hin: Es werden häufig nicht alle relevanten Rationalitäten berücksichtigt. Letztlich kann auch in der Fallstudie ein inkubatorischer Kontext gesehen werden, in dessen kleinerem Rahmen die Integration unterschiedlicher Rationalitäten erfolgt. Aber ebenso wie in vielen anderen Inkubatorbeispielen konnten auch hier nicht alle relevanten Rationalitäten integriert werden, was schließlich zu Diffusionsbarrieren führte, wie sie auch im Kontext vieler Social Entrepreneure und Inkubatoren zu finden sind (vgl. 2.3.3). Folgt man dieser
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Ertrag für Theorie und Praxis
Argumentation, so sollten Inkubatorenmodelle stärker darauf abzielen, in ihrer Ausgestaltung möglichst alle relevanten Rationalitäten zu berücksichtigen. Aus der empirischen Untersuchung lassen sich zudem weitere Schlüsse über Merkmale und Zusammenhänge der verschiedenen Modelle ziehen. In der Fallstudie konnte gezeigt werden, dass sich die Innovationsfähigkeit der Organisation in erster Linie in latenten Prozessen entwickelte (vgl. 5.4.). Personen trugen weniger durch ihre Rollen und Funktionen dazu bei, sondern vor allem durch Einbringung ihrer oft multirationalen Erfahrungshorizonte, sowie durch ihr eigenes innovatives und unternehmerisches Denken und Handeln. Manifeste Strukturen und Rollen rückten hingegen in den Blick, wenn diskutiert wurde, wie die erreichte Innovationsfähigkeit zu stabilisieren sei. Die Fallstudie legt somit den Schluss nahe, dass auf Latenz abzielende Modelle eher der Entwicklung von Innovationsfähigkeit dienen können, während manifeste Strukturen und Rollen zur Stabilisierung sinnvoll sein können. Ansätze, die die Latenz der Organisation in den Blick nehmen, scheinen somit eher in der Lage, die ebenfalls in der Latenz gründenden Barrieren, Konflikte und Friktionen zwischen Rationalitäten und Sinngemeinschaften zu bearbeiten, während sich manifeste Modelle vor einem solchen Hintergrund auf ein »rearranging the deck chairs on the Titanic« zu beschränken scheinen. Die Imitation äußerer Merkmale wie Aufbaustrukturen, Rollenbeschreibungen oder Stage-Gate-Prozesse führt eher zur Selbsttäuschung über die eigene Innovativität, wenn sie nicht authentisch der eigenen Organisation entspringen. Anders als in der von Schröer vorgeschlagenen Systematisierung wird an dieser Stelle nicht zwischen innerhalb und außerhalb der Organisation unterschieden.782 Bei genauerer Betrachtung entspräche dies der Unterscheidung zwischen einer open innovation und einer closed innovation, wie Chesbrough sie beschreibt.783 Die Kontexte der Umwelt mit ihren für die Organisation relevanten Institutionen, sowie die Rolle des Menschen mit Assistenzbedarf als Akteur und Adressatin sozialunternehmerischer Innovation führen jedoch notwendigerweise zu einer open innovation, weshalb die Unterscheidung zwischen innerhalb und außerhalb kein charakteristisches Merkmal sozialunternehmerischer Innovationsmodelle darstellt. Ein Sozialunternehmen, das ›im stillen Kämmerlein‹ signifikante Innovationen hervorbringt, ist aus unserer Sicht ein höchst unwahrscheinliches Phänomen. Betrachten wir zudem die Diskussion um ein postindustrielles Innovationsparadigma (vgl. 2.2.3), so ist soziale Vernetzheit zwangsläufig ein Merkmal der Innovation, das nicht an der Organisationsgrenze endet.
782 Vgl. Schröer (2015). 783 Vgl. Chesbrough (2003), S. 21ff.
Ertrag für eine interdisziplinäre Diakoniewissenschaft
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6.1.3 Beitrag zu einem Verständnis der Spannungsfelder sozialunternehmerischer Innovation Einer der Ausgangspunkte der Arbeit war die Vorortung des Innovationsgeschehens in den multirationalen Spannungsfeldern der Sozialunternehmen (vgl. 2.1), die durch die Sinngemeinschaften, die sich auf Basis je einer Rationalität als Handlungs- und Begründungslogik konstituieren, in die Organisation gespiegelt werden. Sinngemeinschaften konstruieren also in dieser Sicht ihre eigene Realität, weshalb in der Folge eine konstruktivistische Metatheorie zur Untersuchung dieser Zusammenhänge eingeführt wurde. Mit Hilfe der Systemtheorie und einer systemischen Organisationstheorie konnte so ein stabiles und hinreichend komplexes Theoriefundament für die Betrachtung multirationaler Innovationsprozesse bereitgestellt werden, das eine konsistente Interpretation von Multirationalität bietet und mit einer systemtheoretischen Ausgestaltung des Innovationsbegriffs angereichert wurde. Zudem wurde durch die systemtheoretische Betrachtung verdeutlicht, wie die Leitunterscheidungen in die Entscheidungsprozesse der Organisation gelangen, und wie ausdifferenzierte und stabilisierte Unterscheidungen und Erwartungen die Sinngemeinschaften konstituieren. In dieser theoretischen Perspektive sind diese Unterscheidungen und Erwartungen zwar stabil, jedoch sind sie nicht statisch. Vielmehr können Sinngmeinschaften als soziale Systeme ihre Unterscheidungen und Erwartungen re-aktualisieren, oder eben auch nicht, je nachdem wie und welche Umwelten das System wahrnimmt. Dadurch wird erklärbar, dass in der Interaktion der Sinngemeinschaften in den Spannungsfeldern Unterscheidungen und Erwartungen verschoben und verändert werden können, beispielsweise durch Begegnung mit anderen Lebenswelten, Grenzerfahrungen, Sprach- und Wissensentwicklung. Dadurch (und dies wird in der Fallstudie erkennbar) werden die Zwischenräume, die bisher in der Literatur nahezu ausschließlich als konfliktreiche Spannungsfelder charakterisiert werden, auch zu Spielräumen.784 Sie sind auch der Ort des sozialunternehmerischen Innovationspotenzials. In dieser Deutung will der Zwischenraum ›bespielt‹ und nicht bekämpft werden. Das Spannungsfeld der Umwelt wird zur Ressource für Innovationen, oder zum Möglichkeitsund Entwicklungsraum,785 wie Rüegg-Stürm et al. es im neuen St. Galler Management-Modell nennen. Die Organisation muss diesen Raum für sich entwickeln und hegen: »Mit anderen Worten muss die Welt immer wieder neu zu einer 784 Oder wenn schon Spannungsfeld, dann eines in elektrotechnischer Interpretation, in dem in der Spannung zwischen den Polen das eigentliche Potenzial zur sinnvollen Umwandlung der Energie in nutzbare Zustände wie Licht, Wärme und Bewegung zu finden ist. 785 Vgl. (Rüegg-Stürm/Grand (2013), S. 6).
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Ertrag für Theorie und Praxis
passenden Umwelt, zu einer wertvollen Ressource für die Gegenwart und Zukunft der Organisation verfertigt werden«.786 Einen leicht ersichtlichen Anknüpfungspunkt für diesen Möglichkeits- oder Spielraum könnte man in der instrumentellen Rationalität der Technologie finden. Sie baut aus ihrer Sicht nicht in gleichem Maße einen Konflikt zu anderen Rationalitäten auf. Man könnte sagen, Technik will nur spielen, nur funktionieren, nur Ressource oder Möglichkeit sein. Sie löst auf Ebene der Leitunterscheidungen keine direkten Konflikte aus, sondern nur im Zusammenhang ihrer Verortung, beispielsweise als Instrument der Ökonomie. Das bedeutet nicht, dass Technologie spannungsfrei ist. Aber da sie nur spielen will, besteht die Möglichkeit, dass sie auch mit anderen Rationalitäten zusammenspielen oder für sie Ressource sein kann (vgl. 2.1.3). Nun ist das Zusammentreffen mit anderen Rationalitäten nicht immer ganz so spannungsarm, aber in der Fallstudie deutete sich an, dass sich die Suche nach Spielräumen in und zwischen den Sinngemeinschaften lohnen könnte, um praxisnahe neue Ideen, neues Wissen und damit Innovationen und eine relevante Praxis zu entwickeln. Bei allen Konflikten und Herausforderungen lädt diese Perspektive somit zu einer ressourcen-orientierten und weniger zu einer defizitbehafteten Betrachtung des Zwischenraums ein. Es lohnt demnach nicht, sich darüber aufzuregen, dass Politik politisch, Ökonomie ökonomisch, Ethik ethisch und Sozialprofessionen sozial im Sinne von helfend sind. ›Spannend‹ ist vielmehr, was möglich wird, wenn es gelingt, sie zusammenzubringen und zu integrieren. Die Technologie, um bei diesem Beispiel zu bleiben, operiert im Kern nicht mit diesen Unterscheidungen, weshalb ihr die Integration letztlich leichter fällt, sie jedoch zugleich auch immer der Einbettung in einen Kontext bedarf. Die Nicht-Festlegung auf eine der genannten Kategorien Politik, Ethik, Ökonomie, Sozialprofession oder Technologie könnte in etwas gewagter Parallele auch im Zusammenhang mit der Multidiskursivität der Theologie vermutet werden (vgl. 2.1.2). Auch ›gute‹ Theologie bewegt sich auf einer Ebene der Unterscheidungen, die jenseits des oft Gewohnten liegt. Auf dieser Ebene können Gegensätze aufgelöst werden: »Da ist nicht mehr Grieche oder Jude, Beschnittener oder Unbeschnittener, Nichtgrieche, Skythe, Sklave, Freier, sondern alles und in allen Christus« (Kol. 3,11). Oder sehr frei auf unsere Fallstudie übertragen: Da ist nicht Theologin, nicht Ingenieur, Ökonomin oder Sozialarbeiter, sondern alles und in allen Diakonie. Eine so verstandene diakonische Identität könnte ein spannendes Feld sein. Dieses Potenzial der Theologie konnte in der Fallstudie jedoch nur am Rande wahrgenommen werden, beispielsweise wenn die diakonische Identität als Reflektionsebene sichtbar wurde. Zwar wurde sie in der Regel primär mit einer 786 (Rüegg-Stürm/Grand (2013), S. 6).
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
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ethischen Dimension versehen, dennoch wurde zwischen den Zeilen eine weiterreichende Verbundenheit spürbar. Ob und wie eine Theologie in der Lage sein könnte, das ihr innewohnende integrierende Potential in der Praxis fruchtbar zu machen, ist möglicherweise schwierig zu beantworten, und nicht Teil dieser Arbeit.
6.2
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
Zunächst sei noch einmal betont, dass die vorliegende Arbeit mit ihrer zu Grunde liegenden epistemologischen Grundposition keinen Anspruch erhebt (und auch nicht erheben kann), für die Praxis diakonischer Unternehmen allgemeingültige Aussagen im Sinne konkreter Handlungsempfehlungen zu machen.787 Was für ein System relevant ist, entscheidet immer das System selbst. Letztlich entsteht der Ertrag für die Praxis durch die Rezeption der Untersuchung durch die Praxis. Dennoch lassen sich aus den Schlussfolgerungen der Fallstudie Themen und Felder benennen, die eine Organisation in den Blick nehmen kann, wenn sie sich mit ihrer eigenen Innovationsfähigkeit beschäftigen möchte. Es geht somit in der Folge darum, die Schlussfolgerungen der Fallstudie thesenartig als Reflektionsangebot für die Praxis zusammenzufassen.
6.2.1 Innovation und Innovationsfähigkeit als strategische Aufgaben begreifen Die erste These lautet, dass Innovation und Innovationsfähigkeit als strategische Themen und damit als Aufgabe des Managements zu begreifen sind. Die Führung muss für sich und andere die Frage beantworten, ob, wo und wie das Sozialunternehmen innovativ sein will. Sie muss somit ein klares und glaubwürdiges Signal senden, dass Innovationen gewollt und unterstützt werden. In der Fallstudie war die Entscheidung des Vorstandes, die Mitentwicklung technischer Assistenzsysteme in die strategische Planung aufzunehmen, ein zentraler Wendepunkt zu Beginn des Innovationsprozesses (vgl. 5.1.2.3). Die Organisation verfügte zwar bereits in verschiedenen Bereichen über Innovationspotenzial und Ideen im Bereich assistiver Technologien. Diese waren jedoch häufig isoliert und verfügten nicht über die erforderlichen Ressourcen. Ohne die Legitimation durch die strategische Entscheidung des Vorstandes wären die in der Organisation vorhandenen Innovationsansätze nicht in gleicher Weise 787 Unter einem konstruktivisischen Paradigma wird man als Forscher bescheiden. Vielleicht hat sich die Systemtheorie in Wissenschaft und Praxis auch deshalb oft nicht durchsetzen können.
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Ertrag für Theorie und Praxis
aufgegriffen und mit notwendigen Ressourcen ausgestattet worden. Die Entscheidung erzeugte einen sichtbaren Rahmen für das vorhandene Innovationspotenzial. Erst dadurch konnte es auf eine neue Ebene gehoben werden. Durch die Festschreibung als Unternehmensziel wurde einerseits das Thema assistive Technologien als Innovationsgegenstand der Organisation markiert. Sie wurde somit zur mindful deviation und artifiziellen Abweichung (vgl. 3.4.2). Andererseits wurde durch diese Abweichung eine Differenz zur bisherigen Routine aufgebaut, die eine Selbstbeobachtung des Systems in Gang setzte (vgl. 5.1), indem diese Differenz in die Kommunikation des Systems wiedereingeführt wurde. Innovation in Sozialunternehmen braucht zu Anfang die Markierung und die Legitimation als Abweichung, um die oft ausgeprägte Routine zu unterbrechen. Es ist somit eine zentrale Aufgabe des Managements zu entscheiden, ob Innovation zum strategischen Programm des Sozialunternehmens gehören soll und in welchen Bereichen und auf welchen Ebenen der Organisation Differenzen erzeugt werden können und sollen – an welchen Stellen und auf welchen Wegen die Organisation ihre bekannten Räume also verlassen kann und will. Ohne strategische Entscheidung und damit sichtbare Intention (vgl. 3.4.2) bleibt das Innovationsgeschehen höchstwahrscheinlich fragmentarisch, und ›unter dem Radar‹ und auf evolutionäre Phänomene beschränkt.
6.2.2 Die Organisation angemessen mit Unsicherheit versorgen Die Fallstudie zeigte, dass eben durch die Verunsicherung der Organisation durch die Entscheidung des Vorstandes ein Innovationsprozess in Gang gesetzt wurde. Sie produzierte in der Folge weitere Irritationen, die nicht im Rahmen der bisherigen Routine bearbeitet werden konnten und somit Spannungen und Konflikte erzeugten (vgl. 5.1.2.4, 5.1.2.5 und 5.1.2.6). Zugleich war die Vorstandsentscheidung die Voraussetzung dafür, dass die Organisation auf diese Verunsicherung nicht mit Vermeidung oder Ignorieren der Irritation reagieren konnte, wie es im Vorfeld der Entscheidung beobachtet werden konnte (vgl. 5.1.2.1). Sie wurde somit in die Selbstbeobachtung des Systems gebracht und musste wahrgenommen und damit bearbeitet werden. Erst dadurch wurde die Routine unterbrochen, und der Innovationsprozess konnte sich entwickeln. Neben der Aufnahme technologischer Themen in die strategische Planung konnte diese Dynamik auch im Zusammenhang mit der Entscheidung für eine Kooperation mit der Universität Bielefeld oder durch fachfremde Stellenbesetzungen beobachtet werden (vgl. 5.1.2.3). Auch hier wurden Differenzen zur Routine erzeugt, die den weiteren Innovationsprozess erst ermöglichten. Innovationsprozesse brauchen somit ausreichende Irritationen und damit
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
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ein angemessenes Maß an Unsicherheit (vgl. 3.4.2). Werden fortlaufend bestehende Erwartungen bestätigt, oder wird diese Bestätigung fortlaufend gesucht, ist Veränderung und damit Innovation höchst unwahrscheinlich. Jedes System braucht zwingend die Irritation zur Weiterentwicklung. Zugleich erwartet jedoch jedes System die Bestätigung seiner Erwartungen und verfügt bisweilen über die ausgeprägte Fähigkeit, alles andere zu ignorieren. Auch dies ließ sich in der Fallstudie beobachten. Damit kommt dem Management eines Sozialunternehmens nicht nur die Aufgabe zu, durch Entscheiden Unsicherheit zu absorbieren, sondern auch die für Innovation erheblich wichtigere Aufgabe, die Organisation angemessen mit Unsicherheit zu versorgen,788 und sie zum Verlassen bekannter Räume anzuregen und zu ermutigen. Führung und Organisation müssen somit akzeptieren, dass Innovationen unter den Bedingungen der Routine nicht entstehen können. Innovation braucht die Unterbrechung der Routine, bevor sie ihrerseits die Routine unterbrechen kann. Angemessenheit bedeutet dann in diesem Zusammenhang, dass die Organisation herausgefordert aber nicht überfordert wird. Angemessene Unsicherheit oder Differenzen sind dann solche, die es der Organisation ermöglichen, Schritte in Richtung des Neuen (also einer Innovation) zu machen, und sie nicht vor lauter Angst ›wegrennen‹ lassen.
6.2.3 Differenzen als konstruktive Bedingung sozialunternehmerischer Innovation akzeptieren Die Versorgung mit Unsicherheit kann dabei mit der Erzeugung von Differenzen gleichgesetzt werden: Indem das System »seine Identität verlässt«, wie Bergmann et al. es bezeichnen,789 versorgt es sich mit Differenzen, die einen Unterschied zur bisherigen Routine erzeugen. Differenzen sind somit nichts destruktives, vielmehr werden sie zur konstruktiven Bedingung der Innovation. Dies gilt insbesondere für Sozialunternehmen als pluralistische Organisationen.790 Die Innovationen dieser Organisationen sind ebenso wie ihre Innovationsfähigkeit in den Zwischenräumen der Logiken und Professionen zu verorten (vgl. 5.4.4). Sie sind somit nicht nur durch die Differenz zur Routine zu beschreiben, sondern tragen die Unterschiede der Rationalitäten in ihrem Kern mit sich. Differenzen sind somit nicht einfach auszuhalten oder auszublenden,
788 Vgl. Rüegg-Stürm/Grand (2014), S. 129ff. 789 Bergmann/Daub (2006), S. 123. 790 Vgl. z.b. auch Höver (2013), S. 300.
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Ertrag für Theorie und Praxis
sondern vielmehr als notwendige Bedingung für sozialunternehmerische Innovation zu begreifen. Solange beispielsweise eine Sinngemeinschaft sich nur in den ihr bekannten Räumen bewegt, wird sie bestenfalls Innovationen innerhalb ihrer eigenen Disziplin entwickeln können. Ein Sozialunternehmen als System hingegen wird in und durch die Bearbeitung von wahrgenommenen Differenzen zwischen den relevanten Rationalitäten innovativ. Eben darin liegt das spezifische Innovationspotenzial begründet, das in den Zwischenräumen und auf den Grenzen zu finden ist, das Jay als eigentlichen Grund ihrer Existenz ansieht.791 Für das in der Untersuchung herausgearbeitete Verständnis sozialunternehmerischer Innovation ist ein Verlassen der bekannten Räume nahezu eine zwingende Voraussetzung, wie Bergmann et al. es beschreiben: »Wirksame Veränderungen geschehen an den Grenzen des Systems, da wo es mit anderen kommuniziert und da wo es seine Identität verlässt«.792 Dorthin muss sich eine Organisation begeben, will sie innovativ sein oder werden. Jedoch stellt diese Einsicht gerade soziale Organisation oft genug vor große Herausforderungen. Sie verfügen häufig über eine lange Geschichte mit entsprechender Tradition und Identität. Zudem ist in ihnen oft eine starke Konsensorientierung vorzufinden. (vgl. 2.3.2). Ein innovatives Sozialunternehmen muss lernen, Differenzen konstruktiv zu nutzen, um so die Innovationsparadoxie zu entfalten.
6.2.4 Die Entfaltung der Innovationsparadoxie braucht Räume mit unterschiedlichen Funktionen Die Fallstudie weist in ihrer Rekonstruktion auf eine Bearbeitungsstruktur hin, mit der ein diakonisches Unternehmen die Paradoxieentfaltung unternommen hat. Ausgehend von der These der Innovationsparadoxie fragten wir, wie diese in einem konkreten Fall entfaltet wurde: Wie organisieren Sozialunternehmen Innovationsprozesse unter Berücksichtigung multipler Rationalitäten und den daraus entstehenden Potentialen und Friktionen? (vgl. 2.4.3)
Die Antwort, die die Fallstudie in stark verkürzter Form darauf gibt, lautet: Ein Sozialunternehmen tut dies durch die reflexive Bearbeitung der Multirationalität in Räumen der Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit, um im Zwischenraum der Sinngemeinschaften die Friktionen zwischen den Rationalitäten abzubauen, und um 791 Vgl. Jay (2013), S. 137. 792 Bergmann/Daub (2006), S. 123.
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
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die Innovationspotenziale des multirationalen Arrangements der Organisation und seiner Umwelt für eine relevante Praxis zu aktivieren. (vgl. 5.4)
Es kann die These aufgestellt werden, dass jede pluralistische Organisation über diese Räume verfügt, sonst wäre sie letztlich nicht existenzfähig. Ein innovatives Sozialunternehmen muss diese Räume in der Organisation suchen, fördern und miteinander verbinden. Resonanzräume dienen der Erzeugung von Differenzen als Bedingung für Innovation (vgl. 6.2.3). Wo begegnet die Organisation Unbekanntem und Unerwartetem? Wo ist sie aufnahmefähig für ihre Umwelt? Wo und wie werden sinnvolle und angemessene Differenzen erzeugt? Wo verfügt die Organisation über Resonanzfähigkeit und wie stark ist diese? In der Fallstudie wurde beobachtet, dass zunächst einzelne Personen eine Resonanzfähigkeit bereitstellten, die Organisation diese jedoch im Vorfeld des Innovationsprozesses nicht unbedingt suchte oder aktiv förderte (vgl. 5.4.2). Im weiteren Verlauf kamen dann Partnerschaften und Beziehungen in einem relativ schnell entstehenden Netzwerk aus Forschungs- und Technologiepartnern hinzu. In diesen Begegnungen wurde die Organisation mit weiteren Differenzen zur ihrer eigenen Routine versorgt, die sowohl Innovationspotentiale als auch Friktionen erzeugten (vgl. z. B. 5.1.2.5, 5.1.2.8). Zunächst gelangten diese Differenzen jedoch nicht in die Kommunikation der Organisation, sondern konnten weitgehend ignoriert werden (vgl. 5.1.2.1). Erst durch sichtbare und bindende Entscheidungen des Managements wurden die Resonanzräume mit dem Diskurs innerhalb des Unternehmens verbunden (vgl. 6.2.1). In Diskursräumen bearbeitet die Organisation die Friktionen und Konflikte, die auf Grund der nun erfolgten Wahrnehmung der Differenzen sichtbar werden. Wie die Organisation mit ihnen umgeht, ist von zentraler Bedeutung für die Entfaltung der Innovationsparadoxie. In Diskursräumen wird die Legitimation durch die Organisation hergestellt. Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, sind unter anderem: An welchen Orten läuft der organisationsinterne Diskurs? Wie diskursfähig ist die Organisation? Wie offen wird kommuniziert? Begegnen sich alle relevanten Sinngemeinschaften auf Augenhöhe, oder können Dominanzversuche einzelner Rationalitäten beobachtet werden? Über welche Organisationskultur(en) verfügt die Organisation? Wie glaubwürdig wird im Falle diakonischer Unternehmen deren diakonische Identität vermittelt und gelebt? Wie groß ist das Vertrauen in die Fähigkeiten und Ziele der Führung? Diese Fragen sind natürlich nicht nur innovationsbezogen zu sehen. In der Fallstudie wurde jedoch deutlich, dass eine Organisation, die über so beschreibbare, geeignete Diskursräume verfügt, eine nicht zu unterschätzende Ressource zur Hand hat (vgl. 5.2.2.1, 5.2.2.3). Im anderen Fall wird die Entfaltung der Innovationsparadoxie höchstwahrscheinlich schwierig, da hierfür ein
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Ertrag für Theorie und Praxis
belastbares Fundament im Unternehmen benötigt wird. Fehlt ein solches, bekommt es die Organisation in ihren Diskursen mit harten Barrieren zu tun, denen vermutlich mit Polarisierung oder Vermeidung einzelner Rationalitäten begegnet wird (vgl. 3.4.1). Mangelnde Innovationsfähigkeit ist dann möglicherweise nicht ihr größtes Problem. Ist dieses Fundament jedoch vorhanden, so ist es eine verfügbare Ressource für zu gestaltende Diskursräume, die dann auch in Innovationsprozessen zur Verfügung stehen. Funktionierende Diskursräume sind eine Voraussetzung dafür, dass sich die Organisation und der Innovationsprozess nicht voneinander entkoppeln oder entfremden. Um diese Verbindung aufrechtzuerhalten, benötigt der Innovationsprozess die Legitimation der Organisation und ihrer Sinngemeinschaften. Sie bildet somit die Grundlage dafür, dass eine Integration der unterschiedlichen Rationalitäten in die Innovation möglich und von der gesamten Organisation mitgetragen wird, und ob sie sich somit mit einem Innovationsprojekt identifizieren kann (vgl. 5.3.2.5). In den Integrationsräumen werden die aus den Differenzen entstehenden Potentiale in Form neuer Ideen, neuen Wissens und neuer Unterscheidungen mit einer für die Organisation relevanten Praxis verbunden. In ihnen entsteht das Innovationssubsystem und möglicherweise die Community-of-Practice einer neuen Praxis (vgl. 5.4.5). Es sind beispielsweise konkrete, praxisnahe Projekte, in denen die unterschiedlichen Sinngemeinschaften und Disziplinen zusammentreffen, und die über die notwendige Legitimation und die erforderlichen Ressourcen verfügen. Hier akzeptiert die Organisation das Risiko, das sie in ihrer Routine vermeiden muss. Routine und Innovation sind hier entkoppelt, da Innovationen unter den Bedingungen der Routine nicht entstehen können. Somit stellen sich als Reflektionsangebot auch hier eine Reihe von Fragen: Wie können wir Innovationsräume einrichten, die über die geeigneten Rahmenbedingungen, Ressourcen und von der Routine entkoppelte Freiräume verfügen? Wie bauen wir neues Wissen auf ? Welche Projekte sind vielversprechend? Wie kann ein relevanter Praxisbezug hergestellt werden? Wo finden wir die richtigen Projektpartner? Wie gestalten wir die Anbindung an Resonanzund Diskursräume?
6.2.5 Ko-Entwicklung latenter und manifester Strukturen Wie immer Resonanz-, Diskurs- und Integrationsräume ausgestaltet sind, wo sie in der Organisation zu finden sind oder wie sie bezeichnet werden: nach unseren Schlussfolgerungen bilden sie die Grundlage der Innovationsfähigkeit der Organisation. Ohne ausreichende Resonanz bleibt ein Sozialunternehmen auf zu vielen Augen blind und erzeugt zu wenige Differenzen zur Routine, um innovativ
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
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werden zu können. Ohne Diskurs kann ein Sozialunternehmen keine Legitimation der Innovation innerhalb der Organisation erzeugen, und die Konflikte und Friktionen nicht bearbeiten, die in den Unterschieden der Rationalitäten begründet sind. Und ohne Integration bleiben neue Ideen und Informationen theoretisch und praxisfern und ohne Anbindung an eine relevante Praxis. Was in ihnen abläuft, und darin sind sie sich gleich, sind Prozesse der Selbstorganisation und Selbstreflektion. Unter Selbstreflektion wird in dieser Arbeit die Wiedereinführung latenter Unterscheidungen und bestehender Prämissen in die Kommunikation der Organisation verstanden. Unter Selbstorganisation verstehen wir das Ausdifferenzieren, Stabilisieren und damit Integrieren neuer Unterscheidungen und Prämissen im System der Organisation (vgl. 4.3.3.3). Das Ausdifferenzieren gemeinsamer Unterscheidungen und Kriterien des Sinnvollen (vgl. 5.3.3), der Aufbau neuen Wissens (vgl. 5.3.2.3), das Ausleuchten bisher blinder Flecke, die Entstehung neuer Ideen und Verknüpfungen (vgl. 5.3.2.4), die Identifikation mit dem Innovationsgegenstand (vgl. 5.3.2.5) oder der Aufbau von Sprachfähigkeit und multirationalen Denkens (vgl.5.3.2.6) beruhen letztlich auf diesen Prozessen. Für das Management sozialer Organisation hat diese These eine ebenso simple wie weitreichende Konsequenz: Es kann die Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeit (und damit die Innovationsfähigkeit) der Organisation nicht unmittelbar beeinflussen, sondern muss seinen Beitrag in der Bereitstellung geeigneter Räume sehen. In der Fallstudie stellte das Management solche Räume beispielsweise in Form von Erfahrungsräumen (vgl. 5.2.2.6), Workshops, Fachtagen (5.2.2.3) oder Projektstrukturen bereit (vgl. 5.2.2.4). Zudem wurden gegen Ende des Beobachtungszeitraums in der Fallstudie weitere Strukturen wie Ausgründungen oder ein Kompetenzzentrum für Assistive Technologien diskutiert (vgl. 5.3.2.7). In den so bereitgestellten Räumen konnten sich Selbstreflektion und -organisation (weiter-)entwickeln. Ohne sie wären die Prozesse vermutlich anders, weniger sichtbar und weniger fruchtbar verlaufen. Manifeste Strukturen können latenten Prozessen einen sichtbaren Rahmen geben, und latente Prozesse und Strukturen manifestieren sich in sichtbaren Strukturen und damit letztlich in den Entscheidungen der Organisation. Vor diesem Hintergrund erscheint die starre Übernahme von Modellen und Konzepten des Innovationsmanagements wie ein Stage-Gate-Prozess oder Promotorenmodelle zwar nicht wirkungslos (da auch sie zu Kommunikationsanlässen des Systems werden), an der eigentlichen Grundlage der Innovationsfähigkeit laufen sie jedoch vorbei. Sie produzieren die bestenfalls nützliche
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Ertrag für Theorie und Praxis
Fiktion, dass Innovation und Innovationsfähigkeit planbar, steuerbar und gestaltbar sind.793 Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Schlussfolgerung wären andere Fragen zu stellen: Wie können wir Resonanz fördern? Wie können wir mit angemessener Unsicherheit versorgen und wie können wir die Wahrnehmung von Differenzen zur Routine fördern? Wie stimulieren wir die Kommunikation und den Diskurs, welche Kommunikationsstruktur und -architektur ist dem dienlich? Wie verknüpfen wir somit Resonanzen und Diskurse mit konkreten Projekten? Wie entkoppeln wir diese Integrationsräume einerseits von der Routine, und wie verbinden wir sie andererseits mit der Praxis und der Gesamtorganisation (falls erfolgreiche Innovationen sich nicht als ›spin-off‹ verselbstständigen sollen)? Diese Fragen zielen somit auf die Ko-Entwicklung latenter und manifester Strukturen und Prozesse, die als Gestaltungsebenen des Innovationsmanagements herausgearbeitet wurden (vgl. 6.1.2). Auch die in aktueller Praxis und Literatur beobachtbaren Inkubatoren sind vor diesem Hintergrund zu sehen. Sie scheinen je nach Ausgestaltung einiges Potential zu besitzen, latente und manifeste Strukturen und Prozesse gleichermaßen zu berücksichtigen, was ihre momentane Popularität erklären könnte. Sie sind geradezu darauf ausgelegt, Räume zu schaffen, und Begegnung und Kommunikation zu fördern. Sie stellen einen Kontext dar, der im Vergleich zur Gesamtorganisation relativ barrierefrei ist (vgl. 2.3.3), weshalb sich in ihm die Innovationsfähigkeit wahrscheinlicher entwickeln kann. Zugleich wird diese Barrierefreiheit auch dadurch ermöglicht, dass in den Inkubatoren in der Praxis häufig nur eine Auswahl der relevanten Rationalität berücksichtigt wird. Zudem werden mancherorts Inkubatoren als Projekte konzipiert. Sie beginnen und enden, und stellen somit keinen kontinuierlichen Rahmen für die Entwicklung der Innovationsfähigkeit zur Verfügung. Die Veränderung latenter Strukturen ist jedoch nicht nur nicht steuerbar, sich braucht vor allem auch Zeit. Vor diesem Hintergrund wären Inkubatoren als dauerhafte Strukturen, die alle relevanten Rationalitäten berücksichtigen, dessen An- und Einbindung in die Gesamtorganisation gelingt, und die darauf ausgelegt sind, Kommunikation und Begegnung zu stimulieren, ein vielversprechender Ansatz.
793 Wobei nicht klar ist, für wen diese Fiktion nützlicher ist: für das Sozialunternehmen oder für den externen Innovationsberater, der sie als Allheilmittel anpreist.
Ertrag für die diakonische Unternehmenspraxis
311
6.2.6 Alle relevanten Rationalitäten sind im Innovationsprozess zu berücksichtigen In den Schlussfolgerungen aus der Reflektion des wissenschaftlichen Diskurses wurde festgehalten, dass Sozialunternehmen und ihre Innovationen nicht nichtmultirational sein können (vgl. 2.4.2). Im Umkehrschluss bedeutet dies, dass diese Organisationen ihrer eigenen Multirationalität und der ihrer Umwelt nicht ausweichen können. Tun sie dies dennoch, indem sie relevante Umwelten ignorieren, werden mit hoher Wahrscheinlichkeit Probleme an anderen Stellen auftreten. Gleiches gilt für ihre Innovationsprozesse. Aus den Ergebnissen der Fallstudie wurde die Hypothese aufgestellt, dass nicht bearbeitete und nicht berücksichtigte Rationalitäten zu einem späteren Zeitpunkt und an anderer Stelle als Diffusionsbarrieren wieder auftauchen (vgl. 6.1.1). So gelang es in der Fallstudie, theologisch-ethische, sozialprofessionelle und technologische Sinngemeinschaften und ihre Rationalitäten in den Prozess zu integrieren, während hingegen eine ökonomische Logik im Wesentlichen auf Aspekte des Controllings reduziert wurde. Eine politisch-administrative Logik, beispielsweise in Form einer Beteiligung von Kostenträgern oder Kommunen, wurde ebenso nicht berücksichtigt. Entsprechende Barrieren manifestierten sich, als es um Fragen der Refinanzierung oder tragfähiger Geschäftsmodelle ging (vgl. 5.4.6). Es kann der Schluss gezogen werden, dass ähnliche Zusammenhänge zu beobachten sind, wenn andere relevanten Rationalitäten im Innovationsprozess unberücksichtigt bleiben: Eine noch so interessante Innovation hat wenig Aussicht auf Umsetzung und Verbreitung, wenn grundsätzliche Aspekte einer ethischen, einer sozialprofessionellen oder einer technologischen Logik unberücksichtigt bleiben. Ein Innovationsprozess hat dementsprechend eine umso höhere Aussicht auf Erfolg, wenn alle relevanten Umwelten und Rationalitäten angemessen in den Prozess integriert werden. Damit stellt sich für die Praxis die zentrale Frage, wie eine angemessene und aktive Berücksichtigung aller Sinngemeinschaften organisiert werden kann. In den Fällen, in denen die Organisation selbst über hinreichend kompetente Sinngemeinschaften verfügt, ist dies relativ einfach herzustellen. Anders sieht es möglicherweise in Bezug auf Ökonomie (wenn sie nicht auf Controlling- und Verwaltungsaspekte verkürzt wird), Technologie und eine politisch-administrative Logik aus. Die vielleicht einzige Möglichkeit scheint in diesen Fällen das Hinzuziehen externer Experten zu sein. Je nachdem über welche Netzwerke das Sozialunternehmen in diesen Bereichen verfügt, kann sich dies einfacher oder schwieriger gestalten, zumal externe Experten häufig die Komplexität des Innovationsprozesses erhöhen. Entsprechend sollte sich ein Unternehmen fragen, welche Kompetenzen (und damit natürlich auch Kodes und Kulturen) es in-
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Ertrag für Theorie und Praxis
nerhalb der eigenen Organisation vorhalten kann und möchte. Eine Ausweitung scheint zumindest im Bereich der Ökonomie, wenn es beispielsweise um die Entwicklung von Geschäftsmodellen geht, und der Technologie jenseits der klassischen IT möglicherweise sinnvoll zu sein. Etwas anders gelagert mag es im Falle einer politisch-administrativen Rationalität sein. Hier geht es nicht so sehr um Orientierungswissen, sondern vielmehr um Verfügungswissen:794 Welche Spielräume existieren, welche Interpretationen gesetzlicher Regelungen sind möglich, welche Freiheitsgrade haben Kostenträger bei aller Regulierung, welche Entscheidungskriterien außer den offenkundigen sind für sie noch relevant, welche Interessen der Kostenträger können im Innovationsprozess berücksichtigt werden? Zugegeben, der Zwischenraum mag in dieser Hinsicht überschaubar erscheinen, vorhanden ist er aber dennoch. Das oft zu Recht kritisierte fehlende Engagement politisch-administrativer Akteure für Innovationen im Sozialbereich bei gleichzeitiger Erwartungshaltung an die Innovationsfähigkeit der Sozialunternehmen könnte hier vielleicht ein wenig eingefordert werden. Warum nicht mal (entscheidungs-)kompetente Personen aus dem Kreis der Kostenträger zur verbindlichen Mitarbeit in einem Inkubator bewegen? Wer weiß, vielleicht identifizieren sich diese Personen am Ende mit der Innovation und eröffnen Wege, die zuvor unmöglich schienen. Auch Kostenträger können irritiert werden. Sicher ist das nicht, aber im Zusammenhang mit Innovationen ist ohnehin nur wenig sicher.
794 Anders als an den meisten anderen Stellen in der Arbeit macht die Unterscheidung zwischen Orientierungs- und Verfügungswissen durchaus Sinn. Es geht hier darum, über welche Möglichkeiten Kostenträger verfügen, was sie also in diesem Zusammenhang tun können (vgl. Mittelstraß (1989), S. 19).
7
Rückblick und Ausblick
Nachdem nun als Ergebnis der Untersuchung der Ertrag für Theorie und Praxis zusammengetragen wurde, soll die Arbeit im abschließenden Kapitel rückblickend betrachtet und reflektiert werden. Zu diesem Zweck soll die Ausgangslage, die Motivation und der Verlauf mit seinen Grundentscheidungen und den damit verbundenen Herausforderungen noch einmal im Zusammenhang gesehen werden. Neben dem Blick zurück soll zudem ein Ausblick gegeben werden, welche Fragestellungen sich durch die Ergebnisse der Untersuchung für die weitere Forschung ergeben können, bevor die Arbeit mit einigen Bemerkungen schließt.
7.1
Rückblick auf den Verlauf der vorliegenden Forschung
Die vorliegende Arbeit beschrieb im Verlauf der vergangenen sechs Kapitel einen Bogen, der seinen Ausgangspunkt in der Beobachtung nahm, dass Innovationsphänomene in Sozialunternehmen in Theorie und Praxis häufig als widersprüchlich, komplex und subtil – mit einem Wort: schwierig – wahrgenommen werden. Die Beobachtung konnte darauf zurückgeführt werden, dass es Sozialunternehmen in ihren Innovationsbestrebungen mit einer spezifischen Paradoxie zu tun bekommen: Es ist die ihnen eigene Vielfalt der Ziele, Werte, Professionen und Kulturen, die einerseits für Innovationen sehr fruchtbar sein kann. Andererseits lässt jedoch die gleiche Vielfalt die Komplexität und die Friktionen des Innovationsgeschehens ansteigen, so dass die Wahrscheinlichkeit des Scheiterns in gleichem Maße zunimmt. Die Innovationsparadoxie der Sozialunternehmen ist somit dadurch bestimmt, dass in der Pluralität und Komplexität wesentliche Bedingungen für Innovationen den gleichen Ursprung haben wie die Bedingungen ihres Scheiterns. In dieser Ausgangsthese verband sich somit eine innovationstheoretische Perspektive auf Pluralität als Ressource mit einer organisationstheoretischen Perspektive der Komplexität multirationaler, pluralistischer Organisationen.
314
Rückblick und Ausblick
In der Literatur konnte im Diskurs zur Innovation in Sozialunternehmen keine Konzeption gefunden werden, die diese Paradoxie angemessen berücksichtigte. Entsprechend erschien es notwendig, sich im aktuellen Diskurs zunächst auf eine Spurensuche nach Anknüpfungspunkten der Multirationalität zu begeben: Wo und wie wird die pluralistische Tiefenstruktur der Organisationen berührt, und wo bleibt sie unberücksichtigt? Zu diesem Zweck war es erforderlich, den Diskurs in seiner Breite näher zu beleuchten und zu reflektieren, was mit Blick auf die Kontexte der Umwelt, die Konzeptionen der Theorie und die Konzepte der Praxis erfolgte. Diese Reflektion war auf Grund der Menge an vorhandener Literatur mitunter schwierig, doch nur so konnte ein Anschluss an diesen Diskurs hergestellt werden. Zwar wäre mit einer etwas anderen Ausrichtung auch ein Anschluss an andere Diskurse möglich gewesen, beispielsweise zu pluralistischen Organisation insgesamt, doch die Fokussierung auf Sozialunternehmen erschien hinsichtlich einer Praxisrelevanz vielversprechender. Ob dies gelungen ist, bleibt der Entscheidung des Lesers überlassen. Die Reflektion produzierte eine Reihe von Differenzen, deren wichtigste war, dass die Multirationalität der Organisationen im Diskurs präsent und verborgen zugleich war : Präsent, da dieses Merkmal zwar in jedem Diskursstrang mitgeführt wurde und beobachtbar war ; verborgen, da es selbst so gut wie nie explizit und zugleich theoretisch fundiert thematisiert wurde. In dieser Differenz wurde die Forschungslücke verortet, da es offenkundig erschien, dass die Widersprüchlichkeit, Komplexität und Subtilität sozialunternehmerischer Innovationsprozesse ohne diese Hintergrundfolie unerklärbar bleiben musste. Ziel der vorliegenden Arbeit war es daher, einen ebenso wissenschaftlich wie praktisch relevanten Beitrag zur Schließung der ausgemachten Forschungslücke zu leisten. Es erschien somit notwendig, den Spagat zwischen einer grundlegenden theoretischen Fundierung einerseits und einer intensiven Beobachtung der Praxis andererseits zu versuchen. Erstere benötigte eine Theoriearchitektur, die es erlaubte, Umwelt und Organisation, Multirationalität und Innovation in latenten und manifesten Strukturen und Prozessen gleichermaßen zu beobachten und zu analysieren. In dieser Breite und Konsistenz bot eine system(theoret)ische Perspektive das größte heuristische Potential, wenngleich sie nicht unbedingt dem organisationstheoretischen Mainstream zuzurechnen ist. Zudem ist empirische Forschung unter dieser Setzung häufig ein schwieriges Unterfangen. Die Systemtheorie ist auf der Ebene einer Metatheorie verortet, und verfügt über keine eigene empirische Methodologie. Entsprechende Forschung bedient sich daher der Methoden anderer Ansätze wie der Grounded Theory, der dokumentarischen Methode oder inhaltsanalytischen Konzepten. Diese bringen jedoch in der Regel eine eigene metatheoretische Einordnung mit, die sich von einer systemtheoretischen Perspektive mitunter unterscheidet. Es brauchte somit Brücken zwischen Systemtheorie und geeigneten empirischen
Rückblick auf den Verlauf der vorliegenden Forschung
315
Methoden, die im vorliegenden Fall in einer systemischen Organisationsforschung gefunden wurden, wie sie insbesondere am Institut für Systemisches Management der Universität St. Gallen entwickelt worden ist und bereits in einer Reihe von Forschungsprojekten erfolgreich angewendet worden war. Dieser Ansatz, verknüpft mit dem Ziel einer intensiven Beobachtung der Praxis, führte zu der Entscheidung, die empirische Untersuchung in Form einer explorativen Einzelfallstudie durchzuführen, die ihrerseits eine Reihe von Herausforderungen mit sich brachte. An prominenter Stelle ist dabei das sogenannte Induktionsproblem zu nennen: Wenn ein Beobachter einen Beobachter dabei beobachtet, wie dieser beobachtet, stellt sich die Frage, welche Beobachtungen und damit Interpretationen welchem Beobachter zugeordnet werden können. Anders ausgedrückt: ein Forscher befindet sich in der Gefahr, nur zu sehen, was er weiß (beziehungsweise sehen will) – und nur zu wissen, was er sieht. Insbesondere in einer interpretativen Einzelfallstudie muss mit diesem Problem angemessen umgegangen werden. In der vorliegenden Arbeit wurden hierzu verschiedene Instrumente gewählt. Neben einer Triangulation der Datenquellen und einer kommunikativen Validierung und Plausibilisierung wurden die eigenen Beobachterkategorien beständig reflektiert und möglichst expliziert. Zudem galt es, auch den eigenen Hintergrund des Autors als Ingenieur, Ökonom und Diakoniewissenschaftler gleichermaßen zu berücksichtigen. Diese Form der Selbstreflexion war »eine Möglichkeit, mit der Ungewissheit darüber umzugehen, inwieweit man die selbst versteckten Ostereier findet«.795 Andererseits war mit der Festlegung auf eine explorative Einzelfallstudie der häufig mit Forschung verbundene Anspruch einer Generalisierbarkeit der Ergebnisse mehr oder weniger hinfällig. Vollständig induktiv und beweiskräftig von einem Einzelfall auf den Allgemeinfall zu schließen, bleibt der Mathematik vorbehalten. In der vorliegenden Arbeit wurden vielmehr auf Basis der Schlussfolgerungen der Fallstudie Hypothesen generiert, die dann als wissenschaftlicher Beitrag zu einer Theorie der Innovation in Sozialunternehmen in einem Konzeptionsvorschlag modelliert werden konnten (vgl. 6.1.1). Hierzu wurden aus der Fallstudie die für den Innovationsprozess zentralen Kategorien Resonanz, Diskurs und Integration gewonnen, in denen jeweils die Subkategorien der organisationalen Räume, Fähigkeiten und Barrieren gebildet werden konnten. Auf diese Weise wurde eine Konzeption sozialunternehmerischer Innovation skizziert, die in ihrem Kern auf die multirationale Organisationsspezifik referenziert. Die generierten Hypothesen so zusammenzuführen und in Beziehung zu setzen sollte auch dem Zweck dienen, die Ergebnisse der Arbeit ›transportabler‹ und kommunizierbarer zu machen. Aus der Fallstudie konnte des Weiteren ein Vorschlag zur Kategorisierung der 795 Tuckermann (2013), S. 89.
316
Rückblick und Ausblick
bisher in der Literatur diskutierten Methoden und Modelle zur Gestaltung der Innovationsfähigkeit sozialer Unternehmen (und damit zur ›Einrichtung‹ der beschriebenen Räume) abgeleitet werden, die in dieser Form bislang nicht vorlag. So konnte mit Hilfe der beiden Gestaltungsdimensionen manifest – latent, sowie personal – prozessual eine Systematisierung dieser Modelle angeboten werden (vgl. 6.1.2). Zudem konnten aus der Fallstudie erste Hinweise abgeleitet werden, welche der Instrumente zur Stimulierung der Innovationsfähigkeit welchen Beitrag leisten können. Ebenso wie der Konzeptionsvorschlag soll diese Systematisierung dazu beitragen, sich in der Widersprüchlichkeit, Komplexität und Subtilität der Analyse und Gestaltung sozialunternehmerischer Innovationsprozesse etwas leichter orientieren zu können. Zudem wurde vorsichtig eine alternative Deutung des multirationalen Spannungsfeldes als Spielfeld der Innovation vorgeschlagen (vgl. 6.1.3). Um das Innovationspotential multirationaler Arrangements wahrzunehmen und zu nutzen, ist eine einseitige, defizit- und konfliktorientierte Beschreibung des Zwischenraums, wie sie in der Literatur häufig zu finden ist, wenig hilfreich. Vielmehr sollte in ihm (auch) die ›resourceful dissonance‹ gesehen und gefragt werden, wie das Zusammenspiel der Rationalitäten zu einer sozialunternehmerischen Innovation beitragen kann. In diesem Zusammenhang wurde auch noch einmal die Gelegenheit genutzt, auf das heuristische Potenzial der gewählten Metatheorie hinzuweisen, auch über den Rahmen der vorliegenden Untersuchung hinaus. Mit Blick auf die Praxis wurde schließlich darauf hingewiesen, dass die beschriebenen Hypothesen keine Antworten im Sinne von Handlungsempfehlungen oder ›Kochrezepten‹ geben können, wie genau in einem spezifischen Kontext die Innovationsparadoxie entfaltet werden kann. Was für die Praxis relevant ist, kann nur die Praxis selbst entscheiden, und nicht die Wissenschaft für sie. Aber sie bieten aus der Praxis entwickelte Unterscheidungen und Bezeichnungen an, die bei der Analyse und Gestaltung einer sozialunternehmerischen Innovationspraxis einen heuristischen Nutzen bringen können. Für die Praxis führten die Hypothesen somit zu einem Reflektionsangebot für die Organisationen der Sozialwirtschaft, das gelegentlich herausfordernd und desillusionierend zugleich sein kann. Herausfordernd, da Differenzen und angemessene Unsicherheit als notwendige Ressourcen der Innovation zu verstehen sind, gerade in einem Kontext der häufig durch seine Routinen bestimmt wird. Desillusionierend, da es die Ergebnisse der Arbeit nahelegen, dass der produktive Umgang damit nicht angeordnet, geplant oder ›eingekauft‹ werden kann, sondern in geeigneten Räumen von der Organisation selbst erlernt werden muss, was allzu hierarchischen Strukturen zuwider läuft. Das Management steht somit vor der nicht unerheblichen Herausforderung, sich einerseits für Innovation als strategisches Ziel der Organisation zu entscheiden, und dadurch
Ausblick und Vorschläge für weitere Forschung
317
Unsicherheit zu produzieren und zuzulassen. Andererseits muss die Führung zugleich der Selbstorganisation des Systems vertrauen, und Freiräume einräumen und gestalten, die die Entwicklung von Resonanz-, Diskurs- und Integrationsfähigkeiten erlauben. Bei diesem Unterfangen, so legt es die Arbeit nahe, sind alle relevanten Rationalitäten zu berücksichtigen, sollen sie nicht an anderen Stellen Innovationsbarrieren produzieren. Sozialunternehmerische Innovation ist somit letztlich immer Integration.
7.2
Ausblick und Vorschläge für weitere Forschung
Die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung bieten Anknüpfungspunkte für weitere Forschung im Kontext einer interdisziplinären Diakoniewissenschaft, die insbesondere diakonische Unternehmen in den Blick nimmt, aber in Bezug auf Innovationsprozesse auch für Sozialunternehmen anderer Provenienz einen Beitrag leisten kann. Erstens erscheint es offenkundig, dass aus der Perspektive einer einzelnen Fallstudie nicht alles zum Thema Innovation in Sozialunternehmen gesehen werden kann. Wie jede Beobachtung produziert auch die vorliegende Arbeit blinde Flecke. Es bedarf weiterer empirischer Forschung in anderen Kontexten und aus anderen Perspektiven, um diese besser auszuleuchten. Die vorgeschlagene Konzeption mag dabei als Ausgangspunkt der Forschung dienen. Dabei werden durch weitere Forschung andere Zusammenhänge sichtbar, da jede Organisation einen anderen Kontext darstellt, und auf Ihre Weise mit der Innovationsparadoxie umgehen muss. Je mehr solcher ›Geschichten‹ erzählt werden, umso reichhaltiger wird das Verständnis über Innovationsprozesse sozialer Unternehmen werden. Zweitens wurde in der vorliegenden Arbeit im besonderen Maße auf die organisationale Ebene fokussiert. Dies war eine bewusste Entscheidung, um einen Innovationsprozess in seinem intraorganisationalen Rahmen sinnvoll untersuchen zu können. Mit dem Ergebnis, dass dieser Prozess maßgeblich im Zwischenraum der Rationalitäten und Sinngemeinschaften abläuft und nicht alle Sinngemeinschaften in gleichem Maße in einer Organisation vorhanden sind, wäre in einem nächsten Schritt sinnvoll zu fragen, welche interorganisationalen Verknüpfungen zu beobachten sind, und in welcher Weise sie zur Bearbeitung des Zwischenraums beitragen. Zu diesem Zweck könnte beispielsweise die vorgeschlagene Metatheorie noch stärker um Aspekte einer konstruktivistischen Netzwerktheorie, beispielsweise nach White erweitert werden,796 wie dies bereits in der Systemtheorie diskutiert wird.797 Hierbei 796 Vgl. u. a. White (1995), White (1992).
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Rückblick und Ausblick
könnten unter anderem Fragen nach Innovationspartnerschaften oder dem Phänomen der co-opetion betrachtet werden, die sich damit beschäftigt, wie konkurrierende Organisationen gleichzeitig kooperieren können, um gemeinsam Innovationen zu entwickeln.798 Drittens wurde insbesondere mit Bezug auf diakonische Unternehmen erkennbar, dass Theologie und diakonische Identität als Reflektionsebene in den Diskursen dieser Organisationen über eine multidiskursive Anschlussfähigkeit verfügen. Eine Forschung, die ein sich daraus ergebenes ›Moderationspotenzial‹ in den Blick nimmt, könnte einen praxisrelevanten Beitrag leisten, indem sie beispielsweise der sicherlich spannenden Frage nachgeht, wie die diakonische Identität als Ressource in Innovationsprozessen genutzt werden könnte; wie also in diakonischen Unternehmen ein theologischer Beitrag aussehen könnte, der als integrative Kraft einen Unterschied in Innovationsprozessen macht. Ob und unter welchen Bedingungen die Theologie eine Expertin für Brückenbau und Transformation in diakonischen Unternehmen ist, beziehungsweise werden könnte, wäre dabei zu erforschen. Gelänge dies, könnten diakonische Unternehmen Hinweise für ein echtes Unterscheidungsmerkmal hinsichtlich ihrer Innovationsfähigkeit erhalten.
7.3
Schlussbemerkungen
Innovation in der Sozialwirtschaft bleibt ein aktuelles und zunehmend dringendes Thema. Anforderungen werden steigen, Budgets an vielen Stellen weiter sinken. Gesellschaftliche Strukturen und Lebenssituationen werden sich ebenso verändern, wie die Art, wie Menschen in den jeweiligen Phasen ihres Lebens unterstützt werden möchten. Zudem wird die Digitalisierung vor kaum einem Bereich Halt machen. Sozialunternehmen müssen entscheiden, wie sie mit diesen Herausforderungen umgehen sollen, welche Lösungen sie bieten wollen und wie sie sich selbst dabei treu bleiben können. Es ist offenkundig, dass bestehende Konzepte und Strukturen angesichts des vielfältigen Veränderungsdrucks an ihre Grenzen stoßen werden, ebenso wie viele Sozialunternehmen selbst. Es braucht neue Ideen und Lösungen jenseits dieser Grenzen. Organisationen der heutigen Sozialwirtschaft sind vielleicht nicht der einzige Ort, an denen diese entstehen können, aber einer der vielversprechendsten – zumindest wenn sie über eine entsprechende Innovationsfähigkeit verfügen. Das ist nicht nur für die Menschen, denen sie sich zuwenden von Bedeutung, sondern auch für ihre eigene Entwicklung und letztlich ihren 797 Vgl. u. a. Baecker (2011a), Tacke (2000), Fuhse (2008). 798 Vgl. u. a. Brandenburger/Nalebuff (2008), Jansen (2000).
Schlussbemerkungen
319
Fortbestand. Sie stehen somit vor der Herausforderung, die Grenzen, an die sie stoßen, zu überwinden. Wie bereits zu Beginn ausgeführt, sind Innovationen somit immer auch Grenzphänomene. In der vorliegenden Arbeit wurde zudem aufgezeigt, dass die Innovationsfähigkeit einer Organisation unter den Aspekten der Resonanz, des Diskurses und der Integration betrachtet werden kann: Resonanz erzeugt notwendige Differenz, Diskurs erzeugt organisationale Legitimation, Integration erzeugt praxisrelevante Innovation. Betrachtet man dies im Zusammenhang, so könnten Resonanzen davon handeln, Grenzen wahrzunehmen, Diskurse davon, Grenzen zu überbrücken, und Innovation durch Integration davon, Grenzen gemeinsam zu verschieben. Die Innovationsparadoxie sozialer Unternehmen kann dabei nicht vermieden, sondern nur entfaltet werden. Innovationsprozesse sozialer Organisationen werden sich immer in Grenzgebieten abspielen. Ein Mangel an verfügbarer Unsicherheit besteht daher sicherlich nicht. Angesichts der bekannten und noch unbekannten Herausforderungen unserer Gesellschaft erscheint es notwendig, dass möglichst viele Sozialunternehmen auf die Ungewissheiten, mit denen sie konfrontiert werden, nicht mit Rückzug auf vermeintliche Sicherheiten reagieren, sondern Schritte in Richtung des Neuen jenseits ihrer vertrauten Grenzen gehen. Denn nur dort, im Zwischenraum jenseits der Routine, kann die Innovationparadoxie diakonischer und sozialer Unternehmen entfaltet werden. Oder wie Paul Tillich schreibt: »Die Grenze ist der eigentlich fruchtbare Ort der Erkenntnis«.799 In diesem Sinne möchte die Arbeit letztlich selbst fruchtbare Differenzen und Irritationen anbieten, um so zur Selbstbeobachtung, Selbstreflektion und Selbstorganisation anzuregen. Sollte dies in dem einen oder anderen Fall gelungen sein, so ist ein wesentliches Ziel der Arbeit erreicht.
799 Tillich selbst formuliert den Satz an verschiedenen Stellen unterschiedlich. In der Einleitung seines Buches »Religiöse Verwirklichung« schreibt er : »Der Ort der Grenze ist der für die Erkenntnis fruchtbare Ort.« (Tillich (1930), S. 11). Während er in seiner Autobiographie »On the boundary« den Satz im englischen Original mit »The boundary is the best place to acquiring knowledge« formuliert (Tillich (1936), S. 13), wird er in der deutschen Übersetzung wie oben zitiert übersetzt (vgl. Tillich (1962), S. 13).
Danksagung
Einer meiner Lieblingsdichter, John Donne, schrieb 1624 die Zeile: »No man is an island, entire of itself.« Das Schreiben einer Dissertation ist eine besondere Gelegenheit, das zu erfahren. So ist die Liste der Menschen, die mich in den letzten vier Jahren begleitet und unterstützt haben und denen ich herzlich danken möchte, sehr lang. Besonders danken möchte ich Prof. em. Dr. Udo Krolzik und Prof. Dr. Hanns-Stephan Haas, ohne deren ebenso kritische wie konstruktive wissenschaftliche Betreuung und persönliche Begleitung die Arbeit sicherlich deutlich weniger Gehalt gehabt hätte. Ebenso möchte ich Prof. Dr. Beate Hofmann und Dr. Hendrik Höver für ihre Hilfe und Ermutigung während unserer empirischen Coachinggruppe danken, wie auch Elke Rabbe für ihre unerschöpfiche Geduld. Letztlich waren alle meine Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Professorinnen und Professoren und die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter am IDM Teil des Entstehungskontextes dieser Arbeit. Ich habe mich im Remterweg immer sehr wohl gefühlt, und hoffe, dass auch in den neuen Institutsräumen dieses besondere Miteinander weiterlebt. Dass die Arbeit in ungewöhnlicher Weise durch meinen Arbeitgeber, Hewlett Packard Enterprise, unterstützt wurde, ist vor allem Rainer Friedling zu verdanken, der als wirklich innovativer Mensch bereit war, ein Projekt zu unterstützen, das außerhalb der üblichen Routine eines IT-Unternehmens lag. Danken möchte ich auch den Mitarbeitenden und Führungskräften der v. Bodelschwinghschen Stiftungen Bethel, die sich befragen und beobachten ließen, und mich in meinem Forschungsvorhaben unterstützten. Mein Dank gilt insbesondere Melissa Henne für ihre großartige Unterstützung als »gate keeperin« zum Forschungspartner, Ulrich Johnigk für viele anregende Gespräche und KurtUlrich Wiggers für die mit mir geteilte Begeisterung für das Neue. Den Menschen in meiner Nähe danke ich für beständiges Nachfragen und ihre Treue und Solidarität, besonders denen, mit denen ich zusammen mit meiner Familie seit vielen Jahren mein Leben teile: Christina und Ben, Katharina, Stefan, Paul, Tom und Frieda. Besonderer Dank gilt auch Erika und HansGerd Brudereck für Korrekturlesen zu Weihnachten; alle Fehler, die sich immer
322
Danksagung
noch finden, habe ich selbst nachträglich hinzugefügt. Ich danke meinen Schwiegereltern Helmut und Christel Löscher für ihre Zeit und dafür, dass sie mir ihr Haus zum Schreiben ebenso geöffnet haben wie Martin und Conny Löscher und Magdalene und Bernd Seipel. Für ihre Freundschaft, ihren Humor, ihre Geduld und Unterbrechungen zum richtigen Zeitpunkt danke ich Olli und Isa, Maren und Daniel, Antje und Jan (auch wenn der HSV in Köln verlor), Becci und Tobi, Gerlint, Nici und Olli, David und Anne-Maria, Jörg und Ulla, Miriam und Jochen, dem ganzen Hinsbecker Berg, den Dreilinden und unserer Gemeinde e/motion. Es waren noch viele mehr, woran mir bewusst wird, wie beschenkt ich mit Gemeinschaft und Freundschaft bin. Und ich danke sehr herzlich meiner Mutter, die mich immer ebenso bedingungslos unterstützte wie mein Vater, auch wenn er die Entstehung dieser Arbeit nicht mehr erlebte. Meine Schwestern Gerlinde und Tina, denen ich ebenso danke, und ich, konnten uns immer auf sie verlassen. Sie sind jeden Weg mit uns mitgegangen, auch wenn sie nicht immer wussten, wohin er führte. Und es bedeutet mir etwas, dass der Tag der Abgabe dieser Arbeit zugleich der Geburtstag meines Vaters ist. Nebenberuflich zu promovieren ist eine Herausforderung besonderer Art, die nicht selten Verzicht und Einschränkungen für die Menschen mit sich bringt, die man am meisten liebt. Es ist mehr als Dankbarkeit, was ich empfinde. Ohne meine liebe Frau Andrea, ihre Ermutigung, ihr Mittragen und manchmal Ertragen wäre diese Arbeit weder begonnen noch beendet worden. Meinen wunderbaren Töchtern Lilia und Greta, die viel zu oft auf ihren Papa verzichten mussten, widme ich diese Arbeit. Sie erinnern mich daran, dass es etwas Größeres gibt als uns selbst. Essen, den 6. Januar 2017
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